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German Pages 299 Year 2018
Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 2
Anthony de Jasay
Der Staat
Duncker & Humblot · Berlin
ANTHONY DE JASAY
Der Staat
Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 2
Anthony de Jasay
Der Staat
Herausgegeben und übersetzt von
Hardy Bouillon
Duncker & Humblot · Berlin
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-15446-3 (Print) ISBN 978-3-428-55446-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85446-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender Autoren übersetzt und in deutscher Erstausgabe herausgegeben. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Auf den Autor des zweiten Bandes trifft beides zu. Der Staat ist eine Abhandlung zu Grundfragen der modernen politischen Theorie, für die der Autor, Anthony de Jasay, eine ungewöhnliche Perspektive wählt: die des Staates. Es ist üblich (auch im Klassischen Liberalismus), den Staat als ein Instrument zu sehen, das den Menschen dazu dienen soll, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das weiß auch der Autor. Was aber, so Jasay, wenn wir einmal annehmen, der Staat hätte einen eigenen Willen und eigene Ziele? Zur Beantwortung dieser Frage erkundet Jasay die systematische und historische Entwicklung, die der Staat von seinen Anfängen bis in die Gegenwart hinein genommen hat; vom bescheidenen Minimalstaat, der Leben und Eigentum sichert, bis hin zum vielbeschäftigten Verführer demokratischer Mehrheiten. Anthony de Jasay wurde 1925 in Ungarn geboren, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Mit 23 Jahren emigrierte er nach Australien, studierte dort Ökonomie und ging Mitte der 50er Jahre als Research Fellow ans britische Nuffield College in Oxford. Von 1962 bis 1979 lebte Jasay als Investmentbanker in Paris. Danach zog er als Privatgelehrter in die Normandie. The State war sein erstes Buch (1985). Es folgten zahlreiche andere Werke, zuletzt eine mehrbändige Ausgabe seiner kleinen Schriften. Von seinen Büchern wurde bislang nur Choice, Contract, Consent ins Deutsche übersetzt (Liberalismus neu gefaßt, 1995). Nach Der ökonomische Blickwinkel von Israel Kirzner ist Der Staat der zweite Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind bereits in Planung und sollen im Jahresrhythmus erscheinen, darunter Mensch versus Staat von Herbert Spencer. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird unterstützt von der Friedrich August von Hayek-Stiftung, Berlin. Prof. Dr. Hardy Bouillon
Prof. Dr. Gerd Habermann
Prof. Dr. Erich Weede
Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Einleitung des Herausgebers und Übersetzers
1986, kurz nachdem The State erschienen war, lud kein geringerer als James Buchanan den in der Fachwelt praktisch unbekannten Anthony de Jasay nach Virginia zu einem Vortrag ein. Mit dieser Einladung hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass Jasay in die Liga liberaler Denker aufstieg, in die er gehörte. Um es in Buchanans Worten zu sagen: „Durch seine Rückkehr in die Welt der Ideen hat Anthony de Jasay einiges bewirkt … und ich bin persönlich stolz auf die kleine Rolle, die ich bei dieser Rückkehr gespielt habe.“1 Was genau Jasay in der Welt der Ideen bewirkt hat, kann man noch nicht abschließend sagen. Und auch worauf diese Wirkung zurückgeführt werden kann, steht noch nicht fest. Aber es dürfte nicht unmaßgeblich mit der originellen Herangehensweise zusammenhängen, mit der Jasay die klassischen Themen der politischen Philosophie erörtert. Er nimmt sich dieser Themen an, indem er dem Staat einen eigenen Willen und eigene Ziele unterstellt. „Eine gelungene Staatstheorie sollte nicht auf die unbegründete Annahme setzen, dass der Staat irgendeinem anderen Interesse dienlich sei als dem eigenen. Sie sollte in der Lage sein, die Rolle des Staates in der politischen Theorie im Sinne jener Interessen des Staates zu erklären, die mit den Interessen Anderer interagieren, konkurrieren, konfligieren und auf dieselben in gebührender Weise ausgerichtet sind,“ so Jasay. Jasay geht es um den Staat, nicht um dessen Teile und die Individuen, die in ihnen wirken. Letztere ignoriert er nicht, aber er blendet sie aus, stellt sie zurück. Etablierte Distinktionen, wie z. B. die zwischen Staat und Regierung, treten in den Hintergrund. Es geht nicht um Regierung und Opposition, sondern um Staat und Opposition. „Der aktuelle Machtinhaber ist der Staat. Wenn ein anderer Konkurrent das Amt erhält, dann wird er der Staat.“ Eine andere Distinktion, die in den Hintergrund tritt, ist die von Bürger und Untertan. Beide haben Interessen, die nicht die Interessen des Staates sind. Angesichts dessen sind die sonstigen Unterschiede zwischen Bürger und Untertan von untergeordneter Bedeutung. Jasay spricht durchgehend von „subject“. Dieser Terminus wurde – vor allem mit Rücksicht auf die jeweiligen historischen Kontexte – mal mit „Bürger“, mal mit „Untertan“ übersetzt. Jasays Sprache ist aber nicht nur von Besonderheiten in der Terminologie bestimmt, sondern auch von Eigenarten in der Bildsprache und im Stil. Jasay ist in hohem Maße um die Eintracht von Sinn- und Klangbild der Sprache bemüht. Ein Übersetzer, der die Früchte dieser Mühewaltung in eine andere Sprache hinüberretten will, hat nolens volens einen schweren Stand. Das gilt auch im Hinblick auf die 1 „Anthony de Jasay has made a difference after his re-entry into the world of ideas. And … I am personally proud of the small part I played in the launching.“ (Buchanan (2007), S. 4).
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Vorliebe des Autors für komplexe Satzgebilde, die der Komplexität des Gedankens Rechnung tragen soll. Zwei Beispiele mögen diesen Umstand veranschaulichen. So heißt es z. B. im Hinblick auf Formen der Mischwirtschaft: „Auf dieser Stufe – die oft zustimmend ,Mischwirtschaft‘ genannt wird und einen zivilisierten Kompromiss zwischen komplementären Interessen der Privatinitiative und der gesellschaftlichen Kontrolle suggeriert – ist das Dickicht an Hindernissen, Wallmauern und Bunkern, wohin sich privates Unternehmertum zurückziehen kann, um, nicht ganz frei von Kosten, die Lebensgrundlage jener zu schützen, die, seien sie Eigentümer oder nicht, die Gelegenheit haben, dem Staat die Stirn zu bieten, zwar hier und da gelichtet, aber nicht komplett gerodet.“ Und mit Blick auf die Interessenkonflikte des Staates und die Unfähigkeit des Staates, dieselben zu lösen, schreibt Jasay: „Hin und her geworfen zwischen dem vernünftigen Interesse, weiterhin die ,demokratischen Werte‘ zu schaffen, von denen abhängig zu sein, die Empfänger sich selbst beigebracht haben, (und das Gruppeninteresse, auf dessen Unterstützung der Staat nicht verzichten kann, weiterhin zumindest aufrechtzuerhalten, wenn nicht gar zu vergrößern), und dem gleichermaßen vernünftigen Interesse, eigentlich das Gegenteil zu tun und auf den zunehmenden Poujadismus zu reagieren, und auch auf die wachsende Frustration und Unregierbarkeit bei mehr oder weniger denselben Menschen und Interessen, dreht und windet sich der Staat und erklärt er in zusammenhangsloser Rhetorik seine eigene zusammenhangslose Entwicklung weg.“ Dort, wo die Komplexität des Gedankens auf die Neigung zu feiner und – gelegentlich – übersteigerter Ironie trifft, wird es für den Übersetzer besonders heikel. Dann muss er schon mal auf den Indikativ zurückgreifen, obwohl die Vorlage den Konjunktiv erfordert – oder umgekehrt. Diesen Kunstgriff aber braucht es, will man den ironischen Ton des Autors treffen; z. B. dort, wo es um die Durchleuchtung der charakterlichen Eigenschaften der künftigen Volksvertreter geht. Über sie schreibt Jasay: „Dank einer solchen Durchleuchtung ist es nun möglich, in freien und demokratischen Wahlen verantwortungsbewusste und nicht-demagogische Volksvertreter zu wählen. Weil sie gleichermaßen um das Wohlergehen ihrer Familien wie das ihres Landes besorgt sind, kann man darauf vertrauen, dass sie (entweder aufgrund eines informellen Konsenses, einer formellen Koalition bzw. ,nationalen Front‘ und abhold kleinkarierter Parteirivalitäten) die verantwortungsvolle, nicht-demagogische Lenkung des Staates stärken und dem Staat die Sicherheit und Kontinuität seiner Amtszeit bescheren, die dieser braucht, um frei von Hast und Unbeständigkeit die Realisierung seiner Ziele zu verfolgen.“
Im Allgemeinen wurde jedoch von wohlmeinenden Änderungen abgesehen und alles vom Autor übernommen. Lediglich die Setzung der Anmerkungen entspricht den Gepflogenheiten des Verlags. Um den verlegerischen Vorgaben zu entsprechen, erwies es sich – wie auch schon beim 1. Band der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus – als notwendig, die vielen umfangreichen bibliographischen Angaben, die ursprünglich in die Anmerkungen eingebunden waren, in ein
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eigens dafür erstelltes Literaturverzeichnis zu übertragen. Dies wiederum ersparte das wiederholte Zitieren der Werke in den Fußnoten. Die stattdessen eingesetzten Kürzel aus Autor und Jahr beziehen sich auf die Angaben im Literaturapparat. Um Verwechslungen auszuschließen, die hier und da aufgrund mehrerer Publikationen eines Autors im selben Jahr denkbar gewesen wären, wurde gelegentlich der passende Titel der Veröffentlichung ergänzend genannt. Gleiches gilt, wo derlei Verwechslungen aus anderen Gründen möglich gewesen wären oder die Nennung des Titels sonstwie sinnvoll erschien. Sofern im Text Querverweise auf Unterkapitel im Buch auftauchten, wurden die gemeinten Unterkapitel durch Nummern angegeben, um langes Zitieren zu vermeiden, z. B. „Kap. 2.3“ statt „Kap. 2, Lizenz zum Flicken“. Größere Zitate, etwa die von Marx oder Engels, wurden nicht aus dem Englischen rückübersetzt, sondern nachgeschlagen und aus den Originalquellen, soweit zugängig, übernommen, um etwaige Irritationen beim Leser zu vermeiden. Dort, wo der Autor ausgiebig englischsprachige Klassiker der politischen Theorie zitiert – z. B. Rawls’ Theory of Justice –, wurde der Anschluss an bewährte Standardübersetzungen gesucht, bei Bedarf aber auch Abstand von diesen genommen. Sinnvoll erscheinende Abweichungen von etablierten Übersetzungen können auch Irritationen auslösen. Um dieser Folge vorzubeugen bzw. um dem Leser die Überprüfung unserer Vorschläge zu ermöglichen, wurden die vom Autor gesetzten Seitenreferenzen zum englischsprachigen Original beibehalten. Anthony de Jasay hat seine Abhandlung über den Staat vor nunmehr 35 Jahren geschrieben. Aber sowohl in ihrer Allgemeingültigkeit als auch in ihrer treffsicheren Vorhersage der Entwicklungen, die der demokratische Staat nimmt, ist sie aktueller denn je. Das gilt z. B. im Hinblick auf die totalitären Tendenzen des Staates, zu denen Jasay schreibt: „Gleichwohl argumentiere ich aber dafür, dass es in einem höheren, ,strategischen‘ Sinn von Rationalität, der vom ,taktischen‘ Sinn der optimalen Anpassung zu unterscheiden ist, für den Staat generell rational ist, mehr statt weniger totalitär zu werden, sofern er damit durchkommt, d. h., sofern er dort noch die Zustimmung der Mehrheit bekommt, wo er sie immer noch braucht. In einer Demokratie ist es auch für den Rivalen der Macht rational, eine totalitärere Alternative vorzuschlagen, wenn diese, obwohl für die Minderheit unattraktiver, der Mehrheit attraktiver zu sein scheint.“ Gleiches gilt aber auch in Bezug auf die wahrnehmbare Angleichung der Wahlprogramme, mit denen die etablierten demokratischen Parteien um die Macht zu ringen pflegen. Im Hinblick auf sie kommt Jasay zu einer recht nüchternen und wenig ermutigenden Erkenntnis: „Trotz aller Künstlichkeit bringen die Beobachtungen zur Arbeitsweise unserer schematisierten Darstellung der Wahldemokratie doch mehr zutage, als das bloße Betrachten des Räderwerks es je könnte. Sie bestärken auf die einfachste nur denkbare Art eine Annahme, die intuitiv einleuchtet: Materielles Interesse alleine reicht nicht aus, um vorherzubestimmen, welchem der Konkurrenten die Macht zuerkannt wird, weil diese, wenn auch unter unterschiedlichen Flaggen, zu guter Letzt im Kern um dieselben Interessen buhlen,
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und das mit so ziemlich denselben Gewinnaussichten. Vertrauter ist man wohl mit der entsprechenden ,Konvergenz der Programme‘, also der Tendenz (die manche für eine Stärke der Demokratie halten), die Bandbreite, innerhalb derer politische Maßnahmen (und die Erscheinungsbilder der um hohe Ämter buhlenden Kandidaten) wählbar bleiben, einzuengen. Die Rückseite der Medaille ist natürlich die Klage der Nonkonformisten, dass die Wahldemokratie echte und unterscheidbare Alternativen ausschließe. Es ist das Prinzip der öffentlichen Wahl, dass am Ende wenig zu wählen übrig bleibt.“ Mir bleibt am Ende noch zu danken; zum einen der Friedrich August von HayekStiftung für ihre großzügige Unterstützung bei der Übersetzung und Herausgabe dieses Buches; zum anderen Liberty Fund, Inc., für die freundliche Genehmigung, eine deutsche Ausgabe jener Auflage von The State herauszubringen, die Liberty Fund 1998 vorgelegt hat und die sowohl das Vorwort als auch die Anmerkung des Autors enthält, die dieser 12 Jahre nach Erscheinen der Urfassung hinzugefügt hat. Der größte Dank gebührt natürlich dem Urheber dieses Werkes, Anthony de Jasay. Seine Zustimmung hat die vorliegende Übersetzung erst möglich gemacht. Hardy Bouillon
Vorwort Obwohl dieses Buch sich an die Politische Philosophie, Ökonomie und Geschichte anlehnt, so tut es dies doch in einer Weise, dass es auch für den allgemein interessierten Leser, an den es sich hauptsächlich richtet, zugänglich ist. Sein zentrales Thema – wie Staat und Gesellschaft interagieren, um sich gegenseitig zu enttäuschen und im Elend zurückzulassen – dürfte eine recht breite Öffentlichkeit an Regierenden wie auch Regierten angehen. Die meisten Argumente sind einfach genug gehalten, um bei ihrer Darlegung auf die Präzision und den technischen Apparat verzichten zu können, den schon kaum die Fachleute verkraften, geschweige denn genießen können. Wenn schon nicht andere Gründe, so werden doch das Ausmaß des Themas und mein etwas unorthodoxer Ansatz dafür sorgen, dass der fachkundige Leser meinen wird, viele Teile der Argumentation bedürften der Ausführung, Verfeinerung oder gar Widerlegung. All das ist im Sinne der Sache, denn selbst dann, wenn ich es wollte, könnte ich doch nicht verbergen, dass mein Anliegen weder war, das letzte Wort zum Thema zu haben, noch die größtmögliche Zustimmung zu erheischen. Der Leser und ich schulden I.M.D. Little Dank für seinen prüfenden Blick auf große Teile des ursprünglichen Entwurfs. Es ist aber nicht sein Fehler, sollte ich an einigen meiner Fehler festgehalten haben. Frankreich, 1997
Paluel Seine Maritime
Anmerkung des Autors Der Staat handelt von der intrinsischen Natur der politischen Macht, die angesichts wechselnder Verhältnisse gleich bleibt und den Weg vorschreibt, auf dem die Regierungsformen sich entwickeln, anstatt von diesen bestimmt zu werden. Die Logik, politische Macht auszuüben, ist dieselbe Logik wie jene, die überall dort herrscht, wo man durch das Treffen von Entscheidungen etwas erreichen möchte. Vernünftige Lebewesen haben Ziele, die sie zu erreichen versuchen, und sie verwenden die ihnen verfügbaren Mittel so darauf, wie es ihrer Meinung nach der Erreichung dieser Ziele bestmöglich dient. Der Staat verfügt über eine besondere Art von Mitteln, nämlich die Macht über das Verhalten seiner Bürger, die in ihren jeweiligen Anwendungsformen von den meisten als legitim akzeptiert wird. Welche Ziele er auch immer haben mag – sie mögen moralisch vorbildlich sein oder nicht, den Bürgern zu Gute kommen oder nicht – der Staat kann sie vollständiger umsetzen, wenn er mehr Macht hat statt weniger. Gemäß dem Rational-ChoiceParadigma, dem die diszipliniertere Hälfte der Sozialwissenschaften folgt, maximiert der Konsument „Befriedigung“, das Wirtschaftsunternehmen „Profit“ und der Staat „Macht“. Dem Staat einen rationalen Verstand und Ziele, die er zu maximieren trachtet, zuzuschreiben, hat seit der Erstausgabe von Der Staat so einiges an Erstaunen, Kritik, ja sogar Unverständnis ausgelöst. Mein Forschungsansatz war recht schwer mit den eher konventionellen Ansätzen in Einklang zu bringen. Folgt man den eher herkömmlichen Sichtweisen, dann hält der Prinz die Macht in treuen Händen, ist die moderne Regierung der Agent der Gewinnerkoalition und dient ein Bündel von Berufspolitikern Sonderinteressen, und zwar im Austausch gegen Geld, Vergnügen und Ruhm. Mein Forschungsansatz hingegen sah keine Rolle für den Gesellschaftsvertrag vor und ließ keinen Platz für das Gemeinwohl. Aber vor allem behandelte er den Staat, ein Geflecht von Institutionen, als wäre dieser eine Person mit einem Verstand. Wenn man nun so argumentiert, als ob dies der Fall wäre, dann erzeugt das eine „Simulation“, eine Art schematischer Geschichte. Deren Kraft bei der Erklärung und Vorhersage komplexer Entwicklungen durch Offenlegung der Wirkungsweisen einfacher und dauerhafter Ursachen rechtfertigt vielleicht den Bruch mit der herkömmlichen Sichtweise. Das Buch prophezeit, dass der Diener-Staat durch unaufhaltsames Ausdehnen der kollektiven Sphäre auf Kosten der Privatsphäre stets danach strebt, zu einem totalitären Herrscher-Staat zu werden. Ein paar Jahre nach seiner Ersterscheinung wurden wir jüngst Zeuge eines gründlich misslungenen Versuchs totalitärer Herrschaft. Gemeint ist der Zusammenbruch des sozialistischen Regimes in Russland
Anmerkung des Autors
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und seinen Satellitenstaaten. Es ist schwer zu sagen, was dieser Kollaps widerlegt, sollte er überhaupt etwas widerlegen. Muss der Versuch am Ende immer scheitern? Ich sehe keinen überzeugenden Grund, warum dies in der einen oder anderen Weise immer so sein sollte. Genauso wenig muss er immer bis ans Ende gehen, um Korruption und Atrophie gesellschaftlicher Werte in Gang zu setzen. Mai 1997
Anthony de Jasay
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Kapitel
Der kapitalistische Staat 30
Gewalt, Gehorsam, Vorliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Anspruch und Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Die Umrisse des Minimalstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Wenn es keine Staaten gäbe, sollte man sie dann erfinden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Den Staat erfinden: der Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Den Staat erfinden: das Instrument der Klassenherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Sache durch falsches Bewusstsein zum Abschluss bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Kapitel
Der adverse Staat 81
Repression, Legitimität und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Parteinahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die Lizenz zum Flicken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die offengelegte Präferenz der Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Interpersonale Gerechtigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Unbeabsichtigte Effekte beim Herstellen interpersonaler Nutzenund Gerechtigkeit . . . 124 3. Kapitel
Demokratische Werte 131
Liberalismus und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Durch Gleichheit zu Nützlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Wie die Gerechtigkeit Verträge aufhebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Egalitarismus als Klugheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Liebe zur Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Neid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
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Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel
Umverteilung 195 „Feststehende“ Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Konsens erkaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abhängig machende Umverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Steigende Preise .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Umrühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Auf zu einer Theorie des Staates .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 5. Kapitel Staatskapitalismus 256 Was tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Der Staat als Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Auf der Plantage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Personen- und Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Einleitung Einleitung
Was würden Sie tun, falls Sie der Staat wären?
Es ist eigenartig, dass die Politische Theorie spätestens seit Machiavelli praktisch aufgehört hat, diese Frage zu stellen. Sie hat viel darüber nachgedacht, was der einzelne Staatsbürger, eine Klasse oder die ganze Gesellschaft aus dem Staat herausholen kann, und wie es um die Legitimität seiner Befehle bestellt ist, und um die Rechte, die der Einzelne angesichts dessen behält. Sie befasste sich mit dem Gehorsam, den die hoffnungsvollen Nutzer jenem Staat schulden, dessen Dienste sie in Anspruch nehmen; die Art ihrer Mitwirkung, um den Staat in Gang zu halten, und die Wiedergutmachung, welche die Opfer verlangen können, falls er einmal nicht funktionieren sollte. Sie alle sind Angelegenheiten von vitalem Interesse und werden mit der Zeit und mit der Größe, die der Staat im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft annimmt, immer wichtiger. Reicht es jedoch aus, sie alleine aus der Sicht des Staatsbürgers zu behandeln, was er braucht, will, kann oder tun sollte? Würde unser Verständnis nicht an Vollständigkeit gewinnen, wenn wir nicht auch sehen könnten, wie sie aus Sicht des Staates ausschauen? Das vorliegende Buch ist der Versuch, dies zu tun. Trotz aller Risiken, Institutionen mit Personen zu verwechseln, und trotz aller Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man vom Prinzen zu dessen Regierung übergeht, entscheidet es sich dazu, den Staat wie eine reale Entität zu behandeln; als ob dieser einen Willen hätte und in der Lage wäre, vernünftige Entscheidungen darüber zu treffen, wie die Mittel zu den Zielen passen. Es versucht also zu erklären, wie der Staat sich gegenüber uns verhält, und zwar in dem Sinne, dass man bei der Betrachtung der sich aneinanderreihenden historischen Situationen wissen will, was er vermutlich getan hätte, falls er in der Lage gewesen wäre, die ihm unterstellten Ziele rational zu verfolgen. Aus Sicht des jungen Marx steht der Staat im „Gegensatz“ zur bürgerlichen Gesellschaft und „überwindet“ sie. Er sprach von dem „allgemeinen weltlichen Widerspruch zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft“ und behauptete: „In Zeiten, wo der politische Staat als politischer Staat gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird, … , kann und muß der Staat bis zur Aufhebung der Religion, bis zur Vernichtung der Religion fortgehen, aber nur so, wie er zur Aufhebung des Privateigentums, zum Maximum, zur Konfiskation, zur progressiven Steuer, wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine fortgeht.1 An anderen vereinzelten Stellen, vor allem in „Die Heilige Familie“ und „Der achtzehnte Brumaire“, fuhr er damit fort, den Staat als eine autonome Entität 1
Marx, Die Judenfrage, S. 355, 363, 357.
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Einleitung
darzustellen, die ihren eigenen Weg geht, ohne indes eine Theorie dafür zu bieten, warum dieser in „Überwindung“, „Konfiskation“ und „Widerspruch“ münden muss und der autonome Staat ein Widersacher der Gesellschaft ist. Als Marx dann dazu überging, sein System zu errichten, stieß er ins selbe Horn wie der Kanon der politischen Theorie, dessen Gemeinsamkeit es ist, den Staat hauptsächlich als ein Instrument zu betrachten. Für den gereiften Marx, und noch viel mehr für Engels, Lenin und die sozialistische Schule, die sie nach wie vor inspirieren, wurde der Staat somit zu einem Werkzeug, das den Interessen der herrschenden Klasse diente und ihr die Vorherrschaft sicherte. Auch für die Mehrheit der nicht-sozialistischen Theorien ist der Staat ein Instrument und dazu konstruiert, seinen Nutznießern zu dienen. Man betrachtet ihn als allgemein harmlos; entworfen, um die Zwecke anderer zu befördern. Seine Gestalt als Werkzeug, die Arbeiten, die er erledigt, und die Identität der Nutznießer mögen variieren, aber der instrumentelle Charakter des Staates ist allen Hauptströmungen modernen politischen Denkens gemeinsam. Für Hobbes wahrt er den Frieden, für Locke erhält er das Naturrecht auf Freiheit und Eigentum, für Rousseau realisiert er den allgemeinen Willen, und für Bentham und Mill ist er das Mittel, das die gesellschaftlichen Verhältnisse verbessert. Für die Liberalen unserer Zeit überwindet er das Unvermögen der privaten Interessen, spontan zu kooperieren. Er zwingt sie, kollektiv bevorzugte Mengen an öffentlichen Gütern, wie öffentliche Ordnung, Verteidigung, saubere Luft, geteerte Straßen und allgemeine Bildung, zu produzieren. Wenn man öffentliche Güter sehr weit fasst, dann ermöglicht sein Zwang der Gesellschaft auch, Verteilungsgerechtigkeit oder, schlicht, allgemeine Gleichheit zu erzielen. Gewiss gibt es auch weniger blauäugige Varianten dieser instrumentellen Sichtweise. Für die Schule der „nicht-marktlichen Entscheidungen“ bzw. „Public Choice“-Schule führen die Interaktionen privater Entscheidungen mithilfe des Staates zur Überproduktion öffentlicher Güter, aber auch zu anderweitigen Fehlversuchen, gewünschte Ergebnisse zu erzielen.2 Die „Public Choice“-Schule befasst sich mit der Unhandlichkeit des Staates als Werkzeug, d. h. mit dessen Möglichkeiten, einer Gesellschaft zu schaden, die ihn zur Hand nehmen will. Nichtsdestotrotz ist der Staat ein Werkzeug, obgleich ein schadhaftes. Was aber ist schadhaft, fehlerhaft entworfen und ein Geburtsfehler? Und was innere Beschaffenheit? Degeneriert Platons Republik auf dem Weg von der Demokratie zur Despotie? Oder entspricht sie dabei ihren eigenen Zwecken? * Der erste Schritt zu einem angemessenen Verstehen des Staates ist, über ein Leben ohne ihn nachzudenken. Wenn wir uns ein Beispiel an Rousseau nehmen, 2 Wie einer der Gründer dieser Schule einmal sagte, handelt die Wohlfahrtsökonomie vom Versagen des Marktes und die Public Choice Theorie vom Versagen der Staates (Buchanan (1975), Kap. 10). Man beachte aber den davon abweichenden Kurs bestimmter Public Choice-Theoretiker, auf den wir in Kapitel 4 (Anm. 187) Bezug nehmen.
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dann tendieren wir unnötigerweise dazu, den Naturzustand mit den Wilden und vielleicht nicht allzu hellen Jägern zu Beginn der Menschheitsgeschichte gleichzusetzen. Es ist zu einem anerzogenen Reflex geworden, ihn als eine frühe, primitive Stufe der Zivilisation anzusehen und davon auszugehen, dass es für eine fortschrittliche Zivilisation notwendig ist, einen Staat zu bilden und ihn einzufordern. Das mag so sein, wenn man das Ganze als empirische Frage auffasst. Logisch betrachtet, kann man dies keineswegs aus dem schließen, was den Naturzustand als einziges notwendigerweise auszeichnet; nämlich, dass in ihm die Teilnehmer ihre Souveränität nicht abtreten. Niemand hat ein Gewaltmonopol erhalten; alle behalten ihre Waffen. Dieser Zustand muss nicht im Widerspruch zu irgendeiner Zivilisationsstufe stehen, weder zu einer früheren, noch zu einer späteren. Die Nationalstaaten befinden sich in einem Naturzustand und zeigen keinerlei Neigung, die Souveränität in einem Superstaat zu bündeln. Im Gegensatz zu dem, was Hobbes angeblich implizit annahm, schaffen es die meisten von ihnen, Kriege auf lange Zeit zu vermeiden. Sie kooperieren sogar im bewaffneten Frieden, und zwar sehr auffallend und tapfer im internationalen Warentausch, Investment und Kreditgeschäft, trotz aller Risiken der Souveränität. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages würde für all diese Bereiche vorhersagen, dass es auf internationaler Ebene Diebstahl, Betrug, Konfiskation und ein Verhalten auf Kosten der Nachbarn gäbe und der Vertrag nur ein wertloses Stück Papier wäre. In Wirklichkeit bricht die internationale Zusammenarbeit nicht zusammen, und das, obwohl es keinen Superstaat gibt, der Verträge über die nationale Gerichtsbarkeit hinweg durchsetzt. Wenn überhaupt, dann bewegen sich die Dinge in entgegengesetzter Richtung. Die internationalen Beziehungen nähren eher die Zweifel an der gängigen Meinung, dass die Menschen im Naturzustand kurzsichtige Einfaltspinsel in Tierhäuten waren, die sich gegenseitig mit dem Knüppel auf den Kopf schlugen. Stattdessen gibt es vielmehr Grund zur Annahme, dass mit dem Fortschreiten der Zivilisation der Naturzustand immer tragfähiger wird. Die Angst vor der hochentwickelten Aufrüstung könnte sich für die kriegerische Enthaltsamkeit als sehr potent erweisen und die Menschen weit besser vor einem „ekelhaften, tierischen und kurzen Leben“ bewahren, als es die Superstaaten der Geschichte, wie Rom, das Karolingische Reich oder das Britische Weltreich, konnten; allerdings dürfte es zu früh sein, dies jetzt schon zu sagen. Wie Menschen und Gruppen sich im Naturzustand entwickeln, ist weitaus schwerer zu beurteilen als die Entwicklung, die sie als Teil einer Nation nehmen. Der zivilisierte Mensch lebt schon zu lange als Untertan des Staates. Mithin haben wir keine Gelegenheit festzustellen, wie gut er mit anderen im Naturzustand kooperieren würde. Empirisch betrachtet, können wir noch nicht einmal so tun, als ob wir beurteilen könnten, welchen Unterschied es macht, wenn man einen Staat hat. Würden die Menschen die Verträge in Ehren halten, wenn kein Erzwingungsbevollmächtigter da wäre, der das Gewaltmonopol in letzter Instanz hätte? Für gewöhnlich sagt man, dass gesellschaftliche Kooperation auf freiwilliger Basis nicht aufrechterhalten werden kann, weil jeder nur will, dass alle anderen zu ih-
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rem Wort stehen und es ihm freisteht, seines zu brechen. In der Fachsprache der Entscheidungstheorie kann ein richtig konstruiertes „Gefangenendilemma“ keine nicht-erzwungene kooperative Lösung haben. Neuere Forschungen aus Mathematik, Psychologie und Sozialwissenschaften lehren uns, dass dem nicht so sein muss, wenn die Menschen solchen Dilemmata wiederholt ausgesetzt sind. Die Resultate lehren sie, wozu die erwarteten Ergebnisse sie verleiten, nämlich spontan zu kooperieren. Jedes Argument, wonach der Staat sie zwingen muss, zu kooperieren, weil sie es ohne Zwang nicht täten, ist ein non sequitur. Andererseits gilt: Je länger sie zur Kooperation gezwungen wurden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie die Fähigkeit, spontan zu kooperieren, künftig aufrechterhalten (falls sie dieselbe je hatten). „Wer kann, der macht es.“ Aber das Gegenteil „Wer es macht, der kann es“ ist nicht weniger wahr, weil Übung den Meister macht. Menschen, die man dazu bringt, sich auf den Staat zu verlassen, lernen weder die Kunst der Eigenständigkeit, noch eignen sie sich die Gepflogenheiten staatsbürgerlichen Handelns an. Eine der vielgerühmten Einsichten Tocque villes (obgleich er von diesen tiefere hatte) war in der Tat die in Bezug auf die englische und amerikanische „Regierung“, die sowohl Raum und Notwendigkeit für Initiativen von unten lasse als auch durch wohlmeinendes Unterlassen die Menschen dazu verleite, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, während die französische „Verwaltung“ keines von beiden getan habe. Die abhängig machenden Effekte des Staates, die Abhängigkeit der menschlichen Werte und Vorlieben von den herrschenden politischen Verhältnissen, die diese hervorbringen sollen, ist das grundlegende Leitmotiv, das in all meinen Argumenten immer wieder auftaucht. Das andere wiederholt auftretende Grundelement des Staates ist die Unberechenbarkeit von Ursache und Wirkung in gesellschaftlichen Beziehungen. Vielleicht führt staatliches Handeln zu dem beabsichtigten Resultat, vielleicht auch nicht, weil das nächste Ereignis, das eintritt, kein schlüssiges Indiz für das endgültige Ereignis bietet. Fast immer hat es jedoch auch andere Effekte, womöglich sogar bedeutende und länger währende. Diese unintendierten Effekte dürften zudem gewiss ungewollt, unvorhergesehen und, naturgemäß, unvorhersagbar sein. Aus diesem Grund kriegt man eine Gänsehaut angesichts der schönfärberischen Auffassung, dass Politik eine pluralistische Vektorgeometrie sei und die bürgerliche Gesellschaft sich selbst regiere und den Staat kontrolliere, der nur eine Maschine sei, um die „gesellschaftlichen Entscheidungen“ aufzugreifen und auszuführen. * Die These dieses Buches ist auf fünf Kapitel verteilt und umspannt den Verlauf, den der Staat logisch (wenn auch nicht in Echtzeit) nimmt, wenn er sich zwischen den beiden Grenzextremen bewegt; nämlich von dem Punkt, wo seine Ziele nicht mit den Zielen der Staatsbürger konkurrieren, bis hin zu dem Punkt, wo er den größten Teil ihres Eigentums und ihrer Freiheit besitzt. Kapitel 1 „Der kapitalistische Staat“ behandelt zunächst die Rolle, die Gewalt, Gehorsam und Vorlieben bei der Geburt des Staates einnehmen. Danach beginnt
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es, die charakteristische Kontur eines Staates, der, falls er existierte, nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft konfligierte, abzuleiten. Ich nenne diesen Staat „kapitalistisch“, um die charakteristische Art und Weise hervorzuheben, in der er Eigentum und Vertrag behandelt. In ihm herrscht die Vorstellung, dass das Recht auf Eigentum gut begründet ist, wenn der Finder das Gefundene behalten darf. Der Staat greift nicht in die Verträge ein, die andere zu ihrem Vorteil schließen. (Das schließt auch aus, dass er andere dazu zwänge, einen umfassenden, allseitigen Gesellschaftsvertrag zur Überwindung ihrer Trittbrettfahrerversuchungen abzuschließen). Er gibt auch nicht dem Mitgefühl und Mitleid nach, das er für die eher glücklosen Staatsbürger hegt, und zwingt nicht die weniger Glücklosen, den Glücklosen zu helfen. Außerdem ist er ein Minimalstaat, also ein Staat mit weniger Politik („Die Umrisse des Minimalstaates“). Es scheint ungewöhnlich, wenn nicht gar in sich widersprüchlich zu sein, dass der Staat nicht nur einen Willen hat, sondern auch das Verlangen, sich zu minimieren. Damit dies vernünftig ist, müssen die Ziele jenseits der Politik liegen und können nicht durch Regieren erzielt werden. Der Zweck des Regierens liegt dann allein darin, nicht-minimale Rivalen raus zu halten (Revolutionsvorbeugung). Natürlich hat es einen solchen Staat in der Geschichte nie gegeben, obwohl ihm ein oder zwei Staaten im 18. und 19. Jahrhundert zumindest ansatzweise nahekamen. Der „politische Hedonist“, der den Staat vorzieht, weil dieser für ihn die Balance zwischen helfen und hindern findet, muss logischerweise einen umfassenderen Staat als den Minimalstaat anstreben und würde diesen wohl erfinden, falls es ihn nicht bereits gäbe.3 Aus Sicht der individuellen Staatsbürger begründet der politische Hedonismus den Wunsch nach einem umfassenderen und optionsärmeren Kooperationsprogramm als dem Flickenteppich aus Verträgen, die aus freiwilligen Verhandlungen hervorgehen („Den Staat erfinden: der Gesellschaftsvertrag“). Und aus Sicht der hypothetischen Herrscherklasse sollte man aus politischem Hedonismus nach einer Maschine verlangen, die Dominanz sicherstellt („Den Staat erfinden: das Instrument der Klassenherrschaft“). Beide Versionen des politischen Hedonismus setzen eine gewisse Leichtgläubigkeit hinsichtlich der Risiken voraus, die entstehen, wenn man die Waffen niederlegt, um den Staat damit auszustatten. Sie setzen den Glauben an den instrumentalen Charakter des Staates voraus, als sei er dazu gemacht, den Zielen anderer zu dienen, ohne selbst welche zu haben. In jeder nicht-einstimmigen Gesellschaft, in der es eine Vielfalt an Interessen gibt, kann der Staat jedoch keine anderen Interessen verfolgen als seine eigenen, so verträglich diese auch sein mögen. Seine Art, Konflikte zu lösen und die Ziele anderer zu gewichten, sind für die Befriedigung seiner eigenen Ziele konstitutiv („Die Sache durch ein falsches Bewusstsein zum Abschluss bringen“). Ist der politische Hedonismus zweckmäßig, besonnen und vernünftig? Stellt der Staat, der uns umgibt, uns besser oder schlechter? Sind die Güter, die der Staat in 3 Der Begriff „politischer Hedonist“ wurde von dem großen Leo Strauss geprägt, um dem willigen Untertan Leviathans einen Namen zu geben.
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Verfolgung seiner eigenen Interessen zu produzieren beschließt, auch jene, die wir gewählt hätten? All diese Fragen werden im Hinblick auf Reform, Fortschritt und Nützlichkeit in Kapitel 2 aufgegriffen, und in Kapitel 3 im Rahmen bestimmter Themen erörtert, z. B. Jeder eine Stimme, Egalitarismus (sowohl als Mittel wie auch als Ziel) und Verteilungsgerechtigkeit. * Gewalt und Vorlieben mögen zwar historisch bzw. logisch den Ursprung des Staates bilden, aber politischen Gehorsam ruft der Staat weiterhin hervor, indem er auf die alte Trias von Repression, Rechtmäßigkeit und Konsens (das Thema des ersten Abschnitts von Kapitel 2) zurückgreift. Der Rechtmäßigkeit beugt man sich auch ohne Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Strafe. Der Staat kann mehr Legitimität nicht nach Belieben erzeugen, bzw. nur auf lange Sicht. Um selbst erhört zu werden, verbleiben ihm nur die verschiedenen Kombinationen aus Repression und Konsens. (Gleichwohl wird er sich natürlich glücklich schätzen, wenn er sich der Rechtmäßigkeit erfreuen kann.) Der Konsens eines Bruchteils der Gesellschaft, z. B. der Lagerwachen in einem Lagerstaat, kann reichen, um den Rest zu unterdrücken. In solchen Fällen fließen die Belohnungen der willigen Minorität naturgemäß reichlich zu, während die Unterdrückung sich über die große Mehrheit fein verteilt. Eine Umkehr dieses Musters geht mit einem größeren Vertrauen auf Konsens einher. Aus Gründen, die anfangs Anerkennung finden, rückblickend jedoch vielleicht als schwach oder töricht bereut werden, hält es der repressive Staat auf Dauer für angebracht, einige von denen, die er bislang zu unterdrücken pflegte, dazu zu bringen, sich auf Konsens zu verlegen („Parteinahme“). Dieser Prozess ist eine Kombination aus Schritten hin zu einer umfassenderen politischen Demokratie und Schritten zu guten Taten, wobei dem Staat eine gegenläufige, umstrittene Rolle zufällt, weil er nun große Teile der Gesellschaft um deren Unterstützung bittet, indem er ihnen anbietet, beträchtliche Belohnungen einzustreichen, die man anderen kleineren, aber zahlungskräftigen Teilen der Gesellschaft abnimmt. Ein Nebenprodukt dieses Prozesses, Gewinner und Verlierer zu schaffen, ist, dass der Staatsapparat größer und schlauer wird. M.E. ist es nahezu unbestreitbar, dass der normative Inhalt jeder herrschenden Ideologie mit dem Interesse des Staates zusammenfällt, statt, wie in der marxistischen Theorie behauptet, mit denen der herrschenden Klasse. Mit anderen Worten, die herrschende Ideologie ist jene, die, allgemein gesprochen, dem Staat sagt, was er hören will; wichtiger noch, die ihm sagt, was seine Untertanen mitbekommen sollen. Statt den „Überbau“ der Ideologie auf das Fundament der Interessen zu platzieren (wohin man ihn normalerweise platziert), stützen sich diese beiden gegenseitig. Es braucht eigentlich keine herrschende Klasse in der Gesellschaft. Dennoch gedeihen und entwickeln sich der Staat und die herrschende Ideologie gemeinsam. Diese Auffassung führen wir weiter aus, um darlegen zu können, warum wir dem Utilitarismus („Die Lizenz zum Flicken“ und „Die offengelegte Präferenz der Regierungen“), der eine überaus mächtige, wenn auch inzwischen meist unbewusst
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wirkende Einflussgröße im politischen Denken unserer und früherer Tage ist, so viel Aufmerksamkeit schenken. Die utilitaristischen Verbesserungsmaßnahmen, welche die Veränderungen der Verhältnisse nach den zu erwartenden Konsequenzen beurteilen und interpersonale Nutzenvergleiche durchführen, damit der Staat bei der Einschätzung einer politischen Maßnahme den Schaden, den er einigen zumutet, von dem größeren Gut abziehen kann, das er anderen zufügt, um unter dem Strich ein größeres Glück zu erhalten, verleihen den Handlungen des Staates ein moralisches Gewicht. Die Doktrin, die derartige Maßnahmen empfiehlt, stellt die perfekte Ideologie für den aktivistischen Staat dar. Sie bildet die moralische Grundlage für politische Maßnahmen, die der Staat ergreift, wenn es in seinem Ermessen liegt, wen er zu begünstigen gedenkt. Aber auch dann, wenn die Frage, wer zu begünstigen sei, nicht mehr seine Ermessenssache ist, sondern ihm im Zuge von Wahlkämpfen vorgegeben wird, dienen ihm interpersonale Nutzenvergleiche nicht nur, um an der Macht zu bleiben, sondern auch als Grundlage für seine Beteuerungen, dass das, was er tue, gut, gerecht oder beides sei. In der sozialen Gerechtigkeit als dem erklärten Ziel und der moralischen Rechtfertigung einer Politik der Verführung liegt offenbar ein Bruch mit dem Utilitarismus. Ein durchgehender Grundzug bei beiden als Kriterien der Politikrechtfertigung ergibt sich indes aus der Abhängigkeit, in der beide zu interpersonalen Nutzenvergleichen stehen. Während in dem einen Fall Nutzen verglichen werden, vergleicht man in dem anderen Fall Verdienste. Jeder der beiden Vergleiche kann für eine Befugnis, freie Verträge zu überstimmen, herhalten. Bei beiden fällt die Rolle des „mitfühlenden Beobachters“ oder des „offenen Auges“, in welcher der sachkundige und verbindliche Vergleich durchgeführt wird, natürlich dem Staat zu. In diese Rolle zu schlüpfen, ist für ihn eine genau so große Errungenschaft wie die sich daraus ergebende Möglichkeit, unter seinen Bürgern eine Klasse, Rasse, Alterskohorte, Region, Berufsgruppe oder sonstige Interessengemeinschaft zu begünstigen. Wenn nun der Staat mittels Reform und Umverteilung das Fundament der Schützenhilfe zu gießen beginnt, dann genießt er zwar die Freude am Ermessen, auszuwählen, wen man auf wessen Kosten vorzieht, aber diese Freude ist nur von kurzer Dauer. In Kapitel 4 werden die Gründe dafür erörtert, warum die Ermessensfreiheit im Zuge des politischen Wettbewerbs und der wachsenden Abhängigkeit der Gesellschaft von einem gegebenen Verteilungsmuster dazu neigt, vor die Hunde zu gehen. * Der vollentwickelte Umverteilungsstaat, in dessen Namen „der Nichtbesitzende zum Gesetzgeber des Besitzenden“4 wird und der auf Dauer den Charakter und die Struktur der Gesellschaft auf weitgehend unbeabsichtigte Weisen verändert, hat auch ein doktrinäres Gegenstück, seine ideologische Entsprechung. Die Entwicklung des einen kann ohne die Entwicklung des anderen kaum gedacht werden. Kapitel 3 „Demokratische Werte“ behandelt die linksliberale Ideologie, die genau 4
Marx, Die Judenfrage, S. 354.
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dann vorherrscht, wenn der Staat, der zunehmend vom Konsens abhängt und dem Wettbewerb um denselben ausgesetzt ist, die Menschen überwältigt und gleichzeitig ihren Idealen dient. Indem der Staat den Aufstieg der Demokratie als Vehikel für den Übergang von der Repressionsherrschaft zur Konsensherrschaft gutheißt, fördert und vorbereitet, verpflichtet er sich zu bestimmten Verfahrensweisen (z. B. Jeder eine Stimme, Mehrheitsregel), damit man ihn mit der dauerhaften Macht belohne. Die Verfahrensweisen sind so, dass der Staat auf seiner Suche nach Unterstützung um ein einfaches Zählen der Köpfe nicht umhinkommt. Seine Politik muss, salopp gesagt, einfach mehr Gewinner als Verlierer abwerfen, anstatt z. B. die zu begünstigen, die es am meisten verdient haben, oder jene, die er am meisten mag, oder die mehr Einfluss haben, oder sonst ein subtileres Ziel verkörpern. „Mehr Gewinner als Verlierer“ lässt sich lukrativer erreichen, wenn man statt einer Anzahl an Armen die gleiche Anzahl an Reichen in die Rolle der Verlierer drängt. Diese Regel ist allerdings rein zweckdienlich. Sie mag vielleicht nicht den Beifall jener erheischen, die das Spiel von außen beobachten und sich von ihrer Anwendung keinen Gewinn versprechen. Einige von diesen (zu denen natürlich auch viele Utilitaristen zählen) würden wohl lieber die Regel „Lieber mehr Gewinn schaffen als mehr Gewinner“ vorziehen und das Köpfe zählen sein lassen. Wieder andere dürften Zusätze mögen, wie „unter Berücksichtigung der Naturrechte“ oder vielleicht „solange die Freiheit nicht verletzt wird“, wobei jede dieser Klauseln genug Einschränkungen vorsieht, mit denen die meisten demokratischen Politikmaßnahmen zum Stillstand kämen. So gesehen, ist es sehr hilfreich, wenn die linksliberale Ideologie einen Fall oder, um sicher zu gehen, eine Reihe von gleichgelagerten Fällen angibt, die zeigen, dass demokratische Politik demokratische Werte schafft, was wiederum heißt, dass die politische Zweckmäßigkeit als zuverlässiger Wegweiser zu einem guten Leben und zu den allgemein geschätzten letzten Zielen ausreicht. Ich werde mich mit vier solchen Fällen befassen. In einem davon, der zwei große Fürsprecher hatte (in Edgeworth einen eindeutigen und in Pigou einen eher fragwürdigen), geht es darum, die Auffassung zu stärken, dass Einkommensangleichung Nutzen maximiere. Vorausgesetzt, dass es überhaupt einen Sinn ergibt, die Nutzen verschiedener Personen zu addieren und die Summe zu maximieren, lautet mein Gegenargument („Durch Gleichheit zu Nützlichkeit“), es sei vernünftiger anzunehmen, dass irgendeine festgelegte und altehrwürdige Einkommensverteilung, sei sie nun gleich oder ungleich, den Nutzen tatsächlich maximieren werde. (Falls es einen Grund für Angleichung gibt, dann ist er wahrscheinlich auf die neuen Reichen und die neuen Armen beschränkt.) Ein aktuellerer und kaum weniger einflussreicher Fall, nämlich der, den John Rawls konstruiert hat, spricht für einen modifizierten, gemäßigten Egalitarismus, der den Gerechtigkeitsprinzipien entspreche. Ich bringe aus verschiedenen Gründen Einwände gegen die Prinzipien vor, die Rawls aus dem durchdachten Interesse der Menschen ableitet, welche, in Unwissenheit über sich selbst und mithin über ihre Unterschiedlichkeit, die Verteilung aushandeln. Ich bestreite die angebliche
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Abhängigkeit der gesellschaftlichen Kooperation; nicht wegen der Bedingungen, die bereitwillige Teilnehmer in beiderseitigem Einvernehmen schaffen, indem sie ihre Kooperation tatsächlich entfalten, sondern wegen der Neuausrichtung dieser Bedingungen, um Prinzipien zu entsprechen, die separat verhandelt werden, und zwar in einem „Urzustand“ („original position“) der Ignoranz, der zu diesem Zweck erdacht wird. Ich stelle auch in Frage, warum die Gerechtigkeitsprinzipien von der Demokratie abgeleitet werden, anstatt umgekehrt vorzugehen („Wie die Gerechtigkeit Verträge aufhebt“). Im Abschnitt „Egalitarismus als Klugheit“ hinterfrage ich die angebliche Klugheit eines bestimmten Egalitarismus und jenen Anteil, den Risiko und Wahrscheinlichkeit haben, wenn man eigeninteressierte Menschen dazu bringt, sich für diesen Egalitarismus zu entscheiden. Außerdem wende ich mich gegen Rawls’ Leerformel, der Umverteilungsprozess sei schmerzund kostenlos und der Staat ein Automat, der „gesellschaftliche Entscheidungen“ ausspucke, wenn wir ihn mit unseren Wünschen fütterten. Anstatt, und wie ich meine, erfolglos, daran festzuhalten, dass bestimmte ökonomische und politische Ungleichheiten letzte, unumstrittene Werte wie Nützlichkeit oder Gerechtigkeit produzierten, nimmt die linksliberale Ideologie manchmal keck Zuflucht zu einer Abkürzung und erhebt die Gleichheit selbst in den Rang eines letzten Wertes, die um ihrer selbst willen geschätzt wird, weil es dem Menschen angeboren sei, sie zu mögen. Mein Hauptgegenargument („Die Liebe zur Symmetrie“), für das wir in Marxens „Kritik des Gothaer Programms“ und in einem unschätzbaren Ausbruch von Engels wohl eher unerwartet Schützenhilfe finden, lautet, dass wir dann, wenn wir glauben, für die Gleichheit zu stimmen, in Wirklichkeit eine Gleichheit enttäuschen, indem wir einer anderen zum Durchbruch verhelfen. Vielleicht wohnt die Liebe zur Gleichheit generell der menschlichen Natur inne, vielleicht auch nicht. Aber die Liebe zu einer bestimmten Gleichheit, die man einer anderen vorzieht (weil man nicht beide gleichzeitig haben kann) ist nur eine Geschmackssache wie andere Vorlieben auch und kann nicht für ein allgemeines moralisches Argument herhalten. Ähnlich gelagerte Gründe können gegen die Behauptung ins Feld geführt werden, die demokratische Politik sei deshalb gut, weil sie durch Angleichung der Schicksale die Leiden mindere, welche die Menschen empfänden, wenn sie sähen, dass dem Nachbarn mehr Glück beschert sei („Neid“). Nur wenige der zahllosen Ungleichheiten, die den Menschen zu schaffen machen, eignen sich zum Angleichen, schon gar nicht, wenn der Angriff auf den Unterschied so unverblümt daherkommt wie in Maos Kulturrevolution. Es ist nutzlos, jeden das Gleiche essen, anziehen und arbeiten zu lassen, wenn einer immer noch glücklicher verliebt ist als der andere. Die Quelle des Neides ist der neidische Charakter und nicht eine Hand voll handhabbarer Ungleichheiten aus einer unendlichen Fülle von Ungleichheiten. Der Neid wird nicht verschwinden, sobald alle Schlösser niedergebrannt sind, das Verdienst das Privileg ersetzt hat und alle Kinder in dieselbe Schule geschickt werden. *
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Anreize und Widerstände, aber auch die Zwangslage, an der Macht zu bleiben, und zwar angesichts des Wettbewerbs um Konsens und der Eigenart der Gesellschaft, deren Konsens es hervorzulocken gilt, sollten den Staat eigentlich dazu führen, sich ein entsprechendes Repertoire an politischen Maßnahmen zuzulegen, mit dem er einigen Personen Eigentum und Freiheit wegnehmen kann, um sie anderen Personen zu geben. Müsste aber dieser Baukasten, wie auch immer er aussehen mag, nicht zwangsläufig hypothetisch bleiben, und damit Eigentum und Freiheit unangetastet, falls die Verfassung dem Staat untersagte, Eigentum und Freiheit anzutasten, oder zumindest gesetzliche Schranken für das vorgäbe, was angetastet werden darf? Um Klarheit bezüglich der Verfassungsschranken demokratischer Politik zu schaffen, beginnt Kapitel 4 „Umverteilung“ mit einigen Anmerkungen zu unveränderlichen Verfassungen. Es liegt zwar demnach nahe, dass die mutmaßlichen Schranken einer Verfassung dem Staat als vertrauensbildende Maßnahme durchaus von Nutzen sind, aber es ist unwahrscheinlich, dass eine Verfassung unverändert bleibt, wenn sie nicht mit dem vorherrschenden Gleichgewicht der Interessen in der Gesellschaft zusammenfällt. Der zu erwartende Gewinn, den eine Änderung brächte, bildet für eine Koalition von ausreichender Größe einen Anreiz, die Änderung durchgehen zu lassen (auch wenn auf diese Weise keine hinreichende Bedingung für die Ingangsetzung einer Verfassungsänderung geschaffen wird). Im Abschnitt „Konsens erkaufen“ schauen wir auf die Mechanismen, mit deren Hilfe man im Rahmen der demokratischen Regeln die Unterstützung der Mehrheit erhält. Dazu betrachten wir zunächst einen sehr stark vereinfachten und abstrakten Fall. Wenn die Menschen sich nur darin unterscheiden, wieviel Geld sie haben und sie das Umverteilungsprogramm wählen, bei dem sie am meisten gewinnen (oder das wenigste verlieren), dann werden die rivalisierenden Programme von Amts inhaber und Opposition sehr ähnlich sein (wobei eines für die Reichen marginal weniger schlecht sein wird als das andere). Bedingt durch den Machtwettbewerb, muss alles, was dem voraussichtlichen Verlierer weggenommen werden kann, dem mutmaßlichen Gewinner angeboten werden. Somit bleibt für den Staat kein „Ermessenseinkommen“ übrig, über das er verfügen könnte. Folglich ist seine Macht über die Ressourcen seiner Bürger mit der eigenen Reproduktion, mit dem bloßen Machterhalt, völlig aufgebraucht. Eine weniger abstrakte Spielart („Abhängig machende Umverteilung“), bei der die Menschen, und damit auch ihre Interessen, sich in unendlich vielen Hinsichten unterscheiden und die Gesellschaft, in der die Unterstützung vornehmlich erzielt werden muss, nicht atomistisch ist, sondern intermediäre Gruppenstrukturen zwischen Mensch und Staat zulässt, führt zu Ergebnissen, die zwar unklarer, aber für den Staat kaum erfreulicher sind. Umverteilungsgewinne neigen dazu, sowohl auf der individuellen Ebene wie auch auf der Gruppenebene auf das Verhalten abzufärben. Ihre Reduzierung kann Entzugserscheinungen auslösen. Während im Naturzustand die Integrierung von Menschen in geschlossene Interessengruppen durch (potentielles wie tatsächliches) „Trittbrettfahren“ in Schach gehalten wird, werden mit dem Auftreten des Staates als Quell von Umverteilungsgewinnen
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Gruppenbildungen zur Erzielung solcher Gewinne nicht nur zulässig, sondern auch angeregt. Dies gilt in dem Maße, in dem staatsausgerichtete Interessengruppen unter ihren Mitgliedern das Trittbrettfahren, das marktausgerichtete Gruppen zerstören würde, tolerieren kann. Jede Interessengruppe hat wiederum einen Anreiz, gegenüber dem Rest der Gesellschaft als Trittbrettfahrer aufzutreten, wobei der Staat das Mittel ist, das sicherstellt, dass dieses Treiben auf keinen ernsthaften Widerstand stößt. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass das korporatistische Ideal der Bildung sehr großer Gruppen (alle Arbeiter, alle Doktoren, alle Einzelhändler), die mit dem Staat und untereinander verhandeln, dieses Ergebnis entscheidend beeinflussen würde. Insofern wird das Umverteilungsmuster auf Dauer zu einem irrwitzigen Flickenteppich mit Schlupflöchern und asymmetrischen Vorteilen unter Berücksichtigung verschiedener Größen wie Branchen, Berufsgruppen oder Regionen bzw. ohne deutlich erkennbares Muster oder Motiv; jedenfalls nicht nach dem klassischen Schema von reich-nach-arm oder reich-nach-median. Über alledem entzieht die Entwicklung des Musters sich zunehmend der staatlichen Oberaufsicht. Abschnitt „Steigende Preise“ geht davon aus, dass die von der süchtig machenden Umverteilung beflügelte Gruppenstruktur der Gesellschaft jede Gruppe in die Lage versetzt, jede Einbuße am Umverteilungskuchen zu verhindern und wettzumachen. Ein Symptom der daraus resultierenden Hängepartie ist die endemische Inflation. Ein damit verbundenes Symptom ist die Klage des Staates, die Gesellschaft sei unregierbar, kenne kein „Aus!“ und verweigere jedes Opfer, das in harten Zeiten oder bei unerwarteten Erschütterungen als Ausgleich erforderlich wäre. Das gesellschaftliche und politische Umfeld, das zum großen Teil aus den Handlungen des Staates resultiert, ruft schließlich ein zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen brutto und netto der Umverteilung hervor („Umrühren“). Anstatt Peter auszurauben, um Paul zu bezahlen, werden sowohl Peter als auch Paul in vielfältiger Hinsicht bezahlt und ausgeraubt (viel Bruttoumverteilung für eine geringe und ungewisse Nettobilanz). Das erzeugt Turbulenzen und ist dazu verdammt, Enttäuschung und Frustration hervorzurufen. Zum jetzigen Zeitpunkt hat der Staat seine Metamorphose vom reformerischen Verführer des mittleren 19. Jahrhunderts zum umverteilenden Lastesel des späten 20. Jahrhunderts abgeschlossen und wandelt infolge seiner Suche nach Konsens („Auf zu einer Theorie des Staates“) als Gefangener der unbeabsichtigten kumulativen Effekte in einer Tretmühle. Wenn seine Ziele so sein sollten, dass er sie erreichen kann, indem er die Ressourcen seiner Bürger zu seinen eigenen Zwecken verwendet, dann wäre es vernünftig von ihm, seine Verfügungsgewalt über diese Ressourcen zu maximieren. In der undankbaren Rolle des Lastesels verbraucht er indes all seine Macht für den Machterhalt und bleibt ihm keine Verfügungsgewalt übrig. Für ihn ist genau das zu tun, ebenso vernünftig, wie es für den Arbeiter vernünftig ist, für ein Lohnminimum zu arbeiten, oder für die im perfekten Wettbewerb stehende Firma rational ist, an der Rentabilitätsgrenze zu arbeiten. Eine höhere Form von Rationalität würde den Staat allerdings dazu führen, sich von den
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Beschränkungen des Konsenses und des Wahlkampfs zu emanzipieren, in etwa so wie bei Marx das Proletariat der Ausbeutung durch Revolution entflieht oder bei Schumpeter der Unternehmer dem Wettbewerb durch Innovation entkommt. Mit meiner These behaupte ich nicht, dass alle demokratischen Staaten früher oder später so enden müssten, sondern dass eine angeborene totalitäre Ausrichtung als Zeichen ihrer Rationalität gedeutet werden sollte. * Auf dem Weg von der Demokratie zum Totalitarismus muss die Handlungsautonomie nicht in einem einzigen ununterbrochenen und vorgeplanten Schritt zurückgewonnen werden. Es ist zumindest anfangs eher eine Art Schlafwandeln als ein bewusstes Voranschreiten zu einem klar umrissenen Ziel. Kapitel 5, „Staatskapitalismus“, handelt von kumulativen politischen Maßnahmen, die den Staat mit großer Wahrscheinlichkeit Schritt für Schritt der „Selbstverwirklichung“ näher bringen. Sie bewirken eine Veränderung im gesellschaftlichen System, und zwar derart, dass das Potential für Verfügungsgewalt maximiert wird und der Staat in die Lage versetzt wird, dieses Potential voll auszuschöpfen. Ganz oben auf der Tagesordnung zur Ausweitung der Verfügungsgewalt („Was tun?“) muss das Problem stehen, wie man die Zivilgesellschaft um ihre Autonomie und ihre Fähigkeit bringt, den Konsens zu verweigern. Die Politik, die der Staat, der eine gemischte Wirtschaftsform betreibt, einzugehen neigt, wird die Grundlage dieser Autonomie zu einem großen Teil aushöhlen, nämlich den selbstständigen Umgang der Menschen mit ihrem Lebensunterhalt. Was das Kommunistische Manifest „die Erkämpfung der Demokratie“ nennt, um „der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats … zu zentralisieren“, ist die Vollendung dieses Prozesses. Der sozialistische Staat setzt damit der historischen und logischen Missgeburt, welche die ökonomische Macht unter der Zivilgesellschaft ausgestreut und zugleich die politische Macht zentralisiert hat, ein Ende. Durch die Zentralisierung und Vereinigung der beiden Mächte schafft er jedoch ein Gesellschaftssystem, das mit den klassischen demokratischen Regeln, die den Staat auf Dauer mit Macht belohnen, unvereinbar ist und unter ihnen nicht richtig funktionieren kann. Die Sozialdemokratie muss zur Volksdemokratie oder zur nächstbesten Lösung werden, weil der Staat nun mächtig genug ist, diese Entwicklung durchzusetzen und einen systematischen Zusammenbruch abzuwehren. Im Kontext von privatem und staatlichem Kapitalismus („Der Staat als Klasse“) werden die „systemischen Konstanten“ mit den Variablen des Faktors Mensch verglichen, um den Platz für die Verwaltungsbürokratie festlegen. Der Grundsatz, demzufolge die Trennung von Eigentum und Kontrolle für den Eigentümer tatsächlich Kontrollverlust impliziert, verliert hier seine Bedeutung. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass die Bürokratie eine heikle Aufgabe übernimmt und ihre Verfügungsgewalt begrenzt ist. Ob die Bürokraten, die den Staat vertreten, freundlich oder gemein gesinnt sind, welche „sozio-ökonomische Herkunft“ sie haben und welche Schule ihre Väter besuchten, bilden hier die Variablen, und die Macht-
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und Abhängigkeitskonfigurationen, die jeweils den privaten und den staatlichen Kapitalismus kennzeichnen, stellen die Konstanten dar. In Phrasen wie „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wird es zu einer reinen Sache der persönlichen Hoffnungen und Ängste, wie man das Kräfteverhältnis zwischen den Konstanten des Sozialismus und den Variablen des menschlichen Antlitzes einschätzt. Anders als in lockeren Gesellschaftssystemen, führt im Staatskapitalismus eine Sache zur anderen und entsteht kurz, nachdem eine Unstimmigkeit eliminiert worden ist, eine neue, die nach Eliminierung schreit. Der letzte und futuristische Abschnitt dieses Buches („Auf der Plantage“) handelt von der Logik des Staates, der das ganze Kapital besitzt und folglich auch seine Arbeiter besitzen muss. Arbeitsund Gütermärkte, Konsumentensouveränität und Bürger im Angestelltenverhältnis, die mit ihren Füßen abstimmen, sind hier Fremdkörper und wirken einigen der Ziele des Staatskapitalismus entgegen. Ein Gesellschaftssystem, das sie ernsthaft in Betracht zieht, übernimmt so einige Merkmale der alten paternalistischen Südstaaten Nordamerikas. Die Menschen sind in vielerlei Hinsicht zu beweglichen Sklaven geworden. Ihre Arbeit gehört ihnen nicht mehr, sie schulden sie jemandem. Es gibt „keine Arbeitslosigkeit“. Öffentliche Güter stehen vergleichsweise reichlich zur Verfügung und meritorische Güter wie gesundes Essen oder Tonträger von Bach sind billig, während die Löhne kaum mehr als ein Taschengeld sind, gemessen am Standard, der sonst auf der Welt herrscht. Wohnungen, öffentliche Transportmöglichkeiten, Gesundheitsleistungen, Kultur und Sport werden den Menschen rationiert und in natura zugeteilt und kommen ihnen nicht über Gutscheine (geschweige denn Geld) und mit der entsprechenden Pflicht, selbst auszuwählen, zu. Ihre Geschmäcker und Gemüter stellen sich darauf ein (auch wenn nicht alle süchtig werden und manche womöglich allergisch reagieren). Bevor er überhaupt merkt, dass er in eine neue Zwickmühle geraten ist, wird der Staat seine Verfügungsgewalt schon längst bis zum Anschlag ausgeweitet haben. * Der Themenkatalog eines vernünftigen Staates führt im Umkehrschluss zu einem inversen Themenkatalog für vernünftige Bürger, zumindest in dem Sinne, dass er ihnen sagt, was zu tun ist, um die Dinge zu befördern oder abzuwenden. Wenn die Bürger – was wahrscheinlich schwieriger sein dürfte, als es klingt – alle unvereinbaren Präferenzen ausmisten können, die sie haben, wenn sie mehr Freiheit und mehr Sicherheit, mehr Staat und gleichzeitig weniger Staat haben wollen, dann werden sie wissen, wie weit sie dem Staat bei der Umsetzung seiner Agenda bei- oder entgegenstehen wollen. Von diesem Wissen wird ihr Fortbestand abhängen.
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Der kapitalistische Staat 1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Gewalt, Gehorsam, Vorliebe Vorlieben für politische Arrangements hängen von dem ab, was die Menschen als ihr Wohl ansehen, und von den Arrangements, die dazu angeblich vorzuziehen sind.
In der Regel beginnen Staaten damit, dass jemand verliert. „Der Ursprung des Staates ist die Eroberung“ und „Der Ursprung des Staates ist der Gesellschaftsvertrag“ sind nicht zwei Erklärungen, die miteinander wetteifern. Die eine handelt vom Ursprung des Staates in Echtzeit, und die andere betrifft die logische Ableitung. Beide können gleichzeitig gültig sein. Soweit es uns vergönnt ist, derlei Dinge überhaupt in Erfahrung zu bringen, zeigt uns die historische Forschung, dass die meisten Staaten ihren Stammbaum auf die Unterwerfung eines Volkes durch ein anderes zurückführen können; nur selten auf die Vorherrschaft eines siegreichen Anführers und seiner Bande über das eigene Volk, und fast immer auf Migration. Andererseits kann man mit Hilfe weithin geteilter Axiome „zeigen“ (allerdings in einem anderen Sinne des Wortes), dass vernünftige Menschen auf der Suche nach ihrem Wohl es für vorteilhaft halten, sich einem Monarchen oder Staat zu unterwerfen. Da diese beiden Ansätze zur Erklärung des Staates auf unterschiedliche Kategorien zurückgreifen, bringt es nichts, sie miteinander zu vergleichen oder einen Ansatz dem anderen vorzuziehen. Genau so wenig sinnvoll ist es, aus dem Umstand, dass Staaten entstanden und zu Glanz gekommen sind, zu schlussfolgern, dass es für die Menschen, die nach ihrem Wohl gestrebt haben, vernünftig gewesen sein muss, sich ihnen zu unterwerfen, weil sie ansonsten vor ihrer Unterwerfung mehr hätten kämpfen müssen. In diesem Lichte wollen wir nun den honorigen Versuch betrachten, den man aus den analytischen Darstellungsmethoden, wie z. B. der zum Gesellschaftsvertrag, kennt und der darauf abzielt, den (historisch) gewaltsamen Ursprung des Staates mit dem rationalen Willen des Untergebenen unter einen Hut zu bringen.5 Bei diesem Versuch kommt jede im Naturzustand lebende Person zu einer Einschätzung all ihrer künftigen Einkommen, die sie im Naturzustand vermutlich erzielen wird, sowie zu einer weiteren Einschätzung all ihrer künftigen Einkommen, die sie in einer mit einem Staat ausgestatteten Zivilgesellschaft bekommen würde. Man nimmt dabei an, dass die zweite Schätzung größer ausfällt als die erste. Die beiden Schätzungen werden diskontiert, um einen Wert zu erhalten. Es braucht einige 5
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Zeit, bis alle jenen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen haben, der den Übergang vom Naturzustand in die Zivilgesellschaft bereitstellt. Die großen Gewinne, die aus der Schaffung des Staates hervorgehen, liegen deshalb in weiter Ferne, und der Wert dessen, wie sehr diese Gewinne die im Naturzustand erzielbaren Einkommen überragen, ist gegenwärtig klein. Er könnte durchaus sein, dass der Anreiz für die Aufgabe, jedem das Einverständnis zum Gesellschaftsvertrag abzuringen, nicht ausreichen würde. Auf der anderen Seite kann ein Staat mit Hilfe von Gewalt rasch erschaffen werden. Die höheren Einkünfte, die der Existenz des Staates geschuldet sind, kommen somit schneller zustande. Sie schrumpfen nicht so sehr, wenn man sie in gegenwärtige Werte umsetzt. Vergleicht man den gegenwärtigen Wert der Einkünfte, die in einem Staate erzielt werden, der beim friedlichen Aushandeln eines Gesellschaftsvertrages langsam an Gestalt gewinnt, mit dem der Einkommen, die in einem durch einen kurzen Gewaltstreich entstehenden Staat generiert werden, so muss der Vergleich zugunsten der Gewalt ausfallen. Insofern kann man von einer rationalen, einkommensmaximierenden Person erwarten, dass sie entweder die Gewalt, die ihr durch den Staatsgründer widerfährt, gutheißt oder sich selbst der Gewalt bedient, um den Staat zu organisieren. Der Leser mag daraus entweder schließen (auch wenn der Autor dies keineswegs gewollt haben kann), dass dies der Grund dafür ist, dass die meisten Staaten nicht durch friedliche Verhandlungen entstanden sind, sondern durch Gewalt, oder dass diese Theorie der rationalen Motivation mit dem historischen Ursprung des Staates, wie immer der auch im Einzelfall ausgefallen sein mag, zumindest kompatibel ist. Diese Art der Theorie verleitet, wie auch schon die Vertragstheorien vor ihr, zu dem voreiligen Schluss, dass die Menschen die staatsschaffende Gewalt im nachhinein deshalb gutgeheißen hätten, weil die Staaten auf dem Wege der Gewalt zustande kamen und blühten und weil es für die Menschen durchaus sinnvoll sein kann, mit Gleichmut die Gewalt zu ertragen, die zur Gründung jenes Staates führt, den sie ersehnen, aber nicht selbst erwirken können. Egal, ob der Staat friedlich oder gewaltsam entspringt, man unterstellt ihm, dass er den Menschen bei der Verfolgung ihres Wohls behilflich sei. Erstaunlicherweise ist diese Unterstellung nie in einer allgemeineren Form dargestellt worden, z. B. in einer, die Vorzeichen (+/–) zuließe. Falls man dies nachholen wollte, dann müsste es heißen, „der Staat unterstützt/hindert“, wobei die tatsächliche Bilanz der Aussage vom empirischen Inhalt der Begriffe „Unterstützung“ und „Behinderung“ abhinge. Man erhielte mehr Informationen, wenn man die Unterstellung in eine Aussageform brächte, wie z. B.: „Der Staat unterstützt/ hindert einige Personen, unterstützt/hindert einige andere und lässt die übrigen unberührt.“ Die Betroffenen werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße unterstützt/behindert. Nur in Glücksfällen ist die Menge der behinderten Personen leer (d. h., jeder wird unterstützt oder in Ruhe gelassen), ansonsten ist die algebraische Summe ein Vergleich zwischen den unterstützten und behinderten Personen. Dass man schon so auf interpersonale Vergleiche stößt, ist ein Zeichen dafür, dass unsere Reflexionen zumindest in die richtige Richtung weisen, nämlich auf die zentralen Fragen der politischen Theorie.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Sollten jemals Menschen im Naturzustand gelebt haben – schließlich hat es in der Geschichte immer wieder der Gewalt bedurft, ihnen einen Staat überzustülpen –, dann ist die Frage berechtigt, warum die gängige politische Theorie es für selbstverständlich erachtet, dass die Menschen den Staat vorgezogen hätten. Eigentlich zerfällt diese Frage in zwei Fragen, eine „ex ante“ und eine „ex post“: 1. ziehen Menschen, die im Naturzustand leben, diesen Zustand dem Staat vor? Und 2. ziehen Menschen, wenn sie erst einmal im Staat leben, den Naturzustand dem Staat vor? Diese Fragen lassen zu, dass man die Präferenzen der Menschen irgendwie sinnvoll in Relation zu der politischen Umgebung, in der die Menschen nun einmal leben, setzen kann.6 Wenn man sie aber erst einmal in dieser Weise formuliert hat, dann geht man auch davon aus, dass sie einen bestimmten Charakter haben. Wenn Sozialwissenschaftler sagen, sie wüssten, dass Herr Meier lieber Tee als Kaffee trinkt, weil er es gesagt habe oder weil er seine Präferenz offengelegt habe, als er Tee nahm, obwohl er auch Kaffee hätte wählen können, dann reden sie von Dingen, die für Herrn Meier wahrscheinlich gleichermaßen vertraut wie zugänglich sind. Spricht Herr Meier jedoch über seine Vorlieben für Dinge, die er bestenfalls vom Hörensagen kennen kann, dann fangen die Probleme an. Wenn er seine bekundete Präferenz nicht in einen praktikablen Wahlakt übertragen kann, weil einige Alternativen schlicht nicht vorhanden sind, dann sind die Präferenzen schwer feststellbar. Menschen, die in Staaten leben, haben normalerweise nie den Naturzustand 6 Michael Taylor bringt diesen Aspekt in seinem exzellenten Buch Anarchy and Cooperation, 1976, S. 130, kurz und prägnant auf den Punkt: „[W]enn die Präferenzen sich infolge des Staates selbst ändern, dann ist noch nicht einmal klar, was mit der Erwünschtheit des Staates überhaupt gemeint ist.“ Vgl. auch das ähnlich gelagerte Argument von Brian Barry, The Liberal Theory of Justice, 1973, S. 124 f., demzufolge eine heterogene oder pluralistische Gesellschaft kaum zu einer homogenen Gesellschaft wird (und umgekehrt), weil die Sozialisation die Menschen an ihre Umgebung anpasst; auch wenn „nur eine Generation leiden muss, um Orthodoxie zu schaffen (wie das Verschwinden der Albigenser in Frankreich und der Juden in Spanien zeigt).“ Barrys Argument erscheint mir allerdings etwas einseitig zu sein. Müssen wir denn die Möglichkeit ausschließen, dass die Umgebung neben positiven nicht auch negative Präferenzen für sich hervorbringen kann? Beispiele von sozialistischen Ländern in der zweiten Generation, aber auch von der dritten Generation Sowjetrusslands bescheinigen zuhauf, dass bei einem zwar unbekannten, aber nicht zu vernachlässigenden Teil der Bevölkerung eine virulente Allergie gegen totalitäre Wege und eine Sehnsucht nach Diversität vorliegt. Im pluralistischen Westen gibt es parallel dazu eine Sehnsucht nach gemeinsamen Zielen, moralischen Haltungen, eine Allergie gegen die Werbung und das, was Daniel Bell die „Pornopopkultur“ und den „psychedelischen Basar“ nennt. Vielleicht heißt all das nicht mehr, als dass alle Gesellschaften dazu neigen, zersetzende Elemente abzusondern (wobei dieselben nur in einigen Gesellschaften von den Herrschern unterdrückt werden). Es ist aber dennoch nicht trivial, das Argument der „endogenen Präferenz“ zu verallgemeinern, indem man zugesteht, dass die gesellschaftlichen Staaten sowohl Gleiche wie auch Ungleiche hervorbringen. Ansonsten würde die endogene Generierung von Präferenzen jeden Status quo endlos zementieren und würden historische Veränderungen noch mysteriöser, schleierhafter und willkürlicher sein, als sie es ohnehin schon sind.
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erfahren, und umgekehrt. Außerdem haben sie praktisch keine Möglichkeit, von einem Zustand in den anderen zu wechseln. Einen solchen Wechsel vorzuschlagen, ist oft ein historischer Anachronismus und eine anthropologische Absurdität. Auf welcher Grundlage bilden die Menschen dann ihre Hypothesen in Bezug auf die jeweiligen Meriten von Staat und Naturzustand?7 Bei einigen Indianerstämmen Südamerikas (und womöglich auch anderenorts) scheint das demographische Wachstum mit der Wahrscheinlichkeit einer Staatsgründung einherzugehen; vielleicht wegen der veränderten Größe und Art der Kriege, die das Wachstum zur Folge hat. Ein Kriegshäuptling kann mit Hilfe seiner halbprofessionellen Krieger den Rest der Bevölkerung auf Dauer gefügig machen. In einem Buch von Pierre Clastres, das in keiner Bibliographie zum Gesellschafts7 In der überaus üppigen Literatur, die sich um John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit von 1972 rankt, scheint nirgends ein Einwand gegen den „Urzustand“ erhoben worden zu sein, der diesem Umstand Rechnung tragen würde. Im Urzustand sind die Teilnehmer bar jeglicher Kenntnis über ihre eigene Person. Sie wissen nicht, ob sie weiße angelsächsische Männer oder rote Indianerinnen repräsentieren, verbeamtete Philosophen oder Wohlfahrtsempfänger. Sie wissen noch nicht einmal ihr Lebensalter (obwohl das mit ihrem Wissen über „politische Angelegenheiten und die Grundsätze der Ökonomie“ kaum vereinbar zu sein scheint). Sie haben Anlass dazu, nach einer „kooperativen Lösung“ für ihre Existenz (im spieltheoretischen Sinn) zu suchen, was man zusammenfassend als ihr Einverständnis zu einem Gesellschaftsvertrag für einen gerechten Staat interpretieren kann. Scheiterte das Abkommen, dann würden sie beim Verlassen des Urzustandes in den Naturzustand zurückfallen. Diesen Ausgang versuchen sie zu vermeiden, weil sie genug über sich und den Staat wissen, um ihn dem Naturzustand vorzuziehen. Sie kennen ihre „Lebenspläne“, deren Umsetzung von der Macht über materielle und immaterielle „Primärgüter“ abhängt. Sie wissen auch, dass der Staat wegen der „Vorteile gesellschaftlicher Kooperation“ einen größeren Vorrat an Primärgütern bereithält als der Naturzustand. In der Fachsprache ausgedrückt, wissen die Teilnehmer, dass sie ein „positives Summenspiel“ spielen, wenn sie einen Gesellschaftsvertrag aushandeln (der gerecht, und zwar ausschließlich nur in dem Sinne gerecht ist, dass jeder ihm zustimmen will). Das bedeutet, dass dann, wenn die kooperative Lösung erzielt werden sollte, mehr Primärgüter verteilt werden können, als es sonst der Fall wäre. Der Vergleich zweier Bündel Primärgüter verlangt allerdings, sie zu indexieren, und die Größen, die für den Index verwendet werden (z. B. der Wertschätzung von Freizeit in Rela tion zu Realeinkommen), müssen logischerweise eine bereits vorliegende Präferenz für einen Gesellschaftstyp widerspiegeln. Mit anderen Worten, Menschen im Urzustand können nicht sagen, ob das Bündel Primärgüter, das im Naturzustand zur Verfügung steht (und z. B. mehr Freizeit enthält), kleiner ist als das Bündel, das es im Staat gibt (und z. B. mehr materielle Güter enthält), es sei denn, sie wissen bereits, dass sie es vorziehen, in einer zivilen Gesellschaft zu leben. Das Naturzustandsbündel mit dem Staatsbündel zu vergleichen, setzt jene Präferenz voraus, für deren Erklärung der Vergleich angestellt wurde. Das Bündel Primärgüter des Naturzustands enthält mehr von den Dingen, welche die Menschen, die im Naturzustand leben, gewöhnt sind und schätzen gelernt haben. Für sie ist es das dickere Bündel. Das Gegenteil gilt für das Bündel, das unter den Bedingungen gesellschaftlicher Kooperation zu haben ist. Für Menschen, die das, was es enthält, liebgewonnen haben, und sich aus dessen Beschränkungen nichts machen, ist es das dickere Bündel. Aber können die Menschen im Urzustand tatsächlich sagen, welches Bündel dicker ist?
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vertrag fehlen sollte8, ist davon die Rede, dass die Tupi-Guarini diesen Prozess abzubrechen pflegten, indem sie in Gruppen ausschwärmten und unter der Führung von Propheten in weit entlegenen und furchterregenden Gegenden Zuflucht suchten, und zwar vor den Schrecken der Unterwerfung unter jenen Staat, den sie mit dem Bösen gleichsetzten. Die amerikanischen Indianervölker, die Clastres untersucht hat, leben für gewöhnlich im Naturzustand, unter Bedingungen, die wenig mit dem Niveau technisierter Zivilisationen zu tun haben, aber umso mehr mit politischer Macht. Ihre Anführer können ermahnen, aber nicht befehligen, und sind auf Redekunst, Ansehen und großzügige Gastfreundschaft angewiesen, um an ihr Ziel zu kommen. Ihr Prestige hängt teilweise davon ab, dass sie nur selten Eingriffe in Angelegenheiten riskieren, in denen ihre Mahnungen wahrscheinlich unerhört blieben. Es gibt unter ihnen keine Vorkehrung, die Gehorsam durchsetzbar machte, und die Indianer denken nicht im Traum daran, vertraglich freiwilligen Gehorsam zu vereinbaren, auch wenn sie einen solchen mit dem Anführer von Fall zu Fall abmachen. Ihre Gesellschaften sind laut Clastres wahre Überflussgesellschaften, die mit Leichtigkeit Überschüsse produzieren können, aber entschieden haben, es nicht zu tun. Ein zweistündiger Arbeitstag reicht ihnen vollkommen aus, um all das zu haben, was ihnen einen aus ihrer Sicht angemessenen Lebensstandard beschert. Obwohl wenig bis gar keine Produktion zu Tauschzwecken existiert, gibt es Privateigentum; ohne dasselbe könnte es keine private Gastfreundschaft und keine Einladungen zu Festen geben. Es gibt offenkundig kein Hindernis für die Arbeitsteilung, mithin auch keines für den Kapitalismus, aber die Güter, die durch Arbeitsteilung erstellt würden, haben keinen Preis. Arbeit steht nicht hoch im Kurs. Jagen, fischen, Geschichten erzählen und auf Partys gehen wird jenen Gütern vorgezogen, die man mit Arbeit bewerkstelligen könnte. Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage: Liegt es an ihren Präferenzen, dass die Indianer vor der dem Staate innewohnenden Verbindung von Befehl und Gehorsam zurückschrecken und es vorziehen, im Naturzustand zu leben? Oder macht ihr Leben im Naturzustand sie dafür anfällig, die materiellen und immateriellen Güter, die dasselbe für gewöhnlich mit sich bringt, über alles zu lieben? Marx hätte für die Rolle, die den Geschmäckern und Vorlieben in dieser Form der Fragestellung zukommen, gewiss nur böse Blicke übrig gehabt und wahrscheinlich entschieden, dass Anbauen, Sammeln und Jagen zur Fristung des Lebens die „Basis“ unter den existentiellen Erscheinungsformen seien, während die Institutionen des Staates Ausdrucksformen des Bewusstseins, des Überbaus seien. Es muss also die erstere Form sein, welche die letztere bestimmt hat. Clastres, für seinen Teil, behauptet das Gegenteil.9 Analytisch (wenn auch nicht historisch) treffen beide Auffassungen zu, und zwar in derselben Weise, wie „Das Ei war vor dem Huhn da“ und „Das Huhn war vor dem Ei da“ beide wahr sind. Mein Punkt ist der, dass Vorlieben für politische Gesellschaftsanordnungen zu einem großen 8 9
Clastres (1977). Clastres (1977), Kapitel 11.
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Teil von genau diesen Anordnungen geschaffen werden, so dass die politischen Institutionen entweder wie einige Drogen süchtig machen oder, wie manche andere, Allergien hervorrufen, oder beides, da sie für einige Menschen das eine und für andere das andere sein mögen. In dem Fall sollte man Theorien, denen zufolge die Menschen generell (Hobbes, Locke, Rousseau) oder die herrschende Klasse (Marx, Engels) dasjenige politische Arrangement zusammenstellen, das ihnen passt, mit Misstrauen begegnen. Umgekehrt verdient die Auffassung (Max Webers), der zufolge historische Ergebnisse weitgehend unbeabsichtigt sind, einen Glaubensvorschuss, weil sie die meistversprechende Annäherung an viele der Staat und Bürger verbindenden Beziehungen darstellt.
Anspruch und Vertrag Der Staat ist ein kapitalistischer Staat, wenn er nicht fordert, dass Eigentümerschaft begründet werden muss, und sich nicht zu eigenen Zwecken in die Verträge einer Person einmischt.
Der Ursprung der kapitalistischen Eigentümerschaft ist, dass „der Finder es behalten darf“. Dies ist das Zugeständnis, das den Übergang vom Besitz zu Eigentümerschaft, Eigentumstiteln und Eigentum gestattet, unabhängig von deren Besonderheiten; also unabhängig davon, wer der Rechteinhaber sein mag und was er mit seinem Eigentum anfangen mag oder nicht anfangen mag. Der Staat, der auf dieser Grundlage den Anspruch auf Eigentum anerkennt (wobei er diesen Anspruch zudem auch aus anderen Gründen anerkennen mag), erfüllt eine der notwendigen Bedingungen, um ein „kapitalistischer Staat“ in dem von mir verwendeten Sinne zu sein (ein Sinn, der im weiteren Verlauf sehr klar werden wird). Der Anspruch wird nicht durch Knappheit ungültig, er hängt weder von Verdienst noch Stand ab und impliziert keinerlei Verpflichtungen. Der Verweis auf die Knappheit sollte vielleicht etwas erläutert werden. Was ich meine, ist, dass ein Mensch ein Morgen Land besitzen kann oder eine Million Morgen Land. Wenn sein Anspruch belegt ist, dann ist er belegt, unabhängig davon, ob, um in Lockes berühmten Worten zu sprechen, „genügend und gleich gutes Land“ für die anderen übrig bleibt. Eigentümerschaft wird nicht durch die Knappheit der besessenen Dinge entkräftet; auch nicht dadurch, dass die Nichteigentümer nach ihnen verlangen. Folglich wird in einem kapitalistischen Staat der Zugang zu knappen Gütern durch den Preis und durch Ersatzgüter geregelt und nicht durch eine souveräne Autorität, ganz gleich wie sie zustande gekommen sein mag. Wer mit den Begriffen der urtümlichen Akkumulation, Arbeitsteilung und Aneignung von Mehrwert als Quell kontinuierlicher Akkumulation groß geworden ist, mag seine Scheu vor dieser Art haben, sich dem Ursprung des Kapitals und dem Wesen des kapitalistischen Staates anzunähern. Zweifellos wurde niemals viel
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Kapital „gefunden“, aber dafür viel akkumuliert. Außerdem dürfte es für Marxisten wie auch für die meisten Nicht-Marxisten so aussehen, als würde man den Wagen vor die Pferde spannen, wenn man von den „Produktionsverhältnissen“ zu den „Produktionsmitteln“, den im Besitz befindlichen Dingen, schreitet (wobei die Produktionsverhältnisse, wie Plamenatz gezeigt hat, Eigentumsverhältnisse bedeuten muss, „wenn ihnen überhaupt eine Identität zukommen soll“10). Was sie in kapitalistisches Eigentum überführt, ist allerdings nicht, jedenfalls nicht immer, ein Wechsel bei den Produktionsmitteln oder in deren Anwendungstechniken. Das Land, das bis zum 30-jährigen Krieg zum Besitz einer großen französischen oder deutschen Adelsfamilie gehörte, war nur in einem höchst fragilen Sinne auch deren Eigentum. Es war ein Produktionsmittel, aber gewiss kein kapitalistisches Eigentum in der Weise, wie es der englische oder italienische Grundbesitz war. Das Land, das seit dem 16. Jahrhundert in England dem höheren und niederen Adel gehörte, kann mit Recht als Kapital angesehen werden und war in der Tat der Hauptausgangspunkt für den englischen Kapitalismus. Dass die Schifffahrt und andere Kapitalanhäufungen unter Kaufleuten sich zur Zeit der Tudors und Stuarts einen Traumstart hinlegen konnten, ist zu einem großen Teil den Einsätzen zu verdanken, die von Landbesitzern getätigt wurden. Nicht-kapitalistische (und ich vermeide den Terminus „feudal“ mit Bedacht) Lehen entsprangen ursprünglich den Dienstleistungen, und ihr Fortbestand hing von der Größe der (mehr oder weniger berechtigten und realistischen) Erwartungen hinsichtlich der künftigen Dienstleistungen ab. Das galt jedenfalls für den Gutsherrn, der direkt oder indirekt seinem Souverän Dienste zu erweisen hatte, und auch für die Diener, die dem Gutsherrn zu Diensten sein mussten.11 Für die gesellschaftliche Entwicklung in England ist es typisch, dass das Lehnswesen recht schnell seine Auflagen verlor und dass die verbleibenden (minimalen und mündlichen) Einschränkungen nur das örtliche Rechtswesen und die Wohlfahrt betrafen; Bereiche, in denen der Gutsherr den Staat eher verdrängte, als ihm zu dienen. 10 Plamenatz (1963), Band 2, S. 280 f. Siehe auch sein Buch German Marxism and Russian Communism, 1954, Kap. 2. 11 Vgl. Macpherson (1962), S. 49, hinsichtlich der Auffassung, dass es ohne unbedingte Eigentümerschaft keinen Markt für Land geben könne. Dasselbe Argument muss auch für jedes andere „Produktionsmittel“, einschließlich der Arbeit, gelten. (Für Macpherson, nicht weniger als für Marx, setzte der Niedergang ein, als das Individuum begriff, dass es seine Arbeitskraft besaß und dazu überging, diese und nicht deren Produkte zu verkaufen.) In Russland bedeutete das Lehnswesen, dass die Leibeigenen („Seelen“) vor 1747 nicht weiterverkauft werden konnten, weil der Gutsherr sie brauchte, um dem Staat dienen zu können. Die Übertragung von „Seelen“ (die bisher als Akt des Gutsherrn im Namen des Staates betrachtet wurde) war ein Symbol des sozialen Fortschritts, ein Zeichen dafür, dass Privateigentum in Russland Fuß fasste. Der Leser muss bedenken, dass der russische Adel vor 1785 keinen Rechtsanspruch auf Land hatte und sein Dienstverhältnis recht unsicher war. Angesichts der jüngsten Entwicklung des Privateigentums als gesellschaftliche Institution ist der Fortschritt, den der Kapitalismus in Russland in der kurzen Periode bis 1917 machte, höchst bemerkenswert.
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In Nord- und Mittelrussland erhielt der Bauer in dem ihm „zugewiesenen“ Dorf Land aufgrund seiner Person und der Anzahl der erwachsenen Personen in seiner Familie. So, wie die Dinge liegen, kann man sagen, dass sein Anspruch vom Stand abhing, sowie von seiner Bedürftigkeit und der Fähigkeit, das Land zu bestellen. Alle Jahre wieder, wenn die sich angestauten Veränderungen in der Bedürftigkeit seiner eigenen und der übrigen Familien im Dorf es verlangten, nahm ihm der Rat der einflussreichen Bauern, die in der Obschina12 das Sagen hatten, einen Teil seines Landes weg und teilte ihm ein anderes, schlechteres Stück zu. Jedenfalls konnte keiner sich aus einem Dorf herauskaufen oder sich dort einkaufen. Wenn man es gekonnt hätte, wäre das Land zu Kapital geworden. Das Land, das die amerikanischen Bauern in den Grenzregionen „fanden“ bzw. gemäß dem Heimstättengesetz (Homestead Act) von 1862 „nachwiesen“ oder von jemandem erwarben, der den Nachweis erbracht hatte, war Kapital. Die Werkstatt, das Werkzeug und das Material auf dem Lager eines Handwerkermeisters irgendeiner Zunft waren kein Kapital. Aber die physisch nahezu identischen Werkstätten, Werkzeuge und Materialien, die sein Nachfolger im Zuge der Gewerbefreiheit als kleiner Handwerksunternehmer besaß, waren sehr wohl Kapital.13 Anders als noch bei seinem Zunftvorgänger, konnte er jede beliebige Person sein und seinen Laden führen, wie er wollte. Es ist weder das Ausmaß der Unternehmungen noch die Tatsache, dass man die Arbeit anderer verwendet, die den Prä-Kapitalisten vom Kapitalisten unterscheidet. Beide generieren „Mehrwert“ und versetzen dessen Eigentümer in die Lage, ihn sich anzueignen. Wie auch immer, das Anrecht des Handwerkermeisters auf sein Geschäft hing (außer vielleicht im Norden Italiens, jenseits des Kirchenstaats) nicht nur von Auflagen hinsichtlich Leistung, Preis und Qualität ab, sondern auch davon, wer der Meister war und wie er lebte. Eigentümerschaft, die einfach nur besteht, ohne dass man dazu in sie hineingeboren und ihr gerecht werden muss, ihr dienen und für sie büßen muss, ist daher nicht mehr und nicht weniger als ein ideologisches Phänomen. Ihre Anerkennung ist für die Ideologie, welche den kapitalistischen Staat definiert, ein entscheidendes Merkmal; genauso wie die Eigentümerschaft, die davon abhängt, inwieweit sie mit irgendeinem Prinzip des gesellschaftlichen Nutzens, der Gerechtigkeit, Gleichheit oder Produktivität konform geht, einer Ideologie entspricht, die entweder demokratisch, liberal, sozialistisch genannt oder mithilfe einer Kombination dieser Begriffe gekennzeichnet wird. 12 Bezeichnung für eine dörfliche Agrarkommune in Russland vor der Oktoberrevolution 1917, d. Hg. 13 Die Gewerbefreiheit, die Freiheit sich in irgendeinem Handwerk oder Gewerbe zu verdingen, wurde 1859 in Österreich-Ungarn und in den frühen 1860er Jahren in diversen deutschen Staaten eingeführt. Vorher musste ein Schuster eine staatliche Lizenz besitzen, um zu schustern. Auch ein Kurzwarenhändler brauchte eine solche Lizenz, um Zwirn zu verkaufen. Die Lizenz wurde nach staatlichem Ermessen gewährt oder verwehrt, angeblich unter Abwägung von Tüchtigkeit und Unbedenklichkeit, in Wirklichkeit aber, um den Wettbewerb zu regulieren. Auf jeden Fall konnte man wegen der Lizenz über den Firmenwert des Unternehmens nur schwerlich verhandeln.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Es überrascht nicht, dass die Beziehung zwischen dem Eigentumsprinzip „Der Finder darf’s behalten“ und dem kapitalistischen Staat eine beiderseitige ist. So wie andere indirekte Funktionen auch, auf denen die Gesellschaftswissenschaften in der Hauptsache beruhen, meint die Relation nicht, dass es eine unabhängige und eine abhängige Variable gäbe, oder dass das eine die Ursache und das andere die Wirkung wäre. Die Beziehung besagt vielmehr, dass es einen kapitalistischen Staat braucht, der ein vollkommen positivistisches, nicht-normatives Eigentumsprinzip akzeptiert und aufrechterhält, und dass es die besagte strenge und von nichts abhängige Eigentümerschaft geben muss, damit aus einem Staat ein kapitalistischer Staat wird. Es gibt noch eine zweite notwendige Bedingung des Kapitalismus, die zwangsläufig mit der ersten Bedingung verknüpft ist, ohne Bestandteil derselben Sache zu sein. Gemeint ist die Vertragsfreiheit. Damals, als im Mittelalter fast überall in Europa das Lehnswesen lästige Pflichten beinhaltete und nur Personen von einem bestimmten Stand oder mit anderweitigen Bestimmungsmerkmalen offenstand, konnte der Souverän die Entfremdung durch freie Vertragsbindung nicht gutheißen. Sogar der Ehevertrag bedurfte der staatlichen Zustimmung. Für die wirklich prominenten Familien blieb dies so bis ins 18. Jahrhundert. Erst nach und nach wurde das Eigentum mittels Vertrag statt mittels Stand geregelt; teils deshalb, weil Geld die Frondienste ablöste, und teils deshalb, weil aus den Pflichten des Eigentümers Pflichten des Eigentums wurden – das Markgrafentum, nicht der Markgraf, wurde in die Pflicht genommen. So wurde der Staat in seinen Interessen nicht geschädigt, wenn er zuließ, dass die Pflicht auf einen neureichen Steuerbauern oder käuflichen Beamten überging. In mehr oder weniger gleicher Weise verwandelten sich die Schulden eines Menschen, die er entweder abzutragen oder abzusitzen hatte, in regresslose Hypotheken auf Grundbesitz und in Verbindlichkeiten eines Unternehmens, die Besitzerwechsel erlaubten, noch bevor die formelle begrenzte Haftung üblich wurde. Die Vertragsfreiheit als notwendige Bedingung eines Staates, der ein kapitalistischer sein will, kann man so und so deuten: nicht nur als Freiheit des Finders, das zu behalten, was er gefunden hat, bzw. alle mit dem Fund verbundenen Rechte nach selbstgesetzten Bedingungen an andere abzutreten, sondern darüber hinaus auch als Freiheit, den Fund an einen anderen weiterzugeben. Der kapitalistische Staat muss die Vertragsfreiheit sowohl den Ideen des Standes und der Schicklichkeit vorordnen als auch den Ideen eines gerechten Vertrages ( faire Löhne, gerechter Preis). Wenn alle Güter dieser Erde willkürlich in herrenlose Bündel aufgeteilt wären und wenn jeder mit verbundenen Augen eines davon auswählen könnte und anschließend, nachdem ihm die Augenbinde abgenommen wäre, sein Päckchen und die der anderen sehen könnte, dann hätten wir einen allseits erkennbaren Ausgangspunkt für das Wechselspiel aus freien Verträgen, gesellschaftlichem Rang und gerechten Verträgen. Wenn einige der Bündel Bibermützen enthielten und einige Menschen Bibermützen über alles liebten, während es sich für andere an-
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dersherum verhielte, dann könnten nach einigem hin und her alle mit dem nach Hause gehen, was sie am meisten mögen; natürlich nur im Rahmen dessen, was die ursprünglichen Päckchen hergeben. Wenn man nun (wie es lange Zeit der Fall war, bevor der europäische Markt im späten 17. Jahrhundert von kanadischen Bibermützen überschwemmt wurde) Personen von niederem Stand untersagen würde, Bibermützen zu tragen, dann fiele deren Preis in Relation zu anderen Gütern und nähme auch die Häufigkeit ab, mit der die Mützen gegen andere Dinge eingetauscht würden, weil viele Menschen, die zwar standesgemäß wären, aber nicht viel auf Biberpelz geben, halbherzig an ihren Bibermützen festhalten würden, die sie in ihrem Päckchen vorgefunden haben. Wenn es außerdem eine Autorität gäbe, die ungerechte Verträge für unwirksam erklären könnte, und der Auffassung wäre, dass der gerechte Preis für Bibermützen derjenige sei, der früher galt, dann würde die Zahl der einvernehmlichen Tauschakte zusätzlich beschränkt sein und wären nur standesgemäße Personen mit einer Vorliebe für Bibermützen bereit, den gerechten Preis zu zahlen. Viele der Mützen würden zu Bettelmützen, deren Eigentümer nicht in der Lage sind, sie zu tragen oder zu tauschen. Vergleichbare, und weniger befremdliche, Probleme treten auf, wenn wir uns Päckchen vorstellen, in denen alle möglichen Arten von Talenten, Fähigkeiten, Kenntnissen und körperlichen Stärken sind, und dazu diverse Berufsangebote sowie Absatzmärkte für diese oder jene Begabung, Fähigkeit oder körperliche Stärke. So, wie man es bei einer zufälligen Verteilung erwartet, würde in keinem dieser Päckchen die Mischung aus Talenten und Möglichkeiten sowie Fähigkeiten und entsprechenden Gelegenheiten zusammenpassen. Die Standesregeln und das Verbot ungerechter Tauschgeschäfte, z. B. durch das Setzen von Mindestlöhnen oder „festen Stundensätzen“, würden überdies einen Teil der möglichen Entsprechungen zwischen den Bündeln unterbinden. In diesem Fall nun wird der kapitalistische Staat natürlich nicht die Regeln durchsetzen, die auf Stand und Gerechtigkeit rekurrieren und der Vertragsfreiheit Beschränkungen auferlegen.14 Und er wird es hinnehmen, dass die Ideen, aus denen jene Regeln hervorgingen, von der (einsetzenden) Flut der kapitalistischen Ideen und der Erfordernisse kapitalistischer Geschäftspraktiken davongeschwemmt werden. Ein Staat aber, der derlei Regeln ächten und unterdrücken würde, könnte durchaus Gefallen am Ächten und Unterdrücken finden und würde so über kurz oder lang aufhören, ein kapitalistischer Staat zu sein. Wie die Eigentümer auf freiwillige Weise die Inhalte ihrer zufällig zugeteilten Päckchen umsortieren und wie das zur „besten“ Verteilung der irdischen Güter führt, hat Pareto sehr genau dargelegt. Wenn zwei Erwachsene einvernehmlich einen Vertrag schließen und es keinen neutralen Hinweis auf Nötigung gibt (z. B. 14 Man darf hier nicht Ungerechtigkeit mit Betrug verwechseln. Ein ungerechter Mensch ist jemand, der Sie nach Möglichkeit zu einem Lohn einstellen will, zu dem zu arbeiten man von ihnen nicht erwarten kann. (Was das genau bedeutet, ist eine große Frage. Da ich hier nicht mit substantiellen Fragen der Gerechtigkeit befasst bin, kann ich sie zum Glück dahingestellt sein lassen.) Ein Betrüger hingegen wird Ihnen nicht den Lohn zahlen, den er Ihnen versprochen hat. Der kapitalistische Staat muss den Betrug selbstverständlich ahnden.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Anzeichen, die mehr sagen, als dass der Vertrag für eine Vertragspartei unvorteilhaft zu sein scheint), dann nehmen wir an, dass dies dem Anschein nach ein Fall ist, in dem die Vertragsparteien die Vertragsbedingungen der Alternative vorziehen, den Vertrag nicht einzugehen. (Strenggenommen lautet die exakte Bedingung, dass eine Partei die Vertragsschließung präferiert, während die andere dies auch tut oder ihr gegenüber indifferent ist.) Man kann auch (allerdings in einem schwächeren Sinn) den Fall so auslegen, dass die beiden Parteien angesichts ihrer Situation keinen anderen Vertrag als den geschlossenen hätten eingehen können, der von einer Partei bevorzugt worden und für die andere schlimmstenfalls indifferent gewesen wäre. Falls sich dann nicht zeigen lässt, dass ihr Vertrag die Rechte einer dritter Partei verletzt (auch wenn es deren Interessen zuwiderlaufen mag), dann hat niemand – weder die dritte Partei, noch der, welcher vorgeblich deren Interessen vertritt – das Recht, die Vertragsparteien von der Erfüllung ihrer Vereinbarung abzuhalten. Zu den Formen der „Behinderung“, die für gewöhnlich dem Staat vorbehalten sind, zählt die Möglichkeit, den Vertrag aufzuheben oder dessen Klauseln ex post zu modifizieren, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, darauf zu bestehen, dass der Vertrag auch in seiner veränderten Form für die Vertragsparteien bindend zu sein hat (vgl. Kap. 2.5). Die Klausel, „falls sich nicht zeigen lässt, dass ihr Vertrag die Rechte einer dritter Partei verletzt“ ist zwar offensichtlich weder eindeutig noch einfach, weist aber der Beweislast den richtigen Platz zu. Gelegentlich lässt man es zu, dass die Beweislast umgekehrt wird. Dann müssen die Vertragsparteien nachweisen, dass sie die Rechte Dritter nicht verletzen. Es ist wohl nicht unbillig zu sagen, dass dies die Praxis so mancher amerikanischen Regulierungsbehörde ist. Die Normen, nach denen man über die Rechte befindet, die eine Person in Bezug auf einen Vertrag hat, ohne einer der Vertragsparteien anzugehören, können nicht unabhängig von Kultur und Ideologie festgelegt werden, und bleiben womöglich selbst dann noch umstritten. Geben wir dazu ein Beispiel und bleiben wir dabei brav im Rahmen der kapitalistischen Kultur und Ideologie: Falls eine Ausschreibung nichts Genaueres darüber sagt, ob das günstigste Angebot den Zuschlag erhalten wird oder nicht, verletzt es dann die Rechte dessen, der das günstigste Angebot macht, wenn er den Zuschlag nicht erhält? Muss der bestqualifizierte Kandidat die Stelle bekommen? Kann man eine Grundstücksnutzung auch dann ändern, wenn es die Sicht der Nachbarn stört. Scheinbar sind verschiedene kapitalistische Antworten auf diese Fragen möglich. Die eine oder andere kapitalistische Rechtsauffassung mag die Klausel der „dritten Partei“ etwas enger sehen als die andere, und man muss wohl erst sorgfältig nachdenken, bevor man sagen kann, dass ein bestimmter Staat die Vertragsfreiheit nicht respektiere und deshalb ein Gegner des Kapitalismus sei. Wenn man allerdings aus Gründen, die nichts mit den Rechten Dritter zu tun haben, einen Vertrag untersagt oder gewaltsam verändert (z. B., um die Klauseln zum Vorteil einer der Vertragsparteien zu kippen), dann ist das zweifellos eine Aberkennung der Vertragsfreiheit. Wer solche Gründe zulässt, der scheint anzunehmen, dass eine Person, die einen Vertrag eingeht, imstande sei, ihre eigenen
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Rechte zu verletzen, und es dem Staat, dessen Aufgabe es ja ist, die anerkannten Rechte zu verteidigen, obliege, sie davon abzuhalten. Hier liegt der Schlüssel zu einer reichgefüllten Kiste mit Fällen, in denen man behaupten kann, man müsse eine Person vor ihr selbst schützen. Oft wird der Fall angeführt, dass der Mensch ansonsten auch die Freiheit (im Sinne eines Rechts) habe, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen (ein Fall, der außerdem noch andere Fragen aufwirft).15 Ein gänzlich anderer Fall, in dem die Vertragsfreiheit aberkannt wird, ergibt sich aus der Behauptung, eine Person würde dann, wenn sie einer bestimmten Menge von Klauseln zustimmte, sich hinsichtlich ihrer eigenen Präferenzen oder Interessen irren. Der Grund dafür, ihr Einhalt zu gebieten, hat nun nichts mehr mit dem Recht der Person zu tun – und somit auch nichts mehr damit, dass zwei ihrer Rechte mutmaßlich kollidieren –, sondern allein mit dem Nutzen der Person, wie er sich von außen einem sympathisierenden Beobachter darbietet. Aus diesem Grund hält ein Verbot den Menschen davon ab, Whisky zu kaufen: weil seine tatsächliche Vorliebe (oder, wie man auch gelegentlich sagt, „rationale“, „wahre“, „langfristige“ oder „ungetrübte“ Vorliebe) für die Nüchternheit schlage. Das Argument der Willensschwäche muss hier herhalten, um den Unterschied zwischen der reinen und offenkundigen Vorliebe für Whisky und jener ungetrübten, langfristigen Vorliebe für die Abstinenz zu erklären. Wie auch immer, an dieser Unterscheidung muss man im Großen und Ganzen festhalten, wenn man auch anderen Anwendungen des Paternalismusprinzips das Wort reden will: Lohnzahlungen in Naturalien, Sachleistungen im Rahmen staatlicher Wohlfahrt (z. B. im Gesundheitswesen), Pflichtversicherung, Bildung, usw.; wobei jede dieser Leistungen genau das Gegenstück zur Maßnahme bildet, dem Empfänger stattdessen Bares zu geben, das er ausgeben kann, wie er es für richtig hält. Die Vorstellung, die ein anderer vom Wohl und Nutzen einer Person hat, oder die Diagnose, die ein anderer von der Vorliebe und dem langfristigen Interesse dieser Person hat, reichen hier als Grund; sie reichen, um in die Freiheit der Person auf einvernehmlich eingegangene Verträge mit einem volljährigen Vertragspartner einzu15 Die Antwort, die mit der kapitalistischen Ideologie, welche ich hier zu skizzieren versuche, in Einklang steht, hat in etwa folgende Form: „Ja, es sollte einem Mensch frei stehen, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen; es gibt niemanden, der über die Gründe, dies zu tun, kompetenter urteilen kann, als er selbst.“ Der Staat hat nichtsdestotrotz die Pflicht, der Institution der Sklaverei den legalen Schutz zu versagen und ihre Abschaffung als Option im Rahmen der Vertragsfreiheit zu forcieren. Verträge, mittels derer Sklavenhändler gefangene Afrikaner an Sklaveneigner verkaufen, verletzten offenkundig die Rechte dieser Afrikaner. Wenn die auf Plantagen geborenen Sklaven in dritter Generation aus Gründen, über die man sich immer streiten kann, die aber ihre eigenen Gründe sind, nicht nach Freiheit streben, dann muss man neu darüber nachdenken. Man sollte wissen, dass die britische Regierung den Sklavenhandel zunächst verbot, ohne die Sklaverei selbst zu verbieten. Der Staat muss einfach nur sicherstellen, dass der Sklave, der die Plantage verlassen will, nicht vom Verlassen abgehalten werden darf; d. h., er darf nicht bei der Durchsetzung eines Vertrages helfen, der den Plantagenbesitzer zum Besitzer des Sklaven macht. Dies ist gewiss nicht die Position, welche die Abschaffer der Sklaverei einnahmen. Man darf bezweifeln, dass sie für Calhoun und Daniel Webster einen akzeptablen Kompromiss abgegeben hätte.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
greifen, falls, und nur falls, man es für die Aufgabe des Staates hält, das Zwangsmonopol zu nutzen, damit A’s Vorstellung von B’s Wohl sich durchsetzen kann. A kann dabei irgendjemand sein, der mitfühlende Beobachter, die Mehrheit der Wähler, das führende soziopsychologische Wirtschaftsinstitut oder der Staat selbst. Man könnte die Staatstypen danach einteilen, welchen dieser möglichen Urheber sie vorgeblich folgen. Als kapitalistisch erweist sich der Staat, der keinem dieser Gewährsleute folgt, weil der kapitalistische Staat der Vertragsfreiheit den Vorrang einräumt, einschließlich der äußerst wichtigen Freiheit, überhaupt keinen Vertrag einzugehen. Im Vorgriff auf Kapitel 2 kann ich schon einmal pauschal sagen, dass die anderen Staatstypen vorgeben, auf eine oder mehrere Gewährsgruppen zu hören. Die Wahl der „Gewährsgruppen“, auf deren Vorstellungen vom Wohl man hören sollte, ist unweigerlich von jener Vorstellung von Wohl bestimmt, die der Staat selbst hat. Er wird es vorziehen, sich von geistesverwandten Köpfen, gleichgesinnten Denkern leiten lassen. Die Wahl des Beraters und die Entscheidung darüber, wessen Rat man befolgt, sind gleichbedeutend damit, das zu tun, was man ohnehin tun wollte. Indem der Staat sich dazu entscheidet, B’s Wohl zu fördern, verfolgt er letztlich eigene Zwecke. Dies ist allerdings eine Quasitautologie, die es erforderlich macht, der Natur staatlicher Ziele mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Umrisse des Minimalstaates Gleichgültigkeit gegenüber den Befriedigungen des Regierens ist der Anfang selbstauferlegter Grenzen bezüglich des Ausmaßes des Staates.
Es ist zwar ungewöhnlich, aber nicht völlig irrational für den Staat, sich selbst zu minimieren. Eine Theorie des kapitalistischen Staates oder das, was ihn zumindest annäherungsweise definiert und den Respekt vor der Freiheit zweier Parteien verlangt, die einen die Rechte Dritter unberührt lassenden Vertrag eingehen wollen, sieht genauso unvollständig aus wie eben jener Staat selbst – zumindest nach der gängigen Auffassung. Welche Rechte Dritter sollen es denn sein, die der Staat zu schützen hat, und welche davon sind reine Ansprüche, die er ignorieren soll? Die Liste der möglichen Einwände, die von Seiten Dritter gegen die Klauseln eines gegebenen Vertrages vorgebracht werden können, ist schier unendlich lang. Man muss eigens Gesetze beschließen und anwenden, um die Kategorie der für gerechtfertigt erachteten Einwände festzulegen und den Bereich der Zweifel (und auch den der Willkür) einzuengen, der zwischen jenen Fällen liegt, die verfolgt werden sollen, und denen, die nicht zu verfolgen sind. Gibt es erst einmal einen Staat, dann liegt es bei ihm, sich mit diesen Dingen herumzuschlagen. Manche mutmaßen, dass im Naturzustand ein spontanes Kooperationsarrangement zustande käme, das diese Aufgabe übernimmt; und zwar aus denselben Gründen, die uns auch sonst vermuten lassen, dass eine Reihe von Aufgaben wahr-
Die Umrisse des Minimalstaates
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genommen würden, die man für gewöhnlich als Aufgaben des Staates ansieht. Indes gibt es keine Sicherheit dafür, dass dem so wäre, und auch keine Charakterisierung der Form, in der dies stattfände. Ist der Staat aber erst einmal da, dann dürften einige dieser zwanglosen Arrangements wohl kaum noch praktikabel sein oder von vornherein gar nicht erst zustande kommen. Im Naturzustand hat jeder, dem die Funktionsweise eines freiwilligen Arrangements missfällt, zwei Optionen zur Wahl. Entweder findet er sich damit ab oder er versucht, eine Änderung auszuhandeln, wobei dieser Versuch die Gefahr birgt, dass das ganze Arrangement in sich zusammenbricht und seine Vorteile damit verlorengehen.16 Die Gefahr, dass dies so ausgeht, bietet für jeden einen gewissen Anreiz, die Dinge durch beiderseitiges Entgegenkommen zu regeln. Wenn es aber einen Staat gibt, dann haben Abweichler eines freiwilligen Arrangements einen zusätzlichen Grund, sich zu verweigern (und die anderen Mitglieder des Arrangements einen zusätzlichen Grund, es darauf ankommen zu lassen), und zwar aufgrund der Möglichkeit, sich auf den Staat zu berufen. Wenn der Abweichler nicht bekommt, was er will, dann kann er sich an den Staat wenden, damit ihm Gerechtigkeit widerfahre. Die anderen Kooperateure können dies ebenfalls tun. Das freiwillige Arrangement wird dann in ein verpflichtendes umgewandelt, ganz gleich, wer gewinnt. Dreht man das Ganze auf den Kopf, dann erhält man dieselbe Logik, die wir bei Kant vorfinden, nämlich in dessen Idee vom Recht des Untertanen, dem Souverän zu widersprechen. Wenn es ein solches Recht gäbe (was Kant verneint), dann müsste es einen Schiedsrichter geben, an den man sich mit seinem Dissens wenden kann. Der Souverän wäre dann kein Souverän mehr, und der Schiedsrichter würde an seine Stelle treten. Wenn es jedoch einen Souverän gibt, dann werden die Streitfälle, die man an ihn heranträgt, bei ihm landen, weil es kaum einen Grund gibt, nach privaten Kompromissen zu trachten, sofern es eine Instanz gibt, die man anrufen kann. Um nun sein Leben und das der weniger streitsüchtigen Staatsbürger erträglich zu gestalten, muss der Staat jene Gesetze, die vorhersagen, wie er entscheiden würde, wenn man Fälle dieser und jener Art an ihn herantrüge, so klar wie möglich formulieren (womit er viele Berufungen abwehrt) und allgemeine Angaben zu jenen Fälle machen, in denen er keineswegs eine Berufung zuließe.17 16 Dies wiederum setzt voraus, dass das Arrangement Einstimmigkeit erfordert. Falls es dies nicht tut und seine Vorteile auch nach dem Rückzug der erfolglos verhandelnden Person bereitstellt, taucht das wohlbekannte Trittbrettfahrerproblem auf und könnte das Arrangement destabilisieren. Falls der Nicht-Kooperierende genauso profitiert wie die Kooperierenden, dann bildet sich für Letztere ein Anreiz, die Seiten zu wechseln. Mit jedem erfolgreich Kooperierenden, der zum Trittbrettfahrer wird, steigt die Zahl der Trittbrettfahrer auf Kosten der weniger werdenden Kooperierenden und wächst der Anreiz, die Seiten zu wechseln. Um dieses Ergebnis zu verhindern und dem Arrangement eine gewisse Stabilität zu verleihen, kann man sich natürlich diverse Hilfsmittel ausdenken, von denen einige hie und andere da funktionieren mögen; vgl. Kap. 4.3. 17 Der Leser wird indes bemerkt haben, dass zwar mancher Staatstyp Interesse daran haben mag, in der oben beschriebenen Weise vorzugehen, andere Staatstypen es aber durch-
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Wenn wir nun davon ausgehen, dass der Staat, sofern es ihn gibt, auf die eine oder andere Weise die Aufgabe übernehmen wird, Dispute beizulegen, die sich aus Ansprüchen Dritter ergeben, dann ist zu fragen, nach welchen Richtlinien der kapitalistische Staat dabei verfahren werde und wie er gleichzeitig kapitalistisch bleiben und die Vertragsfreiheit hochhalten könne. Man könnte fraglos einen Entwurf zeichnen, eine Art kapitalistischen Code für die Gesetze eines solchen Staates, wobei man wenig Grund zur Annahme hätte, dass von solchen Codes, sofern sie in den wesentlichen Punkten erheblich voneinander abwichen, mehr als einer den kapitalistischen Grundbedingungen, die auf uneingeschränktes Eigentum und Vertragsfreiheit rekurrieren, entsprechen könnte. Die wirtschaftlichste Form, den gemeinsamen Sinn aller hier denkbaren Codes zu erfassen, ist wohl die, zu bedenken, dass ein Staat, falls er existiert und bereit ist, diesen Grundbedingungen zuzustimmen (was nicht dasselbe bedeutet wie zu behaupten, dass es einen geben könnte), seine Befriedigung in etwas anderem finden muss als im Regieren. Eine derartige Aussage mag befremdlich klingen und nach etwas ausführlicheren Darlegungen verlangen. Wenn wir an eine Wahl denken, dann neigen wir zumindest stillschweigend zu der Annahme, dass ein Zweck, ein Ziel „hinter“ der Wahl stecke. Man sagte früher z. B., dass die Konsumenten Befriedigung und die Produzenten Profit anstrebten, und man kann sich ihre Entscheidungen als rational (oder nicht-rational) im Sinne einer korrespondierenden Maximierungsannahme denken. Aber welches Ziel, welche Ziele verfolgt der Staat? Die Maximierung wessen qualifiziert sein Verhalten als rational? Hier können verschiedene, mehr oder weniger aufrichtige und ernsthafte Antworten ins Feld geführt werden: die Befriedigungen der Staatsbürger in der Summe, das Wohl einer bestimmten Klasse, das Bruttosozialprodukt, Macht und Glanz einer Nation, der Staatshaushalt, Steuern, Ordnung und Gleichmaß, die Sicherung der eigenen Amtszeit, usw. (In Kap. 4.6 gehe ich diesen Fragen etwas ernsthafter nach.) Bei näherer Betrachtung scheinen alle Maximanden vorauszusetzen, dass der Staat eine spezielle Befugnis oder Ausstattung besitzt. Um den Lauf der Dinge festzulegen, die Umgebung zu beherrschen und an dem Maximanden (Mehrung der Auszahlungen, Vergrößerung statt bloßer Verwaltung der Domäne) zu arbeiten, ist es zudem wohl wünschenswert, dass die Befugnis eher groß als klein ausfällt. Selbst wenn man für einige Maximanden keine große Befugnis brauchte, um ihre Umsetzung aktiv zu betreiben (z. B. für weltfremde Ziele wie die friedliche Beobachtung seltener Schmetterlinge), welche Pointe hätte es für den Staat, der sie verfolgte, sich die Hände freiwillig zu binden und im Voraus die Nutzung des vollentwickelten Machtapparats auszuschlagen, der ihn mit „politischen Instrumenten“ geradezu überhäufen würde? Könnten dieselben ihm nicht eines schönen Tages sehr gelegen kommen?
aus vorziehen könnten, ins Gegenteil zu verfallen und ihren Untertanen es schmackhaft zu machen, sich so oft wie möglich an sie zu wenden. Dies könnte durchaus mit den Interessen und dem vielleicht unbewussten Wunsch der Anwaltskaste zusammenfallen. Gesetze gebären Juristen, die wiederum Gesetze ausbrüten.
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Gleichwohl verlangt meine Definition vom kapitalistischen Staat, für eine Art einseitiger Abrüstung zu optieren; dafür, das Eigentum der Staatsbürger und deren Freiheit, untereinander Verträge auszuhandeln, unangetastet zu lassen. Ein Staat, dessen Ziele für ihre Umsetzung eine mächtige Regierungsgewalt erfordern, wäre nicht dazu bereit, sich selbst eine derartige Selbstbegrenzung zu verordnen. Genau das meinen wir, wenn wir sagen, dass wir die Ziele des kapitalistischen Staates erst gar nicht herausfinden müssen; egal, wie sie auch aussehen mögen, sie liegen jenseits des Regierens. Worin liegt aber dann die Pointe des Staates, Staat zu sein? Wenn er seine Befriedigung in dem findet, was wir „metagovernmentale“ Maximanden nennen könnten, seltene Schmetterlinge oder schlicht Ruhe und Frieden, warum tritt er dann nicht ab und beendet das Regieren? Die einzige plausible Antwort, die sich von selbst aufdrängt, ist die, sie rauszuhalten, sie davon abzuhalten, an die Hebel der staatlichen Macht zu gelangen und alles zu zerstören, die Schmetterlinge, den Frieden und all das. Das Grundprinzip des minimalen Staates liegt vor allem darin, den Eiferern nur wenige Hebel und Missbrauchsmöglichkeiten zu überlassen, falls sie es schaffen, der Staat zu werden; sei es nun dadurch, dass das Schicksal oder die Wählerschaft verrücktspielt. Das Erbe eines starken, zentralisierten Staatsapparates ist Teil des Erfolgsgeheimnisses, das die Jakobinische Terrorherrschaft und Napoleon teilen. In den Passagen, die wohl den Höhepunkt in Der alte Staat und die Revolution (Buch III, Kap. VIII) bilden, wirft Tocqueville dem französischen Staat der Vorrevolution vor, jedem die Regierung „als Lehrmeister, Wächter und, wenn nötig, als Unterdrücker“ vorgesetzt und „ungeheure Möglichkeiten“ geschaffen zu haben; eine Reihe von egalitären Institutionen, die sich selbst despotische Macht verleihen und welche der neue Absolutismus unter den Trümmern des alten fix und fertig sowie einsatzbereit vorfand. Auch Marx lässt keinen Zweifel daran, dass in der „ungeheuern bürokratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie“ ein Wert für die Revolution lag; eingesetzt von jenem Regime, das sie gestürzt hatte. „[D]ieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren verstopft, entstand in der Zeit der absoluten Monarchie. … Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandelten sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt. … Die erste französische Revolution … mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt. Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie.“18 Es ist also nicht der Staat, der sich selbst misstraut und die mächtigen Hebel bzw. Werkzeuge lieber nicht hätte, damit er sie nicht missbrauchen kann. Er weiß, dass er unmöglich in Versuchung käme, die Macht zu missbrauchen. Es sind die Rivalen der staatlichen Macht, die sie, getrieben von der 18
Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 196 f.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Natur ihrer Ambitionen, missbrauchen würden. (Dem Minimalstaat dürfte zudem klar sein, dass ein Rivale, der umstrittene Ziele im Sinn hat, im Falle einer Ablösung einige Zeit bräuchte, um die Grundlagen für einen nicht-minimalistischen Staatsapparat zu schaffen. Aber auch ein kleiner Gewinn an Zeit, und damit auch an Hoffnung, wäre immer noch besser, als dem Nachfolger eine fertige Maschinerie zu überlassen.) Für einen kapitalistischen Staat, der das macht, was er tut, nämlich Ziele verfolgen, die der Staat als solcher nicht befördern kann, und das im Wissen darum, dass auch er vor menschlichem Versagen nicht gefeit ist, ist es vernünftig, sich den Rahmen eines Minimalstaates zu geben. Man denke zurück an die Regimes von Walpole, Metternich, Melbourne oder (mehr noch) Louis Philippe; geprägt von einem Schuss Gleichgültigkeit, wohlwollender Nachlässigkeit und einer Vorliebe für Vergnügen und Annehmlichkeiten. Der kapitalistische Staat muss nur genug Hochmut beweisen und darf sich nicht von den belanglosen Streitereien seiner Staatsbürger ablenken lassen. Je ruhiger sie ihren Geschäften nachgehen, umso besser. Nur ab und an, und dann auch eher widerwillig, muss er sie mit strenger Hand daran erinnern, dabei zu bleiben. Der Abstand vor den weltlichen Angelegenheiten seiner Staatbürger braucht allerdings nicht jene Sorte Hochmut, die Nietzsche oder Treitschke im Staat zu finden hofften und die nach hehren Zielen greift und Leben und Eigentum seiner Bürger in vermeidbaren Kriegen sucht; auch nicht den Hochmut der utilitaristischen Ethik, die im Bürger und dessen Eigentum ein legitimes Mittel für ein größeres Gemeingut sieht. Als wäre es ein Paradox: der kapitalistische Staat ist aristokratisch, weil distanziert, aber bürgerlich genug, um die Regierung der Julimonarchie (1830 – 1848) abzusetzen. In jedem Fall ist er als Staat weit davon entfernt, eine Republik zu sein. Nebenbei bemerkt und auch wenn es nicht viel beweisen mag, so sollte man nicht vergessen, dass Alexander Hamilton ein überzeugter Royalist war. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie wenig die Öffentlichkeit vom Wesen des Kapitalismus versteht. Wenn man die Leute fragen würde, wer der größte Kapitalist unter Amerikas Staatsmännern gewesen sei, dann würden manche bestimmt „Grant“ sagen und dabei an die Landvergabe beim Eisenbahnbau denken, oder „Garfield“ und an die amerikanische Blütezeit (Gilded Age) erinnern, oder „McKinley“ und Mark Hanna und die Schutzzölle im Sinn haben, oder „Harding“ und den Teapot-Dome-Skandal und die Ohio-Bande meinen. Derlei Antworten gingen am Ziel vorbei. Denn jene Präsidenten verursachten oder duldeten Korruption und Skandale, indem sie die Interessen einiger den Interessen anderer vorzogen und damit die Staatsmacht für ihre Ziele einsetzten. Wenn überhaupt ein amerikanischer Staatsmann für den Kapitalismus gut war, was keine ausgemachte Sache ist, dann war es Alexander Hamilton. Ein kapitalistischer Staat wird nur wenige und einfache Gesetze beschließen und viele der übernommenen Gesetze gar nicht erst durchsetzen. Er wird klarmachen, dass er nur ungern über Klagen urteilen will, die sich gegen Situationen richten, die infolge frei geschlossener Verträge eingetreten sind, und wenn er es doch muss, dann wird es sehr behutsam tun und nur, wenn sonst nichts hilft.
Wenn es keine Staaten gäbe, sollte man sie dann erfinden?
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Er wird das Wohl der Gesellschaft nur widerwillig befördern, und schon gar nicht jene seiner Staatbürger, die mehr Glück haben als andere, dazu anhalten, ihr Glück mit den weniger Glücklichen zu teilen; nicht weil es ihm an Mitgefühl mangelte, sondern weil er glauben würde, dass aufrichtige und ehrenwerte Gefühle den Staat nicht dazu berechtigen, seine Staatsbürger zu zwingen, dieselben zu teilen. Wir müssen es dabei belassen und dürfen nicht weiter versuchen herauszufinden (was wir im Übrigen auch gar nicht könnten), ob es der „Laissez faire-Glaube“ oder sonst ein tiefer Glaube an die wahre Aufgabe des Staates ist, der den Staat zurückhält, oder einfach nur die Gleichgültigkeit gegenüber den Befriedigungen des Regierens, die man jenseits der Grenzen des Minimalstaates finden könnte.
Wenn es keine Staaten gäbe, sollte man sie dann erfinden? Die Menschen neigen zur Annahme, dass sie Staaten deshalb brauchen, weil sie sie haben.
Weder Einzel- noch Klasseninteressen können den Staat aus Klugheitsgründen rechtfertigen. Wir haben nun einige charakteristische Merkmale jenes Staates hergeleitet, der für den Kapitalismus am „besten“ (bzw. am „wenigsten schädlich“) wäre, indem wir bei den idealen Bedingungen kapitalistischer Eigentümerschaft und Tauschhandlungen anfingen und dann zum möglichen Verhalten des Staates beim Erfüllen dieser Bedingungen und zu den möglichen Gründen für sein Verhalten übergingen. Das Bild, das sich nach und nach abzuzeichnen beginnt, ist das einer ungewöhnlichen Kreatur, die nur sehr entfernt Ähnlichkeiten mit irgendeinem tatsächlichen Staat in der Geschichte aufweist. Die wenigen tatsächlichen Staaten, die ich angeführt habe, um die Sache zu veranschaulichen, sagen vor allem etwas über den jeweiligen Stil und Geschmack und über den Mangel an Regierungseifer aus, sind aber weniger Ausdruck des wahrgewordenen Ideals. Wenn man nun den umgekehrten Weg einschlägt, dann kann man sogar zeigen, dass ein wahrscheinlicherer und weniger bizarrer Staat dem Kapital und dem Kapitalismus sehr viel mehr schaden würde, als jener, der das Werkzeug von 200 skrupellosen Familien ist, die entweder Polizisten oder die Nationalgarde schicken, um das Angesicht der Elenden zu zermalmen. Im wahren Leben nehmen die Menschen meistens mit dem Staat vorlieb, den sie haben, weil ihre früheren Verwandten irgendwann von einem Invasoren unterworfen wurden, und manchmal, weil sie das kleinste Übel zu wählen hatten; d. h., sie mussten einen König akzeptieren, um der Gefahr zu entgehen, einen schlimmeren zu kriegen. Es ging also in erster Linie nicht um „gut für dies“ oder „weniger schädlich für das“. Die wahren Staaten sind nicht so gestaltet, dass sie den funktio-
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nalen Bedürfnissen eines Systems aus Glauben, Vorlieben, Lebensstilen und „Produktionsweisen“ entsprechen. Das bestätigt zwar die Autonomie des Staates und die Eigenständigkeit seiner Ziele, schließt aber nicht auf alle Zeit und für alle Fälle aus, dass es zu einer gegenseitigen Angleichung kommen kann, bei welcher der Staat sich an die Gewohnheiten und Vorlieben der Menschen anpasst, so wie diese lernen, die Gebote des Staates zu befolgen und sich für einige von ihnen sogar hin und wieder zu begeistern. Jeder reale Staat ist angesichts seines tatsächlichen Ursprungs in erster Linie ein historischer Zufall, an den sich die Gesellschaft anpassen muss. Für den, der gelernt hat und gewohnt ist, die politische Verpflichtung auf die moralische Pflicht oder kluge Zielsetzungen zurückzuführen, ist dies unbefriedigend. Anstatt der gewöhnlichen Theorie anzuhängen, der zufolge Gehorsam das Ergebnis drohender Gewalt ist, wird man mehr Interesse für Theorien zeigen, die den Staat aus dem Willen des Bürgers ableiten; schon allein deshalb, weil es intellektuell bequem ist, schlüssige Gründe für die Annahme zu finden, dass wir das, was wir haben, auch wirklich brauchen. Es gibt vor allem zwei rivalisierende Theorien, die gleichermaßen von der These ausgehen, dass wir den Staat erfinden sollten, wenn er nicht schon da wäre. Beide gründen, wie ich zeigen werde, auf einer Selbsttäuschung. Folgt man der einen, dann sind es die Menschen generell, die den Staat brauchen, weil nur er die Aufgabe erfüllen kann, den allgemeinen Konflikt in allgemeine Harmonie zu verwandeln. Die Menschen brauchen ihn nicht nur, sondern wissen auch um ihr Bedürfnis und schaffen den Staat durch den Gesellschaftsvertrag und verleihen ihm die Autorität über sich selbst. Folgt man der anderen Theorie, dann ist es die besitzende Klasse, die den Staat braucht, weil er das unverzichtbare Werkzeug ihrer Klassenherrschaft ist. Die politische Macht des Staates entspringt gewissermaßen der wirtschaftlichen Macht, welche die Eigentümerschaft der besitzenden Klasse verleiht. Die beiden Mächte, die wirtschaftliche und die politische, ergänzen einander bei der Unterdrückung des Proletariats. Der reinste und unmissverständlichste unter den Theoretikern des Gesellschaftsvertrages ist Hobbes. Entsprechendes gilt, mit Blick auf die Theorie vom Staat als Werkzeug der Klassenunterdrückung, für Engels. Beiden Theorien gemein ist ein Kerngedanke, der nicht weiter ableitbar ist: Beide setzen Menschen voraus (zum einen „das Volk“, und zum anderen „die kapitalistische Klasse“), die einer realen Fähigkeit entsagen können, nämlich der Zuflucht zur Gewalt. Im einen wie im anderen Fall, und jeweils in der passenden Weise, wird das Gewaltmonopol (und damit natürlich auch dessen Gebrauch) Leviathan, also dem Monarchen oder dem Klassenstaat übertragen. Im einen Fall ist das Motiv Angst, im anderen Gier; d. h., keine moralischen Gründe, sondern Klugheitsgründe. Keine der beiden Theorien bietet irgendeinen guten Grund zur Annahme, dass der Staat das Gewaltmonopol, nachdem er es erhalten hat, nicht ab und zu oder dauernd gegen jene einsetzen wird, von denen er es bekommen hat. Keine
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der beiden ist eine Staatstheorie im eigentlichen Sinne, d. h., keine erklärt, warum der Staat das eine tun und das andere lassen wird. Warum sollte denn der Staat die Menschen davon abhalten, sich gegenseitig umzubringen und auszurauben? Er könnte sie auch mal gewähren lassen oder notfalls auf eigene Rechnung töten. Warum sollte er den Kapitalisten helfen, die Arbeiter zu unterdrücken? Er könnte genauso gut den wahrscheinlich rentableren Weg einschlagen und die Kapitalisten unterdrücken. Welcher ist der Maximand, den der Staat maximiert, was ist sein Gewinn, und was unternimmt er, um ihn zu erzielen? Dem Staat wird ein Verhalten (Wahrung des Friedens, Unterdrückung der Arbeiter) unterstellt, aber nicht aus dem vernünftigen Willen des Staates hergeleitet. Der Staat hat sowohl in der vertragstheoretischen wie in der marxistischen Grundannahme sämtliche Waffen in seiner Hand. Jene, die ihn damit ausgestattet haben, indem sie sich selbst entwaffnet haben, sind seiner Gnade ausgeliefert. Die Souveränität des Staates bedeutet, dass es gegen seinen Willen keine Einspruchsmöglichkeit gibt, keine höhere Instanz, die ihn vielleicht dazu bewegen könnte, das eine und nicht das andere zu tun.19 Es hängt tatsächlich alles davon ab, dass Leviathan keinen Grund zur Rebellion liefert (Hobbes nahm an, dass er es nicht täte) oder dass der Staat nur die richtigen Personen unterdrückt, d. h. die Arbeiter. Es gibt bestimmt gute Gründe, apriorischer wie auch empirischer Natur, die erklären, warum derlei Annahmen zumindest ab und zu falsch sind. Man kann generell nicht ernsthaft von den Menschen erwarten, dass sie sich aus Klugheits19 Bei seinem Versuch, Hobbes zu widerlegen und eine schmackhaftere Doktrin vorzulegen, erkannte Locke, dass die Souveränität nicht absolut sein durfte, wenn das natürliche Recht der Menschen unantastbar bleiben sollte (d. h., dass der Staat nicht in Eigentum eindringen darf, und das wiederum bedeutet, dass er nicht in die Freiheit eindringen darf). Die Souveränität war also auf die Aufrechterhaltung des Naturrechts zu beschränken (Zweite Abhandlung, 1689, § 135). Die Unterwerfung der Exekutive unter eine mächtige Legislative sollte diese Beschränkung garantieren. Zwei Einwände drängen sich hier auf. 1. Wenn die Souveränität der Legislative absolut ist, dann sind wir wieder beim Hobbesschen Ausgangspunkt angelangt: Nun ist die Legislative der Monarch. Warum sollte sie die Naturrechte nicht missachten? Quis custodiet ipsos custodes? 2. Warum sollte die Exekutive entscheiden, sich der Legislative zu unterwerfen? Locke argumentierte letztlich vor dem Hintergrund, den ein historischer Zufall geschaffen hatte: Es war Großgrundbesitzern gelungen, Jakob II. vom Thron zu stoßen und Wilhelm III. an dessen Stelle zu setzen. Dadurch hatte die Legislative die Oberhand über die Exekutive. Locke war offenkundig nicht klar, dass man der Majorität mit dem Recht auf Rebellion noch lange nicht die Mittel für eine erfolgreiche Rebellion an die Hand gegeben hat; Mittel, die auch dann wirken, wenn man nicht auf eine historische Ausnahmesituation wie die der Glorreichen Revolution von 1688 hoffen kann. Man darf davon ausgehen, dass Locke im Zeitalter der Panzer, automatischen Gewehre und einer gut funktionierenden Telekommunikation die Idee vom Recht auf Rebellion gar nicht erst vorgebracht hätte. Einen Staat, der bei der Behauptung seiner Macht nicht versagen und das Eigentum seiner Bürger nicht begehren würde, konnte er sich jedenfalls für seine Zeit und deren technischen Entwicklungsstand nicht vorstellen.
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gründen auf ein Spiel mit einem im Wesentlichen unvorhersehbaren Staat einlassen, auch wenn sie es möglicherweise aus Glaubengründen tun. Für vernünftige Menschen gibt es nur einen Grund, dieses Risiko aus Eigeninteresse einzugehen: wenn die voraussichtlichen Folgen einer ausbleibenden Selbstabrüstung zugunsten des Staates noch gefährlicher zu sein scheinen.
Den Staat erfinden: der Gesellschaftsvertrag Politischer Hedonismus erfordert entweder einen wohlmeinenden Staat oder einen konformistischen Bürger. Ohne das eine oder das andere, ist er eine törichte Haltung.
Hobbes, der schelmisch sein konnte, erkannte, dass jedermann Grund hat, seine Mitmenschen zu fürchten, wenn sie so sind wie er selbst. Alle Menschen brauchen Selbstbestätigung und trachten daher danach, andere zu überragen. Wenn ich meinen ruhmsüchtigen Zeitgenossen gewähren lasse, dann wird er in mein Eigentum eindringen, also muss ich ihn vorher angreifen. Die Selbsterhaltung bringt uns beide dazu, einander zu bekämpfen, und so wird es einen „wilden Krieg um Ruhm“ geben. Unser beider Leben werden „ekelhaft, tierisch und kurz.“ Obwohl es heißt, dass für Hobbes die Selbsterhaltung der Ursprung allen Verhaltens war, ist es dennoch klar, dass ich mir um meine Erhaltung keine Sorgen machen müsste, wenn mein Nachbar, sei es nun, um ruhmreich zu werden oder um mir zuvorzukommen, von meinem Eigentum fernbliebe. Gibt es einen Weg, meinen Nachbarn davon zu überzeugen, außen vor zu bleiben? Vielleicht, indem ich ihn wissen lasse, dass ich ihn nicht an Ruhm überragen will und er nichts zu befürchten hat? Wenn die Selbsterhaltung ihn nicht länger zwingt, wachsam zu sein, und er unachtsamer wird, dann kann ich zuschlagen und bin ihm überlegen. Das Gleiche könnte er tun, wenn ich ihn ließe und unachtsamer würde. Weil er so ist, wie ich bin, muss ich ihn fürchten und kann vernünftigerweise nicht den ersten Schritt machen, der den teuflischen Zirkel aufbrechen würde, falls er anders wäre als ich. In der modernen Entscheidungstheorie nennt man solche Situationen „Gefangenendilemmata“20 So, wie sie sich darbieten, haben sie für die Gefangenen keine kooperative Lösung parat. Auf sich selbst gestellt, müssen beide „Gefangenen“, sofern sie rational sind, versuchen, das bessere Ende zu bekommen, indem sie als Erster „gestehen“. Und so verbüßen beide letztlich eine längere Strafe, als es der Fall wäre, wenn sie ihr „Gaunerehrenwort“ gehalten und es abgelehnt hätten, zu 20 M.E. ist es besser, vom Dilemma der Gefangenen zu reden als vom Dilemma des Gefangenen, weil das Dilemma immer für zwei oder mehr Personen gegeben ist und in der Fatalität des gegenseitigen Treuebruchs liegt. In keinem Fall kann es das Spiel eines Einzelgängers sein.
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gestehen. Bei Hobbes endet es damit, dass beide ein kürzeres und ekelhafteres Leben haben. Ihre einzige Fluchtmöglichkeit liegt darin, den Naturzustand aufzugeben und einen „Pakt des gegenseitigen Vertrauens“ zu schließen, wodurch ein designierter Souverän die Macht erhält, die er braucht, um den Frieden (oder das natürliche Recht) zu erzwingen. Daher muss niemand, der sich vertrauensvoll gibt, befürchten, dass andere sich seiner bemächtigen; mithin können alle sich vertrauensvoll geben. Aus irgendeinem Grund wird der Souverän seine absolute Macht nur zur Erzielung dieses Zwecks nutzen. Seine Untertanen haben weder ein Recht, aufzubegehren, noch haben sie einen Grund dazu. Es ist indes nicht klar, ob sie für den Fall, dass sie einen Grund hätten, auch das Recht hätten, zu rebellieren. Richtig verstanden, setzt das bei Hobbes implizit enthaltene Gefangenendilemma den Naturzustand voraus, in dem keine souveräne Autorität die Teilnehmer davon abhält, sich ins Elend zu stürzen, wenn ihnen danach ist.21 Staaten sind dann im Naturzustand, wenn sie ihre Fähigkeit, Zuflucht in der gegenseitigen Gewaltanwendung zu suchen, bewahren und ihre Waffen und Souveränität nicht an einen Superstaat abtreten.22 Für unsere Zwecke werde ich hier zwei Hobbesche Dilemma betrachten, nämlich das des Krieges und das des Handels. Ich werde dabei auch kurz auf Rousseaus Problem der gesellschaftlichen Kooperation im Allgemeinen eingehen, auch wenn es seiner Natur gemäß anders geartet ist. (Es ist kein „Gefangenendilemma“ und setzt eine spezielle psychologische Annahme voraus, damit es nicht in einer freiwilligen Kooperation mündet.) Gegeben seien zwei souveräne Staaten (die wir in Anlehnung an die Sprache militärischer Manöver „Blau“ und „Rot“ nennen). Beide wollen im Hobbesschen Sinne „überragen“. Ihre Präferenzen sind wie folgt geordnet: (1) Sieg im Krieg, 21 Hobbes’ Dilemma ist natürlicher und nicht so rigoros wie jenes, das gemäß der Konventionen der formalen Entscheidungstheorie konstruiert ist, und sollte in vielen Fällen eine kooperative Lösung haben. In einem formalen Spiel muss der Spieler seinen Zug vollständig machen. Man kann keine Pause einlegen, Finten anwenden oder versuchsweise halbe Züge machen, deren zweite Hälfte von den gleichfalls vorläufigen Reaktionen des Mitspielers, dessen Tâtonnements, abhängt. Im Naturzustand kann ein Spieler, bevor er überhaupt den ersten halben Zug macht, Reden halten, mit dem Säbel rasseln, bedrängen usw. Je nachdem, wie der andere Spieler reagiert bzw. wie er dessen Reaktion auslegt, geht er vielleicht seiner Wege (falls der andere auf seinem Besitz steht) oder versetzt ihm einen Schlag (weil dieser z. B. so aussieht, als würde er zum Erstschlag ausholen, oder weil er in eine andere Richtung sieht) oder hört sich an, was man ihm an Danegeld anbietet und denkt darüber nach. 22 In seinem bemerkenswerten Buch Anarchy and Cooperation mokiert Taylor sich darüber, dass Hobbes zwar den Naturzustand unter Menschen untersuchte, aber nicht das Gleiche im Hinblick auf den Naturzustand unter Staaten tat. Dieser Tadel wiegt vor allem schwer, wenn man einen empiristischen Standpunkt einnimmt: Einen Naturzustand unter Staaten gibt es nämlich in der realen Welt, während der Naturzustand unter Menschen ein theoretisches Konstrukt ist; zumindest war er das für Hobbes und dessen Leser, die keinen blassen Schimmer davon hatten, was die modernen Anthropologen in den entlegenen Winkeln dieser Welt einmal finden würden.
1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
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(2) Abrüstung, (3) bewaffneter Frieden und (4) Niederlage im Krieg. Sie müssen zwischen zwei Strategien wählen – bewaffnen oder entwaffnen – ohne zu wissen, wie der andere Staat entscheidet. Die aus dieser Situation resultierende „Auszahlungsmatrix“ sieht dann aus wie in Abbildung 1. Rotes Land
Blaues Land
rüstet ab
rüstet auf
rüstet ab
kostenloser Frieden
Niederlage\Sieg
rüstet auf
Sieg\Niederlage
kostspieliger Frieden
Abbildung 1
Da Blau nicht weiß, ob Rot auf- oder abrüsten wird, wählt er „aufrüsten“, weil er dadurch eine Niederlage verhindert, schlechtestenfalls für den Frieden, den er so sichert, etwas zahlen muss, und vielleicht sogar den Sieg davonträgt, falls Rot ein Schwächling ist. Rot ist wie Blau, aus den gleichen Gründen. Auch er wählt Aufrüstung. Sie landen somit im rechten unteren Feld der Matrix, im bewaffneten Frieden – die „Maximin“-Lösung (der bester Ausgang unter den schlechtesten Ausgängen) für verfeindete Spieler. Obwohl sie das linke obere Feld des kostenlosen Friedens vorziehen würden, ist es ihnen verwehrt, weil sie den Sieg über den anderen noch höher schätzen. Wären sie erst dort, dann würde Blau versuchen, in das linke untere Feld zu kommen, und Rot würde versuchen, in das obere rechte Feld zu gelangen, d. h., die „kooperative Lösung“ des kostenlosen Friedens wäre wegen eines fehlenden Superstaates, der die Abrüstung erzwingt, instabil. Im groben entspricht das Ergebnis dem Resultat, das wir in der realen Welt vorfinden. Die Staaten befinden sich die meiste Zeit im rechten unteren Feld der Matrix, d. h., sie leben in einem kostspieligen Frieden. Ab und an entgleiten sie in das linke untere oder rechte obere Feld und beginnen einen Krieg. Ob dies wegen ungleicher Waffenlage geschieht, aus einem absonderlichen Anlass heraus oder aus einem anderen der zahllosen Gründe in der Geschichte der Kriege ist für unsere Zwecke unerheblich. Wie auch immer, obgleich sie links oben rechts unten vorziehen, verzichten sie nicht auf ihre Souveränität. Wir müssen dies sorgsam zur Kenntnis nehmen und alsbald näher betrachten. Das Handelsdilemma und das Kriegsdilemma sind formal identisch. Auch hier seien dieselben Länder Blau und Rot gegeben. Jedes will die Güter des anderen Landes. Beide haben ihre Vorlieben in derselben Weise geordnet: (1) die fremden Güter kostenlos bekommen, (2) heimische Güter gegen fremde Güter tauschen, (3) kein Handel und die heimischen Güter behalten und (4) heimische Güter aufgeben und keine fremden Güter erhalten (Totalverlust, Konfiskation, Enteignung, Abschreibung). Die beiden Länder vereinbaren, sich gegenseitig mit Gütern zu beliefern (oder sie gegen spätere Bezahlung zu borgen oder gegen Gewinnbeteiligung zu investieren). Da es keinen zwangsvollstreckenden Superstaat gibt, können sie den Vertrag erfüllen oder brechen, wie in Abbildung 2 dargestellt.
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Roter Händler liefert
liefert nicht
liefert
Handel
gesamter Verlust\ Güter umsonst
liefert nicht
Güter umsonst\ gesamter Verlust
kein Handel
Blauer Händler
Abbildung 2
Auch hier würde die Spieltheorie vorhersagen, dass keiner der handelnden Staaten dem anderen die Gelegenheit ließe, auf seine Kosten zu spielen, so dass „Maximin“ für beide die dominierende Strategie wäre und beide nicht länger miteinander Handel trieben. Die Struktur ihrer Präferenzen und die ihrer Auszahlungen versperren ihnen angesichts eines fehlenden Vertragsdurchsetzers den Vorteil des Handels. Gewiss, die weitverbreitete Tatsache, dass Handel, Investment und Kredit über nationale Rechtssysteme hinweg stattfinden, wobei jene, die sich auf sie einlassen, sie insgesamt für lohnend halten, obgleich es gelegentlich Forderungsausfälle und sonstige Zahlungsausfälle aller Art gibt, straft diese Vorhersage Lügen. Unter bestimmten Umständen leisten Länder sogar Schadensersatz an Ausländer und erzwingen ihre säumigen Inländer zur Erbringung der fälligen Leistung; ein recht ritterliches Gebahren, wenn man die Standardauffassung der allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Verträge zugrunde legt. Ebenso ritterlich war es, wenn im Mittelalter die Händler und Bankiers bei Zahlungsausfall oder Vertragsstreitigkeiten sich freiwillig dem Urteil der Standeskollegen unterwarfen, die zu diesem Zweck bestellt waren, aber weder Waffen trugen, noch die Polizeigewalt hatten; vor allem, wenn man die Gefahr bedenkt, dass das Urteil durchaus gegen sie ausfallen konnte. Wenn uns die Geschichte lehrt, dass zwei offensichtlich identische Dilemmata in der Regel unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen – das Kriegsdilemma führt zu bewaffnetem Frieden (und gelegentlichem Krieg) und das Handelsdilemma führt zu Handel – dann muss sich hinter der offenkundigen Identität ein signifikanter Unterschied verbergen. Auf den ersten Blick erscheint Krieg eher ein isolierter Akt zu sein als Handel. Man kann einen Krieg sogar führen, „um den Krieg ein für allemal zu beenden“, um für immer eine friedliche Hegemonie zu erzielen. Der Handel ist bezeichnenderweise eine unendliche Serie wiederkehrender Akte, die von den Teilnehmern mit Absicht fortgeführt wird. Alles, was aus Sicht der Mathematik und Psychologie der kooperativen Lösung „wiederkehrender“ Gefangenendilemmata zuträglich ist, trifft auf den Handel weitaus mehr zu als auf den Krieg. Dennoch liefern weder das Dilemma noch dessen Lösungen in der realen Welt überzeugende Argumente für die Hobbesche These, dass ein Staat zu erfinden sei, dem man sich in die Arme werfe, um dem erbärmlichen Elend des Naturzustandes zu entrinnen. Liegt mehr Überzeugungskraft in Rousseaus These, dass die Menschen im Naturzustand unfähig seien, die gesellschaftliche Kooperation zustande zu bringen,
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die für die Realisierung des Gemeinwohls (des allgemeinen Willens) notwendig ist? Die Kernthese des Problems findet sich im Zweiten Diskurs und ist als Hirschjagdparabel bekannt.23 Wenn zwei Jäger einem Hirschen nachstellen, dann können sie ihn nur erwischen, wenn jeder brav auf seinem Posten bleibt. Auf diese Weise können sie sich unbewusst die Idee der gegenseitigen Verpflichtung zu eigen machen (für Rousseau der Übergang vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft), allerdings nur, wenn es in ihrem gegenwärtigen und offensichtlichen Interesse liegt. Gleichwohl gebricht es ihnen an Voraussicht und sie „denken kaum an den nächsten Tag“. Deshalb wird der, der einen aufkreuzenden Hasen sieht, die Hirschjagd vergessen und dem Hasen nacheilen, wodurch er den anderen Jäger um den Hirschen bringt, wie auch um jede andere Beute. Die Auszahlungsmatrix ihrer Interaktion nimmt die Gestalt von Abbildung 3 an.24 Zweiter Jäger
Erster Jäger
bleibt auf dem Posten
verlässt den Posten
bleibt auf dem Posten
Hirsch
keine Beute\Hase
verlässt den Posten
Hase\keine Beute
Hase
Abbildung 3
Da beide Jäger einen Hirschen, bzw. dessen Hälfte, einem Hasen vorziehen, hat keiner einen Anlass, den anderen „auszunutzen“, indem er ihn alleine lässt, während er selbst dem Hasen nachjagt. Deshalb würde keiner eine „Maximin“-Strategie wählen (dem Hasen nachstellen, rechtes unteres Feld). Die Hirschjagd unterscheidet sich also erheblich vom ursprünglichen Hobbeschen Gefangenendilemma. Gesellschaftliche Kooperation ist kein Dilemma und erfordert aus diesem Grund keinen Zwang. Für die Jagdpartie entsteht ein Problem (aber kein Dilemma) nur wegen der Kurzsichtigkeit des einen Jägers, der nicht sehen kann, dass ein Hirsch, der einem bei Jagdende gewiss ist, besser ist als ein Hase, den man sicher hat. (Falls beide Jäger vollständig unter mangelnder Voraussicht leiden sollten, dann dürften sie „objektiv“ ein Gefangenendilemma haben, ohne es zu spüren. Keiner würde sich um den Ausgang der Jagd sorgen. Sie würden den verpassten Hirsch nicht wahrnehmen und erst gar nicht auf ein Arrangement verfallen, wie z. B. darauf, einen Gesellschaftsvertrag abschließen, der einen Zustand schafft, in dem sie einen 23 Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. 24 Ich übernehme diese Darstellung von Raymond Boudon und François Bourricaud (1982), S. 477. Darin, die entscheidende Rolle bei der Entstehung des Problems der Kurzsichtigkeit zuzuschreiben, ging mir Kenneth M. Waltz voraus (Waltz (1965), vor allem S. 168). Aufgrund der Kurzsichtigkeit kann der Hirsch, weil er weiter weg ist, weniger wert werden als der Hase. Weiß der zweite Jäger um die Kurzsichtigkeit des ersten Jägers, dann kann dieses Wissen ihn dazu verleiten, einem Hasen nachzustellen, obwohl es der erste Jäger ist, der zu kurzsichtig ist, um den Hirschen zu erkennen.
Den Staat erfinden: der Gesellschaftsvertrag
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Hirsch statt einen Hasen erlegen können. Die beiderseitige Kurzsichtigkeit wäre der einzige Grund dafür, warum sie die Jagd nicht stattfinden ließen und vom Spiel abkämen, sofern sie überhaupt etwas sähen.) Nehmen wir also an, dass zumindest der zweite Jäger um den Vorteil weiß, der entsteht, wenn der erste Jäger auf seinem Posten bleibt. Welche Lösungen sind dann möglich, um die Kurzsichtigkeit oder Nutzlosigkeit des ersten Jägers zu überwinden? Die vertragstheoretische Lösung sieht vor, dass er zu einer Vertragspartei des Gesellschaftsvertrages wird und sich dem Zwang freiwillig unterwirft, sofern nötig. Aber es ist schwer vorstellbar, warum er den Vorteil des Gesellschaftsvertrages erkennen sollte, wenn er nicht den Vorteil erkennen kann, der darin liegt, auf dem Posten zu bleiben.25 Entweder ist er kurzsichtig und sieht keinen von beiden, oder er ist es nicht und die Jäger brauchen den Gesellschaftsvertrag nicht. Eine Überlegung, die zu mehr führen dürfte, entsteht mit der Annahme, dass die Jäger vorher schon einmal gejagt haben und dass sie, weil ihnen zufällig kein Hase über den Weg lief, dabei einen Hirsch erlegten. Der zweite Jäger (der weitsichtige) hob davon etwas auf und hielt es beim nächsten Mal dem Kurzsichtigen unter die Nase, um ihn damit bei der Stange zu halten. Am Ende des Tages übergab er es ihm und nahm für sich den neuen Hirschen mit, den sie erfolgreich gemeinsam zur Strecke gebracht hatten. (Natürlich vergaß er dabei nicht, erneut ein Stück beiseite zu legen, um den „Lohnfonds“ aufrechtzuerhalten.) Dies ist, wenn auch in einer etwas abgekürzten Form, die Geschichte der Enthaltsamkeit, Kapitalakkumulation, natürlichen Auslese sowie der unterschiedlichen Beiträge und Belohnungen für unternehmerische Initiative und Lohnarbeit, ja man kann sagen die der Organisation gesellschaftlicher Kooperation und der Festlegung der Bedingungen, unter denen die Teilnehmer bereit sind, sie weiter fortzusetzen. (In Kapitel 3.3 wird uns die Behauptung begegnen, dass gewollte gesellschaftliche Kooperation keine Sache der Bedingungen sei, denen die Teilnehmer zustimmten, sondern eine der vernünftigen Bedingungen. Wenn schon allein aus diesem Grund eben jene Bedingungen, die ihre Tauglichkeit als Urheber gesellschaftlicher Kooperation bereits bewiesen haben, gar nicht für vernünftig gehalten werden müssen, dann gerät die Bedeutung 25 Dass man bei näherer Betrachtung der Kernstruktur der beiderseitig vorteilhaften Kooperation zu dem Schluss gelangt, dass Rousseaus Gesellschaftsvertrag nur eine unzureichende Grundlage für rationales Selbstinteresse bietet, ist sicherlich ein überraschendes Ergebnis. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages diente von jeher als die rationale Grundlage des Staates und machte die mystisch-historischen Grundlagen vom Typ Vorreformation und romantischem Hegelianismus überflüssig. Teil II von Ernst Cassirers Vom Mythus des Staates (1946) (dt. 1949, d. Hrsg.) trägt den Titel „Der Kampf gegen den Mythus in der Geschichte der politischen Theorie“ und behandelt das stoizistische Erbe in der politischen Philosophie, das in der Vertragstheorie gipfelt. Dort (auf S. 227, d. Hrsg.) schreibt er, „wenn wir die gesetzliche und soziale Ordnung auf freie individuelle Akte zurückführen, auf eine willentliche, vertragliche Unterwerfung der Regierten, dann ist jedes Mysterium vorbei. Es gibt nichts weniger Mysteriöses als einen Vertrag.“ Wie auch immer, ein Vertrag, den man keinesfalls aus den empfundenen Interessen der Vertragsparteien ableiten kann, ist mysteriös, und vermutlich in seinem Ursprung mystisch.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
dessen, was gesellschaftliche Kooperation überhaupt sei, in arge Bedrängnis. Was ist dann Kooperation unter unvernünftigen Bedingungen?) Wie auch immer, die Geschichte lehrt uns natürlich nicht jene Art von Happy End, das man uns mit dem Austritt aus dem Naturzustand zu assoziieren beigebracht hat. Sie erklärt nicht, warum vernünftige Personen, die im Naturzustand leben, eine Vorliebe für den Staat haben und nach dessen Erfindung trachten sollten (geschweige denn sagt sie etwas zu den bürgerlichen Vorlieben jener Personen, die vom und im Staat erzogen wurden und nie die Gelegenheit hatten, den Naturzustand zu testen). Die Menschen befinden sich in Staaten, und das seit vielen Generationen, und sie hätten auch praktisch keine Mittel, ihn zu verlassen, wenn sie es wollten. Die Staaten befinden sich untereinander im Naturzustand. Viele von ihnen haben Bekanntschaft mit so etwas wie Sicherheit durch einen Superstaat gemacht, als sie Teil des Römischen Reiches oder eine britische Kolonie waren. Und falls sie ihre Souveränität an einen Superstaat abtreten wollten, gäbe es zumindest ein paar praktische Schritte, die sie machen könnten, um zu versuchen, einen Superstaat auf die Beine zu stellen. Sie tun nichts von alledem. Es reicht ihnen, ihre eigene Stimme bei den Vereinten Nationen zu hören, und sie belassen es bei der albernen Bedeutungslosigkeit, die damit verbunden ist. Ist es da so unvernünftig, wenn man bezweifelt, dass die Menschen sich mit dem Aushandeln eines Gesellschaftsvertrages sputen würden, wenn sie, ähnlich den Staaten, die Option hätten, es nicht zu tun? Die Staaten haben in der Geschichte Bekanntschaft mit dem Krieg wie mit dem Frieden gemacht. Etliche von ihnen sind durch einen Krieg untergegangen, und noch mehr von ihnen wurden durch einen Krieg geboren. Die meisten von ihnen jedoch haben mehr als nur einen Krieg überlebt und wurschteln sich weiter durch, ohne ihre Existenz für so „ekelhaft und armselig“ zu halten, dass ihnen ein Leben in einem Weltstaat verführerisch erschiene. Noch nicht einmal das spezielle Gefangenendilemma, in dem die beiden atomaren Supermächte der Gefahr der Zerstörung ausgesetzt sind und die Kosten für die Durchführbarkeit eines nuklearen Gegenschlags tragen müssen, hat diese Mächte dahin geführt, dass sie nach Schutz gesucht und sich in einem sowjet-amerikanischen Vertrag den Selbsterhalt abgesichert hätten. Die internationale Handelspolitik, die „auf dem Rücken der Nachbarn“ ausgetragen wird, ist wohl ein perfektes, gleichwohl weniger apokalyptisches Beispiel für das auf Staatenebene übertragene Gefangenendilemma. Allgemein ausgedrückt, wären alle Staaten besser dran, wenn sie sich kooperativ verhielten und die möglichen Handelsgewinne in vollem Umfang zuließen, so wie alle Gefangenen besser dran wären, wenn keiner von ihnen den anderen durch ein Geständnis betröge. Die „dominante Strategie“ jedes Staates liegt jedoch (wie das Argument vom „optimalen Tarif“ beweist) in diskriminierenden Handelspraktiken, hohen Tarifen, wettbewerbspolitisch motivierten Abwertungen und dergleichen. Diese Strategie ist aus einem einfachen Grund „dominant“: Wenn alle Staaten sich nett zeigen
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und Freihandelsverhalten praktizieren, dann wird der erste Staat, der sich fehlverhält, belohnt. Gleichzeitig wird jener Staat bestraft, der kein Fehlverhalten zeigt, während alle anderen Staaten sich fehlverhalten. Das führt zu dem mutmaßlichen Ergebnis, dass jeder Staat die dominante Strategie annimmt, wodurch ein Handelskrieg eskaliert, bei dem jeder rasch ärmer wird und nichts dagegen unternehmen kann, weil ein Superstaat mit Zwangsgewalt fehlt. In Wirklichkeit verhalten sich viele Staaten die meiste Zeit über beim internationalen Handel recht vernünftig. Entweder haben sie keine dominante Strategie oder, falls doch, liegt sie nicht im Fehlverhalten. Die meisten Staaten halten sich fast immer an die Regeln des GATT (die in der Sprache der Spieltheorie so viel bedeuten wie „kooperative Lösung“). Im Allgemeinen sind Handelskriege nur kleine Scharmützel und betreffen nur einige Produkte weniger Staaten und legen sich bald wieder, anstatt zu eskalieren. Derlei „partieller Freihandel“ kommt wie „partieller Frieden“ zustande, ohne dass einem Staat Vorteile vor anderen Staaten entstünden oder ihm die Macht übertragen würde. Ein vollständiger Freihandel dürfte aus Sicht der meisten genauso befriedigender sein wie ein totaler Frieden, aber die Kosten für die zusätzliche Befriedigung dürften den Teilnehmern zu hoch erscheinen. Staaten würden sich einer Herrschaft auch dann nicht freiwillig unterwerfen, wenn die beherrschende Einrichtung Demokratische Föderation unabhängiger Völker heißen sollte. Die Menschen indes sollten sich, wenn es nach der Vertragstheorie ginge, als natürliche Personen bereitwillig unterwerfen. Im Gegensatz zu Staaten, haben die Menschen als Personen keine Möglichkeit, dieser Annahme zu widersprechen. Seit Hunderten von Jahren, spätestens seit Hobbes, wenn nicht sogar schon früher, geht die politische Theorie davon aus, dass die Menschen sich in Wirklichkeit nichts aus der möglichen Zwangsgefahr machen und sich allzu sehr vor dem Schmerz fürchten würden, den sie im zwangsfreien „Chaos“ womöglich erlitten (was der Hobbesschen Version des Gesellschaftsvertrages entspricht), oder sich allzu sehr für die vorteilhaften Resultate des Zwangs erwärmen würden (was die Grundlage für den Gesellschaftsvertrag, wie er von Rousseau entworfen wurde, noch ausweitet).26 Ich denke, auf diese Weise sollte man die kryptische und tiefschürfende Bemerkung von Leo Strauss deuten, dass Hobbes einen politischen Hedonismus „erschaffen“ 26 „Wenn in einer Gruppe von Menschen einige Leute so handeln, dass sie meinen Interessen schaden, dann dürfte ich mich bereitwillig dem Zwang unterwerfen, wenn er die Vorbedingung dafür ist, sie dem Zwang auszusetzen“ (Baumol (19652), S. 182). Die Aussage ist so formuliert, dass man die allgemein anerkannten Aufgaben des Staates logisch aus dem ableiten kann, was die Regierten wollen. Dabei wird nicht erklärt, warum allein die Tatsache, dass einige Leute handeln, um meinen Interessen zu schaden, mich davon überzeugen kann, ich sollte mich dem Zwang ausliefern (damit ich auch sie demselben ausliefern könnte); ungeachtet der Art und Schwere des Schadens, den sie meinen Interessen zufügen, und der eventuellen Möglichkeiten eines gewaltfreien Widerstandes, und auch ungeachtet der Schwere der Gewalt, der ich mich unterwerfe, und der damit verbundenen Konsequenzen. Die Geschichte scheint doch vielmehr zu lehren, dass ich jenen Schaden, den Menschen meinen Interessen zufügen, dem Schaden vorziehe, den Menschen meinen Interessen zufügen können, wenn sie in einem Staat organisiert und imstande sind, mich zu zwingen.
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habe, der das Leben „in einem Maße verändert hat, das seither von keiner anderen Lehre mehr erreicht worden ist.“27 (Nur wenige haben über diese Dinge tiefer und wirkmächtiger nachgedacht als Strauss.) Dabei spielt es keine große Rolle, dass Hobbes statt von Lust (nach der die Hedonisten ja streben sollen) vom Selbsterhalt als dem Ziel spricht, das das Handeln erklärt.28 Seit Hobbes betrachtet man es stillschweigend als eine selbstverständliche Wahrheit, dass die Menschen den Staat brauchen oder wollen, weil ihr hedonistisches Leid-Lust-Kalkül ipso facto zu seinen Gunsten ausfalle. Neuere Forschungen zum Gefangenendilemma, sowohl deduktive, die seiner logischen Struktur gelten, als auch experimentelle, die das tatsächliche Verhalten in solchen Situationen betreffen, belegen, dass die Hinnahme von Zwang seitens der Teilnehmer keine notwendige Bedingung dafür ist, dass diese eine „kooperative Lösung“ finden.29 Zu den entscheidenden Schritten auf dem Weg zu diesem Ergebnis gehören: (a) einräumen, dass das Dilemma einem mehr als einmal begegnen kann (es kann ein iteratives oder sequentielles „Spiel“ sein) und man die Züge der rationalen Spieler wohl nicht korrekt vorhersagt, wenn man nur die einstufige Rationalität bedenkt; (b) den Zug eines Spielers teilweise vom Zug eines anderen Spielers abhängig machen, den dieser in einer früheren Phase des sequentiellen Spiels unternimmt, oder vielleicht in einem ganz anderen Spiel (d. h., ihn von Erfahrung abhängig machen), wobei jeder der Spieler die erworbene Reputation des anderen hinsichtlich Stärke oder Schwäche bedenkt; (c) ihn dazu bringen, so zu spielen, wie er sollte, falls der andere Spieler Tit-for-Tat spielt; (d) den Blick auf den relativen Wert von Gegenwart und Zukunft lenken; und (e) die Spieler durch den größeren Reingewinn eines kooperativ gelösten Spiels lernen lassen, bei nachfolgenden Spielen kooperative Lösungen anzustreben. Es leuchtet unmittelbar ein, dass im Naturzustand, wenn die Menschen eine Runde des Dilemmaspiels austragen und sich nicht sofort gegenseitig totschlagen, sondern ein Weilchen überleben und sowohl Gelegenheit als auch Anreiz haben, die Möglichkeiten abzuschätzen und zu bedenken, die der andere hinsichtlich Vergeltung, Rachsucht, wechselseitigem Schutz, Dankbarkeit, Fair Play usw. hat, das Gefangenendilemma nicht nur weitaus komplizierter wird, sondern auch viel von seiner Unerbittlichkeit einbüßt. Es ist auch nicht nötig, dieses Ergebnis ausschließlich auf den reinen bellum omnium contra omnes anzuwenden. Hobbes lässt die Menschen sich für Leviathan entscheiden, damit dieser aus dem angeblichen Chaos Ordnung mache. Aber die Menschen müssen sich nicht für Leviathan entscheiden, weil auch im Naturzustand eine gewisse Form von kooperativer Lösung entsteht, wenn auch vielleicht 27
Strauss (1953), S. 169. Strauss (1953), S. 169, Anm. 5. 29 Taylor (1976), Kap. 3; Kreps/Milgrom/Roberts/Wilson (1982); Smale (1980). Für eine allgemeine Darstellung des Problems vgl. Rapaport (1974). Wichtig ist hierbei wohl, dass die Teilnehmer weder dumm noch ohne jegliche Voraussicht sein dürfen. Im Allgemeinen kooperieren ausreichend aufmerksame und lebenserfahrene Spieler in wiederkehrenden Gefangenendilemmata. Vgl. auch Hardin (1982), S. 146. 28
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nicht dieselbe Form von Ordnung, die der Staat herstellt. Sowohl qualitative als auch quantitative Unterschiede sind möglich, sogar sehr wahrscheinlich, obwohl es schwer fällt, vernünftige Hypothesen darüber aufzustellen, wie die freiwillige Lösung genau aussehen mag. Ob das spontane Ergebnis indes dem staatlichen Ergebnis unter- oder überlegen ist, muss dabei letztlich Geschmackssache bleiben. Wichtig ist jedoch, die Frage danach, wie uns das jeweilige Ergebnis gefällt, nicht mit der weitaus wichtigeren Frage zu verwechseln, nämlich der, wie uns die Gesellschaft insgesamt gefällt, wenn der Staat die Ordnung herstellt, verglichen mit der Gesellschaft, wenn sie insgesamt im Naturzustand ist und in diesem ein freiwilliges Arrangement darstellt. Was für die Ordnung Gültigkeit hat, gilt, wenn man das Argument verallgemeinert, auch für andere öffentliche Güter, von denen man glaubte, ihre Erstellung würden von einem, allerdings zu eng verstandenen, Gefangenendilemma und dem artverwandten, weniger strikten Trittbrettfahrerproblem verhindert.30 Wenn ein öffentliches Gut, sagen wir reine Luft, geteerte Straßen oder Landesverteidigung, erstellt wird, dann kann man die Menschen von dessen Genuss nicht ausschließen, egal ob sie ihr Scherflein zu den Erstellungskosten beigetragen haben oder nicht. (In Kapitel 4.3 werden wir die Gelegenheit haben, der Frage nachzugehen, was „ihr Scherflein“ überhaupt bedeuten kann, und zwar im Sinne des Kostenanteils, den eine bestimmte Person tragen sollte.) Daher werden sich viele dazu entscheiden, 30 Gefangenendilemma und Trittbrettfahren sind nicht einfach verschiedene Begriffe für ein und dieselbe Form der Interaktion. Ersteres drängt jedem rationalen Gefangenen eine dominante Strategie auf, nämlich zu gestehen, bevor der andere ihn hintergehen kann. Das allein garantiert das kleinste Übel gegenüber den zwei schlimmsten Grenzfällen (maximin). Das Trittbrettfahrerproblem erzwingt keine dominante Strategie, heiße sie nun maximin oder anders. Es ist mit einer kooperativen Lösung nicht grundsätzlich unvereinbar. Wohin würde die kostenlose Reise des Trittbrettfahrers denn gehen, wenn es gar keinen Transportdienst auf Kooperationsbasis gäbe? Um das Trittbrettfahrerproblem in ein Gefangenendilemma zu verwandeln, muss man seine Struktur straffen. Es seien zwei Passagiere und ein Busdienst, wobei der Fahrpreis ein Ticket auf Lebenszeit beinhaltet. Falls einer der Reisenden umsonst fährt, dann ist der andere der Gelackmeierte und muss den doppelten Fahrpreis zahlen. Jedem gefällt das kostenlose Reisen am besten, das einmal bezahlte Reisen am zweitbesten, zu Fuß gehen am drittbesten, und Busfahren zum doppelten Preis am wenigsten. Falls beide versuchen, kostenlos zu reisen, wird der Busdienst eingestellt. Weil sie eine lebenslang geltende Handlungsweise zu wählen haben, und das unabhängig voneinander, entscheiden sie sich, zu Fuß zu gehen. D.h., in diesem Rahmen funktioniert das Trittbrettfahrerproblem wie ein (nicht-iteratives) Gefangenendilemma und ist mit der beiderseitig präferierten Kooperationslösung, nämlich einem Bus, der fährt, grundsätzlich unvereinbar. Auffällig bei diesem speziell „engen“ Fall ist, dass in ihm das Trittbrettfahren des einen den Fahrpreis des anderen unannehmbar hoch werden lässt, was zur Einstellung des Busdienstes führt. In der „entspannten“ allgemeinen Form des Trittbrettfahrerproblems gibt es viele Reisende, wobei ein zusätzlicher Trittbrettfahrer den von den anderen zu zahlenden Fahrpreis nicht erheblich verteuern dürfte. Daher sollte es für sie vernünftig erscheinen, weiterhin zu zahlen. Es gibt keinen spürbaren Nachteil, der aus der Rolle des Schmarotzers erwüchse.
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„ihr Scherflein“ nicht beizutragen, und wird das öffentliche Gut nicht erstellt oder erhalten, es sei denn, der Staat schreitet ein und zwingt alle Möchtegerntrittbrettfahrer zur Zahlung. Indem man jeden dazu bringt, so zu handeln, als hätten alle einen gemeinsamen Willen, wird so auf einen Schlag die „Isolation“ überwunden und jedem Einzelnen die „Zusicherung“ gegeben, dass er nicht der einzige Gelackmeierte sei, weil alle anderen auch zahlten.31 Wenn das allgemeine Dilemma als sequentielles Spiel aufgefasst wird, als ein anhaltender gesellschaftlicher Lernprozess, dann liegt es auf der Hand, dass es für jede Zwischenstufe eine Lösung geben kann. Es wäre Willkür, die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens einige der Lösungen kooperativ sind, in Abrede zu stellen. Insofern kann man allgemein feststellen, dass zumindest einige öffentliche Güter in gewissen Mengen auf freiwilliger Basis hergestellt werden. „Einige öffentliche Güter“ in „gewissen Mengen“ als Ergebnis nicht-erzwungener spontaner Lösungen klingt nicht positiv genug. Die Gegner des Kapitalismus dürften darauf reflexartig entgegnen, dass aufgrund externer Zusatzerträge und -kosten nur ein allumspannendes Zwangsarrangement, d. h. der Staat, sicherstellen könne, dass die richtige Menge öffentlicher Güter hergestellt wird. Von dieser Warte aus betrachtet repräsentiert das Gefangenendilemma nur einen Grenzfall, nämlich den, in dem das „Internalisieren“ völlig misslingt, während der Staat den anderen Grenzfall darstellt, in dem der gesamte Vorteil des externen Zusatzertrages gemäß der aggregierten Sichtweise des Staates internalisiert wird. Der dazwischen liegende Fall freiwilliger Kooperation, die spontan formierte Interessengruppe, würde kurz vor der kompletten Internalisierung haltmachen und demzufolge bezeichnenderweise zwischen die beiden Stühle des ungelösten Gefangenendilemmas und der staatlichen Bereitstellung der richtigen Gütermenge fallen. Natürlich trifft es keineswegs immer für jeden Güterausstoß und dessen Niveau zu, dass dann, wenn der Staat sich auf ein Niveau tatsächlich festgelegt hat, er es (angesichts aller Zwänge, Knappheiten und rivalisierenden Ansprüchen) für das „richtige“ hält. Wenn die Behauptung, der vom Staat beschlossene Ausstoß öffentlicher Güter sei der richtige, mehr als eine tautologische Aussage über die „offenbarten Präferenzen“ des Staates sein soll, dann muss sie irgendwie Bezug auf einen unabhängig entwickelten Standard des Optimums nehmen. Im Falle individuell konsumierter Güter ist dieser Standard mehr oder weniger das Pareto-Optimum, das erreicht ist, wenn die Grenzraten der Substitution und der Transformation zweier beliebiger Güter zusammenfallen. Aber es wäre Unsinn, von einer Grenzrate der Substitution zu sprechen, wenn sich ein öffentliches Gutes und ein privates Gut gegenüberstehen. (Eine Person kann nicht entscheiden, den Wert an Schokolade in Höhe von einem Dollar zugunsten eines gleichhohen Wertes an reiner Luft, Recht und Ordnung oder einer geteerten Straße aufzugeben.) Hier funktioniert dieser Standard nicht. Wenn der polnische Staat zur Zeit des Kriegsrechts (1981 – 1983) eine zusätzliche Wasserkanone importiert und den Import von Schokolade um den entsprechenden Betrag reduziert, dann kann man 31
Die Anspielungen beziehen sich auf den Aufsatz von Sen (1967).
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diese Entscheidung wohl kaum damit erklären, dass die Vorliebe des polnischen Schokoladenessers für Schokolade sich zugunsten seiner Präferenz für Recht und Ordnung verschoben habe. Wenn die Entscheidung überhaupt etwas zum Ausdruck bringt, dann doch nur, welche realen Interessen der Gesellschaft der Staat für bedeutsam hält und wie er die relative Bedeutung dieser Interessen untereinander sieht. Der individuelle Schokoladenkonsument ist offenkundig außerstande, die Interessen richtig zu gewichten, welche die Vorhut der Arbeiterklasse, also die Organe des proletarischen Internationalismus usw., hat. Wie viele Steuern an den Staat abzuführen sind, damit dieser zum Nutzen des individuellen Steuerzahlers Recht und Ordnung einkaufen möge, oder reine Luft, liegt nicht im Ermessen des Steuerzahlers. Der Staat kann kein kollektives Gut für ihn kaufen. Ein Maßstab, der für „kollektive Entscheidungen“ (ein inhaltsleerer Begriff, um den man aber um der Diskussion willen nicht umhin kann) das tut, was die Pareto-Effizienz für Individualentscheidungen erledigt, kann immer erdacht werden. Man muss dabei entweder vorschlagen, dass (a) die Gesellschaft nur einen Willen hat (der sich z. B. durch Einstimmigkeit manifestiert, oder vielleicht durch den Gemeinwillen) oder dass (b) die zahlreichen mehr oder weniger voneinander abweichenden Willen (verständlicherweise auch der Wille des Staates selbst), die in der Gesellschaft vorhanden sind, durch ein System, das alle gewichtet, als ein Wille ausgedrückt werden kann. (Robert Paul Wolff nennt das verächtlich die „Vektorsummendemokratie“.)32 Wer immer die jeweilige Gewichtung vornimmt (indem er z. B. interpersonale Vergleiche anstellt, den Gemeinwillen erkennt, oder wie auch immer der Leser dies nennen mag), legt den „richtigen“ Ausstoß an öffentlichen Gütern fest, und zwar im Hinblick auf den Standard, den er für sich selbst festgelegt hat. Wie auch immer er entscheidet, er wird stets stolz verkünden können, dass er den rechten Ausstoß festgesetzt hat; denn es kann nie einen unabhängigen Beweis für das Gegenteil geben. Es ist überflüssig, wenn der Staat sich mit Formulierungen rechtfertigt, wie „in Erkennung des Gemeinwillens“, „nach Abwägen aller berechtigten Ansprüche“, „nach sorgfältiger Abwägung des öffentlichen Interesses einerseits und zu viel Politik andererseits“ usw. Er hat immer die richtige Menge öffentlicher Güter bestimmt. Welches Ausmaß er aufgrund welcher Überlegungen festgesetzt hat: nie kann es im Lichte seiner Betrachtung das falsche sein, und niemand kann je sagen, dass die Sichtweise eines anderen den Staat zu einer „korrekteren“ Festlegung geführt hätte. Bleibt noch festzuhalten, dass der politische Hedonist, der damit einverstanden ist, den Gesellschaftsvertrag zu unterzeichnen, sich auf die eine oder andere Weise selbst überzeugt hat, dass er einen guten Handel eingegangen ist. Den Lustgewinn, den er daraus zu ziehen meint, dass er den Staat die Produktion des richtigen Ausmaßes an öffentlicher Ordnung und anderen öffentlichen Gütern in die Hand nehmen lässt, statt auf einen Flickenteppich spontaner Arrangements zu vertrauen, der 32
Wolff/Moore/Marcuse (1965).
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vielleicht ziemlich unpassend ist, muss das Leid des Zwangs überwiegen, das er seines Erachtens durch die öffentliche Hand erfährt. Der Fall, in dem das offenkundig so sein muss, ist der, in dem er annimmt, überhaupt nicht zu leiden. In der Tat wird er nie gezwungen, wenn er will, was der Staat will, oder umgekehrt, wenn er darauf vertrauen kann, dass der Staat nur will, was er will. Er muss entweder der perfekte Konformist sein oder an den wohlmeinenden Staat glauben, der die Macht zum Zwang hat, aber sich von denen kontrollieren lässt, die sie nicht haben.
Den Staat erfinden: das Instrument der Klassenherrschaft Der Staat ist autonom und unterwirft die herrschende Klasse seiner eigenen Vorstellung von deren Interessen; er „dient der Bourgeoisie trotz der Bourgeoisie“.
„Autonomie“ und „Werkzeug“, Herrschaft und Unterwerfung sind Begriffe, die ihre wahre Bedeutung allein der dialektischen Methode verdanken. Der Versuch, die marxistische Theorie vom Staat zu interpretieren, birgt mehr Risiken als Gewinn. Der junge Marx, der fraglos ein ungewöhnlich talentierter politischer Journalist war, sagte sehr pointierte und originelle Dinge über den Staat. Aber er tat dies eher unter dem Eindruck der Ereignisse als im Bemühen, eine allgemeine Doktrin aufzustellen. In seiner späteren Phase der Systembildung hingegen war er kaum am Staat interessiert (Engels war dies schon etwas mehr). Vermutlich war er kraft seiner Theorie der Klassenherrschaft vom Thema abgelenkt worden. Vielleicht war diese Theorie sogar dazu gedacht, implizit ein Verstehen des Staates zu liefern. Jedenfalls unternahm er herzlich wenig, um dies deutlich zu machen. Das wiederum passt gut dazu, dass er die Determinanten der gesellschaftlichen Veränderung im „Unterbau“ verortete und dem Staat, ein Phänomen des „Überbaus“, keine oder nur eine verschwommene Autonomie zugestand. Diese interne Verortung ist der Grund dafür, warum man, ungeachtet der viel größeren Beachtung, die spätere Marxisten (vor allem Gramsci und seine geistigen Nachfolger) dem Überbau geschenkt haben, eigentlich nur darüber spekulieren kann, was die marxistische Theorie „tatsächlich sagt“, wie sie über die Gewalten denkt, die auf den Staat wirken und von ihm ausgeübt werden, und zwar so, dass sowohl ihre logische Schlüssigkeit als auch ihre Gesamtkonstruktion erhalten bleiben. Derlei Spekulationen erweisen sich zweifellos als gefährlich angesichts der in vielen Schriften von Marx vorhandenen Vermengung von dialektischer Methode und wortgewaltigem Diskurs, der auf die ad hoc Bedürfnisse des Tages zugeschnitten war. Wegen Letzterem kann man nahezu überall in den heiligen Texten Passagen finden, die jede Deutung und deren Gegenteil zulassen, so dass der Ver-
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sierte zu jedem „auf der einen Seite“ etwas zitieren kann, das „auf der anderen Seite“ ist und „uns nicht erlaubt, zu übersehen, dass …“ Die dialektische Methode wiederum erlaubt es ihrem Anwender, von zwei kontradiktorischen Aussagen entweder die oder die andere zum Sieger zu erklären, zum dritten Mitglied der Triade aus These, Antithese und Synthese. Er kann z. B. je nach dem, was sein Argument verlangt, entscheiden, dass ein Objekt, das sowohl schwarz ist als auch weiß, in Wirklichkeit weiß ist (auch wenn es schwarz erscheint), oder auch andersherum. Aufgrund dessen erweisen sich das Verhältnis von Staat und Untertan bei Hegel33, und das Verhältnis von Staat und kapitalistischer Klasse bei Marx, als vollkommen anpassungsfähig an das, was der Moment oder Kontext erfordert. (Das ist auch im Allgemeinen der Grund, warum der gewöhnliche Dialektiker das Argument des gewöhnlichen Nicht-Dialektikers zerpflücken kann.) Eingedenk dessen wollen wir es nichtsdestotrotz wagen, das Gerüst einer Interpretation darzulegen, bei der wir, soweit wie möglich, einer nicht-dialektischen (und somit leicht zu widerlegenden) Auslegung verpflichtet bleiben. Es ist durchaus legitim, dem Marxismus die Auffassung zu unterstellen, dass der Sieg der Arbeiterklasse und die Auslöschung des Klassengegensatzes laut Definition bedeuten, dass der Staat verkümmert. Lenin hatte verständlicherweise ein starkes Interesse daran gehabt, die Gegenposition zu vertreten. Er nahm immense Schwierigkeiten in Kauf, um argumentieren zu können, die Beendigung des Klassenkonflikts würde nicht das Ende des Staates zur Folge haben. Es gibt keine Klassen, aber es gibt einen (Zwang ausübenden) Staat im Sozialismus. Nur im Überfluss, der dem vollständigen Kommunismus entspricht, kann der Staat verschwinden. Dass er dies tut, ist keine logische Implikation, sondern ein Prozess in der realen Geschichte, über dessen notwendige Länge im Voraus zu spekulieren naiv wäre. Obwohl es immer noch einen Apparat zur „Regelung der Dinge“ braucht, wird es keinen mehr zur „Regierung der Menschen“ geben. Man muss schon intensiv darüber nachdenken, um zu kapieren, wenn man es überhaupt kapieren kann, wie es denn möglich sein soll, „Dinge zu regeln“, ohne den Menschen zu sagen, wie sie diese Dinge tun sollen; und worin der Unterschied zwischen „den Menschen dies sagen“ und „die Menschen regieren“ liegen soll. Eine vorläufige Antwort, was immer sie auch wert sein mag, wäre wohl, dass dies möglich werde, wenn die Menschen tun, was sie tun müssen, damit die Dinge geregelt werden können; und zwar ohne dass sie dazu gebracht oder gezwungen werden, dies zu tun. Die klassenlose Gesellschaft kann dann näherungsweise als ein Zustand definiert werden, für den dies gilt, d. h. als ein Zustand, in dem die Menschen spontan die Dinge regeln, ohne selbst verwaltet zu werden. Wie auch immer, wenn die Menschen freiwillig tun, was sie tun müssen, welche Notwendigkeit bleibt dann noch für die Regelung der Dinge und was bleibt dann noch vom nicht Zwang aus33 Laut Hegel ist der Mensch frei, und er ist dem Staat unterworfen. Er ist wirklich frei, wenn er dem Staat unterworfen ist. Die alternative Komplettierung der Triade wäre natürlich: Wenn er dem Staat unterworfen ist, dann ist er unfrei. Aber nur wenige Hegelianer würden sich mit einer solch simplen Version zufrieden geben.
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übenden Quasi-Staat, von dem es heißt, dass er auch dann noch weiter bestehe, wenn der Staat verschwunden ist? Eine notwendige Bedingung für das Nicht-verschwinden des Zwang ausübenden Staates ist das Vorhandensein von mehr als einer Klasse. Die Interessen „historischer“ Hauptklassen sind notwendigerweise antagonistisch. Die herrschende Klasse braucht den Staat, um die ausgebeutete Klasse davon abzuschrecken, ihr Eigentum anzugreifen und jene Verträge zu brechen, welche die legale Grundlage der Ausbeutung bilden. Während die Geschichte ihren vorbestimmten Gang nimmt und auf den Sieg des Proletariats und die einklassige Gesellschaft zusteuert, fallen die funktionslosen überflüssigen Klassen weg. Die vorletzte überlebende Klasse ist die Bourgeoisie, die alles Kapital besitzt und sich den durch Arbeit erwirkten Mehrwert angeeignet hat. Der Staat ist der Beschützer des Eigentums. Wenn es die Bourgeoisie ist, die das Eigentum besitzt, dann kann der Staat nicht anders, als der Bourgeoisie zu dienen. Jeder Staat würde das tun. Darum ist jene Eigenständigkeit, die der Marxismus (manchmal, aber nicht immer) dem Staat zugesteht, eine zweischneidige Sache. Die absolute Monarchie, die bürgerliche Republik, der bonapartistische, „englische“, bismarcksche und der zaristische Staat, die sich, wie Marx und Engels einräumten, voneinander unterschieden haben, waren angeblich allesamt Staaten, die der Beförderung der Interessen der herrschenden Klassen verpflichtet waren, so wie die Kompassnadel verpflichtet ist, nach Norden zu zeigen, ganz gleich an welchen exotischen Ort wir sie platzieren. Die Beschränkung des Staates auf die Funktion eines blinden Instruments zur Unterdrückung der Klassen ist offenkundig unbefriedigend. Engels und Lenin lassen intellektuell redliche Marxisten zusammenzucken, wenn sie darauf rekurrieren. Aber die Vorstellung eines autonomen Staates, eines Staates, der einen eigenen Willen hat, eine Vorstellung, die in Marxens früheren Schriften auftaucht, ist noch weniger hinnehmbar. Den Staat in den Rang eines Subjekts zu erheben, ist Revisionismus, hegelscher Idealismus, Fetischismus, wenn nicht gar schlimmer, nämlich unvereinbar mit dem ausgereiften Marxismus in den Grundrissen und im Kapital. Es führt in tiefe politische Fallen. Zu diesen zählen, dass der eigentliche Sozialismus von lauwarmen reformistischen Staatsideen bedroht wird, denen zufolge es darum geht, die inhärenten Widersprüche der Gesellschaft zu befrieden, die Wohlfahrt der Arbeiter „trotz der Bourgeoise“ zu mehren, „Krisen der Überproduktion“ zu überwinden, usw. Die Befürworter eines geplanten „monopolistischen Staatskapitalismus“ als Mittel zur Entschärfung des kapitalistischen Chaos sowie Jürgen Habermas und seine Frankfurter Freunde mit ihren Doktrinen der Legitimation und Aussöhnung werden allesamt als Träger dieser Gefahr angesehen. Eine synthetische, nicht unelegante Lösung, die vor allem von modernen Marx forschern aus Westberlin ausgearbeitet wurde, besteht darin, dem Marxismus eine Theorie des Gesellschaftsvertrages aufzupfropfen. Kapital im „fragmentierten“ (d. h. dezentralisierten) kapitalistischen Produktionsverfahren besteht aus „dem Kapital von Individuen“ (d. h., die einzelnen Eigentümer haben getrennte Teile davon). Diese „Kapitalien“ verlangen, dass die Arbeiter gefügig, ausgebildet und
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gesund sind, dass die natürlichen Ressourcen erneuert werden, die Rechtsverbindlichkeiten durchgesetzt und die Straßen geteert werden. Wie auch immer, kein individuelles Kapital kann diese Güter für sich selbst herstellen. Das Problem der „Externalitäten“ und das der Trittbrettfahrer stehen der kapitalistischen Reproduktion und Akkumulation im Weg. Nicht-aufgezwungene Kooperationslösungen, die dem Kapital jene Risiken ersparen, die mit der Selbstauslieferung an den Staat einhergehen, werden nicht in Betracht gezogen. Demzufolge besteht eine objektive Notwendigkeit für einen Zwang ausübenden Staat „neben und außerhalb der Gesellschaft“, um die Gesundheit der Arbeiter zu schützen, Infrastruktur bereitzustellen, usw. Aus dieser logischen Notwendigkeit kann die dazugehörige Form und Funktion logisch abgeleitet werden.34 Sie führt genauso zum staatlichen Gewaltmonopol, wie es die diversen anderen Formen des politischen Hedonismus in den Gedankengebäuden von Hobbes und Rousseau tun. Die „Verdopplung“ (d. h. Aufteilung) der politischen und ökonomischen Sphäre und die Besonderung des Staates sind Teil der „Dialektik von Schein und Sein“. Der Staat scheint neutral und über den Klassen zu stehen, weil er über dem „individuellen Kapital“ stehen muss, um dem allgemeinen Kapital dienen zu können. Er muss den einzelnen Bourgeois unterwerfen, um die Interessen der Bourgeoisie sichern zu können. Jeder Staat, der die Zwangsgewalt hat, egal ob absolute Monarchie, Republik, Demokratie oder Despotie, scheint imstande, diese Aufgabe zu erfüllen. Allerdings muss die Bourgeoisie aus irgendeinem Grunde mehr fordern als das, sonst würde sie nicht, wie unterstellt, sich zur Revolution aufschwingen, um den vorkapitalistischen Staat zu zerschlagen. Für den Marxismus ist es ungemein wichtig, trotz aller widrigen Evidenz darauf zu bestehen, dass Revolutionen die ökonomischen Bedürfnisse jener Klasse widerspiegeln, die durch die sich entwickelnden „Produktionskräfte“ dazu berufen ist, die Herrschaft an sich zu reißen, und dass der Widerspruch zwischen den kapitalistischen Techniken und den vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen durch eine Revolution aufgelöst werden muss. Dieser Glaube ist der Quell vieler Schwierigkeiten. Das gilt für niemanden mehr als für den Historiker, der an ihm festhält. Ein Historiker, der das nicht tut und viele der Mythen, die sich um die Französische Revolution ranken, verwirft, erinnert uns, dass „weder der Kapitalismus noch die Bourgeoisie bei ihrer Geburt Revolutionen brauchten und dennoch in den wichtigsten Ländern im Europa des 19. Jahrhunderts vorherrschten“, und bemerkt dazu trocken, dass „nichts so sehr der französischen Gesellschaft unter Ludwig XVI. ähnelte wie die französische 34 Ein vergleichsweise gut lesbarer Exponent dieser Ableitung ist Elmar Altvater. Viele andere Autoren der Berliner Fachzeitschrift Probleme des Klassenkampfes verwenden eine eher sperrige Prosa, die ein Motiv vom allgemeinen Interesse des Kapitals (Gemeinwille?) erkennen lässt, das dem kontrakttheoretischen Motiv sehr weit ähnelt. Ihnen wird (z. B. von Hirsch (1974) Versagen beim Nachweis vorgeworfen, warum und wie der „Gemeinwille“ des Kapitals sich im historischen Prozess denn verwirkliche. Dieses Scheitern, sofern es eines ist, verbindet sie noch mehr mit Rousseau. Die Kritik spiegelt im Grunde den mystischen Charakter der Vertragstheorie wider.
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Gesellschaft unter Louis Philippe.“35 Diese Revolution, die 1789 begann, als man fest zur Heiligkeit des Eigentums stand, brauchte nicht viel mehr als 4 Jahre, um an jenen Punkt zu gelangen, an dem die Eigentumsrechte davon abhingen, ob man den Terrorstaat (Ventôse-Dekrete) aktiv unterstützte. Ironischerweise war es der Thermidor – die Konterrevolution –, der den Staat zur Ordnung aufrief und die Unverletzlichkeit des Eigentums rettete, wodurch die bourgeoisen Interessen gewahrt blieben, die angeblich den Daseinszweck der Revolution gebildet hatten. Erst nachdem sie die Girondisten hinausgeworfen hatte, stellte die Revolution die Zwecke des Staates über die Sicherung von Grundbesitz und Eigentum und setzte, anders als die gängige Kriegsentschuldigung behauptet, ihre Zuspitzung des Radikalismus auch dann noch fort, als das Blatt des Krieges sich längst zu ihren Gunsten gewendet hatte. Marx, der (vor allem in „Die heilige Familie“, 1845) genau erkannt hatte, dass der Jakobinerstaat „sein eigenes Ende wurde“, dass er nur sich selbst und nicht der Bourgeoisie diente, sah darin eine Perversion, einen Irrweg, ein Abweichen von der Norm. Er diagnostizierte die Störung als Entfremdung, als Loslösung des Jakobinerstaates von dessen bürgerlichen Klassengrundlage36 und deutete auch nicht im geringsten an, dass es für den Staat alles andere als ein Irrweg war, sich selbst von seiner „Klassengrundlage“ loszulösen, sofern er ihr überhaupt jemals angehört hatte. Die historischen Tatsachen der anderen Revolutionen meinen es indes keineswegs besser mit Marxens Theorie. Zu Engels heißt es nur, er habe irgendwann einmal brummend gemeint, dass die Franzosen eine politische und die Engländer eine ökonomische Revolution gehabt hätten – eine merkwürdige Erkenntnis für einen Marxisten – und, an einer anderen Stelle, dass die Engländer neben ihrer Bourgeoisie eine bourgeoise Aristokratie und eine bourgeoise Arbeiterklasse gehabt hätten. Man hat bereits darauf hingewiesen, dass die Ansicht, der zufolge die „großen“, „wirklichen“ Revolutionen durch die Interessen einer Klasse hervorgebracht wurden, nicht nur schlecht auf eben jene Revolutionen von 1776 (USA), 1789 (Frankreich), 1830 (Niederlande) und 1917 (Russland) zutrifft, sondern noch schlechter auf die zwei englischen Revolutionen von 1640 – 1649 und 1688, der puritanischen und der glorreichen.37 Der Kapitalismus brauchte auch keine Revolution, um jene Art von Vorherrschaft zu erlangen, die es in den italienischen Stadtstaaten gab. Und auch der russische Bauern- und Händlerkapitalismus gedieh zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert so gut, dass er ohne nennenswerten Widerstand aus Moskau, dem Sitz eines entschieden vorkapitalistischen Staates, die Schwarzerdenregion und Sibirien kolonisieren konnte.38 (Gleichwohl mag es sein, dass solche „Grenz35
Furet (1978). Beide Zitate stammen von Seite 41. Dies ist eine sehr bequeme Diagnose. Sie bemüht einen deus ex machina. Darin ähnelt sie der Diagnose, derer man sich jüngst bedient, um das Handeln des Sowjetstaates während des letzten Vierteljahrhunderts mit Personenkult zu erklären. 37 Hexter (1979), S. 218 – 226. 38 Die russischen Bauern spielten aber nicht nur bei der agrikulturellen Kolonisierung des Südens eine Vorreiterrolle, sondern auch, als Prinzipale, im industriellen Kapitalis36
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phänomene“ eher als Ausnahmen anzusehen sind und dass der Kapitalismus beispielsweise kolonisieren und eine Grenze errichten kann, ohne vom Staat Hilfe zu erfahren oder das Gefühl zu haben, von ihm behindert zu werden.) Ob nun mit oder (mit Rücksicht auf die historische Evidenz) ohne den Vorteil der Revolution, am Ende hat die kapitalistische Klasse dann doch den Staat, der ihren Interessen dient. Manchmal allerdings, in abwegigen, „untypischen“ Situationen, dominiert die Bourgeoisie den Staat dennoch nicht. Diese Distinktion ist wichtig, weil sie zumindest eine Quasi-Autonomie des Staates in besonderen historischen Situationen zulässt. Engels formuliert das so: „Die Zusammenfassung der zivilisierten Gesellschaft ist der Staat, der in allen mustergültigen Perioden ausnahmslos der Staat der herrschenden Klasse ist und in allen Fällen wesentlich Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse bleibt.“39 Ich glaube, wir müssen das so deuten, dass es Zeiten gibt (die wir insofern als typisch erkennen können), in denen der Staat ein Instrument der Klassenunterdrückung ist, der auf Geheiß der herrschenden Klasse handelt, während er zu anderen Zeiten der Kontrolle der herrschenden Klasse entflieht, aber dennoch weiterhin in ihrem Namen handelt, und zwar zu deren Besten, in deren Interesse. Die herrschende Klasse ist natürlich die Klasse, welche die Produktionsmittel in der Hand hat, egal ob sie im Sinne von Regieren „herrscht“ oder nicht. So wie das Wetter in Russland für die Jahreszeit nie untypisch ist, mit Ausnahme von Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, so hat es in der Geschichte des Kapitalismus nie untypische Zeiten gegeben, mit Ausnahme der goldenen Zeitalter der englischen, französischen und deutschen Bourgeoisie. In England hat die Bourgeoisie angeblich nie nach der politischen Macht gegriffen (die Antigetreidezollliga und die spätere liberale Partei zählen aus irgendeinem Grunde nicht) und war zufrieden damit, den Staat in den Händen der Großgrundbesitzer zu lassen, die eine atavistische Volksergebenheit erwirken konnten und deren offenkundige Unparteilichkeit und soziale Fürsorge dazu beitrugen, dass die Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins hinterherhinkte. Es ist unklar, ob der englische Staat als autonom angesehen werden soll – Engels spricht davon, dass die Aristokratie von den Kapitalisten angemessen fürs Regieren bezahlt wurde. Aber es wird kein Zweifel daran gelassen, dass der Staat die kapitalistischen Interessen wirkungsvoller vertrat, als es die politisch unfähige Bourgeoisie gekonnt hätte. Als in Frankreich die Juli-Monarchie im Niedergang war, hielt die Bourgeoisie plötzlich die politische Macht in ihren Händen. Sie war außerstande, sie auszuüben, und die parlamentarische Demokratie (gemeint ist die Wahl im März 1850) ließ im Volk Kräfte zu, welche die Bourgeoisie mehr in Bedrängnis brachten als mus. Interessanterweise blieben viele gebundene Leibeigene, die ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfolgreiche Unternehmer geworden waren, Leibeigene. Vgl. Pipes (1974), S. 213 – 215. Wenn es für jemanden, der in die Rolle des kapitalistischen Unternehmers schlüpfen wollte, im vorkapitalistischen Staat ein Hindernis gab, dann wohl das, ein Leibeigener zu sein. 39 Engels, Der Ursprung der Familie, S. 170 f. (Meine Kursivsetzung)
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jede andere Gruppe oder Klasse.40 (Man vergleiche Marxens Diagnose mit der wunderlichen Haltung, die Lenin in „Staat und Revolution“ einnimmt und der zufolge die parlamentarische Demokratie als System ideal an die Erfordernisse der kapitalistischen Ausbeutung angepasst ist.)41 In „Der achtzehnte Brumaire“ spricht Marx davon, dass die Bourgeoisie die Macht niederlege und sich selbst ins politische Nichts befördere. Er vergleicht die Diktatur Napoleons III. mit einem Damoklesschwert, das über dem Kopf der Bourgeoisie hänge. Es ist unklar, ob Marx dachte, die Bourgeoisie sei sich beim Abdanken der gefährlichen Seiten bewusst gewesen, die mit dem Bonapartismus, dem Populismus der niederen Klassen, dem parasitären Staat usw. verbunden waren. Aber er glaubte fest, dass die Bourgeoisie mit diesem Akt sich den sicheren Genuss am Eigentum und an der Ordnung erkauft hatte, was nahelegt, dass das Damoklesschwert nicht wirklich über ihrem Haupt schwebte. Engels, wie immer klarer im Ausdruck, behauptete, dass der Bonapartismus die allgemeinen Interessen der Bourgeoisie sogar gegen die Bourgeoisie gewahrt habe. So wie die Rute gut für das Kind ist, so ist der autonome Staat des Zweiten Kaiserreichs in Wirklichkeit gut für die kapitalistische Klasse, auch wenn letztere unter ihm unwillig war. Deutschland, das (wie immer) ein Sonderfall war und mit seiner bürgerlichen Revolution von 1848/49 viel zu spät kam und die Sache eigentlich vermasselte, hatte trotz allem eines mit England und Frankreich gemeinsam. Der preußische Staat, und nach 1871 das Deutsche Reich, tat, was er tun musste, um die kapitalistische Ausbeutung voranzubringen, ohne dabei irgendwie unter kapitalistischer Direktive oder Kontrolle gestanden zu haben. Wenn Engels davon spricht, Bismarck habe sowohl das Kapital als auch die Arbeiter betrogen, und zwar zum Vorteil der „Krautjunker“ (die trotz Förderung wie Getreidezoll und Osthilfe unbeirrt arm blieben), dann gesteht er die Autonomie des Staates zu (denn durch die Bedienung der Agrarinteressen geriet der Staat nicht unter die Kontrolle einer Klasse, zumal die Großgrundbesitzer keine wirklich funktionsfähige und existierende Klasse mehr darstellten – nur die Kapitalisten und Arbeiter taten dies). Dabei unterstellt er nicht, dass jener Betrug den Kapitalisten Grund zur Beschwerde gab, genauso wenig wie es die trügerische Allianz tat, die Bismarck mit dem verachteten Lassalle einging, oder die ganze reformistische, „soziale“, wohlfahrtsstaatliche Tendenz. Hier wurden auf ganzer Linie nur solide bourgeoise Interessen bedient, trotz der Bourgeoisie. 40 In Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, S. 43, weist Marx zielsicher auf das Risiko hin, das eine Verfassung mit allgemeinem Wahlrecht der Bourgeoisie in der Demokratie beschert. „Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, … setzte sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht.“ (Hervorhebung von mir.) Noch einmal, der junge Marx erkennt die Realität, allerdings nur, um seine scharfsinnigen Einsichten ungenutzt verfallen zu lassen, und zwar zugunsten seiner späteren unscharfen Gleichsetzung von herrschender Klasse und Staat. 41 Lenin (1968), S. 271.
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Kurz, der marxistische Prototyp des Staates gesteht dem Staat einen kräftigen Schuss Autonomie jenseits der „typischen Zeiten“ zu, d. h. eigentlich dauernd, verpflichtet ihn aber immer, seine Autonomie allein im Interesse der kapitalistischen Klasse zu nutzen. Weder Marx noch irgendeiner seiner Nachfolger, damals wie heute, hat viel aus Marxens ursprünglichen Einsichten machen können, seien es die in das Phänomen des Staates, dem eine besondere Klassengrundlage fehlt und der seine eigenen Ziele verfolgt, oder die in die Bürokratie, den Parasitismus und Bonapartismus usw. Letztlich konnte Marx nicht eingestehen, dass es wirklich einen Unterschied machte, ob der Staat von der herrschenden Klasse kontrolliert wurde oder nicht. Der Staat hatte so oder so in ihrem Interesse zu handeln. Es machte wenig aus, ob der Staat von wahren Vertretern ihrer Klasse gelenkt wurde, wie Casimir-Périer und Guizot, Peel und Cobden, oder von klassenlosen Abenteurern wie Louis Bonaparte, ganz zu schweigen von Männern wie Castlereagh oder Melbourne in England, Roon oder Bismarck in Preußen oder Schwarzenberg in Österreich-Ungarn, die wenig Zeit für bürgerliche Anliegen hatten. Jeder Staat, so schien es, war geeignet. Jeder Staat tat das, was für den Kapitalismus gut war. Darauf war Verlass. Wenn man dieser Logik nachgeht, dann entdeckt man, dass auch der Umkehrschluss behauptet wird: Es ist nicht nur so, dass jeder Staat alles tut, was für den Kapitalismus gut ist. Bei genauerem Hinsehen ist auch alles, was der Staat sonst noch tut, gut für den Kapitalismus. Wenn, wie im Dezember 1831, Marschall Soult mit 20.000 Soldaten 40.000 streikenden Seidenarbeiter in Lyon entgegentritt, oder wenn, wie im Juni 1832, General Lobau bei der Niederschlagung der Tumulte am Montmartre 800 Tote und Verwundete unter den Aufständischen zurücklässt, oder wenn es, wie im April 1834, 300 Opfer gibt, als Bugeauds Truppen in Paris auf Frauen und Kinder schießen, dann hilft der Staat den Ausbeutern. Oder auch dann, wenn, wie in den Combination Acts von 1799 und 1800, die Organisierung der Arbeiter zu einer (sagen wir) kriminellen Verschwörung erklärt wird, ist der Staat ein Verbündeter des Kapitals. Wenn, wie 1802 und vor allem 1832, die englischen Werksgesetze es für illegal erklären, dass Kinder unter 18 Jahren in Fabriken genauso lange arbeiten dürfen wie auf dem Land, dann hilft der Staat irgendwie immer noch den Fabrikanten. Und auch dann, wenn, wie 1824 in England, die Bildung von Gewerkschaften (vereinfachend ausgedrückt) legalisiert wird – in Preußen 1839, in Frankreich und den meisten deutschen Staaten 1860 –, und auch dann, wenn, wie um 1850 in weiten Teilen der USA, der 10-Stundentag gesetzlich festgelegt wird, dann handelt der Staat, genau besehen, immer noch auch im kapitalistischen Interesse. (Die Marxsche Hypothese vom Staat, der stets im Interesse der herrschenden Klasse agiert, ist so unwiderlegbar wie die ordinäre Freudsche These, dass ein Mensch im Ergebnis immer so handelt, wie es seine sexuellen Triebe festlegen, sei es, dass er die Handlung anstrebt oder ihr widerstrebt. (Er ist verdammt, wenn er es macht, und er ist auch verdammt, wenn er es nicht macht.)
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Der einzige Unterschied zwischen den eindeutig prokapitalistischen und den offenkundig antikapitalistischen Handlungen des Staates besteht darin, dass wir die dialektische Methode korrekt in die Triade aus These – Antithese – Synthese einzufügen haben, um zu erkennen, dass letztere dieselben sind wie erstere. Der virtuelle, formale, oberflächliche oder vorübergehende antikapitalistische Schein löst sich somit in der grundsätzlichen, echten, langfristigen oder wahren prokapitalistischen Realität auf. Es ist fürwahr kaum möglich, dasjenige, was die marxistische Theorie des Staates am Ende auch immer sein mag, ohne Rekurs auf die Dialektik zu rekonstruieren. Der Staat unternimmt Handlungen, die Kapital und Kapitalisten schaden, man denke nur an progressive Steuern, die Gewährung von Immunität für die Gewerkschaften, die Kartellgesetzgebung, etc. Diese Handlungen sind dennoch prokapitalistisch. Der Staat dient der herrschenden Klasse42, und weil diese Handlungen Akte des Staates sind, sind sie notwendigerweise im („wahren“) Interesse der herrschenden Klasse. Vielleicht sind die einzelnen Mitglieder der kapitalistischen Klasse zu kurzsichtig, um ihre eigenen Interessen zu erkennen, mucken gegen die Handlungen des Staates auf und treten aus Protest gegen die bürgerliche Demokratie der John Birch Gesellschaft43 bei, aber die Klasse als solche wird die Übereinstimmung ihrer Interessen mit denen des Staates schon erkennen, weil der Marxismus die Begriffe der herrschenden Klasse, des Klassenbewusstseins und des Staates nun mal so definiert. Dasselbe starrsinnige Argument gilt heute im Hinblick auf den sozialistischen Staat, die Arbeiterklasse und das proletarische Klassenbewusstsein. Viele (d. h. eigentlich alle) Arbeiter dürfen zwar gegen die Handlungen des sozialistischen Staa42 In
der modernen Marxismusliteratur gibt es dazu mindestens zwei alternative Auffassungen. Eine passt zu der (vor allem von N. Poulantzas vertretenen) „strukturalistischen“ Sichtweise. Vulgär ausgedrückt, behauptet diese Position, dass der Staat genau so wenig daran scheitern kann, den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen, wie es die Gleise ablehnen können, den Zug zu befördern. Der Staat ist in die „Produktionsweise“ eingebettet und kann nicht anders, als seine strukturell zugewiesene Rolle zu spielen. Trifft die andere Auffassung zu, dann entscheidet der Staat sich aus Klugheitsgründen dazu, der herrschenden Klasse zu dienen; z. B. deshalb, weil es für den Staat gut ist, wenn der Kapitalismus gedeiht. Möglicherweise könnte der Staat, wenn seine Interessen es verlangen würden, auch entscheiden, der herrschenden Klasse nicht zu dienen. Dieser Fall aber wird nicht, oder nicht explizit, betrachtet. Neomarxistische Autoren, wie Colletti, Laclau oder Miliband, die der automatischen Gleichsetzung von Staat und herrschender Klasse abgeschworen haben (und sich damit dem jungen Marx, dem Journalisten angeschlossen haben), lassen trotz allem keinen Antagonismus zwischen Staat und herrschender Klasse zu, und das ungeachtet der enormen Bandbreite an denkbaren Gründen dafür, dass der Staat in der Verfolgung seiner Interessen sich gegen die herrschende Klasse stellen sollte (welche, laut marxistischer Theorie, nur „herrscht“, weil sie Eigentum „besitzt“, während der Besitz von Waffen dem Staat vorbehalten ist.) 43 1958 in den USA gegründete Gesellschaft mit minimalstaatlichen und antikommunistischen Zielen, d. Hg.
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tes sein. Dessen Handlungen sind dennoch im Interesse der Arbeiterklasse, weil die notwendigen Begriffe so definiert sind, dass die Aussage wahr wird. Der Widerspruch zwischen dem sozialistischen Staat und der Arbeiterklasse ist ein unsinniger Begriff. Empirische Evidenz eines Konfliktes wird nur zugestanden, wenn man einen der Begriffe neu definiert, z. B. dann, wenn, wie bei den Aufständen in Ostberlin 1953 oder in Ungarn 1956, die Sicherheitspolizei zur Arbeiterklasse wird und die Besatzung russischer Panzer zu freundlichen Arbeitern, während jene, die gegen den Staat aufbegehren, entweder keine Arbeiter sind oder „manipuliert“ wurden. (Es ist schwer, ein eindrucksvolleres Beispiel für die Doppelfunktion von Wörtern zu finden, die semantische und die fabulierende.) All dies ist dem Leser von heute natürlich längst bekannt. Es ist nur die Neuauflage einer alten marxistischen Auffassung. Darin aber liegt ihr Verdienst. Sie hilft dabei, dieselbe besser zu würdigen, der zufolge es absurd ist, dass der kapitalistische Staat (soll heißen: der Staat, den Marx als „kapitalistisch“ ansieht) sich gegen die kapitalistische Klasse wendet. Wohin der Bürger als politischer Hedonist sich auch wenden mag: stets gerät er in eine Sackgasse. Zunächst scheint der Marxismus ihm zu sagen, dass er den Staat, falls dieser nicht existierte, erfinden sollte, um dem nachzugehen, was ihm Vergnügen bereitet – die Ausbeutung des Proletariats – und wozu der Staat das passende Werkzeuge ist. Bei genauerem Hinsehen ist der Staat jedoch ein besonderes Werkzeug, weil er dem Bürger seine Vorstellungen davon, was zu dessen Besten ist, aufzwingt und diese Vorstellungen ungeachtet des Bourgeois umsetzt. Dieser Umstand ist offensichtlich für jeden einzelnen Kapitalisten unbefriedigend. Er mag für die kapitalistische Klasse befriedigend sein, falls und nur falls wir ein Klassenbewusstsein als vorhanden einräumen, das nichts mit dem Bewusstsein eines tatsächlichen Mitglieds der Klasse gemein hat. Obwohl die Marxisten mit dieser Annahme keine Schwierigkeiten haben, wird sie wohl kaum bei einem Mitglied der betroffenen Klasse auf Gegenliebe stoßen. Zu diesem Zweck ist sie ohnehin nicht gemacht. Was soll der Kapitalist denn nun machen? Der Staat ist für ihn entweder unverzichtbar oder nur nützlich. Wenn er unverzichtbar ist, eine notwendige Bedingung, d. h., wenn der Kapitalismus ohne ihn nicht funktionieren kann, dann muss der Kapitalist den Staat erfinden oder ihn mit offenen Armen willkommen heißen, falls er bereits erfunden wurde. Wenn der Staat nur ein nützliches Werkzeug ist, dann könnte der Kapitalist es durchaus vorziehen, sofern er die Wahl dazu hätte, seine Interessen ohne dessen Hilfe zu verfolgen, d. h., vielleicht weniger effektiv, aber auch unbelastet von allen Versklavungen und Beschränkungen, welche die Idee vom autonomen Staat, der dem kapitalistischen Interesse dient, ihm aufbürdet. Bezüglich dieser Wahl gibt der Marxismus keine klaren Ratschläge. Die These, wonach der Staat, falls er überhaupt existieren sollte, notwendigerweise die Klassenunterdrückung fortsetzen müsse, schließt nicht ein, dass ein Staat vorhanden sein muss, um Klassenunterdrückung zu ermöglichen. Kann man nicht auch private, kleinformatige, selbstgemachte und diversifizierte Unterdrückung haben?
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Obwohl Engels gewiss davon ausgegangen zu sein scheint, dass ein Staat infolge der Arbeitsteilung und der dadurch komplexer werdenden Gesellschaft entstehen muss, hat er nicht wirklich daraus geschlossen, dass der Kapitalismus einen Staat brauche und dass die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital nicht auch im Naturzustand stattfinden könne. Zu behaupten, dass er dies impliziert habe, heißt, ihm einen rigiden ökonomischen Determinismus oder „Reduktionismus“ zuzuschreiben. Obwohl es unter modernen Marxisten Mode ist, Engels ihn Schutz zu nehmen, würden sie dies wohl nur widerwillig tun. Dem Bourgeois aber, der sich fragt, ob er nun uneingeschränkt für den Staat votieren müsse oder ob er den Versuch machen könne, das Für und Wider gegeneinander abzuwägen (immer unter der Annahme, dass ihm wie durch ein Wunder die Wahl dazu gegeben wird), bleibt nichts anderes, als sich selbst Aufklärung zu verschaffen. Wie sonst auch, so weist auch hier die historische Evidenz in beide Richtungen und überlässt weitgehend dem Kapitalisten die Entscheidung darüber, ob der Staat mit dem Risiko, das seine Souveränität für die besitzende Klasse birgt, für einen funktionierenden Kapitalismus wirklich eine wünschenswerte Hilfe ist. Es spricht für die verworrene Situation, wenn man auf der einen Seite liest, wie wenig der Staat als Instrument der Klassenunterdrückung taugt, und auf der anderen, was man sich einfallen ließ, um ihn tauglich zu machen. So, wie es aussieht, gab es vor der Rücknahme der Combination Acts 1825 überall in Oldham, Northhampton und South Shields illegale Gewerkschaften (zweifellos auch anderenorts, aber für unsere Zwecke haben wir die Aufstellung lokal begrenzt) und wurden die Acts kaum durchgesetzt. 30 Jahre lang, bis 1840, waren die Gewerkschaften so stark, dass sie die „Regeln aufstellten … Strafen verhängten“: Der Staat war nutzlos, und ein Bericht der Königlichen Kommission über die Bezirkspolizei aus dem Jahre 1839 zeigt, dass „die Betriebseigentümer Waffen zur Selbstverteidigung angeschafft hatten und über die Bildung bewaffneter Vereinigungen zum Zweck der Selbstverteidigung nachdachten.“44 An sich war diese Idee für die Eigentümer verlockender als die Alternative, Steuern zu zahlen und vom Staat nicht die Hilfe zu kriegen, für die sie glaubten, gezahlt zu haben. Als man Pinkertons45 anheuerte, um Streiks zu brechen und das „Betriebseigentum (und die eigenen Minen) zu schützen“, haben die Stahlindustrie in Pennsylvania und die Kupferminen in Montana nicht nur den Ausfall der Bundesstaaten und der Föderation als „Instrument der Klassenunterdrückung“ wettgemacht. Sie nutzten dabei auch ein privates Instrument, das sie kontrollieren konnten und das in keiner Weise die Merkmale und Ausmaße hatte, sie zu kontrollieren. Gewiss, an bewaffnete Freiwilligenverbände oder Pinkerton wendet man sich nur (und für wahr überraschend selten), wenn der Staat restlos dabei versagt, dem Kapitalismus zur Hilfe zu kommen, wie er es eigentlich sollte. Dass er gelegentlich versagt hat, ist ein weiterer Beleg dafür, dass der politische Hedonist wahrlich recht naiv ist, 44
Foster (1974), S. 47 – 48. 1850 in Schottland gegründetes privates Sicherheitsunternehmen, das vor allem durch seine Einsätze zum Schutz von Streikbrechern bekannt wurde. 45
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anzunehmen, er habe einen cleveren Handel abgeschlossen; schließlich kann er herzlich wenig machen, um den Staat bei der Stange zu halten. Natürlich hört man immer wieder von „bewaffneten Vereinigungen zum Zwecke der Selbstverteidigung“ und kann sich an Pinkerton wenden, wenn ein Experte es richten soll. Aber diese Hilfsmittel zielen im Wesentlichen darauf, staatliche Dienstleistungen zu ergänzen, die scheinbar zu nichts taugen oder gegenwärtig unter politischer Feigheit bzw. Willensschwäche leiden. Abgesehen von einer kurzen Episode im Wilden Westen, kann man das Gesetz bestimmt nicht dauerhaft in die eigenen Hände nehmen und ohne den Staat auskommen. Das ist deshalb so, weil der nationale Standard an Recht und Ordnung als überlegen oder sicherer empfunden wird, aber auch deswegen, weil das Erstellen einer hauseigenen oder dorfeigenen Lösung, die nicht zugleich Zank und Ressentiments erzeugt, eine verlorengegangene Fähigkeit ist. Im Grunde haben wir es hier mit derselben Fehlkonzeption zu tun, die den Naturzustand mit dem bellum omnium contra omnes gleichsetzt und dabei einige potente Kräfte übersieht, die für einigermaßen stabile und friedliche Kooperationslösungen sorgen, sofern ein glücklicher Zufall einem Lernprozess die Möglichkeit bietet, in Gang zu kommen. Dabei ist es schon von Bedeutung, dass mit Ausnahme einiger wohlgemeinter Versuche in diese Richtung bis vor kurzem keine guten Argumente für die Annahme vorgebracht wurden, man könne den Staat aufgeben, ohne damit zugleich auch sämtliche von ihm erbrachten Serviceleistungen über Bord zu werfen, ohne die der Kapitalismus nur schwerlich funktionieren kann. Inzwischen kann man recht gut und einleuchtend argumentieren, das Zusammenspiel freier Verträge könne spontan ein Angebot an solchen Dienstleistungen generieren, wie z. B. solche zur Vertragsdurchsetzung und zum Schutz von Leben, Hab und Gut, also das, was die meisten Kapitalisten eigentlich vom Staat wollen.46 Der Punkt ist nicht der, ob solche freiwilligen Arrangements denkbar sind, wenn man den Staat erst einmal hat. Sie sind es höchst wahrscheinlich nicht, weil der Staat allein durch seine Existenz eine Zivilgesellschaft hervorbringt, die nur begrenzt imstande ist, spontane Interaktionen unter den Bürgern zu generieren. (Man kann sich nur schwerlich irgendeinen anderen guten Grund dafür denken, warum es im heutigen Amerika unter den verzweifelten Eltern keine Bürgerwehren gibt, die gegen die Drogendealer an den Oberschulen vorgehen.) Der Punkt ist vielmehr, dass dann, wenn solche freiwilligen Arrangements von Anfang an denkbar und machbar sind, keine Not herrscht, sich willentlich dem Staat zu unterwerfen. Der Kapitalist, welcher, der allgemeinen Weisheit folgend, im Zwang eine billige Lösung sieht, um seine Vorteile einzuheimsen, leidet unter einem „falschen Bewusstsein“.
46 Vgl.
Rothbard (1970) und Friedman (1973).
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
Die Sache durch falsches Bewusstsein zum Abschluss bringen Falsches Bewusstsein hilft den Menschen bei der Anpassung ihrer Präferenzen an das, was ihr Seelenfrieden erfordert, und entlockt ihnen die Unterstützung für den adversen Staat.
Selbst der selbstloseste Staat kann keine anderen Ziele verfolgen als die eigenen. Der politische Hedonist setzt wegen des „Vergnügens“, der Nützlichkeit und der Beförderung seiner Interessen auf den Staat. Selbst wenn er erkennen würde, dass der Staat die Dinge nicht verwalten kann, ohne die Menschen sowie sich selbst zu regieren, und der Mensch mithin die Zwänge und Beschränkungen, denen er unterliegt, selbst zu verantworten hat, würde er immer noch erwarten, unterm Strich mehr Freude durch staatlichen Beistand als Leid durch staatliche Behinderungen zu erfahren.47 In der Tat hat er die allgemeine Vorstellung, dass der Staat nichts anderes als ein Produzent einer solchen positiven Bilanz sei. Falls er eine andere Vorstellung hätte, könnte er immer noch ein Befürworter des Staates sein, aber kein politischer Hedonist mehr. Der Staat ist mit der Kraft ausgestattet, seinem eigenen Vergnügen nachzugehen, seinem eigenen „Maximanden“. Selbst wenn er annähernd ein Minimalstaat wäre, hätte er immer noch latent die Möglichkeiten, sich mit den entsprechenden Vollmachten auszustatten. Sein Maximand könnte ein einziges bzw. höchstes Ziel oder ein „pluralistisches“ Bündel verschiedener Einzelziele mit unterschiedlich großer Bedeutung sein. Ist Letzteres der Fall, dann wird er mit den Einzelzielen jonglieren, weil deren jeweilige Umsetzbarkeit je nach Situation eine andere ist. Er wird einige zugunsten von anderen aufgeben, um so den höchstmöglichen Index des kompositiven Maximanden zu erreichen. Einige dieser Ziele dürften dabei perfekt zu den individuellen Maximanden, zu den Verhältnissen von Freud und Leid bzw. Nutzen seiner Untertanen passen. Man kann in gutem Gottvertrauen sich einen selbstlosen Staat vorstellen, der in seinem Bündel zu maximierender Ziele keine anderen hat als die individuellen Maximanden vieler seiner Untertanen oder einer ganzen Klasse (z. B. der Kapitalisten oder Arbeiter). Mit noch mehr Gottvertrauen könnte man versuchen, den Staat, der sowohl selbstlos wie unparteiisch ist, als jemanden zu definieren, dessen zusammengesetzter Maximand ausschließlich aus den individuellen Maximanden aller Untertanen besteht, seien sie groß oder klein, arm oder reich, Kapitalisten oder Arbeiter, alle vereint im Geiste wahrer 47 Den politischen Hedonisten könnte man als eine Person definieren, die den Gesellschaftsvertrag deshalb unterzeichnet, weil sie diese Sondererwartung hat. Es ist durchaus nicht unvernünftig, wenn man argumentiert, dass eigentlich keine Vertragstheorie dem Unterzeichner des Gesellschaftsvertrages ein anderes Motiv unterstellt als die Erwartung eines vorteilhaften Verhältnisses von Freud und Leid. Wenn dem so ist, dann reicht allein die Tatsache, dass der politische Hedonist dem Gesellschaftsvertrag zustimmt, um ihn zu definieren.
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Eintracht und Einigkeit. Obwohl die Idee in dieser Form ulkig klingen mag, sollte man sie nicht vorschnell auslachen, weil sie (sobald wohlgefälliger formuliert) jenem Begriff entspricht, den die meisten Menschen sich von einem demokratischen Staat machen. Und dann ist sie sehr wirkmächtig. Weil der Staat die Ziele seiner Bürger abwägen muss – schließlich gibt es keinen anderen Weg, sie in eine einzige Größe, in einen zu maximierenden Index zu verschmelzen – muss er ungeachtet seiner Selbstlosigkeit und Unparteilichkeit, diese Ziele zu einem der eigenen Ziele machen, denn die Entscheidung, wie die einzelnen subjektiven Ziele zu gewichten sind, liegt bei niemandem sonst als bei ihm. Schwer zu glauben ist hingegen die Auffassung, dass in einer Demokratie der Staat über diese Gewichtung nicht entscheide, weil sie gegeben sei, eingebunden in eine Regel, deren Befolgung der Staat als demokratischer Staat nicht entkommen könne. „Eine Stimme pro Kopf“ wäre in typisches Beispiel für solch eine Regel. Durch sie käme jedem Wähler das Gewicht 1 zu, ob der Staat ihn nun mag oder nicht. Der Trugschluss bei dieser Annahme ergibt sich beim Übergang von den Stimmen zu den Zielen bzw. Maximanden. Die implizite Annahme, dass eine Stimme, mit der ein politisches Programm oder eine politische Gruppierung einer Alternative vorgezogen wird, ungefähr dasselbe zum Ausdruck bringe, wofür auch die Ziele eines Wählers stehen, ist unbegründet. Das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Mechanismus, wie z. B. Wahlen, um aus einem erheblich eingeschränkten Set an Alternativen, z. B. unterschiedliche Regierungen, eine auszuwählen, kann man nicht als Beweis dafür auslegen, dass, operational gesprochen, eine „gesellschaftliche Entscheidung“ bestünde, mittels derer die Gesellschaft ihre zusammengesetzten Ziele maximieren würde. Dies wiederum spricht nicht gegen den einfachen und vollkommen anderen Sachverhalt, dass die Möglichkeit, eine Vorliebe für ein politisches Programm, eine politische Person oder Gruppierung ausdrücken zu können, damit diese Macht im Staat ausübe, ein wertvolles Ziel an sich ist. Wenn der Staat im Bemühen um Unparteilichkeit das Gewichtungssystem eines Fremden borgte (um es auf die etlichen, von seinen Bürgern gewünschten Ziele anzuwenden), z. B. das eines mitfühlenden Beobachters, würde dasselbe Problem wieder auftauchen, wenn auch leicht verzögert. Statt seine eigene Gewichtung vorzunehmen, würde der Staat die des Beobachters wählen, von dem er sie leihweise hätte. Von alledem ist nichts neu. Es wiederholt nur in einer bestimmten Art und W eise die wohlbekannte Unmöglichkeit, individuelle Nutzenfunktionen in einer „gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion“ zu aggregieren, ohne dass jemand entschiede, wie es gemacht werden soll.48 Das Verdienst jener besonderen Darstellungsart, die wir gewählt haben, um zum selben Schluss zu gelangen, liegt gleichwohl darin, den Kurzschluss zwischen der Macht des Staates und der Befriedigung seiner Ziele 48 In Fachkreisen ist dies als Arrows Unmöglichkeitstheorem bekannt, benannt nach Kenneth Arrow, der es als erster schlüssig dargestellt hat, und zwar in Social Choice and Individual Values, 1951.
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1. Kapitel: Der kapitalistische Staat
ziemlich gut aufzeigen zu können. Wenn der Staat der Vater seiner Untertanen und sein einziges Ziel deren Glück wäre, dann müsste er danach streben, sein Ziel durch eine „Endlosschleife“ zu erzielen, die sich irgendwie aus den einzelnen Glückseligkeiten seiner Untertanen zusammensetzt. Dies ist aber grundsätzlich unmöglich, und zwar aufgrund des „Schaltplans“ (Pluralität und Auseinandersetzung unter den Untertanen, in Kombination mit der Macht des Staates, Auseinandersetzungen zu schlichten). Der Schaltplan enthält unweigerlich einen Kurzschluss. Insofern umgeht die Zielerfüllung des Staates die Endlosschleife sehr weiträumig und nimmt den recht direkten Weg via Gesellschaftsvertrag oder via Klassenherrschaft und der Befriedigung der Untertanenziele. Wie ich an anderer Stelle (Kap. 1.3) gezeigt habe, ist es dem kapitalistischen Staat logisch möglich (aber nur logisch), ein paar ungenau definierte Maximanden („Schmetterlinge“) auszuloben, die jenseits dessen liegen, was erzielt werden kann, wenn man die Untertanen agieren lässt. Aus dem im wesentlichen negativen Grund, dass es besser sei, keinen machtausübenden Apparat zu errichten, damit dieser nicht in die falschen Hände falle, würde ein derartiger Staat so wenig wie möglich regieren. Weil er Verlangen nach öffentlichen Gütern und Ansprüche dritter Parteien auf Nachbesserungen, Ergänzungen oder sonstigen Verwerfungen der Ergebnisse privater Verträge strengen prüfenden Blicken unterziehen würde, gäbe es wenig Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem politischen Hedonisten, der sein Bestes aus dem Staat herausschlagen will. Wenn, im Einklang mit dem kapitalistischen Staat, etwas zur Debatte stünde, dann täte es gut daran, mit einer gewissen Ideologie durchtränkt zu sein, deren Grundsätze folgende sind: (1) Eigentum „ist“ und ist nicht Sache von „sollen“ (bzw. ist eine Sache von „Der Finder darf’s behalten“); (2) Das Gut von Vertragsparteien ist kein zulässiger Grund dafür, in deren Verträge und in die Güter dritter Parteien einzugreifen, außer in Ausnahmefällen. (3) Vom Staat zu fordern, dass er Dinge zum Gefallen des Untertanen unternehme, vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass der Staat vom Untertan Dinge verlangt, die ihm missfallen. Der erste Grundsatz ist in seiner Quintessenz kapitalistisch, denn er sieht von einer Rechtfertigung des Eigentums ab. Einige meinen, Locke habe eine Ideologie für den Kapitalismus bereitgestellt. Aus meiner Sicht ist das weit gefehlt. Locke lehrte uns, dass der Finder unter einer Bedingung der Bewahrer sei, nämlich dann, wenn „genug und ebenso gutes“ für die anderen übrigbleibe. Diese Bedingung schreit nach Egalitarismus und „bedarfsorientierten“ Grundsätzen für Lehen, sobald wir die Welt der Knappheit betreten. Locke lehrte uns auch, das der erste Besitznehmer sein Eigentumsrecht seiner Arbeit verdanke, die er mit dem Eigentum „gemischt“ habe; ein Prinzip, das gleichauf mit vielen anderen liegt, die Eigentum an Kapital von Meriten abhängig machen: „Er hat dafür gearbeitet“, „er hat es gerettet“, „er hat sich bemüht“, „er gibt vielen armen Menschen Arbeit“. (Wenn er nichts von all diesen verdienstvollen Dingen getan hat, welchen Anspruch auf sein Eigentum hat er dann? Bereits der Fall, dass „sein Großvater hart dafür gearbeitet hat“, wird für ihn zu einer wackeligen Angelegenheit, weil er schon zwei Genera-
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tionen von dessen Verdienst entfernt lebt. Der Aufstieg des Kapitalismus wurde noch nie von einer politischen Theorie begleitet, die danach trachtete, das Recht auf Eigentum von Vorstellungen wie moralischer Wert oder gesellschaftlicher Nutzen zu separieren; vom Erfolg eines solchen Unterfangens ganz zu schweigen. Insofern ist es in der Tat so, dass der Kapitalismus nie eine brauchbare Ideologie hatte. Dieser Mangel kann wiederum bis zu einem gewissen Grad erklären, warum angesichts eines adversen Staates und dessen Begleitideologie der Kapitalismus bei seiner eigenen Verteidigung kaum geistige Stärke bewiesen hat und warum derlei Verteidigungen, sofern es überhaupt zu solchen kam, armselige Unternehmungen und faule Kompromisse waren und manchmal sogar damit endeten, dass man sich ehrenvoll ergeben wollte. In einer richtigen kapitalistischen Ideologie sollte der zweite Grundsatz die Vertragsfreiheit bejahen. Auf der einen Seite muss er dieselbe vor allem gegen die Idee behaupten, dass der Staat berechtigt sei, die Menschen zu ihrem eigenen Wohl zu zwingen. Auf der anderen Seite geriete er selbst ins Abseits, wenn man mit ihm die Interessen anderer Menschen beschneiden könnte, die nicht teil des Vertrages sind und deren Freiheit zu beachten ist. Angesichts der unbegrenzten Vielzahl und Vielfalt denkbarer Interessenkonflikte, die in einer komplexen Gesellschaft herrschen können, gibt es diese Gefahrenzonen. In ihnen ist der Vertrag einer gewissen Unbestimmtheit des Rechts ungeschützt ausgesetzt; dort, wo entweder zu sehr oder zu wenig Rücksicht auf die Interessen jener genommen wird, die jenseits eines gegebenen Vertrages stehen, aber von ihm nicht unberührt sind. Diese Gefahr wird jedoch bis zu einem gewissen Grad von der Beschränkung eingedämmt, die aus dem dritten Grundsatz folgt. A dürfte seinen Anspruch, der Staat möge jene seiner Interessen schützen, die von einem Vertrag zwischen B und C berührt werden, aus Sorge um die Folgen eher zurückhaltend stellen; ansonsten riskiert er, zunehmend darunter zu leiden, wenn in der Folge auch die anderen auf ihren Anspruch pochen. Dies hieße nämlich, dass man sich dann auch in seine Verträge einmischen würde. Die Beweggründe des Gegenrechnens kann man auch formaler zum Ausdruck bringen, und zwar in Gestalt zweier fiktiver Listen, die in den Köpfen der Menschen stecken. Für jede Person A gäbe es demnach eine Liste von Vorteilen (im weitesten Sinne), die sie zu genießen hofft, wenn der Staat sich in zunehmendem Maße um das kümmert, was ich – im Bemühen um ein bewusst neutrales Vokabular in der Diskussion über Verträge – Drittparteieninteressen nenne. Eine andere Liste würde die Nachteile (Kosten) aufführen, die A zu erleiden befürchtet, wenn der Staat sich vermehrt dem Wohlergehen anderer annimmt. Gewiss ist es vergeblich, empirisches Wissen hinsichtlich derlei Listen vorzutäuschen, selbst wenn man einräumen wird, dass sie das veranschaulichen, was vermutlich in den Köpfen rational kalkulierender Menschen vorgeht. Gleichwohl würde man wohl vermuten, dass arme Menschen (und nicht nur arme), Menschen, die sich hilflos fühlen, die denken, in der Regel das kleinere Ende der Wurst zu bekommen, eine Liste der zu erwartenden Vorteile im Zuge staatlicher Interventionen haben, die im Vergleich zur korrespondierenden Liste der zu erwartenden Nachteile ein Stück länger ist. Anders formuliert, sie können nie genug staatliche
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Hilfe bekommen und scheren sich nie um die Restriktionen, Knechtungen und Leiden, die damit einhergehen. Umgekehrt kann man für reiche Menschen (und nicht nur für reiche), Menschen mit Ressourcen und Selbstvertrauen, die denken, dass sie für sich selbst sorgen können, annehmen, dass in ihren Köpfen eine sehr lange Liste mit Nachteilen anwächst, die, sobald die staatliche Aktivität über das minimale Maß hinausreicht, die Liste der Vorteile flugs überragt. Ich lege hier keine Hypothese hinsichtlich des Ausmaßes und Aussehens der Kosten-Nutzen-Listen dar, die das Verhalten realer Personen in dieser Frage wiedergeben; auch nicht das Verhalten, das alle „haben sollten“, sobald sie den höchsten Grad politischer Weisheit, Einsicht und Erkenntnis erreicht haben. Mit diesen zwei Seiten einer Medaille hat der Ruf nach dem Staat zur Beförderung der eigenen Interessen komplexe Konsequenzen. Zum Teil sind sie unbeabsichtigt und oftmals sogar unvorhersehbar. Menschen, die über politische Gaben verfügen, mittels derer sie einer perfekten Vorausschau recht nahekommen, dürften daher andere Haltungen an den Tag legen als jene, die nur annähernd die Konsequenzen abschätzen können. Indem wir die individuellen Kosten und Nutzen als Funktion des staatlichen Eintretens für die Rechte dritter Parteien auffassen, können wir nun die Befürworter der kapitalistischen Ideologie als Personen definieren, die vermuten, (a) dass mit der Zunahme staatlicher Intervention die Summe der von ihnen zu erleidenden Nachteile schneller als die Summe der Vorteile wächst; (b) dass die Nachteile die Vorteile bereits bei einem Ausmaß staatlicher Aktivität überragen, das unter dem jetzigen liegt; mit der Folge, dass diese Personen davon ausgehen, es ginge ihnen besser, wenn es weniger staatliche Eingriffe in freie Verträge gäbe. Dies bedeutet natürlich nicht, dass jene, die der kapitalistischen Ideologie anhängen, unbedingt den ganzen Weg bis zum Naturzustand zurückgehen würden. Aber es bedeutet, dass sie angesichts der gegenwärtigen Erfahrung danach trachten würden, den Staat zu beschränken und „zurückzudrängen“. Und es bedeutet, dass sie, im Sinne der Änderungsrichtung, den kapitalistischen Staat für passend hielten, weil dieser (wie wir gesehen haben) eigene rationale Gründe hat, sich selbst Grenzen zu setzen. Ein solcher Staat, das kann nicht oft genug gesagt werden, ist eine Abstraktion, ein Erläuterungsinstrument. Das gilt auch für die Person, die der kapitalistischen Ideologie anhängt. Sie ist nicht notwendigerweise ein abstrakter Kapitalist. Sie kann auch ein abstrakter Lohnempfänger sein. Ihre Identifikation mit einer Ideologie, die (unserer Meinung nach) par excellence für das richtige Funktionieren des Kapitalismus zweckdienlich ist, ist nicht, wie die marxistische Theorie des Bewusstseins behaupten würde, eine notwendige Folge ihrer Funktion innerhalb der vorherrschenden „Produktionsweise“. Sie muss nicht „ausbeuten“. Sie mag sogar „ausgebeutet werden“. Ihr Bewusstsein im Hinblick auf den Staat kann (wenn es denn sein muss) tautologisch aus ihrem Interesse abgeleitet werden. Wenn ihre persönliche Aufstellung von Freud und Leid, Kosten und Nutzen, Hilfe oder Hindernis ihr sagt, dass sie bei weniger Staat besser dran ist, dann wird sie für weniger Staat sein. Es gibt keinen Grund a priori, der den Lohnempfänger davon abhielte, zu
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diesem Schluss zu gelangen, oder den wahren Kapitalisten davon abbrächte, mehr Staat zu wollen. Der Marxismus, zumindest der „Vulgärmarxismus“, würde beiden ein falsches Bewusstsein vorwerfen und vorhalten, dass sie ihr „wahres“ Interesse verkennten, das sich (wiederum tautologisch) vollständig aus der Klassenlage ableitet. Wie auch immer, genug der Worte verloren, um klarzustellen, dass u.E. kein überzeugender Grund zur Annahme vorliegt, dass eine Person irgendeinen Fehler begeht, wenn ihre Ideologie nicht die ist, die angeblich mit ihrer Klassenlage „korrespondiert“. Beide, der Kapitalist und der Arbeiter können gegen den Staat, den sie kennen, allergisch sein. Oft sind sie es, und ihre Gründe können durchaus weitgehend dieselben sein. Alle Theorien des wohlwollenden Staates, die sich auf Gottesgnadentum bis hin auf den Gesellschaftsvertrag berufen, tragen die stillschweigende Annahme in sich, dass die Befriedigung oder das Glück des Staates aus irgendeinem Grund und in irgendeiner Weise durch das Glück seiner Untertanen erreicht wird. Ein guter Grund wird dafür nicht angeführt, und auch keine plausible Weise, auf der dies stattfinden könnte. Insofern gibt es keine Gewähr für diese anspruchsvolle These, vor allem nicht, wenn sie stillschweigend getroffen wird. Die rationalen Handlungen des Staates verbinden dessen Macht mit dessen Zielen, und zwar mittels eines natürlichen Kurzschlusses, ohne die lange und geschlungene Endlosschleife weiterzureichen, die gewissermaßen der Ort dessen ist, was die Untertanen selbst für ihr Wohl halten. Selbst bei bestem Willen kann kein Staat, noch nicht einmal die direkteste Demokratie oder der aufgeklärteste Absolutismus, seine Macht dazu nutzen, den Weg durch diese Endlosschleife zu nehmen. Wenn er heterogene Untertanen hat, kann er bestenfalls im Grenzfall seine eigene zusammengesetzte Vorstellung von ihren verschiedenen Nutzen befördern. Falsches Bewusstsein kann, wenn man Glück hat, den Kreis der Schleife schließen. Die Untertanen müssen nur einfach glauben, dass ihre Ziele sich nicht von denen, die der Staat tatsächlich fördert, unterscheiden. Dies ist, so muss man annehmen, die Bedeutung von „Sozialisation“. Ein derartiges Ergebnis gedeiht durch die Fähigkeit des Staates (vor allem durch seine Rolle, die er im öffentlichen Erziehungswesen einnimmt), die Gesellschaft vergleichsweise homogen zu gestalten. Es ist eng mit dem Prozess verbunden, auf den zu Beginn dieses Kapitel angespielt wurde und in dem die politischen Vorlieben der Menschen an die politischen Arrangements angepasst werden, unter denen sie leben.49 Anstatt dass Menschen 49 Elster (1982) enthält eine eingehende Diskussion dessen, was Elster adaptive und kontra-adaptive Vorlieben nennt und was dem in gewisser Weise ähnlich ist, was ich in diesem Buch „Abhängigkeit“ und „Allergie“ nenne. Er betont, dass Adaption und Lernen unterschiedlich seien, insbesondere deshalb, weil Ersteres reversibel sei (S. 226). Mir fällt es schwer, ihm darin zuzustimmen, dass die Formierung politischer Vorlieben reversibel sei. Vielleicht ist dem so, vielleicht nicht. Die historische Evidenz erlaubt beide Lesarten. Intuitiv neige ich dazu, sie für irreversibel zu halten, sowohl in ihren adaptiven wie auch in ihren kontra-adaptiven Manifestationen. Diese Frage ist offensichtlich von Bedeutung, sollte eine Regierungsform gewissermaßen in der Lage sein, die Menschen für andere Regierungsformen „auf ewig zu verziehen“.
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ein politisches System wählen, kann das politische System diese bis zu einem gewissen Grad wählen. Sie müssen nicht, wie Orwells Winston Smith, Big Brother wirklich lieben. Falls eine große Menge oder sogar eine ganze Klasse von ihnen ein hinreichend falsches Bewusstsein entwickelt und ihr Wohl mit dem gleichsetzt, was der Staat tatsächlich bereitstellt, und falls sie die kollaterale Unterwerfung hinnimmt, ohne die Attraktivität des Handels in Zweifel zu ziehen, dann ist die Grundlage für Konsens und Harmonie zwischen Staat und Zivilgesellschaft geschaffen, gleichwohl kein Weg an der Mutmaßung vorbei führt, dass der Staat der Gegenspieler seiner Untertanen ist.
2. Kapitel
Der adverse Staat 2. Kapitel: Der adverse Staat
Repression, Legitimität und Konsens Das Vertrauen auf Konsens, statt auf Repression oder Legitimität, macht aus dem Staat eine demokratische und umstrittene Macht.
Damit man Staaten ihrer Art nach unterscheiden kann, sollte man zunächst danach fragen, auf welche Weise sie sich Gehorsam verschaffen. In beständigen Organisationen befehlen nur wenige, während der Rest gehorcht. Dabei verfügen die wenigen über die Mittel, Ungehorsam zu ahnden. Die Sanktion kann der Entzug eines Gutes sein, wie z. B. die partielle oder völlige Beraubung der Vorteile aus der Zugehörigkeit zur Organisation, oder sie kann ein unverhohlenes Übel sein, z. B. Bestrafung. Wenn man die Begriffe wie Befehl, Gehorsam, Bestrafung etc. hinreichend dehnt, dann gilt das Vorgenannte auch für solche Institutionen wie die Familie, Schule, Firma, Armee, Gewerkschaft, Kirche usw. Um wirksam zu sein, muss die Sanktion der Natur des Vergehens und der Institution entsprechen. Dem Wohlergehen einer Organisation ist es vermutlich gleichermaßen abträglich, wenn die Strafe zu hart oder zu weich ausfällt. Gleichwohl dürfte in der Regel folgendes gelten: Je gravierender die Sanktion, desto geringer ist für jene, die das Sagen haben, der Ermessensraum beim Verhängen der Sanktion. Man kann diesen Gedanken etwas weiter spinnen und anmerken, dass Max Weber den Staat als eine Organisation definierte, „welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“50 Angreifbar ist diese berühmte Definition wegen der Zirkularität, die der Legitimitätsidee innewohnt. Der Gebrauch physischer Gewalt durch den Staat ist allein aus dem Grund legitim, dass der Staat das Gewaltmonopol erfolgreich beansprucht hat und somit zu einem richtigen Staat wurde. Es gibt keinen anderen Grund, der fundamentaler oder logisch vorgelagert wäre.51 Die Anwendung von Gewalt durch andere ist definitionsgemäß illegitim (es sei denn, man handelt im Auftrag des Staates). Insofern kann man das Vorhandensein eines Staates in je50
Weber (1919), zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/politik-als-beruf-8139/2 Eine Anwendung dieses besonderen Prinzips auf den Spezialfall der Legitimität des Gewaltgebrauchs zwischen Staaten bietet Machiavellis Doktrin, dass der Krieg dann legitim sei, wenn er notwendig sei, wobei der Staat als einziger über die Notwendigkeit befinden könne. Für aufschlussreiche Anmerkungen zur staatlichen Durchsetzung des Kriegsführungsmonopols im 15. und 16. Jahrhunderts vgl. Howard (1976), S. 23 – 24. 51
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2. Kapitel: Der adverse Staat
nen Gesellschaften in Frage stellen, in denen die Herren ihre Diener nach eigenem Belieben auspeitschen können und militante Gewerkschafter ihre Arbeiterkumpel davon abhalten können, Streikketten zu durchbrechen, indem sie ihnen wortlos nicht näher spezifizierte Prügel androhen. Eine Definition, die derlei Gegenbeispielen besser standhalten dürfte, würde besagen, dass der Staat jene Organisation in der Gesellschaft bildet, die in der Lage ist, Sanktionen zu verhängen, ohne Desa vouierung zu riskieren, und die Sanktionen anderer desavouieren kann. Es gibt Sanktionen, die aufgrund ihrer Unangemessenheit oder Risiko provozierenden Art den Rückhalt stärkerer Organisationen brauchen. Nur die Sanktionen des Staates sind aus Mangel eines mächtigeren Sanktionierers vor Desavouierung gefeit. Diese Umschreibung hat den Vorteil, die Souveränität des Staates zum Ausdruck zu bringen. Wenn es nichts „über“ ihnen gibt, dann müssen die Entscheidungen des Staates als endgültig angesehen werden. Dennoch ist es manchmal aus gewissen Gründen bequem, den Staat nicht als einen homogenen Körper mit einem einzigen Willen zu behandeln, sondern als einen heterogenen Verbund, der aus „Instanzen“ besteht, die danach unterschieden werden, ob sie höher, tiefer oder auf einer Ebene liegen. So gesehen ist es zwar nicht möglich, sich gegen den Staat zu wenden, indem man sich an etwas außerhalb des Staates wendet, aber Beschwerde innerhalb des Staates ist möglich: über den schlechten lokalen Machthaber bei der guten Zentralverwaltung, über den schlechten Minister beim guten König, oder über die messerwetzende Exekutive bei der unabhängigen Justiz. In der Tat war es das Unbehagen, keinen Zufluchtsort mehr zu haben, das verständige Köpfe auf ihrer Suche nach dem heiligen Gral der politischen Weisheit dazu brachte, die Souveränitätsidee mit der Gewaltenteilung, der Herrschaft des Gesetzes und der Unabhängigkeit der Justiz aufzurechnen. Mit einem weniger hoffnungsfrohen Blick auf die Morphologie des Staates erkennt man hier einen Haken an der Sache. Der Einspruch einer staatlichen Instanz bei einer anderen im Allgemeinen, und die Unabhängigkeit der Justiz im Besonderen, setzen die Bedingungen, die sie an sich sicherstellen sollen, voraus, ähnlich einer Regenjacke, die einen nur bei trockenem Wetter trocken hält. Berufung innerhalb des Staates ist gut und schön, wenn gute Minister einem guten König dienen und die Regierung im Großen und Ganzen wohlmeinend ist. Die Justiz ist bestimmt ein guter Wächter der Exekutive, solange die Exekutive sie lässt, aber sie hat keine Macht, ihre Unabhängigkeit durchzusetzen. So wie der Papst, hat sie keine Divisionen und sie kann ebenso wenig wie dieser in weltlichen Fragen so tun, als ob sie welche hätte. Ihre Fähigkeit, einer Exekutive zu trotzen, die keinen Trotz duldet, ist bei genauer Betrachtung nichts weiter als der schwache Schimmer im Namen der Aussichten auf einen erfolgreichen Volksaufstand – Aussichten, die in der Regel mit dem Niedergang einer unabhängigen Justiz schwächer werden. Der Zusammenstoß von Magistratur und Monarchie in Frankreich 1770/71 ist ein beredtes Beispiel dafür, was ich sagen will. Die Gerichtshöfe (Parlamente) hatten, als sie dem König die Stirn boten, auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung gehofft, aber nur wenige Menschen hatten sich auf ihre Seite geschlagen.
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Die Richter waren an und für sich Eigentümer ihres Gerichtsaals. Sie wurden nun nationalisiert und entschädigt. Die neuen Richter, ausgewählt aus den Reihen der alten Richter, wurden bezahlte Beamte des Königs. Ihnen wurde eine Dauerstellung zugesichert, vermutlich, um ihre Unabhängigkeit zu sichern! Selbstverständlich kann der Staat es für durchaus hilfreich halten, seiner Justiz aus anderweitigen Gründen ein Maß an Unabhängigkeit zu geben (vgl. Kap. 4.1). Er kann es andererseits aber auch tun, weil deren Ziele recht begrenzt und „meta-politisch“ sind, weil er keine besondere Pointe darin sieht, eine unterwürfige Justiz zu haben. Darin, eine solche Pointe nicht zu sehen, kann man vielleicht ein nützliches Vorabkriterium für die Gutmütigkeit des Staates erblicken. Denkt man darüber nach, dann zeigt sich aber, dass ein solches Kriterium letztlich nicht zweckdienlich ist, weil der Staat dann, wenn er die Herrschaft des Rechts garantiert, auch die Herrschaft schlechten Rechts garantieren kann. (Und ein Staat, der seinen eigenen schlechten Gesetzen verpflichtet ist, ist nicht harmlos, obgleich er besser ist als jener Staat, der das Gesetz staatlichen Gründen unterwirft und anpasst.) Wie auch immer, das Nachdenken klärt zumindest das Verhältnis zwischen der Unabhängigkeit der Justiz und den Zielen des Staates. Ersteres kann Letzteren nicht reinsprechen. Die Justiz kann den Staat nicht gutartig machen, um so ihre eigene Unabhängigkeit zu sichern und aufrechtzuerhalten. Sie kann es genauso wenig tun, wie die sagenumwobene Figur, die sich an den eigenen Schnürsenkeln in die Höhe ziehen konnte.52 Zieht man das Argument der Gewaltenteilung erst einmal heran, dann führt es allzu leicht geradewegs zu der konfusen Idee, der Staat sei gutmütig, weil in ihm die Gewalten geteilt sind, gleichwohl die Kausalität umgekehrt, und nur umgekehrt, verläuft. Die Gewalten sind eigentlich nur geteilt, wenn der Staat gutmütig ist. Wir können uns natürlich immer wieder sagen, dass einige Gewalten realer seien als andere und dass der Realitätstest darin bestehe, dass eine Gewalt die andere zwingen könne; auch wenn es nie hart auf hart komme, die latente Möglichkeit, Gewalt anzuwenden, sorge dafür, dass die Macht auf dem Papier bestehen bleibe. Wenn wir den Staat als eine Vielfalt von Instanzen betrachten, zu der die Versammlung der herrschenden Partei, das Küchenkabinett und die politische Polizei genauso gehören wie das Eichamt, dann dürfte dies uns vor dem sündigen Gebrauch von holistischen, „systematisch irreführenden Ausdrücken“53 bewahren. 52 (Gemeint ist wohl Baron Münchhausen, d. Hrsg.) Es ist durchaus vernünftig anzunehmen, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die unabhängige Justiz von gestern bei der guten Regierung eine Reaktion auslöst, und zwar dergestalt, dass diese heute eine unabhängige Justiz toleriert: ein Engelskreis, der dem Teufelskreis, sofern es diesen gibt, zuwiderläuft. Letzterem zufolge ändert die staatliche Macht die Gesellschaft und stattet die geänderte Gesellschaft den Staat mit noch mehr Macht über sich selbst aus. Der Engelskreis hat gewiss keine große Stabilität. Falls er aus irgendwelchen Gründen von einer schlechten Regierung unterbrochen wird, dann hat man sich um die Unabhängigkeit der Justiz bald Sorgen zu machen. 53 Gilbert Ryles berühmter Ausdruck für den Verweis auf das Ganze, wenn man nur einen Teil meint, wie z. B. in „Die russischen Besatzungsmächte vergewaltigten Deine Schwester.“
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2. Kapitel: Der adverse Staat
Aber für den gegenwärtigen Zweck beugt die Annahme eines homogenen Körpers und eines einzigen Lenkungswillens, an den man sich wendet und gegen denen man sich nicht wendet, vielen ermüdenden Wiederholungen vor. Jeder Staat verschafft sich Gehorsam auf einem von drei Wegen. Der erste, kürzeste und historisch gängigste Weg ist die unverblümte Androhung von Strafe, die implizit in der staatlichen Oberbefehlsgewalt über die Mittel der Repression enthalten ist. Der am wenigsten unmittelbare und transparente Weg geht dahin, die Legitimität des Staates zu etablieren. Für unsere Zwecke verstehen wir Legitimität als die Neigung der Untertanen, den Befehlen des Staates in Abwesenheit von Strafe bzw. Belohnung zu gehorchen. Dies bedarf einer gewissen Erläuterung. Hier ist anzumerken, dass eine so geartete Definition die Legitimität nicht zu einem Attribut des Staates macht, sondern zu einem der geistigen Haltung der Untertanen. Je nach Geschichte, Rasse, Kultur oder wirtschaftlicher Lage mag ein Volk den gegebenen Staat als legitim anerkennen, während ein anderes ihn, sofern es könnte, als verhasste Tyrannei ablehnte. Fremde Eroberer, die einem unwissenden Naturvolk, das von seiner eigenen Herrscherklasse ausgebeutet wird, eine fortschrittliche Regierung bescheren, beweisen nur selten den Takt und die Geduld, die sie brauchen, um legitim zu werden. Ein Körnchen Wahrheit mag auch in dem Glauben stecken, dass einige Völker leichter zu regieren sind als andere, so wie die Weißrussen, die als demütig gelten, jeden ihrer aufeinanderfolgenden und recht unterschiedlichen Staaten als legitim betrachtet und jedem willig Gehorsam entgegengebracht haben, sei es dem unter litauischer, polnischer oder großrussischer Ägide. Andererseits empfinden die Völker im keltischen Raum selten, dass der Staat ihren Gehorsam verdient habe, ganz gleich, was er für oder gegen sie tut. In Frankreich, wo die Herrschaft nach Gottesgnadentum eine lange Tradition hat und – abgesehen von einer Zwischenphase, in der man sich um das richtige Traditionsverständnis stritt – das politische Bewusstsein ungefähr von Heinrich II. bis Ludwig XIV. dominierte, wurde dieselbe stets von den Ideologien der Hugenotten und Ultramontanen in Frage gestellt und zweimal beinahe zu Fall gebracht, einmal von der Liga unter Heinrich III. und einmal von der Fronde unter Mazarin. Wenn dies überhaupt etwas beweist, dann, dass Zugeständnisse an die mächtigsten Gegenkräfte in der Gesellschaft und das Suchen nach Konsens kein Rezept für das Gedeihen von Legitimität abgeben. Hume, der sich von der politischen Vertragstheorie nie sonderlich beeindrucken ließ, meinte, dass die Väter, die deshalb dem Staat gehorchen, weil sie Vertragsparteien des Gesellschaftsvertrages geworden sind, ihre Söhne dem Staat nicht verpflichten können. Erstere gehorchen aus Gewohnheit. Gewohnheit ist wahrscheinlich in neun von zehn Fällen eine gute Erklärung für politischen Gehorsam, erklärt aber nicht viel im Hinblick auf Legitimität. Gewohnheitsmäßiger Gehorsam mag auf der latenten Androhung von Zwang gründen, auf einer dunklen Ahnung, dass irgendwo im Hintergrund Repressionen lauern, oder auf dem politischen Hedonismus, den die Söhne von ihren vertragstheoretischen Vätern in Form von „Allgemeinwissen“ geerbt haben und den der Staat tröpfchenweise durch kleine Beloh-
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nungen am Leben erhält. So, wie wir wollen, dass die Repression den logischen Grenzfall im Spektrum aller möglichen Gehorsam weckenden Beziehungen zwischen Staat und Untertan darstellt (also den Fall, in dem die Unwilligen jederzeit unter Androhung von Gewalt Dinge tun müssen, die der Staat von ihnen will und sie sonst nicht täten), wollen wir auch die Legitimität als den Grenzfall am anderen Ende ansehen (also als den Fall, in dem der Staat die Menschen zu Handlungen bewegen kann, ohne allzu viel in der Hand zu haben, das als physischer Zwang oder Belohnung taugte). Als der junge Richard II. den Rebellen im Bauernaufstand 1381 zurief, „Meine Herren, wollen Sie auf den König schießen? Ich bin Ihr Hauptmann, also folgen Sie mir.“54, war es also die Kraft der Legitimität, welche die entrechteten und aufgebrachten Banden um Wat Tyler zur Umkehr bewog. Der König hatte ihnen in jenem kurzen Augenblick, der allein in diesem schicksalsträchtigen Moment zählte, weder bewaffnete Kräfte, noch Schmiergelder, die ihren Zorn besänftigt hätten, entgegenzusetzen, und er hatte auch keinen Sündenbock aufzubieten. Er brauchte nichts von alledem. Offenbar kann einem vernünftigen Staat nichts genehmer sein, als in diesem Sinne legitim zu werden. Die einzige Ausnahme wäre wohl ein Staat, für den der Zwang in Wirklichkeit ein Ziel wäre, eine Befriedigung, und nicht ein mehr oder weniger kostspieliges Mittel, um die Menschen gefügig zu machen. Wenn man die üblichen Bilder von Caligula und Iwan dem Schrecklichen vor Augen hat, oder die von Stalin oder einem ungeliebten Komitee für öffentliche Sicherheit, dann liegt es natürlich nahe, den Staat in einem solchen Licht zu sehen. Die Grausamkeit eines Tyrannen mag willkürlich und sein Terror sowohl überflüssig wie auch von zweifelhafter Wirksamkeit sein; und es mag auch sein, dass der Beobachter sie deshalb allein den perversen Launen des Gewaltherrschers zuschreibt. Aber in Wirklichkeit dürften sie es sein, die in den Köpfen der Übeltäter das unverzichtbare Fundament künftiger Legitimität legen. Eine Fallstudie über die Versuche, die man bei den Azteken in Mexiko, den Inka in Peru und im Bugunda des 19. Jahrhunderts unternommen hat, um die jeweiligen Staaten angesichts massenhaft feindlicher und heterogener Untertanen zu legitimieren, kommt zu dem Schluss, dass die „Wohlwollen und Terror einschließende Sozialisation“ das Kernstück der angewandten Politik war.55 Die anderen Bestandteile ergaben sich, indem man „Unterwürfigkeitsrituale“ etablierte, Unfehlbarkeit behauptete, ethnische Gruppen auflockerte bzw. mischte und statt Wissen Staatsbürgerkunde vermittelte, um so den Menschen eine Vorliebe für des Staates eigene Werte einzuimpfen. Weil viele dieser Zutaten immer wieder beigesteuert werden müssen, darf man bezweifeln, dass die Staatskunst wirklich ein Rezept kennt, das Repression in Legitimation umwandelt. Jedenfalls scheint nicht ein einziges eine erwähnenswerte Erfolgsbilanz vorweisen zu können, war doch die Legitimität in der Geschichte stets rar und trügerisch, und zudem auf Zutaten angewiesen, die nicht einfach so da waren, wenn der Staat mit den Fingern nach ihnen schnippte. Es brauchte erfolg54 55
McKisack (1959), S. 413. Kurtz (1981).
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reiche Kriege, florierende Friedenszeiten, charismatische Führer, eine Menge an gemeinsamer Erfahrung und darüber hinaus wohl auch Kontinuität. Für den Staat liegt der große Wert einer unangefochtenen Herrschaft, die dauerhaft die Macht in Händen hält, allein in der Abkopplung der Kontinuität (wenn auch nur der einer dynastischen) vom Tod; in etwa so wie nach dem Salischen Erbrecht, das lange Zeit anerkannt und befolgt wurde und das, wie alle guten Gesetze, ohne Ansehen der Person und der Verdienste der Bewerber entschied. Das ist zum Teil der Grund dafür, warum Republiken es etwas schwerer haben als Monarchien. Im Allgemeinen kann man jedoch sagen: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Staat vollständige Legitimität erzielt. (Nur wenige politische Arrangements scheinen noch weniger als regelmäßige Wahlen dazu geeignet zu sein, Legitimität zu nähren. Das gilt insbesondere für Präsidentschaftswahlen, bei denen eine Person und ihre Amtszeit im Zentrum stehen. Alle Jahre wieder entbrennt eine Diskussion darüber, warum A ein guter und B ein schlechter Präsident wäre, und umgekehrt. Nachdem dann die Diskussion ihren Höhepunkt erreicht hat, legt sie sich wieder, und zwar durch eine vielleicht sogar nur hauchdünne Mehrheit für den guten oder den schlechten Kandidaten.) Kein Staat setzt nur auf Repressionen und keiner erfreut sich perfekter Legitimität. Es klingt abgedroschen, wenn man sagt, dass keines der beiden Mittel ohne Zumischung des anderen angewendet werden könne, wobei die jeweilige Mischung von Repression und Legitimität in jedem Staat von der „konkreten historischen Situation“, wie Marx sagen würde, abhängt. Wie auch immer, zwischen den Polen Zwang und Gottesgnadentum gab es schon immer ein drittes Element, das weder das eine noch das andere war: Konsens; vielleicht die historisch am wenigsten bedeutsame, Gehorsam weckende Beziehung zwischen Staat und Untertan, vielleicht aber auch die fruchtbarste unter den bleibenden Konsequenzen, besonders unter den unbeabsichtigten. Für die frühen Staaten kann man sich vorstellen, dass Konsens nur eine sehr kleine, spezielle Untertanengruppe an den Ort band, an dem der Wille des Staates herrschte. Der Gehorsam der Kriegerbande gegenüber dem Anführer der Horde oder jener der Prätorianergarde gegenüber dem Kaiser mögen hier als Beispiel für jenen Konsens dienen, der an Komplizenschaft grenzt. Ob es nun Auguren sind, Priester oder Beamte der staatlichen Sicherheitspolizei: der Gehorsam solch kleiner Personengruppen ist eine Bedingung dafür, dass der Staat an der Macht bleibt. Wie ein Flaschenzug, der große Gewichte mit wenig Kraft heben lässt, können sie den Prozess der Repression auslösen, aber auch, gleichwohl ohne Erfolgsgarantie, den der Legitimitätsschöpfung. Ihre Komplizenschaft und Mitwirkung an den Zielen des Staates stellen eine Regel dar, die ihren Ursprung weder in der Repression noch in der Legitimität hat. Sie leitet sich vielmehr aus einem impliziten Vertrag dieser Personen mit dem Staat ab, der sie von allen anderen Untertanen abhebt und im Gegenzug auf Kosten der Übrigen für ihren bereitwilligen Gehorsam und ihren Konsens mit der Staatsmacht belohnt. Einige intellektuell faszinierende und in ihrer Auswirkung sehr unheilvolle Probleme entstehen dann, wenn die so abgehobene und belohnte Gruppe sich amöbenartig über die Gesellschaft ausbreitet, bis immer mehr Menschen ihr angehören; bis, im theoretischen
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Grenzfall, jeder einwilligt und dafür belohnt wird, ohne dass jemand übrig geblieben wäre, der die Kosten dafür tragen könnte (vgl. Kap. 3.5). Für unsere Zwecke lässt sich Konsens am besten als Übereinkunft zwischen Staat und Untertan definieren, die ohne große Vorankündigung von beiden Parteien widerrufen werden kann, wobei der Untertan eine von aktivem militärischen Beistand bis zur passiven Loyalität reichende, angemessene und wohlgesinnte Haltung einnimmt, und der Staat die spezifischen Ziele des Untertanen fördert, wobei die Fördergrenzen im politischen Prozess andauernd neu ausgehandelt und angepasst werden. Konsens wiegt weit weniger als der Gesellschaftsvertrag, schon allein deshalb, weil er dem Staat kein neues Recht und keine neue Macht verschafft. Er ist nicht „gesellschaftlich“, weil seine Anhängerschaft nie die ganze Gesellschaft ist, sondern nur der Einzelne, die Gruppe oder Klasse, die Motive und Interessen haben, die sie von anderen Individuen, Gruppen und Klassen trennen. Während der Gesellschaftsvertrag dem Leben und dem Eigentum des Untertanen oder (wie bei Rousseau) dessen Allgemeinwohl gilt, handelt der Konsensvertrag von einzelnen und partiellen Zielen. Beide Verträge ziehen den politischen Hedonisten an, allerdings auf unterschiedliche Weise. Beim Konsensvertrag werden genauso wenig wie bei einem Kaufgeschäft, das keine der beiden Parteien dazu verpflichtet, die Transaktion zu wiederholen, keine weiteren Verpflichtungen geschaffen. Blicken wir nun auf die Belohnungen beim Konsens. Wenn das Kindermädchen und die Kinder Konsenspolitik betreiben, indem sie darin übereinstimmen, dass es zum Tee Erdbeermarmelade gibt, falls die Kinder liebe Kinder sind, dann ist die Erdbeermarmelade ein Geschenk des Kindermädchens. Es kann sie kurzfristig spendieren oder nicht, wie es ihm beliebt. Der Staat aber hat, ganz allgemein gesprochen (und unter Ausblendung derart exotischer und zeitlich begrenzter Phänomene wie Erdbeeren, die im königlichen Garten wachsen), keine Belohnungen zu vergeben, keine Marmelade, die nicht schon die Marmelade seiner Untertanen wäre. Außerdem, wie ich in Kapitel 1 die Gelegenheit zu zeigen hatte, kann der Staat im Regelfall, in dem seine Untertanen sich in ihren Vorstellungen vom Wohl nicht einig sind, naturgemäß nur sein Gut befördern, und das kann eventuell, nach allem, was wir wissen, auch seine Vorstellung von ihrem Wohl sein. Wie wir auch festgestellt haben, kann die fortschreitende Anpassung der Ziele der Menschen an die vom Staat ausgewählten und verfolgten Ziele, d. h. die Fortentwicklung des „falschen Bewusstseins“, diesen Widerspruch entschärfen und zumindest im Prinzip vollständig auflösen. So schreibt Professor Ginsberg in seinem Buch Consequences of Consent, dass demokratische Wahlen „die adverse Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten untergraben, … Bürger in der Annahme stärken, dass die Ausdehnung staatlicher Macht nur die staatlichen Möglichkeiten mehrt, zu dienen,“56 und dass „moderne demokratische Regierungen dazu tendieren, ihre Kontrolle über die Mittel, mit der die Öffentlichkeit mutmaß56
Ginsberg (1982), S. 24, Kursivsetzung des Autors.
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lich die Regierungshandlungen kontrolliert, zu vergrößern.“57 Wie dem auch sei, die Ausweitung eines falschen Bewusstseins ist weder ein mächtiger, noch ein hinreichend sicherer Mechanismus, um die Treue, die der Staat verlangt, in jeder Lage zu garantieren. Erstens kann der Staat nicht darauf vertrauen, dass er ihn einseitig und nur, weil er es will, hervorbringen kann, und schon gar nicht kann er dies auf die Schnelle. So dauerte es nach Jules Ferrys großen Reformen, die in Frankreich zum laizistischen Erziehungsstaat führten, immerhin fast ein Jahrhundert, bevor es in den Wahlen zu einer sozialistischen Mehrheit kam, wobei angesichts der vielen Wendungen und Umwege das endgültige Resultat bestenfalls wahrscheinlich, aber nie sicher war. Wo es eine ideologisch nicht ganz unfähige Opposition gibt, kann diese das junge Wachstum eines falschen Bewusstseins genauso schnell zerstören, wie der Staat dasselbe fördern kann. Zweitens, allzu sehr auf falsches Bewusstsein setzen ist, wie „mit Spiegeln arbeiten“. Die Menschen, die man scheinbar am schwierigsten drankriegen kann, könnten durchaus solche von der harten und robusten Sorte sein, deren Unterstützung der Staat am meisten braucht. Die allgemeine Erkenntnis, dass der Staat keine Belohnungen zu vergeben hat, die nicht ohnehin den Untertanen gehören, so dass er Paul nicht bezahlen kann, ohne Peter auszurauben, schadet natürlich dem falschen Bewusstsein des guten Bürgers. Behelfsweise kann man argumentieren, dass die Konsens schaffenden Transaktionen zwischen Staat und Untertan die gesellschaftliche Kooperation verstärken würden (und somit den Leistungsausstoß oder die Harmonie oder welches Gut auch immer es sein mag, das von gesellschaftlicher Kooperation hervorgebracht wird), mit dem Effekt, dass die Gewinne der Gewinner die Verluste der Verlierer übersteigen würden. Aus probaten Gründen hält man diese Aussage heutzutage im Allgemeinen für ein Werturteil. (Eine Tatsachenaussage könnte sie nur in dem speziellen Fall sein, in dem es keine Verlierer gibt, d. h., in dem alle Gewinne Nettogewinne und klein genug sind, um keine bedeutende Veränderung in der Güterverteilung zu implizieren.) Sie ist das Werturteil jener Person, die (unter Beachtung der algebraischen Zeichen) das Aufrechnen der Gewinne und Verluste übernimmt. Es liegt kein guter Grund auf der Hand, warum ihre Werte Vorrang vor denen einer anderen Person haben sollten, die aus derselben Addition womöglich eine andere Summe erhält. Rekurs nehmen auf die Werturteile der direkt betroffenen Gewinner und Verlierer bringt nichts, weil die Verlierer ihre Verluste durchaus höher ansetzen dürften als die Gewinne der Gewinner, während die Gewinner wahrscheinlich das Umgekehrte tun dürften. Also steckt man in einer Sackgasse. Aus ebenfalls probaten Gründen scheint kein Test möglich zu sein, der Gewinner gegen Verlierer aufrechnen ließe; kein Test, der „sachlich“ und in wertfreier Manier das Vorhandensein eines Überhangs an Gewinnen gegenüber den Verlusten nachwiese und auf die größere Erfüllung der Gewinnerziele anwendbar wäre. Ohne einen solchen Überhang gibt es aber keinen Fonds, der aus dem inkrementellen Beitrag des Staates zu irgendeiner Messziffer für erfüllte gesamtgesellschaftliche
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Ginsberg (1982), 26, Hervorhebung von mir; vgl. auch ebenda, S. 215 f.
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Ziele stammte und aus dem der Staat etwas abzweigen könnte, um ausgewählten Untertanen Ziele zu erfüllen, ohne anderen zu schaden. Überdies würde die Herstellung eines Überhangs an Gütern und deren Verschenken nicht ausreichen, um Zustimmung zum Staat zu ernten. Wenn irgendein Untertan zu der Auffassung gelangte, dass die Aktivitäten des Staates ihm zusätzliche Zielerfüllung bescherten, dann hätte er schon allein aus diesem Grund kein Interesse, den Staat mehr zu unterstützen, als er es ohnehin schon tut. Was ihn angeht, so mag die Großzügigkeit des Staates vom Himmel fallen. Eine Änderung seines Verhaltens gegenüber dem Staat würde sie aber nicht stärker ausfallen lassen. Wenn er ein gefügigerer Untertan und ein überzeugterer Unterstützer der „Regierungspartei“ würde, dann aus Bewunderung für die gute Regierung, oder aus Dankbarkeit, aber nicht aus jenem eng verstandenen rationalen Selbstinteresse, das die Grundlage für ein politisches Kalkül bilden könnte. Dies ist möglicherweise das abstrakte und grundlegende gemeinsame Element, das den Aufgeklärten Absolutismus, die guten Reformregierungen unter Katharina der Großen, Kaiser Joseph II. und (weniger offensichtlich) Ludwig XV., politisch scheitern ließ. Sie alle trafen auf ungerührte Gleichgültigkeit und Undankbarkeit auf Seiten der auserkorenen Nutznießer. Belohnungen für die entlockte, eigeninteressierte Unterstützung müssen sich an der Performanz ausrichten. Sie müssen Teil impliziter Verträge sein, die nach dem Motto verfahren: „Du kriegst dieses, wenn Du jenes tust.“ Folglich ist es schwierig, eine Konsenspolitik zu erdenken, die ohne eine Art oder Arten von politischen Märkten auskommt, auf denen Herrscher und Beherrschte zusammentreffen, um Händel einzugehen und zu wandeln. In der Demokratie kann man eine oder zwei dieser Marktformen sehen, die Seite an Seite arbeiten. Eine von diesen Formen ist die Mehrheitsregel, die Wahldemokratie vom Typus Jeder-eine-Stimme. In der Wahldemokratie engagiert sich der Staat in Intervallen in einer kompetitiven Auktion mit (tatsächlichen oder potentiellen) Rivalen um Stimmen. Die andere, viel ältere und weniger formale Marktform, die man heutzutage für gewöhnlich „pluralistische“ Demokratie oder „Gruppeninteressendemokratie“ nennt, ist eine endlose Abfolge paralleler bilateraler Verhandlungen zwischen dem Staat und denen, die man, vulgär aber zutreffend, die Einflussreichen in der bürgerlichen Gesellschaft nennen kann. Unter Einfluss ist dabei nicht nur die Fähigkeit, Stimmen zu liefern, zu verstehen, sondern auch jede Form der Unterstützung, die dem Staat hilft, seine Macht über seine Untertanen aufrechtzuerhalten, und einen Ersatz für die unverhohlene Repression seitens des Staates darstellt. Ich habe keine formale Theorie anzubieten, mit der man jene allgemeinen Ursachen kritisch prüfen und systematisch ordnen könnte, die den Staat veranlassen, die Machtsicherung eher durch Konsens und weniger durch Repression anzustreben (oder, was bislang seltener der Fall zu sein scheint, vice versa). Vielleicht ist eine solche Theorie nicht wirklich möglich, zumindest keine, welche die vom Staat gewählte Politik aus der Annahme herleiten würde, dass er jene Mittel auswählt, die in effizienter Weise zu seinen Zielen führen. Es ist durchaus denkbar, dass der
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Staat vor allem aus Kurzsichtigkeit, Willensschwäche und aus einer entsprechenden Vorliebe für den geringsten Widerstand auf Konsens setzt. In der Regel ist es einfacher, zu geben als zurückzuhalten, Belohnungen auszuweiten und zu strecken als sie zu beschränken und aufzustocken, mehr Menschen zu erfreuen als weniger, ein freundliches Gesicht zu machen als ein ernstes. Außerdem schloss Repression in vielen Fällen eine enge Identifikation des Staates mit einem Alliierten innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ein: mit einer Gruppe, Schicht oder (in der marxistischen Soziologie stets) mit einer Klasse, wie z. B. dem Adel, den Großgrundbesitzern, den Kapitalisten. Ob zu recht oder unrecht, die Staaten tendierten immer zu der Auffassung, dass ein enges Bündnis mit einem kleinen Teil der Gesellschaft sie zu einem Gefangenen jener Klasse, Kaste oder Gruppe machen und ihre Autonomie negieren würde. So wie die Könige des Mittelalters ihre Abhängigkeit vom Adel zu mindern suchten, indem sie um die Unterstützung der Stadtbürger warben, so emanzipierte sich der Staat unserer Tage von der Bourgeoisie, indem er der breiten Masse schrittweise das Stimmrecht gab und ihre Stimmen kaufte. Repressive Regierungen bringen den Staat in eine Zwickmühle. Wenn der Staat nun einen der besagten demokratischen Auswege aus seiner misslichen Lage wählt, dann rächt sich dies. (Es ist hier fast so wie in einer sorgfältig konstruierten Tragödie, in welcher der Protagonist beim Versuch, seinem Schicksal zu entfliehen, moralisch fehl geht.) Die „Bestrafung“ für den Staat ist hier dergestalt, dass er den politischen Machtwettbewerb mit Rivalen hinnehmen muss, dessen Konsequenzen den Zielen, die der Staat erfüllen wollte, letztlich schaden. Ein logischer Streitpunkt ist, ob der Rückzug in die, freundlich formuliert, Volksdemokratie ein Ausweg aus dem Dilemma sei. In ihr hat der Staat viele Mittel, den politischen Wettbewerb zu unterdrücken, und dennoch wirbt er um die Zustimmung seiner Untertanen, indem er Erwartungen an künftige Belohnungen weckt, die winken würden, sobald der Sozialismus sich weit genug entwickelt habe. Einige der Implikationen offener Rivalität um die Staatsmacht, wie das Mehrparteiensystem und der „Einfluss“ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die dem Staat solange Widerstand bieten, bis sie eingesackt oder reduziert sind, werden mit mehr Systematik in Kapitel 4 „Umverteilung“ behandelt, die rationale Antwort des Staates, im Grunde die Eindämmung des Einflusses der bürgerlichen Gesellschaft, hingegen in Kapitel 5 „Staatskapitalismus“. Wenn die allererste Frage die ist, wie man im Staat überhaupt dauerhaft ins Amt komme bzw. bleibe, dann kommen die Dinge, die sonst vorne stehen, nämlich Überlegungen, wie man die Macht nutzt, nachdem man sie gesichert hat, offensichtlich erst an zweiter Stelle, sowohl logisch als auch in der Werteskala. Eine ausreichend breite Basis an Konsens zu schaffen, kann sowohl Macht einbringen als auch den politischen Boden bereiten, den eine schmalere Grundlage, nicht ohne Gefahren, frei ließe, und offen für Einfälle von außen. Ob die Herrscher in einer demokratischen Gesellschaft nun weitsichtig genug sind oder nicht, um das letztlich frustrierende Wesen der konsensgetragenen Herrschaft vorherzusehen (verglichen mit den Disziplinen der repressionsgetragenen Herrschaft und der legitimitätsgetragenen
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Herrschaft, dem Staat aus Gnadentum), ihre Situationslogik – ein langsames Treiben –, die Politik der kleinen Schritte führt sie immer weiter in die demokratische Richtung. Sie müssen mit den unmittelbaren Folgen ihrer vorangegangenen Fehler umgehen, ganz gleich wonach die weiter entfernt gelegene Zukunft verlangen mag, weil, um es in den unvergesslichen Worten eines berühmten britischen Konsenssuchers zu sagen, „in der Politik eine Woche eine lange Zeit ist.“58 Einige dieser Überlegungen können miterklären, warum, anders als uns die Schulbuchweisheit lehrt, der zufolge die von der Wahl ausgeschlossenen Massen ihr Recht auf Teilnahme am politischen Prozess einforderten, der Antrieb zur Ausweitung des Wahlrechts in vielen Fällen von den Herrschern und den Beherrschten gleichermaßen kam. M.E. ist das auch die realistische Sichtweise, die man in Bezug auf Neckers Vorstöße bei den Wahlen auf den Landgütern in den französischen Provinzen 1788 – 1789 einnehmen sollte, und auch im Hinblick auf die englischen Reformen von 1832 und 1867 sowie auf jene im Deutschen Reich nach 1871. Belohnungen wachsen letztlich auch nicht von selbst auf Bäumen, und sie werden auch nicht von einer guten Regierung geschaffen und unter guten Bürgern verteilt. Sie sind die Verhandlungsmasse, die der Staat erwirbt, um sie unter seinen Anhängern zu verteilen, indem er für sie Partei ergreift. Als mutmaßlicher Gegenspieler aller in der bürgerlichen Gesellschaft, muss der Staat dann, wenn er die Unterstützung einiger will, der effektive Widersacher der anderen werden. Falls es keinen Klassenkampf gäbe, würde es dem Staat dienen, ihn zu erfinden.
Parteinahme Der Aufstieg der Parteiendemokratie im 19. Jahrhundert diente dem Aufbau des Massenkonsenses und eines größeren und klügeren Staatsapparates.
In einer Professorenrepublik endet der Kapitalist als politischer Außenseiter. Die Grundlagen für den laizistischen Wohlfahrtsstaat des Westens wurden wahrscheinlich im englischen Armenrecht von 1834 gelegt; nicht deshalb, weil dieses für das Wohlergehen der Armen besonders gut gewesen wäre (in der Tat war es schlecht, weil es die Erholung im Freien abschaffte), sondern weil der Staat, als er sich der Armen annahm, die Verwaltungsverantwortung für die Armen größtenteils den dilettantischen und unabhängigen örtlichen Behörden abnahm und an die eigenen Fachkräfte übertrug, die dort saßen, wo so langsam der öffentliche Dienst im Entstehen war. Der führende Autor und Fürsprecher dieses Plans zum Aufbau staatlicher Stärke und Regierungsbefugnisse war der große utilitaristische Praktiker Edwin Chadwick, ohne dessen intensive Bemühungen viele der Eingriffe der englischen Zentralregierung in die sozialen Angelegenheiten womöglich erst 58
Ein Ausruf, der Harold Wilson zugesprochen wird, d. Hg.
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e tliche Dekaden später vorgenommen worden wären. Aber da war er nun, sein Eifer ließ die historische Unvermeidbarkeit ca. 20 Jahre früher eintreten, und er erkannte, dass der Staat dann, wenn er eine gute Sache vorantreibt, nicht auf den guten Willen unabhängiger Zwischenmänner, die er nicht unter Kontrolle hat59, angewiesen sein darf. Als er in der Folge seine Energie der öffentlichen Gesundheit zuwandte, erreichte er, dass man eine allgemeine Gesundheitsbehörde erschuf, der er selbst als Kommissar vorstand, nur damit dieselbe rechtzeitig zu seiner Pensionierung 1854 im Sande verlaufen sollte; zum Beweis dafür, wie sehr sie in der Frühphase der historischen Unvermeidbarkeit von der Hingabe eines einzigen Individuums abhing. Es dauerte bis 1875, bevor der Staat dazu kam, einen Verwaltungskörper im Rahmen des Gesetzes über die öffentliche Gesundheit neu zu erschaffen, wobei er dabei unbeabsichtigt „die größte Invasion in die Eigentumsrechte im 19. Jahrhundert“60 unternahm. Angesichts der Befehlsgewalt, die der Staat in anderen Bereichen des sozialen Lebens über den Untertan erlangte, überrascht es, dass die Erziehung bis 1880 freiwillig blieb. Die durch das erste Fabrikgesetz neugeschaffenen Inspektoren erfüllten, wenn auch in ihrer Bedeutung auf einem niedrigeren Niveau als Chadwick, aber doch analog zu ihm die Rolle einer Speerspitze, und zwar sowohl für soziale Reformen wie auch für die Ausweitung des Staatsapparates. Während sie auf die Einhaltung aller nachfolgenden Fabrikgesetze achteten, fanden sie in gutem Treu und Glauben stets neue soziale Probleme, der der Staat lösen sollte. Indem sie nun diese Probleme in Angriff nahmen, entdeckten sie, dass dadurch zufällig auch ihre Autorität und die Zahl ihrer Untergebenen wuchsen. Mit den Reformgesetzen von 1832 und 1848 entstand denn auch die erste Welle der Ausweitung staatlicher Anliegen und, damit einhergehend, staatlicher Apparate, so als wollte man sich die Gefolgschaft der neuen Wählerschaft sichern. Anschließend folgte zwischen 1849 und 1859 vergleichsweise eine Flaute, die mit dem Jahrzehnt konservativer Reaktion auf dem Kontinent einherging; seitdem aber herrscht ein hektischer und zunehmender Aktivismus. Es gibt Schätzungen, nach denen in der Zeit von 1850 bis 1890 die Zahl der britischen Staatsdiener um etwa 100 Prozent anstieg, und von 1890 bis 1950 um 1.000 Prozent; im 19. Jahrhundert lagen die Staatsausgaben im Schnitt bei 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, nach 1920 betrugen sie nie weniger als 24 Prozent, nach 1946 lagen sie nie unter 36 Prozent. Heutzutage liegen sie freilich über bzw. 59 Chadwick dachte nicht, dass er und seine Kollegen als Pioniere im öffentlichen Dienst ein Großreich errichten, für ihre eigenen Lieblingsthemen in der Politik werben, ihre eigenen (selbstlosen) Ziele erfüllen oder für die (eigennützigen) Interessen einer sich selbst bedienenden Bürokratie arbeiten würden. Er empfand zweifellos ernsthaft, dass sie das Recht neutral verwalten und dadurch, und nur dadurch, der Öffentlichkeit dienen würden. Er erkannte nicht, dass sie weitgehend das Gesetz machten. Für ihn war ein Angriff auf einen Beamten so etwas wie das Schlagen einer Frau – wobei die Analogie vermutlich in der gemeinsamen Wehrlosigkeit liegt! 60 Jennings (1962), S. 412.
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unter 50 Prozent, je nachdem, was wir als öffentliche Ausgaben erfassen.61 Statistischen Erhebungen über längere Perioden misstraut man mit gutem Grund, weil ihr Kontext sich in vielerlei Hinsicht erheblich ändern kann. Aus ähnlichen Gründen wie jene, die für nicht vergleichbare Kontexte gelten, sollte man internationalen Statistikvergleichen mit Vorbehalten begegnen, z. B. denen, die den Anteil am BIP angeben, der auf den Konsum und die Transfers im öffentlichen Sektor entfällt. Dennoch kann man dort, wo die Vergleichszahlen für Zeiträume und Nationen gewaltige Unterschiede offenbaren, ruhigen Gewissens zumindest den bescheidenen Schluss wagen, dass der staatliche Sektor in England in den letzten 150 Jahren sich mehrfach verdoppelt hat und dass von den wichtigsten Industrienationen kein Staat so viel vom BIP für private Zwecke übriglässt wie der japanische. An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, noch einmal an Walpoles Mangel an Regierungseifer zu erinnern und zugleich auf die Tatsache zu verweisen, dass seine Regierung für alles 17.000 Beschäftigte hatte, von denen 4/5 damit beauftragt waren, die Einnahmen einzutreiben.62 Ich will nicht erneut das unwiderlegbare Argument diskutieren, dass der Staat dann, wenn er in einem Interessenkonflikt der Klassen Partei für die Arbeiterklasse ergreift, sich in Wirklichkeit auf die Seite der Kapitalisten schlägt. Egal, wer das unbezwingbare Adjektiv „wirklich“ unter seiner Befehlsgewalt hat, er gewinnt so jede Kontroverse darüber, wie auch die Kontroversen über alles andere sonst. Ich will nur anmerken, dass in jenen, vom alten englischen Staat weitgehend ignorierten, Bereichen potentiell öffentlichen Interesses das 19. Jahrhundert eine wachsende Rolle für staatliche Politik sah, und dass dies zumindest dem Anschein nach den vielen Armen und Hilflosen zugutekam. Der Übergang von der staatlichen Absenz und Unbekümmertheit zur fortschreitenden Vorherrschaft des Staates hatte (zum Teil vorhersehbare) Folgen für die Vertragsfreiheit, die Kapitalautonomie und die Warte, von der aus die Menschen sich für ihr eigenes Schicksal verantwortlich sahen. Zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammte der antikapitalistische Kurs der Reformbewegung bestimmt nicht irgendeiner kühlen Berechnung seitens des Staates, der gehofft hätte, bei der „Linken“ mehr Unterstützung zu finden, als er bei der „Rechten“ verlieren würde. Betrachtet man die der Wählerschaft vor 1832 rein zahlenmäßig, dann wäre diese Rechnung ohnehin von zweifelhaftem Wert gewesen. Bis zur Wahlreform 1885, wenn nicht darüber hinaus, zog man den politischen Hauptgewinn aus der gemeinsamen Sache mit der armen Arbeiterschaft nicht aus deren Stimmen, sondern denen der progressiven berufstätigen Mittelschicht. Die Anfänge der arbeiterfreundlichen Gesetzgebung erfreute vor allem den Kleinadel und darüber hinaus jene Magnaten, die für die raffgierigen Fabrikherrn und deren Desinteresse am Wohlergehen der Fabrikarbeiter und deren Familien nur Verachtung übrig hatten. Sadler, Oaster and Ashley (Lord Shaftesbury) waren von rechtschaffener Feindseligkeit gegen die Fabrikanten geradezu 61 62
Die Schätzungen stammen von Fry (1979), S. 2. Fry (1979), S. 107.
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erfüllt. Sadlers Ausschuss von 1831/32, der die Kinderarbeit in den Fabriken beobachtete, sorgte für einen der heftigsten industriefeindlichen Berichte, die es je gab. Es ist typisch für die kapitalistische Verteidigung, dass sie nichts taugte. Damals, als die staatliche Politik den Armen auf Kosten der Reichen half, ging es sowohl darum, den Armen zu helfen, als auch darum, einigen altruistischen und neidischen Drittparteien zu gefallen. In jener Zeit wuchs auch eine besorgte Mittelschicht heran, gestärkt durch den Philosophischen Radikalismus63 (und, ein oder zweimal, auch durch einen gewissen und ungewöhnlich einflussreichen Master des Balliol College, Oxford). Obwohl inzwischen die breite Unterstützung aus dem Volk als gewolltes und erklärtes Ziel deutlich erkennbar war, dürften die Meinungsäußerungen der Mittel- und Oberschicht dem Staat in vielen Fällen doch mehr geholfen haben als so manch greifbarer politischer Vorteil, der sich aus irgendeiner fortschrittlichen Maßnahme ziehen ließ. An „falschem Bewusstsein“, an einer (an der Grenze zur Leichtgläubigkeit liegenden) bereitwilligen Zustimmung zu dem, was die Wortgewandten über die Pflicht des Staates sagten, wenn es um soziale Gerechtigkeit ging, mangelte es den unverbindlichen Vorhersagen zu politischen Gewinnen und Verlusten selten. Das vielleicht Verblüffendste an dem vergleichsweise raschen Übergang vom fast minimalen Staat unter George V. zur kapitalismusfeindlichen Parteiendemokratie unter Viktoria, die sich mit einer autonomen Bürokratie ausstattete (wenn auch in einem bescheideneren Maße als viele andere Staaten, die aus recht unterschiedlichen Gründen von Anfang an mächtiger und autonomer waren), ist der stumme Defätismus, mit dem die kapitalistische Klasse – statt aus der vorherrschenden Ideologie ihrer Zeit Zuversicht zu schöpfen, so, wie sie es sollte – sich in die Rolle des politischen Prügelknaben fügte und sich damit begnügte, gutes Geld zu machen. Deutschland hatte Humboldt und Frankreich Tocqueville, um darüber nachzudenken und laut auszusprechen, was man dringend über die rechten Grenzen des Staates und die furchteinflößenden Implikationen der Volksherrschaft wissen musste. England hatte nur Cobden, Bright und Herbert Spencer aufzubieten. Seine wichtigsten Köpfe hielten die utilitaristische Tradition aufrecht und bereiteten im Grunde die ideologischen Grundlagen des adversen Staates vor. (Historische Zufälle, die Frankreich die Jakobiner bescherten und Deutschland den vergötterten Nationalstaat einbrachten, waren dem Etatismus in England offenkundig weniger gesonnen. Dort mussten sich die Ideologen noch die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts vergleichsweise mächtig ins Zeug legen. Trotz der wohlklingenden Floskeln in seinem Buch Über die Freiheit, seinem Misstrauen gegen das allgemeine Wahlrecht und seiner Abneigungen gegen die Eingriffe der Volksherrschaft in die Freiheit, hatte Mill keine Doktrin, die den Staat beschränkt hätte. Sein Pragmatismus zog ihn mit großer Kraft zur anderen Seite hin. Für ihn waren staatliche Interventionen, die persönliche Freiheiten und Eigentumsrechte (sofern diese überhaupt zu unterscheiden sind) verletzten, immer schlecht, außer, wenn sie 63 Philosophical Radicalism ist die Sammelbezeichnung für eine Gruppe englischer Politiker, die sich den utilitaristischen Ideen Benthams und Mills verpflichtet fühlten, d. Hg.
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gut waren. Seinem durch und durch utilitaristischen Anstrich gemäß begnügte er sich damit, die Handlungen des Staates „nach ihren Verdiensten“ zu beurteilen, und zwar von Fall zu Fall. Der Verlauf, den das Arbeitsrecht nahm, zeigt das Versagen des kapitalistischen Interesses in Sachen Doktrin recht anschaulich. Das englische Recht vollzog zwischen 1834 und 1906 in der Gewerkschaftsfrage eine 360 Grad-Drehung, angefangen mit dem Verbot von Vereinigungen, um sowohl für das Angebot wie auch für die Nachfrage nach Arbeit den Wettbewerb einzuschränken, und endend mit der Legalisierung der Vereinigungen, um das Angebot einzuschränken und die Arbeiter von Verträgen zu entpflichten, wenn ihnen die Vertragsbindung unbequem wurde. Vieles, das für die Arbeiter die gleiche Wirkung gehabt hätte, wäre auch auf viel weniger provokativen Wegen zu erreichen gewesen. Dass man mit dem Grundsatz brach, Kapital und Arbeit vor dem Gesetz gleich zu behandeln, schrie eigentlich danach, so sollte man meinen. Aber eine kapitalistische Doktrin, die zur Gegenattacke geblasen und sich gelohnt hätte, gab es nicht, auch keine Berufung auf Grundprinzipien oder auf die damals noch unbestrittenen Wahrheiten der Politischen Ökonomie. Der englische Staat, der zweimal, nämlich 1641 und 1688, von der Zivilgesellschaft nahezu entwaffnet worden war, errang seine Vorherrschaft über die privaten Interessen auf dem Rücken der Sozialreformen wieder zurück und vollendete seine voreingenommene antikapitalistische Wende zögerlich und gemach binnen eines knappen Jahrhunderts. Auf dem Festland hat die Zivilgesellschaft den Staat nie entwaffnet. Obwohl er dort auf tönernen Füßen stand, blieb er mächtig, was Regierungsapparat und Repressionsfähigkeit angeht. Die antikapitalistische Wende als Mittel der Konsensbildung trat in diesen Ländern viel später auf, wurde dort aber auch viel schneller vollendet. Die Wendejahre, in denen der Kapitalismus zum politischen Prügelknaben wurde (wenn auch, finanziell gesehen, zum Top-Prügelknaben, wobei solch eminente Persönlichkeiten wie die Brüder Péreire, Jakob Mayer Rothschild, Gerson von Bleichröder oder John Pierpont Morgan gesellschaftlich akzeptiert wurden und im Stande waren, den Staat dazu zu bekommen, kapitalistischen Interessen zu dienen), gab es hüben wie drüben, 1859 in Frankreich, 1862 im Norddeutschen Bund und 1900 in den USA. Ungefähr 1859 begann Napoleon III., der sich selbst für einen Mann der Linken hielt, auf die Nationalversammlung zu setzen und die Gepflogenheiten der parlamentarischen Demokratie zu praktizieren, und zwar ganz bestimmte. Guizot und Odilon Barrot waren von der Bildfläche verschwunden, ersetzt von solchen Männern der radikalen Linken wie Jules Favres, Jules Ferry und Gambetta, wobei nur der „scheußliche Thiers“ die ungeliebte Fortsetzung der bürgerlichen Monarchie repräsentierte. Streiken wurde 1864 legal, und 1867 kam ein wahrer Freibrief für die Gewerkschaften dazu, begleitet von kleineren Maßnahmen wie Arbeiterrenten und Festpreise für Brot. Bei alledem zeigte Napoleon III. sein wohlwollendes Interesse an der Förderung der Gewerkschaftsverbände. Vielleicht war es Zufall, dass er zur gleichen Zeit, als er sich der Konsenspolitik zuwandte, eine subtile
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Gleichgültigkeit gegenüber den kapitalistischen Interessen zeigte, und zwar als er die französische Eisen- und Stahlindustrie sowie die Maschinen- und Textilindus trie für den Wettbewerb und damit für die effizientere Konkurrenz aus England und Belgien öffnete. Im weitverbreiteten Glauben, dass eine Krämernation eine solche wirtschaftliche Gefälligkeit mit der notwendigen politischen Unterstützung honorieren würde, die er für seine transalpinen Ambitionen brauchte, schickte er 1859 Chevalier, einen früheren Ökonomieprofessor mit jenen Freihandelsüberzeugungen, die eine derartige Mission hervorzurufen neigt, zu Cobden nach London. Die beiden Gesinnungsgenossen brauchten nicht länger als eine Stunde, um einen komplett neuen Freihandelstarif auszuhandeln, eine böse Überraschung sowohl für den französischen Finanzminister wie auch für die betroffenen Fabrikanten. Vielleicht ist es nicht viel mehr als eine hübsche Anekdote (zumindest kann jeder, der ein wenig mit Tarifverhandlungen vertraut ist, darüber schmunzeln), aber der Vorfall ist bezeichnend für die Rücksicht, die der französische Staat, damals wie heute, auf die Interessen seiner Industriellen nimmt. Eine andere Facette des adversen Staates, die im 2. Kaiserreich eine Rolle zu spielen begann und in der 3. Republik äußerst bedeutsam wurde, war die autonome Entwicklung des Beamtentums. Das französische Berufsbeamtentum, ein Werk von Colbert, Louvois, Machault, Maupeou und, wie üblich, Napoleon III., war zunächst eng mit Eigentum und Unternehmertum verwoben; zum einen wegen der Übertragbarkeit und des (ursprünglich) vergleichsweise hohen Kapitalwerts der Dienstgebäude, zum anderen wegen der Doppelrolle, welche die meisten Staatsdienerdynastien in der königlichen Verwaltung und in den wichtigsten Kapitalgewerben ihrer Zeit spielten, nämlich dort, wo es um die Verpflichtung von Streitkräften und die Landverpachtung ging. Der Julimonarchie lag im Vergleich zu den meisten übrigen Monarchien wenig daran, die Gesellschaft zu beherrschen. Aber als sie 1848 zu Ende ging, war die Beamtenschaft mächtiger als je zuvor, und zudem weitaus zahlreicher, zählte aber nicht mehr zu den großen Anteilseignern der französischen Industrie und besaß auch sonst wenig Eigentum. (Marx hebt in seiner Charakterisierung des 2. Kaiserreiches hervor, es sei für jene Zeit bezeichnend gewesen, dass außer den 500.000 Soldaten 500.000 Beamte die Zivilgesellschaft erstickten.) Die Entfremdung von Kapital und Beamtentum setzte in der 3. Republik noch zusätzliche Akzente. Obwohl die leitenden Beamten ganz gewiss zur Oberschicht gehörten (sehr zum Leidwesen von Gambetta) und ihre Dynastien wahrten, bestand ihr Eigentum doch hauptsächlich in ihren Renten. Vom Unternehmerkapitalismus verstanden sie nichts und hatten mit ihm auch keinerlei gemeinsame Interessen. Als man dann 1906 die Bezüge der Abgeordneten nahezu verdoppelte, wurde der Beruf des Gesetzgebers über Nacht zum attraktiven Lebenserwerb. Wie auch immer die soziale und wirtschaftliche Stellung der Beamten jener Zeit gewesen sein mag: damals waren Kapital, Industrie und Land zumindest im Gesetzgebungsbereich stark vertreten. Von da an aber wurde die Republik der Ehrenwerten rasch zu einer „Professorenrepublik“, um Thibaudets vielzitierte Phrase zu bemühen.
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Gemessen am beruflichen Hintergrund der späteren Gesetzgeber Frankreichs ist sie auch eine Professorenrepublik geblieben. Anders als Frankreich hatte Deutschland keine „bürgerliche“ Revolution (was nichts darüber sagt, wie der Verlauf der deutschen Geschichte ausgesehen hätte, wenn es nicht so gewesen wäre). Es kannte auch keine Julimonarchie, die das deutsche Bürgertum dazu ermuntert hätte, sich selbst zu bereichern. Gleichwohl hat das deutsche Bürgertum (wenn auch erst spät in der Mitte des 19. Jahrhunderts) es nicht versäumt, dergleichen zu versuchen. Der preußische Staat widerstand im romantischen Antikapitalismus unter Friedrich Wilhelm IV. (d. h. bis 1858) den aus dem Rheinland importierten nationalliberalen Ideen, räumte aber nichtsdestotrotz einen großen Teil des Verwaltungswirrwarrs und jener unsinnigen Eingriffe beiseite, die das Unternehmertum behindert hatten. Dieser nicht unbeträchtliche Wirtschaftsliberalismus war ein (wenn auch kein großer) Grund für die Hochzeit des neuen Unternehmertums, die für die 1850er Jahre kennzeichnend ist. Als Bismarck 1862 das höchste Amt im Staate antrat, mussten die Nationalliberalen all ihre Hoffnungen, die Politik des Staates prägen zu können, endgültig begraben. Sofern ihre Charakterisierung als Partei des Kapitals nicht zu plump erscheint, kann man sagen, dass ihr Verhalten, das sie dann zeigten, ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Vertreter des Kapitals es hinnahmen, von nun an eine eher untergeordnete politische Rolle zu spielen. Bismarck nutzte die militaristische Obsession Wilhelms I. direkt wie indirekt, indem er sicherstellte, dass den gesamtdeutschen und außenpolitischen Interessen absolute Priorität eingeräumt wurde, ganz gleich welche steuerliche Belastung der deutschen Industrie daraus erwuchs. Die gängige Erklärung für seinen Handlungsspielraum verweist natürlich auf die geschickt ausgehandelte Waffenruhe mit den Sozialdemokraten, die zeitweise sogar in eine regelrechte Allianz ausartete. Es ist zwar einfach, aber nicht falsch, wenn man über Bismarck und seine Politik sagt, die bemerkenswert fortschrittliche Gesetzgebung in Bezug auf soziale Sicherheit und Wohlfahrt sei der Preis gewesen, den Bismarck dem deutschen Kapital aufnötigte, um im Innern den Frieden und die Zustimmung zu haben, die er brauchte, um seine vorrangigen Ziele in der Außenpolitik wirksam zu verfolgen. Letztere waren zum beiderseitigen Vorteil der deutschen Industrie und der deutschen Finanzwelt. Es trifft es wohl genauer, wenn man sagt, dass die deutsche Industrie, die technisch und kommerziell ganz obenauf schwamm, aus nahezu jeder einigermaßen kompetenten und dauerhaften Außenpolitik – egal, ob sie aktiv oder eher passiv gewesen wäre – ihren Vorteil hätte ziehen können, zumindest so lange, wie diese die Deutsche Zollunion gewährleistete. Sie brauchte wirklich nicht mehr, um zu florieren. Wenn man in der Außenpolitik mehr als das erreichen will, dann kostet dies wahrscheinlich mehr, als es wert ist. Wie auch immer, die grundsätzliche Übereinkunft, die Bismarck mit einem Großteil der sozialistischen Linken getroffen hatte, und die steuerlichen Erfordernisse seiner Außenpolitik waren nicht die einzigen Ursachen, die den Preußischen Staat und später das 2. Reich Kapital aus einem strengen Auftritt schlagen ließen.
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Der Kathedersozialismus (indes eine offenbar genauso ungenaue Bezeichnung wie „Professorensozialismus“ oder „Lehrersozialismus“), von dessen Geist einige der ehrgeizigsten und hingebungsvollsten Kräfte im Beamtentum ergriffen wurden, trug ebenfalls zu diesem Ergebnis bei, zum einen im Rahmen der formalen Erziehung und zum anderen durch den Einfluss der Forschungen, die vom Verein für Socialpolitik durchgeführt wurden. Obwohl dieser Verein mächtiger war als die Fabian Society in Großbritannien und auch früher als jene die nationale Gesetzgebung und Regulierung beeinflusste, ist ihre relative Überlegenheit doch weitgehend der Stärke und dem politischen Gestaltungspielraum zuzuschreiben, den das deutsche Beamtentum besaß. Es hatte Schule, schon seit Freiherr von Stein, dass die Beamten nicht nur dem Wohl des Staates dienten, sondern ihn auch definierten und auslegten, und dass sie bei der „reinen Umsetzung“ des Willens ihres Herrn keine falsche Bescheidenheit an den Tag legten. Bedenkt man außerdem, dass sie wenig oder gar nicht vermögend waren und ihre familiären Wurzeln im kargen Osten hatten, während jene derer, die den deutschen Kapitalisten repräsentierten, eher im Westen und Norden lagen, dann dürfte einem die adverse Beziehung zwischen dem Deutschen Reich und dem Kapital zur Zeit der größten organisatorischen und technischen Errungenschaften um einiges klarer werden. Der Bruch mit Russland, die fiebrige Außenpolitik Wilhelms II. und der Zusammenstoß mit Frankreich und England 1914 bildeten den Höhepunkt eines halben Jahrhunderts politischer Entscheidungen, die anfangs sehr, danach jedoch zusehends weniger rational und kompetent umgesetzt wurden und die eigentlichen Interessen des deutschen Kapitals bedenkenlos dem opferten, was der Staat selbst für das allgemeine nationale Wohl hielt. Erreicht wurde dies auch dank der Unterstützung weiter Teile der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung. Der Grund dafür, warum man den Amtsantritt von Theodore Roosevelt64 zum Beginn des adversen Verhältnisses zwischen dem amerikanischen Staat und dem Kapital erklärt (sofern es überhaupt einen guten Grund dafür gibt, historische Wenden genau zu datieren), liegt hauptsächlich darin, dass ein früheres Datum die Jahre von McKinley im Weißen Haus einschlösse. Dies stünde im krassen Gegensatz zur hier vertretenen These. Der Wahlkampf zwischen McKinley und William Jennings Bryan war der letzte, in dem das Geld allein und allem anderen zum Trotz über den Kandidaten entschied, der gewählt werden sollte. Die späten Jahre des 19. Jahrhunderts sind die letzten Zeugen für ein nie mehr da gewesenes Ausmaß, in dem die ausübende Macht im Staat weit mehr von der Unterstützung der kapitalistischen Interessen als von der Popularität der Amtsführung abhing. Die politische Couleur der Amtsperioden von Theodore Roosevelt steht dazu im scharfen Kontrast. Was er in Sachen Antitrust, Anti-Eisenbahnen und Anti-Nützlichkeit erreicht hat, ist für seine Zeit gewaltig gewesen, dürfte aber für die Standards seiner Nachfolger mickrig erscheinen. Mag sein, dass er mehr bellte als er biss, dass die Demagogie eher seine Sache war als die unauffälligen Erfolge und dass seine Ad64 Roosevelt ersetzte als Vizepräsident den 1901 ermordeten US-Präsidenten William McKinley im Amt, d. Hg.
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ministration in Wirklichkeit eine weniger populistische und gewerkschaftsfreundliche Wende markierte und weniger in die Kleidung der Demokraten schlüpfte, als das demagogische Getöse vermuten lässt. Dennoch, kurzfristig dürfte sein Bellen wirkungsvoller gewesen sein, als es ein Biss hätte sein können, um in den Augen der Öffentlichkeit eine Kluft zwischen ihm und der Großindustrie zu schaffen und um die Unterstützung des Volkes für seine Zwecke zu mobilisieren. Eines darf man wohl mit Fug und Recht sagen: Anders als in Britannien und auf dem Festland, wo es einige Regimes gab, die wenig oder gar nicht auf Konsens angewiesen waren, gab es in Amerika nie eine Regierung, die nicht fast ausschließlich von Zustimmung abhing, um sich Autorität zu verschaffen. Die Regierung unter Lincoln, die im Bürgerkrieg die Minderheit vertrat, hätte sonst kaum die Unterstützung der Mehrheit behalten. (Das ist genau der Punkt in Actons These der potentiell tragischen Implikationen einer Demokratie in einer nicht-homogenen Gesellschaft.) Zustimmung hieß entweder Stimmen oder Einfluss. Die Streiter des Volkes setzten in der Regel auf die Stimmen. Die anderen setzten vor allem auf den Einfluss der konzentriert auftretenden privaten Macht, sei es die von Menschen oder Organisationen, die zwischen dem Staat und der amorphen Masse der Bürger steht und der Gesellschaft Struktur verleiht.65 Der Wechsel zwischen den beiden Formen der Konsensbildung, der direkten und der indirekten Form, pflegte im politischen Leben Amerikas so ziemlich dieselbe Rolle zu spielen, wie es die Alternanz der ideologisch geprägten Tendenzen in anderen Gesellschaften zu tun pflegte bzw. pflegt, wie z. B. der konservativen und progressiven, christlichen und laizistischen, monarchistischen und republikanischen Strömungen. Diese Form der Alternanz endete in den USA mit Theodore Roosevelt. Es gibt noch zwei Parteien, aber beide sind Streiter für das Volk. Auch wenn eine weniger kapitaladvers ist und es ihr weniger als der anderen einfach nur um Einfluss geht, so ist der Unterschied doch nur ein geringfügiger, zumal Einfluss heutzutage kaum mehr eng mit Kapital verknüpft ist. Das Beispiel Amerika, wo materielle Ungleichheiten lange Zeit mehr bewundert als bedauert wurden und wo die Umverteilung von reich zu arm und die von den Reichen zur Mittelschicht erst seit kurzer Zeit zum wichtigsten Instrument der Konsensbildung avancierte, taugt wenig zur Klärung des Verhältnisses zwischen Konsens durch Wählen und Konsens durch Einfluss. Nehmen wir stattdessen irgendein „Land“, das anfangs in perfekter Weise repressiv ist, sagen wir ein Konzentrationslager. Um gemäß der Ziele seines Kommandanten erfolgreich zu funktionieren, braucht es die Loyalität oder Unterstützung der eingeschüchterten und ausgezehrten Insassen nicht, ganz egal wie zahlreich diese auch sein mögen. Im Vergleich dazu braucht es die Loyalität oder Unterstützung der weniger zahlrei65 Der Philosoph und bedeutende Marxforscher Leszek Kolakowski meint, dass die Zivilgesellschaft ohne Privatbesitz an Produktionsmitteln keine Struktur haben könne (Encounter, Januar 1981). Wenn dem so ist, dann ähneln sich der (von Tocqueville beschriebene) demokratische Antrieb, die Struktur zu zerstören, Mittelsleute zu umgehen und sich dem Prinzip „Jeder eine Stimme“ anzudienen, und der sozialistische Antrieb, Privateigentum an Kapital zu zerstören, weitaus mehr, als es scheint.
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chen, wohlgenährten Vertrauten sehr wohl, und die des Dutzends schwerbewaffneter Wärter ist sogar wesentlich. Selbst wenn er es könnte, wäre der Lagerkommandant schlecht beraten, wenn er versuchte, die Insassen für sich zu gewinnen, indem er ihnen die Rationen der Wächter verspräche. Die Untergruppe im Lager, die aus Kommandant und Wärter, ist insofern im Kern eine reine Wahldemokratie, als der Kommandant unter all den schwerbewaffneten Wächtern eine Mehrheit an Unterstützern finden muss. Das heißt, hier ist das Zählen der Köpfe wichtig (auch wenn es, formal gesehen, keine Wahl gibt). Wenn sich nun unter Einschluss der Vertrauten eine größere Untergruppe herausbildete, dann müsste man auf die größere Schlagkraft der Wächter zurückgreifen, um die „Stimmen“ der Vertrauten zurückzugewinnen und jenen Konsens der Mehrheit herzustellen, der die Art der Lagerführung des Kommandanten betrifft. Die stillschweigende Androhung, die Abweichler zu den Insassen zu stecken, sollte im Normalfall genügen. Wenn nun aus irgendeinem Grund die demokratische Untergruppe größer und die Konsensregel auf die Insassen ausgedehnt würde, dann müsste man diese unterteilen und die Unterstützung von einem Teil erheischen (sofern das überhaupt möglich wäre), indem man ihm die Rationen des anderen Teils verspräche. Je geringer oder unnötiger der Einfluss der Wächter und Vertrauten ist, desto mehr nähert sich das ganze Camp einer reinen Wahldemokratie an, in der die Zahl der Köpfe den Konsens bestimmt und die Mehrheit die Rationen der Minderheit erhält. Es ist wohl Ausdruck einer eigenartigen Verwirrung – einer, der viele Staaten nicht weniger erliegen als ihre Bürger –, wenn man will, dass der Staat auf Konsens baut und der Staat von allen ist, der über allen Klassen und Gruppeninteressen steht, keiner Gruppe verpflichtet und unparteiisch darin, seine Vorstellung vom höchsten Gut der Gesellschaft umzusetzen. Wenn der Staat Partei ergreift, dann bildet er nicht nur den notwendigen Konsens. Er „lernt auch bei der Arbeit“, wenn auch womöglich unbewusst und unwissentlich. Mit jeder Maßnahme, mit der er einen Untertan oder eine Gruppe von Untertanen begünstigt, das althergebrachte oder auf freien Verträgen beruhende System der Belohnungen und Verpflichtungen modifiziert, das dominierende soziale und ökonomische Arrangement bis auf seine eigenen Interventionen ändert, muss er mehr von den Angelegenheiten seiner Untertanen wissen, einen besseren und größeren administrativen Apparat haben und, in der Folge, zusätzliche Fähigkeiten besitzen, um weitere Maßnahmen ersinnen und umsetzen zu können. Zwei unvorhersehbare Kausalitätsstränge liegen in dieser Vorgehensweise verborgen und führen am Ende zu einem sich selbst erhaltenden Kreislauf. Der eine verläuft von der Intervention zu der Fähigkeit zur Intervention, so wie körperliche Arbeit zu stärkeren Muskeln führt. Der andere führt von einem größeren Staatsapparat zu einem veränderten Gleichgewicht der Interessen in der Gesellschaft, mit der tendenziellen Neigung zu mehr Staatseingriffen. Der Staat weitet seinen aktivistischen Wirkungskreis zum Zwecke der Selbstvergrößerung. Diese Stränge verlaufen innerhalb des Staatsapparates und nicht zwischen ihm und der Zivilgesellschaft. Ein anderer, womöglich noch potenterer Kreislauf be-
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wirkt in der Gesellschaft, dass staatliche Wohltaten eine Abhängigkeit von oder eine Sucht nach mehr Wohltaten erzeugen. Es fällt leichter, die Mechanik solcher Kreisläufe zu verstehen, als ihrer Stabilität zu vertrauen, d. h. der Fähigkeit eingebauter Regulatoren, die sie davon abhalten, außer Kontrolle zu geraten.
Die Lizenz zum Flicken Der Utilitarismus begünstigt eine aktivistische Regierung, weil er so gebaut ist, dass eine vollständige Klasse an Gründen für ein langsameres Vorschnellen ignoriert wird.
Wer die Dinge aufgrund ihrer Meriten und aufgeschlossen beurteilt, dem beschert das Schicksal aufgeschlossene Köpfe. Es wäre unhistorisch und auch sonst falsch, wenn man schlösse, der Staat täte einfach nur das, was sein politisches Überleben am wirksamsten sichere und seine sonstigen Ziele, welche auch immer, verwirkliche. Im Gegenteil! Von Zeit zu Zeit ist er gehalten, vergleichsweise ineffiziente Mittel zur Erreichung seiner Ziele zu wählen und diese sogar hinauszuzögern oder ihre Umsetzung zu behindern, weil seine zulässigen Mittel bis zu einem gewissen Grad durch den Zeitgeist, den Ethos von Zeit und Ort, vorbestimmt sind. Auf Handlungen, für die er gewissermaßen keine ideologische Lizenz hat, kann er nicht zurückgreifen, jedenfalls nicht, wenn er das störungsanfällige Gebilde aus Repression, Konsens und Legitimität, das er mindestens erhalten, wenn nicht gar stärken möchte, keiner Gefahr aussetzen will. Hinzu kommt, dass die Ideologie früher oder später die Lizenz für genau jene Art von Handlung erteilt, die der Staat aus Effizienzgründen ergreifen sollte; so, wie das Huhn dem Ei folgt, oder das Ei dem Huhn – ein Abfolgemodus, der das soziale Leben zu einem großen Teil zu steuern scheint. Wenn wir also von einer Idee sprechen, „deren Zeit gekommen ist“ (die Entwicklung der „Basis“, welche die entsprechende „vorherrschende Ideologie“ erzeugt), dann sollten wir nicht vergessen, was die gleichermaßen interessante Umkehrversion beinhaltet, nämlich, dass die Zeit gekommen ist, weil die Idee sie aufgerufen hat (der „Überbau“, der eine entsprechende Entwicklung der „Basis“ hervorbringt). Mittels dieser Vorüberlegung kann man die reziproke Beziehung zwischen dem adversen Staat und dem Utilitarismus besser ins Bild setzen. Es ist allgemein üblich, drei Evolutionsstufen der staatlichen Funktionen zu unterscheiden (wiewohl man sie eher als heuristische denn als tatsächliche, historische Stufen begreifen sollte). Die erste beschreibt in etwa den Hobbeschen Staat, der ein grundlegendes Gefangenendilemma auflöst, indem er Respekt vor Leben und Eigentum durchsetzt, wobei diese Durchsetzung auch den Schutz vor fremden Staaten einschließen soll. Wenn man die Politische Wissenschaft als Wirtschaftswissenschaft betreibt, dann kann man die Anfangsstufe des Staates mit einer Monopolfirma gleichsetzen, die nur ein Produkt herstellt, nämlich ein öffentliches
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Gut, z. B. „Ordnung“. Der Staat auf der nächsten Stufe, eine Art Bentham-Staat, würde dann einer Firma gleichen, die eine Reihe verschiedener Güter und Dienstleistungen anbietet, deren Profit als Unternehmen am freien Markt gegen irgendein Gefangenendilemma bzw. Trittbrettfahrerproblem zu kämpfen hat und somit zur Kostendeckung Zwang erfordert. (Freiwillige Arrangements ohne Zwang, so ist anzunehmen, würden entweder nur im entfernten Sinne Ersatzlösungen bereitstellen oder verschiedene, wahrscheinlich kleinere Quantitäten an annähernd ähnlichen Lösungen anbieten.) Welche zusätzlichen Güter und Dienstleistungen der Staat anbieten und welche zusätzlichen Funktionen er übernehmen wird, entscheidet sich nach deren Verdiensten. Auf der dritten Stufe seiner Aufgabenentwicklung wird der Staat all jene so gewählten öffentlichen Güter herstellen, und obendrein soziale Gerechtigkeit. Eine Trennlinie, wie die zwischen Naturzustand und Staat, gibt es zwischen diesen Stufen nicht. Jede Stufe enthält alles, was die vorherige enthält, und ist daran zu erkennen, dass eine Aufgabenform plötzlich hinzutritt, ohne dass eine andere dafür aufgegeben würde. Wenn es im Sinne der Konsenssuche für den Staat politisch vorteilhaft ist, die Arbeitszeiten in den Fabriken zu begrenzen und Sicherheitsregeln festzulegen, Straßenschilder aufzustellen, Leuchttürme zu errichten, den Luftverkehr oder Schlachthöfe zu kontrollieren, eine Kanalisation anzulegen, Reisenden eine Impfpflicht aufzuerlegen, Schulen zu unterhalten und Eltern dazu anzuhalten, ihre Kinder dorthin zu schicken, Bauern beizubringen, wie man einen Hof führt, und Bildhauern, wie man eine Skulptur schafft, gängige Praktiken zu korrigieren und Sitten zu reformieren, oder Standards zu setzen, dann ist es die utilitaristische Doktrin, die ihm die Lizenz erteilt hat, all diese schrittweisen Verbesserungen durchzuführen. Der Sinn des Verfahrens, das inzwischen schon zur unbewussten Gewohnheit geworden ist, erschließt sich am besten angesichts der zwei Stoßrichtungen, in denen argumentiert wird. Die erste Stoßrichtung zielt auf eine Apriori-Ablehnung jeglicher Form von Konservatismus. Es wird implizit abgestritten, dass bestehende Arrangements etwas in sich trügen, das für sie spräche. Um es in der unnachahmlichen Art auszudrücken, mit der Michael Oakeshott seinen Lesern Dinge vor Augen führt: der Utilitarist argumentiert so, „als ob man Arrangements nur deshalb installiert, damit man sie dann später repariert[;]“66
also so, als ob alles unvoreingenommen betrachtet werden könnte und sollte, und das alles im Hinblick darauf, ob man daran herumschrauben sollte oder nicht. Die zweite Stoßrichtung des Arguments (die man so auffassen kann, als ob sie die erste einschlösse)67 zielt auf die Idee, dass Handlungen dann gut seien, wenn 66 „as if arrangements were intended, for nothing else but to be mended“, Oakeshott (1956), S. 2. 67 Man könnte z. B. sich ausbedingen, dass kein Arrangement verändert werden darf, es sei denn, dass auf diese Weise der Nutzenzugewinn etwaige durch die Veränderung bedingte Nutzenverluste überstiege, wobei der Nutzen neben dem üblichen Nutzen im engeren
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ihre Konsequenzen gut seien. (Der „Handlungsutilitarismus“ erzielt dieses Ergebnis direkt, der „Regelutilitarismus“ indirekt). Gemäß dieser Idee sollten wir alle Arrangements ändern, die durch die Änderung verbessert würden. Obwohl J.S. Mill im Ruf steht, ein Nicht-Interventionist gewesen zu sein, spiegelt diese Idee genau seine Position wider. Nach seiner Auffassung enthielt jede Abkehr vom Laissez faire, die eine „unnötige Ausweitung“ der staatlichen Macht mit sich führt, ein „gewisses Übel“, es sei denn, „irgendein großes Gut“ würde es erfordern – ein Gut, das größer als das Übel ist, so dass das Verhältnis zwischen guten und schlechten Folgen ein gutes ist. Man muss Mill zumindest zu Gute halten, dass er eines klargestellt hat: Das Argument für das Flicken muss in seiner allgemeinen Form als Ausgleich für eventuelle schlechte Folgen (wenn auch nur als „Leerformel“) etwas schaffen, das aus dem Plädoyer für Reformen bestehender Arrangements eine etwas genauere Aufgabe macht. Die guten Folgen sollten dann schon sehr gut sein. Die Handlungen nach ihren Konsequenzen zu beurteilen, ist schon eine schwierige und besondere Regel, was man schon allein an der intrinsischen Natur der Konsequenzen erkennen kann. Wenn wir die Konsequenzen nicht kennen, die einer Handlung folgen werden, dann bedeutet das für die Regel, dass wir eine gute Handlung nicht von einer schlechten Handlung unterscheiden können, bis die Folgen zutage getreten sind. Von den absurden Moralimplikationen einmal abgesehen, erkennt man so, wie nutzlos die Doktrin letztlich ist. Wenn man allerdings die Konsequenzen kennt oder „sicher“ zu kennen glaubt, dann nur, weil wir denken, dass sie ganz gewiss aus der besagten Handlung folgen müssen. Falls dem so ist, dann sind sie, funktional betrachtet, von der Handlung genau so wenig zu trennen wie der Tod von der Enthauptung. Wenn wir also in einem solchen Fall sagen: „Diese Handlung ist gut, weil ihre Folge gut ist“, dann sagen wir eigentlich nicht mehr als, dass die Handlung gut sei, weil sie, als Ganzes genommen, gut sei. Das läuft darauf hinaus, genaue jene Reformen zu empfehlen, die bestehende Arrangements verbessern – eine gänzlich leere Regel. Gleichwohl erlaubt uns der Utilitarismus nicht, eine Handlung (sagen wir: Almosen geben) als gut zu betrachten, wenn die Folge schlecht ist (Der Bettler vertrinkt das Geld und wird von einem Auto zum Krüppel gefahren). Er verlangt von uns vielmehr, dass wir eine Handlung gutheißen, wenn wir ihre Folge gutheißen würden. Zwischen den Grenzfällen, in denen wir die Konsequenzen entweder überhaupt nicht oder nicht ganz sicher kennen, liegt ein riesiges Problemfeld, in dem der Utilitarismus mit Fragen unvollständiger Vorhersehbarkeit zu kämpfen hat. In diesem Bereich gibt es für die politischen Maßnahmen mehrere alternative Konsequenzketten („ex ante“), von denen nur eine wirklich werden kann („ex post“). Die ex ante Konsequenzen haben offenbar mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeiten. Die Richtschnur für politische Handlungen heißt daher nicht länger, „maximiere den Nutzen“, sondern, „maximiere den erwarteten Nutzen.“ In Sinne auch den Wert einschlösse, den man dem reinen in Ruhe lassen eines bestehenden Arrangements beimessen könnte.
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dem Moment aber, in dem wir das sagen, treten wir eine Lawine von Problemen los, von denen keines gelöst werden kann, außer durch Rekurs auf eine Autorität. Jede der alternativen Folgen kann für verschiedene Menschen ganz verschiedene Wahrscheinlichkeiten haben. Diese Personen können indes (a) gut oder schlecht informiert sein und (b) schlau oder dumm darin sein, ihre Information in Wahrscheinlichkeitsaussagen umzuwandeln. Macht es angesichts der bayesianischen Natur, welche die fragliche Wahrscheinlichkeit hat, überhaupt Sinn, zu sagen, dass die Personen bei der Bewertung unsicherer Konsequenzen mit falschen Wahrscheinlichkeitsthesen arbeiten? Auf der anderen Seite kann man wohl nur schwer akzeptieren, dass über eine politische Maßnahme auf Grundlage von Wahrscheinlichkeitsannahmen entschieden werden soll, welche die Personen, die dann unter den Folgen Freud oder Leid erfahren werden, möglicherweise schlecht informiert, illusorisch, naiv oder voreingenommen aufgestellt haben. Was ist, wenn sie von Propaganda verleitet wurden? Und wenn mehrere Menschen von einer politischen Maßnahme betroffen sind, wessen subjektive Wahrscheinlichkeiten sollen dann für die Bewertung der alternativen Konsequenzen herangezogen werden? Sollte jeder die Folgen für sich bewerten, und zwar gemäß seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung? Es ist gewiss verführerisch, einige dieser Wahrscheinlichkeiten beiseite zu schieben, die „beste“ zu bewahren oder einen ausgewogenen Schnitt aus einigen der besten zu errechnen und ihn als den zu erwartenden Nutzen zu maximieren.68 Wer immer die Macht hat, die „beste“ Bewertung auszuwählen oder die Methode zur Berechnung einer gemischten Bewertung festzulegen, wählt in Wirklichkeit eigentlich seine eigene Bewertung. Da jede alternative Konsequenz in der Lage ist, mehrere Personen zu betreffen, würde das „Maximieren des zu erwartenden Nutzens“ ohnehin keine hilfreiche Regel sein, selbst dann nicht, wenn man die Probleme, die dem Begriff „zu erwarten“ anhängen, durch Zuflucht zu einer Autorität als erledigt betrachten könnte. Die Bedeutung des „Nutzens“ muss auch geklärt werden, damit man sagen kann, er repräsentiere die Summe der Nutzen aller zu recht betroffenen Personen. Um es in der Sprache des Handels auszudrücken: Der Nutzen muss interpersonal eingebunden, ein „sozialer“ Nutzen sein. Die interpersonale Integration des Nutzens ist nicht weniger problematisch als die interpersonale Wahrscheinlichkeit. Einige ihrer Aspekte werden im nächsten Abschnitt behandelt, um zu zeigen, dass auch ihre Lösung von einer Autorität abhängt. Als Bentham in Fragment on Government das Glück der größten Zahl zum „Maßstab für richtig und falsch“ erhob, führte er offensichtlich keinen Diskurs über das moralisch Richtige, sondern darüber, wie man beim alltäglichen Geschäft der Gesetzgebung und Verwaltung unter verschiedenen Handlungen eine Auswahl 68 Frank Hahn (1982) behandelt diese Frage in besonders klarer Weise in seinem Aufsatz „On Some Difficulties of the Utilitarian Economist“ auf S. 195 – 198. Vgl. auch Hammond (1982).
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treffen kann. Auch wenn eine solche Trennung bei genauerer Überprüfung kaum akzeptiert werden kann, findet sie doch unter praktisch denkenden Menschen bereitwillig Gehör. (Es mag die Dinge zwar nicht entschuldigen, doch sollte man daran erinnern, dass Bentham das Fragment großenteils schrieb, um Blackstones Lehre der legislativen Enthaltsamkeit zu bekämpfen, die in seinen Augen nur Ausdruck von Bequemlichkeit und Trägheit war.) Das utilitaristische Rezept, das der Staat und seine führenden Diener sich zu eigen machten, bestand darin, bestehende Arrangements zu untersuchen, im Parlament und in der Öffentlichkeit über sie zu berichten und Reformen vorzubereiten, die gute Folgen nach sich ziehen würden. Die vorgeschlagene Änderung wäre dann entweder eine, für die eine „tatsächliche Nachfrage“ bereits wahrnehmbar ist (wenn auch nicht immer oder vor allem von den künftigen Nutznießern), oder eine, für die eine solche Nachfrage generierbar ist. Es hat den Anschein, als ob die Regierungen in dem Maße, in dem sie zunehmend von der Unterstützung der Bevölkerung abhängig wurden (in England war dies im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Fall), nicht mehr die schlafenden Hunde in Ruhe ließen, sondern lieber die Nachfrage nach Änderungen weckten. (Weder der umfassend repressive Staat, noch der gänzlich legitime Staat, hat ein rationales Interesse daran, schlafende Hunde zu wecken.) Der Ansatz schrittweiser Verbesserungen, bei dem man endlos Gesellschaftszustände inspiziert, bis man einen findet, den man in nützlicher Weise „verbessern“ könnte, wobei man zunächst Unterstützung für die Verbesserung und sodann durch die Verbesserung erhält, um anschließend, auf diese Weise gestärkt, zum nächsten Zustand zu schreiten, hat sozusagen den Zweck, die unmittelbare Konsequenz jeder einzelnen Handlung von den kumulativen Konsequenzen der Handlungsserie zu trennen.69 Obwohl die Summe der Bäume den Wald ausmacht, weiß man, dass der Baum-für-Baum-Ansatz dazu führt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Handlungen aufgrund ihrer Konsequenzen zu beurteilen, ist u.a. deshalb so tückisch, weil Letztere bei genauem Hinsehen praktisch eine unendliche Kette formen, die größtenteils in der unbestimmten Zukunft liegt. In der menschlichen Gesellschaft sind die ultimativen Konsequenzen generell unbekannt. Die Lage ist hier noch hoffnungsloser als in den weniger in sich verschlungenen Welten. Darin liegt die anrührende und zugleich gefährliche Unschuld der utilitaristischen Standardbegründung für einen aktiven Staat. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, wozu Lehrbücher aufrufen, wenn es darum geht, wie der Staat mit „Externalitäten“ umgehen soll: „Das Vorliegen von Externalitäten rechtfertigt staatliche Eingriffe nicht automatisch. 69 Es ist nur recht und billig, den Leser daran zu erinnern, dass Sir Karl Popper in der 2. Ausgabe seiner Poverty of Historicism von 1960 auf S. 67 die schrittweise „Sozialtechnik“ (in Abgrenzung zur utopischen Variante) aus dem Grunde befürwortet, dass man bei ihr, „beständig auf der Hut vor ungewollten, unvermeidlichen Konsequenzen“ sei. Auf der Hut zu sein, ist gewiss eine gute Einstellung. Wenn die Konsequenzen einfach zu identifizieren sind, dann ist sie zweckmäßig; wenn sie es nicht sind, dann nicht.
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Nur ein expliziter Vergleich der Kosten und Nutzen kann vernünftige Gründe für eine solche Entscheidung bereitstellen.“70 Die Aussage ist auf tadellose Weise sowohl verhalten als auch entwaffnend. Was könnte unschuldiger und einwandfreier sein, als sich der Intervention zu enthalten, es sei denn der Kosten-Nutzen-Vergleich spräche dafür? Indes hier tut man so, als ob der logische Status der Abwägung von Kosten und Nutzen, von guten und schlechten Konsequenzen, eine ausgemachte Sache wäre; vielleicht eine technische Herausforderung, aber philosophisch unkompliziert. Kosten und Nutzen reichen aber in die Zukunft (Vorhersagbarkeitsprobleme), und Vorteile erwachsen in der Regel nicht oder nicht nur den Personen, die die Kosten tragen (Externalitätsprobleme). Deshalb hängt das Abwägen im Wesentlichen sowohl von der Vorausschau als auch von interpersonalen Vergleichen ab. Wenn man es als eine pragmatische Aufgabe der Faktenanalyse betrachtet, als eine Sache der Information und des Messens, dann tut man so, als ob die ersten und weitaus größeren Probleme irgendwie bereits gelöst wären. Aber sie sind es nicht. Wenn es so gut wie ausgeschlossen ist, die ultimativen oder gar alle Konsequenzen von Handlungen in komplexen gesellschaftlichen Angelegenheiten vorherzusehen, während die unmittelbaren Konsequenzen kristallklar in einer expliziten Kosten-Nutzen-Analyse dargelegt werden können, dann steht der Ausgang jeglichen Streitgesprächs schon von vornherein aus formalen Gründen fest. Aufgeklärte Geister werden zu aufgeklärten Geistern sprechen und dabei die Handlung mithilfe rationaler Argumente verteidigen. Wenn die offensichtlich guten Konsequenzen die offenkundig schlechten überwiegen, dann fordert schon allein die Vernunft nach „verbessernden Eingriffen“. Die Opposition kann dem nur wenig an Fakten entgegenhalten; wenig an positivem Wissen, um Einhalt zu gebieten. Sie ist auf dunkle Vorahnungen beschränkt, vage Vermutungen bezüglich um sich greifender Nebeneffekte, düsteres Geraune über die ungeklärte Gefahr des allgegenwärtigen Staates, den schleichenden Kollektivismus und darüber, wohin das alles noch führe. Kurz gesagt: Ihre Argumente haben immer den Beigeschmack von Obskurantismus, politischem Aberglauben und irrationalen Vorurteilen. So gesehen, wird man in den Einteilungen progressiv und konservativ, rational und instinktiv, verständlich und unverständlich stets zwischen dem aufgeklärten utilitaristischen Schaf und der irrationalen Ziege leicht trennen können. So sehen die eigentlich unbeabsichtigten und leicht absurden Konsequenzen des Staates aus, der gewissermaßen eine Bastellizenz braucht, eine rationale Rechtfertigung für das schrittweise Gewinnen von Stimmen und Einfluss. Ungeachtet dessen liefern sie eine durchaus mögliche Antwort (wobei es auch andere Antworten geben mag) auf die Frage, warum in den letzten 2 Jahrhunderten die meisten intelligenten Menschen, die über einen aufgeklärten Verstand verfügen (bzw. sich einen antrainiert haben) ihre politische Heimat links gefunden haben, obwohl man leicht eine paar naheliegende Gründe dafür finden kann, warum sie sich vielleicht lieber rechts vereinen sollten. 70
Baumol (19652), S. 29.
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Ein Musterbeispiel unbeabsichtigter und unvorhergesehener Effekte ist das Schicksal, das Bentham selbst beschert war. Er wollte eine Charta für den Individualismus aufsetzen und kämpfte im Namen der Freiheit gegen das träge, undurchsichtige und, aus seiner Sicht, despotische Beamtentum (das in ihm einen Spinner und Plagegeist sah). Dicey jedoch, für den die Zeit von der Reform Bill bis ca. 1870 die Phase des Benthamismus und Individualismus war, nennt das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts die Zeit des Kollektivismus und gibt diesem Kapitel der Geschichte die Überschrift „Was der Kollektivismus dem Benthamismus verdankt“.71 Zweifellos hat Bentham zumindest in den englischsprachigen Ländern weit mehr als die Gründerväter des Sozialismus einen Anspruch darauf, als geistiger Ahnherr des sich (auf unbeabsichtigten wie gänzlich undurchsichtigen und verschlungenen Wegen) entwickelnden Staatskapitalismus zu gelten. Was für den politischen Utilitarismus spricht, ruht auf zwei Rundhölzern. Das eine Rundholz liegt langgestreckt da. Es verbindet die jetzige Handlung mit den künftigen Konsequenzen und bildet die Annahme der hinreichenden Vorhersagbarkeit. Weil Tag für Tag politische Urteile gefällt werden müssen, wird aus der Annahme der Vorhersagbarkeit langsam ein simples Ausschließen der Langfristigkeit und der fernen Zukunft. In der Praxis bedenkt man nur die leicht erkennbaren naheliegenden Konsequenzen. („In der Politik ist eine Woche eine lange Zeit.“) Wenn die Zukunft keine Rolle spielt, dann ist es natürlich egal, ob man sich nicht mit ihr befasst oder perfekte Voraussicht hat und sich mit ihr befasst. Das zweite Rundholz liegt gewissermaßen quer über dem ersten und erlaubt, dass der Nutzen einer Person mit dem einer anderen Person aufgewogen werden kann. Diesem Aufwiegen müssen wir uns nun zuwenden.
Die offengelegte Präferenz der Regierungen Es gibt nichts, das interpersonale Nutzenvergleiche zur Festlegung der besten öffent lichen Maßnahmen von einer Regierung, die ihre „Präferenz“ für bestimmte Bürger „offenlegt“, unterscheiden würde.
Wenn der Staat es nicht allen recht machen kann, dann wird er sich jene aussuchen, denen er es besser recht machen sollte. Was den Utilitarismus von ausgesprochen intuitionistischen Morallehren am ehesten unterscheidet, ist die Ableitung der Güte einer Handlung aus den Konsequenzen der Handlung. Obwohl dem so ist, würde ich doch dafür argumentieren wollen, dass diese Trennung nur eine virtuelle ist, und dass der Utilitarismus am Ende des Tages vom Intuitionismus geschluckt wird. Die jeweiligen Schritte meines Arguments führen einmal mehr in das Reich der unbeabsichtigten Effekte. Indem man den kleineren Nutzen einiger Personen dem größeren Nutzen anderer 71
Dicey (1905).
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2. Kapitel: Der adverse Staat
Personen unterordnet, wird der nominale Vorrang, den man individuellen Werten gewährt, für den Staat zu einer Übungsstunde der „Intuition“ beim Nutzenvergleich und weitet sich die Macht des Staates weiter aus. Gute Handlungen als jene zu definieren, die gute Konsequenzen haben, schiebt die Sache nur hinaus und führt gleichzeitig zu der Frage: Was macht eine Konsequenz zu einer guten Konsequenz? Die Antwort, die man darauf erhält, ist teilweise wertlos. Das Wort „nützlich“ hat pragmatische, weltliche und enge hedonistische Konnotationen, die auf ein Wertesystem verweisen, dem es an Größe, Schönheit, Altruismus und Erhabenheit mangelt. Einige Utilitaristen, nicht zu vergessen Bentham selbst, haben Schuld daran, dass dieses falsche Verständnis Eingang in die Lehrbücher fand. Strenggenommen sollte man es jedoch verwerfen. Ganz allgemein verstanden, empfiehlt uns der Utilitarismus, eine Konsequenz dann als gut anzusehen, wenn sie gefällt; ganz gleich, ob es dabei um Puppenspiel oder Poesie72 geht. Es ist auch egal, warum die Konsequenz gefällt; manchmal sogar dann, wenn sie noch nicht einmal nützlich ist. Die ersehnte Konsequenz ist gleichbedeutend mit der Befriedigung eines Wunsches und der Erlangung eines Ziels. Und sie ist der Maßstab für „richtig oder falsch“. Das Subjekt, dessen Neigung, Wunsch oder Ziel eine Konsequenz qualifiziert, ist immer das Individuum. Argumente, die auf das verweisen, was für die Familie, Gruppe, Klasse oder die ganze Gesellschaft gut ist, müssen zunächst irgendwie individuellen Kriterien genügen. Sie müssen von den jeweiligen Gütern jener Personen abgeleitet werden, die diese Einheiten bilden. Die individuelle Person ist in ihren Neigungen und Abneigungen souverän. Niemand wählt die Ziele für sie, und niemand hat den Auftrag, ihren Geschmack in Frage zu stellen. (Gleichwohl entscheiden sich viele Utilitaristen dafür, die Nützlichkeitsdomäne zu beschränken, indem sie fordern, dass die Ziele einem vernünftigen und moralischen Menschen würdig sein müssen.) Weil die Individuen durchaus auch Freiheit, Gerechtigkeit oder göttliche Gnade schätzen können, ist auch deren Verwirklichung in derselben Weise nutzenstiftend wie beispielsweise Nahrung und Schutz. Insofern ist es möglich, Nützlichkeit als homogene Resultante zu betrachten, als einen allgemeinen Index für die Erlangung von Zielen, wobei deren Vielfalt in einer nicht näher beschriebenen Weise im individuellen Geist erwirkt wird. Gemäß dieser Sichtweise gibt es keine absoluten Prioritäten. Für jede Person ist jedes ihrer Ziele eines von vielen, wobei man sie nach Belieben stückchenweise gegeneinander austauschen kann. Obwohl diese Sichtweise bequem ist, ist sie doch etwas willkürlich und möglicherweise falsch. Außerdem, würde man solche Ziele wie Freiheit und Gerechtigkeit in einem Index allgemeiner Nützlichkeit vermengen, dann hieße das, einige bedeutende Fragen wegzuzaubern, auf die man in der Politischen Theorie Antworten sucht. (Die anmaßende und mithin manchmal anstrengende Sprache der Sozialwissenschaften macht aus den „Neigungen“ ausnahmslos „Präferenzen“. Texte zu „Social Choice“ sprechen in der Regel von präferieren, auch wenn damit nicht lieber mö72 Bentham, auf den angespielt wird, sprach von „pushpin or poetry“. Pushpin war ein traditionelles Geschicklichkeitsspiel mit Nadeln, das damals bei Kindern beliebt war, d. Hg.
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gen gemeint ist. Dieser Gebrauch ist inzwischen die Norm, und ich werde mich an sie halten, solange ich nicht von „Besserem“ reden muss, wenn ich „Gutes“ meine. Gewiss wäre es eine große Erleichterung, wenn die gängige Praxis uns nicht dazu verpflichtete, den Komparativ zu verwenden, wo der einfache Positiv ausreicht.) Private Handlungen haben oft, und öffentliche Handlungen haben fast immer Konsequenzen für einige Menschen, in der Regel für ganze Gesellschaften. Weil das Individuum die Referenzeinheit bildet, liegt das Maß für die Güte der Handlungen in der algebraischen Summe der Nutzen, die jedem der betroffenen Individuen aufgrund der Handlungen entstehen. (Vagere Ranglisten der Güte eignen sich nur für sehr begrenzte Zwecke.) Anders ausgedrückt: Hier geht es um die Summe der Nutzen aller Nutzengewinner abzüglich der Verluste aller Verlierer. Wenn ein öffentliches Gut maximiert werden soll, dann muss die Wahl unter gegenseitig sich ausschließenden politischen Lösungen auf jene Lösung fallen, die den größeren positiven Nettonutzen hervorbringt. Wie kriegen wir das heraus? Die beiden leichten Fälle, in denen wir einfach alle Betroffenen fragen und ihre Antworten nehmen können (oder beobachten können, was sie tun, um daraus ihre offengelegte Präferenz abzulesen), sind Einstimmigkeit und die sogenannten pareto-superioren Entscheidungen. Letztere sind Fälle, in denen mindestens eine Person (die Konsequenzen von) Maßnahme A bevorzugt, und keine Person Maßnahme B. In allen anderen Fällen kann die Entscheidung, wie sie auch ausfallen mag, angefochten werden; entweder weil einige Personen für A stimmen würden und andere für B, oder – doppelt anfechtbar und mit Blick auf das politische Leben wohl realistischer – weil es noch nicht einmal für die wichtigsten Entscheidungen, die den Menschen betreffen, einen gangbaren Weg der zuverlässigen Konsultation jeder Person gibt, und auch nicht dafür, jede Person dazu zu bringen, ihre Präferenzen auf andere Weise überzeugend offenzulegen. Lassen Sie mich hierbei erneut betonen, dass die Referenzeinheit immer noch der Einzelne ist. Nur er hat Wünsche, die zu befriedigen sind, und somit Präferenzen, die offenzulegen sind. Wenn man den Utilitarismus ins Verließ schicken will, dann mit dem Hinweis, dass die Streitgespräche, die sich aus den gegensätzlichen Ansichten bezüglich des Nettonutzengleichgewichts ergeben, Anlass bieten, die Köpfe aneinander zu schlagen; ganz einfach deshalb, weil es keine annehmbaren intellektuellen Mittel mehr gibt, um sie zu lösen. Solange man sich nicht auf eine andere Doktrin einigt, mit der man eine Parteinahme rechtfertigen kann, sollte der Staat sich daher zurücklehnen, um zu vermeiden, dass er in die Lage gerät, in der er Entscheidungen treffen müsste, die einige erfreuen und andere enttäuschen würden. Dieses Zurücklehnen ist natürlich kennzeichnend für die Haltung des kapitalistischen Staates, den wir aus gänzlich anderen Prämissen in Kapitel 1.3 hergeleitet haben. Im Vergleich dazu braucht der adverse Staat sicherlich Gelegenheiten zur Parteinahme und Reduzierung der Befriedigung einiger Personen, weil dies die Münze ist, mit der er die Unterstützung der anderen erkaufen kann. Da staatliche Politik und vorherrschende Ideologie bis zu einem gewissen Grad Seite an Seite voranschreiten müssen, wäre mit dem Verschwinden des Utilitarismus im Verließ der
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demokratische Staat eine Zeitlang wohl allein auf weiter Flur gewesen und hätte irgendwann von einer aufkommenden Ersatzdoktrin gerettet werden müssen. Es ist alles andere als klar, ob das nicht irgendwann sogar stattgefunden hat. Viele Strömungen in der Politischen Theorie, die angeblich mit dem Utilitarismus gebrochen haben, argumentieren so, dass ihre Begründung in der Praxis auf das utilitaristische Kalkül hinausläuft. Vielleicht sind sorgfältig ausgebildete Sozialisten die einzigen, die nicht unbewusst „Utilitaristen im stillen Kämmerlein“ sind. Viele, wenn nicht alle Liberale schwören interpersonalen Vergleichen ab, befürworten aber staatliche Handlungen im Wesentlichen mit Gründen der interpersonalen Nutzenmaximierung. Die Sichtweise, die dem politischen Utilitarismus wohl am wenigstens Raum lässt, ist jene, die interpersonalen Vergleichen sehr entschieden begegnet und in der Idee, die stille Zufriedenheit eines Mannes zur überschwänglichen Freude eines anderen zu addieren und die Tränen einer Frau vom Lachen einer anderen Frau abzuziehen, eine konzeptionelle Absurdität sieht, die keiner Überprüfung standhält, sondern von alleine in sich zusammenstürzt, sobald sie aufgestellt ist. Wenn schon kleine Kinder lernen, dass sie Äpfel und Birnen nicht zusammenzählen können, wie können dann Erwachsene glauben, dass derlei Operationen, wenn sie nur sorgfältig genug und durch moderne Sozialforschung gestärkt sind, als Handbuch zu einer wünschenswerten Staatslenkung taugten; zu dem, was immer noch liebevoll „Sozialwahl“ genannt wird? Elie Halévy hat im schriftlichen Nachlass von Bentham ein privates Bekenntnis entdeckt, das dieser selbst zur Redlichkeit des Verfahrens abgelegt hat. Reumütig erklärt Bentham: „Man redet vergebens vom Addieren der Quantitäten, die nach der Addition noch das sind, was sie vorher waren; eines Mannes Glück wird nie das Glück eines anderen Mannes sein … genauso gut kann man vorgeben, 20 Äpfel und 20 Birnen zu addieren … Die Addierbarkeit des Glücks verschiedener Subjekte … ist ein Postulat, ohne dessen Hilfe alle praktische Vernunft zum Stillstand käme.73 Amüsanterweise gestand er bereitwillig beides ein: dass das „Postulat der Addierbarkeit“ ein logischer Frevel ist und dass er ohne ihn nicht auskam. Vielleicht hat ihm das eine Verschnaufpause verschafft und ihn über die Ehrlichkeit nachdenken lassen, bzw. über die „praktische Vernunft“, die er fördern wollte. Wie auch immer, die „praktische Vernunft zum Stillstand kommen“ zu lassen, stand nicht zur Debatte. Er nahm die Vortäuschung hin, und auch den intellektuellen Opportunismus, „weil der Anlass es verlangte“, etwa in der Art eines atheistischen Priesters oder fortschrittlichen Historikers. Eingestehen, dass die Nutzen verschiedener Personen unvereinbar sind und dass Nutzen, Glück und Wohlergehen nicht interpersonal integriert werden können, heißt zugleich zugestehen, dass eine Sozialwissenschaft, die mit utilitaristischen Prämissen operiert, nicht dabei helfen kann, Ansprüche zu bestätigen, die behaupten, eine politische Maßnahme sei einer anderen „objektiv“ überlegen (es sei denn in dem 73
Halévy (1928), S. 495, zitiert nach Robbins (1963), S. 15 (Hervorhebung von mir).
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seltenen und politisch fast unbedeutenden Fall der „Pareto-Superiorität“). Der Utilitarismus wird somit ideologisch nutzlos. Sofern politische Maßnahmen noch schlüssigen geistigen Beistand brauchen, muss für sie im Rahmen irgendeiner anderen, weniger bequemen und weniger verführerischen Doktrin argumentiert werden. Sieht man einmal von dieser entschiedenen Position ab, so stößt man auf drei Auffassungen, die interpersonale Vergleiche rehabilitieren. Jede von ihnen ist mit den Namen angesehener Theoretiker verbunden, von denen manche auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Es wäre wohl etwas eigenwillig, alle einer Position zuzuordnen, aber auch etwas spitzfindig, die Positionen untereinander abzugrenzen. Aus diesem Grund, aber auch um mich nicht dem Verdacht auszusetzen, vereinfachende Kurzformeln anzubieten, die ungeeignet sind, die Gänze einer subtilen und komplexen Themenbehandlung wiederzugeben, werde ich mich mit spezifischen Einordnungen bestimmter Autoren zurückhalten. Der kundige Leser möge beurteilen, ob der resultierende Schlüsselroman die nur spärlich verkleideten realen Figuren, um die es geht, fair darstellt. Eine Strömung, die dem Utilitarismus die Rolle der Politikbewertung erneut zuweisen will, behauptet, dass interpersonale Vergleiche offensichtlich schon allein deshalb möglich seien, weil wir solche Vergleiche tag täglich anstellten. Nur indem wir „andere Geister“ leugnen würden, könnten wir derlei Vergleiche beiseite tun. Jeder sprachliche Rückgriff beweise die logische Legitimität solcher Aussagen wie „A ist glücklicher als B“ (Niveauvergleich) und, zur Not, wohl auch von Aussagen wie „A ist glücklicher als B, aber in einem geringerem Maße, als B glücklicher als C ist“ (Differenzvergleich). Spielräume bleiben der Interpretation vorbehalten; das belastet diesen Ansatz. Diese Alltagsaussagen können, rein formal betrachtet, Tatsachen (A ist größer als B) genauso ausdrücken wie Meinungen und Geschmäcker oder beides (A ist schöner als B). Auch wenn dem so sein sollte, nutzt es nichts, dass der sprachliche Gebrauch uns sagt, interpersonale Vergleiche seien „möglich“ (sie tun nicht in den Ohren weh), weil sie nicht jene Vergleiche sind, die der Utilitarismus braucht, um seiner Politik „wissenschaftliche“ Unterstützung zu verschaffen. Eine ähnlich gravierende Ambiguität umgibt jenes Stück linguistischen Zeugnisses, das man gerne zur direkten Unterstützung von Umverteilungsmaßnahmen heraufbeschwört: „Für B bedeutet ein Dollar mehr als für A.“ Wenn mit der Aussage gemeint ist, dass der inkrementelle Nutzen eines Dollars für B größer als für A ist, schön und gut. Dann haben wir erfolgreich die Nutzenbeträge zweier Individuen verglichen. Wenn aber mit ihr gemeint ist, dass ein Dollar B´s Nutzen mehr beeinflusst als den von A, dann haben wir lediglich die relative Änderung in B´s Nutzen („er wurde enorm vergrößert) und die in A´s Nutzen (“er hat sich kaum verändert„) verglichen, ohne etwas darüber gesagt zu haben, ob B´s Nutzenänderung absolut größer oder kleiner als die von A ist (d. h., wir haben nicht gezeigt, dass die Nutzen zweier Personen sich entsprechen, was durch einen gemeinsamen homogenen ,Sozialnutzen‘ auszudrücken wäre). Ein anderer Integrationsansatz packt das Thema Heterogenität gewissermaßen von vorne bei den Hörnern, indem man etwas (das ich Konventionen nennen wür-
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de) vorschlägt, um die Heterogenität loszuwerden; so als ob Bentham angekündigt hätte, dass er fortan sich keinen Zwang mehr antue, Äpfel wie Birnen gleichermaßen „Früchte“ nenne und Additionen und Subtraktionen in „Früchteeinheiten“ durchführe. Diese Konventionen können als nicht-empirisch betrachtet werden, als unbewiesene Postulate, die eingeführt werden, um einen nicht-empirischen Zirkelschluss zu vervollständigen. Es wurde z. B. behauptet, dass die Nutzen „isomorpher“ Personen, die, abgesehen von einer Variablen, identisch seien (z. B. Einkommen oder Alter) als homogene Quantitäten behandelt werden könnten, und zudem vorgeschlagen, bestimmte Bevölkerungsteile für bestimmte Zwecke als isomorph zu betrachten. Eine andere Konvention möchte, dass wir glauben, jedermanns Nutzen sei mit dem Nutzen aller anderen unauflöslich verbunden, und zwar durch eine Beziehung „ausgedehnter Sympathie“. Ein weiterer Ansatz transformiert (grob gesagt) die Nutzenfunktionen verschiedener Personen in lineare Transformationen ein und derselben Funktion. Dazu entfernt er aus den Präferenzparametern alles, was sie unterscheidet, und steckt die Unterschiede zurück „in die Objekte der Präferenzen“. Es gibt außerdem den Vorschlag (den ich persönlich entwaffnend finde), anstelle der tatsächlichen Präferenzen der Menschen die „moralischen“ Präferenzen zu nehmen, die sie hätten, wenn sie sich alle mit einem repräsentativen Individuum der Gesellschaft identifizierten. Eine Konvention, die dieser ähnelt, betrachtet unterschiedliche Personen als „alternative Ichs“ des Beobachters. Diese und verwandte Konventionen sind an sich harmlos; zulässig als alternative Aussagen zu dem, was ausreichen würde, um die Integration von Nutzen, Glück und Wohlergehen verschiedener Personen zu rechtfertigen. Man kann sie paraphrasierend auch so lesen: „Die Wohlfahrt verschiedener Personen kann addiert in eine Funktion sozialer Wohlfahrt übergehen, wenn man übereinkommt, keine unterschiedlichen Individuen zu sein.“ Derlei Konventionen könnten durchaus so viel Einvernehmen gebieten, wie notwendig ist, wollte man der Summierung persönlicher Nutzen Legitimität verleihen. Gleichwohl darf man sie nicht als Wege zur Legitimierung der Summierung betrachten, falls diese von vornherein nicht legitim zu beschreiten sind. Ein (aus meiner Sicht) dem diametral entgegenstehender Ansatz akzeptiert, dass Individuen unterschiedlich sind, verneint aber, dass deshalb Urteile zur gesellschaftlichen Wohlfahrt willkürlich und gedanklich unklar zu sein hätten. Diese Strömung scheint mir (wie die „linguistische“) unter der Unklarheit zu leiden, dass die getroffenen Urteile und empfohlenen Entscheidungen (die möglicherweise verschiedene Funktionen darstellen) entweder eine faktische Frage oder eine des Geschmacks sind, ohne uns aber zwangsläufig zu sagen, was von beidem sie sind. Wenn sie Fragen des Geschmacks sind – selbst wenn es „Geschmack“ sein sollte, der durch die Praxis kultiviert und durch Information aufgeklärt ist –, dann kann man wenig dazu sagen. Dann sind wir offensichtlich in der Hand des sympathisierenden Beobachters und alles hängt davon ab, wer die Macht besitzt, ihn einzustellen. Behauptungen, eine Maßnahme sei für die Gesellschaft besser als eine andere, gründen nun auf Autorität.
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Für den Fall, dass man derlei Behauptungen als verifizierbare, widerlegbare Angelegenheiten betrachtet, muss interpersonale Vergleichbarkeit meinen, dass jegliche Schwierigkeiten, die wir beim Addieren haben können, technischer Natur sind, und nicht konzeptioneller Art; dass die erforderliche Information unzugänglich, unzureichend oder ungenau ist. Das Problem ist, wie man an das herankommt und misst, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, und dass die Köpfe unterschiedlichen Leuten gehören. Man muss z. B. nur wenige leicht zugängliche Informationen über Nero, Rom und Lyraspiel besitzen, um auf die Tatsache zu schließen, dass kein Gewinn an Nettonutzen entstand, als Rom brannte, während Nero die Lyra spielte. Je umfangreicher und präziser die Informationen, desto größer die interpersonalen Befunde. In diesem Sinne machen wir Fortschritte und bewegen uns von der Nicht-Addierbarkeit infolge mangelnder spezifischer Daten in Richtung auf einen zumindest quasi-kardinalen Nutzen und zumindest teilweise interpersonalen Vergleich.74 Es scheint zumindest so, als ob der Kontrast zur Idee, Spezifisches zu ignorieren und alle Individuen ihrer Unterschiede zu berauben, kaum größer sein könnte. Der Plan scheint zu sein, anfangs die Heterogenität anzuerkennen und sich dann der Homogenität der Individuen zu nähern, indem man von ihren Differenzen so viele wie möglich durch paarweisen Vergleich erfasst, so als ob wir Birnen und Äpfel zuerst nach Größe, Zuckergehalt, Säure, Farbe und spezifischem Gewicht vergleichen würden und dann nach n separaten Größen homogener Attribute und nur solche unverglichen ließen, die sich einem gemeinsamen Maßstab verweigerten. Sobald wir n gemeinsame Attribute gefunden und die Vergleiche vorgenommen haben, stehen uns n separate Ergebnisse zur Verfügung. Diese müssen dann in einem einzigen Ergebnis (dem Vergleich) zusammengefasst werden, und zwar durch Festlegung der relativen Gewichtung. Wenn man diese Prozedur der Nutzenaddierung für gedanklich schlüssig hielte, wäre man dann auch bereit, Maßnahmen anzuerkennen, die auf diese Weise entschieden werden? Wenn man das Verfahren in Gang setzen wollte, müsste man zuerst zu Heerscharen von strittigen Fragen irgendwie (einstimmig?) Einvernehmen erzielen, und zwar unter allen, deren Nutzengewinne oder Nutzenverluste durch das Verfahren zu vergleichen wären. Welche Unterscheidungsmerkmale der Individuen (Einkommen, Bildung, Gesundheit, Zufriedenheit im Beruf, Charakter, gute und schlechte Eigenschaften der Familienangehörigen, usw.) sollen paarweise verglichen werden, um von ihnen auf Nutzenniveaus oder Nutzenunterschiede zu schließen? Wenn einige Merkmale nur subjektiv beurteilt werden können und nicht den Listen des Statistikamts entnommen werden können, wer soll sie dann beurteilen? Welches Gewicht soll jedem Merkmal beim Schließen auf den Nutzen 74 Eine gründliche Darstellung der Typen interpersonaler Vergleiche, welche die verschiedenen Typen „sozialer Wohlfahrtsfunktionen“ erfordern, bietet Basu (1980), Kapitel 6. Ich habe den Titel des vollkommen leidenschaftslosen Buches genommen, um dem gegenwärtigen Abschnitt eine Überschrift zu geben, weil sein unbeabsichtigter schwarzer Humor hervorragend jenes vermittelt, was ich für das Kernstück der utilitaristischen Lösung halte. Die einzige Präferenz, die jemals in der Maximierung der sozialen Wohlfahrt offengelegt wird, ist die des Maximierers, des Inhabers der souveränen Macht über die Gesellschaft.
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beigelegt werden, und soll dasselbe Gewicht für alle Menschen gelten, auch wenn diese unterschiedlich empfinden mögen? Wessen Werte sollen diesen Urteilen zugrunde gelegt werden? Falls allseitig Einvernehmen über einen „billigen“ Weg gefunden würde, auf dem die Macht für das vergleichende Erfassen sowie das Gewichten zu delegieren wäre, dann würde der Delegierte entweder verrückt werden oder einfach nur das produzieren, was seiner Intuition gemäß annähernd richtig aussieht.75 Über kurz oder lang führen alle objektiv und prozedural definierten interpersonalen Nutzenvergleiche, auch die bescheidenen partiellen, über Umwege zurück zur unvermeidbaren Willkür, die in der Hand der Autorität liegt. Schlussendlich ist es die Intuition der die Vergleiche durchführenden Person, die entscheidet. Oder es gibt keinen Vergleich. Wenn dem so ist, worin liegt dann der Nutzen, interpersonale Nutzenvergleiche intuitiv durchzuführen, um die Rangfolge der alternativen staatlichen Maßnahmen festzusetzen? Warum vertraut man nicht gleich der Intuition und sagt dementsprechend, dass die eine Politik besser als die andere ist? Intuitiv zu entscheiden, was am besten zu tun ist, war die klassische Aufgabe, die man dem mitfühlenden Beobachter zuschrieb, der die Argumente anhörte und die Fakten betrachtete und dann, zum Guten oder Schlechten, von seiner prärogativen Gewalt Gebrauch machte. Wenn auch nur aus der Ferne schauend, wer sonst sollte dieser Beobachter sein, wenn nicht der Staat? Aufgrund fehlender Einstimmigkeit darüber, wie man interpersonale Vergleiche genau durchführt, sind gleichzeitig auftretende unterschiedliche Vorstellungen dazu, welche Politik zu wählen ist, denkbar. Man kann sagen, dass der Staat, der seine statistischen Ressourcen, Kenntnisse, Sympathien und Intuitionen einsetzt, Maßnahmen für die Nutzen seiner Bürger schafft, und zwar so, dass man diese addieren und voneinander abziehen kann. Auf dieser Grundlage hat er für jede politische Maßnahme die Auswirkung auf den Gesamtnutzen kalkuliert und jene gewählt, welche die beste Auswirkung hat. Anders formuliert kann man sagen, der Staat habe einfach die Politik gewählt, die er für die beste hielt. Die beiden Formulierungen sind miteinander verträglich. Keine kann der anderen widersprechen oder sie widerlegen. In analoger Weise sind die beiden Aussagen „Der Staat meint, dass die Nutzenmehrung der Gruppe P und die Nutzenminderung der Gruppe R dazu führe, dass der Nettonutzen steigt“ und „Der Staat zieht es vor, P gegenüber R zu bevorteilen“ Beschreibungen ein und derselben Realität. Empirisch unterscheidet die beiden gemeinten Operationen nichts. Welche Beschreibung man auch wählt, durch seine Wahl „legt der Staat seine Präferenzen offen“. Damit wollen wir nicht sagen, dass 75 Ein nicht-einstimmiges (z. B. mehrheitliches) Einvernehmen darüber, wie die interpersonalen Nutzenvergleiche durchzuführen sind, würden der nutzenmaximierenden Qualität der gewählten und auf derlei Vergleichen basierenden öffentlichen Maßnahme denselben logischen Status verleihen, wie ihn die direkt gewählten Maßnahmen haben, aber ohne den Vorteil irgendwelcher interpersonalen Vergleiche infolge irgendwelcher nicht-einstimmigen Übereinkommen (Abstimmung, Akklamation oder zufällige Wahl).
Interpersonale Gerechtigkeit
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jede weitere Untersuchung an diesem Punkt ihr Ende nähme, denn es ist nicht allein damit getan, die Gründe einer Präferenz in Frage zu stellen. Dennoch wollen wir dafür plädieren, die Parteilichkeit des Staates nicht durch eine nutzlose Hypothese zu erklären, die wegen der unvermeidbaren Willkürlichkeit interpersonaler Vergleiche nie falsifiziert werden kann.
Interpersonale Gerechtigkeit Eigentum und (zu bewahrende) Vertragsfreiheit produzieren ungerechte (auszugleichende) Verteilungsergebnisse.
Freie Verträge sind unfrei, wenn sie unfair sind. Indem ich die Haltung des Staates skizziert habe, welche stets die Menschen selbst die Güterbündel festlegen lässt, die sie bevorzugen (vgl. Kap. 1.2), habe ich den kapitalistischen Staat als einen Staat beschrieben, der verpflichtet ist, die Rechte dritter Parteien unverletzt zu lassen, und daher die von Erwachsenen freiwillig eingegangenen Verträge respektiert, und zwar unabhängig von deren Status und der Fairness der Vertragsbedingungen. Dies impliziert nicht im geringsten, dass ein solcher Staat der Fairnessidee gegenüber gleichgültig wäre oder kein Mitgefühl mit denen hätte, deren Schicksal infolge von Vertragsinteraktionen unglücklich verläuft. Indes impliziert es, dass der Staat sich nicht berechtigt sieht, der Fairnessvorstellung und dem Mitgefühl, das er oder ein anderer hat, Raum zu geben. Auf der anderen Seite behauptet die liberale Doktrin, die den adversen Staat rechtfertigt (auch wenn sie sich anfangs mit den Gründen für eine solche Behauptung schwer tut), dass der Staat dazu berechtigt sei; dass er für eine ganze Reihe von Vertragsbeziehungen eine Lizenz, ja sogar ein ausdrückliches Mandat habe, entsprechendes zu tun; und dass sein moralischer Anspruch und sein politisches Mandat die beiden Zwillingsgründe dafür seien, mit Recht Zwang anzuwenden: Ohne sie seien die Ziele von Fairness und Mitgefühl nicht zu erreichen. Das ist faktisch die Ideologie, die den Staat dazu aufruft, das zu tun, was er ohnehin im Normalfall zu tun hat, wenn er die Zustimmung zu seiner Herrschaft erwirken und sichern will. „Distributive Gerechtigkeit austeilen“ ist eine Möglichkeit, derlei Handlungen zu beschreiben, „Stimmen kaufen“, „Einfluss kaufen“ eine andere. Der Übergang von der Benthamschen Agenda der schrittweisen Verbesserungen sozialer Verhältnisse, die den Umfang der produzierten öffentlichen Güter ausweitet, zum liberalen Programm der Verteilungsgerechtigkeit vollzieht sich nahtlos. Rückblickend kann man sagen: Wenn man erst einmal zugesteht, dass das interpersonale Nettogleichgewicht kein intellektueller Unfug und keine Sonderbegünstigung ist und dass man es herbeiführen kann, indem man das (größere) Gut einiger Personen zu Lasten des (kleineren) Gutes anderer Personen begünstigt, dann macht es in der Sache keinen Unterschied, ob man die reichen Steuerzahler dazu zwingt,
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für die Gefängnisreform oder für die Auslöschung der Cholera und des Analphabetismus aufzukommen, oder ob man sie dazu zwingt, den Lebensstandard der Armen (und auch der weniger Reichen) im größeren Stil aufzubessern. Was die historische Abfolge betrifft, so macht es natürlich einen Unterschied, was wem vorausging. Die Argumente für utilitaristische Flickschusterei im Gesundheits- oder Bildungswesen waren auch andere als jene für die Forderung, die Eigentumsrechte der sozialen Gerechtigkeit unterzuordnen, bzw., allgemeiner gesagt, der Idee des größten Gutes der Gesellschaft. Was die Ebene der politischen Praxis betrifft, so war es natürlich in dem Moment, in dem der Staat im Rahmen der für einen breiten Bereich geltenden Wahldemokratie es sich zur Gewohnheit gemacht hat, Unterstützung zu entlohnen, nur eine Frage der kumulativen Konsequenzen, bis sich die vergleichsweise harmlose Stückwerkflickerei für das weitere politische Überleben als unzureichend erweisen sollte. Der Wettbewerb mit anderen erforderte für eine dauerhafte Staatsmacht zunehmend mehr an systematischem und konsequentem Einmischen in Verträge. Für Einmischungen gibt es im groben zwei Arten: die Beschränkung begrenzt die zulässigen Klauseln, die ein Vertrag haben darf (z. B. Preisbeschränkungen), und die Überstimmung annulliert rückwirkend die Auswirkungen von Verträgen (z. B. Umverteilung durch Steuern und Subventionen). Wenn ich „Verträge“ sage, dann geht es mir vor allem um ihre instrumentelle Rolle, in der sie ein bestimmtes Muster gesellschaftlicher Kooperation und entsprechender Einkommensverteilung herbeiführen. Im Naturzustand (in dem gesellschaftliche Kooperation ohne Zutun oder Behinderung des Staates stattfindet) hat die Freiheit, Verträge zu schließen, zur Folge, dass die Produktion und die Anteile der Menschen am Produkt gleichzeitig ihre Bestimmung durch Ursachen finden, die man in Kategorien zusammenfassen kann; z. B. Stand der Technik, Geschmäcker für Güter und Freizeit, Kapital, oder die Kapazitäten der Menschen für unterschiedliche Leistungen. (Der Leser dürfte zweifellos mit der Tatsache vertraut sein, dass diese Sichtweise der Distribution erhebliche Probleme unter den Teppich kehrt. Unternehmen, also das, was Alfred Marshall „Organisationen“ nannte, und Arbeit werden hier in denselben Topf geworfen. Und dieser Topf trägt den Titel „Kapazitäten für unterschiedliche Leistungen“. Die besondere Hervorhebung des Arbeitsangebots und, vor allem, des konzeptionell verräterischen „Kapitalstocks“ wird vermieden; auch die der Produktionsfunktion, auch wenn beide immer noch im Stillen auf ihre Chance lauern. Glücklicherweise verpflichtet der Verlauf unserer Argumentation uns nicht dazu, auf diese Schwierigkeiten einzugehen.) Im Naturzustand „erhalten“ die Menschen „das, was sie produzieren“; genauer gesagt, erhalten sie den Wert des Marginalprodukts, egal welchen Produktionsfaktor sie beitragen. Statt an „Beitrag“ zu denken, ist es oft aufschlussreicher, an jenen Faktor zu denken, den sie „zurückhalten könnten, es aber nicht tun“. Beide Ausdrucksweisen müssen ergänzt werden, damit man die Quantität des beigetragenen (oder nicht zurückgehaltenen) Faktors erfassen kann. Demgemäß erhält der Kapitalist das Marginalprodukt an Kapital in Relation zu seinem Kapital. Der Unternehmer,
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der Arzt und der Mann an der Maschine erhalten das Marginalprodukt ihrer jeweiligen Leistung in Relation zu ihrer Tätigkeit. Wenn, wie in einem System der freien Verträge, alle potentiellen Vertragspartner ihrem Interesse folgen (oder wenn jene, die es nicht tun – die rationalen Altruisten oder die schlicht Irrationalen – nicht sonderlich schwer wiegen), dann wandern die Faktorpreise gemäß des Marginalwertes der Produkte nach oben oder unten (und entsprechen den Werten ihrer physischen Marginalprodukte zunehmend in dem Maße, wie sich die Märkte dem perfekten Wettbewerb nähern). In dem Moment, in dem wir den Naturzustand verlassen, tritt uns eine unvermeidbare Komplikation entgegen. Der Staat nimmt sich einen Anteil vom gesamten Endprodukt, um davon zu leben. Das heißt, dass die Theorie der Grenzproduktivität für den Bereich außerhalb des Naturzustandes bestenfalls das Vorsteuereinkommen der Bürger erfassen kann. Die Nachsteuerverteilung wird so teilweise eine Funktion der Vorsteuerverteilung und teilweise eine des politischen Prozesses, wobei Letzterer festlegt, was der Staat von jedem von uns bekommen soll. Die Verteilung wird vor allem von zwei Hauptaktivitäten des Staates geprägt: dessen Produktion an öffentlichen Gütern (worunter, grob gesagt, Recht und Gesetz, Gesundheits- und Bildungswesen, Straßen und Brücken usw. fallen) und dessen Produktion an sozialer Gerechtigkeit durch irgendeine Umverteilung. Je nach Definition wird die Produktion sozialer Gerechtigkeit Teil der Produktion öffentlicher Güter. Daraus entstehen Schwierigkeiten, die wir gefahrlos und frei von Nachteil beiseitelassen können. (In einem nicht zu weit hergeholten Sinn ist jede Produktion öffentlicher Güter aus öffentlichen Mitteln ipso facto eine Umverteilung, wenn auch nur deshalb, weil es keinen einzigen „richtigen“ Weg gibt, die zu tragenden Gesamtkosten auf die Mitglieder der Öffentlichkeit aufzuteilen, und zwar gemäß der Vorteile, die jeder durch ein gegebenes öffentliches Gut erfährt. Man kann immer von einigen sagen, dass sie auf Kosten anderer ein Schnäppchen machen oder subventioniert werden. Folglich muss die Unterscheidung zwischen der Produktion öffentlicher Güter und der expliziten Umverteilung eine Sache willkürlicher Konventionen bleiben.) Wie auch immer, das Vorsteuerverteilungsmuster wird ohnehin durch die Rückwirkung des Nachsteuerverteilungsmusters beeinträchtigt. Im Allgemeinen werden die Produktionsfaktoren schneller oder langsamer geliefert, je nachdem, welchen Preis sie fordern können und in welcher Lage ihre Eigentümer sind (technisch ausgedrückt: je nach Preis- und Einkommenselastizitäten der Anbieter). Wenn also einer der beiden oder beide durch Steuern geändert werden, hat das Rückwirkungen auf Ausstoß und Marginalprodukte. Zu diesen Rückwirkungen habe ich wenig zu sagen, sieht man einmal davon ab, dass ich ihre logisch gegebene Möglichkeit und ihre Bedeutsamkeit eingestehe. (In jedem Fall ist ihnen empirisch schwierig beizukommen.) Dessen ungeachtet möchte ich eine plausible Apriori-Feststellung zum Kapital anbringen. Einmal akkumuliertes und in Kapitalgüter verpacktes Kapital kann nicht flott entzogen werden. Es braucht Zeit, es zu „dekumulieren“ (Sir Dennis Robertson nannte es gern „entflechten“), und nicht-zurückgegebenes Kapital in Kapitalgütern verliert durch
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deren Nutzung und Alterung an Wert. Das kurzfristige Angebot von Kapitalgütern muss deshalb gegenüber der Besteuerung von Renten, Zinsen und Profit recht unempfindlich sein. Die Arbeitsanbieter können sich an der Einkommenssteuer „rächen“, indem sie ihre Leistung zurückhalten. Die Kapitalanbieter können sich nicht kurzfristig an der Steuer auf Kapitalerträge rächen, und gerade der kurze Zeitraum ist es, der in der Politik kurzer Amtszeiten zählt. Durch derlei Maßnahmen wird die Wirtschaft nicht unmittelbar geschädigt, weil der Überschuss der Steuer zufließt, oder z. B. der Mietpreiskontrolle. Eine staatliche Mietskaserne, einmal gebaut, wird nicht so schnell abgerissen. Sie bricht von allein zusammen, aber erst nach vielen Jahren Unterhaltsstau. Auch wenn ihre Nachbarn vielleicht wünschen, dass sie schneller zusammenbräche, der künftig erfolgende Verfall der Städte ist noch in sicherer politischer Entfernung. Der Staat kann also für die Vielen und gegen die Wenigen Partei ergreifen, für die Armen und gegen die Reichen; dank der starken These vom Gleichgewicht des Glücks und von der sozialen Gerechtigkeit. Und er kann für die Arbeiter und gegen die Kapitalisten Partei ergreifen, und zwar unter Berufung auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit. Aus den gleichen Gründen kann er auch für das Kapital und gegen die Arbeiter Partei ergreifen. Der Zugang zu einem reichhaltigen Korb an Argumenten, um sich auf eine Seite zu schlagen, ist auch dann noch, wenn viele dieser Argumente sich gegenseitig aufheben, für den Staat sehr bequem, wenn er das zusammenstellt, worauf die Dauer seiner Macht gründet: das Belohnungssystem des Konsenses. Diese Gründe mögen als reine Ausreden betrachtet werden, als Vorwand, um das zu tun, was ohnehin getan werden muss, um den Anforderungen an das politische Überleben zu genügen. Ich glaube, die Vermutung, dass sie für den rationalen Staat ein Vorwand sein müssen, ist falsch. Die ideologische Verpflichtung des Staates kann vollkommen ernst gemeint sein. Allerdings spielt es nicht im mindesten eine Rolle, ob dies der Fall ist oder nicht, und es gibt auch keinen Weg, dies herauszufinden, solange die Ideologie die richtige ist – womit einfach nur gemeint ist, dass sie dem Staat sagt, was er zu tun habe, um seine Ziele zu erreichen. Klassen, die einer Ideologie anhängen, die ihnen Dinge entgegen ihren Interessen aufträgt, bewegen sich, so heißt es, in einem „falschen Bewusstsein“. Im Prinzip ist es auch möglich, dass dem Staat so etwas widerfährt. In der Geschichte lassen sich Beispiele für Staaten finden, auf die jene Beschreibung passt. „Falsches Bewusstsein“ verführt den Staat im Besonderen dazu, die Unterdrückung zu lockern, weil er sich dem illusorischen Glauben hingibt, er könne genügend Zustimmung erwirken. Derlei fehlgeleitete Nachgiebigkeit ist wahrscheinlich oft der Beginn einer Revolution. Ohne falsches Bewusstsein oder Unfähigkeit oder beides würden eine Regierung wohl ewig währen und Staaten nie das Ende ihrer Amtszeit erleben. Platt formuliert: Je breiter, flexibler und unspezifischer eine Ideologie ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein falsches Bewusstsein dem der Ideologie anhängenden Staat Kummer bereiten wird. Die liberale Ideologie mit ihrer Formbarkeit und Vielfalt an Zielen ist, so gesehen, auf der sicheren Seite. Der Staat, der
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sich ihr verschreibt, muss seinen Kopf nicht weit hinausstrecken und kaum Risiken auf sich nehmen, um politisch zu überleben. Typisch für die liberale Ideologie als Weltanschauung ist, dass sie viele unterschiedliche „Optionen“ anbietet, von denen eine so liberal wie die andere ist. Schaut man nun nach diesem Ausflug zur Eintracht von Ideologie und rationalem Interesse wiederum auf die Verteilungsanteile der Menschen, die sie durch eingegangene Verträge einander zusprechen, dann hat man natürlich keinen Grund zur Annahme, dass die auf diese Art erzielten Anteile gleich ausfallen müssten. Die Annahme der Gleichheit gründet hier gerade darauf, dass es keine gültigen Gründe für Ungleichheit gibt. Wenn es keine Gründe gibt, warum die Anteile der Menschen so und so ausfallen sollten, oder wenn wir (gemäß dem auf Symmetrie gründenden egalitären Argument zur Vermeidung der Zufälligkeit) solche Gründe ablehnen, dann sollten alle gleiche Anteile erhalten. Die Verteilungstheorien, wie z. B. die Grenzproduktionstheorie, stellen indes geschlossene Systeme solcher Gründe dar. Für eine Ideologie ist es ziemlich bedenklich, wenn sie nicht nur eine positive Verteilungstheorie enthält, sondern auch ein Postulat, das gleiche Anteile fordert. Die junge liberale Ideologie, wie sie von T.H. Green und Hobhouse erdacht und von John Dewey massentauglich gemacht wurde, brach nicht von Anfang an mit dem Naturrecht (das die Achtung von Eigentumsverhältnissen aus keinem anderen Grund forderte als dem, dass sie rechtmäßig zustande kamen) oder mit der klassischen und neoklassischen Ökonomie (die dazu neigten, Löhne und Profite als unmittelbare Auswirkung von Angebot und Nachfrage zu sehen). Im Großen und Ganzen betrachtete sie eine Reihe von Gründen dafür, warum das materielle Wohlergehen verschiedener Personen so war, wie es war, als empirisch wahr und moralisch gerechtfertigt. Gleichzeitig entwickelte man die These, dass das relative (nicht das absolute) materielle Wohlergehen eine Frage der Gerechtigkeit sei; dass die aktuelle Verteilung ungerecht sein könne und dass der Staat irgendwie den Auftrag bekommen habe, Verteilungsgerechtigkeit sicherzustellen. Das „soll“ war offensichtlich dazu vorgesehen, das „ist“ zu überstimmen. Mit zunehmender Reife emanzipierte sich die liberale Ideologie zusehends von ihrem anfänglichen Respekt vor den Gründen, die für ungleiche Verteilungsanteile sorgen. Wenn diese Gründe ungültig sind, dann können sie die Verteilungsgerechtigkeit nicht einschränken. Deren Doktrin kann ungehindert hingehen, wohin sie will. Zu Beginn sah dies jedoch völlig anders aus. Die liberale Idee trachtete danach, sowohl die Gründe für relatives Wohlergehen hinzunehmen als auch deren Auswirkungen abzulehnen. Dieser Parforceritt gelang T.H. Green mit seiner Lehre, dass ein Vertrag, der anscheinend frei ist, in Wirklichkeit unfrei sein könne.76 76 In seinem Liberal Legislation and Freedom of Contract von 1889 hebt Green in unmittelbarer Nachbarschaft zur Manchesterschule ab und landet unversehens im Wolkenhimmel Hegels. Eigentum entsteht, wenn ungleiche Individuen die Natur erobern, folglich ist es billigerweise ungleich. Es ist der Gesellschaft geschuldet, weil es ohne die Garantie derselben nicht besessen werden könnte. Alle Rechte sind vom Gemeingut abgeleitet. Wider das
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In den Verteilungstheorien vom Typ Grenzbeitragstheorie gibt es drei Gründe dafür, warum das materielle Wohlergehen einer Person anders ist als das einer anderen Person. Ein Grund betrifft das Kapital: Es ist eine historische Tatsache, dass einige Menschen einen größeren Anteil am Produktionsprozess haben und mehr zu ihm beitragen als andere.77 Ein anderer gilt der persönlichen Ausstattung, egal ob angeboren oder erworben, sei es durch Erziehung, Selbstvervollkommnung oder Erfahrung.78 Ein dritter Grund betrifft die Arbeit. Der Einsatz, den man irgendwie messen kann, ist in verschiedene Unterarten aufteilbar. „Organisation“ (im Sinne Marshalls) und „Unternehmen“ (im Sinne Schumpeters) passen durchaus in die Kategorie „Einsatz“, wenn auch nicht ganz so einfach, weil die Belohnung für die Risikobereitschaft sich der Belohnung für das riskierte Kapital anpassen muss. Liest man diese Gründe in umgekehrter Reihenfolge, dann stellt die liberale Idee von heute (ganz zu schweigen von der Zeit vor hundert Jahren) die Gerechtigkeit ungleicher Anteile aufgrund ungleicher Einsätze auf keine harte Probe; vorausgesetzt man versteht Einsatz im Sinne von „harter Arbeit“, die mit Leid in Verbindung zu bringen ist. „Harte Arbeit“ im Sinne von Freude oder leidenschaftlicher Hingabe ist hingegen ein sehr umstrittener Grund für überdurchschnittlich hohe Löhne.79 Die persönliche Ausstattung ist indes eine eher umstrittene Angelegenheit, weil es schon immer die Überlegung gab, dass gottgegebene Talente, Anmut und Schönheit oder Auftritt und Vertrauenswürdigkeit aufgrund einer privilegierten Herkunft unverdient seien, während Vorteile aufgrund von Einsatz verdient seien. Im Großen und Ganzen trachtete die frühe liberale Strömung nicht danach zu bestreiten, dass die Menschen ihre eigenen Qualitäten besäßen. (Gleichwohl hieß es, jedem stünden zumindest gleiche Chancen auf jene Eigenschaften zu, die für jeden gewöhnlichen Arbeiter durch Bildung erwerbbar sind. Welche (gleichen) Chancen soll man einer genialen Person gewähren, die der „gleichen“ Bildung mehr abgewinnt? Sollte sie weniger unterrichtet werden? Zu dieser Frage könnte man geteilter Meinung sein, Gemeingut, wider die Gesellschaft kann es kein Eigentumsrecht und auch sonst kein Recht geben. Der Gemeinwille erkennt das Gemeingut an. Der Besitz des Einzelnen an Eigentum muss also vom Gemeinwillen, der den Besitztitel bewilligt, abhängen. Dieser Schluss ist genauso jakobinisch wie hegelianisch. Green hat diesen Schluss nicht klar zum Ausdruck gebracht. Aber seine Nachfolger tun es zusehends. 77 Ein „zu eigen haben“ schließt „de facto, aber unrechtmäßiges besitzen“ und „an sich reißen“ ganz klar aus. 78 M.E. sollte man lieber den Begriff „persönliche Ausstattung“ nutzen als den der „natürlichen Güter“, den Leute wie Rawls verwenden, weil er nicht die unbeabsichtigte Frage aufkommen lässt, wie jemand zu dieser Ausstattung gekommen sei, „natürlich“ oder nicht, ob er damit geboren worden sei, dafür gearbeitet oder sie auf seinem Lebensweg aufgegabelt habe. In meiner Systematik unterscheidet sich die persönliche Ausstattung von Kapital nur darin, dass sie nicht übertragbar ist. Die Regel „Der Finder darf’s behalten“ schließt Fragen darüber, ob man es verdient habe und „woher es stamme“, aus. 79 Vgl. Barry (1973), S. 159, zu der Idee, dass genug Personen Spaß an Managerjobs und anderen Berufen haben oder hätten, wenn dies dazu führte, dass deren Entlohnung auf das Entlohnungsniveau von Lehrern und Sozialarbeitern fiele.
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aber derlei Einwände spielten eher eine periphere Rolle.) Wenn die Grenzproduktionstheorie, die gleiche Belohnungen für gleiche Beiträge vorsah, überhaupt einen Sinn ergeben sollte, dann mussten die unterschiedlichen Qualitäten der Menschen, insoweit diese als Eigentümer derselben zu sehen waren, sich in unterschiedlichen Belohnungen widerspiegeln. Zu guter Letzt verdient Kapital seine Entlohnung. Obwohl das Zufließen großer Einkommen an die Eigentümer großer Kapitalmengen schwer hinzunehmen ist, scheint es noch schwieriger zu sein, von vornherein zu sagen, dass Eigentum nur unverletzlich sei, wenn man wenig davon habe, jedoch nicht, wenn man sehr viel davon habe.80 Der Versuchung, das Prinzip der Unverletzlichkeit von Eigentum an seinen Rändern aufzuweichen, konnte man nicht lange widerstehen. Eigentum hatte der Gesellschaft verpflichtet zu sein, es hatte den Menschen Arbeit zu geben und seine Früchte durfte keiner (und der Prinzipal erst recht nicht!) extravagant verschwenden. T.H. Green selbst hieß industrielles Kapital gut, verabscheute indes Landeigentum. Und viele Liberale neigten zur Annahme, dass das Kapital, auch wenn es von bestimmten Individuen besessen wurde, treuhänderisch für die Gesellschaft verwaltet wurde. Die erztypischen Kapitalisten um die Jahrhundertwende, die alles sparten und reinvestierten, auch „die Zinsen auf die Zinsen“, hielten diesem Empfinden selten etwas entgegen. Kapital und persönliche Ausstattung akzeptierte man also – wenn auch zähneknirschend – als legitime Gründe dafür, dass mancher ein dickeres Güterbündel nach Hause trug als ein anderer. Allerdings wurden die relativen Bündel dann doch von der Öffentlichkeit näher in Augenschein genommen, und der Staat nahm nach und nach rechtmäßig jene Korrekturen daran vor, die angesichts solcher Überprüfung angemessen erschienen. Gleichwohl waren es nicht die rechtmäßigen Ursachen der Ungleichheit, welche die Ungerechtigkeit hervorbrachten – das wäre eine offenkundige Absurdität gewesen –, sondern es war die Tatsache, dass einige scheinbar freie Verträge in Wirklichkeit (um es mit T.H. Green zu sagen) „Werkzeuge verkappter Unterdrückung“ waren, was ihre Klauseln in die Lage versetzte, ungerechte Verteilungsanteile zu erzeugen. Wie kann man diese hegelianische Unterscheidung festnageln? Auf den ersten Blick schaut es so aus, als ob sie auf den ungleichen Status der Vertragsparteien Bezug nähme. Ein Vertrag zwischen den Starken und den Schwachen ist nicht wirklich frei. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es damit nicht getan ist. Wann ist ein Arbeiter schwächer als ein Kapitalist? Wenn er arbeitslos ist und dringend einen Job braucht, dann ist er bestimmt schwächer. Folgt daraus, dass dann, wenn die Nachfrage nach Arbeitern hoch ist, der Kapitalist, der dringend Arbeiter braucht, schwächer ist als der Arbeiter? Und wenn man diese Symmetrie nicht anwenden kann, was können wir dann sagen, außer, dass der Arbeiter immer 80 Es ist verführerisch, den frühen liberalen Respekt vor Eigentum der Lockeschen Tradition in der anglo-amerikanischen Politiktheorie zuzuschreiben, in der Eigentum und (politische) Freiheit gleichgesetzt wurden. In anderen Kulturen müsste man nach einer anderen Erklärung suchen: Warum sollte der Abbé de Sieyès, ein Liberaler vom Typ Dewey, der sich nichts aus Locke machte, denken, dass alles außer Eigentum gleich sein sollte.
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der Schwächere sei? Arbeitsverträge sind also immer ungleich, und es sind immer die Löhne, die zu niedrig sind, und die Profite, die zu hoch sind. Wenn die liberale Strömung das wirklich nicht meinte, was meinte sie dann? Je öfter wir den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status gegen andere Größen austauschen, wie Kaufkraft, Marktbedingungen, Wirtschaftskreislauf usw., desto deutlicher wird, dass die operative Distinktion zwischen „starken“ und „schwachen“ Vertragsparteien darin liegt, dass die derart unterscheidende Person meint, die getroffenen Vertragsbedingungen seien zu gut für den einen und nicht gut genug für den anderen. Für ihre Diagnose gibt es keinen anderen Grund als ihren Gerechtigkeitssinn. Die Ungerechtigkeit eines Vertrages dient wiederum als hinreichende Evidenz dafür, dass er von ungleichen Parteien eingegangen wurde, dass er ein ungleicher Vertrag war. Und wenn er ungleich war, dann war er ungerecht. Und so drehen wir uns ständig im Kreis. Wann also ist ein Vertrag unfrei, ein „Werkzeug verkappter Unterdrückung“? Es bringt nichts, zu antworten, „wenn er ungerechte Verteilungsanteile erzeugt“, z. B. wenn die Profite exzessiv sind und die Löhne unangemessen. Das würde uns nicht davon abhalten, weiterhin zu sagen: „Verteilungsanteile sind ungerecht, wenn sie aus unfreien Verträgen hervorgehen.“ Wenn wir der Zirkularität entfliehen wollen, müssen wir ein unabhängiges Kriterium finden; entweder eines für unfreie Verträge (damit wir ungerechte Anteile erkennen können) oder eines für ungerechte Anteile (damit wir unfreie Verträge identifizieren können). Dem frühen liberalen Ansatz folgen heißt, nach Ersterem auszuschauen, nach einer unabhängigen Definition für unfreie Verträge, damit wir von der Unfreiheit auf die Ungerechtigkeit schließen können. Das tautologische Kriterium für einen unfreien Vertrag war, dass er unter Nötigung eingegangen wurde. Damit ein solcher Vertrag als scheinbar frei durchgehen kann, muss die Nötigung unsichtbar sein. Wenn jeder sie erkennen könnte, dann wäre sie keine „verkappte Unterdrückung“ und könnte nicht irrtümlich für frei gehalten werden. Es braucht ein scharfes Auge, um sie zu erspähen. Das nächstbeste Kriterium für verkappte Nötigung ist also, dass ein scharfes Auge sie als solche erkennen kann. Dies indes verschiebt unsere Schwierigkeiten nur, weil wir uns nun auf ein unabhängiges Kriterium verständigen müssen, mittels dessen wir feststellen, wessen Augen scharf sind. Mit anderen Worten: Wer soll die Eigenschaft haben, darüber zu urteilen, ob ein Vertrag verkappte Nötigung enthält, dass er also in Wirklichkeit unfrei ist? Es ist diese Art von Vexierfrage, die im nationalsozialistischen Deutschland aufkam, und zwar beim konfusen Versuch, in den Nürnberger Gesetzen festzulegen, wer jüdisch sei und wer nicht. Hitler soll daraufhin mit den Worten durchgegriffen haben: „Wer ein Jude ist, das bestimme ich!“81 81 Es ist ein grober Fehlschluss anzunehmen, dass die Regel „Es ist die öffentliche Meinung oder die Wählermehrheit, die darüber bestimmen soll, ob jemand ein Jude ist“ moralisch oder rational einer höheren Ordnung angehört als die zweifelhafte Hitlerregel. Dennoch ist festzustellen, dass große Teile der allgemeinen Öffentlichkeit damit einverstanden
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Daher scheint es, also ob die interpersonale Gerechtigkeit mangels eines unabhängigen Kriteriums auf dieselbe intuitionistische Lösung angewiesen wäre wie der interpersonale Nutzen. Wer auch immer über die Macht verfügt, die Arrangements der Gesellschaft auszubessern, und dieselbe nutzt, dem mag man unterstellen, dass er die Auswirkungen auf die Nutzen aller Betroffenen veranschlagt und verglichen hat und das Arrangement ausgewählt hat, das seine Einschätzung des interpersonalen Nutzens maximiert. Es ist bedeutungslos zu behaupten, er habe nicht so gehandelt oder seine eigene Einschätzung falsifiziert, indem er ein Ergebnis herausgefunden und auf ein anderes hingewirkt habe. Seine Wahl wird „seine Präferenz offenlegen“, in zwei identischen Hinsichten; einfach gesagt: wen er als Gewinner und wen er als Verlierer vorzieht; und komplizierter ausgedrückt: seine Bewertung der Nutzen der künftigen Gewinner bzw. der künftigen Verlierer und seine Art, beide zu vergleichen. Diese Darstellung dessen, wie man die Balance der Nutzen findet, gilt mutatis mutandis für die Entdeckung der Verteilungsgerechtigkeit, indem man die Balance der interpersonalen Verdienste sucht. Wer immer Zwang darauf verwendet, den zulässigen Vertragsklauseln Beschränkungen aufzuerlegen und die Verträge zu besteuern und subventionieren, damit sie gemäß der gerechten Verdienste der Parteien die korrekten Vertragsergebnisse haben, darf als jemand angesehen werden, der die Verträge mit Wohlwollen betrachtet, Fälle verkappter Unterdrückung der Schwachen ausfindig gemacht und, indem er derlei wirklich unfreie Verträge aufgehoben hat, den Verdiensten zur Durchsetzung verholfen und die Gerechtigkeit so weit maximiert hat, wie politisch machbar war. Es wäre zwecklos zu bestreiten, dass er es so getan habe, weil man dann ja sagen würde, er wäre nicht von seiner wahren Gerechtigkeitsvorstellung geleitet worden. Die Standardauffassung der Liberalen ist, dass der Staat, der sich so benimmt, als ob er gemäß interpersonaler Nutzenvergleiche, Verdienstvergleiche oder beidem agieren würde, dies im Rahmen demokratischer Regeln machen sollte, damit für die Nötigung der Verlierer ein Auftrag der Bevölkerung vorliegt. Es ist immer bequem, Nötigung einem Auftrag der Bevölkerung zuzuschreiben, weil jeder dazu neigt, eine Entscheidung eher gutzuheißen, falls „das Volk es wollte“, als in dem Fall, in dem „der Despot es wollte“. Dennoch gibt es Möglichkeiten, die moralisch mehrdeutiger ist. Anstatt die interpersonalen Präferenzen des Staates als Folge eines Bevölkerungsmandates zu sehen, kann man das Kausalverhältnis auch umgekehrt denken. In einem politischen System, das hauptsächlich auf Konsens vom Typ „Köpfe zählen“ (Wahldemokratie) basiert, kann man sich vorstellen, dass der Staat ein Mandat der Bevölkerung für die Dauer seiner Machtperiode organisiert, indem er interpersonale Präferenzen manifestiert und verspricht, zum Vorteil der ausgewählten Menschen, Gruppen, Klassen usw. zu handeln. Wenn er das mit Erfolg tut, dann kann man ihn als jemanden ansehen, der interpersonale sind, „dass die Wählermehrheit darüber bestimmen soll, ob ein Vertrag frei ist und ob die Verteilungsanteile gerecht sind“.
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Nutzen und Verdienste vergleicht und Verteilungsgerechtigkeit in einer Weise austeilt, die zum gewünschten Ergebnis führt. Wenn man darlegen will, auf welche Weise die Dinge „wirklich“ ablaufen, dann kann man schwerlich auf empirische Tests zurückgreifen. Man könnte vielleicht als Annäherung vorschlagen, dass es in der Version „Das Bevölkerungsmandat lenkt den Staat“ der Gerechtigkeitssinn der Bürger sei, dem der Staat genügen müsse, während es in der Version „Der Staat besticht die Menschen, um ihr Mandat zu erhalten“ ihr Interesse sei. Allerdings glauben nur wenige Menschen bewusst, dass ihr Interesse ungerecht sei. Und solange sie es nicht tun, werden ihr Interesse und Gerechtigkeitssinn übereinstimmend durch dieselben Handlungen befriedigt. Die Verletzung ihrer Interessen werden sie als Ungerechtigkeit empfinden. Es wird keinen Lackmustest geben, der uns sagen könnte, ob ein Staat soziale Gerechtigkeit oder eine „pluralistische“ Interessenpolitik „jenseits aller Ideologie“ verfolgt. Wenn der Staat „nur Befehlen gehorcht“ und den demokratischen Auftrag erfüllt, dann liegt die Verantwortung für seine Taten beim „Volk“, dessen Werkzeug er ist. Genauer gesagt, ist es die Mehrheit (der Wähler, Einflussbeschaffer oder einer Mischung von beiden, je nachdem, wie die jeweilige Demokratie funktioniert), die für das Leid verantwortlich ist, das der Minderheit angetan wird. Etwas komplizierter liegen die Dinge, wenn wir davon ausgehen müssen, dass der Staat einen Auftrag der Bevölkerung erfüllt und dieselbe Art von Verantwortung dafür trägt wie der „Dealer“, der für die Nachfrage seiner Kundschaft nach verhaltensändernden Substanzen verantwortlich ist. Der Abhängige wird dann genauso zum Opfer wie der Mensch auf der Straße, den er ausraubt, um seine Sucht zu finanzieren. Wenn alle Verträge wirklich freie Verträge gewesen wären, ohne dass jemand wegen verkappter Nötigung ungerechte Klauseln hätte akzeptieren müssen, dann wäre die Frage der Verteilungsgerechtigkeit offensichtlich gar nicht aufgekommen, zumindest nicht solange Eigentum als unverletzlich galt. Für den Ausbau der Demokratie war es indes nur gut, dass man dies offenbar nicht für gegeben hielt.
Unbeabsichtigte Effekte beim Herstellen interpersonaler Nutzenund Gerechtigkeit Die Beschränkungen, die der Staat der Bevölkerung auferlegt, sind mehr als nur ein Ersatz für private Beschränkungen.
Wenn die Menschen immer nur herumkommandiert und ausgenutzt werden müssen, ist es dann erheblich, wer herumkommandiert? Egal, ob er als jemand verstanden wird, der auf interpersonalen Nutzen oder Verteilungsgerechtigkeit aus ist, der Staat stellt für einige seiner Bürger ein Gut bereit. Mit etwas gutem Willen kann man sagen, dass dieses Gut der beabsichtigte Effekt ist, den Letztere verfolgten, als sie ihm für seine Politik ihre Unterstützung
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gaben. Indem er einigen (vielleicht sogar den meisten) Menschen zu mehr Nutzen und Gerechtigkeit verhilft, unterwirft der Staat die Zivilgesellschaft einem System aus Verboten und Befehlen. Diesem Vorgang haften selbsterhaltende Eigenschaften an. Das Verhalten der Menschen wird angepasst, ihre Gewohnheiten als Reaktion auf die Hilfen, Verbote und Anordnungen geformt. Ihr angepasstes Verhalten und ihre neuen Gebräuche schaffen eine Nachfrage nach zusätzlichen Hilfsmitteln, Bedürfnisse nach Anordnungen usw., wahrscheinlich in endloser Wiederkehr.82 Mit der Zeit wird das System komplizierter und erfordert einen wachsenden Durchsetzungsapparat im weitesten Sinne. Die Macht des Staates über die Zivilgesellschaft wird regelmäßig oder spasmisch zunehmen. Der Zuwachs an Macht, den der Staat auf diese Weise erfährt, ist eine Art zweites Wachstum und führt über das Wachstum der Staatsmacht hinaus, das der Staat durch seine expandierende Aufgabe als Produzent von vermeintlich mehr interpersonalem Nutzen und Gerechtigkeit erzeugt. Diese Versklavungen, die sich auf alle Bürger in unterschiedlichem Ausmaß auswirken, sind die unbeabsichtigten Effekte des Staates, der das Gut seiner Bürger befördern will.83 Diese Beobachtung ist nicht originell; umso weniger als der Machtaufstieg des Staates, die Anpassung des menschlichen Verhaltens an den Staat (sowie die gegenseitige Anpassung) und die mutuelle Bestärkung einiger dieser Entwicklungen zu der bedeutsamen Klasse unbeabsichtigter Effekte gehören, die zwar nicht gänzlich unvorhersagbar sind, aber weitgehend unvorhersehbar. Bezeichnenderweise ist der Vorgang einer, bei dem die Prophezeiung die allergrößten Chancen hat, nicht geglaubt zu werden. Tocqueville sah ihn lange, bevor irgendetwas von ihm wirklich eintrat, und Acton erkannte ihn in dem Moment, in dem er sich anbahnte. Als er in voller Blüte stand, musste die liberale Ideologie einen Platz für ihn finden. Sie tat dies, indem sie drei unterschiedliche Argumentationslinien entwickelte. Die erste stritt einfach ab, dass irgendetwas Unerwünschtes stattfände und dass große und möglicherweise verhängnisvolle unbeabsichtigte Effekte sich zu Beginn und im Verlauf des sozialen Fortschritts anhäuften. Es ist eine empirische Frage, ob dieses Argument wahr ist. Die Antwort darauf ist m.E. genau so klar wie langweilig, und ich habe nicht die Absicht, sie zu erörtern. 82 Ich bin I.M.D. Little für seine Anregung dankbar, die „endlose Wiederkehr“ nicht als unvermeidbares Schicksal der gesellschaftlichen Entwicklung anzusehen. Die Annäherung an einen Ruhezustand ist logisch genauso gut möglich. Man muss auch nicht von vornherein annehmen, dass eine endlose Wiederkehr der wahrscheinlichere Fall sei. Die historischen Erfahrungen mit tatsächlichen Gesellschaften untermauern indes die Hypothese der endlosen Wiederkehr und nicht die der Annäherung an ein Gleichgewicht, in dem kein neuer Staat kommandierte und keine Verbote und Hilfen sich anbahnten. 83 Vielleicht glaubt der Leser, dass zwischen den obigen Zeilen ein dunkler Schatten eines „gesellschaftlichen Ausgleichs zwischen Gerechtigkeit und Freiheit“ lauere, der, Seite an Seite mit anderen Ausgleichspaaren pluraler Gesellschaftsziele, die Grundlage einer pluralistischen Politiktheorie bilde. Ein solcher Schatten ist nicht beabsichtigt. So, wie ich nicht zu sehen vermag, wie man von einer Gesellschaft annehmen kann, sie „wähle“, würde ich einem gesellschaftlichen Ausgleich entgegenhalten, dass sein schwammiger Sinn hier stört.
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Gemäß der zweiten Argumentationslinie ist die Hypertrophie des Staates möglicherweise real, aber nicht bösartig, zumindest nicht per se. Wir sollten den Staat danach beurteilen, was er mit seiner zunehmenden Bedeutung und Macht anstellt. Die Auffassung, dass große Staatsmacht intrinsisch schlecht sei, weil sie das Leid, das einzelne Bürger oder gar die ganze Gesellschaft erführen, falls der Staat sich – aus welchem Grund auch immer – dazu entschiede, die Macht zu missbrauchen, ist unbegründet und voreingenommen. Die richtige liberale Sichtweise müsse sein: Die Demokratie stellt sicher, dass der Staat die Macht nicht in einer dem Volke abträglichen Weise nutzt. Eben weil der Ursprung wachsender Staatsmacht in der Ausweitung der Demokratie liegt, ist derselbe Mechanismus, der die von den Reaktionären vorgeblich gefürchteten unbeabsichtigten Effekte ausbrütet, zugleich die Schutzmaßnahme gegen deren angeblichen Gefahren. Ein amüsantes Beispiel für dieses Argument, das Friedrich A. von Hayek ausgegraben hat, findet sich in einer Ansprache des sehr liberalen Joseph Chamberlain: „Jetzt ist die Regierung der organisierte Ausdruck der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen und unter diesen Umständen sollten wir damit aufhören, sie zu verdächtigen. Jetzt ist es an uns, ihre Aufgaben auszudehnen und danach auszuschauen, auf welche Weise ihre Aktionen sinnvoll ausgeweitet werden können.“84 Die Gültigkeit dieses Arguments hängt wie die Gültigkeit aller Argumente, die sich der Idee vom Auftrag der Bürger bedienen, von der Behauptung ab, dass es das Gleiche bedeute, ob der Staat zur Wahrung seiner Macht genug Zustimmung in der Bevölkerung sicherstelle oder ob die Bevölkerung den Staat angewiesen habe, das zu tun, was er für nützlich, notwendig und wünschenswert hält. Wer erkennt, dass der Auftrag der Bevölkerung dieser Gleichsetzung entspricht, der kann zumindest sagen, dass die Demokratie ein Wächter sei, der seine eigenen Anhänger (sagen wir die Mehrheit) vor dem Leid staatlicher Macht schütze. Deren Wunsch und Wille sei es gewesen, dass er auf bestimmte Weise agiere und bestimmte politische Maßnahmen ergreife. Daraus kann man folgern: Je größer die staatliche Macht ist, umso anspruchsvoller kann das Verlangen der Mehrheit werden, und umso größer auch das Leid, das der Staat der Minderheit zufügen muss, um seinem Auftrag der Bevölkerung gerecht zu werden.
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Hayek (20054), S. 138, Hervorhebung von mir. Das Zitat verdient Aufmerksamkeit. Erstens lernen wir, dass das, was früher einmal wahr gewesen sein mochte, jetzt, da wir den Staat kontrollieren, nicht mehr wahr ist. Zweitens werden wir dazu ermutigt, die unbeabsichtigten Effekte gutzuheißen, sie ihn beabsichtigte zu verwandeln, zweite, dritte und n-fache Runden staatlicher Ausdehnung entschieden zu wollen und den Wiederholungsprozess, der durch die selbsterhaltenden Eigenschaften dieser Effekte hervorgebracht wird, absichtlich in diese Richtung voranzutreiben. Wir sind ja daran gewöhnt, dass der gegenwärtige Staat im Dienste verdienter Interessen von der Nachfrage nach „Ausdehnung seiner Funktionen“ und der „Ausweitung seiner Tätigkeiten“ überwältigt ist. So gesehen, mag es uns belustigen, dass Joe Chamberlain es für notwendig hielt, den Appetit der Menschen auf die Wohltaten des Staates anzuregen.
Unbeabsichtigte Effekte beim Herstellen interpersonaler Nutzen
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Entlang dieser Linie kommen wir am Ende haargenau zu der Schlussfolgerung, die Acton in Bezug auf die Moralität der Mehrheitsregel zog und mit der kein Liberaler einverstanden sein kann.85 Vielleicht ist das Argument von der Demokratie als ipso facto Schutzwall vor den Gefahren einer übermächtigen Regierung deshalb in der Regel nicht allzu intensiv eingesetzt worden. Das dritte liberale Argument, mit dem der interpersonale Güter produzierende Staat trotz der unbeabsichtigten und womöglich üblen Effekte verteidigt wird, ist brauchbarer und düsterer. Es will nicht leugnen, dass liberale Politikmaßnahmen ein anhaltendes Wachsen des Staates bewirken, der mit vielem von dem, was ihn ausmacht, machtvoll und tief in viele Bereiche des zivilen Lebens eindringt. Es will auch nicht bestreiten, dass der allgegenwärtige Staat für einige oder gar für alle in unterschiedlichen Maßen nachteilig sein kann, vor allem im Sinne verlorener Freiheiten, aber auch, zumindest für einige, im Sinne von Nutzen und Gerechtigkeit. Es würde dennoch behaupten, dass uns das nicht davor abschrecken sollte, den Staat darum zu bitten, den „gesamten“ oder „gesellschaftlichen“ Nutzen bzw. die Gerechtigkeit, oder beide, zu maximieren. Trotz des Verlustes an Freiheit sind der Nutzen und die Gerechtigkeit als dessen unbeabsichtigter Nebeneffekt kein Nettoverlust. Die Saldi des interpersonalen Nutzens und der Gerechtigkeit, die staatliche Interventionen erzeugen, sind ex hypothesi positiv; und zwar nachdem alle Effekte, sofern sie maximiert wurden, sorgfältig saldiert sind: alle Verluste, einschließlich der unbeabsichtigten, müssen durch die Gewinne ausgeglichen sein, falls die Hypothese vom Staat als Produzent des interpersonalen Nutzens aufrechterhalten bleiben soll. Wenn aber die Freiheit ein anderes und vom Nutzen getrenntes Ziel ist, dann dürfte deren Verlust durch die Maximierung des Nutzens nicht aufzufangen sein. Außerdem könnte es sein, dass die unbeabsichtigten Effekte sich aufgrund ihrer Natur nicht zur Einbindung in eine utilitaristische Berechnung eignen (vgl. Kap. 2.3), weil ihnen immer eine Dimension des Unvorhersehbaren anhaftet. Egal wie dem auch ist, es wäre dumm, zu bestreiten, dass durch die Vermehrung staatlicher Anordnungen ein Teil der Freiheit verlorengeht; und durch zunehmende Zwangseingriffe in die Arrangements, die Menschen untereinander treffen, sowie dadurch, dass in ihren Verträgen gerechte Klauseln gegen vereinbarte Klauseln eingetauscht werden. Die ausgereifteren Versionen der liberalen Ideologie geben hingegen zu verstehen, dass dies nicht wirklich die Verdrängung der Freiheit durch die Unfreiheit darstellt. Stattdessen ist es die Einwechslung der rationalen und systematischen Einmischung in das Leben der Menschen für die willkürliche und zufällige Einmischung, die sich gelegentlich ergibt, und zwar durch „die sozialdarwinistische Lotterie in der Maske des freien Marktes“. Der entscheidende Unterschied ist, dass 85 Der Folgesatz könnte z. B. folgende Form annehmen: „Je stärker der Staat dem Klassenfeind zusetzen kann, um ihn zu vernichten, umso mehr kann er als Diktatur des Proletariats seine historische Aufgabe wahrnehmen.“ Man muss es nicht betonen, dass die liberale Ideologie nicht bereit ist, eine Schlussfolgerung dieser Art zu ziehen.
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die „soziale Lotterie“ der Anlass für „versehentliche“ Einmischungen ist, während der Staat sie „bewusst“ bewirkt, was, so wird unterstellt, aus irgendeinem Grund weniger schlecht sei.86 Diesem Argument, das undurchsichtiger ist, als es zunächst erscheint, ist mit Sorgfalt zu begegnen. Es wäre ungültig, wenn es meinte, dass man gegen einen herumkommandierenden Staat nichts einwenden könne, weil die Leute ohnehin herumkommandiert werden müssten. Das wäre so, als ob man sagte, man könne die Todesstrafe (die zumindest intentional sei) beibehalten oder wiedereinführen, weil Menschen ohnehin bei Verkehrsunfällen umkommen. Es könnte aber ein gültiges Argument sein, wenn es bedeutete, dass durch die Einführung systematischer Staatseingriffe (z. B. Todesstrafe bei sorglosem Fahren) die Menschen den zufallsgesteuerten privaten Eingriffen entkämen (etwa bei Verkehrsunfällen). Drei Bedingungen müssen gegeben sein, damit das Argument ein gültiges wird. Eine der Bedingungen ist empirischer Natur. Größere Staatseingriffe müssen tatsächlich zu weniger Eingriffen infolge ungeplanter Zufälle führen. Ein Leben als eingezogener Soldat mit Kost und Logis muss z. B. bedeuten, dass man in den Kasernen einem zufälligen Unfall und den Launen anderer weniger ausgesetzt ist, als es der Fall wäre, wenn man auf dem Basar arbeiten würde. Jene, die glauben, dass dem so ist, denken normalerweise zuerst an die Verfolgung der diversen egalitären Ziele durch den parteiischen Staat, deren Realisierung die materiellen Risiken und Belohnungen des Lebens reduziert, und zwar im Vergleich zu dem, was im Naturzustand bzw. in meinem hypothetischen „politikärmeren“ kapitalistischen Staat überwiegen würde. Die zweite Bedingung ist, dass die Menschen tatsächlich die systematischen Eingriffe des Staates den beiläufigen Eingriffen infolge zufälligen Zusammenwirkens der Umstände oder der Launen anderer Personen vorziehen, vorausgesetzt, sie kennen beide gleichermaßen aus Erfahrung. Dies muss deshalb so sein, damit sichergestellt ist, dass das Leben nicht die Präferenzen verzerrt hat und Sucht nach oder Allergie gegen die Situation bewirkt hat, die man besser kennt. Gewiss ist diese Bedingung so gut wie nie gegeben, weil der Soldat das Soldatenleben kennt, und der Straßenhändler das Straßenhändlerleben, aber selten kennt einer das Leben des anderen. Wenn der eine die Baracke vorzieht und der andere den Basar, dann mögen wir vielleicht sagen wollen, dass jeder das andere Leben vorgezogen hätte, wenn ihm mehr Erfahrung vergönnt gewesen wäre. Ähnliches können wir über den Wohlfahrtsstaat sagen: Wenn er Menschen heranzieht, die von staatlicher Wohlfahrt abhängig sind und sie, sofern sie die Möglichkeit dazu haben, nach mehr Wohlfahrt verlangen, dann können wir „dialektisch“ schließen, dass sie nie die Chance hatten, ihre „wirklichen“ Präferenzen zu entwickeln. Schließlich muss das Argument („Wenn sich schon einer bei uns einmischen muss, dann soll es lieber der Staat sein“) einer dritten Bedingung genügen. Angenommen, staatliche Interferenz kann private Interferenz ersetzen und lindern, 86
Barber (1980), S. 41.
Unbeabsichtigte Effekte beim Herstellen interpersonaler Nutzen
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dann muss der Preis, zu dem er das verwirklichen kann (in einem weithin akzeptablen Sinn) „billig“ sein, ein günstiger Preis. Wenn man ein erdrückendes System an Staatsgewalt braucht, um ein geringes Maß an privater Willkür auszuschalten, dann wäre es nicht wert, den staatlichen Zwang hinzunehmen, auch ungeachtet der Vorliebe seitens der Bevölkerung für ein sicher geregeltes Leben und gegen eines, das vom Zufall bestimmt ist. Wenn das Größenverhältnis andersherum ausfällt, dann gilt natürlich das Umgekehrte. Mit etwas mehr Theorie könnte man diese Bedingung näher umreißen, nämlich, in Anlehnung an die Ökonomie, mittels „abnehmender Erträge“. Zu Beginn des liberalen Staates könnte ein „geringes Maß“ an Beschränkungen für die Bevölkerung die Menschen von einem „großen“ Maß an privater Beschränkung befreien. Danach würde sich die Austauschrate zwischen regulären und irregulären Beschränkungen verschlechtern, und zwar je mehr private Willkür und umständebedingte Zufälle durch das Trachten des Staates nach interpersonalem Nutzen und Verteilungsgerechtigkeit eliminiert würden; bis schließlich, nachdem jeder Winkel der gesellschaftlichen Verhältnisse nach willkürlichen Ungleichheiten durchforstet wäre, die Nebenwirkungen des Gutes tuenden Staates ausufernd groß würden und nur noch ein kleiner Rest an weiteren privaten Versklavungen und Unfreiheiten auf Kosten einer großen Ausweitung staatlicher Beschränkungen beseitigt werden könnte. Ab einem gewissen Punkt entspräche das „Maß“ an weiterer staatlicher Beschränkung, das notwendig wäre, um die „Grenzmenge“ privater Beschränkungen zu ersetzen, dem „Maß“, das ein gegebenes Individuum aufbringen könnte, um die „Grenzmenge“ privater Beschränkungen zu ertragen. In einem Moment der Schwäche könnte man sagen, das fragliche Individuum repräsentiere die ganze Gesellschaft. Weil sie sich an diesem Punkt der liberalen Evolution definitionsgemäß wohler fühlt als an einem mehr (oder weniger) „weiter fortgeschrittenen“ Punkt, würde die Gesellschaft sich dazu entscheiden, eine Weile innezuhalten. Ein derartiger Punkt würde für jenes Stadium des gesellschaftlichen Fortschritts stehen, an dem der Staat unserem Wunsch nach pausieren sollte. Er ist die equilibräre „Mischung“ aus staatlicher Anordnung und privater Freiheit, öffentlichen Gütern und privater Konsumption, Preis- und Lohnbindungs„politik“ und freiem Aushandeln, staatlichem und privaten Eigentum an den Produktionsmitteln, usw. (Vgl. auch Kap. 3.5 zur Rückwicklung des Staates.) Bevor man irgendwelche geistigen Anstrengungen unternimmt und sich Gedanken über eine derartige Konstruktion macht, sollte man sich in der Frage, ob die Menschen in dieser Angelegenheit wirklich eine Wahl haben, schon recht sicher sein. Die Vorstellung, den „Staat“ an einem Gleichgewichtspunkt oder sonst wo „zu stoppen“, muss praktisch umsetzbar sein. Aber sowohl aus theoretischen wie aus empirischen Gründen sieht die Sache illusorisch aus. Wäre sie dennoch eine praktikable Möglichkeit, dann müsste man den Kunstgriff, dass ein Repräsentant stellvertretend für die Gesellschaft steht (entspricht dem Spezialfall der Einhelligkeit), aufgeben. Man müsste von dem allgemeinen Fall ausgehen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt manche Menschen mehr und manche Menschen weniger Staat wollen. Was machen wir angesichts ausbleibender Einhelligkeit mit dem Ausmaß staatlicher Bevormundung, das die „Menschen“ nur im Austausch gegen weniger
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2. Kapitel: Der adverse Staat
private Willkür hinzunehmen bereit sind?; zumal einige Menschen dadurch ein Anrecht auf mehr Erleichterungen haben, während andere mehr von den Kosten tragen dürfen. Für dieses Problem gilt, was auch sonst gilt, wenn man versucht, eine Theorie der kollektiven Wahl auf dem Rücken heterogener Präferenzen und Interessen zu konstruieren: Es gibt keine spontane Lösung. Das Problem verlangt danach, dass irgendeine souveräne Autorität eine Gewichtung der verschiedenen Präferenzen vornimmt, damit eine interpersonale Balance gefunden werden kann. Wir kommen also nicht drum herum, auf den Staat (oder eine ähnliche Autorität) zurückzugreifen, um entscheiden zu können, wie viel Staat für die Menschen am besten ist. Egal in welche Richtung die Resultante dieser Überlegungen zeigt, es gibt immer die Möglichkeit, einfach darauf zu bestehen, dass man allein deshalb, weil die Menschen nun mal verschieden sind, in der Frage, ob die Menschen „alles in allem“ besser daran seien, in den Baracken oder auf dem Basar zu leben, keine Empfehlung geben kann. Wenn es also letztlich die Art und Weise, wie die Zustimmung zur Staatsmacht abläuft, ist, die das Leben der Menschen auf dem Basar mehr und mehr zu einem Leben in Baracken macht, dann soll es halt so sein. Nichtsdestotrotz ist hier Raum für eine Vorüberlegung, die einen klugen Ratschlag nicht ganz abwegig erscheinen lässt. Das hier diskutierte Problem, unbeabsichtigte Effekte hinnehmen zu müssen, hat gewisse Analogien zum Problem des beabsichtigten Vorteils, den sich der politische Hedonist, welcher der mutmaßlichen Hobbesschen Rechtslosigkeit entfliehen will, von der Einwilligung in den Gesellschaftsvertrag erhofft (Kap. 1.5). Mutatis mutandis gleicht es auch dem Machtabtritt der kapitalistischen Klasse an den Staat zum Zwecke der effizienteren Unterdrückung des Proletariats (Kap. 1.6). In beiden Fällen ist die Vertragspartei von Konflikten mit ihresgleichen (Mensch mit Mensch, Klasse mit Klasse) befreit; statt ihrer stellt der Staat ihre Konflikte fest und kämpft für sie. Im Gegenzug wird der politische Hedonist, egal ob Einzelperson oder Klasse, entwaffnet und ist damit dem Risiko, mit dem Staat in Konflikt zu geraten, hilflos ausgeliefert. Im Konfliktfall mit seinesgleichen hätte er die Möglichkeit, sich an jemanden zu wenden, Zuflucht zu einer höheren Instanz zu suchen. Die Befreiung von Konflikten unter Gleichen setzt ihn jedoch dem potentiellen Konflikt mit der höheren Instanz aus. Mit der Entscheidung für Letzteres, wird die Möglichkeit der Zuflucht aufgegeben. Man kann vom Staat nicht ernsthaft erwarten, in Konflikten zu schlichten, in denen er selbst eine der Konfliktparteien ist. Genauso wenig kann man auf seine Hilfe hoffen, wenn man mit ihm überquer liegt. Aus diesem Grund ist die Akzeptanz privater Einmischungen, so sehr sie auch einer „darwinschen Lotterie“ ähneln mag, ein Risiko anderer Größenordnung als die Hinnahme staatlicher Einmischungen. Das Klugheitsargument gegen die Einsetzung staatlicher Beschränkungen anstelle privater Beschränkungen rekurriert nicht darauf, dass die einen mehr schmerzen als die anderen. Es ist etwas mittelbarer, aber nicht weniger kraftvoll: Die Ersetzung beraubt den Staat seiner Eignung, der Zivilgesellschaft jenen Dienst zu erweisen, den sonst keiner erbringen kann – nämlich die Anrufungsinstanz zu sein.
3. Kapitel
Demokratische Werte 3. Kapitel: Demokratische Werte
Liberalismus und Demokratie Die spaltende Politik, welche der demokratische Wettbewerb dem adversen Staat aufdrängt, wird durch die liberale Ideologie, die zu allgemein geteilten Werten führen soll, gefördert.
Demokratie ist kein anderer Name für das gute Leben.87 Um einige der charakteristischen Merkmale der liberalen Ideologie und der Praxis des adversen Staates besser zu verstehen, dürfte es nützlich sein, kurz über die Demokratie als Verfahren und über die Demokratie als Zustand zu reflektieren (wobei Letzteres wohl das Ergebnis ist, wenn man sich auf das Verfahren einlässt). Bei der Erörterung der Gründe, sich dem Staat zu unterwerfen, habe ich behauptet, der politische Hedonismus bedeute, dass man Zwang hinnimmt, um ihm Gegenzug vom Staat einen Vorteil zu erhalten. Folgt man Hobbes, dann erleichtert ein funktionierender Staat die Selbsterhaltung. Und folgt man Rousseau, dann erleichtert er zudem den Zugang zu einer Vielzahl anderer Ziele. Deren Verwirklichung erfordere kooperierende Lösungen, die (so in etwa die vertragstheoretische Annahme) nicht zustande kämen, da es keine Abschreckung vor Nicht-Kooperation gäbe. Es sei die allererste Aufgabe des Staates, die Nicht-Kooperation von einer unwiderstehlichen Option (spieltheoretisch formuliert, eine „dominante Strategie“, die der Spieler übernehmen muss, sofern er rational ist) in eine untragbare Option umzuwandeln. Diese Aufgabe kann er auf unterschiedliche Weisen wahrnehmen, und zwar abhängig davon, wie er die drei Zutaten mischt, die zusammen die Gehorsamkeit stiftende Staatskunst ergeben, nämlich Repression, Konsens und Legitimität. Es ist denkbar, dass die Erwartungen des Hedonisten auch dann erfüllt wären, wenn der Staat nur seine Ziele verfolgte und die Zivilgesellschaft durch Repression zur Gefolgschaft zwänge. Angenommen, seine Ziele sind in Umfang und Ausmaß bescheiden und stehen nicht im direkten Wettbewerb zu denen des Staates (z. B., wenn der politische Hedonist Schutz vor Straßenräubern will und der Staat nationale Größe). In diesem Fall können beide Ziele gleichzeitig von einem starken Staat
87 Ich spiele auf den viel zitierten Aufschrei von S.M. Lipset an, der in Political Man, 1960, S. 403, meinte, dass die Demokratie kein Mittel zum guten Leben sei, sondern das gute Leben selbst.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
verfolgt werden.88 Wahrscheinlich müsste auch der kapitalistische Staat zur Durchführung seines anspruchslosen Programms keine Zustimmung verlangen (wenn er z. B. der Gesellschaft auferlegte, Leben und Eigentum anderer im Sinne einer kooperativen Lösung zu respektieren, oder wenn er „nicht-minimale“, „nicht-kapitalistische“ Rivalen ausschlösse und erdachte metapolitische Ziele verfolgte). Würde er indes in starkem Maße auf Zustimmung setzen, dann wäre es fraglich, ob er sich ausschließlich auf die Verfolgung derart bescheidener Ziele beschränken könnte. Der legitime Staat könnte, sofern die Zeit, sein eigenes gutes Verhalten und das Glück ihm diesen seltenen Status vergönnten, kooperative Lösungen für eine breite Palette von ansonsten unerreichbaren Zielen zustande bringen, die weit über die Bewahrung von Leben und Eigentum hinausreichen. Er müsste dazu lediglich seine Untertanen ersuchen, entsprechend zu handeln. Aber je öfter er sie bitten würde, desto mehr würde er seine Legitimität beanspruchen und belasten. Selbst dann, wenn seine eigenen Ziele mit denen seiner Bürger gar nicht konkurrierten – eine offensichtlich kaum zu erfüllende Bedingung –, würde er die Reichweite eines jeden Gesellschaftsvertrages für begrenzt halten müssen (insofern er seine Dienste für die Gesellschaft tatsächlich als vertraglich ansähe). Kooperative Lösungen dieser Art, die zu erbitten er bereit wäre, bewegen sich daher in engen Grenzen. Auf der anderen Seite gesteht der politische Gehorsam, der vornehmlich auf Zustimmung beruht, dem Gesellschaftsvertrag (bzw. seiner marxistischen Entsprechung, der von einer Klasse vorgenommenen Übertragung der Macht an den Staat im Austausch dafür, dass er eine andere Klasse unterdrückt) nicht nur eine schier grenzenlose Reichweite zu, sondern gedeiht auch durch dessen endlose Ausweitung. Der Grund dafür liegt darin, dass ein Staat, der die Zustimmung seiner Bürger zum Machterhalt braucht, aufgrund seiner nicht-repressiven Natur der tatsächlichen und möglichen Konkurrenz durch Rivalen ausgesetzt ist, die um den Entzug der Zustimmung werben, und darum, sie selbst zu erhalten. Um seinen Machterhalt zu sichern, kann der Staat sich nicht darauf beschränken, dort kooperative Lösungen zu fordern, wo es noch keine gab, weil seine Rivalen, sofern sie ihr Geschäft verstehen, anbieten werden, dasselbe zu tun und darüber hinaus noch etwas mehr. Nachdem der Staat all das gemacht oder zu tun vereinbart hat, das einige besser stellt und niemanden schlechter (so versteht man ja kooperative Lösungen im Allgemeinen), muss er weiter machen und einige Personen noch besser stellen, indem er andere schlechter stellt. Er muss sich der großen Menge politischer Maßnahmen annehmen, mit deren Hilfe man Klassen, Schichten, Interessengruppen, Systeme und Konzerne überzeugen kann, die im Grunde alle interpersonales Austarieren erfordern. Er muss insbesondere einigen Vorteile bescheren oder versprechen, die er anderen wegnimmt, weil keine Vorteile übrig geblieben sind, die nicht irgend88 Bezeichnenderweise dann, wenn der Staat potentielle Straßenräuber zur Armee einzieht und sie dazu bringt, reiche Ortschaften auszuplündern, ganz im Stile Bonapartes 1796. Der Konflikt kam später, in der nächsten Runde: Bonaparte forderte bald darauf ein, wie er es nannte, „jährliches Einkommen von 100.000 Mann“ („une rente de 100.000 hommes“).
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jemanden etwas „kosten“.89 In diesem Sinne muss er für ein günstiges Verhältnis zwischen zugewonnener und verlorener Zustimmung sorgen (das mit dem Verhältnis der Zustimmung von den Gewinnern und Verlierern übereinstimmen kann, aber nicht muss). Dieses Austarieren des politischen Vorteils ist in der Sache vom Ausbalancieren des interpersonalen Nutzens oder der Gerechtigkeit oder von beiden, die angeblich der Maximierung sozialer Wohlfahrt bzw. Verteilungsgerechtigkeit zugrunde liegen, nicht zu unterscheiden. Ich schlage vor, die Präferenzen, welche die Bürger offenlegen, wenn sie auf das interpersonale Austarieren des Staates reagieren, „demokratische Werte“ zu nennen. Sie sind die Vorlieben für Ziele, die nur auf Kosten einer anderen Partei erzielt werden können. Falls die andere Partei nur unwillig verliert, dann erfordert die Umsetzung solcher Ziele in der Regel die Androhung von Gewalt. Sie werden realisiert, indem eine bestimmte Art von Gleichheit anstelle einer anderen Art von Gleichheit oder Ungleichheit aufgezwungen wird. Man kann sich vorstellen, dass diese aufgezwungenen Gleichheiten überwiegend politischer oder vornehmlich ökonomischer Natur sind. Obwohl die Unterscheidung zwischen beiden oft fadenscheinig ist, wird sie dennoch stets voller Selbstvertrauen getroffen. Über England unter Gladstone und über die Dritte Französische Republik heißt es meistens, sie hätten politische Gleichheit ohne ökonomische Gleichheit erreicht. Umgekehrt glauben wohlwollende Kritiker der Sowjetunion, Kuba oder anderer sozialistischer Staaten, dass diese Fortschritte in Richtung ökonomische Gleichheit unter Verzicht auf die politische Gleichheit gemacht hätten. Bei der Maximierung demokratischer Werte kommt man einen Schritt weiter, wenn der Staat seine Repressionsmöglichkeiten reduziert und sein Vertrauen auf Zustimmung stärkt; wenn er sich weniger auf die Zustimmung der mächtigen und gewitzten Besitzer von Einfluss und einfach nur auf die Zahlen vertraut, z. B. indem er das Wahlrecht ausweitet und die Wahlen sicher und wirklich geheim macht; oder indem er den Reichtum und das Einkommen von den Wenigen auf die Vielen umverteilt. Zeigen diese Beispiele, die sich über die ganze Bandbreite der „politischen und ökonomischen Demokratie“ hinziehen, eigentlich nicht, dass es ziemlich überflüssig ist, von „demokratischen Werten“ zu sprechen? Es ist eine gebräuchliche und zweckmäßige Konvention, jedem zu unterstellen, dass er mehr 89 Kooperative Lösungen kennt man meistens als Ergebnisse positiver Summenspiele ohne Verlierer. Allerdings kann man ein Spiel, das sowohl Gewinner als auch Verlierer kennt, auch als ein Spiel betrachten, das eine positive Summe hat. Indem er einigen hilft, wenn er andere schädigt, erzeugt der Staat mutmaßlich ein positives, ein negatives oder ein Nullsummenspiel. Solche Behauptungen implizieren, streng logisch betrachtet, dass Nutzen interpersonal vergleichbar sind. Man kann z. B. sagen, dass die Beraubung von Peter zwecks Auszahlung an Paul ein Spiel mit einer positiven Summe sei. Wenn wir das sagen, dann behaupten wir, dass der Marginalnutzen des Geldes für Paul höher sei. Anstatt dessen ist es wohl weniger genau zu behaupten, dass es nur gerecht oder fair sei, Paul zu begünstigen; dass er mehr verdiene; dass er ärmer sei. Der letzte Einwand kann ein Appell sein, entweder an die Gerechtigkeit oder an die Nützlichkeit. Insofern hat er, wie ein Fondant, die Kraft der Konturlosigkeit.
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Macht weniger Macht vorzieht (zumindest die Macht des Widerstands gegen andere, d. h. Selbstbestimmung, wenn nicht gar die Macht, andere zu dominieren), und mehr Geld weniger Geld. Wenn ein Schritt den Vielen mehr Macht gibt und den Wenigen weniger, oder den Vielen mehr Geld und den Wenigen weniger, dann werden mehr den Schritt mögen als ablehnen. Das ist alles, was dazu zu sagen ist. Welche Pointe hat es, die simple Folge eines Rationalitätsaxioms auf den Namen „Vorliebe für demokratische Werte“ zu taufen? Der Einwand wäre berechtigt und die Demokratie wäre nur ein reiner Euphemismus für „die Bedingungen, unter denen das Eigeninteresse der Mehrheit das der Minderheit übertrumpft“ oder ähnlich lautende Formulierungen, gäbe es nicht die Möglichkeit, dass Menschen Arrangements wertschätzen, die nicht ihrem Eigeninteresse dienen (Altruismus) oder, was vielleicht noch wichtiger ist, von denen sie fälschlicherweise glauben, dass sie es tun. Letzteres mag der aufrechten Unkenntnis der unvorhergesehenen und unbeabsichtigten Effekte eines Arrangements geschuldet sein. (Gibt egalitäre Politik, nachdem alle bzw. die meisten ihrer Auswirkungen auf Kapitalakkumulation, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung usw. berücksichtigt worden sind, den Armen mehr Geld? Entscheiden die Massen ihr eigenes Schicksal, wenn jeder eine Stimme hat?) Es mag genau so sehr der unehrlichen Manipulation, dem politischen „Marketing“ und der Demagogie geschuldet sein. Welchen Ursprungs es auch immer sein mag, Marxisten würden es billigerweise „falsches Bewusstsein“ nennen, die Übernahme einer Ideologie durch jemanden, dessen rationalem Eigeninteresse in der Tat durch ein anderes gedient wäre. Eine Vorliebe für demokratische Werte, die jenseits seines Eigeninteresses liegen, ist das Kennzeichen von so manchem liberalen Intellektuellen.90 Was immer die Demokratie sonst auch sein mag, sie ist eine Verfahrensweise, die von einer Gruppe von Menschen, einem demos, übernommen werden kann, um unter nicht-einhellig präferierten kollektiven Alternativen zu „entscheiden“. Die spektakulärste und unheilvollste dieser Entscheidungen ist die dauerhafte Zuerkennung staatlicher Macht. Wie diese Zuerkennung an einen Anwärter oder eine Koalition von Anwärtern erfolgt und ob sie überhaupt unter allen Umständen tatsächlich wirksam erfolgen kann, hängt von den repräsentativen und direkten Merkmalen der in Frage stehenden Demokratie ab, von dem Binnenverhältnis zwischen den legislativen und exekutiven Funktionen, und ganz allgemein von den Gepflogenheiten. Diese Abhängigkeiten sind zwar bedeutsam und von gewissem Interesse, aber für meine Überlegungen nicht zentral. Ich will sie daher hier weglassen. Jedes demokratische Verfahren befolgt zwei Grundregeln: (a) Alle, die mitentscheiden dürfen (alle Mitglieder eines gegebenen demos), haben nur eine Stimme, und (b) die Mehrheit der Stimmen überwiegt die der Minderheit. So verstanden, konstituieren in fast allen sozialistischen Staaten die Mitglieder des Zentralkomitees der Regierungspartei einen demos und entscheiden über die ihnen 90 Ist der liberale Intellektuelle im Naturzustand besser dran als im Staatskapitalismus? Falls er das nicht einfach sagen kann und jener Typ ist, der der Gesellschaft nachhelfen muss, wie muss er ihr dann nachhelfen?
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vorbehaltenen Angelegenheiten gemäß der demokratischen Vorgehensweise, wobei die Einzelstimmen der Mitglieder gleich viel wiegen. Dies hält die innerparteiliche Demokratie nicht davon ab, in Wirklichkeit dem Wort des Generalsekretärs zu folgen, oder dem der zwei oder drei Königsmacher im Generalsekretariat und im Politbüro, oder dem der zwei Clans oder dem der zwei Klüngelgruppen, die sich gegen den Rest verbündet haben, oder dem irgendeiner anderen Vereinigung, die Politikwissenschaft und Klatsch sich ausdenken können. Weiter ausgreifende Formen der Demokratie können für den demos alle Parteimitglieder berücksichtigen, oder alle Haushaltsvorstände, alle erwachsenen Bürger usw. Der entscheidende Punkt der Demokratie ist nicht, wer drin ist und wer draußen, sondern dass alle, die drin sind, dies gleichermaßen sind. Das kann paradoxe Folgen haben. Es kann multiples „gewichtetes“ Abstimmen undemokratisch machen und die Demokratie der Athener durchwinken, oder auch die eines typischen Stadtstaates der Renaissance, in dem alle erwachsenen männlichen Bürger Stimmrecht hatten, aber neun Zehntel der Bewohner keine Bürger waren. Es bürgt geradezu für die Umgehung, verdeckte „Korrekturen“ oder offene Brüche der demokratischen Regeln, wenn man verlangt, dass der Stimme des Cosimo de Medici dasselbe Gewicht zufallen soll wie der des gewöhnlichen Florentiner „Kleinbürgers“, dass dem Generalsekretär dieselbe Bedeutsamkeit zukommen soll wie dem Chef von irgendeinem Oblast, wo der Hahn noch auf dem Misthaufen kräht. Diese Überlegungen sollen nicht als Beschwerde darüber missverstanden werden, dass die Demokratie nicht genug demokratisch sei (und irgendwie mehr demokratisch gemacht werden sollte). Sie sollen vielmehr daran erinnern, dass eine Regel, die den Tatsachen des Lebens zuwiderläuft, selbst schuld ist, wenn sie verbogen wird und perverse und verlogene Ergebnisse erzeugt (auch wenn dies als Grund für ihre Ausmusterung nicht reicht). Vielleicht gibt es keine denkbare Regel, die nicht irgendeiner wichtigen Tatsache des Lebens bis zu einem gewissen Grad zuwiderläuft. Aber eine Regel, die darauf abzielt, jedermanns Stimme in jeder Sache gleich zu gewichten, ist in komplexen und differenzierten Gemeinschaften, von Gesamtgesellschaften ganz zu schweigen, von vornherein eine Provokation der Wirklichkeit.91 Die andere Grundregel des demokratischen Verfahrens, d.i. die Mehrheitsregel innerhalb eines gegebenen demos, kennt ebenfalls mehr oder weniger umfangreiche Anwendungsfälle. Der umfangreichste von ihnen wird weithin als der demokratischste angesehen. Demnach meint die Mehrheitsregel, dass die bloße 91 Eine einfache, undifferenzierte Gemeinschaft bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass alle ihre Mitglieder gleich wären (vor Gott, dem Gesetz, im Hinblick auf Talent, Einfluss, Wohlstand oder anderen wichtigen Dimensionen, nach denen Gleichheit für gewöhnlich bemessen wird), sondern dass sie alle gleichermaßen von den jeweiligen Themen betroffen sind, die im Namen der Gemeinschaft demokratisch entschieden werden sollen. Eine Gemeinschaft von Gleichen im herkömmlichen Sinn kann Mitglieder unterschiedlichen Berufs, Geschlechts und Alters haben. Diese werden nicht gleichermaßen von Themen betroffen, die sich auf Beruf, Geschlecht und Altern unterschiedlich auswirken; und das gilt für die meisten Themen.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Mehrheit für alle Bereiche gilt. Gibt es zwei Alternativen, dann teilen ja und nein die einfachste Mehrheit auf. Verfassungsbeschränkungen der Mehrheitsregel, vor allem die Ausklammerung bestimmter Themen aus dem Entscheidungskatalog, das Sperren bestimmter Entscheidungen und die Unterwerfung anderer Entscheidungen unter eine qualifizierte statt unter die einfache Mehrheitsregel, sind ein Verstoß gegen die Souveränität der Menschen und eindeutig als undemokratisch zu ahnden, es sei denn, man ginge davon aus, dass der Staat, der nicht der vollständigen Kontrolle durch das Volk unterworfen ist, in seiner Souveränität genau deshalb eingeschränkt werden sollte, damit die demokratischen Regeln (bzw. das, was nach den konstitutionellen Beschneidungen von ihnen übrig blieb) ohne Furcht angewendet werden können. In Kapitel 4.6 habe ich die Gelegenheit, kurz auf das faszinierende Problem der Verfassungen einzugehen. Vorerst mag die Bemerkung ausreichen, dass der logische Grenzfall der Mehrheitsregel gegeben ist, wenn 50 % eines demos ihren Willen den anderen 50 % in jeder Angelegenheit aufnötigen können, wobei ein Münzwurf entscheidet, welcher Mehrheit das Aufzwingen zufällt. (Dieser Fall entspricht dem, was Professor Baumol als das höchstdemokratische Kriterium zur Maximierung der Sperrminorität vorschlug.)92 Obwohl die geheime Wahl nicht zu den wesentlichen Regeln der Demokratie zählt, wird sie im öffentlichen Bewusstsein aus guten Gründen mit der Demokratie gleichgesetzt. Man muss zugeben, dass einige demokratische Vorgehensweisen, wie Koalitionsbildung und Stimmentausch, durch Geheimhaltung erschwert werden. Abmachungen im Stile von „Ich stimme heute mit Dir, wenn Du morgen mit mir stimmst“ stehen vor einem Durchsetzungsproblem, wenn die Wahl geheim ist. Dieselbe Nicht-Durchsetzbarkeit würde den Zweck direkten Stimmenkaufs vereiteln, falls die Verkäufer arglistig ihre Stimmen verkauften und anders als vereinbart abstimmten. Die bei weitem wichtigste Auswirkung der geheimen Wahl liegt jedoch in der Minderung bzw. Beseitigung des Risikos, das der Wähler einginge, wenn er gegen den späteren Sieger stimmte, der ihn dafür anschließend bestrafen könnte.93 Was bleibt dann noch von der Demokratie, die man als das Ergebnis kollektiver Entscheidungen versteht und nicht als einen besonderen Weg, auf dem diese erzielt werden? Es gibt hier kein „und nicht“, keine sinnvolle Unterscheidung, wenn wir einfach vereinbaren, die Demokratie einen Zustand zu nennen (welcher auch immer er sein mag), der aus dem demokratischen Verfahren resultiert (so wie man als Gerechtigkeit das ansieht, was immer aus einem gerechten Verfahren folgt). Die demokratischen Regeln sind aber nicht so, dass sie im Falle ihrer Anwendung vernünftige Menschen dazu verpflichteten, Demokratie zu nennen, was immer die 92 Es ist eine interessante Tatsache, dass das deutsche und französische Gesellschaftsrecht wichtige Vorschriften für Sperrminoritäten (minorité de blocage) vorsehen, während das britische und amerikanische Gesellschaftsrecht dies nicht tun. 93 Vgl. Schelling (19802), S. 19. Laut Schelling beschützt die geheime Wahl den Wähler. Dies ist zweifellos wahr. Es ist jedoch ebenfalls wahr, dass sie ihn zu einem erhöhten Risiko macht. Korruption und Wählerbestechung werden zu einem reinen Glücksspiel.
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Regeln auch hervorbringen. Viele vernünftige Menschen verstehen den Sieg der Nazis bei den deutschen Wahlen 1933 als anti-demokratisch, obwohl er nach einer angemessenen Einhaltung des demokratischen Verfahrens erfolgte. Ob es für die Mehrheit ein demokratisches Ergebnis ist, einen totalitären Staat mit Macht auszustatten, dessen offenkundige Absicht es ist, den Machtwettbewerb zu unterdrücken, d. h. die Mehrheitsregel, das Wählen und alle übrigen demokratischen Zutaten über Bord zu werfen, ist eine Frage, auf die es keine offensichtliche Antwort gibt. Ähnlich wie das Recht des freien Mannes, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen, sollte auch die demokratische Entscheidung der Mehrheit, die Demokratie abzuschaffen, im Rahmen ihres kausalen Zusammenhangs beurteilt werden, und zwar im Hinblick auf die machbaren Optionen und die Entscheidungsmotive und nicht nur mit Blick auf die anti-demokratischen Konsequenzen, wie schwer diese auch wiegen mögen. Wie auch immer das Urteil ausfallen mag, sogar dann, wenn man zu dem Schluss kommt, dass es demokratisch sei, den Totalitarismus zu wählen, ist es klar, dass das Urteil vom tatsächlich gegebenen Kontext abhängt und eine einfache Form der Herkunftsfestlegung vom Typ „Demokratisch ist, wohin die demokratische Entscheidung führt“ ausschließt. Was aber, wenn ein Zustand, der einer Anwendung der anerkannten demokratischen Regeln entspringt, einmal nicht der Demokratie entspricht? Eine Antwort darauf, die in einem großen Teil des politischen Diskurses des 20. Jahrhunderts mitschwingt, lautet, dass „demokratisch“ einfach ein Billigungsbegriff ohne allzu spezifischen Inhalt ist. Die Demokratie wird zum guten Leben. Wenn man geteilter Auffassung darüber sein kann, was ein gutes Leben sei, dann kann man es auch darüber sein, was demokratisch sei. Nur in einer sehr homogenen Gesellschaft ist es für den Staat und seine Machtrivalen möglich, dieselbe Auffassung von Demokratie zu haben. Wenn ein Amtsanwärter glaubt, dass sein Gewinn der Macht dem guten Leben zuträglich sei, dann wird er die von ihm bevorzugten politischen Arrangements in der Regel für demokratisch halten, und jene, die ihn hindern oder dem Amtsinhaber zuträglich sind, anti-demokratisch nennen. Das Umgekehrte gilt für den gegenwärtigen Inhaber der Staatsmacht. Unverständnis dafür führt die Menschen dahin, jede Zuflucht in eine Praxis, die als anti-demokratisch verschrien ist, sobald der Rivale sie anwendet, zynisch zu brandmarken. Ein nahezu perfektes Beispiel dafür ist die strenge staatliche Kontrolle und ideologische Gleichschaltung des französischen Radios und Fernsehens seit circa 1958, die bis 1981 von der Linken mit Empörung attackiert wurde, und seitdem von der Rechten. Es gibt hier wie da keinen Grund für die Annahme, dass es zynisch sei, die Kontrolle durch den anderen als anti-demokratisch anzusehen, weil die eigene Kontrolle zum Besseren führe, und die Kontrolle durch die Anderen zum Schlechteren. Von dieser Grundlage aus zu argumentieren, ist also nicht unaufrichtig. Aus der Idee, die Demokratie sei das gute Leben und der gewünschte Zustand, folgt auch, dass es notwendig und gerechtfertigt sein kann, die demokratischen Regeln im Interesse des demokratischen Resultats zu verletzen. Nur die Marxis-
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ten-Leninisten folgen dieser logischen Implikation konsequent bis zum Schluss. Einmal an der Macht, ziehen sie es aus Misstrauen gegen die Kurzsichtigkeit und das falsche Bewusstsein des Wählers vor, von vornherein sicherzustellen, dass die Wahlen ein wirklich demokratisches Ergebnis haben. In nicht-sozialistischen Ländern, wo man die Mittel zur Sicherstellung nicht hat oder nicht anwendet und die Wahlen mehr oder weniger nach den klassischen demokratischen Regeln stattfinden, meint der Verlierer jedoch oft, das Ergebnis sei dank eines unbotmäßigen, ungleichen oder unfairen Faktors undemokratisch erwirkt worden, z. B. aufgrund der Feindseligkeit der Massenmedien, der Verlogenheit des Siegers oder wegen dessen verschwenderisch eingesetzter Finanzmittel usw. Die Summe der Beschwerden wächst sich zur Forderung aus, die demokratischen Regeln zu modifizieren und ergänzen (z. B. durch Kontrolle der Massenmedien, Angleichung der finanziellen Wahlkampfmittel, Verbot von Lügen), bis sie schließlich zum richtigen Ergebnis führen, das der einzig wahre Test dafür ist, dass die Regeln nun hinreichend demokratisch geworden sind. Man kann die Demokratie weder durch ein besonderes Verfahren, noch durch das politisch gute Leben – das Arrangement, das unsere Zustimmung findet – ausreichend definieren. Wenn wir den Gebrauch des Begriffs ein wenig enger fassen, dann nicht weil wir der Äußeren Mongolei, Ghana, den USA, Honduras, der Zentralafrikanischen Republik und der Tschechoslowakei es nicht gönnten, sich Demokratien zu nennen. Vielmehr tun wir es deshalb, weil der Versuch, einen strengeren Begriff zu Papier zu bringen, einige interessante Beziehungen zwischen den demokratischen Werten, den sie produzierenden Staat und der liberalen Ideologie erhellen dürfte. Diese drei Elemente könnten z. B. in folgender Weise miteinander verknüpft werden: Die Demokratie ist ein politisches Arrangement, unter dem der Staat demokratische Werte erzeugt, während die liberale Ideologie diesen Prozess mit der Erlangung letzter, allgemeiner Ziele gleichsetzt. So, wie sie oben definiert wurden, werden demokratische Werte vom Staat erzeugt, und zwar als Ergebnis interpersonaler Abwägung; er demokratisiert z. B. die Vorrechte und die Verteilung von Eigentum, sofern und soweit er von derlei Maßnahmen einen Nettogewinn an Zustimmung erhofft. Er würde zur selben Politik aber auch dann greifen, wenn er, statt von rationalem Eigeninteresse von einer Vorliebe für Gleichheit getrieben würde. Für Unterscheidungen zwischen dem aufgeklärten Absolutismus von Kaiser Joseph II. oder Karl III. von Spanien und dem Populismus eines Juan Perón oder Clement Attlee gibt es also keine empirischen Tests. Von außen besehen, haben alle demokratische Werte erzeugt. Dennoch haben wir gute Gründe für die Annahme, dass die ersten beiden, die für ihre Macht kaum auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen waren, das, was sie taten, nicht tun mussten, sondern aus einer Neigung, aus einer politischen Überzeugung heraus vorzogen. Die Kausalität verläuft demnach von den Präferenzen des Monarchen hin zum politischen Arrangement und dessen demokratischen Zügen. Andererseits können wir durchaus hiervon ausgehen: Unabhängig davon, ob jemand vom Schlage eines Perón oder Attlee egalitäre Grundsätze und das Verlangen nach einem Aufstieg
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der Arbeiter hat (wobei beide beides hatten), das Einverständnis für ihren Zugang zur Macht und ihren Machterhalt erfordert von ihnen, dass sie die Art von Politik verfolgen, die sie ohnehin betreiben. Wenn dem so ist, dann sollten wir annehmen, dass die Kausalität im Kreis verläuft, bestehend aus der Vorliebe des Königs nach Macht, dessen Bedürfnis nach Zustimmung, dem rationalen Eigeninteresse seiner Untertanen, der Befriedigung der Gewinner auf Kosten der Verlierer und der Rechtfertigung dieses Prozesses im Sinne unangefochtener und letzter Werte durch die liberale Ideologie. – Das komplette Set an interdependenten Faktoren nimmt dabei die Form eines politischen Arrangements mit demokratischen Zügen an. Die zwei Kausalitätstypen, von denen eine Form im aufgeklärten Absolutismus agiert und die andere in der Demokratie, kann man in einem a priori Sinne auseinanderhalten, wobei jeder Typus sozusagen in einer „Gesellschaft von Gleichen“ agiert, in der alle (mit Ausnahme der Prätorianergarde, sofern vorhanden) zumindest im Hinblick auf politischen Einfluss, Talent und Geld gleich sind. Der aufgeklärte absolute Herrscher, der Gleichheit mag und seine Untertanen gleich ansieht, wäre mit den politischen Verhältnissen, so wie sie sind, im Großen und Ganzen zufrieden. Der demokratische Staat würde indes mit den Konkurrenten um die Gunst der Bevölkerung wetteifern. Ein Rivale könnte versuchen, die Gesellschaft in eine Majorität und eine Minorität zu spalten, indem er eine Dimension wie Konfession, Hautfarbe, Beruf oder ähnliches entdeckt, die aus den Menschen Ungleiche macht. Er könnte dann um die Unterstützung der Mehrheit bitten, indem er ihr anbietet, etwas zu opfern, worauf die Minderheit Anspruch hat, z. B. ihr Geld. Da jeder den gleichen politischen Einfluss hat (Jeder nur eine Stimme, Regel der einfachen Mehrheit), würde, falls jeder seinem Eigeninteresse folgte, der demokratische Amtsinhaber die Macht an einen demokratischen Rivalen verlieren, es sei denn, er würde auch eine inegalitäre Politik vorschlagen und z. B. anbieten, mehr von dem Geld der Minderheit an die Mehrheit zu verteilen.94 (Die Gleichgewichtsbedingungen dieses Wettbietens sind in Kapitel 4.2 skizziert.) In einer Gesellschaft aus Gleichen würde die Demokratie also in umgekehrter Weise auf eine Anpassung hinwirken, als wir ihr unterstellen. Sie würde ein bequemes Kriterium zur Trennung der Untertanen untereinander verwenden. Sie hätte eine Mehrheit abzusondern und ihr die Minderheit zu opfern; mit einer neuen Ungleichheit als 94 In einer Gesellschaft aus Gleichen würde die Mehrheitsregel, vorausgesetzt, die Stimmen werden allesamt interessengemäß vergeben, unweigerlich irgendeine Umverteilung und somit Ungleichheit produzieren. In einer Gesellschaft aus Ungleichen würde es ebenso immer eine Mehrheit für Umverteilung geben. Wie Sen bemerkt hat, könnte eine Mehrheit für Umverteilung auch auf Kosten der Armen gebildet werden. „Nimm die Person, die am schlechtesten dran ist, nimm ihr die Hälfte ihres Anteils ab, wirf davon die Hälfte weg und verteile den Rest unter den Übrigen. Und schon haben wir eine Verbesserung für die Mehrheit erzielt.“ (Sen (1982), S. 162.) Der Wettbewerb sorgt jedoch dafür, dass die Mehrheit attraktivere, reichhaltigere Umverteilungsalternativen hat, die man wählen kann, d. h., dass die Umverteilung im Normalfall nicht zu Lasten der Armen geht. Bestünde die Wahl, dann würde die egalitäre Umverteilung der inegalitären vorgezogen, weil die mögliche Auszahlung bei Umverteilung von reich zu arm größer ist als bei denen von arm zu reich.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Ergebnis. Diese Ungleichheit würde dann als ein von der Mehrheit anerkannter demokratischer Wert fungieren. Sollte die Demokratie je eine „Gesellschaft von Gleichen“ erschaffen, dann wird sie sich wahrscheinlich in diese Richtung weiterentwickeln und nach einer ideologischen Anpassung verlangen, die sich vorzustellen nicht allzu schwierig sein dürfte. Mit der letzten derartigen historischen Anpassung, die ungefähr zu Beginn unseres Jahrhunderts einsetzte und den Nachtwächterstaat durch den Sozialstaat ablöste, hat sich die Ideologie des fortschrittlichen Staates in fast jeder Hinsicht geändert, außer dem Namen nach. Dank der atemberaubenden Transformation, welche die Bedeutung des Begriffs „liberal“ während der letzten drei Generationen durchgemacht hat, ist der ursprüngliche Sinn des Wortes unwiederbringlich verloren. Es ist nutzlos geworden, denen, die etwas gestohlen haben, „Haltet den Dieb!“ hinterherzurufen. Von „klassischem“ Liberalismus zu sprechen oder zu versuchen, die ursprüngliche Bedeutung in anderer Weise wiederzubeleben, ist in etwa so, als würden wir „heiß“ sagen, sowohl dann, wenn wir heiß meinen, als auch dann, wenn wir kalt meinen. Ich verwende den Begriff „kapitalistisch“ sogar mit Absicht, um derlei missbräuchlichen Umgang zu vermeiden und zumindest für den harten Kern des ursprünglichen Sinnes von „liberal“ einen Ersatz zu haben. In der Hoffnung, dass dies hilft, dem herrschenden semantischen Nebel etwas von seiner Dichte zu nehmen, werde ich „liberal“ als modernes Kürzel für politische Doktrinen verwenden, die dazu führen, dass das individuelle Wohl dem Allgemeinwohl untergeordnet wird (ohne Unantastbarkeitsrechte übrig zu lassen) und die Realisation dem Staat anvertraut wird, der hauptsächlich auf Grundlage der Einwilligung herrscht.95 Das Allgemeinwohl besteht vornehmlich aus demokratischen Werten, die immer das sind, was die Erfordernisse der Einwilligung verlangen. Darüber hinaus verlangt das Allgemeingut aber auch die Umsetzung einer Vielfalt weiterer Ziele, für die es nicht jederzeit eine Unterstützung durch die Mehrheit gibt. Zu den gegenwärtigen Beispielen gehören Ziele wie die Aufhebung der Rassentrennung, Abschaffung der Todesstrafe, die Verbannung der Atomenergie, positive Diskriminierungen, Emanzipation von Homosexuellen, Entwicklungshilfe usw. Diese Ziele gelten als fortschrittlich, d. h., man hält sie für die demokratischen Werte der Zukunft.96 Gemäß der liberalen Doktrin ist die Zivilgesellschaft in der Lage, den Staat zu kontrollieren. Dementsprechend ist Letzterer notwendigerweise eine ungefährliche Einrichtung. Die Beachtung der demokrati95 Klügere Köpfe könnten mich vielleicht für beschränkt halten, dass ich eine Definition von Liberalismus vorbringe, wenn man bedenkt, dass „er ein so weitreichender intellektueller Kompromiss ist, dass er die meisten der herrschenden Überzeugungen in der modernen westlichen Welt einschließt.“ (Minogue (1963), S. viii, Hervorhebung von mir.) 96 Liberale befürworten diese Ziele nicht, weil sie erwarten, dass die Mehrheit von morgen sie befürworten wird. Vielmehr erwarten sie von der Mehrheit, dass sie Partei ergreift, weil die Ziele wertvoll sind. Jeder der Gründe wäre Grund genug, auf den Zug aufzuspringen, bevor er abfährt. Wie auch immer, es ist der zweite Grund, der den Liberalen sagt, dass der Zug es moralisch wert ist, auf ihn zu springen.
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schen Verfahrensweise reicht, um ihn auf die untergeordnete Rolle zu beschränken, das Mandat der Gesellschaft auszuführen, das wiederum eine Art Summe der gesellschaftlichen Präferenzen ist. Angesichts dieser Natur des Staates herrscht in der liberalen Doktrin eine gewisse Sorge um die Freiheit als Immunität, ein Umstand, der die Priorität des Gemeinwohls in Frage stellen kann. Wo die Immunität sichtbar ein Privileg ist, das nicht alle genießen, was in den meisten Teilen Westeuropas bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus offenkundig der Fall war, stellt sich der Liberalismus ihr entgegen. Abhilfe schafft man in der Regel nicht durch größtmögliche Ausweitung des Privilegs, zumal wenn das nicht ausreicht, um Gleichheit herzustellen, sondern durch größtmögliche Abschaffung. Tawney, der die Weiterentwicklung der liberalen Ideologie maßgeblich beeinflusst hat, erklärt dazu hochtrabend: „Die [Freiheit] verträgt sich nicht nur mit den Bedingungen, unter denen alle Menschen Sklavengenossen sind; in ihnen findet sie auch ihren vollkommenen Ausdruck.“97 „Was sie ausschließt, ist eine Gesellschaft, in der nur einige Sklaven sind und die anderen Herren.“98 „Wie das Eigentum, mit dem sie in der Vergangenheit eng verknüpft war, wird die Freiheit unter solchen Umständen zum Privileg einer Klasse, und nicht zum Besitztum einer Nation.“99
Dass die Freiheit vollkommen ist, wenn alle Sklaven sind (noch mehr als dann, wenn alle Herren wären), spiegelt die anmaßende Vorliebe zur Gleichmacherei wider. Es ist nicht der Umstand der Knechtschaft, welcher im Widerspruch zur Freiheit steht, sondern das Vorhandensein von Herren. Auch wenn es keine Herren gibt, so gibt es doch Knechte, und sie müssen dem Staat dienen. Wenn die Sklaverei beim Staat liegt, dann hat die Freiheit ihren Gipfel erklommen. Es ist besser, dass keiner Eigentum hat, als dass nur einige Eigentum haben. Gleichheit und Freiheit sind, wenn auch etwas unklar, gleichbedeutend. Viel weiter könnten wir uns von der Vorstellung, dass beide rivalisierende Ziele sind, kaum entfernen. Auch wenn die Freiheit als Immunität keine weitere Größe im Leben der Menschen wäre, welche die Gleichheit verletzten könnte, so wie Geld, Glück oder Geburt, müsste der Liberale ihr entgegentreten. Selbst wenn wir alle sie hätten, beschnitte die Immunität einiger die Möglichkeiten des Staates, anderen zu helfen und in der Folge demokratische Werte zu schaffen; selbst gleiche Freiheit-als-Immunität ist dem Gemeinwohl abträglich.100 97
Tawney (1931), S. 241, Hervorhebung im Original. Vergleiche dies mit der Diagnose von Tocqueville (1967), S. 266: „on semblait aimer la liberté, il se trouve qu’on ne faisant que haïr le maître.“ („Was aussah wie die Liebe zur Freiheit, erwies sich als reiner Hass gegen den Herrn.“ d. Hrsg.) 99 Tawney (1931), S. 242, Hervorhebung von mir. 100 In seinem Klassiker, The Origin of Totalitarian Democracy (1960), in dem er behauptet, dass es heute eine liberale und eine totalitäre Demokratie gebe und dass sie früher einmal eins gewesen seien, geriet J.L. Talmon bei der Aufspürung der Schismas in Verle98
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Das zeigt sich bezeichnenderweise in der Art und Weise, in der man im liberalen Denken das Eigentum versteht. Privateigentum, Kapital als Quelle der Gegenmacht, das die Anordnung von Zivilgesellschaft gegen Staat stärkt, wurde einmal für beide Seiten als wertvoll erachtet, sowohl für die, die es hatte, als auch für die, die es nicht hatte. Das liberale Denken kennt diesen Wert nicht mehr. Es hält die demokratische Verfahrensweise für den Quell unbeschränkter Souveränität. Es kann das Anrecht auf Eigentum modifizieren oder aussetzen. Entscheidungen über den privaten und öffentlichen Gebrauch privater Einkünfte und über privates und öffentliches Eigentum im engeren Sinne können und sollen in der Tat getroffen und fortlaufend überprüft werden, und zwar im Streben nach solchen Aspekten des Gemeinwohls wie demokratische Werte und Effizienz. Diese Kriterien müssen vor allem dem Geltungsbereich und der Art staatlicher Einmischungen in private Verträge schlechthin zu Grunde gelegt werden. Eine „Preis- und Einkommenspolitik“ ist z. B. gut und sollte ungeachtet der Verletzung privater Abmachungen eingeführt werden, wenn sie gegen Inflation hilft, ohne die allokative Effizienz zu beeinträchtigen. Falls sie diese beeinträchtigt, sollte sie dennoch eingeführt werden, und zwar gemeinsam mit einer ergänzenden Maßnahme zur Korrektur der Beeinträchtigung. Liberales Denken ist selten um eine zusätzliche Maßnahme zur Komplettierung der ersten verlegen; auch nicht um die politischen Schritte, mit denen man die unbeabsichtigten Effekte, die von den zusätzlichen Maßnahmen erzeugt werden, auffangen will. Das geht dann in einem offenkundig infiniten Regress so weiter, und zwar im hoffnungsvollen Streben nach dem ursprünglichen Ziel. (Eine heute ergriffene Maßnahme ist das nte Echo einer früheren Maßnahme, wobei die Notwendigkeit ihrer besonderen Gestalt und Prägung ohne die vorherige(n) Maßnahme(n) gar nicht erst aufgekommen wäre; und da das Echo nicht zu verhallen scheint, hat n eine gute Chance, sich zu einer sehr großen Zahl auszuwachsen.) Die Tatsache, dass eine Maßnahme eine Kaskade an Folgemaßnahmen auslöst, ist für eine einfallsreiche Regierung eine Herausforderung, aber kein Argument gegen die Maßnahme. Die Tatsache, dass eine einfallsreiche Regierung die Eigentumsrechte und die Vertragsfreiheit außer Kraft zu setzen hat, ist genau so wenig ein Argument für oder gegen eine Regierung, wie das Aufschlagen von Eiern ein Argument für oder gegen ein Omelett ist. Die Darlegung heikler Bereiche der liberalen Doktrin verleitet dazu, den Sozialismus in einer entsprechenden Weise zu analysieren. Der Leser, der wohl keine genheit. Er suchte vor allem innerhalb und außerhalb der Französischen Revolution nach ihr, erhob aber nicht den Anspruch, erfolgreich gewesen zu sein. Vielleicht ist die Auffindung der Aufspaltung unmöglich; vielleicht gab es nie eine. Talmon scheint diese Auffassung stillschweigend zu teilen, denn er charakterisiert die Demokratie als ein grundsätzlich instabiles politisches Credo, ein potentielles Monster, das in den Kapitalismus fest eingebettet werden muss, um vor ihm sicher zu sein. Die Frage, wie dies erfolgreich in die Tat umgesetzt werden könne, stellt er nicht. Wie der Leser inzwischen mitbekommen hat, ist es ein Teil meiner These, dass dergleichen nicht möglich ist. Die Demokratie eignet sich nicht dazu, „in den Kapitalismus eingebettet“ zu werden. Sie tendiert dazu, ihn zu verschlingen.
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Schwierigkeiten damit hätte, dies für sich zu tun, dürfte wahrscheinlich einige zentrale Punkte hervorheben, in denen die beiden inkompatibel sind, und zwar ungeachtet der langen Liste oberflächlicher Ähnlichkeiten, die lange Zeit die banale und doppelbödige These von der „Konvergenz der beiden Weltsysteme“ nährte. Die entscheidende Unvereinbarkeit liegt m.E. in dem Umgang mit Macht und damit mit Eigentum. In Bezug auf Macht ist der Liberale vergleichsweise entspannt. Er vertraut darauf, dass die Mehrheit den Staat bestmöglich im Sinne der Gesellschaft lenkt. Das ist gleichbedeutend mit dem Vertrauen darauf, dass der Staat ihn, seine Freunde und die Partei der liberalen Inspiration häufiger mit gesellschaftlicher Macht bedenkt als nicht bedenkt. D.h., auch wenn er sich aus vielerlei Gründen in Privateigentum einmischen mag, wird er dies nicht tun, weil er eine Notwendigkeit empfände, die Gesellschaft in ihren Möglichkeiten, einem Amtsinhaber staatliche Macht zu entwinden, zu schwächen. Für den Sozialisten hingegen ist die Macht ein Grund zu tiefer Sorge. Er sieht in der Mehrheitsregel eine Herrscherlizenz für falsches Bewusstsein, die ein nicht hinnehmbares Risiko eines Rückfalls in die Reaktion birgt, und zwar infolge einer von einer gedankenlosen Wählerschaft verursachten Wahlniederlage der fortschrittlichen Kräfte. Er braucht staatliches Eigentum für die höheren Kommandozentralen der Wirtschaft (und nach Möglichkeit auch für deren Niederungen), weil staatliches Eigentum (sowohl für sich genommen als auch als Entsprechung für kein beträchtliches Privateigentum) der beste Garant für die Sicherung des Machterhalts ist. Privateigentum lockert die Kontrolle, die der Staat über den Lebensunterhalt des Kapitalisten hat, genauso wie die staatliche Kontrolle über den Lebensunterhalt des (im weitesten Sinne als solchen zu verstehenden) Arbeiters, den der Kapitalist einzustellen gedenkt. Insofern ermächtigt es beide zur Opposition. Für den sozialistischen Staat, der weniger vertrauensselig ist als der liberal gesinnte Staat und mehr über Macht weiß, ist das Eigentum mithin ein sehr zentrales Anliegen, auch wenn seine Auffassungen über die relativen Auswirkungen von Planung, Preismechanismus, Allokation und Anreize sich von denen nicht-sozialistischer Staaten kaum unterscheiden dürften. Die oberflächliche Kompatibilität liberaler und sozialistischer Doktrinen ist allerdings so, dass der Diskurs über die eine unweigerlich dazu führen kann, dass man irgendwo bei der anderen landet. Wenn Ideen sich im Nachhinein kreuzen, dann kann dies erstaunlich fruchtbar sein. Ein Bereich, in dem die ideologische Vermischung stattzufinden neigt, betrifft die Idee der Freiheit, deren Widerstand, sich definieren zu lassen, und deren Natur als ein ultimatives und selbstverständliches Gut. Nicht ohne Grund warnt uns Acton zur Vorsicht: „Aber was meinen die Leute, die verkünden, die Freiheit sei die Siegespalme, der Preis und die Krone, obwohl sie wissen, dass sie eine Idee ist, von der es Hunderte von Definitionen gibt und die mehr Blutvergießen verlangt hat als irgendetwas anderes, vielleicht mit Ausnahme der Theologie.“101 Jede politische Doktrin muss, um vollständig zu erscheinen, die Freiheit in irgendeiner Weise in ihre letzten Werte einbinden. Die 101 Lord
Acton, Essays on Freedom and Power, 1956, S. 36.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Regeln der Alltagssprache garantieren, dass sie als solider Wert gilt. Es klingt absurd, wenn man sagt: „Ich mag keine Freiheit, ich will unfrei sein.“ Das ist so, als ob man sagte, gut sei schlecht.102 Außerdem fühlt man sich frei von jeglicher Verpflichtung, die Güte der Freiheit aus einem anderen Wert abzuleiten, zu dem Freiheit wie ein Mittel zum Ziel führen mag, was aber auch bestritten werden kann. Glück (frei übersetzt als „Nützlichkeit“) und Gerechtigkeit spielen in derselben Liga. Es ist unmöglich zu sagen: „Ich bin gegen Gerechtigkeit“, „Vieles spricht für Ungerechtigkeit“ oder „Nützlichkeit ist unnütz“. Derart ultimativen, unbestreitbaren Zielen kann man eine Sonderrolle bei der Validierung anderer Ziele, für die eine Ideologie werben möchte, zuweisen. Gleichheit ist ein perfektes Beispiel aus der Praxis. Ihre Eingliederung in ein Wertesystem ist ein Problem, weil sie nicht selbstverständlich gut ist. Die Aussage „Man kann vieles für die Ungleichheit sagen“ mag zwar vehementen Widerspruch provozieren und ergänzende Argumente brauchen, ist aber keinesfalls unsinnig. Unsere Alltagssprache lehrt uns, dass man den Wert der Gleichheit in Frage stellen kann. Wenn man sehen würde, dass sie mittels einer Kette von Aussagen, die wir akzeptieren, vom Wert eines anderen Zieles, das wir nicht infrage stellen, abgeleitet ist, dann würden wir auch die Gleichheit nicht anfechten. Nützlichkeit und Gerechtigkeit wurden in dieser Weise abwechselnd für ausgeklügelte Versuche genutzt, mit denen man die Gleichheit als unanfechtbaren Wert etablieren wollte. Die nächsten drei Unterkapitel dieses Kapitels sollen zeigen, dass diese Versuche, ähnlich wie die Quadratur des Kreises, vergeblich waren. Man kann die Gleichheit zu einem wertvollen Ziel machen, wenn man sie mit einem Wert versieht, aber sie ist nicht wertvoll kraft unserer Vorliebe für etwas anderes. Ich kenne kein systematisches Argument, mit dem man die Güte der Gleichheit aus unserer Vorliebe für die Freiheit so abzuleiten probiert hätte, wie man versucht hat, sie aus der Nützlichkeit oder Gerechtigkeit abzuleiten; vielleicht weil die Idee der Freiheit sich selbst nicht für schlüssige Argumente eignet. Andererseits lädt sie ganz gewiss zum Vermengen verschiedener Ideologiebausteine ein, deren Ergebnis zu befremdlichen Äußerungen wie „Freiheit ist Gleichheit in der Knechtshaft“ oder „Freiheit heißt genug zu essen“ führt. Bei einer solchen Vermischung der Ideen, bei der die Gleichheit mit der Freiheit verkuppelt wird, wird die Gleichheit huckepack genommen. Auf dem Rücken der Freiheit schmuggelt man sie unter die anerkannten politischen Ziele. Das ist die Strömung, die (wenn es nach Dewey geht) die Freiheit als „die Macht, etwas tun zu können“ versteht; als ausreichende materielle Grundlage an Essen 102 Für jemanden, dem es im Erziehungslager gefällt, muss es ein „draußen“ geben. Man sagt auch von einigen Gefängnisinsassen, dass sie die Befreiung von der Verantwortung schätzen und lieber drin sind als draußen. Wir können dem Rechnung tragen und immer Zuflucht zum dialektischen Verständnis von Freiheit suchen. Zur wirklichen Freiheit gelangt, wer der militärischen Disziplin unterliegt. Im Gegensatz zur virtuellen Freiheit, die der Naturzustand bietet, ist die vom Staat regierte Zivilgesellschaft eine Grundvoraussetzung für echte Freiheit. Viele Menschen verwenden tatsächlich solche Argumente.
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und Geld; die Freiheit solange für eine leere Schachtel hält, bis sie mit „ökonomischer Demokratie“ gefüllt ist; sie als Grundbedingung versteht, die nicht mit den „bürgerlichen“ oder „klassischen“ Freiheiten von Wort, Versammlung oder Wahl zu verwechseln ist, weil diese für die „wirklich“ (ökonomisch) Unfreien vollkommen irrelevant sind. (Man kann die Geschichte durchaus so auslegen, dass sie das „Gegenteil“ belegt. Warum sonst haben die englischen Chartisten für eine Wahlreform geworben, statt für höhere Löhne? Es ist ebenso sehr plausibel, wenn man die 1956 in Ungarn aufkommende Bildung der Arbeiterräte sowie die Forderung nach einem Mehrparteiensystem und freien Wahlen und die sich 1980 in ganz Polen flächenbrandartig ausbreitenden autonomen Gewerkschaften als Forderungen nach den klassischen bürgerlichen Freiheiten der „ökonomisch“ Unfreien darstellt. Die gegenteilige Auffassung kommt fürwahr ziemlich unglaubwürdig daher. Man kann uns nicht ernsthaft glauben machen, dass es die glücklich errungene „ökonomische Befreiung“ war, welche die Nachfrage nach bürgerlichen Freiheiten in jenen Gesellschaften erzeugt hätte.) Um zu zeigen, mit welch trügerischer Leichtigkeit die Gleichheit, huckepack auf der Freiheit reitend, selbst den wachsamsten Blicken entgeht, wähle ich einen Text des für gewöhnlich glasklaren Sir Karl Popper, ein berühmter Kritiker des Totalitarismus und ausgezeichneter Logiker: „[W]er einen Überschuß an Nahrungsmitteln besitzt, der kann die Hungrigen ohne jede Anwendung von Gewalt zwingen, sich ,freiwillig‘ in die Knechtschaft zu begeben.“ „[D]ann ist es möglich, daß eine wirtschaftlich starke Minorität die Majorität der wirtschaftlich Schwachen ausbeutet.“ „[W]enn wir die Freiheit sicherstellen wollen, dann müssen wir fordern, daß die Politik schrankenloser ökonomischer Freiheit durch die geplante ökonomische Intervention des Staates ersetzt werde. Wir müssen fordern, daß der schrankenlose Kapitalismus einem ökonomischen Interventionismus weiche.“103
Die Verwendung des Wortes „zwingen“ ist natürlich Ausdruck dichterischer Freiheit. Was Popper meint, ist, dass dann, wenn jene, die sich mit einem Überschuss an Nahrung bequem zurücklehnen und mit denen, die darben, nicht freiwillig teilen, die Hungerleidenden darum betteln müssen, für die anderen arbeiten zu dürfen, damit sie etwas zu essen haben. Weil sie nicht „wirklich“ wählen können, zu verhungern, bedeutet ihr Anheuern, dass sie bereit sind, Knechtschaft zu erdulden. Es ist eine „freie“, aber keine „wirklich“ freie Entscheidung. Wohlgemerkt, es ist die Minderheit, die dies der Mehrheit antut. Das macht ihr Verhalten sogar noch verwerflicher, als es der Fall wäre, verhielte es sich umgekehrt. Unser demokratisch konditioniertes Bewusstsein hat also einen Grund mehr, die „geplante ökonomische Intervention des Staates“ gutzuheißen, obwohl es schon etwas irritierend ist, dass man uns zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft das Gosplan104 kredenzt. 103 104
Popper (19927), S. 145 f. Komitee für Wirtschaftsplanung in der früheren Sowjetunion, d. Hg.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Dichterische Freiheit hin oder her, die vielfache Verwirrung, die uns schlussendlich das Gosplan als Freiheitsbedingung beschert, muss man aus der Welt schaffen. Erstens, Popper behauptet, es bestünde eine Analogie zwischen dem starken Rüpel, der den Schwächeren durch Gewaltandrohung versklavt, und dem Reichen, der die ökonomische Schwäche des Armen105 ausnutzt. Solch eine Analogie gibt es nicht. Man kann klar unterscheiden, ob wir einem anderen die Freiheit wegnehmen (indem wir ihm Prügel androhen) oder unsere „Freiheit“ (=Essen) nicht mit jemandem teilen, der selbst nichts zu essen hat. Zweitens herrscht Verwirrung zwischen dem Vorhandensein einer Wahl (zwischen Knechtschaft und Verhungern), die eine Sache der Freiheit ist,106 und der Billigkeit, Fairness und Gerechtigkeit einer Situation, in der einige Menschen viel zu essen haben und andere nichts und die eine Frage der Gleichheit ist. Drittens entsteht reichlich Verwirrung, wenn man zahlreiche Annahmen auslässt, die man braucht, damit die Situation nicht in einem gewöhnlichen neoklassischen Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt endet, in dem jene, die viel zu essen haben, darum rivalisieren, die, die nichts haben, anzuheuern, während die Mittellosen untereinander um Anstellung konkurrieren, bis beide Gruppen ihr jeweiliges Grenz(wert) produkt erzielen. Die Annahmen, unter denen es entweder zu Verhungern oder Knechtschaft kommt, sind eher selten anzutreffen, auch wenn sie in bestimmten Gesellschaften durchaus zur Wirklichkeit gehören mögen. In solchen Gesellschaften ist das Angebot der Minderheit an die Mehrheit, für Essen sich in Knechtschaft zu begeben, dem Verhungern lassen zumindest „pareto-überlegen“. Umverteilung durch „geplante ökonomische Intervention des Staates“ würde indes prinzipiell unvorhersagbare Resultate hervorbringen, wobei es wohl wahrscheinlich wäre, dass viele Lebensmittel in den Warenlagern des Staates schlecht würden. Abschließend sei gesagt: Obwohl Freiheit nicht gleich essen ist, und auch nicht Gleichheit bedeutet, kann Gleichheit der Gerechtigkeit helfen oder auch sonst wünschenswert sein, doch selbstverständlich ist das nicht. Bevor jemand sagen kann, dass das Nebeneinander einer Minderheit mit Nahrungsüberschuss und einer hungernden Mehrheit abzustellen ist, muss er nachweisen, dass entweder die größere Gleichheit in diesem Fall in einer Weise etwas zu anderen Werten beisteuerte, dass die Menschen die fragliche Gleichheit bevorzugten, oder dass der Menschen Sinn für Gerechtigkeit, Symmetrie, Ordnung oder Vernunft den Ausschluss anderer Überlegungen erforderte. Das Unterfangen eines solchen Nachweises macht viel von der ideologischen Begleitmusik aus, welche die Entwicklung des modernen Staates untermalt. Fassen wir einige der vorangegangenen Überlegungen anders formuliert zusammen: Der demokratische Staat kann sich nicht darauf berufen, seinen Bürgern 105 Vgl.
Popper (19927), S. 145. Zu einer anderen und weitaus umfangreicheren Darstellung dieses Punktes siehe Nozick (1974), S. 263 f. 106
Durch Gleichheit zu Nützlichkeit
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Vorteile zu verschaffen, die einige besser und keinen schlechter stellen. In der Demokratie erfordert der Erhalt staatlicher Macht Zustimmung, die einem der Konkurrenten im Rahmen einer anerkannten Verfahrensweise widerrufbar zuerkannt wird. Der Wettbewerb bringt verschiedene Politikangebote mit sich. Jedes von ihnen verspricht, die avisierten Menschen in der Gesellschaft besserzustellen. Diese Politiken können nur auf Kosten derer erwirkt werden, die durch sie schlechtergestellt werden. In einer ungleichen Gesellschaft tendieren sie dazu, egalitär zu sein (und in einer Gesellschaft von Gleichen tendieren sie dazu, inegalitär zu sein), um die Mehrheit gewinnen zu können. Die „Präferenz“ der Mehrheit für eine der angebotenen Politiken „offenbart“, dass die unmittelbaren Auswirkungen den größten Zuwachs an demokratischen Werten repräsentieren. Die Menschen können für ihn stimmen, egal ob er ihren Interessen entgegenkommt oder nicht. Die vorherrschende Ideologie, der Liberalismus, überschneidet sich mit den Interessen des demokratischen Staates und macht die Menschen unter dessen Einfluss für demokratische Werte anfällig. Sie fordert den Staat dazu auf, aus ethischen Gründen das zu tun, was er zum eigenen Machterhalt ohnehin zu tun hätte. Sie macht den Menschen weiß, dass die von der Mehrheit geteilte Politik zu den ultimativen Zielen beiträgt, die alle teilen. Sie propagiert auch zusätzliche politische Maßnahmen, zeigt, dass diese denselben Zielen zuträglich sind, und empfiehlt den Menschen, für diese zu stimmen, sobald sie angeboten werden. Durch ihr Tun reagiert sie auf das Wachstum des Staates und treibt es voran.
Durch Gleichheit zu Nützlichkeit Sind die Einkommen erst einmal lange genug gleich, dann bestärkt dies die Gültigkeit der Regel „Willst Du den Nutzen der Mehrheit maximieren, dann mache die Einkommen gleich“.
Kein Mensch hat mehr als einen Magen. Für die Annahme, es sei folglich besser, möglichst viele Güter gleich aufzuteilen, ist diese Grundlage jedoch etwas dünn. Zu unserem geistigen Erbe gehört die Vorstellung, dass die Anpassung der Einkommen – unabhängig davon, was sie sonst noch anrichten mag, das für oder gegen sie spricht – die Nützlichkeit der Einkommen mehren wird. Die intuitive Zustimmung, die dieser Aussage über ihre recht offensichtlichen Schwierigkeiten hinweghilft, beruht auf der Vorstellung, dass ein zusätzlicher Dollar für den Armen mehr bedeuten muss als für den Reichen. Auf den zweiten Blick spricht die Intuition eigentlich nur dafür, dass eine gegebene feste Summe den Nutzen des Armen im Verhältnis mehr verbessert (sagen wir, um das Zehnfache) als den des Reichen (sagen wir, um ein Zehntel). Vergleicht man „kardinal“, wie sich bei dem Armen der ursprüngliche Nutzen zu dessen Wachstum verhält und wie sich beim Reichen der ursprüngliche Nutzen zu dessen Wachstum verhält, dann gibt es in diesen Vergleichen nichts, das uns in die Lage versetzte, die beiden Nutzen, oder
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3. Kapitel: Demokratische Werte
deren jeweiliges Wachstum, untereinander entweder „ordinal“ (im Sinne von größer oder kleiner) oder „kardinal“ (um wieviel größer) zu vergleichen. Ein Aspekt dieses Problems ist (und dem kann ich, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, nur zustimmen), dass wir diesen Vergleich nicht anstellen können, weil er nun mal gedanklich nicht vollzogen werden kann; interpersonale Vergleiche sind ihrer Natur nach fehlgeleitete Unterfangen. Unternimmt man sie, dann sind die Präferenzen dessen, der den Vergleich anstellt, alles, was sie ausdrücken können und dank ihrer gewusst werden kann. Weiter kommt man in der Sache nicht. Geht man über diesen Punkt hinaus, dann begibt man sich auf das Feld der Untersuchung dieser Präferenzen. Dann befassen wir uns mit Fragen wie Ideologie, Sympathie, Mitleid, Parteipolitik, Staatsräson usw. Diese und andere Fragen können vielleicht erklären, warum der Vergleich so ausfiel, wie er es tat. Auf die angeblich verglichenen Nutzen werfen sie jedoch kein weiteres Licht. Man kann aber auch anderer Auffassung sein; wenn auch nur deshalb, weil einige der scharfsinnigsten Köpfe, die sich mit diesem Problem befasst haben, dies tun. So glaubt z. B. Little, er könne „im groben“, und Sen, er könne „teilweise“ interpersonale Nutzenvergleiche anstellen. Der positive Fall besagt, anders als der normative Fall, dass dann, wenn man Geld vom Reichen nimmt und dem Armen gibt, dasselbe Geld wegen der anderen Verteilung mehr Nutzen bringe. Um des Arguments willen kann man sagen: Solange man nicht sicherstellen kann, dass derartige Vergleiche sinnvoll sind, hat man keinen tatsächlichen Fall zu überprüfen. Man kann nur moralische Argumente einander gegenüberstellen und, wie Bentham reumütig einräumte, „alle praktische Vernunft kommt zum Stillstand“. Die geistige Tradition, in der Gleichheit etwas zu entdecken, das die Erwirkung größerer Nutzen gestattet, gibt es jedoch ganz gewiss. In ihrem Mittelpunkt steht dabei die Überzeugung, dass wir es mit Sachverhalten zu tun hätten, und nicht mit Sympathie. Eine derartige Überzeugung bedingt, obgleich unbewusst und indirekt, einen großen Teil des Arguments hinsichtlich der Verteilung des nationalen Einkommens und der optimalen Besteuerung.107 M.E. lohnt es sich, ihm auf dieser Ebene entgegenzutreten und so zu tun, als ob man Nutzen vergleichen und zu einem gesellschaftlichen Nutzen addieren könnte; als ob es eine Sozialwissenschaft gäbe, die uns sagte, welche Einkommensverteilung den anderen überlegen sei. Lassen Sie mich die Begründung, die hinter dieser Überzeugung steckt, rekapitulieren – „aus dem politischen Unterbewusstsein ausgraben“ wäre wohl der passendere Ausdruck. Sie geht mindestens bis auf Edgeworth und Pigou zurück (wobei Ersterer eine allgemeinere und verhaltenere Position einnimmt) und ist ein prächtiges Beispiel für die Fähigkeit einer in die Jahre gekommenen Theorie, mit ihrer unverbrauchten Kraft das praktische Denken der Gegenwart zu beflügeln. 107 Es gibt andere liberale Argumente zur Umverteilung, die nicht positiv, sondern normativ sind. Sie betreffen Werte, nicht Tatsachen. Ihre Empfehlungen werden dadurch genährt, dass man sich auf die soziale Gerechtigkeit beruft, und nicht auf den gesellschaftlichen Nutzen.
Durch Gleichheit zu Nützlichkeit
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Im Grunde beruht die Theorie auf einer alten Konvention der Ökonomie, die in manchen Teilen der Volkswirtschaftslehre dafür sorgte, dass fruchtbare Theorien entstehen konnten. Sie ist unter dem Namen Gesetz variabler Proportionen bekannt. Dieser Konvention folgend geht man davon aus, dass dann, wenn unterschiedliche Kombinationen zweier Güter oder Faktoren denselben Nutzen (bei der Konsumption) oder denselben Ausstoß (bei der Produktion) ergeben, die erreichten Zunahmen an Nutzen bzw. Ausstoß, die man erhält, wenn man steigende Quantitäten des einen mit gleichbleibender Quantität des anderen kombiniert, eine abnehmende Funktion der Variablen darstellen. D.h., jede Zunahme ihrer Quantität führt zu einem kleineren Zuwachs an Nutzen oder Ausstoß als die vorangegangene. In den Theorien zum Konsumentenverhalten beschreibt man dies auch mit dem „Grundsatz vom abnehmenden Grenznutzen“, der „Konvexität der Indifferenzkurve“ oder der „abnehmenden Grenzrate der Substitution“ des fixen Gutes durch das variable Gut. Wenn man einer Person immer mehr Tee gibt, während ihre anderen Güter nicht zunehmen, dann nimmt der Nutzen oder die Befriedigung, die sie durch weitere Tassen an Tee erfährt, ab. Dass wir dieser Mutmaßung intuitiv zustimmen, gründet darauf, dass das Güterbündel fix ist. (Das Wort „Mutmaßung“ ist mit Bedacht gewählt. Eine Hypothese in Bezug auf Nutzen oder Befriedigung muss eine Mutmaßung bleiben, weil sie nicht durch ein Experiment oder eine Beobachtung widerlegt werden kann, es sei denn, wie weiter unten gezeigt, im Kontext unbestimmter Alternativen.) Diese Mutmaßung gilt für jedes einzelne Gut, sofern alle anderen Güter fix bleiben. Allerdings kann sie nicht aggregiert werden. Was mutmaßlich für jedes einzelne Gut zutrifft, ist nicht mutmaßlich zutreffend für alle Güter, d. h. Einkommen. Wenn das Einkommen wächst, dann wachsen alle anderen Güter auch, real oder potentiell. Welche Pointe hat es dann noch, zu „wissen“, dass der Marginalnutzen eines jeden Gutes fällt, falls die Quantität der anderen unverändert bleibt? Der abnehmende Grenznutzen von Tee bringt den Verstand dazu, den abnehmenden Grenznutzen des Einkommens zu unterstellen; doch die Versuchung, vom einen aufs andere zu schließen, erweist sich als Falle. Man kann bezüglich des abnehmenden Grenznutzens von Einkommen eine Mutmaßung aufstellen, indem man das Einkommen als alle Güter mit Ausnahme von einem (das unverändert bleibt, wenn das Einkommen steigt; z. B. Freizeit) definiert. Man kann ja durchaus behaupten, dass uns mit jedem Mal, da wir mehr erwirtschaften, weniger freie Zeit verbleibt, zusätzliche Einkommen zu erzielen. Wenn aber der abnehmende Grenznutzen von Einkommen eine Folge davon ist, dass man ein Gut aus dem Einkommen ausschließt, dann kann man ihn nicht auf ein Einkommenskonzept anwenden, das kein Gut ausschließt. Wenn jedes Gut zu einem Preis gegen jedes andere, einschließlich das der Freizeit, eingetauscht werden kann, was in der Marktwirtschaft im Großen und Ganzen der Fall ist, dann kann Einkommen alle und jedes der Güter bedeuten und keines davon kann als unverändert angenommen werden; was aber notwendig wäre, damit der Grenznutzen für die Summe der verbleibenden Güter überhaupt sinken kann.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Wir wissen alle nur zu gut, dass das Reich der Gewissheiten – in dem wir sicher sind, dass wir ein Pfund Tee bekommen, wenn wir danach fragen und dem Kaufmann den Preis dafür zahlen – sich für Beobachtungen hinsichtlich des Marginalnutzens von Einkommen nicht eignet. Denkt man jedoch an risikobehaftete Entscheidungen, dann kann man sich sehr wohl vorstellen, dass Beobachtungen bezüglich der Nutzenänderungen angesichts einer sich ändernden Einkommenslage sinnvoll sind. Die Pionierstudien zu Lotterien und Versicherungen sagen hier Evidentes zur Form der Nutzenfunktion aus und lassen darauf schließen, dass der Grenznutzen des Einkommens in einigen Gehaltsstufen steigen und in anderen fallen kann. Das steht in Einklang mit der Hypothese, dass jene Einkommensänderungen, die den Menschen in seiner Klasse belassen, gewissermaßen einen geringeren Wert haben als Änderungen, die ihm den Zugang zu einem ganz anderen Lebensstil ermöglichen. „[Ein Mensch] mag durchaus auf ein versicherungsmathematisch faires Spiel setzen, das ihm eine kleine Chance bietet, aus der Klasse der ungelernten Arbeiter in die ,mittlere‘ oder ,obere‘ Schicht aufzusteigen, auch wenn es in diesem Spiel weitaus wahrscheinlicher als ihm vorausgegangenen Spiel ist, dass er als einer der am wenigsten begüterten ungelernten Arbeiter enden wird.“108 Wir müssen hier anmerken (und dies für die nächsten zwei Abschnitte dieses Kapitels im Hinterkopf behalten), dass dies genau die Vorderseite jener Art von Einkommensbewertung ist, die in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit rationale Menschen angeblich dazu führt, die „Maximin“-Verteidigung ihrer Interessen zu wählen.109 Jeder, der nun leichtfertigerweise so argumentiert, als ob es ein Mittel geben könnte, das, unabhängig von der Rücksicht auf risikobehaftete Entscheidungen, den Grenznutzen des Einkommens ermitteln lässt, sagt mehr oder weniger, dass ein bestimmter positiver oder negativer Nutzen dem Eingehen von Risiken anhafte, so dass das, was riskante Entscheidungen messen, der Grenznutzen des Einkommens plus/minus dem Nutzen des Risikos, des Glücksspiels, sei. Auch wenn uns lieber wäre, es würde mehr oder weniger bedeuten: zu sagen, dass das Eingehen von Risiken ein positiver Nutzen sei, heißt zu sagen, dass der Grenznutzen des Einkommens steigt. Dass eine Person risikoscheu ist (faires Glücksspiel ablehnt oder die Kosten des Absicherns tragen will), ist nicht mehr und nicht weniger als ein empirischer Beleg für die Hypothese, dass der Grenznutzen seines Einkommens fällt. Über die Evidenz hinaus, die man aus riskanten Entscheidungen ziehen kann, sind andere Überprüfungen nicht möglich. Die Antworten der Menschen auf hypothetische Fragen dazu, wieviel „Nutzen“ oder „Bedeutung“ sie nachfolgenden 108 Friedman/Savage (1953), S. 88; zuerst erschienen in Journal of Political Economy, 56, 1948. 109 Rawls (1972), S. 156. Die zweite und dritte „Eigenschaft“, die Rawls herbeibeschwört, soll erklären, warum die Menschen tun, was sie zu tun glauben. D. h., sie erklären, dass ein Anstieg im „Index primärer Güter“ (von dem es heißt, er sei mit dem Einkommen generell ko-variant) den Rawlsschen Menschen kaum besser stellt, während ein Sinken ihn untragbar schlechter stellt.
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Zuwächsen ihres Einkommens beimessen, sind als Evidenz nicht zulässig.110 Es ist schon irritierend, wenn einem erzählt wird, dass die beobachtbare Evidenz (Risikomeidung oder Risikoannahme) der geschlussfolgerten Beschaffenheit (abnehmen oder ansteigen des „Grenznutzens für Einkommen“), deren einziges Symptom und alleiniger Beweis für deren Existenz sie ist, irgendwie etwas hinzufüge oder wegnnehme. Es gibt kein „Gesetz“ des abnehmenden Grenznutzens von Einkommen. Bildungs- und Karriereentscheidungen, Finanzmärkte und andere Zukunftsmärkte,111 Versicherungen und Glücksspiele: sie bieten Beweise genug dafür, dass Nutzenfunktionen in allen Zuständen auftreten können; fallend, konstant oder steigend. Der Grenznutzen einer und derselben Person kann je nach Einkommensgruppe die Richtung wechseln, und es gibt keine Anzeichen für die Vorherrschaft eines Typs von Funktion oder dafür, dass die übrigen Typen abartig wären. Es überrascht nicht, dass auf derlei allgemein gehaltenen und unförmigen Grundlagen keine Nutzenmaximierungstheorie mittels Befürwortung einer bestimmten Einkommensverteilung entstehen kann. Die Theorie von Edgeworth und Pigou steht in der Tat auf keiner besseren Grundlage als dieser, auch wenn dies in den bereinigten Darstellungen meistens nicht auffällt. In der vollständigen und sauber dargestellten Theorie hängt die aus dem Einkommen abgeleitete Befriedigung vom Einkommen selbst ab, und von der Fähigkeit zur Befriedigung. Ihre alleinige Abhängigkeit vom Einkommen führt nicht zu der Standardschlussfolgerung, die für gewöhnlich mit der Theorie in Verbindung gebracht wird. Wenn alle Güter mit dem Einkommen variieren, dann muss der Marginalnutzen des Einkommens nicht fallen und können wir nicht viel dazu sagen, was eine egalitäre Umverteilung der Einkommen für den „Gesamtnutzen“ bedeuten würde. Im Gegensatz dazu sieht ihre Abhängigkeit von der Fähigkeit zur Befriedigung so aus, als würde sie zum gewünschten Resultat führen. Wenn das Einkommen angesichts einer unveränderten Fähigkeit zur Befriedigung steigt, dann liegen alle Zutaten für ein Gesetz abnehmender Gewinne bereit, wobei das Konzept der Sättigung für die intuitive Zustimmung sorgt. Wenn wir dann zwei Kräfte haben, die auf den Grenznutzen des Einkommens einwirken, und wenn von diesen eine Kraft sich so oder so, aber stets ohne jeglichen sichtbaren Einfluss äußern kann, während die andere den Grenznutzen abnehmen lässt, dann kann man sagen, die Tendenz zu einem sinkenden Marginalnutzen des Einkommens könne in einem probabilistischen Sinne als eingeführt angesehen werden. 110 „Nicht einmal der Entscheider selbst kennt seine Präferenz, bevor er mit der tatsächlichen Wahl konfrontiert ist, und seiner Vorstellung von seinen eigenen Präferenzen ist zu misstrauen, solange er in keiner wirklichen Entscheidungssituation steckt.“ (Lindblom (1977), S. 103.) Auch wenn diese Haltung für Fälle einfachster Präferenzbeziehungen wie Tee-oder-Kaffee? überzogen erscheinen mag, so mahnt sie doch zu recht zur Vorsicht für das Leben im Allgemeinen. 111 Ich sage „andere“ Zukunftsmärkte, um hervorzuheben, dass Finanzmärkte ipso facto Termingeschäfte sind, z. B. in künftige Zinsen und Dividenden.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Die restlichen Teile fügen sich leicht ins Bild. Nur Güter, die zur „Geldmesslatte“ in Beziehung gesetzt werden können, finden Berücksichtigung. Die Menschen haben denselben Geschmack und zahlen denselben Preis für dieselben Güter. Schon allein aus Gründen der „praktischen Vernunft“ haben sie denselben „Appetit“, dieselbe „Bedürfnisintensität“, Genussfähigkeit oder dasselbe „Temperament“, wie die Befriedigungskapazität auch mal genannt wurde. Dem Konzept der Kapazität wohnte die Idee inne, dass die Kapazität erschöpft werden könnte. Schrittweise würden Einkommenseinheiten nacheinander immer kleinere Zunahmen an Nutzen oder Befriedigung erzielen, während man der Kapazitätsdecke immer näher käme. Nimmt man das Gesamteinkommen der Gesellschaft, dann muss der Gesamtnutzen offenbar umso größer sein, je mehr die Marginalnutzen der individuellen Einkommen sich einander angleichen; schließlich kann man das Gesamtergebnis nur verbessern, indem man Einkommen von Menschen mit einem niedrigen Grenznutzen an Menschen mit einem hohen Grenznutzen transferiert. Sobald die Grenznutzen überall gleich sind, kann kein weiteres utilitaristisches Gut durch Einkommenstransfer erzielt werden; der gesamte „soziale“ Nutzen wurde bereits maximiert. Nutzen und Befriedigung sind immaterielle Werte, Attribute des Geistes. Der sichtbare Beweis für die umfassende Gleichheit der Grenznutzen ist der, dass es keine Reichen und Armen mehr gibt. Diese Evidenz überzeugt dann, wenn wir die erforderliche Bedeutung interpersonaler Vergleiche nachreichen (wozu ich mich aus Argumentationszwecken entschlossen habe, um zu zeigen, wohin diese uns führt) und wir die Befriedigungskapazität (wie traditionell üblich) als physischen Appetit nach Standardgütern interpretieren, oder als „Ordnung niederer Bedürfnisse“, die für reich und arm gleichermaßen gilt, weil „niemand mehr als dreimal am Tag essen kann“, „kein Mensch mehr als einen Magen hat“ usw. Wenn man aber die Bedürfniskapazität nicht (länger) im Sinne der alten Lehrbücher nur auf einige physische Grundbedürfnisse bezieht, dann ist alles möglich.112 Die Mahnung stammte zwar aus erster Hand, aber die Meinungsmacher und Nutzenmaximierer nahmen Edgeworth’ Warnung nie ernst genug: „Benthams Argument, dass die Mittelgleichheit zur Maximierung des Glücks tendiere, setzt eine gewisse Gleichheit der Naturen voraus; wenn aber die Glückskapazität in unterschiedlichen Klassen unterschiedlich ist, dann führt das Argument nicht zu einer gleichen, sondern zu einer ungleichen Verteilung.“113 Was bleibt also von der Aufforderung, das Geld, sagen wir, vom fetten weißen Mann zu nehmen und dem dünnen braunen Mann zu geben, wenn wir zugestehen, dass die Kapazitäten, aus dem Einkommen Befriedigung zu generieren, sich sehr stark unterscheiden können? Die Gleichheit hört auf, der Vernunft unmittelbar 112 So schreibt Wolff (1977), S. 173: „Ein mit Bier und Pizza gefüllter Magen kostet sehr wenig, aber ein kultivierter, geschmackvoller und eleganter Lebensstil, der vernünftig geführt sein will, um die einzelnen Aktivitäten so festzulegen, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse ohne Einmischung von außen befriedigt werden können, kostet ein paar Scheine mehr.“ 113 Edgeworth (1897), wiederabgedruckt in Edgeworth (1925), S. 114, Hervorhebung von mir.
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die Richtung vorzugeben, weil sie nicht mehr als Straße zum maximalen Nutzen gilt. Gewiss könnte man Umverteilungsmaßnahmen auf andere Befriedigungskapazitätsmuster gründen und den trügerischen Nutzen als zu maximierendes Ziel verwerfen. Wie im wohlbekannten Fall des manisch Depressiven würde die Nutzenmaximierung danach verlangen, ihm sein Geld wegzunehmen, weil es ihm ohnehin nicht viel Befriedigung verschaffen kann. Ein alternativer Maximand könnte fordern, dass man ihm Millionen hinterherwirft, weil es so viel braucht, um sein Befriedigungsniveau auf das einer durchschnittlichen und gesunden Person zu heben. Letzteres hat die Angleichung des Glücks (und nicht dessen Maximierung) zum Ziel. Es ergibt Sinn, wenn (zur Rangverbesserung eines Zieles) die Gleichheit nicht vom Gut abgeleitet wird, sondern postuliert wird, sie sei das Gut. Im Rahmen der Nutzenmaximierungstradition scheinen zwei mögliche Optionen offenzubleiben. Die eine postuliert, dass die Befriedigungskapazität eine zufällige Begabung sei, so wie das musikalische Ohr oder das fotographische Gedächtnis, und dass man nicht vernünftig darüber streiten könne, wo sie sich in der Bevölkerung am wahrscheinlichsten konzentriert. Wenn dem so ist, dann kann man nicht vernünftig darüber urteilen, welche Einkommensumverteilung am ehesten den Nutzen maximiert. Gemäß der anderen Auffassung nimmt man an, dass die Befriedigungskapazität zwar nicht gleichmäßig verteilt ist, aber auch nicht zufällig, sondern ein Muster formt, das aus den sonstigen, statistisch ersichtlichen Eigenschaften der Menschen ableitbar ist; z. B., dass sie sich bei den Minderjährigen konzentriert, oder bei den Alten; bei denen, die eine akademische Ausbildung haben und bei denen, die keine akademische Ausbildung haben usw. Mit der Erkennung des Musters kehrt die utilitaristische Begründung für Empfehlungen zur so oder so gearteten Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens zurück. Die Sozialingenieure haben zum Glück ihr Terrain wiedergefunden, für das sie Umverteilungsmaßnahmen ersinnen können, dank derer der Gesamtnutzen wieder zunimmt, und auch die politische Unterstützung für den Proponenten; obwohl das Zusammenfallen beider wohl weniger sicher ist als im direkten und klassischen Fall der Umverteilung von reich zu arm. Wäre es aber nicht doch vernünftig, bei der Arbeit davon auszugehen, dass die Jungen mit ihrem Appetit für Freizeit, Kleidung und Reisen sowie für Musik und Parties mehr Befriedigungskapazität haben als die Alten mit ihren nachlassenden Gelüsten und gesättigten Bedürfnissen? Eine Politik, die den Steuersatz nicht nur (wie derzeit) nach Einkommen progressiv ausrichten würde, sondern auch nach Alter, dürfte sowohl dem gesellschaftlichen Nutzen wie auch dem Anwerben der jungen Wähler zugutekommen. Andererseits haben die Alten aufgrund ihrer kulturellen Reife und größeren Erfahrung ceteris paribus eine größere Befriedigungskapazität. Insofern würden mit dem Alter sinkende Steuersätze nicht nur den Nutzen mehren, sondern auch die Wählerstimmen der Senioren erhalten. Es könnte ebenso der Fall sein, dass man plausible Gründe dafür fände, das Einkommen der Lehrer anzuheben und das der Installateure zu senken, oder auch dafür, umgekehrt zu verfahren.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Es ist auch nicht mehr als vernünftig, dass die Intensität der Bedürfnisse mit der Versuchung, der man ausgesetzt wird, wächst. Folglich könnte der Gesamtnutzen wahrscheinlich gesteigert werden, indem man z. B. die Leser des Katalogs von Sears Roebuck subventionierte. Weil aber deren verbesserte Befriedigungskapazität teilweise das Verdienst der Leser selbst ist, wäre es andererseits auch eine gute Idee, die Subvention zu besteuern und die Einnahmen zu Werbezwecken an die Nicht-Leser zu verteilen. Alles in allem könnte man vielleicht die Vorteile im Sinne von Wohlfahrt und politischer Zustimmung dadurch gewinnen, dass man alle diese Maßnahmen gleichzeitig oder reihum übernähme, gleichwohl sorgfältige Stichproben notwendig wären, damit die zugrundeliegende Stückwerktechnologie auch wirklich präzise würde. Natürlich ist dies gegenüber dem ernsthaften und wohlmeinenden Übereifer, in dem die politisch bewussten Menschen sich bis vor kurzem mehrheitlich ergingen und dem aus vielerlei Gründen einige immer noch anhängen, recht unhöflich. Er verdient, verspottet zu werden. Dennoch muss man sich ernsthafter mit ihm auseinandersetzen. Die Regel „Jeder nach seinen Bedürfnissen“ als eine hinreichende Bedingung für Nutzenmaximierung führt nicht einfach zu einer Angleichung der Einkommen. Die Bedürfnisse des Menschen umfassen viele Dinge, die für Geld zu haben sind; mehr als nur Brot und Bratenfett oder Bier und Pizza. Es ist absurd, die Befriedigungskapazität nur auf die Physis oder den Magen eines Menschen zu beschränken. Die Menschen sind zu unterschiedlich, um ihre Einkommen in einer Weise anzugleichen, die auch nur annähernd eine plausible Lösung irgendeines Maximierungsproblems darstellte. Gibt es irgendeine andere einfache Umverteilungspolitik, die plausibler erscheint? Hier ist die Bühne frei für andere utilitaristische Strömungen, die hinter Begriffen lauern wie „Lernen durch handeln“, „Der Appetit kommt mit dem Essen“, „Auf den Geschmack kommen“, oder vielleicht „Der Einkommensnutzen ist eine steigende Funktion des vergangenen Einkommens“. Sie strapazieren die üblichen Grenzen der Ökonomie, ähnlich wie die Vorstellung, dass die Präferenzen für politische Arrangements im hohen Maße von den momentan herrschenden Arrangements abhingen (siehe Kap. 1.1), die Grenzen der politischen Theorie belastet. Der übliche und wohl erprobte Ansatz dieser Disziplinen setzt die Geschmäcker und Präferenzen als gegeben voraus. Sie als Teil des Problems zu betrachten, kann aber gelegentlich einen Versuch wert sein. Anstatt die allzu unglaubwürdige These zu vertreten, dass die Befriedigungskapazität überall ziemlich dieselbe sei, sollten wir davon ausgehen, dass die Befriedigungskapazität des Menschen von seinen derzeitigen Befriedigungen bestimmt wird; von seiner Kultur, Erfahrung und seinem üblichen Lebensstandard – Faktoren, die ihn lehrten, nach seinen Möglichkeiten zu leben, seine Bedürfnisse anzupassen und sich mit den Dingen, die dem Standard entsprechen, einigermaßen wohlzufühlen. Je größer das Einkommen der Menschen in der Lernphase ist, desto größer wird die Kapazität sein, aus ihnen Befriedigung zu generieren, und
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umgekehrt. Gleichwohl sollte man klug genug sein und annehmen, dass in der umgekehrten Richtung die Lernperiode zur Reduzierung der Befriedigungskapazität viel länger brauchen wird. Wenn die interpersonalen Vergleiche „eingeschaltet“ wären, dann könnte der unparteiische Beobachter vielleicht meinen, es sei keine große Entscheidung, zwischen dem Glück zu wählen, das ein repräsentativer Unterprivilegierter, dem man einen Dollar gibt, gewinnt, und dem Glück, das ein Wohlhabender verliert, dem der Dollar genommen wurde. (Diese Gewinne und Verluste muss der unparteiische Beobachter, der seinen Job richtig macht, auch berechnen, bevor er das Glück erfasst, das der eine durch den erlebten Zwang verliert und der andere gewinnt, wenn er spürt, wie der Staat ihm unter die Arme greift.) Klammert man die neuen Armen und neuen Reichen aus, dann bleibt für den Utilitaristen letzten Endes wohl keine Möglichkeit mehr übrig, sich in die aktuellen Einkommen der Menschen einzumischen. Wenn man eine politische Schlussfolgerung infolge derlei abstrakter Überlegungen untermauern kann, dann wohl die, dass die vorhandene Einkommensverteilung nach einer gewissen Weile weitaus eher den gesellschaftlichen Nutzen maximiert als jede andere (und dass – sollte dieser Umstand genug Menschen, wenn auch nur unterbewusst, davor zurückschrecken lassen, weiter darüber nachzudenken, wie man den gesellschaftlichen Nutzen maximieren kann – die Qualität der politischen Debatte zweifellos nur gewinnen kann). Anders ausgedrückt: Wenn die Einkommensverteilung ein Mittel zu mehr oder weniger aggregiertem Gesellschaftsnutzen wäre, dann wäre die unbedenklichste politische Regel, die man anwenden könnte, die, dass jede Gesellschaft die Einkommensverteilung kriegen „sollte“, zu der die Menschen aufgrund ihre gemachten Erfahrung bereit sind. Eine egalitäre Gesellschaft von der Art, die der resignierte Tocqueville als Ergebnis der Demokratie erwartet hatte und in der die Menschen sich in ihren Naturen ähneln, ihre Geschmäcker und Gedanken mit den anerkannten Normen einhergehen und ihr wirtschaftlicher Status einheitlich ist, „sollte“ aller Wahrscheinlichkeit nach eine egalitäre Einkommensverteilung erhalten – blöd nur, dass sie schon eine hat. In einer inegalitären Gesellschaft mit der Gleichmacherei zu beginnen, würde wahrscheinlich das Nutzenmaximierungskriterium, dem man ja eigentlich gerecht werden sollte, verletzen. Für sich genommen ist das kein sehr gutes Argument gegen die Gleichmacherei, es sei denn, man nähme die Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens ernst. Sieht man einmal von dem großen Einfluss ab, der dabei auf das öffentliche Unterbewusstsein wirkt, gibt es nicht wirklich einen starken Grund dafür, die Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens ernstzunehmen. Ganz gleich ob pro oder contra, Argumente zu den Meriten der Angleichung brauchen m.E. eine andere Grundlage. Man kann demokratische Werte nicht sozusagen aus dem Handbuch zum vernünftigen Umgang mit dem Nutzen ablesen. Die Güte der Gleichheit erweist sich nicht dank ihres vermeintlichen Beitrags zum größten Glück der größten Zahl. Ob die demokratischen Werte im Handbuch zum vernünftigen Umgang mit der sozialen Gerechtigkeit stehen, ist die Frage, die sich als nächste stellt.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Wie die Gerechtigkeit Verträge aufhebt Wenn rationale Menschen wollen, dass der Staat ihre bilateralen Verträge aufhebt, dann müssen sie von der Gleichheit auf die Gerechtigkeit schließen, und nicht umgekehrt.
Ein „Schema der gesellschaftlichen Kooperation“ muss man zweimal erkaufen: erstens mit Belohnungen für die Lasten; und zweitens mit einem Gesellschaftsvertrag zur Umverteilung der Belohnungen. Kehren wir zur Idee einer Gesellschaft zurück, in der die Individuen ein Anrecht auf ihr Eigentum und ihre persönlichen Fähigkeiten (Leistungsvermögen, Talente) haben und ihnen frei steht, sie im Rahmen freiwilliger Übereinkunft zum Verkauf oder zur Nutzung anzubieten. In einer solchen Gesellschaft werden Produktion und Distribution in einem naheliegenden Sinn durch Anrecht und Vertrag gleichzeitig bestimmt, während das geltende politische System zumindest weitgehend durch die Vertragsfreiheit begrenzt ist (wenn auch nicht vollkommen bestimmt). Nur der kapitalistische Staat mit seinen von uns unterstellten politischen Eigenschaften, die dem Staat seinen Platz zuweisen, kann mit solchen Beschränkungen angenehm leben. Der adverse Staat, dessen Ziele mit denen seiner Untertanen rivalisieren und der zum Gewinn und Erhalt von Macht auf Zustimmung angewiesen ist, muss dazu übergehen, sie niederzureißen. Im Grenzfall darf er das Anrecht auf Eigentum und freie Verträge im Grunde abschaffen. Die systematische Manifestation dieser Grenze bildet der Staatskapitalismus. Kurz und gut, der Staat wird die bilateralen Verträge unter Personen im Namen des Gesellschaftsvertrages aufheben. Die politischen Maßnahmen, die diesen Willen verkörpern, werden den Zwecken des Staates und der Realisierung demokratischer Werte dienen, soweit das Einhergehen der beiden machbar ist. Die Ausweitung des Wahlrechts und die Einkommensumverteilung sind zwei der typischen Maßnahmen dieser Art – von denen es auch andere geben mag –, um das gewünschte Einhergehen bis zu einem gewissen Grad zu erzielen. Auf jeden Fall wird man solche politischen Maßnahmen im Allgemeinen so auslegen können, als würden sie den gesellschaftlichen Nutzen oder die Gerechtigkeit oder beides maximieren. Und weil diese Maximanden als ultimative Ziele angesehen werden (die keine Rechtfertigung oder ergänzende Argumentation unter Berufung auf andere Ziele benötigen), wird man den Maßnahmen unterstellen, für die Gesellschaft als Ganzes rational zu sein. Die Auslegung einer politischen Maßnahme als eine, die ipso facto maximiert, ist eine Tautologie, falls sie von den zugrundeliegenden interpersonalen Vergleichen, die für sie sprechen, abhängt; und zwar deshalb, weil solch eine Behauptung naturgemäß unwiderlegbar ist. Wenn die Auslegung indes das Risiko auf sich nimmt, mehr als eine Tautologie zu sein, und Übereinstimmung zu irgendeiner eigenständigen Regel (die man nicht verbiegen und „interpretieren“ kann) ins Feld führt, z. B. die Regel „gleiche die Einkommen an, um den Nutzen zu maximieren“, „hebe Verträge zugunsten der am wenigsten Bevorteilten auf, um die Gerechtigkeit
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zu maximieren“, „gib jedem eine Stimme, um die Freiheit zu maximieren“ oder vorsichtiger formulierte Varianten zu diesen Themen, dann steht und fällt die Behauptung, dass die entsprechenden politischen Maßnahmen rational seien, mit der Theorie, mittels derer man zur Regel gelangt ist. Angeregt von solchen Betrachtungen werde ich nun versuchen, einige Implikationen einer demokratischen Theorie zu testen, die in den 50er und 60er Jahren von John Rawls ausgearbeitet wurde und schließlich in dessen Theorie der Gerechtigkeit dargelegt worden ist. Meine Wahl drängte sich, abgesehen von ein paar anderen Gründen, durch den Umstand auf, dass sie, soweit ich weiß, innerhalb der liberalen Ideologie des Staates als dem wichtigsten Werkzeug der Gerechtigkeit von Belohnungen und Belastungen die einzige vollentwickelte Theorie ist.114 Der Staat erhält von den Parteien des Gesellschaftsvertrages ein unwiderrufliches Mandat und damit unbegrenzte Souveränität, um den Gerechtigkeitsprinzipien zur Wirkung zu verhelfen. Eine Möglichkeit, Rawls’ Begriff der Gerechtigkeit zu charakterisieren und sich seiner Vorstellung von Gerechtigkeit zu nähern (zum Unterschied der beiden lese man S. 5), ist davon auszugehen, dass die Menschen eines schönen Tages zu Vertragsparteien für alle möglichen Verträge werden, die sie gerne eingingen. Einige werden sich dann hinsetzen und wie folgt überlegen:115 Bisher habe ich mich ganz gut geschlagen, soweit es die Umstände erlaubten. Anderen, denen das Glück holder war, erging es besser, aber denen mit weniger Glück ging es nicht so gut von der Hand. Morgen, wenn sich die Lage geändert haben wird, werde ich mit neuen Verträgen entweder besser oder schlechter fahren. Einige meiner alten Verträge mögen sich recht gut machen, aber andere bringen unter den neuen Bedingungen vielleicht nicht so viel. Wäre es nicht „rational, mich und die meinen gegen die Unwägbarkeiten des Marktes zu schützen?“ (S. 277, Hervorhebung von mir) Ich hätte dann für jedes Mal, wenn ich dächte, dass meine Verträge es nicht gut mit mir meinen, etwas „Luft“.
114 Rawls’ Grundsätze helfen beim Entwurf von „Regelungen“ oder „Institutionen“, welche „die Teilung der Vorteile bestimmen“, und bei der Erzielung „einer Einigung über die angemessenen Verteilungsanteile“ (Rawls (1972), S. 4). Rawls betrachtet Institutionen zwar auf einer hohen Abstraktionsstufe und sehr allgemein, aber sowohl aus dem Kontext (vor allem S. 278 – 283) als auch aus der Analyse seiner Argumente ergibt sich klar, dass jene Institution, die genug „Biss“ hat und überhaupt etwas „unterzeichnen“ kann, der Staat ist. (Wir orientieren uns bei der Übersetzung der Passagen aus Rawls’ Theory of Justice an der Übersetzung, die Hermann Vetter vorgelegt hat. Dessen Übersetzung ist stellenweise syntaktisch frei. Dieser Kunstgriff dient der besseren Lesbarkeit im Deutschen, grenzt aber die Verwendung der übersetzten Passagen ein. Daher weichen wir, wo notwendig, von Vetters Übersetzung ab. Um dem Leser die Überprüfung unserer Vorschläge zu ermöglichen, verweisen wir im Text auf die Paginierung des englischen Originals; d. Übersetzer.) 115 An dieser Stelle liegt kein Grund zur Annahme vor, dass alle dies tun werden. Einstimmigkeit ist hier nicht verlangt.
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Eigentlich denke ich gerade jetzt so, denn ich fühle mich zurückgesetzt, weil ich weniger Eigentum und persönliche Gaben als so manch anderer habe. Mir wäre es lieb, wenn Gerechtigkeitseinrichtungen dafür sorgten, dass dann, wenn meine Verträge mich mit „Belohnungen und Belastungen, Rechten und Pflichten“ bedenken, die ich nicht für fair halte, dieselben zu meinen Gunsten korrigieren würden. Wenn ich darüber nachdenke, dann stimmt es, dass jeder meiner Verträge eine Gegenpartei hat. Wenn man sich also zu meinen Gunsten über einen Vertrag hinwegsetzt, dann setzt man sich auch zu Lasten eines anderen darüber hinweg. Warum sollte also der andere einer „Hintergrundinstitution“ zustimmen, die sich gerade dann in dieser Weise seiner Verträge annimmt, wenn sie für ihn am fairsten sind und er überaus glücklich mit ihnen ist? Würde ich an seiner Stelle zustimmen? Ich würde einen Anreiz brauchen, und er gewiss auch. Ich würde ihm sehr gerne etwas anbieten und hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kämen, denn ohne seine Zustimmung, die für immer halten müsste, käme die von mir gewünschte Hintergrundinstitution nicht zum Zuge. So sähe eine offenherzige Auslegung jenes Teils der Theorie aus, der bei Rawls zur „Vertragssituation“ führen soll, d. h. dazu, dass die Parteien (denen unterstellt wird, dass sie eigeninteressiert, non-altruistisch und neidlos sind) im Naturzustand veranlasst sind, sich gegenseitig um die Aushandlung eines Gesellschaftsvertrages zu bitten; eine Art omnilateralen Supervertrag, der über allen steht und im Zweifelsfall bilaterale Verträge außer Kraft setzt.116 Noch bevor man sich darüber wundert, was der nächste Schritt sein mag, nämlich der substantielle Gehalt des Gesellschaftsvertrages („die Gerechtigkeitsprinzipien“), dürfte es zweckmäßig sein, danach zu fragen, wie eine „Vertragssituation“ herzustellen ist, wenn jemand, ganz gleich ob gutgestellt oder nicht, sich weigert, überhaupt einen Sinn im Verhandeln zu sehen. Kann so etwas passieren? Kann er nicht sagen, (a) dass er ganz gut fahre, so wie es ist, und dass er nicht versuchen wolle, mit einem Gesellschaftsvertrag besser zu fahren, weil er dabei riskiere, sich mit einer Verschlechterung abfinden zu müssen, und (b) dass die moralische Haltung, die man in Bezug auf die Gerechtigkeit sozialer Arrangements (zu denen u.a. die Arbeitsteilung gehört) einnehmen
116 Ich halte es für angemessen, Rawls so auszulegen, als ob er meinte, dass der Gesellschaftsvertrag ein einstimmiges (omnilaterales) Übereinkommen zu Staatsprinzipien ist und eine gerechte Verteilung sicherstellt, indem er Vorrang vor gewöhnlichen (bilateralen) Verträgen genießt, wann immer die Prinzipien das verlangen. Der Naturzustand ist ein Netz aus gewöhnlichen Verträgen, und damit der Ursprung einer „natürlichen Verteilung“ ohne „Institutionen“ (ohne Staat), die ihn mit einer Gerechtigkeitsvorstellung in Einklang bringen sollen. Ein anderer Aspekt von Gerechtigkeit als jener der Verteilung scheint in der Distinktion zwischen „Gesellschaftsvertrag“ und „Naturzustand“ keine Rolle zu spielen, jedenfalls keine bedeutende oder ausdrückliche. Eine Gesellschaft, die mit einem Staat, der sich ausschließlich mit der Erhaltung von Leib und Gut befasste, ausgestattet wäre, würde aus Rawls’scher Sicht immer noch eine Gesellschaft im Naturzustand sein. Rawls würde auch unumwunden zugeben, dass sein Gesellschaftsvertrag von Rousseau hergeleitet ist, und nicht von Hobbes.
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sollte, die sei, dass jeder zu seinem Wort stehen soll, egal ob es zu seinem Vorteil gereicht oder nicht? * Argument (b), dem noch er Duft des Alten Testaments anhaftet, ist zumindest mit Rawls’ Forderung vereinbar, dass die Menschen einen Sinn für Gerechtigkeit haben müssen (S. 148). Beide Argumente (a und b) scheinen mir eine recht Rawlsianische Begründung zu liefern, mit der man diskret auf seinem Standpunkt beharren und jede Verhandlung ablehnen kann, die, im Austausch für noch festzulegende Vorteile oder Anreize, andere von deren Vertragsverpflichtungen entbinden würde. Die Alternative ist der Naturzustand mit seinem „Der Finder darf’s behalten“ statt den „Gerechtigkeitsprinzipien“. In diesem Stadium gibt es nichts, aus dem wir schließen könnten, das eine sei gerechter als das andere, weil das einzige zur Verfügung stehende Kriterium für die Gerechtigkeitsprinzipien darin liegt, dass sie unter den richtigen Bedingungen einhellig befürwortet wurden. Wie auch immer, richtige Bedingungen entstehen nun mal nicht im Zuge freiwilliger Kooperation, und daher werden nicht alle Menschen einen Gesellschaftsvertrag aushandeln wollen, sofern sie einige gute Gründe zur Enthaltsamkeit haben. Rawls’ Schlüsselannahme, dass die „Bereitwilligkeit zur gesellschaftlichen Kooperation“ einen Nettovorteil erbringe, dürfte die Theorie vielleicht davor bewahren, bereits hier auf der Strecke zu bleiben. Der Vorteil muss sich in einem Zuwachs im „Grundgüter“-Index der Gesellschaft manifestieren (vorausgesetzt, niemand macht viel Aufhebens um die Aggregationsprobleme bei „Grundgütern“ wie Autorität, Macht und Selbstachtung), weil Rawls’ Theorie des Wohls keinen anderen Vorteil vorsieht. Andere Vorteile wie „größere gesellschaftliche Harmonie“ oder „kein Klassenhass“ gibt es nur insoweit, wie sie sich im Zuwachs an Grundgütern spiegeln. Angeblich kann dieser Zuwachs so verteilt werden, dass keiner schlechter dran wäre und einige sogar besser dastünden als unter jener Verteilung, die sich de facto aus der Kooperation ergibt und einvernehmlich akzeptiert wird. Kehren wir daher zu der Ambition einer Person B zurück, die eine andere Person A dazu bringen will, einen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln, kraft dessen man bilaterale Verträge außer Kraft setzen kann. In dieser Situation produzieren A und B (wie jede andere Person auch) bereits in einem Rahmen gesellschaftlicher Kooperation einen bestimmten Umfang an Grundgütern und teilen diese gemäß dem, was Rawls eine „natürliche Verteilung“ nennt (S. 102). Jedes Kooperationsformat basiert auf einer Verteilung, d. h., dass der resultierende Umfang an Grundgütern vollständig verteilt sein muss, um die infrage stehende Kooperationsform hervorzubringen. Die natürliche Verteilung korrespondiert mit der de facto bestehenden gesellschaftlichen Kooperation. Könnte nicht dennoch eine andere Verteilung außer der de facto Gesellschaftskooperation auch eine bereitwillige Gesellschaftskooperation hervorbringen, und zwar von der Art, die im Vergleich zur de facto bestehenden einen Zuwachs an
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Primärgütern erbrächte? Dies kann man vielleicht erwarten, „falls vernünftige Bedingungen vorgeschlagen werden“, „dass die Begabteren oder sozial besser Gestellten – was beides nicht als Verdienst angesehen werden kann [sic] – auf die bereitwillige Mitarbeit anderer rechnen können“ (S. 15). Wenn B nun eine „Vertragssituation“ schaffen will, muss er A davon überzeugen, dass er bereitwilliger kooperieren würde, sofern ihm vernünftigere Bedingungen zugesichert würden als jene, die er im Rahmen der natürlichen Verteilung vorfindet oder zu verantworten hat; sein Plus an Kooperation würde einen Zuwachs bringen, der die „vernünftigeren“ (soll heißen angenehmeren) Bedingungen bezahlt machen würde; außerdem würde dabei auch etwas für A abfallen. Aber kann B wirklich den erforderlichen Zuwachs liefern? Wenn er nicht blufft, d. h., wenn er sowohl zu liefern fähig als auch willens ist, und wenn die dafür geforderten Sonderbedingungen die Anderen nicht mehr kosten, als der Zuwachs ihnen bringt, dann würde er ihn bereits herstellen und die Sonderkonditionen im Rahmen gewöhnlicher bilateraler Verträge erhalten, und zwar schlicht aus Gründen der Markteffizienz. Er würde bereits gegen bessere Konditionen bereitwilliger kooperieren. Dass er es nicht tut und seine Verträge solche besseren Konditionen nicht schon enthalten, belegt, dass der Gesellschaftsvertrag, verstanden als Umverteilung im Austausch gegen verstärkte gesellschaftliche Kooperation, nicht die einhellige Präferenz rationaler Personen sein kann, die bereits kooperieren und einer natürlichen Verteilung zugestimmt haben. In Rawls’ System der Wahlkriterien ist es irrelevant, ob die, die besser ausgestattet sind als andere, es verdient haben oder nicht. Und die „Vorteile der gesellschaftlichen Kooperation“ sehen eher so aus, als ob jeder von ihnen nur so viel bekommt, wie er zu zahlen bereit ist. Sie reichen als Köder nicht aus, um jemanden von der gegenseitig vereinbarten natürlichen Verteilung weg und in die gesellschaftliche „Vertragssituation“ hinein zu locken. Die Extraportion an Grundgütern, die eine größere gesellschaftliche Kooperation in Begleitung ihrer Forderung nach gerechter Verteilung angeblich erzielt, kann nur dabei herausschauen, wenn mehr als die gewonnene Extraportion verteilt wird (sodass zumindest einer am Ende verlieren muss). Was sollen wir also mit Rawls’ gegenteiliger Behauptung anfangen, dass „niemand auf Kosten eines anderen etwas gewinnt … weil nur reziproke Vorteile zugelassen sind.“ (S. 104)? In einem vernünftig funktionierenden Markt spiegeln die vorherrschenden Bedingungen alle reziproken Vorteile wider, die man erzielen kann. Wie bzw. aufgrund welchen Parameters kann der Gesellschaftsvertrag, dessen Bedingungen „bereitwillige Kooperation hervorlocken“ sollen, dies ändern? Sofern Rawls seine Behauptung als eine faktische versteht, ist sie entweder falsch oder nicht verifizierbar. (Letzteres ist der Fall, wenn sie davon abhängig ist, dass die intendierte Distinktion zwischen bereitwilliger Kooperation und de facto Kooperation das meint, was wir wünschen; wenn z. B. bereitwillige Kooperation eine Traumwelt bedeutet, in der es doppelte Produktivität gibt, keine Streiks, keine Inflation, Arbeiterstolz, keine Entfremdung und keine auf Befehl und Gehorsam be-
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ruhenden Verhältnisse, während die de facto Kooperation die elende, lausige, verdreckte, unproduktive, nutzlose und entfremdete Welt verkörpert, die wir kennen.) Wenn die Behauptung andererseits eine willkürliche Grenze um den Bereich zieht, in dem das Argument anwendbar ist, dann versinkt die Theorie in vollkommener Bedeutungslosigkeit. Der reine Wunsch mancher Leute, die andere wirksam davon überzeugen wollen, von dieser unattraktiven Alternative abzulassen, obwohl es die beste ist, die sie wählen können, und ihnen attraktivere Bedingungen im Rahmen eines übergeordneten Supervertrages einzuräumen, kann die Theorie noch weniger in Gang setzen. Wie auch immer wir es drehen mögen, keinem ist es möglich, zur gleichen Zeit konfligierende Interessen zu haben und nicht zu haben; sich für ein Set von Verträgen zu entscheiden und gleichzeitig ein anderes zu wollen. Warum aber sollten wir die (historisch kaum gestützte) Behauptung teilen, dass ein Gewinn (an Grundgütern) mittels gesellschaftlicher Kooperation wüchse, wenn man den weniger Bevorteilten bessere Konditionen als Marktkonditionen einräumte? Warum müssen die besser Ausgestatteten „zufriedenstellende Bedingungen“ unterbreiten, die in Form von Umverteilung auf die Gewinne, die der Markt abwirft, draufgeschlagen würden, wenn sie erkennen, dass sie bereits all die Kooperation erhalten, die sie mithilfe von „Konditionen“ vorteilhaft erkaufen können?117 Und sollte es doch so sein, dass irgendjemand einem anderen spezielle Bedingungen, die besser als die des Marktes sind, anbieten muss, damit dessen „bereitwillige“ Kooperation fortbesteht – was vollkommen haltlos ist –, warum sollte es der besser Ausgestattete sein, der dieses Angebot zu unterbreiten hat? Nozick nahm eine Kanone, um auf diesen lahmen Spatzen zu schießen, und zeigte für den Fall, dass es überhaupt ein Argument wäre, es symmetrisch sein und für beide Seiten gelten müsste.118 Sollte aus irgendeinem Grund die Kooperation oder Teile von ihr auf der Kippe stehen, könnte es durchaus der schlechter Ausgestattete sein, der dem besser Ausgestatteten spezielle Bedingungen anzubieten hätte, um dessen fortgesetzter Kooperation sicher zu sein. (Wie behaupten doch böse Zungen so schön: Wenn es etwas gibt, das schlimmer ist, als ausgebeutet zu sein, dann überhaupt nicht ausgebeutet zu sein.) 117 Miller (1974), S. 215, argumentiert, dass man die bereitwillige Kooperation „für Jahrhunderte“ durch ideologische Institutionen und den (aus den Steuern der Arbeiter bezahlten!) Zwangsapparat des Staates aufrechterhalten könne, ganz ohne irgendeinen Gesellschaftsvertrag über die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit. Betrachtet man die Dinge im Rahmen des Marxismus, dann wären Rawls’ besser Ausgestattete mit den über Marktpreis liegenden Bedingungen für die Arbeiter einverstanden, wenn sie befürchteten, dass die Jahrhunderte, von denen Miller spricht, sich ihrem historisch unvermeidbaren Ende zuneigten, und reformistische Abhilfen an der Tagesordnung sind. Das Argument beruht zumindest grundsätzlich auf Eigeninteresse. Gleichwohl glaube ich, dass sie bei der Wahl ihrer zielführenden Mittel ihr eigenes Ende beschleunigen und unter „falschem Bewusstsein“ leiden würden. Rawls’ Argument hingegen scheitert voll und ganz bei dem Versuch, eine auf Eigeninteresse fußende Grundlage zu bilden. 118 Nozick (1974), S. 192 – 195.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Rawls’ Buch gibt keine Antwort auf die Frage, warum neue Konditionen notwendig sein sollten oder, was auf dasselbe hinausläuft, warum rationale Non-Altruisten sie akzeptieren würden, ganz zu schweigen davon, warum sie danach trachten sollten, über die Verteilungsgerechtigkeit zu verhandeln. Und auf die Frage, warum, falls übergeordnete Klauseln notwendig sind, es die Reiche wären, die sie den Armen zugestehen würden, und nicht umgekehrt oder in Form irgendeines ausgeklügelten und komplexen Umverteilungsmusters, gibt es eine kuriose Antwort: „Weil es angesichts mehrerer Blickwinkel unmöglich ist, zu maximieren, ist es gemäß dem Ethos einer demokratischen Gesellschaft natürlich, die am wenigsten Bevorteilten auszuwählen.“ (S. 319, Hervorhebung von mir). Die Gerechtigkeitsprinzipien sind also, was sie sind, weil die Gesellschaft demokratisch ist, und die Gesellschaft ist nicht demokratisch, weil man es für gerecht hält, dass sie so ist. Das demokratische Ethos kommt zuerst, und die Gerechtigkeitsanforderungen leiten sich von ihm ab. Hier steht die Moralphilosophie auf dem Kopf, und die ersten Grundsätze kommen zum Schluss.119 Die Prinzipien des Staatsentwurfs, welche die Belohnungen und Belastungen anders gestalten, als sie es sonst wären, müssen notwendigerweise irgendjemanden begünstigen. Wen sollten sie begünstigen? Rawls wählt die am wenigsten Bevorteilten aus. Das hätte eine zufällige Wahl sein können, war es aber nicht, wie wir inzwischen wissen. Sie leitete sich von der Demokratie ab. Wenn man den Staat dazu bringt, sich auf die Seite der am wenigsten Glücklichen zu schlagen, hat das den großen Vorteil, dass der zustimmungsabhängige Staat dies im Großen und Ganzen ohnehin zu tun geneigt ist, und zwar aus Gründen, die mit dem Wettbewerb um den Machterwerb und Machterhalt einhergehen. Die Gebote des „demokratischen Ethos“, die es „natürlich“ machen, dass man die Umverteilung in die eine statt in die andere Richtung lenkt, sind dem Anschein nach ein Codewort für die dringenden Erfordernisse der Mehrheitsregel. Falls nicht, dann sind sie Ausdruck des Glaubens an irgendeinen (demokratischen) Wert, der der Gerechtigkeit vor- oder übergeordnet ist (ansonsten könnten sie keine Gerechtigkeitsprinzipien hervorrufen). Wenn man schon mal so weit ist, dann mutmaßt man, dass irgendeine Gleichheitsvorstellung dieser Wert sei. In diesem Fall könnten wir von der Gleichheit aus argumentieren und eine Umverteilung als die gerechtere empfehlen, weil sie die am wenigsten Glücklichen bevorteilt, und müssten nicht zeigen, dass die Bevorzugung
119 Fairer Weise muss man sagen, dass Rawls seinen Standpunkt zur Moralphilosophie klarmacht (Abschnitt 9) und dieser (sofern korrekt) seine Auffassung rechtfertigen würde. Seine Parallele zur Syntaxtheorie spricht für sich. Die Art, in der die Menschen reden, bildet den Quell des Wissens über die Sprache. Die moralischen Urteile der Menschen bilden den Quell des inhaltlichen Wissens über die Gerechtigkeit. Wenn es demokratisch ist, die Gleichheit zu mögen, dann sagt uns dies etwas über die Gerechtigkeit – auch wenn es nur die plumpe Erkenntnis ist, dass die Gerechtigkeitsprinzipien aus den Meinungsumfragen stammen.
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der am wenigsten Bevorteilten gerecht ist (was ein Argument für die Gleichheit wäre und keines, das von ihr ausgeht). Die Ironie der ganzen Sache ist die: Hätte Rawls seinen Versuch erst gar nicht unternommen und wäre er nicht bei seinem Beweis, dass eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit möglich sei, gescheitert, dann wäre es viel einfacher, weiterhin an den Universalanspruch demokratischer Werte zu glauben; der (im Kern) bedeutet, dass Gleichheit deshalb wertvoll sei, weil sie auch der Weg zu den unbestrittenen Endzielen wie Gerechtigkeit oder Nutzen oder gar Freiheit sei, und es somit vernünftig sei, sie zu wählen. Rawls hat es für Nicht-Demokraten einfacher gemacht, auszurufen, dass der Kaiser keine Kleider anhabe. In der Grundversion seiner Theorie „Gerechtigkeit als Fairness“ hat Rawls (aus meiner Sicht mit Erfolg) gezeigt, dass rationale, eigeninteressierte Menschen sich gegenseitig Spezialkonditionen einräumen würden, um die zulässigen Ungleichheiten unter den Belohnungen und Belastungen zu regeln, sofern die einzig verfügbare Alternative ihre Gleichheit wäre. Es ist offensichtlich, dass im Rahmen seines „Differenzprinzips“ (Ungleichheiten müssen den am wenigsten Bevorteilten dienen oder verschwinden) die entsprechende ungleiche Verteilung, wenn es sie denn gibt, für jeden besser sein muss. Wenn die Theorie die am schlechtesten Gestellten besser dastehen lässt, als sie unter Gleichheit dastünden, dann muss sie die am besten Gestellten a fortiori auch besser stellen, und alle anderen, die dazwischen stehen, auch. (Sollte die Wirklichkeit mal anders sein, sollten mal die Produktionsfunktionen oder die Elastizitäten unter den angebotenen Anstrengungen so sein, dass dies in der Praxis nicht möglich ist, dann wären die Ungleichheiten nicht zu rechtfertigen und das Prinzip würde fordern, zur gleichen Umverteilung zurückzukehren.) In einer egalitären Verteilung wird eine vom Differenzprinzip getragene egalitäre Verteilung als „gerecht“ erachtet, d. h. gewählt. Es steht im Einklang mit der Idee, von der Demokratie auf die Gerechtigkeit zu schließen, wenn man – die natürliche Annahme – die Gleichheit als den Basisfall ansieht (Rawls nennt die Gleichheit auch das „ursprüngliche Arrangement“; sie ist auch zugleich der „angemessene Status quo“, von dem seine Theorie ausgeht) und meint, das jede Abweichungen vom Basisfall nach paretianischer Rechtfertigung durch einstimmige Präferenz120 verlange. Dass offenbar niemand dagegen protes120 Hier „starke“ Präferenz. Um die Ungleichheit zu rechtfertigen, müssen die am wenigsten Begünstigten besser dran sein, als sie es unter Gleichheit wären, während andere Gruppen, Schichten, Klassen (oder was auch immer repräsentative Personen repräsentieren mögen) besser dastehen müssen als die am wenigsten Bevorteilten. Andernfalls gäbe es keine zu rechtfertigenden Ungleichheiten. (Ich setze voraus, dass die Menschen es immer „vorziehen“, „besser“ dazustehen und nur dies vorziehen.) Die beiden Formulierungen „Ungleichheiten müssen zum Vorteil eines jeden repräsentativen Menschen“ bzw. „im Schnitt am wenigsten bevorteilten Menschen sein“ werden angesichts der Gleichheit als Alternative gleichbedeutend, aber nicht angesichts des allgemeinen Falles, der sich für sämtliche möglichen Verteilungen ergibt. Man erkennt dies recht leicht, wenn man vergleicht, wie es drei repräsentativen Personen A, B und C unter drei verschiedenen Verteilungen o, p und q ergeht; für den Fall, dass das
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tiert, wenn hier der Karren vor das Pferd gespannt wird, zeigt nur, dass Rawls zumindest hier auf der Höhe der sich entwickelnden liberalen Ideologie ist. (Die Kritiker, die im Namen des Liberalismus oder Sozialismus Rawls’ ideologischen Inhalt gewissermaßen „von der Linken“ her angreifen, indem sie ihm vorwerfen, ein Relikt von Gladstone zu sein, ein Schüler des geschmähten Herbert Spencer und ein Apologet der Ungleichheit, haben meines Erachtens den Punkt fürwahr und weit verfehlt.) Eine Mehrheitsentscheidung kann aber Gerechtigkeitsfragen nie klären. Im Sinne der liberalen Ideologie, der zufolge die Belohnungen der Menschen der politischen Beurteilung, die von vermeintlich letzten Werten getragen wird, anheimfallen, wirft eine Änderung in der Verteilung, die einige auf Kosten anderer begünstigt, sehr wohl eine Gerechtigkeitsfrage auf. Die Antwort auf diese Frage kann man mithilfe intuitionistischer oder utilitaristischer Argumente suchen. (Letztere sind letztlich intuitionistische Argumente, wie ich in Kapitel 3.4 gezeigt habe.) gesamte zu verteilende Einkommen mit der Ungleichheit steigt; also für den Fall, für den das „Differenzprinzip“ erfunden wurde. o
p
q
A
2
5
7
B
2
4
5
C
2
3
3
6
12
15
Unter p und q ergeht es jedem besser als unter o (Gleichheit), aber nur A und B geht es unter der ungleicheren Verteilung q besser als unter der weniger ungleichen Verteilung p. Die zusätzliche Ungleichheit unter q ist für die am wenigsten begünstigte Person C ohne Vorteil. C, die weder neidisch noch altruistisch ist, ist hinsichtlich der beiden Zustände indifferent. Folglich fällt q weg, weil es zumindest eines der Gerechtigkeitsprinzipien verletzt, auch wenn es zu drei zusätzlichen Primärgütern führen würde, ohne jemandem Kosten zu verursachen. Sen (1970), S. 138 Anm., hat dieses aberwitzige Ergebnis des Differenzprinzips sehr früh erkannt. Rawls kann es, wie praktisch, mittels seiner seltsamen Annahme der „engen Verstrickung“ („close-knitness“) aushebeln. Diese sieht vor, dass eine Verbesserung der Lage für A und B, die unter q statt unter p leben, eine Verbesserung für C einschließt (und umgekehrt). Mit anderen Worten: „close-knitness“ behauptet, dass p und q nicht zugleich möglich sein können. Folglich müssen wir uns nicht darum sorgen, welcher Zustand bevorzugt würde und welcher gerecht ist. Falls close-knitness versagen sollte, kann Rawls auf ein komplexeres „lexikographisches“ Differenzprinzip (S. 83) zurückgreifen, das Ungleichheiten erlaubt, sofern diese die Lage des nächsten Geringstbegünstigten (in diesem Fall B) maximiert, nachdem die Lage des am wenigsten Begünstigten nicht weiter verbessert werden kann. In einem Schema, in dem das Differenzprinzip fordert, dass einige Personen schlechter gestellt werden müssen, um die am wenigsten Begünstigten besserzustellen (z. B. durch Einkommensumverteilung) ergibt close-knitness kaum einen Sinn. Die Besteuerung von A stellt C besser (er erhält eine Transferzahlung) und schlechter (wie es die close-knitness fordert).
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Intuitionistische Argumente sind unwiderlegbar und reichen über Beteuerungen nicht hinaus. Rawls hätte seine Prinzipien als Ableitungen aus einem gegebenen Gleichheitsziel, das sich durch Pareto-Optimalität auszeichnet, darstellen können. Die Gleichheit (als ultimatives Gut der Prinzipien) hätte dann den Status einer intuitionistischen Wertebeteuerung, während die Pareto-Optimalität tautologisch aus der (neidlosen) Rationalität folgen würde. Rawls aber, der es auf eine Quadratur des Kreises anlegt, scheint „den Maßstab zur Beurteilung der Verteilungseigenschaften der gesellschaftlichen Grundstruktur“, zur Gänze aus der Rationalität ableiten zu wollen (S. 9). Seine Gerechtigkeit muss aus „Grundsätzen, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (S. 11), bestehen. Was der „ursprüngliche Zustand“, der „angemessene Status quo“ braucht, damit die Theorie funktioniert, läuft eigentlich auf folgendes hinaus: Rawls nimmt die Gleichheit als Ziel aus dem formalen Kernstück seines Arguments heraus und stellt sie als Regel, die uns das rationale Entscheidungsspiel auferlegt, wieder zurück. Es steht ihm natürlich frei, jede ihm gefallende Regel festzulegen, aber er kann keinen vernünftigen Menschen (und insofern auch keinen anderen) dazu verpflichten, bei dem Spiel mitzumachen und dessen Ausgang auf Dauer hinzunehmen, es sei denn, dieser hätte sich, wie Rawls selbst, jenem Glaubensartikel bereits verschrieben, der besagt, dass man eine ungleiche Ausstattung an Eigentum und Talent nicht zulassen darf, wenn man eine Verteilung gestalten will, die nicht ungerecht sein soll. In der Folge führt die gemeinsame Verpflichtung dann zu einem Abkommen hinsichtlich der Gerechtigkeit eines bestimmten Verteilungsprinzips. Das Argument hängt nach wie vor, entgegen allem Anschein und der Behauptung, dass es nur die Anwendung der Entscheidungstheorie sei, von der intuitionistischen (und wie auch immer getarnten) Beteuerung ab, dass die Gleichheit an erster Stelle komme und aus ihr heraus die Gerechtigkeit entstehen könne. Der „angemessene Status quo“ ist der Moment, in dem das Kaninchen sicher im Hut verstaut ist und herausgezogen werden kann. Anders als jeder andere Status quo, ist er einer, bei dem es von Anfang an gar keine gesellschaftliche Kooperation gibt, folglich auch keine auf bilateralen Verträgen gründende „natürliche Verteilung“. Die Menschen haben hier auch keine rationalen Gründe zur Annahme, dass im Falle einer „natürlichen Verteilung“ ihr Anteil größer oder kleiner wäre als der ihrer Nachbarn. Dies ist eine Folge des vieldiskutierten „Urzustands“, in der die vollständige Unkenntnis der eigenen Besonderheiten (der „Schleier der Unkenntnis“) die Menschen in die Lage versetzt, eine Verteilung aus einem Interesse heraus zu wählen, das von jeglichem Gedanken, der zu abweichenden Interessen unter Menschen führen könnte, frei ist. (Genau darauf läuft die Wahl der Prinzipien hinaus, mit denen man die Institutionen entwirft, welche die Verteilung gestalten sollen.) Hinter dem Schleier der Unkenntnis (der nicht nur jegliche moralischen Besonderheiten einer Person ausblendet, sondern auch gesellschaftliche Besonderheiten, ausgenommen gewisse allgemeine sozio-
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logische und ökonomische Kausalzusammenhänge) werden die Menschen fortan nur von Interessen getrieben (denn ihr Sinn für Gerechtigkeit ist bereits im Urzustand inbegriffen), und die Prinzipien, egal für welche sie sich entscheiden, um gesellschaftliche Kooperation herbeizuführen, werden eine gerechte Verteilung entstehen lassen. Die Konzipierung des Urzustands stellt sicher, dass jede Person das wählen wird, was die andere Person wählt, weil alle individuellen Differenzen herausdefiniert worden sind. Bei Einhelligkeit kann es aber keine Gelegenheit zu einem interpersonalen Vergleich geben. Es ist eine Sache, die formale Unanfechtbarkeit der analytischen Aussage einzuräumen, der zufolge Prinzipien Gerechtigkeitsprinzipien sind, wenn man sich im Urzustand für sie entscheidet; denn so sind diese nun mal definiert worden. Es ist aber eine andere, zuzustimmen, dass Rawls’ Prinzipien jene sind, die gewählt würden; und wieder eine andere, dass das, was Rawls’ Prinzipien darstellen, tatsächlich Gerechtigkeit sei. Zu jeder dieser Fragen gibt es Literatur, die uneins ist. Das meiste davon kann ich hier noch nicht einmal erwähnen. Nozick (Anarchie, Staat, Utopia, Teil II, Abschnitt 2) scheint mir durchdachter und verheerender als die meisten anderen Rawls’ Gerechtigkeit gerecht zu werden. Wolff indes liefert in Kapitel 15 von Understanding Rawls ein sehr schlüssiges (und in meinen Augen überzeugendes) Argument dafür, dass rationale Personen in der „ursprünglichen Position“ Rawls’ Prinzipien nicht wählen würden. (Ich werde dazu im nächsten Abschnitt einige ergänzende Anmerkungen in diese Richtung machen.) Zum Schutz seiner Kernargumente hat Rawls dieselben in ein paar Lagen eines weniger formalen Diskurses gebettet. Im Geiste des „Überlegungsgleichgewichts“ entworfen, nimmt er dabei unsere intuitive Zustimmung in die Pflicht, appelliert an unsere Vernunft und gibt oft zu verstehen, dass seine Gerechtigkeit eigentlich kaum mehr sei als im Interesse unserer Klugheit. Der sozialen Gerechtigkeit ist teils deshalb zuzustimmen, weil wir eigentlich gerecht sein sollten, und teils deshalb, weil wir die Gerechtigkeit mögen, aber vor allem, weil sie eine gute Idee ist und das ist, was den sozialen Frieden hervorlockt. Derlei Argumente klingen wie jene, bei denen die Befürworter der „Dritten Welt“ in ihrer Verzweiflung ob der Generosität in den Ländern der weißen Reichen neuerdings Zuflucht suchen: Gebt den Millionen von übervölkerten Unterentwickelten mehr Hilfe, damit sie sich nicht weiter vermehren und ihr nicht in ihnen untergeht; damit sie sich nicht erheben und Eure Scheunen niederbrennen oder gar, was noch schlimmer wäre, sich an Moskau klammern.121 Außerdem, leistet mehr Hilfe, damit ihr mehr Handel treiben könnt. Der Einsatz von Bestechung und Drohung, damit wir das Richtige tun, kommt bei Rawls kaum weniger verhohlen daher. Little hat es recht prägnant paraphrasiert: (Im Urzustand) „wäre jeder Teilnehmer damit einverstanden, dass jeder in der Gesellschaft, in der er etwas zu sagen hat, dann, wenn er dort reich wird, dazu gezwungen werden muss, den Armen zu helfen, weil sonst die Armen 121 Wenn dem so wäre, dann wäre es für die Moskau-feindlichen Nationen an sich ein guter außenpolitischer Grund, die Hilfe nicht auszudehnen, damit sich diese Abermillionen Moskau an den Hals werfen.
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den Apfelkarren umstürzen würden und er in einem so unsicheren Apfelkarren wohl kein Apfel sein möchte. Für mich klingt das mehr nach Berechnung als nach Gerechtigkeit.“122 Mehr noch, wenn man Rawls liest, dann kommt Zwang kaum ins Spiel, und falls doch, dann tut er nicht weh. Die Umsetzung der Gerechtigkeitsprinzipien lässt uns den Kuchen, den wir aufessen, gleichzeitig auch behalten; Kapitalismus und Sozialismus, öffentliches Eigentum und private Freiheit: alles zur selben Zeit. Die Inhaltslosigkeit, mit der Rawls diesen höchst strittigen Punkten begegnet, ist erstaunlich: „Eine demokratische Gesellschaft mag sich dazu entscheiden, auf Preise zu vertrauen, wenn die damit verbundenen Vorteile dafür sprechen, und danach die Hintergrundinstitutionen verfechten, welche die Gerechtigkeit fordert.“ (S. 281) Wenn man bedenkt, dass „auf Preise zu vertrauen“ synonym dafür steht, dass Verkäufer und Käufer sich auf die Belohnungen einigen, dann ist die Bewahrung von Hintergrundinstitutionen, die diese Belohnungen im Vorfeld festlegen, beschränken und rückwirkend korrigieren, nicht mehr als das Aussenden widersprüchlicher Signale an Pawlows Hunde. In jedem Fall ist sie ein Versuch, den Markt beim „Vertrauen auf die Preise“ in die Irre zu führen. Im Einklang mit der vorherrschenden liberalen Auffassung kann Rawls darin keinen Widerspruch erkennen. Zuerst kann man eine Marktwirtschaft ihre Vorteile ausspielen lassen, „und danach“ können die Hintergrundinstitutionen für Verteilungsgerechtigkeit sorgen und die besagten Vorteile dabei irgendwie unbeschädigt lassen. In alledem gibt es nicht die leiseste Ahnung von den wahrscheinlich sehr komplexen unbeabsichtigten Effekten, die sich ergeben, wenn man sowohl das Preissystem hat, das ein Set von Belohnungen verspricht, als auch die Hintergrundinstitutionen, die ein anderes Set nachzureichender Belohnungen verursachen.123 Zu guter Letzt versichert man uns, dass ein Gesellschaftsvertrag, der mächtig genug ist, um Eigentum auszuhebeln, und über die wesentlichen „Hintergrundinstitutionen“ (den Staat) gebietet, um die Verteilungsgerechtigkeit zu sichern, den Staat kaum spürbar mit mehr Macht ausstatte. Die Macht bleibt bei der Zivilgesellschaft, und der Staat entwickelt keine Autonomie. Er hat auch keinen Willen, sie für seine eigenen Zwecke einzusetzen. Es wird kein Geist aus der Flasche gelassen. Politik ist reine Vektorgeometrie. Um Rawls zu zitieren: „Wir dürfen uns den politischen Prozess als eine Maschine vorstellen, die gesellschaftliche Entscheidungen fällt, wenn man sie mit den Meinungen der Repräsentanten und deren Wählerschaft füttert.“ (S. 196) In der Tat dürfen wir das, aber es wäre besser, wenn wir es nicht täten. 122
Little (1981). Ein ziemlich offenkundiger Effekt dieser unbeabsichtigten Nebenwirkungen ist das Wachstum der „Schattenwirtschaft“ und der freiwilligen Arbeitslosigkeit. Diese Phänomene setzen wiederum eine sich selbst verstärkende Tendenz in Gang, die dem stetig schrumpfenden „legalen“ und gewinnbringend beschäftigten Teil der Gesellschaft eine immer größer werdende Bürde auflastet und die „Hintergrundinstitutionen“ an ihm gedeihen lässt, anstatt diesen Teil der Gesellschaft an den „Hintergrundinstitutionen“ gedeihen zu lassen. 123
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Egalitarismus als Klugheit Die Ungewissheit über den eigenen Anteil führt rationale Personen angeblich zu einer Entscheidung bezüglich der Einkommensverteilung, die ihnen nur die Gewissheit, am schlechtesten abzuschneiden, abringen kann.
Der Spatz in der Hand ist dann am besten, wenn man einen haben muss und zwei zu viel wären. Wenn man den Kern von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit überspitzt zu vereinfachen hätte, dann könnte man sie vielleicht so auf den Punkt bringen: Bar jeglichen Eigennutzes, das die Selbsterkenntnis gebiert, stimmen die Leute für eine egalitäre Gesellschaft, die nur solche Ungleichheiten erlaubt, die das Los der am wenigsten Bevorteilten verbessern. So lautet ihre kluge Option, weil sie nicht wissen können, ob es ihnen in einer nicht-egalitären Gesellschaft gut oder schlecht erginge. Sie verweigern das Glücksspiel und ziehen den Spatz in der Hand vor. Jede ausgeklügelte geistige Konstruktion wird unweigerlich auf eine einfach zu kommunizierende Vulgärversion reduziert, sobald sie sich im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein festsetzt. Nur die widerstandsfähigsten Argumente, die in ihrem Kern aus einem Stück bestehen, werden in einem solchen Prozess nicht auf pathetische Trugschlüsse reduziert. Ein Autor, der ohne Not komplexe Lösungen für Probleme heraufbeschwört, die gleich zu Anfang weggedacht werden, merkt alsbald, dass er in der Öffentlichkeit den Ruf genießt, mittels der „Spieltheorie bewiesen“ zu haben, dass Maximin (also das Minimum unter den alternativen Ergebnissen zu maximieren) die optimale Lebensstrategie für den „klugen Menschen“ sei, dass „die konservative Entscheidungsregel darin bestehe, einer moderaten egalitären Sozialpolitik zuzustimmen“, oder wie auch immer die Formulierung dann lauten mag. Angesichts des Werts, den Begriffe wie „klug“ und „konservativ“ genießen, ist es Mythen dieser Sorte geschuldet, dass viele ihre Meinung für eine gewisse Zeit ändern, allerdings aus Gründen, von denen Rawls sich als einer der Ersten distanzieren würde. In seinem Modell bestimmen die Besonderheiten des „Urzustands“ (das Unwissen über die eigenen vitalen Besonderheiten, gepaart mit einem selektiven Allgemeinwissen in Ökonomie und Politik) zusammen mit drei psychologischen Annahmen, wozu die Menschen sich in solchen Situationen entscheiden würden. Sie werden sich für Rawls’ zweites Prinzip entscheiden, vor allem für den Teil, der in einer unbekannten Verteilung der Schicksale die Maximierung des Minimumschicksals vorschreibt, oder das „Differenzprinzip“. (Der Grund für die These, dass sie sich auch für das erste Prinzip bezüglich gleicher Freiheiten aussprechen und gegen jede Form von Ausgleich zwischen Freiheit und anderen „Primärgütern“ im Sinne eines von-diesem-etwas-mehr-und-dafür-von-jenem-etwas-weniger ist weniger klar, wird von uns aber hier nicht behandelt.) Zunächst steht hier zur Debatte, ob man die psychologischen Modellannahmen, die zur Maximin-Wahl führen, überhaupt für den rationalen Menschen im Allgemeinen aufstellen kann oder
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ob sie nicht eher für die besonderen Biographien einiger exzentrischer Persönlichkeiten stehen. Für den rationalen Menschen besteht das Ziel angeblich darin, den Lebensplans zu erfüllen. Er ignoriert dessen Besonderheiten, abgesehen davon, dass er ein ausreichendes Maß an Primärgütern braucht, um den Plan einzuhalten. Diese Güter dienen indes Bedürfnissen, nicht Wünschen.124 Es ist allerdings schwer zu erkennen, was sonst einen erfüllten Lebensplan in ein würdiges Ziel verwandeln sollte, wenn nicht der erwartete Genuss eben jener Primärgüter, die zu einer Erfüllung gehören. Sie sind die Mittel, aber sie müssen auch die Ziele sein.125 Letzteres ergibt sich dadurch, dass sie Güter sind, deren Inhalt wir zugunsten der am wenigsten Begünstigten zu maximieren trachten (und nicht nur für diese auf ein angemessenes Niveau heben wollen). Und dann erzählt man uns, dass die Menschen nicht darauf erpicht seien, mehr von diesen Zielen zu wollen, sobald sie für die Erfüllung des Plans genug haben. Sie zeigen kein Interesse an der Übererfüllung! Diese Position ist vieldeutig, wenn nicht gar völlig obskur. Um die Mehrdeutigkeit aufzulösen, könnte man annehmen, dass die Menschen den Lebensplan nicht nur deshalb erfüllen wollen, um ein Leben lang Zugang zu den angenehmen Primärgütern zu haben; dass der Lebensplan nicht nur als Kürzel für diesen Zugang steht, sondern ein Ziel an sich ist. Der Lebensplan ist wie die Besteigung des Piz Palü, die wir einfach wollen, und die Primärgüter sind wie Kletterstiefel; ohne Wert an sich, sondern nur wertvoll als Mittel. Entweder der Lebensplan gelingt oder er scheitert, ein Mittelding gibt es nicht. Er ist keine kontinuierliche Variable, von der es gut ist, ein wenig zu haben, und noch besser, mehr von ihr zu haben. Er ist eine Sache von entweder/oder. Wir wollen den Piz Palü nicht ein wenig besteigen und können auch nicht höher klettern als bis zum Gipfel. So gesehen ergibt dann fehlendes Interesse an mehr als ausreichend vielen Primärgütern auch einen Sinn. Wer will schon zwei paar Stiefel, um einen Berg zu besteigen? Die logische Widerspruchsfreiheit zwischen Ziel und Mittel (eine notwendige Bedingung für Rationalität) würde allerdings zu dem Preis erkauft werden, dass man rationalen Menschen unterstellen müsste, sie hätten vom Lebensplan dieselbe absolute Auffassung wie Heilige von der Erlösung. Die Verdammung ist inakzeptabel; die Erlösung ist vollkommen ausreichend. Alles andere zählt nicht. Es ist unsinnig, mehr Erlösung zu wollen. Der Lebensplan ist ein nicht-analysierbares Ganzes. Was an seiner Erfüllung gut ist, wissen wir nicht, und müssen wir auch nicht wissen. Es scheint indes sinnlos, mehr als seine Erfüllung zu wünschen, und schafft man es nicht, ist das die reine Hölle. An sich liegt nichts Irrationales darin, Menschen, die sich Verteilungsinstitutionen ausdenken, eine kompromisslose Heiligenmentalität zu unterstellen. Heilige 124
Rawls (1974). dazu Benjamin Barber, der diagnostiziert, „der instrumentelle Status der Primärgüter ist gefährdet.“ (Barber (1975), S. 664.) Sein Grund für diese Haltung ist jedoch ein anderer als meiner. 125 Vgl.
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können genauso rational oder irrational sein wie Sünder. Das Problem liegt vielmehr darin, dass der Lebensplan, anders als die Erlösung, die für den Gläubigen eine tiefen Sinn und Inhalt hat, dann, wenn er sich aus der Verfügungsgewalt über Primärgüter ableitet (d. h., wenn diese nicht länger als Ziele dienen dürfen), jeglichen Inhalts beraubt ist. Kann man also immer noch meinen, es sei das Ziel eines rationalen Menschen, den Lebensplan zu erfüllen, auch wenn dergleichen zu wollen wie eine unerklärliche Verschrobenheit ausschaut? Abgesehen davon ist es kaum der Rede wert, dass man gegen Rawls’ eigene Auffassung verstößt, wenn man den Lebensplan als ein ultimatives Ziel versteht und zudem als eine Sache, bei der es um alles oder nichts geht. Nach Rawls’ Auffassung ist der Lebensplan ein Mosaik aus Teilplänen, die separat erfüllt werden und womöglich auch sukzessive (siehe Kapitel VII). D.h., er ist kein unteilbares Ziel, das man entweder erreicht oder verfehlt. Die Bedeutung dieser Frage liegt in der Rolle, welche die drei psychologischen Annahmen mutmaßlich spielen, wenn sie rationale Menschen veranlassen, „Maximin zu wählen“. Beginnen wir mit den letzten beiden dieser Annahmen. Man sagt uns (1), dass „die wählende Person … sich, wenn überhaupt, wenig darum schert, was sie über das Minimumstipendium hinaus erwerben könne“ (S. 154), und (2), dass sie alternative Entscheidungen zurückweise, die eine gewisse, wenn auch nur kleine Wahrscheinlichkeit haben, dass sie weniger als das erhalten können, weil „die zurückgewiesenen Alternativen Ergebnisse haben, die man kaum annehmen kann.“ (S. 154) Wenn man diese zwei Annahmen beim Wort nähme, dann hätten die Entscheider sich so verhalten, als ob das Besteigen eines ausgesuchten Berggipfels ihr einziges Ziel wäre; sie würden es auf die entscheidende Quantität X (Kennziffer) der Grundgüter absehen, so wie auf ein Paar genagelter Stiefel; weniger wäre nutzlos, und mehr witzlos. Wenn sie aber darüber hinaus wüssten, dass dank der Entscheidung zugunsten einer Gesellschaft, in der eine Maximin-Verteilung an Grundgütern (Einkommen) herrscht, das entscheidende Stipendium X für die am wenigsten Begünstigten tatsächlich zustande käme, dann würden sie diese Gesellschaft wählen, und zwar ungeachtet der relativen Wahrscheinlichkeit, in anderen Gesellschaftsformen größere, gleiche oder kleinere Stipendien erzielen zu können. Wenn schlechtere Alternativen für Sie einfach inakzeptabel sind und bessere Sie kalt lassen, dann kann es unmöglich eine Rolle spielen, wie wahrscheinlich diese sind. Ihr Maximand ist diskontinuierlich. Er ist allein die Ziffer X. Wenn sie alles kriegen können, dann nehmen Sie es. Von einer „Maximin“-Strategie zu reden und von einer „Wahl angesichts der Ungewissheit“ ist ein Ablenkungsmanöver par excellence. (Was geschieht, wenn sich herausstellt, dass eine dem Maximin-Prinzip folgende Gesellschaft nicht reich genug ist, um jedem ein hinreichend hohes Minimumstipendium zu sichern; eines, das ist wie X, ausreichend, um allen eine Erfüllung ihres Lebensplans zu erlauben? Rawls reicht es, wenn eine Gesellschaft sowohl einigermaßen gerecht als auch einigermaßen effizient ist, weil sie dann gewiss jedem X garantieren könne (S. 156 und 169). Die Gewissheit von X ist also die Alternative, die dem Anblick der Ungewissheit vorgezogen wird.
Egalitarismus als Klugheit
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Das mag nun sein, wie es will. Eine Gesellschaft mag effizient sein und dennoch ziemlich arm – das Preußen von Friedrich Wilhelm I. und das Nachfolgepreußen von Erich Honecker dürften dem recht gut entsprechen –, und die Menschen haben im Urzustand keinen Schimmer davon, ob die effiziente und gerechte Gesellschaft, die sie gerade ersinnen, nicht eventuell auch arm sein könnte. Nach Auffassung von James Fishkin ist eine Gesellschaft, die jedem ein befriedigendes Minimum garantieren kann, eine Überflussgesellschaft „jenseits der Gerechtigkeit“.126 Wenn andererseits die Stipendien, die durch das vorgeschriebene Maximin garantiert sind, das Niveau von X nicht erreichen, dann können die Menschen das magere Stipendium nicht gleichzeitig als eines betrachten, das sie „schwerlich akzeptieren können“, und es rational jenen Alternativen vorziehen, die zwar ohne Garantie und ungewiss, aber akzeptabler sind.) Wenn Ungewissheit in Rawls’ Theorie mehr sein soll als eine überflüssige Worthülse, z. B. eine Zutrittskarte ins Land der schicken Entscheidungstheorie, dann darf man den Lebensplan und die beiden psychologischen Annahmen bezüglich des Minimumstipendiums (nämlich, dass weniger inakzeptabel ist, und mehr unnötig) nicht allzu wörtlich nehmen. Auch wenn Primärgüter „Bedürfnisse und nicht Wünsche“ erfüllen, müssen wir erneut betonen, dass sie konsumierbare Güter sind, und keine Werkzeuge; dass den Menschen nie egal ist, ob sie mehr von ihnen haben, egal, wie viele oder wie wenige sie von ihnen haben; und dass es keine signifikante Diskontinuität gibt, kein ungültiges über oder unter dem befriedigenden Minimumstipendium, sondern vielmehr ein intensives „Bedürfnis“ für Grundgüter unterhalb des Minimums und ein weniger intensives „Bedürfnis“ oberhalb des Minimums. D.h., anstatt einer einsamen Ziffer wird der Grundgüter-Index zu einem richtigen Maximanden, einer ziemlich eng skalierten Tabelle mit unterschiedlichen Ziffern, die konsistent geordnet werden können. Geht es nach Rawls, dann ist die Theorie der Gerechtigkeit eine besondere Anwendung der Theorie rationaler Entscheidung. Wenn man seine Annahmen für bare Münze nimmt, dann ist jede Entscheidung von vornherein ausgeschlossen; wir müssen sie also großzügiger auslegen, damit sie etwas Raum für echte Alternativen lassen.127 Wenn wir das tun, dann stellen wir allerdings fest, dass wir die Kurzfassung der Nutzenfunktion der betroffenen Menschen erfasst haben (obgleich Rawls beteuert, dass sie so handelten, als ob sie keine hätten). Die Kurzfassung entspricht der herkömmlichen Auffassung, dass es zumindest in der näheren Umgebung eines Niveaus X an Grundgütern einen nachlassenden Grenznutzen gebe. (Aufgrund von Rawls’ Bemerkungen kann man sogar mutmaßen, dass diese Entsprechung auch für die entferntere Umgebung gilt.) Wenn die Menschen nicht darum wüss126
Fishkin (1975), S. 619 f. Der Gläubige, der nur die Alternativen Himmel oder Hölle kennt (der also weder um das Fegefeuer weiß, noch um die sieben Stufen des Himmels), würde, formal betrachtet, rational entscheiden, wenn er sich für den Himmel entschiede. Die Rahmenannahmen machen indes das Entscheidungsproblem zu einem trivialen Problem, wenn nicht gar zu einem Scheinproblem. 127
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ten, dann könnte ihnen angesichts verschiedener Grundgüter-Stipendien nicht klar sein, welches davon mehr und welches weniger annehmbar ist. Sie würden dann auch ein dringendes „Bedürfnis“ nach mindestens so und so viel haben oder ein weniger dringendes „Bedürfnis“ nach mehr. Ohne ein gewisses Maß an Vorstellung über die relative Intensität ihrer „Bedürfnisse“ (oder Wünsche?) könnten sie die gegenseitig sich ausschließenden ungewissen Aussichten auf unterschiedliche Mengen von Grundgütern nicht rational bewerten, sondern nur angeben, dass eine Aussicht unendlich wertvoll sei und alle anderen wertlos seien. Betrachten wir als nächstes Rawls’ psychologische These von den „scharf nachlassenden Wahrscheinlichkeitseinschätzungen“ (S. 154). Sie fordert, dass Menschen (solange sie im Urzustand verweilen) sich zwischen Grundsätzen entscheiden, welche die Gesellschaftstypen bestimmen. Diese wiederum brächten bestimmte Einkommensverteilungen mit sich, und jede von diesen könnte ihnen irgendeines der möglichen Lose an Grundgütern bescheren, die den unterschiedlich platzierten Personen in jener Gesellschaftsform zugutekommen. Sie können sich, wie wir wissen, für ein gleiche Verteilung entscheiden, oder für Maximin (das ein gewisse Ungleichheit enthält), oder für irgendeine der vielen anderen möglichen Verteilungen, von denen viele inegalitärer als Maximin sein werden.128 Wir wissen auch, dass Maximin die Gleichheit dominiert,129 d. h., dass keine rationale und neidlose Person Letztere wählen wird, wenn sie Erstere haben kann. Aber darüber hinaus lässt die Rationalitätsforderung an sich die Wahl unter den verbleibenden Alternativen, bestehend aus Maximin und allen inegalitäreren Verteilungen, vollkommen offen. Die Menschen wissen nicht, wie ihr Schicksal in den jeweiligen Alternativsituationen aussähe, und haben auch keinerlei objektive Daten, um Einschätzungen vornehmen zu können. Nichtsdestotrotz entscheiden sie sich angeblich für eine und wahren in ihr ihre Chance. Weil sie rational sind, muss die Verteilung, die sie wählen, eine bestimmte Eigenschaft haben: Für jeweils alle möglichen Schicksale, die man unter ihr erleiden kann (jeweils multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit (0≤1), das entsprechende Schicksalslos zu ziehen), muss die Gesamtsumme der erzielten Nutzen größer als die jeweiligen Gesamtsummen unter den sonst möglichen Verteilungen sein. (Statt „erzielen“ mag man auch lieber „mutmaßlich erzielen“ sagen.) Dies ist nur ein Folgesatz aus der Definition für Rationalität. Technisch ausgedrückt würden wir 128 Dies muss auch offensichtlich so bleiben, ganz egal wie sehr das erste Rawlssche Prinzip (gleiche Freiheit, was immer dies bedeuten mag) und der zweite Teil des zweiten Prinzips (Positionen stehen allen Talenten offen) die Bandbreite möglicher Verteilungen auch einengen mögen, indem sie das Aufkommen sehr kleiner und sehr großer Einkommen verhindern (S. 157 f.). Diese Verhinderung lassen wir diskussionshalber gerne so stehen, ohne allerdings einzuräumen, Rawls habe gezeigt, dass sie wahrscheinlich sei. 129 Der Vollständigkeit halber sollten wir hinzufügen, dass dann, wenn Maximin die Gleichheit dominiert, Maximin auch alle Einkommensverteilungen dominieren muss, die zwischen ihr und der Gleichheit liegen, d. h., alle Verteilungen, die egalitärer als Maximin sind.
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sagen: „Analytisch betrachtet maximiert der rationale Mensch die mathematische Nutzenerwartung“.130 Der Grenzfall der Ungewissheit ist Gewissheit; wenn die Wahrscheinlichkeit, ein gegebenes Los zu ziehen, eins ist, und die Wahrscheinlichkeit, irgendein anderes Los zu ziehen, null ist. Mithin kann man auch behaupten, der rationale Mensch maximiere einfach nur seinen Nutzen und schere sich nicht um dessen Wahrscheinlichkeit. Es steht Rawls frei, zu behaupten, seine Parteien seien „skeptisch“ und „gegenüber Wahrscheinlichkeitsberechnungen argwöhnisch“ (S. 154 f.). Wenn sie im Angesicht der Ungewissheit entscheiden – was sie ja im Urzustand tun sollen – dann laufen ihre Entscheidungen darauf hinaus, den Ergebnissen Wahrscheinlichkeiten zu unterstellen, egal ob sie das skeptisch, zuversichtlich, ängstlich oder in irgendeinem anderen Gefühlszustand tun. Wir können auch nach wie vor behaupten, dass sie nichts dergleichen tun. Es kommt allein darauf an, dass ihre eventuellen Unterstellungen sinnvoll sind. Wenn ihr Verhalten nicht als ein solches beschrieben werden kann, dann muss man die Rationalitätsannahme aufgeben. Wir können z. B. sagen, dass die Menschen der Wahrscheinlichkeit, das schwerste Los zu ziehen, den Wert 1 zuordnen, und den Wahrscheinlichkeiten, eines der besseren Lose zu ziehen, Werte, die kleiner als 1 sind, aber größer als 0. Wir können allerdings nicht im selben Atemzug sagen, sie seien rational. Wenn sie rational wären, dann würden 130 Ein häufig auftretender grober Schnitzer liegt in der Verwechslung von mathematischer Nutzenerwartung und dem Nutzen mathematischer Erwartungen. (Ein Zusammenfallen beider würde die Aussage gestatten, dass der Grenznutzen des Einkommens konstant sei.) Er ist verwandt mit dem Schnitzer, die Nutzenfunktion und die Einstellung zum Risiko doppelt zu zählen. Wenn man etwa sagt, „er maximiert seinen Nutzen nicht, weil er eine Risikoaversion hat“, tut man so, als ob Risikoaversion mehr wäre als ein umgangssprachlicher Ausdruck zur Charakterisierung der Form seiner Nutzenfunktion. Vgl. dazu Rawls’ Version des Arguments zugunsten der Maximierung durchschnittlichen Nutzens: Nur dann, „wenn man die Parteien als rationale Individuen versteht, die keine Risikoaversion haben,“ (S. 165, meine Hervorhebung) „bereit, auch bei den abstraktesten Wahrscheinlichkeitsüberlegungen Risiken einzugehen,“ (S. 166, meine Hervorhebung) werden sie die mathematischen Nutzenerwartungen, die sie mithilfe der Bayesianischen Wahrscheinlichkeit errechnet haben, maximieren. Um sich aber überhaupt sinnvoll verhalten zu können, müssen sie das ohnehin tun! Wenn sie risikoavers sind, dann spielen sie einmal, und wenn sie es nicht sind, spielen sie erneut. Wenn das „Ablehnen, Risiken einzugehen“ rational zu sein bedeuten soll, dann muss man es auch als jenes Spiel darstellen können, bei dem die Nutzensumme aller möglichen Ergebnisse, multipliziert mit ihren Wahrscheinlichkeiten (die alle gleich null sind, ausgenommen für jenes Ergebnis, dessen Wahrscheinlichkeit eins ist) am höchsten ist. Damit ist es eigentlich unmöglich, den Fall zu beschreiben, in dem man die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, eine sehr kleine Summe zu verlieren, akzeptiert, um die sehr hohe Wahrscheinlichkeit, eine sehr hohe Summe zu gewinnen, zu wahren. D.h., die Forderung ist nicht ohne Pointe. In diesem Zusammenhang sollte klar geworden sein, dass Wahrscheinlichkeit die „subjektive“ Art von etwas ist, von dem zu behaupten, es sei unbekannt, bedeutungslos ist. Nur die „objektive“, häufigkeitsbezogene Wahrscheinlichkeit lässt es zu, „bekannt“ oder „unbekannt“ genannt zu werden, und das auch nur leidlich! Es gibt noch eine andere Form, Menschen als jene hinzustellen, die „Risiken ablehnen“: wenn wir annehmen, dass sie nur da sitzen und weinen.
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sie nicht implizit gegen das Axiom verstoßen, demzufolge die Chancen, alle Lose zu ziehen, in der Summe 1 betragen. Dass rationale Menschen dann, wenn sie sicher sind, bei jedweder Einkommensverteilung das schlechteste Los zu ziehen, jene Verteilung vorziehen, die für den „schlechtesten Fall das Beste“ wäre (Maximin), ist leicht anzunehmen. In einem Spiel, in dem sie über die Verteilung entscheiden könnten und ihr Gegenspieler (ihr „Feind“) ihnen ihren Platz zuweisen könnte, und zwar ganz bestimmt den schlechtesten Platz, wäre dies immer die beste Lösung.131 Rawls behauptet nun beides: dass die Menschen im Urzustand denken würden, ihr Feind würde ihnen ihr Schicksal zuweisen (S. 152), und dass sie nicht von falschen Prämissen ausgehen sollten (S. 153). Wahrscheinlich soll die Fiktion eines Feindes nahelegen, und ohne das Kind beim Namen zu nennen, dass die Menschen so handelten, als ob sie dem schlechtesten Los die Wahrscheinlichkeit 1 unterstellten. Maximin ist offensichtlich auf die unterstellte Gewissheit zugeschnitten, dass unser Gegenspieler das tut, was ihm am meisten nutzt und uns am meisten schadet. Dies nahezulegen, ohne es zu sagen, lässt die Idee allerdings nicht plausibel erscheinen, zumal für eine Situation, in der es keinen Feind gibt, und auch keinen Gegenspieler oder einen Gegenwillen; kurzum, wo es kein Spiel gibt, sondern nur die unnötig eingeführte Sprache der Spieltheorie. Zweifellos weiß jeder im Urzustand, dass eine ungleiche Losverteilung naturgemäß einige Lose enthalten muss, die besser als das schlechteste sind und dass einige Leute sie ziehen werden. Wie kann er sicher sein, dass er nicht einer von ihnen ist? Er hat „keinen objektiven Grund“ noch sonst einen Grund anzunehmen, keine Chance zu haben, eine dieser Personen zu sein. Wenn aber die besseren Lose keine Nullwahrscheinlichkeit haben, dann kann das schlechteste Los nicht die Wahrscheinlichkeit 1 haben. Ansonsten würden die Wahrscheinlichkeiten keine Summe bilden. D.h., was immer rationale Menschen im Urzustand auch wählen mögen, sie entscheiden sich nicht für Maximin, es sei denn zufällig (im Zuge von „Randomisierung“ in einer gemischten Strategie?), damit die Wahrscheinlichkeit einer einheitlichen Entscheidung so gut wie null ist und die Theorie auf Grund läuft.132 131 Hier liegen die Dinge so wie beim „Konstantsummenspiel“, bei dem ein Kuchen unter n Spielern aufgeteilt wird, wobei der n-te Spieler das Teilen festlegt und die n-1 Spieler die Stücke wählen. Der n-te Spieler wird sicher sein, dass für ihn das kleinste Stück übrigbleibt. Er wird versuchen, es so groß wie möglich zu machen, z. B. durch Teilen des Kuchens in gleiche Stücke. Das ist seine dominante Strategie. Wenn die n-1 Spieler mit verbundenen Augen spielen, dann hat n keine dominante Strategie. 132 Wenn die Menschen ausschließlich wissen, dass jede Losziehung irgendeine Wahrscheinlichkeit ungleich null hat und alle Lose zusammen die Wahrscheinlichkeit 1 haben (d. h., ein und nur ein Los kann sicher gezogen werden), und wenn alle weiteren logischen Schlussfolgerungen unberücksichtigt bleiben (eine Denkhaltung, die Rawls von seinen Parteien erwartet), dann ist schwer zu sehen, was bestimmen sollte, wie sie entscheiden; oder gar, dass sie einhellig entscheiden sollten. Plausibel wäre wohl die Hypothese, dass sie sich wie Partikel in der Quantenmechanik verhalten und nie (in absehbarer Zukunft) Einvernehmen über einen Gesellschaftsvertrag erzielen.
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Sie geradewegs wieder flottmachen zu wollen hieße, die Rationalität aufzugeben. Dies ist ohnehin verlockend, weil die Menschen in Wirklichkeit nicht dazu verpflichtet sind, rational zu sein. Sie sind durchaus imstande, sich in erstaunliche logische Selbstwidersprüche zu verwickeln. Sie können einem gegebenem Axiom sowohl zustimmen als auch widersprechen (wie z. B. dem, dass dann, wenn ein Ergebnis gewiss ist, die anderen Ergebnisse unmöglich sein müssen). Erst einmal von der strengen und vielleicht unrealistischen Disziplin der Rationalität befreit, kann man ihnen jedes Verhalten unterstellen, dass der Wissenschaftler sich ausdenken mag. (G.L.S. Shackle z. B. setzte in seinen zahlreichen Schriften zur Theorie risikobehafteter Entscheidungen an die Stelle der nüchternen Wahrscheinlichkeits- und Nützlichkeitsberechnungen ganz poetische und bezaubernde Vorschläge hinsichtlich der menschlichen Natur. Die „Liquiditätsprämie“ der Keynesianischen Ökonomie ist im Grunde auch eine Zuflucht in die vielsagende Poesie. Viele Theorien zum Produzentenverhalten gründen auf Annahmen der Nicht-Rationalität – bekannte Beispiele sind die Vollkostenrechnung oder „Wachstums“ziele und Marktanteilsziele statt Profitmaximierung.) Sobald das Verhalten nicht mehr länger einer zentralen Maximierungsannahme entsprechen muss, „geht alles“. Genau das ist die Schwäche solcher Ansätze, obgleich dies nichts über deren Suggestivkraft und Lehrbarkeit sagt. Man braucht nicht viel dichterische Phantasie, um der Idee das Wort zu reden, es sei eine sinnvolle Sache, für eine Gesellschaft zu stimmen, in der Dir kein großer Schaden zugefügt wird, selbst dann nicht, wenn Dein Feind Deinen Platz festlegt. Auf diese Art setzt man, mit einem egalitären Vogel als konservativen, klugen und bescheidenen Ratgeber in der Hinterhand, einen non-rationalen, gefühlsbetonten Grund für Maximin in die Welt. Im Rahmen seines Überlegungsgleichgewichts staffiert Rawls diesen Fall mit zwei verwandten Argumenten aus, womöglich ohne zu ahnen, dass er sich damit auf non-rationales Terrain begibt. Beide Argumente appellieren an unsere Intuition und sind für Rawls offenbar entscheidend. Eines betrifft die Verpflichtungsfolgen (strains of commitments): Menschen lehnen es ab, „sich auf Argumente einzulassen, die für sie unannehmbare Konsequenzen haben“, vor allem dann, wenn sie keine zweite Chance haben (S. 176). Das Argument ist verwirrend. Wenn wir „um Ernst“ spielen, dann können wir natürlich verlieren, was wir setzen. Wir bekommen es nicht zurück, um wider damit zu spielen. In diesem Sinne erhalten wir nie eine zweite Chance, gleichwohl uns neues Spiel neues Glück bringen mag. Die daraus hervorgehenden Chancen mögen schlechtere sein, weil die Verluste im vorangegangenen Spiel uns geschwächt haben. Über diese kumulative Eigenschaft verWenn man ihnen zugesteht, eine weniger ausgereifte Wahrscheinlichkeitsvorstellung haben zu können, wenn sie z. B. das Prinzip des unzureichenden Grundes anwenden dürfen, und wenn man mangels Hinweis auf das Gegenteil annimmt, dass sie ein Los genauso wahrscheinlich ziehen wie ein anderes, dann hätten sie bessere Aussichten darauf, Einvernehmen über eine Verteilung zu erzielen. Wahrscheinlich wäre diese inegalitärer als jene, die unter der Maximin-Strategie herrscht.
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fügen sowohl Pokerspiel wie auch Geschäftsleben, wo nichts so sehr zum Scheitern führt wie der Misserfolg und der dicksten Geldbörse die dicksten Chancen winken. Für reine Glücksspiele und Geschicklichkeitsspiele gilt das nicht. Zugegeben, wenn wir bei den Grundgütern ein schlechtes Los ziehen, dann werden, gemäß der Annahmen der Gerechtigkeitstheorie, weder wir noch unsere Nachfahren Zeit unseres Lebens die Chance haben, ein neues Los zu ziehen. Die soziale Mobilität bleibt außen vor. Gleichwohl gibt es noch eine Vielzahl an Spielen, die vor uns liegen und bei denen wir Glück oder Pech haben können. Einige von ihnen, wie z. B. Wahl des Ehegatten, Kinderkriegen oder Berufswechsel, dürften für den Erfolg oder Misserfolg des uns vom Schicksal zugedachten „Lebensplans“ im Sinne eines „Grundgüter-Stipendiums“ entscheidend sein. Natürlich dürfte ein niedriges Stipendium unsere Aussichten in diesen Spielen beeinflussen.133 Das Spekulieren auf ein Lebensstipendium ist daher bestimmt eines der wichtigsten Glücksspiele, die es gibt. Dieser Umstand spricht zu recht dafür, und nicht dagegen, es gemäß der Regeln der rationalen Entscheidungsfindung zu spielen. Wenn wir überhaupt wissen, was wir tun, dann muss der Zeitraum (des Lebens, der Nachkommen), für den das einst gezogene Grundgüter-Los anhalten soll, natürlich für die Bewertung eines jeden Loses (vom schlechtesten bis zum besten) einbezogen werden. Es ist genau der Zeitraum des Lebens, der erklärt, warum es unser vollständiger Lebensplan ist, der die relative Intensität unseres „Bedürfnisses“ nach unterschiedlich großen Anteilen an Grundgütern bestimmt. Wenn nun ein Leben als einfältiger und fauler Bettler als ein solches Los betrachtet werden soll und die Ziehung dieses Loses bedeuten soll, das Bettlerleben bis ans Lebensende weiterführen zu müssen, dann sind wir natürlich gut beraten, das entsprechende Risiko sorgfältig abzuwägen. Die Aussicht lässt uns aufschrecken, und dieser Schreck muss von vornherein in unseren Nutzenkalkulationen hinsichtlich der Lose, unter denen sich eben auch ein solch abstoßendes Los befindet, auftauchen. Denselben Schrecken erneut widerspiegeln zu müssen, hieße wohl, die Dinge zweimal in Rechnung zu stellen und ein zweites Mal auf den Namen „strains of commitments“ zu taufen.134
133 Anders als es beim Poker oder im Geschäftsleben der Fall ist, wo vorherige Verluste die aktuellen Chancen meistens verschlechtern, dürften bei anderen Risikoentscheidungen derartige adverse Effekte nicht auftreten. Ein niedriges Lebensstipendium dürfte wohl kaum die Aussichten darauf verschlechtern, die richtige Person zu heiraten und gute Kinder zu bekommen. Die Frage, ob schweizerische Familien glücklicher sind als russische, ist albern, obgleich eine Person, die damit einverstanden ist, ihre Chancen durch einen Platz in der russischen Gesellschaft zu wahren, keine zweite Chance erhält, ein Los für einen Platz in der schweizerischen Gesellschaft zu ziehen. 134 Dass der kluge Mensch das Eingehen von Risiken für schwierig halte, vor allem dann, wenn es den Verlust des Einsatzes bedeuten könne, ähnelt der berühmten und profunden Einsicht von Sam Goldwyn, dass Prognosen schwierig seien, vor allem wenn sie die Zukunft beträfen.
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Gewiss nehmen wir das Risiko des Todes ernst. Welche Aussichten auch immer sonst mit dem Tod verbunden sein mögen, in unserem Kulturkreis gilt, dass mit dem Tod eine zweite Chance auf ein irdisches Leben dahingeht. Es wäre aber offensichtlich falsch zu behaupten, dass die „Verpflichtungsfolgen“ bezüglich eines inakzeptablen Ergebnisses uns das Todesrisiko ablehnen ließen. Das friedliche Leben, das wir tagtäglich führen, ist Beweis genug dafür, dass wir es nicht ablehnen. Warum sollte das Risiko, das Leben eines einfältigen und trägen Bettlers zu führen, in seiner Natur anders sein? Es hängt ganz allein von unserer Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten ab, die für das Risiko und die Attraktivität der möglichen Gewinne typisch sind, die wir erzielen können, wenn wir das Risiko eingehen. Die „strains of commitments“, falls es sie denn gibt, sind ein legitimes Bedenken, das in diese Einschätzung einfließen mag. Als eigenständiges und übergeordnetes Bedenken sind sie bestenfalls Poesie. Zu guter Letzt ist es nicht nachvollziehbar, wenn einem gesagt wird, unser guter Glaube hielte uns davon ab, die „Verpflichtungsfolgen“ zu akzeptieren, weil wir dann, wenn wir ein gegebenes Risiko tragen und dabei verlieren würden (z. B. wenn wir für eine sehr ungleiche Einkommensverteilung votierten und uns am untersten Ende wiederfänden), wir nicht in der Lage oder willens wären, dafür zu bezahlen (d. h. den hintersten Platz zu akzeptieren). Wenn jemand mit mir um eine Million Dollar wettet, die ich (anders als ein millionenschwerer Glücksspieler) nicht habe, dann agiere ich hinterhältig und er leichtsinnig. Aber Rawls’ „Urzustand“ sieht kein Kreditglücksspiel vor. Wenn ich mich als eine begriffsstutzige Person auf der Schattenseite jener Gesellschaft erweise, die ich gewählt habe und die Leute meines Schlages schlecht behandelt, dann gibt es keine erkennbare Möglichkeit, wie ich mich dem „entziehen“ könnte. Wie sollte ich mich meinem Schicksal verweigern? Wie könnte ich, sollte ich eine begriffsstutzige Person sein, mich weigern, die mir zufallende Rolle auf der Schattenseite der Gesellschaft zu spielen? Wie könnte ich von den privilegierteren Mitgliedern meiner inegalitären Gesellschaft ein befriedigendes Minimumstipendium und ein agiles Gehirn erzwingen? Angesichts der Tatsache, dass ich es selbst dann nicht könnte, wenn ich es wollte (und als begriffsstutziger Mensch würde ich es noch nicht einmal wollen), kann die Angst davor, meiner Verpflichtung nicht nachkommen zu können, mich nicht bremsen. Gut- oder Böswilligkeit, Willensschwäche oder die Scham darüber, den Wetteinsatz nicht einlösen zu können, spielen hier keine Rolle. Ein davon losgelöstes und formloses Argument besagt, dass die Menschen Maximin wählen würden, d. h. eine gemäßigte egalitäre Verteilung, welche die Schlechtestgestellten bevorzugt, damit ihre Entscheidung „ihren Nachkommen verantwortungsvoll erscheine“ (S. 169, Hervorhebung von mir). Nun ist es allerdings eine Sache, verantwortungsvoll zu sein, und eine andere, verantwortungsvoll zu erscheinen, von anderen so gesehen zu werden (gleichwohl beides sich überlappen mag). Wenn ich das tun will, was m.E. das Beste für meine Nachkommen ist, und mich nicht darum schere, wie meine Entscheidung von ihnen gesehen wird, dann handle ich so, als wäre ich ein Prinzipal. Wenn ich beim Versuch, für sie Gutes zu tun, so tue, als ginge es um mich, dann werde ich dabei wohl berück-
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sichtigen, dass ihr Nutzen (sagen wir der Zeitraum, in dem sie Grundgüter „benötigen“) von meinem verschieden ist. Meine rationale Entscheidung muss dennoch der Maximierung des erwarteten Nutzens entsprechen, mit dem Unterschied, dass es meine Annahme ihres besten Nutzens ist, den ich zu maximieren trachte. Wenn Maximin für mich nicht rational ist, dann wird es das für meine Nachkommen auch nicht werden. Wenn mir aber daran gelegen ist, wie meine Entscheidung gesehen wird, dann handle ich, wie es ein rationaler Angestellter oder Profiratgeber für seinen Prinzipal täte. Dieser würde neben dem Interesse des Prinzipals auch sein eigenes Interesse bedenken. Man kann sich schwerlich Bedingungen ausmalen, unter denen die beiden mit Sicherheit zusammenfielen. Wenn er z. B. für seinen Prinzipal einen Gewinn herausschlägt, dann muss seine eigene Entlohnung, Vergütung, Jahresprämie oder Jobsicherheit nicht unbedingt proportional mitwachsen. Wenn er einen Verlust verursacht, kann sein eigener Verlust des Arbeitsplatzes oder der Reputation als verantwortlicher Schatzmeister, Finanzverwalter oder Manager weitaus größer sein. Weil seine Einschätzung des ex ante-Risikos, das mit dem ex post-Gewinn einhergeht, nicht mit der des Prinzipals übereinstimmen muss, kann man noch nicht einmal sagen, ob er eigennützig handelt oder beim Versuch, die Gewinne des Prinzipals zu mehren, so zu handeln versucht wie der Prinzipal selbst (z. B. indem er die selben Risiken eingeht).135 Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich, dass er den Nutzen seines Prinzipals maximiert, wenn er seinen eigenen erwarteten Nutzen maximiert; und umgekehrt. Die beiden Maxima werden dazu tendieren, zu divergieren; die Entscheidungen des Angestellten stehen unter dem Vorbehalt, mögliche Blamagen zu vermeiden und mit den üblichen Weisheiten konform zu gehen. Der Prinzipal, für den er arbeitet, kann nicht wissen, dass das Verhalten des Angestellten nicht seinen Nutzen maximiert, sondern nur den des Angestellten. Wenn man nur oft genug beteuert, dass Maximin, also der Vogel in der Hand und ein garantiertes Linsengericht im Austausch für ein ungewisses Geburtsrecht, die verantwortungsvolle Sache sei, die man tun sollte, dann wird sich auch der rationale Angestellte wohl für sie zu entscheiden, sofern seinem Maximanden am besten dadurch gedient ist, dass er seinem Prinzipal verantwortungsvoll erscheint; so wie Rawls’ Vertragsparteien ihren Nachkommen gegenüber verantwortungsvoll erscheinen wollen. An dieser Stelle wird nicht ganz ohne Erfolg aus der Rationalität ein moderater Egalitarismus abgeleitet. Für seinen Erfolg braucht Rawls allerdings Eltern, die ihren Kindern die Zukunft bereiten, indem sie nicht darauf schauen, was deren Interessen am besten dient, sondern darauf, was sie in den 135 Jeder, der schon einmal seine Investitionen von der Treuhandabteilung seiner Bank verwalten ließ, dürfte mit dem Phänomen vertraut sein, dass „weises Management nicht gutes Management“ sein muss. Und jeder, der einmal beobachtet hat, wie es auf Finanzmärkten zugeht, die von Institutionen statt von Prinzipalen beherrscht werden, weiß, was es bedeutet, wenn bezahlte Portfoliomanager „keine Helden sein wollen“ und „ihren Kopf nicht zu weit rausstecken wollen“ und nur dann kaufen, wenn auch jeder andere kauft, und nur dann verkaufen, wenn auch jeder andere es tut.
Die Liebe zur Symmetrie
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Augen ihrer Kinder wahrscheinlich klug aussehen lässt. Manche Eltern verhalten sich zweifelsohne so, und andere dürften sogar dabei helfen, den Wohlfahrtsstaat einzurichten, nur damit ihre Kinder ihre Weitsicht loben mögen.136 Im Großen und Ganzen scheint dieses Argument aber nicht so stark zu sein, dass es die Bedingungen eines einstimmigen Gesellschaftsvertrages erklären und als Grundlage für eine umfassende Gerechtigkeitstheorie dienen könnte.
Die Liebe zur Symmetrie Gleichheit um ihrer selbst willen zu wollen, ist kein Grund dafür, eine Gleichheit einer anderen vorzuziehen.
Jeder-einen-Lohn und Jeder-eine-Stimme sind keine Regeln, die sich selbst erklären. Jeder muss letzte Werte mögen, wie z. B. Freiheit, Nützlichkeit oder Gerechtigkeit. Aber nicht jeder muss Gleichheit mögen. Wenn der demokratische Staat Konsens braucht und etwas davon erwirkt, indem er ein bestimmtes Maß an Gleichheit herstellt (womit der Typus des politischen Prozesses eigentlich nur eine grobe Charakterisierung erfährt, die allerdings für meine gegenwärtigen Zwecke ausreichen dürfte), dann ist es die Aufgabe der liberalen Ideologie, uns den Glauben einzuschärfen, dies sei eine gute Sache. Der Königsweg zur Harmonie zwischen Staatsinteresse und ideologischer Verordnung führt über die Etablierung einer deduktiven Ableitung, einer Kausalverbindung oder einer gegenseitigen Implikation von Zielen, die niemand in Frage stellt, wie z. B. Freiheit, Nützlichkeit und Gerechtigkeit einerseits und Gleichheit andererseits. Wenn Letztere Erstere hervorbringt oder für deren Erwirkung unverzichtbar ist, dann wird daraus schlicht eine Sache der Widerspruchsfreiheit, des reinen gesunden Menschenverstands, Gleichheit künftig genauso wenig in Frage zu stellen wie, sagen wir, Gerechtigkeit oder Wohlergehen. Wir verdanken es dem Hörensagen, dass es folgende solcher deduktiven Ableitungen gibt: dass die Freiheit ein gleiches und ausreichendes Maß an materiellen Mitteln voraussetzt; dass soziale Wohlfahrt maximiert wird, indem man von reich zu arm umverteilt; oder dass rationales Selbstinteresse die Menschen dazu bringt, einhellig den Staat damit zu beauftragen, nach den am wenigsten Begünstigten zu 136 Falls die Eltern denken, dass die Kinder mit einem geringeren Maß an Talent, Vorsorge und Widerstandsfähigkeit aufwachsen werden, dann erwägen sie womöglich, dass ein Wohlfahrtsstaat für sie eigentlich besser wäre als ein inegalitärer Staat. In diesem Fall dürften die Eltern den Wohlfahrtsstaat direkt einrichten wollen; entweder, weil sie ihren eigenen Kindern die Erkenntnis, was zu ihrem eigenen Besten ist, nicht zutrauen oder weil die Wahl des Staates für alle Nachwelt gerade jetzt zu fällen ist. Wie auch immer, Rawls verfolgt diese Line paternalistischen Argumentierens nicht.
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sehen. Bei genauerer Überprüfung erweisen sich die ausgefeilten Argumente, aus denen das Hörensagen gewonnen wird, als missglückt. Wie für Hörensagen in der Regel üblich, sind sie nicht ohne Einfluss, können aber weder die Zweifel zerstreuen, noch die Debatten zum Verstummen bringen. Weit davon entfernt, ihre allgemeine Gültigkeit zu begründen, der sich Menschen guten Willens nicht anders als anschließen können, lässt sie die Ideologie anfechtbar zurück, so wie eine Religion anfechtbar ist, die in unangebrachter Weise die Absicht verfolgt, für ihre Inhalte die Gültigkeit einer logischen Deduktion oder eines wissenschaftlichen Beweises zu reklamieren. Weniger ambitiös und gegen Anfeindungen gefeit ist es, wenn man postuliert, dass die Menschen die Gleichheit um ihrer selbst willen mögen (dann muss man ihre Wünschbarkeit nicht von der Wünschenswürdigkeit einer anderen Sache ableiten) oder es zumindest würden, wenn sie deren wahren Charakter erkennen würden. Die Menschen lieben Symmetrie, ihre Sinne rechnen mit ihr, sie setzen sie mit Ordnung und Vernunft gleich. Gleichheit ist für ein Regelsystem das, was die Symmetrie für die Gestalt ist. Das Wesen der Gleichheit ist Symmetrie. Sie ist die Grundannahme, d. h. das, was die Menschen visuell und konzeptionell vorzufinden erwarten. Im Falle von Asymmetrie und Ungleichheit schauen sie nach einem ausreichenden Grund und sind verstört darüber, wenn es keinen gibt. Diese Art, so zu denken, sagt den Menschen, es sei Teil ihrer Natur, derlei Regeln wie Jeder eine Stimme, Jeder nach seinen Bedürfnissen und Jedem die Scholle, die er beackert zuzustimmen. In jeder dieser Regeln gibt es eine klare Symmetrie, die verloren wäre, wenn einige zwei Stimmen hätte und andere gar keine, wenn einige (aber nur einige) mehr bekämen, als sie brauchen; wenn ein Teil des Landes dem Bauern und ein anderes dem untätigen Grundbesitzer gehörte. Wenn aber die Wahl nicht zwischen Symmetrie und Asymmetrie besteht, sondern zwischen einer Symmetrie und einer anderen Symmetrie, welche Bevorzugung liegt dann in der menschlichen Natur? Nehmen wir die Gestalt des menschlichen Aussehens, die zwei Arme und zwei Beine unterbringen muss. Die Arme könne symmetrisch an den Seiten der Wirbelsäule angebracht werden, oder symmetrisch über und unter der Hüfte. Gleiches gilt für die Beine. Welche Symmetrie ist die richtige: die vertikale oder die horizontale? Eine menschliche Gestalt mit zwei Armen an der rechten Schulter und Hüfte und zwei Beinen an der linken Schulter und Hüfte würde uns sicher abstoßend vorkommen; nicht, weil sie asymmetrisch wäre (das wäre sie nicht), sondern weil ihre Symmetrie eine andere verletzen würde, an die sich unser Auge gewöhnt hat. Ähnlich verhält es sich mit der Bevorzugung einer Ordnung vor einer anderen, einer Regel vor einer anderen oder einer Gleichheit vor einer anderen: sie entspringt nicht irgendwie offensichtlich der menschlichen Natur. Der Bevorzugung der Ordnung vor der Unordnung hingegen mag man dies aus guten Gründen unterstellen. Um die Bevorzugung einer bestimmten Ordnung, Symmetrie, Regel oder Gleichheit vor deren Alternativen erklären zu können, braucht man entweder eine Gewohnheit bzw. einen Brauch oder die Kraft eines guten Arguments. Im ersten
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Fall geht die politische Theorie in der Geschichte auf (ein Schicksal, das wohlverdient sein mag). Im letzten Fall sind wir wieder an unseren Ausgangspunkt zurückgekehrt und müssen Ableitungsfälle für eine freiheitsbewahrende, nutzenmaximierende oder gerechtigkeitsspendende Gleichheit herstellen, anstatt die Behauptung zu beweisen, dass Gleichheit um ihrer selbst willen intrinsisch wünschenswert ist. Es lohnt sich festzustellen, dass eine Gleichheit eine andere Gleichheit verdrängt und dass man folglich über die resultierende Ungleichheit immer sagen kann, man könne sie mit einer Gleichheit begründen, ja sogar rechtfertigen. (Die Eignung einer solchen Rechtfertigung mag man zwar erst begründen müssen, aber von der Begründung des Vorrangs der Gleichheit vor der Ungleichheit ist sie sehr verschieden.) Nehmen wir z. B. eine der Hauptvorstellungen des Egalitarismus, die symmetrischen und sonstigen Verhältnisse, die zwischen Arbeiter, Arbeit, Lohn und Bedürfnis herrschen sollen. Eines der möglichen Verhältnisse ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit; eine Gleichheit, die man in proportionaler Weise zur Forderung ausweiten kann, dass mehr oder bessere Arbeit mehr Lohn verdiene.137 Wird die Regel für gut befunden, dann gibt es genug Gründe, ungleich zu entlohnen. Eine andere Regel, die sich anbietet, Symmetrie zu wahren, würde nicht auf die Symmetrie zwischen Arbeit und Entlohnung abstellen, sondern auf die zwischen der Arbeit und der Befriedigung der Arbeiterbedürfnisse. Je mehr Kinder ein Arbeiter hat oder je weiter er von zuhause weg arbeitet, desto mehr sollte er für die gleiche Arbeit erhalten. Diese Regel bedeutet, dass für gleiche Arbeit unterschiedlich entlohnt wird. Man kann sich immer zusätzliche „Dimensionen“ ausdenken. In der Folge impliziert die Symmetrie in einer Dimension die Asymmetrie in einigen anderen oder in gar in allen anderen Dimensionen, z. B. im Hinblick darauf, wie wichtig oder verantwortungsvoll die erledigte Arbeit ist. Sieht man einmal von einigen seltenen Fällen ab, in denen es Überschneidungen gibt, dann ersetzt in der Regel gleicher Lohn für gleiche Verantwortung die Gleichheit zwischen zwei beliebigen der verbleibenden typischen Dimensionen, die es in der Beziehung zwischen Arbeiter, Arbeit, Lohn und Bedürfnis gibt. Laut Marx ist dieser Logik unter Einschluss der „ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft“ zuzustimmen. (Zur Freude der unverbesserlichen Gleichmacher endet ihre Gültigkeit jedoch mit der 2. Phase). „Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; … Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab 137 Auch als „aristotelische Gleichheit“ bekannt. Wenn man die Ausweitung ablehnt, dann wird die Regel zu „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und auch für ungleiche Arbeit“, was der eigentlichen Intention des Vorschlagenden zu widersprechen scheint. Wenn er Proportionalität nicht gewollt hätte, dann hätte er „Jeder denselben Lohn“ vorgeschlagen, und zwar ungeachtet der Quantität und Qualität der Arbeit.
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bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein. Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, … Ich bin … auf den ,unverkürzten Arbeitsertrag‘ einerseits, ,das gleiche Recht‘, „die gerechte Verteilung“ andrerseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man … Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, … ideologische Rechts- und andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen … Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen.“138
Erwartungsgemäß klarer und genauer zur Sache, verrät uns Engels: „Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige … Vorstellung, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten …“139
Nehmen wir einmal zwei „Vergleichsdimensionen“, z. B. Lohn einerseits und die Rendite an Erziehungsinvestitionen andererseits. Wenn jeder Job gleich bezahlt wird, dann muss die Rendite für die Kosten der Jobausbildung ungleich sein (vorausgesetzt, was in der Regel der Fall ist, dass die Ausbildungsanforderungen der Berufe unterschiedlich ausfallen.) Das Umgekehrte gilt auch. Diese beiden Gleichheiten schließen einander gegenseitig aus. Auf die Frage, welche der beiden Alternativen egalitärer sei, würden die meisten, wenn nicht alle, wohl Jedem der gleiche Lohn antworten, statt Jeder Berufsausbildung der gleiche Lohn. Es dürfte eine Vielzahl an guten Gründen dafür geben, der einen oder der anderen Regel den Vorrang einzuräumen; aber man kann wohl unmöglich behaupten, dass die Liebe zur Symmetrie, Ordnung und Vernunft die Waage für die eine oder die andere Regel ausschlagen ließe. Die Symmetrie zwischen Ausbildung und Bezahlung (der Neurochirurg bekommt weitaus mehr als der Autowäscher) und die Symmetrie zwischen Mensch und Bezahlung (der Neurochirurg und der Autowäscher werden beide als Mensch bezahlt) kann man nicht nach ihrer größeren oder kleinen Symmetrie, Ordnung oder Vernünftigkeit ordnen. 138 139
Marx (19734), S. 20 ff. (Hervorhebungen im Text). Engels (1973), S. 7.
Die Liebe zur Symmetrie
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Wenn eine Gleichheit, Symmetrie oder Proportionalität nur auf Kosten einer anderen erhältlich ist, dann ist die Gleichheit als Kriterium dafür, einer der Gleichheiten den Vorrang vor einer anderen zu geben, völlig ungeeignet. Die Liebe zur Gleichheit eignet sich als Richtschnur für die Wahl aus zwei alternativen Gleichheiten genauso wenig wie die Liebe zum Kind sich dazu eignet, ein ganz bestimmtes Kind zu adoptieren. Der Ruf nach Vernünftigkeit erfordert lediglich irgendeine Ordnung, aber nicht eine bestimmte Ordnung und den Ausschluss einer anderen. Sir Isaiah Berlin hat dies 1956 in seinem Aufsatz Equality mit großer Klarheit ausgeführt: „Solange es keinen hinreichenden Grund für anderes Handeln gibt, ist es rational, jedes Mitglied einer gegebenen Klasse so zu behandeln … wie jedes andere Mitglied auch.“ Weil aber „jedes Wesen Mitglied mehrerer Klassen ist – im Prinzip Mitglied einer theoretisch unendlichen Menge an Klassen – kann man problemlos jede Verhaltensweise unter die allgemeine Regel, die gleiche Behandlung vorschreibt, fassen, weil die ungleiche Behandlung diverser Mitglieder aus Klasse A immer auch als Beispiel für eine Gleichbehandlung herhalten kann, wenn man sie als Mitglieder einer anderen Klasse betrachtet.“140 Die Symmetrie verlangt, dass alle Arbeiter denselben Lohn erhalten; aber unter allen „Arbeitern“ gibt es „gelernte Arbeiter“ und „ungelernte Arbeiter“; und unter allen „gelernten Arbeitern“ gibt es harte Arbeiter und Faulenzer, Menschen, die lange im Beruf sind, und Anfänger, und so weiter. In der Kategorie der „Arbeiter“ findet der vernünftige Mensch genug Heterogenität, um der Auffassung zu sein, dass man die ursprüngliche Regel von der Gleichheit der Arbeiter oder Menschen durch eine andere Gleichheitsregel ersetzen sollte, die für gelernte Arbeiter gilt, die eine gleich lange Berufserfahrung haben, im gleichen Gewerk arbeiten usw., wobei jede Regel Gleichheit in den Klassen herstellt, auf die sie sich bezieht. Natürlich kann man jede Klasse in eine beliebige Anzahl von Unterklassen aufteilen. Der eigentliche Grund, warum man die Klasse der „Arbeiter“ aufteilt und eine Gleichheit durch viele Gleichheiten ersetzt, ist, dass die Klasse wohl zu heterogen ist und eine nuanciertere Klassifikation den Meriten besser entspricht und vernünftigere Gleichheiten erzielt. Aber das ist nur unsere Sichtweise. Andere vernünftige Menschen mögen das andersherum sehen. Beide Gruppen würden Berlins „Ordnungsliebe“ unter Beweis stellen; jenen Sinn für Symmetrie, der die Grundlage einer jeden Gleichheitsbehauptung bildet. Wir sagen „schwarz“ und die anderen „rot“, und keine dritte Partei, die als Richter hinzugezogen wird, kann uns ein gegenseitig anerkanntes Kriterium unter die Nase halten, das bei der Entscheidung darüber helfen könnte, welche der von uns bevorzugten Gleichheiten vernünftiger oder symmetrischer sei. Weil man immer einen Grund dafür finden kann, eine Ungleichheit zuzulassen, schrumpft, wie Berlin uns lehrt, das Vernunftargument für Gleichheit zu einer „trivialen Tautologie“, es sei denn, es käme in Begleitung jenes Grundes, den man als hinreichend anerkennen müsste.141 Dies ist typisch für seine Art, höflich zu sagen, 140 141
Berlin (1978), S. 82 f. Berlin (1978), S. 82 f.
3. Kapitel: Demokratische Werte
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man müsse das Kaninchen vorab in den Zylinder stecken. Welche Gründe jemand für hinreichend hält, um eine Gleichheit zugunsten einer anderen zu übertrumpfen, hängt offenkundig von seinen Werturteilen ab. Seine Gerechtigkeitsvorstellungen sind ein Teil derselben; schließlich wissen wir ja nun, dass die präferenzarmen und wertfreien Grundsätze der Vernunft, Ordnung, Symmetrie usw. bei ihrer Anwendung immer mehr als eine Gleichheitsregel erzielen lassen, die zu anderen im Widerspruch liegt. Es gibt Regeln, wie z. B. das Recht des Einzelnen auf Eigentum, die im Hinblick auf eine Variable (nämlich Eigentum) schlicht anti-egalitär sind, und im Hinblick auf eine andere (nämlich Recht) egalitär. Die meisten Egalitaristen würden daher darauf bestehen, dass die Gleichheit vor dem Gesetz gewahrt werden müsse, aber das Recht auf Eigentum zu ändern sei. Das bedeutet, dass es bei der Anwendung des Gesetzes keine Diskriminierung zwischen reich und arm geben darf. Und damit diese Regel nicht mit der Regel, dass alle Menschen gleich viel Eigentum haben sollen, aneinander gerät, müssen die Reichen eliminiert werden, ohne dass man sie diskriminiert. Weil dies einen langen Tag voller sophistischer Pirouetten in jedwede Richtung verspricht, ist es wohl klar, dass man aus nicht näher genannten Gründen einer Gleichheit den Vorzug vor einer anderen einräumt. Als Argument, das ebenfalls zu egalitären Ergebnissen führt, wurde auch ein anderer Symmetrieaspekt vorgeschlagen, nämlich jener, der mit dem Verhältnis zwischen einer Aktivität und deren inhärentem Zweck oder „inneren Ziel“ zu tun hat.142 Wenn die Reichen sich eine medizinische Versorgung leisten und die Armen dies auch wollen, aber nicht können, dann sind Sinn und Zweck der Medizin, die im Heilen bestehen (und nicht im Heilen der Reichen) verfehlt. Für die Medizin ist es irrational, reiche Kranke zu heilen, und arme Kranke nicht. Deren medizinischen Bedürfnisse sind dieselben, und die Symmetrie fordert, dass sie die gleiche Behandlung erfahren. Um die Irrationalität wieder in Ordnung zu bringen, muss man Vorkehrungen treffen, die Reiche und Arme im Hinblick auf den Zugang zur besten medizinischen Versorgung gleichstellen. Wenn nur der Zugang zur medizinischen Versorgung angeglichen ist, dann sorgen die verbleibenden Reichtümer der Reichen für die Sinnverfehlung irgendeiner anderen zentralen Aktivität. Daraus entsteht die Notwendigkeit, im Hinblick auf diese Aktivität für Angleichung zu sorgen usw., bis keine Reichen und Armen mehr übrig bleiben. Man könnte allerdings darauf verfallen, dass der Reichtum der Reichen und die Armut der Armen dem „inneren Ziel“ einer anderen zentralen Aktivität entsprechen, nämlich dem lebhaften ökonomischen Wettbewerb um materielle Reichtümer. Die Angleichung der Prämien von Gewinnern und Verlierern würde deren Zweck zerstören und unvernünftig sein usw. Nun haben wir eine Rationalität, die mindestens eine Irrationalität zur Folge hat. Und obgleich die meisten Egalitaristen kein Problem damit hätten, dieselbe auszumisten, könnte sich ihre Entscheidung nicht auf das Kriterium der Symmetrie oder Vernunft stützen. Das Argu142
Williams (1962).
Die Liebe zur Symmetrie
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ment von der „Liebe zur Symmetrie“ und dessen Fortentwicklung, die zeigen, dass die Gleichheit um ihrer selbst willen bevorzugt wird, stehen und fallen mit dem Umstand, dass die Alternative zur Gleichheit die Ungleichheit ist. Gleichwohl ist dies ein Sonderfall, der nur für künstlich vereinfachte Situationen gilt.143 Wenn die Alternative überhaupt eine andere Gleichheit ist, dann ist das Argument zwar interessant, aber unbedeutend.144 Ordnung anstelle von Chaos mag seine eigene Berechtigung haben, aber Ordnung als Konformität mit einer Regel anstelle der Konformität mit einer anderen Regel lässt nicht auf die Superiorität einer der beiden Regeln schließen; es sei denn, die Regel erweist sich mit Blick auf einen vereinbarten Wert als „besser“ oder zielführender als ein anderer, wobei die Wahl zwischen den beiden bestenfalls eine Frage des Geschmacks sein kann. Eine Bevölkerung, deren Mitglieder in unbestimmt vielen Hinsichten ungleich sind, kann in Konformität mit einer unbestimmten Vielzahl an alternativen Regeln geordnet werden. Ordnet man sie nach Haarfarbe, dann schließt das in der Regel eine Reihung nach anderen Charakteristika aus; sieht man von Zufällen einmal ab. Symmetrie zwischen Behandlung und Haarfarbe impliziert Asymmetrie zwischen Behandlung und Alter oder Behandlung und Bildung. Ungeachtet dessen stimmen die meisten normalerweise darin überein, dass für eine gegebene „Behandlung“, sagen wir die Aufteilung auf Wohnungen, nur eine Handvoll der unendlich vielen Hinsichten, in denen sich die Wohnungsbewerber unterscheiden können, Berücksichtigung finden sollten, z. B. der Platz auf der Warteliste, die gegenwärtige Unterbringung, Zahl der Kinder und Einkommen. Eine Gleichheitsregel (Proportionalität, Symmetrie) kann nun mit Blick auf eine dieser vier Größen willkürlich festgelegt werden (was in der Regel zur Folge hat, dass mit Blick auf die verbleibenden drei Größen ungleiche Behandlung stattfindet). Oder man formt mittels willkürlicher Gewichtung aus allen vieren eine Mischung, die im Hinblick auf jede einzelne Größe eine ungleiche Behandlung nach sich zieht; nicht jedoch mit Blick auf die rationale „Summe“ aller vier Größen, der sie ja halbwegs entspricht.
143 Z.B. für die Teilung eines gottgegebenen Kuchens unter Menschen, die sich absolut gleich sind; gleich gottesfürchtig, gleichermaßen verdient, mit gleichen Bedürfnissen und gleichen Freuden, um nur solche „Vergleichsdimensionen“ zu nennen, von denen man üblicherweise meint, sie seien für die „Aufteilung des Kuchens“ von Bedeutung; obgleich offenbar viele andere Dimensionen dies auch sein mögen. 144 Vgl. Rae (1981). Rae und seine Ko-Autoren sind so klug und fragen uns nicht, „ob Gleichheit“, sondern „welche Gleichheit“ (S. 19). Sie entwickeln eine „Grammatik“ zur Definierung und Klassifizierung von Gleichheiten und erleichtern uns die Sache, indem sie durch Permutation nicht weniger als 720 Arten der Gleichheit finden (S. 189, Anm. 3). Indes vertreten sie die Auffassung, dass man einer Situation oft, wenn nicht gar immer, bescheinigen kann, gleicher als eine andere zu sein, d. h., dass zumindest teilweise eine Reihung gesellschaftlicher Situationen möglich ist, und zwar danach, wie gleich sie sind. Nach meiner Ansicht muss das Ordnen von Situationen, die sich durch alternative Gleichheiten auszeichnen, zwangsläufig mittels eines anderen, meist magischen Kriteriums (z. B. Gerechtigkeit oder Interesse) geschehen und kann nicht anhand des Gleichheitskriteriums selbst erfolgen.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Die Übereinkunft darüber, welche Dimensionen für eine Bevölkerung überhaupt zu berücksichtigen sind, wenn eine Gleichheitsregel gewählt werden soll, ist eine Frage der politischen Kultur. So mag in einer Kultur breiter Konsens darüber bestehen, dass der Lohn für Stahlarbeiter nicht davon abhängen soll, wie gut diese singen, das Stipendium für Studenten aber davon, wie gut diese Football spielen. Wenn eine bestimmte Gleichheit zu einer unbestrittenen und allgemein anerkannten Regel wird, dann kann man davon ausgehen, dass die ringsum herrschende politische Kultur gewissermaßen monolithisch geworden ist, weil sie alle anderen Dimensionen, die das Entwerfen alternativer Regeln ermöglicht hätten, als irrelevant ausgeblendet hat. In der demokratischen Kultur ist Jeder-eine-Stimme das Musterbeispiel. Man kann argumentieren, dass jeder Wähler ein Individuum sei und die Proportionalitätsregel es erfordere, dass jeder eine einzige Stimme haben sollte. Andererseits mag man dem entgegenhalten, dass die Individuen, die verschieden sind, von politischen Entscheidungen in verschiedenen Maßen betroffen seien. (Der Familienvater und der Junggeselle sind dafür ein vortreffliches Beispiel.) Die entsprechende Regel sollte daher sein: Gleiches-Anliegen-gleiche-Stimme. Das impliziert Größeres-Anliegen-mehr-Stimmen.145 Andererseits kann man mit Verweis auf das Representative Government von John Stuart Mill dagegenhalten, dass einige Personen in politischen Fragen kompetenter urteilen 145 Unter der Regel Jeder-eine-Stimme wird auf eine vollkommen unbeabsichtigte Weise ein ganz ähnlicher Effekt erzielt, sofern man zurecht annehmen darf, dass jene, die sich enthalten, von den Ergebnissen der Wahl in ihren legitimen Interessen weniger berührt sind als jene, die wählen. Der unbeabsichtigte Effekt kann in einen beabsichtigten verwandelt werden, indem man das Wählen erschwert. Das australische Gesetz, nach dem Wahlabstinenz mit einer Geldbuße belegt wird, hat natürlich den gegenteiligen Effekt. Das „Anliegen“ erklärt nur unzulänglich, warum ein Mensch sich überhaupt die Mühe macht, zu wählen. Ich kenne aber keine rivale Erklärung, die einen zufriedener stellte; wie z. B. die äußerst gekünstelte Regel des „kleinsten Übels“, die Ferejohn und Fiorina vorgeschlagen haben. Zur grundsätzlichen Auffassung, wählen sei irrational, siehe Downs (1957), S. 274. Wie auch immer, Enthaltsamkeit ist nur eine grobe Annäherung an die Regel Größeres-Anliegen-mehr-Stimmen. Insofern werden Professor Lipsets verständliche Bedenken gegenüber der massenhaften Wahlbeteiligung nur teilweise bestätigt. Obwohl die extreme Willkürlichkeit der Regel Jeder-eine-Stimme durch die Enthaltsamkeitsneigung jener, die sich kaum betroffen fühlen, abgeschwächt werden mag (und obwohl deren relative Unbetroffenheit ein subjektives Gefühl ist, das mit der Realität ihrer Situation nicht viel zu tun haben muss – vielleicht sollten sie bekümmert sein), wird sich die Tatsache, dass die Unbetroffenen wählen könnten, falls sie wollten, auf das politische Gleichgewicht auswirken. Diskussionshalber wollen wir annehmen, dass das Lumpenproletariat sich für gewöhnlich enthalte. Ein entsprechend gestaltetes Wahlprogramm, das die Mehrheit der Wählerschaft abzüglich des Lumpenproletariats anziehen soll, würde nun immer Risiko laufen, einer Alternative zu unterliegen, die eine Mehrheit der Wählerschaft einschließlich des Lumpenproletariats zu gewinnen trachtet, und zwar, indem sie Letztere so sehr wachrüttelte, dass diese letztlich doch zur Urne gingen. Infolgedessen dürften alle konkurrierenden Wahlversprechen das Lumpenproletariat stärker berücksichtigen, als deren gewöhnliche Wahlbeteiligung sowie deren tatsächliche Unbekümmertheit nahelegen würden.
Die Liebe zur Symmetrie
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können als andere, auch in der Frage, welche Kandidaten sich für ein Amt eignen; und dass dies für die Regel Gleiche-Kompetenz-gleiche-Stimme; größere-Kompetenz-mehr-Stimmen spräche. Solche Argumente fanden in den meisten Wahlsystemen des 19. Jahrhunderts, die Ausnahmeregeln für Besitz und Bildungsqualifikationen vorsahen, ihren praktischen Niederschlag (auch wenn sie meistens, nicht zuletzt wegen des „falschen Bewusstseins“ der Besitzenden und Gebildeten, sehr umstritten waren). Gewiss, je mehr man die Ansicht, dass es für einige Menschen bei politischen Entscheidungen mit gutem Grund um mehr geht als für andere, oder dass nicht jeder gleich gut politische Fragen und Kandidaten beurteilen kann, untergräbt, umso weniger kann man diese Ungleichheiten als maßgebliche Größen bei zur Zuteilung der persönlichen Wahlrechte nutzen. Im Grenzfall bleibt nur Jeder-eine-Stimme übrig, und diese Regel sieht sehr nach der selbstverständlichen, einzig denkbaren Symmetrie von Mensch und Stimme aus. Im Vergleich dazu gibt es keinen Konsens bezüglich der entsprechenden Rolle der Regel Jeder-ein-Lohn, die vorsieht, dass jeder denselben Lohn erhält, weil entweder alle gleich sind und einer so gut wie der andere oder weil deren Ungleichheiten für Entlohnungsfragen nicht von Belang sind. Nach wie vor gibt es viele rivale Regeln mit unterschiedlichen Forderungen, z. B. proportional zur „Arbeit“ oder zum „Verdienst“ (wie immer diese auch definiert sein mögen) zu entlohnen, oder im Verhältnis zur Verantwortung, Seniorität, Bedürfnislage, Ausbildungsexamina und so weiter, oder vielleicht zu einem hybriden Kompositum aus diesen oder anderen Variablen. Jeder mag selbst abschätzen, ob einige oder die meisten dieser rivalen Regeln mit der Zeit aus der politischen Kultur verschwinden werden und womöglich nur eine zurücklassen, die dann so selbstverständlich aussieht, wie es die Regel Jeder-eine-Stimme heutzutage tut. Auf jeden Fall scheint die liberale Ideologie ihre Entscheidung noch nicht getroffen zu haben. Der Sozialismus würde jeden nach dessen Bemühen bezahlen, bis er eines Tages jeden nach dessen Bedürfnissen bezahlen könnte (was in der Wirklichkeit jedoch nur bedeutet, dass jeder nach seinem Rang bezahlt würde). Anders als er, ist die liberale Idee vollkommen pluralistisch, wenn es darum geht, welche Symmetrieregeln zwischen den Menschen und ihren Entlohnungen dominieren sollten. Folgt man ihr, dann spricht vieles für Verdienste, Verantwortung, Widrigkeiten der Arbeit, aber auch einiges für andere Proportionalitätsregeln; die Hauptsache ist, dass es nur Prinzipien sind, die herrschen, und nicht die offensichtliche „Launenhaftigkeit ungewisser Märkte“. Wo bleibt hier die Gleichheit? Die Antwort ist, wie ich glaube, eine faszinierende Lektion darüber, wie eine dominante Ideologie, die vollkommen unbewusst ist und die niemand in ihrer Richtung festgelegt hat, sich den Interessen des Staates anpasst. Der Liberalismus erteilt seine Zustimmung zu wahrlich freien Verträgen unter Gleichen nur, wenn sie von „verstecktem Zwang“ und „verkappter Unterdrückung“ unbeschadet sind (vgl. Kap. 2.6). Er würde also bestimmt nicht akzeptieren, dass der Lohn der Menschen einfach das sein sollte, was er ist. Ihm liegt sehr daran, was dieser sein sollte, und dabei kreisen seine Sorgen um Begriffe wie Gerechtig-
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3. Kapitel: Demokratische Werte
keit und Billigkeit. Weil er jedoch kontradiktorische Gleichheitsregeln in großer Zahl toleriert und nur wenige als ungerecht und unbillig verurteilt, wird er auch eine Entlohnungsstruktur hinnehmen, in der nicht nur die Löhne der Menschen untereinander ungleich sind, sondern auch nicht proportional zu irgendeiner einzigen höchst logischen, höchst gerechten (oder höchst nützlichen, höchst moralischen oder höchst irgendwas) Dimension, in der Menschen ungleich sein können. Wie immer sie auch ausfallen mag, sie wird keine „strukturierte“ Verteilung sein.146 Aber das ist auch gut so, denn wenn sie es wäre, was bliebe dann noch für den Staat zu korrigieren? Seine Umverteilungsfunktion, die er aufrechterhalten muss, um Konsens zu erzielen, würde die Ordnung und Symmetrie verletzen, die vereinbarte Struktur umstürzen, indem sie Steuern erhöbe, Subventionen zahlte und Wohlfahrtsleistungen bereitstellte. Andererseits, wenn die Verteilung vor Steuer einfach nur das ist, was sie ist, ohne mit einer der dominanten Gleichheitsnormen konform zu gehen, dann hat der Staat mit der Auferlegung von Symmetrie und Ordnung viel zu tun. Aus diesem Grund ist die pluralistische Toleranz gegenüber einer mehr oder weniger strukturlosen Verteilung vor Steuer ein derart wertvolles Merkmal der liberalen Ideologie. (Gleichzeitig ist klar, dass die sozialistische Ideologie in dieser Hinsicht nicht pluralistisch sein darf, sondern richtig von falsch auseinanderhalten muss: Schließlich dient sie nicht einem Umverteilungsstaat, der die Verteilung vor Steuer durch private Verträge determiniert vorfindet und diese verbessert, sondern einem Staat, der die Faktoreinkommen von vornherein direkt festlegt und wohl kaum vorschlagen kann, seine eigenes Werk durch Umverteilung zu korrigieren.147 „Im Namen der Gesellschaft jedem nach seinen Bemühungen“: so lautet die Regel, von der behauptet werden muss, sie charakterisiere die gesamte Verteilung, die der sozialistische Staat festlege, wenn auch in Wirklichkeit andere Regeln diese gestalten mögen. Es ist politisch unklug, „Jeder nach seinen Bedürfnissen“ zu fordern.) Gleichzeitig pflegt die liberale Ideologie die These, dass bestimmte Gleichheitsregeln immer noch besser (gerechter, unstrittigen Werten zweckdienlicher) als andere seien, wobei sie eine Vorliebe für Verteilungen hat, bei denen viele wenigen 146 Dies ist Nozicks Begriff für eine Verteilung, die sich durch Abhängigkeit von einer einzigen Variablen auszeichnet, sowie für eine ganze Reihe von Verteilungen, die sich aus einer kleinen Anzahl solcher Unterverteilungen ergibt; vgl. Nozick (1974), S. 156. Wenn alle Beschäftigungseinkommen von der Variablen „Arbeit“ abhingen und die Regel proportionaler Gleichheit gölte, wonach „gleicher Lohn für gleiche Arbeit und mehr Lohn für mehr Arbeit“ gezahlt würde, und alle anderen Einkommen von einer anderen Variablen abhingen, dann wäre die Verteilung aller Einkommen „strukturiert“. So jedenfalls verstehe ich die Art, wie Nozick diesen äußerst suggestiven und nützlichen Begriff verwendet. 147 „Der moderne Kapitalismus vertraut sein tägliches Brot dem Profitprinzip an, verweigert ihm aber die Vorherrschaft. In der sozialistischen Gesellschaft würde es derlei Konflikte und folglich auch Verschwendung nicht geben. … Allein aus Vernunftgründen wäre es für die Zentralverwaltung vollkommen absurd, zuerst die Löhne auszuzahlen und danach den Empfängern hinterherzurennen, um einen Teil davon zurückzubekommen.“ (Schum peter (19765), S. 198 f.)
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vorgezogen werden. Wenn diese These sich hält (obgleich ich in Kap. 3.2 – 3.4 zu zeigen versucht habe, dass es keine guten Gründe gibt dafür, dass sie dies tun sollte), dann ist sie die Gewähr für Umverteilungsschritte, die dem demokratischen Kriterium, mehr eigeninteressierte Stimmen zu attrahieren als zu verprellen, entspricht. Es zeigt sich immer wieder, dass eine Umverteilung, die dem janusköpfigen Zweck gerecht wird, viele zu bevorzugen, damit der Anstifter gewählt wird, nicht notwendigerweise „egalitär“ im herkömmlichen Sinne des Wortes sein muss. Wenn sie bei einer Umverteilung anfängt, die von der Gleichheit vom Typ Gleicher-Lohn-für-gleiche-Arbeit weit entfernt ist, dann wird sie sich auf diese zu bewegen. Wenn sie bei einer Verteilung beginnt, für die diese Gleichheitsregel bereits gilt, dann würde sie sich von dieser weg bewegen und sich einer anderen Art von Gleichheit annähern. Fassen wir zusammen: Die Analyse des Arguments, demzufolge die Liebe zur Symmetrie, die der menschlichen Natur innewohnt, auf die Liebe zur Gleichheit um deren selbst willen hinausläuft, sollte unsere Aufmerksamkeit für den multidimensionalen Charakter der Gleichheit geschärft haben. Gleichheit in einer Hinsicht bedeutet in der Regel Ungleichheit in einer anderen Hinsicht. Die Liebe zur Symmetrie lässt offen, welche Art von Symmetrie oder Gleichheit anderen Symmetrien oder Gleichheiten vorgezogen wird. Mithin ist Jeder-eine-Stimme eine Gleichheit und Gleiche-Kompetenz-gleiche-Stimme eine andere. Nur im Grenzfall, in dem man allen Menschen zuspricht, eine (und dieselbe) Kompetenz haben, schließen die beiden Regeln sich nicht gegenseitig aus. Ähnlich ist es mit den Regeln „Jeder die gleiche Steuer“ oder „Von jedem das Gleiche“ (d. h. Kopfsteuer), sowie „Jeder entsprechend seines Einkommens“ (d. h. Proportionalsteuer) und „Jeder so viel er zahlen kann“ (d. h. progressive Einkommenssteuer gemäß einer gemutmaßten Proportionalität zwischen der Steuer und dem verbleibenden Gewinn des Steuerzahlers über seine „Bedürfnisse“ hinaus). Sie sind grundsätzlich Alternativen. Nur im Extremfall, in dem Einkommen und Bedürfnisse aller dieselben sind, sind diese Regeln kompatibel. Es ergibt keinen Sinn, zu sagen, dass eine von zwei alternativen Gleichheiten in irgendeiner Weise gleicher oder größer wäre als die andere. Weil sie nicht vergleichbar sind (weil man aus ihnen keine algebraische Summe bilden kann), ist es Blödsinn, zu sagen, man könne eine kleine Gleichheit von einer größeren subtrahieren und eine Restgleichheit erhalten. Folglich kann man nicht bestätigen, dass ein Politikwechsel, der einer Gleichheit auf den Thron verhilft, indem er eine andere verletzt, alles in allem mehr Gleichheit in die gesellschaftlichen Verhältnisse einführte. Dennoch ergibt es sehr wohl einen Sinn, eine Gleichheit einer anderen vorzuziehen und seine Präferenz mit der Begründung zu verteidigen, dass man über den Geschmack nicht streiten könne (de gustibus non est disputandum). (Das ist übrigens nicht dasselbe wie das Fällen eines moralischen Urteils über das Verhältnis dieser Vorliebe zur Gerechtigkeit.) Es ergibt auch sehr wohl einen Sinn, die eigenen Präferenzen denen der Majorität vorzuziehen, und zwar mit der Begründung, dass der Respekt vor der Demokratie dies erfordere. In der Praxis bezeichnen die
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Menschen die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse als (sehr wohl oder nicht, mehr oder weniger) egalitär. Auch wenn es nicht immer sehr offensichtlich ist, was sie damit meinen, dürfen wir doch wohl annehmen, dass es in den meisten Fällen das genannte demokratische Kriterium ist, das sie implizit zugrunde legen. Doch nichts von alledem trägt im Geringsten dazu bei, den Anspruch (auf den sich das Argument von der „Liebe zur Symmetrie“ letztlich reduziert) zu untermauern, dass das, wofür eine Mehrheit stimmt, auch moralisch wertvoller sei oder dem Gemeingut mehr entspreche.
Neid Nur wenige Gaben sind teilbar und übertragbar, und nur wenige können ausgeglichen werden.
So sehr man sich auch bemüht, die Welt düsterer zu gestalten, nichts macht sie so düster, dass der Neid nachließe. Unter Berufung auf Mill meint Hayek, dass es dann, wenn wir eine freie Gesellschaft wertschätzten, geboten sei, „daß wir Neid nicht unterstützen und seine Forderungen nicht sanktionieren, indem wir ihn als soziale Gerechtigkeit tarnen, sondern daß wir ihn … als ‚die unsympathischste und verhaßteste aller Leidenschaften‘ behandeln.“148 Ihn als soziale Gerechtigkeit zu tarnen, hilft ohnehin nicht. Wenn man die Sache etwas radikaler als Hayek betrachtet, dann bedeutet der Umstand, dass eine Forderung gerecht ist, nicht, dass irgendjemand dafür zu sorgen hätte, dass dieser Forderung nachgekommen wird.149 Im Gegenteil! Es dürfte vielmehr einiges dafür sprechen, der Forderung definitiv nicht nachzukommen. Man kann die soziale Gerechtigkeit, so wie die Anpassung an andere Formen des politischen Hedonismus, für anti-sozial halten, weil sie dazu neigt, der Korruption der Gesellschaft durch den Staat und einer gefährlichen Veränderung der beiden den Boden zu bereiten. Dennoch ist es möglich und auch weitaus üblicher, Neid als etwas Schmerzhaftes anzusehen, als etwas, das man lindern sollte und dessen Ursache, wenn möglich, beseitigt werden sollte, ohne allzu lange darüber nachzudenken, welche langfristigen und hypothetischen Konsequenzen die Beseitigung haben könnte. Wenn die Schmerzlinderung hier und jetzt möglich ist und die schädlichen Wirkungen des Schmerzmittels ungewisse Eventualitäten in der fernen Zukunft eines Verfahrens, das teilweise spekulativ ist, liegen, dann ist es recht verführerisch, unmittelbar 148
Hayek (20054), S. 119. die kommutative Gerechtigkeit gibt es ein einvernehmliches Verfahren, das durch Urteile in Gerichtssälen zum Tragen kommt und darüber entscheidet, welchen „Gerechtigkeitsforderungen“ man nachkommen sollte. Über die Forderungen der sozialen Gerechtigkeit wird jedoch nicht auf diese Weise befunden. Niemandes Urteil bezüglich sozialer Gerechtigkeit birgt für andere die moralische Verpflichtung, es zu vollstrecken. 149 Für
Neid
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zur Behandlung zu schreiten. Ich glaube, dass auf diese Weise der Neid, trotz all seiner insgesamt tugendabholden Konnotationen, von vielen, wenn nicht gar von den meisten Menschen als legitimer Grund zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse angesehen wird. Ich denke, wir sollten, wenn auch nur diskussionshalber, einräumen, dass mit der Analogie zwischen Neid und Schmerz und dem Augenverschließen vor dem weit entfernten Schadensrisiko zwei neue Aspekte sich auf die Struktur der Zivilgesellschaft und deren Überwältigung durch den Staat auswirken. Wenn wir dies tun, dann werden wir entdecken, dass aus der liberalen Perspektive heraus betrachtet Neid im Grunde ein vielleicht nebensächlicher, aber sehr geradliniger und robuster Grund für die Auffassung ist, dass Gleichheit wertvoll sei – der allein übrigbleibende Grund, falls Nützlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe zur Symmetrie als Gründe versagen sollten. Das Problem, dessen wir uns dann annehmen müssen, ist mehr oder weniger folgendes: Wenn die Linderung von Neid eine lohnende Aufgabe ist, sind wir dann verpflichtet, die Ungleichheit abzubauen (sofern keine wichtigere Aufgabe dieses Ziel aufhebt)? Wie so oft, wird auch hier die Antwort durch die Art bestimmt, in der man die Frage stellt. In einem bedeutsamen Aufsatz, der von Behandlungssymmetrie, ungleicher Arbeit und dem Konflikt zwischen Neidlosigkeit und Effizienz handelt, definiert Hal R. Varian den Neid als die Präferenz einer Person für das Güterbündel einer anderen Person (das auch die Bemühungen und Fähigkeiten zur Generierung jenes Einkommens, das zum Erwerb der Güter nötig ist, einschließen könne) und Gleichheit als den Zustand, in dem niemand solche Präferenzen empfindet.150 Ein Opfer an Effizienz macht es möglich, dass die Bündel angeglichen werden; d. h., so kann man Neid loswerden. (Man muss nicht hervorheben, dass dies eine logische Implikation ist und keine politische Empfehlung.) Betrachtet man Anstrengung als negatives Gut, dann kann Effizienz mit Gleichheit einhergehen, weil die Menschen auf ein größeres Bündel mitunter dann nicht neidisch sind, wenn dessen Erwerb größere Anstrengungen erfordert. Der entscheidende Punkt für unsere Zwecke ist, dass alle Ungleichheiten auf die alleinige Ungleichheit der Bündel reduziert werden. Durch Angleichung der Bündel können wir die Ungleichheit eliminieren, obwohl es ein mehr oder weniger stark umstrittenes Ziel geben mag, das Vorrang vor dem Wert der Neidlosigkeit genießt. Weniger ausgeklügelte Ansätze tendieren erst recht dazu, Ungleichheiten unter einer stellvertretenden Einzelungleichheit zu subsummieren, in der Regel die des Geldes. Geld kann perfekt geteilt und transferiert werden. Dahingegen ist es vollkommen unmöglich, aus asymmetrischen Bündeln symmetrische zu machen (z. B. mit Blick auf eine vereinbarte Eigenschaft der Eigentümer, oder so, dass sie einfach nur einander gleich sind), wenn sie unteilbare und nicht übertragbare persönliche Gaben enthalten, wie z. B. Auftreten, Ausstrahlung, die Fähigkeit, ein Schulexamen zu bestehen, oder Sexappeal. Jene, deren Gabenbündel dürftig ausgestattet sind, dürften darüber genauso verbittert sein wie über unterschiedliche Ausstat150 Varian (1974). Zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch Ausweitung des Kriteriums für Neidlosigkeit vgl. Pazner/Schmeidler (1978).
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3. Kapitel: Demokratische Werte
tungen mit Geld. Darüber hinaus sind die nahezu unzähligen Ungleichheiten, die man nicht einfach so umgestalten kann, damit sie einer Symmetrie oder Gleichheit entsprechen, für die vergleichsweise wenigen und leicht umgestaltbaren Ungleichheiten (wie Geld, Jobangebote, Militärdienst) von großer Bedeutung. Zur Verteidigung der Ungleichheiten bringt Nozick das kluge Argument vor, dass Neid die Selbstachtung verletze und dass dann, wenn jemand sich in einer Hinsicht darin verletzt fühle (wenig Erfolg beim Basketball oder Geld verdienen), er andere Ungleichheiten entdecke (sprachliche Gewandtheit, Aussehen), bei denen er besser abschneide.151 Wenn der Staat zur Reduzierung des Neides eine Dimension der Ungleichheit ausschaltet (z. B. durch Angleichung aller Einkommen), dann sucht die Selbstachtung unter den verbleibenden Dimensionen nach Vergleichen. „Je rarer die Dimensionen, desto seltener die Gelegenheit für den Einzelnen, erfolgreich eine nicht-uniforme Abwägungsstrategie als Grundlage seiner Selbstachtung zu nutzen, die ihm erlaubt, einer Dimension, in der er hoch punktet, größeres Gewicht beizumessen.152 Dies wäre ein exzellentes Argument gegen jeden Utopiestreich an egalitären Maßnahmen, mit denen die möglichen Ungleichheiten eliminiert oder stark eingeschränkt würden. Aber ein solcher Eventualfall ist doch recht artifiziell und wird den überzeugten Nicht-Egalitaristen kaum umtreiben. Sogar die jungen Kulturrevolutionäre des Vorsitzenden Mao konnten mit ihren sehr direkten Methoden im Bereich der Ungleichheiten, die in der chinesischen Gesellschaft „zu haben“ waren, nur wenig Eindruck hinterlassen; mag es auch trostlos ausgesehen haben, als sie versuchten, diesen Bereich noch trostloser zu machen. Selbst die erfolgreichste, nur verbrannte Erde zurücklassende Egalisierungskampagne kann die in großer Vielfalt auftretenden Möglichkeiten, die das eigene Selbstwertgefühl durch unvorteilhafte Ungleichheiten verletzten und durch vorteilhafte Ungleichheiten wieder heilten, nur nominell reduzieren. Doch selbst wenn man die Auffassung vom Neid und der „verletzten Selbstachtung“ nicht teilt, heißt dies nicht, dass man den Neid als Argument zur Beseitigung von Ungleichheiten anerkennen würde. Neid mag schmerzhaft sein, unnütz oder die Verbitterung über eine „unverdiente“ Asymmetrie, ein Gefühl der Entbehrung in Relation zu der überlegeneren Ausstattung einer „Referenzgruppe“, der fehlenden ökonomischen Außenwirkung der Reichtümer vermögender Menschen. Was immer Neid auch sein mag, er sagt uns nicht viel darüber, wie er von der Ungleichheit kausal bedingt wird. Es gibt überhaupt keinen Grund für die Annahme, dass hier eine cartesische Bedingtheit im Sinne von große Ursache, große Wirkung bzw. kleine Ursache, kleine Wirkung vorläge (so dass man durch Reduzierung des Ausmaßes einer gegebenen Ungleichheit oder der Anzahl der Ungleichheiten oder von beidem den Neid reduzieren könnte; selbst wenn es der Fall wäre, dass man mit der Reduzierung des Ausmaßes jeder Ungleichheit auf null den Neid eliminieren könnte.) 151 152
Nozick (1974), S. 239 – 246. Nozick (1974), S. 245.
Neid
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Andere Arten der Verursachung anzunehmen, ist keineswegs weniger plausibel. Eine Ungleichheit könnte den Neid so auslösen wie der Abzug einer Pistole einen Knall. Ein größerer Abzug würde keinen größeren Knall erzeugen. Wenn die Ungleichheit für den Neid das ist, was die Abzugsgröße für die Lautstärke des Knalls ist, dann produziert weniger Ungleichheit nicht weniger Neid – wenngleich absolute Gleichheit, falls überhaupt vorstellbar, wahrscheinlich den Neid verschwinden ließe. (Das kann aber keiner jemals sagen, weil der Fall nicht eintreten kann.) Die Sichtweise des Ungläubigen, wenn man sie denn einnimmt, lässt den Kampf gegen Ungleichheiten, um Neid zu mindern, genauso verfehlt erscheinen wie den Kampf gegen die Windmühlen, der die Ritterlichkeit von Don Quichote belegen soll. Die Annahme, dass der Effekt umso geringer sei, je kleiner die Ursache ausfalle, bildet die Grundlage, von der aus die Erwartung vernünftig ist, dass der Neid durch Angleichung schwinde. Das sichtbare Vergnügen, das immer dann, wenn in der Geschichte etwas niedergerissen wird und Privilegien mit Erfolg bekämpft werden, die entsprechenden Handlungen willkommen zu heißen scheint, macht diese Annahme noch glaubhafter. Dennoch kann man sich täuschen, wenn man in dem, was eigentlich „die Folge eines Wechsels“ ist, „die Bedeutung eines Unterschieds“ sieht.153 Wenn Patient A auf der überfüllten Krankenstation eines öffentlichen Krankenhauses liegt, und Patient B im luxuriösen Penthouse desselben Hospitals, dann dürfte A (wie wohl auch die meisten übrigen Patienten auf seiner Station) Groll über B’s Privileg hegen. Wenn B nun die Suite weggenommen wird und in ein Privatzimmer verlegt wird, dann mag A Vergnügen aus der Folge des Wechsels ziehen. Wenn indes B von Anfang an im Privatzimmer liegt, dann dürfte A’s Groll über B’s Privileg (egal wie groß er sein mag) sich von dem nicht unterscheiden, den A hätte, wenn B in einer Suite läge. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Suite und Privatzimmer könnte durchaus null sein. Der Punkt, um den es hier geht, ist der, dass dann, wenn Schlösser brennen und Köpfe rollen, sobald die Reichen enteignet werden und die Privilegierten ihr Fett abbekommen, die Neidischen sich darüber freuen mögen, dass die Gerechtigkeit gewaltet habe und sie für ihre „relative Entbehrung“ entschädigt worden seien. Sie mögen an dem Akt (der Enteignung) selbst Befriedigung finden, oder an dem sich hinziehenden Prozess; wenngleich darin die Manifestation des Wechsels weniger dramatisch ist als im Akt (man denke nur an die Erosion historisch großer Vermögen mittels Besteuerung). Das Umgekehrte dürfte ebenfalls gelten. Wenn B in der Lotterie gewinnt oder seine Tochter an eine gute Partie verheiratet, dann werden A’s Empfindungen durch das Ereignis geweckt, durch den Glückstreffer, den unverhofften Glücksfall, der B widerfuhr, auch wenn nach dem warmen Regen B immer noch der Ärmere von beiden ist. Auf der anderen Seite kann ein Sachverhalt (eine gegebene Ungleichheit) Neid wecken (oder auch nicht), und zwar unabhängig von dem erzeugten Gefühl, das von dem Ereignis, Akt oder Prozess hervorgerufen wurde. 153 So lauten die höchst suggestiven Ausdrücke, mit denen Alfred Marshall jenes unterscheiden wollte, das man im Jargon von heute „vergleichende Statistiken“ und „Dynamik“ nennt.
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3. Kapitel: Demokratische Werte
Der Brand eines Schlosses, der Zusammenbruch großer Zufallsvermögen oder die Wegnahme des Geldes, das dem Reichen gehört und dem Armen übergeben wird, werden sehr wahrscheinlich den Neidischen befriedigen, aber nur solange, wie das Drama des Übergangs vom einen Zustand zum anderen dauert. Sind die Schlösser erst einmal niedergebrannt, kann man sie nicht noch einmal anzünden. Der Mann in der Hütte mag auf den Schlossherrn neidisch gewesen sein, nun hat er Grund auf den Anwalt der Jakobiner neidisch zu sein, auf dessen Getue und den ehemaligen Kirchenbesitz, den er sich mittels Papiergeld („Assignaten“) beschafft hat. Und es gibt nichts, das uns zur Annahme veranlasste, sein Neid sei nun weniger intensiv, nachdem der Abzug ein anderer sei. Wenn aber die Ungleichheit nur ein Auslöser ist und die Quelle des Neids allein in der Missgunst liegt, was bringt es dann, jenen Ungleichheiten den Kampf anzusagen, die man angleichen kann, wenn es weit mehr Ungleichheiten gibt, für die das nicht möglich ist? Ungeachtet der Breite nivellierender Maßnahmen muss es in jeder Situation des realen Lebens in großer Zahl Ungleichheiten geben, die gegen Angleichungen und Kompensierungen immun sind und auch jeder anderen Form der Abhilfe widerstehen. Wenn eine Person ihre Situation mit der von anderen vergleicht und dabei Ungleichheiten wahrnimmt, dann reizt das den Neid. Wenn eine wahrgenommene Ungleichheit eliminiert wird, die Person aber gerne Vergleiche anstellt, dann streckt sie ihre Fühler alsbald in eine andere Richtung, um dort unter all den zahllosen Ungleichheiten, die ihr ins Auge stoßen, eine andere Ungleichheit (im Sinne einer „relativen Entbehrung“) wahrzunehmen, weil derlei Rastern Teil ihres Bedürfnisses ist, die eigene Situation in Relation zu der von anderen zu sehen – ansonsten wäre sie gegen Neid immun. Das Einwilligen in Nachfragen nach Einengung oder gar Abschaffung bestimmter Ungleichheiten, die vom Versprechen genährt werden, dass der Neid in der Folge schrumpfe, scheint kaum zwingender zu sein als das Einwilligen in Nachfragen, die Unterstützung durch den Rückgriff auf Nützlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit erfahren oder mit moralischen Argumenten gut ausgestattet sind. Das Versprechen, der Neid werde nachlassen, ist ein überflüssiger Appell an die Leichtgläubigkeit des Liberalen. Der Liberale braucht kein Versprechen. Er ist dafür anfällig, ohnehin seine Einwilligung zu derlei Nachfragen zu geben. Es ist ihm ein „existentielles“ Bedürfnis, seiner eigenen Ideologie anzuhängen und in der Umverteilungspolitik des Staates die Förderung eines unanfechtbaren sozialen Werts zu erkennen.
4. Kapitel
Umverteilung 4. Kapitel: Umverteilung
„Feststehende“ Verfassungen Selbstauferlegte Schranken souveräner Macht können Misstrauen zerstreuen, bieten für Freiheit und Eigentum aber keine Garantie, die über jene hinausginge, die aus dem Gleichgewicht zwischen staatlicher und privater Gewalt erwächst.
Wenn der Schlüssel in Reichweite liegt, dann fällt der Keuschheitsgürtel bestenfalls mit Verspätung, bevor die Natur ihren Lauf nimmt. Im Naturzustand nutzen die Menschen ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Eigentum für Zwecke, die sie selbst gewählt haben. In der politischen Ideengeschichte gibt es eine lange Tradition, die meint, dies führe zu Missverständnissen unter den Menschen, bringe vielen den Tod sowie instabile Besitzverhältnisse und mache es unmöglich, die „optimale“ Mischung öffentlicher Güter zu erzeugen. Die extreme Version dieser Auffassung, d.i., dass im Naturzustand keine öffentlichen Güter erzeugt werden könnten, teilt heute wohl keiner mehr. Inzwischen glaubt man, dass im Naturzustand sehr wohl einige Güter produziert würden, aber nicht sehr viele und nicht so viele wie eine Zivilgesellschaft, die über einen Staat mit Zwangsgewalt verfügt.154 Dabei wird unterstellt, dass eine mit einem Staat ausgestattete Gesellschaft in der Lage sei, die Sorte von Entscheidungen zu treffen, die dazu führen, dass mehr Ressourcen für öffentliche Güter verwendet werden und weniger für private Güter. Die moderne Vorstellung, dass der Staat eine Vorrichtung sei, mittels derer die Gesellschaft die von ihr wirklich bevorzugte Ressourcenallokation erwirken könne, enthält die noch um vieles ältere Überzeugung, dass der „Gemeinwille“, die gesellschaftliche Präferenz oder die Kollektiventscheidung (oder welche Spezies der Gattung man sonst bemühen will) irgendeine nachweisbare Bedeutung habe. Indem er seine Bürger zwingt, den Gemeinwillen umzusetzen oder Kollektiv entscheidungen zu fällen, tritt der Staat mit seinen Bürgern in Wettbewerb um die Nutzung einer knappen Ressource, nämlich jedermanns Freiheit und Eigentum. Er schränkt sie in dem, was sie tun dürfen und nicht, ein und zwingt sie dazu, ihre Anstrengungen und Güter teilweise für staatliche Zwecke aufzuwenden, statt für die eigenen. Dieselbe lange Tradition in der politischen Ideengeschichte meint nun, dass der Staat sie durch sein Tun eigentlich nur dazu zwinge, glücklicher (oder 154 Vgl. dazu Rawls’ Ansicht, der Naturzustand sei eine Gesellschaft, die an der Herstellung des öffentlichen Guts der „Verteilungsgerechtigkeit“ scheitere.
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4. Kapitel: Umverteilung
wohlhabender) zu sein, als sie es sonst wären, weil sie die im Naturzustand vorherrschenden notorischen Dilemmata der Nicht-Kooperation und des Trittbrettfahrens zumindest nicht ohne latenten Zwang lösen könnten. Andererseits ist der Wettbewerb zwischen dem Staat (der sein Gewaltmonopol erfolgreich durchsetzt) und seinen Bürgern (deren einzig starke Waffe die Rebellion ist – in der Regel riskant, teuer und schwer zu organisieren) prima facie in einer derartigen Schieflage und so grotesk ungleich, dass dann, wenn der Staat kurz vor der Versklavung seiner Bürger innehalten sollte, stichhaltige Gründe vonnöten wären, um das warum zu erklären. Es dürfte schwerlich etwas geben, das für die Politische Theorie entscheidender ist als diese Frage. In jeder zufriedenstellenden Antwort der Historiker darauf, was eine Despotie zu Fall gebracht hat, was zum Gleichstand und Gleichklang zwischen König und Edelmännern geführt hat, oder warum ein Staat nach Recht und Ordnung und damit eingeschränkt herrschte, statt nach eigenen Ermessen und damit uneingeschränkt, steckt die Antwort auf diese Frage bereits drin. Dieses Kapitel gilt vornehmlich den unbeabsichtigten Konsequenzen, die sich bei der Sicherung des politischen Konsenses mittels Umverteilung einstellen. Das Muster der Umverteilung resultiert daraus, dass beide, Staat und Bürger, ihre Ziele zu maximieren versuchen und dabei zusammenwirken, um Umverteilungsergebnisse zu erwirken. Diese Ergebnisse müssen so ausfallen, dass keine der beiden Parteien zum gegebenen Zeitpunkt ihre Position im Rahmen der Ergebnisse zusätzlich verbessern kann. Grob gesagt, sie müssen das Gleichgewicht der betroffenen Kräfte und Interessen widerspiegeln. Die formellen Abkommen zwischen dem Staat und seinen Bürgern, wie z. B. Gesetze und Verfassungen, die den Staat bei der Maximierung seiner Ziele einschränken sollen, spiegeln dieses Gleichgewicht wider oder auch nicht. Wenn sie es tun, dann sind die Grenzen staatlicher Eingriffe in die privaten Freiheits- und Vermögensrechte durch die Stärke der Rechteinhaber auf natürliche Weise festgelegt und die Verfassung sowie sonstige formelle Abkommen ausschließlich Ausdruck feststehender Tatsachen. Wenn sie es nicht tun, dann sind derlei Abkommen labil. Folgt der Staat ihnen, dann befindet er sich nicht im Gleichgewicht. Seine Bedürfnisse und Ambitionen werden irgendwann dazu führen, dass die Gesetze und die Verfassung von ihm umgangen, uminterpretiert oder schlicht missachtet werden. Um die Rolle von Gesetz und Verfassung bzw. die Gründe für deren augenfällige Abwesenheit beim nun folgenden Argumentationsgang deutlicher werden zu lassen, beginne ich dieses Kapitel mit etwas, das wie ein Exkurs anmutet, und zwar über die Herrschaft von Recht und Verfassung, verstanden als bindende Übereinkommen, die den Staat beim Ermessen beschränken sollen; nämlich, wie er unter Wahrung dessen, was seine Interessen ihm vorschreiben, mit der Freiheit und dem Eigentum der Untertanen umgehen soll. Montesquieu dachte seltsamerweise, dass man die Freiheit als einen Zustand definieren könne, in dem die Handlungen des Menschen allein durch das Gesetz beschränkt seien. Eine derartige Definition krankt u.a. darunter, dass sie implizit auf dem Glauben an die Eigenschaft, den besonderen Inhalt des Gesetzes zu beruhen scheint. Anders als Regeln im Allgemeinen, die sich durch ihren Ursprung und
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ihre Durchsetzung auszeichnen (von wem?, mittels welcher Sanktionen?), muss das Recht zusätzlich einen bestimmten Inhalt haben, um mit der Freiheit verträglich zu sein. Man kann sich z. B. vorstellen, dass es gut sei, ungefährlich oder vielleicht gerecht. Schlechtes Recht darf entweder nicht Recht genannt werden oder man ist sich darin einig, dass es immerhin die versöhnliche Eigenschaft hat, Willkür und Chaos durch eine Regel zu ersetzen. Im politischen Bereich wurde das Recht – selbst das schlechte Recht – seit Menschengedenken als Schranke für den Souverän gepriesen, als Schild des Untertanen vor den Launen des Despoten. Auch wenn es ungerecht, allgemein und vorhersagbar ist, gibt es wegen seiner Unparteilichkeit ein gewisses Gefühl der Sicherheit vor der beliebigen Nutzung staatlicher Gewalt. Es ist bezeichnend, dass die Republikaner seit Titus Livius den Trennstrich zwischen Tyrannei und Freiheit nicht zwischen guten und schlechten Gesetzen gezogen haben, sondern zwischen der Herrschaft des Menschen und der Herrschaft des Rechts. Dies erklärt auch die allzu vertrauensselige Definition von Freiheit in Vom Geiste der Gesetze. So befremdlich es auch sein mag, man glaubte, die Unterwerfung des Staates unter das Gesetz, auch unter das selbst erdachte Gesetz, reiche aus, um das tyrannische Potential auszuschalten. Erst nach dem jakobinischen Experiment haben politische Theoretiker vom Format eines Humboldt, Guizot155 und J.S. Mill die Möglichkeit erörtert, die der gewitzte Staat hat, wenn er eigennützige Gesetze verabschiedet, die er leicht einhalten kann, und seine Möglichkeit wahrt, den Einzelnen zu seinem eigenen Vorteil zu dominieren. Wenn die Herrschaft des reinen Rechts keine hinreichende Bedingung ist, um kollidierende Ansprüche bezüglich der Freiheit und der Besitztümer des Untertanen einvernehmlich zu regeln und den Untertan vor dem mächtigen Appetit, den der adverse Staat von Natur aus hat, in Schutz zu nehmen, dann kann man sich nicht mit weniger als der Herrschaft des guten Rechts zufrieden geben. Historisch betrachtet, hat man es auf zwei Arten versucht, das Problem, gutes Recht zu bekommen, zu lösen. Eine davon war, den Souverän nicht nur zur Einhaltung seiner eigenen Gesetze zu verpflichten, sondern auch seine Gesetzgebungsgewalt einzuschränken, indem man von ihm das Einverständnis zu dem einforderte, was die Römische Republik legum leges nannte – ein Überrecht oder eine Verfassung, womit man schlechte Gesetze wirksam „illegalisieren“ konnte. Die andere, direktere Lösung bestand darin, eine angemessene Beteiligung aller Betroffenen bei der Gestaltung der Gesetze sicherzustellen. Jede der beiden Lösungen, die „konstitutionelle Monarchie“, in der der Staat alleine die Gesetze macht, jedoch nur im festgelegten Rahmen der Konstitution156, und die Demokratie, in der der Staat mit 155 Im Vorwort zu seiner neuaufgelegten Histoire de la Civilisation en Europe sieht Guizot, rückblickend auf seine Karriere als Staatsmann, die Rolle der Regierung als den Versuch, den Kampf zwischen Autorität und Freiheit „erklärtermaßen, offen, öffentlich, geborgen und reguliert in den Bereich des Gesetzes“ zu verlegen. Im Nachhinein kam es ihm so vor, als ob dies wohl reines Wunschdenken gewesen wäre. 156 Ein empörter und zugleich meisterhafter Historiker der absoluten Monarchie im Frankreich des 18. Jahrhunderts beschreibt die königliche Gewalt als „allmächtig überall
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seinen Bürgern Ad hoc-Vereinbarungen über die Gesetze trifft, ist so ausgelegt, dass ein „fairer und gleicher“ Wettbewerb zwischen rivalisierenden öffentlichen und privaten Interessen sichergestellt ist. Die letzte, nämlich die Ad hoc-Lösung, ist ungefähr die, in die England 1688 hineingestolpert ist, dann liebgewann und bis zu ihrer logischen Perfektion im Jahre 1767 vorangetrieben hat. Seither ist eine Parlamentsmehrheit der Souverän. Sie kann jedes Gesetz verabschieden und regieren, wie sie es für richtig hält. Die einzige Schranke, die sie beim Gesetzmachen kennt, ist eine kulturelle. Dieser Zusammenfluss von konstitutioneller und demokratischer Lösung entspricht im Großen und Ganzen dem amerikanischen Weg, welchen die Gründerväter in einer seltenen Mischung aus Gelehrsamkeit und weltlicher Weisheit entworfen haben und der von einer erstaunlich langen Erfolgsserie gekrönt wurde. Neben Glück dürfte die Ausgestaltung der Verfassung eine Rolle gespielt haben. Seither wurden viele Besonderheiten des amerikanischen Wegs von anderen Staaten übernommen. Die Pointe, sowohl Sicherheitsgurt als auch Bremse zu haben, d. h. eine „fixierte“ Verfassung in einem demokratischen Staat, in dem die Gesetze in jedem Fall das Ergebnis ausgehandelter Übereinkünfte zwischen Staat und Zivilgesellschaft sind, ist eine recht subtile, nämlich die, dass der Freiheit und dem Eigentum des Menschen sowohl vom souveränen Volk wie auch vom souveränen König Gefahr drohen kann. Die Gefahr geht also von der souveränen Gewalt aus und nicht von den Eigenschaften dessen, der sie innehat. Es ist offensichtlich, dass eine souveräne Versammlung, ein demos oder dessen Vertreter eine andere Form von Gefahr darstellen als ein souveräner Monarch oder ein Diktator. Welche schlimmer ist, ist letztlich eine Frage des Geschmacks. In der von Westminster angeekelten Philadelphia Convention überwog die Ansicht, dass die Versammlung für Ungerechtigkeiten anfälliger sei als der König, recht deutlich. Gleiches gilt für den abtrünnigen Süden, der gegen die Majorität des Nordens aufbegehrte. Im Regelfall dürfte es jedoch einfacher sein, das Bild eines einzelnen Tyrannen heraufzubeschwören als die von Pitt zitierte „Tyrannei der Mehrheit“. Die liberale Idee kann ihren Glauben an die Gutartigkeit der Volkssouveränität nicht so einfach mit einem Zugeständnis an jene konstitutionellen Vorkehrungen in Einklang bringen, die diese Souveränität in Ketten legen können, sie davon abhalten können, Gutes zu tun oder gar überhaupt irgendetwas zu tun. Kein Wunder also, dass es in den USA nun seit einigen Jahrzehnten die Tendenz gibt, die Gewaltenteilung durch reziproken Tausch von Aufgaben und Zuschreibungen dort, wo die Freiheiten [der Grundbesitzer und Gesellschaften] Freiräume gelassen hatten“ (Gaxotte (1973), Band IV, S. 78). Diese Freiräume – oft nur Zwischenräume – ähneln denen, die dem Staat im Rahmen der Verfassung verbleiben. Die Vorrechte und Immunitäten im größten Teil des vorrevolutionären Europa und Russland wie auch die postrevolutionären Verfassungsgarantien beschränkten beide die prärogative Gewalt des Staates. Wie auch immer, Erstere wurden je nachdem, wie das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte zwischen Staat, Aristokratie, Kirche und Kommerz etc. ausfiel, mal aufrechterhalten und mal vorangetrieben oder zurückgedrängt. Letztere waren indes „fixiert“, und welche Kräfte es waren, die sie jeweils hochgehalten haben, ist alles andere als klar.
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aufzuheben oder gar einseitig ganz zu vereinnahmen. In diesem Sinne entscheidet die Exekutive über einen großen Teil der Verwaltungsgesetze und betreibt die Gesetzgebung neben der Wirtschaftspolitik auch noch die Außenpolitik, während die Judikative die Sozialpolitik formt und den Klassen- und Rassenkampf führt. Wenn die drei separaten Bereiche der föderalen Regierung Amerikas erst einmal in der Harvard Law School verschmolzen sein werden, dann dürfte dies sich in einer weniger umständlichen Weise umsetzen lassen. (Das Paradoxe ist, dass dieser Tag möglicherweise den Anfang vom Ende der Herrschaft der Anwälte über die amerikanische Gesellschaft einläuten könnte.) Im Begriff des souveränen Staates, der mit seinen Bürgern um die Nutzung ihrer Ressourcen rivalisiert, liegt etwas Bedrohliches und grundsätzlich „Unfaires“ – „unfair“ im einfachen, alltagssprachlichen Sinne einer nahezu obszönen Disproportionalität von Größe und Macht. Eine einzelne Person kann nicht viel ausrichten, und die Idee des Zusammenrottens, um den Staat zu zähmen, wirft unweigerlich die erste Frage der Staatskunst auf: Warum sollte der Staat sie überhaupt zusammenrotten lassen? Da die Chancen für jeden, der auch nur im Geringsten misstrauisch ist, so eklatant ungünstig stehen, ist es einleuchtend, von jenen, die sich in der Minderheit sehen, eher Verzweiflung und vorbeugende Rebellion zu erwarten als eine friedliche Unterwerfung unter die demokratischen Regeln, die sie dem Appetit der künftigen Mehrheit aussetzen. Die Festlegung von Verfassungsgarantien ist, so gesehen, ein schlauer Schritt, eine Geste, um der Minderheit zuzusichern, dass man ihr nichts wirklich Schlimmes antun werde. Während die Beschwichtigung des Misstrauens der künftigen Minderheit gewissermaßen eine Bedingung dafür ist, dass jedermann den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet, mag es bestimmte historische Situationen geben, in denen es für den Staat sogar rational ist, Schranken für seine eigene Macht vorzuschlagen, wenn er damit seine Macht maximieren kann. Es ist eine alte Weisheit, dass es für den Wolf rational sein kann, einen Schafspelz zu tragen und eine Zeitlang auf den Verzehr von Schafen zu verzichten; und dass es vernünftig sein kann, einen Schritt zurückzugehen, bevor man zwei Schritte auf einmal nach vorn macht. Es kann auch rational sein, einem Einwand zuvorzukommen, indem man ihn zuerst anspricht, sich gegen eine Krankheit zu impfen, indem man sich selbst mit ihr ansteckt, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen, auszugeben, um zu sparen, sich zu verbiegen, statt zu zerbrechen, oder einen langen Umweg zu nehmen, weil es so schneller geht. Es ist nun eine Sache, wenn man sagt, es sei gut für den Staat oder für die Mehrheit, mit deren Zustimmung er herrscht, die Minderheit in einem trügerischen Gefühl der Sicherheit zu wiegen, indem er ihnen Verfassungsgarantien anbiete. Es ist aber eine andere, wenn man andeutet, dass jene Staaten, die mit einer Verfassung einverstanden sind, derart listige Motive bewusst in ihre Kalkulationen einfließen ließen. Anschuldigungen dieser Art finden ihren Platz nur in den Theorien historischer Verschwörungen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie jemals zutreffen. Dennoch trägt es zur angemessenen historischen Wertschätzung sol-
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cher Angelegenheiten bei, wenn man zugesteht, dass Verfassungen, die staatliche Macht beschränken, für Staaten durchaus nützlich sein können, die (salopp gesagt) ihre Macht maximieren wollen. Jene, die aufgrund der Besonderheiten ihres theoretischen Ansatzes fordern, den Staat nicht als den Ort eines einzelnen Willens zu sehen, sondern als die im Fluss befindliche und ungewisse Hierarchie diffuser und teilweise einander widersprechender Willen, ohne dass von einem der Willen sicher feststünde, dass er die staatlichen Entscheidungen trifft, mögen vielleicht die Idee haben, dass die Hierarchie, wenn auch nur ungelenk, dazu tendiert, sich an Entscheidungen heranzutasten, die am wahrscheinlichsten das zusammengesetzte Wohl, das aus Elementen wie Überleben, Stabilität, Sicherheit, Wachstum u.s.w. besteht, fördern. Die Tatsache, dass Staaten, die schlingern und herumwurschteln, nicht immer lohnenswerte Ziele erreichen, sondern gelegentlich auf die Nase fallen, ist keine zwingende Widerlegung dieser Auffassung. Sie mag lediglich darauf hinweisen, dass ein institutioneller Trieb (sofern es ihn überhaupt gibt), der das Verhalten des Staates bestimmt, kein unfehlbarer ist und wir auch nicht erwarten würden, dass er es wäre. Im Rahmen seiner brillanten Untersuchung diverser Rationalitätsparadoxa kommt Jon Elster zu der These, dass eine Gesellschaft, die sich selbst durch eine Verfassung binde, derselben Logik folge wie Odysseus, der sich selbst an den Mast binden ließ, um den Gesang der Sirenen zu hören.157 (Eigentlich ist es der Staat, der hier gebunden ist, aber für Elsters Zwecke ist die Distinktion von Staat und Gesellschaft nicht relevant.) Wenn Odysseus vom Gesang der Sirenen gar nicht erst versucht würde, wenn er sicher wäre, der Versuchung aus eigener Kraft widerstehen zu können oder sonst wie ganz und gar beabsichtigte, dies zu tun, dann würde er sich nicht binden lassen wollen. Wenn er sich selbst mit einer „Verfassung“ ausstattet, die ihm verbietet, das zu tun, was er will, dann ist er in dem Sinne rational, dass er wünscht, sich gegen den eigenen Sinneswandel, die eigene Willensschwäche abzusichern. Ob Odysseus stellvertretend für die Gesellschaft steht, oder für den Staat, oder für eine Generation, die nach vorne blickt und künftige Generationen verpflichten will: es ist seine eigene Angelegenheit, die ihn antreibt. Er fürchtet die Sirenen tatsächlich. Er hat zwar Kameraden auf dem Schiff, aber er hat sich nicht deshalb angebunden, weil er deren Angelegenheiten nachkommen will. Meine Sicht ist eine andere. Nach meiner Auffassung ist alles, was der freiwillige Odysseus-Staatler unternimmt, um seine eigene Wahlfreiheit einzugrenzen, das Ergebnis dessen, wie er die geistige Haltung seiner Schiffskameraden einschätzt, ihre Angst vor den Sirenen und ihr Misstrauen gegenüber seinem Charakter. Es ist nicht das berechnete Ergebnis eines Interesses angesichts der gegebenen Eventualitäten, sondern das Fazit von mindestens zwei Interessen, nämlich dem Interesse der Regierten und dem des Regierenden. Odysseus lässt sich anbinden, damit seine Mannschaft nicht ihren anfälligen Kapitän loswerden will. 157
Elster (1979).
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Es sind die Bindungen, welche die Analogie zum Staat und seiner Verfassung verzerren. Sobald Odysseus in Fesseln liegt, kann er sich ihrer nicht mehr entledigen. Nur seine Kameraden an Bord können ihn befreien. Ein Staat, der durch das „Gesetz der Gesetze“ gebunden ist, gleichzeitig aber auch der Monopolist der Gesetzesdurchsetzung ist, kann sich jederzeit losbinden. Er wäre kein Souverän, wenn er es nicht könnte. Der passende Vergleich ist nicht der zu Odysseus und seinen Männern, die sich Scylla und Charybdis nähern, sondern der zur Lady, deren Herr und Gebieter, beruhigt durch ihren Keuschheitsgürtel, zuversichtlich in den Krieg zieht, während sie, nun Herrin ihrer selbst, den Schlüssel zum Vorhängeschloss ihres Keuschheitsgürtels an den Bettpfosten hängt. Die ultimative Kontrolle des Staates über die Verfassung ist kaschiert; in Ländern, die eine entsprechend „fixierte“ Verfassung vom Typ Frankreich oder Amerika haben, mithilfe eines speziellen Aufpassers, der über die Einhaltung wacht – in den USA heißt er Oberster Gerichtshof und in Frankreich Verfassungsgericht. Dieser Wächter ist entweder ein Teil des Staates oder ein Teil der Zivilgesellschaft. Er kann sich nicht irgendwo sonst aufhalten, an einem dritten Platz „über“ den beiden anderen. Wenn er Teil der Zivilgesellschaft ist, dann ist er dem Staat untertan und kann in letzter Instanz immer dazu gezwungen werden, einen Verfassungsbruch nicht anzuprangern. Funktioniert das nicht, dann kann ein anderer Wächter, der eingesetzt wird, den alten zu ersetzen, dessen Anprangerung anprangern. Die Frage ist offenbar nicht die, ob dies machbar sei oder ob man die richtigen Worte werde finden können, die erklären, warum in Wahrheit die Verfassung so respektiert worden ist, nämlich auf einer „höheren Ebene“, sondern vielmehr, ob es den Einsatz lohne. Die Natur nimmt ihren Lauf, und das Vorhängeschloss am Keuschheitsgürtel wird aufgeschlossen werden; zweifellos im Namen der wahren Keuschheit (im Unterschied zur künstlichen) und abhängig einerseits vom Verhältnis, in dem der Schritt Zugewinne und Verluste an politischer Unterstützung nach sich zieht (D.h., kann der Staat es sich politisch leisten, es zu tun? Oder kann er es sich leisten, es nicht zu tun?), und andererseits von dem eventuellen Beitrag, den das Agieren außerhalb der Verfassung zu den staatlichen Zielen, die über das reine politische Überleben hinausgehen, leisten kann. Wenn indes der Verfassungshüter Teil des Staates ist, dann darf man unterstellen, dass er keine eigenständige und deutlich abweichende Vorstellung vom öffentlichen Gut hat bzw. dass er, was in der Praxis davon nicht zu unterscheiden ist, keine eigene und deutlich andere Abwägung der Vorteile hat, die man durch das so oder so Auslegen der Verfassung gewinnen kann. Die „Gewaltenteilung“ und die Unabhängigkeit der Justiz sind dazu gemacht, genau diese Unterstellung zu schwächen. Die ihnen zugedachte Aufgabe besteht darin, dass ein solches Auseinanderklaffen überhaupt erst möglich wird. Die vor dem Krimkrieg getroffene Vorkehrung, mit der man die britische Armee unabhängig machte, indem man ihr zugestand (mehr noch, zur Pflicht machte), Eigentümer ihrer eigenen Kommissionen zu sein, sollte sicherstellen, dass die Interessen der Armee sich nicht von Eigentumsinteressen abspalten und folglich nicht zu einem Werkzeug des könig-
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lichen Absolutismus würden. Die Vorkehrung, französischen Richtern vererbbare und übertragbare Anrechte auf ihr Amt zu verkaufen, hatte den Effekt (wenn auch völlig unbeabsichtigt), dass sich letztlich eine Divergenz entwickeln konnte, nämlich die zwischen den Interessen der Monarchie und denen des Parlaments, und das in einem Maße, dass 1771, als den Richtern mit Maupeou ein entschiedener Gegenspieler entgegentrat, dieselben enteignet und die loyalen und einlenkenden unter ihnen zu bezahlten Staatsdienern wurden. Gewiss, wenn der Verfassungshüter die Schöpfung eines früheren Untermieters der Staatsgewalt ist, der Ausfluss einer vergangenen Mehrheit, dann ist eine Divergenz recht wahrscheinlich. Der Oberste Gerichtshof in Amerika zur Zeit des New Deals und das französische Verfassungsgericht zur Zeit der sozialistischen Regierung der 5. Republik nach 1981 sind dafür treffende Beispiele. Der Oberste Gerichtshof verhinderte oder verzögerte bis 1937 einige von Franklin Roosevelts Gesetzen, welche die Eigentumsrechte betrafen. Danach trat er zurück, weil er das Gefühl hatte, dass auch dann, wenn das Gesetz der Regierung zur „Reform“ des Obersten Gerichtshofs an den heilsamen Puffern des Zweikammersystems scheitern sollte, es für den Gerichtshof nicht ratsam wäre, wenn man ihn unentwegt als Opposition zur demokratischen Mehrheit wahrnehmen würde. (Man folgt der Legitimität gerne, wenn sie nicht viel oder nur selten etwas verlangt.) Mit der Zeit und mit Richtern, die auf eine durchschnittliche Lebenszeit berufen werden, wird der Gerichtshof so denken, wie die Regierung denkt, auch wenn ein durchgreifender Regimewechsel kurzfristig Probleme bereiten kann. Aber selbst diese Probleme werden nur den wohlmeinenden Staat abschrecken, und diesen abzuschrecken, ist nicht sonderlich wichtig, weil er wahrscheinlich keine verfassungswidrigen Pläne hat, die sich kurzfristig stark auf die Rechte der Bürger auswirkten. Gewiss hätte 1981 kein damals denkbarer Konflikt mit der Verfassung von 1958 die überwältigende sozialistische Mehrheit in der französischen Nationalversammlung davon abgehalten, die Banken und die großen Unternehmen zu verstaatlichen.158 Allen Seiten war vollkommen klar, dass das Verfassungsgericht es wohl nicht überlebt hätte, wenn es das Gesetz verworfen hätte. Vor allem am „Beginn einer neuen Ära“, wenn die Kontinuität den Kürzeren zieht, zeigt sich ein wirklich ernsthafter Konflikt zwischen der in der Verfassung verankerten Idee des Rechts und der vom Staat vertretenen Idee des öffentlichen Wohls in einer revolutionären Situation oder in einem Staatsstreich (oder, wie im Oktober 1917 in Russland in einem nach dem anderen). Das Überbordwerfen der alten Verfassung ist in solchen Momenten ein Nebeneffekt im Fahrwasser schicksalsträchtiger Auswirkungen. Betrachtet man indes weniger radikale Abweichungen, dann bleibt eine unveränderliche Verfassung solange unveränderlich, bis man sie nachbessert. 158 In Erwiderung auf die Behauptung der Opposition, das Gesetz sei verfassungswidrig, gab der sozialistische Abgeordnete André Laignel die seither hochgepriesene und für künftige Lehrbücher zur Politikwissenschaft zitierwürdige Antwort: „[Verfassungs]rechtlich irren Sie sich, weil sie politisch in der Minderheit sind.“ Die Ereignisse gaben ihm recht.
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Das Gesetz der Gesetze nachzubessern, ist vielleicht dem Grad nach etwas anderes als die Nachbesserung eines einfachen Gesetzes oder irgendeiner anderen formalisierten gesellschaftlichen Übereinkunft, aber kaum etwas anderes der Art nach. (Und wenn es ein Gesetz gäbe, das festlegte, wie das Gesetz der Gesetze nachgebessert werden kann, dann könnte auch dieses Gesetz nachgebessert werden, weil es letztlich immer möglich ist, eine mehrheitliche Unterstützung für die Verbesserung zusammenzutragen, indem man eine bestimmte Verteilung der daraus resultierenden Kosten und Gewinne vorschlägt.) Im schlimmsten Fall braucht es etwas mehr an Aufwand und Zeit für die Gesetzgebung, vielleicht auch etwas mehr Abstand zwischen Konsens und Dissens. Falls das so ist, dann gewährt die Konstitution, die eigentlich Freiheit und Eigentum der Bürger vor gewissen Übergriffen des Staates schützen soll, Sicherheit vor den halbherzigen Versuchen eines nur wenig motivierten Staates. Das gilt allerdings für jeden Status quo, sei er nun durch die Verfassung oder den Alltag bedingt. Schließlich stellt jeder Status quo ein reibungsbedingtes Hindernis dar. Die Aufgabe eines jeden Staates, von der äußerst repressiven und willkürlichen Diktatur bis hin zum legitimen Gemeinwesen in Reinform, ist es, so gut, wie es für den Staat geht, die eigene Politik an das von ihr hervorgerufene Verhältnis von Unterstützung und Opposition anzupassen. Obwohl die Aussage, wenn sie so allgemein ausgedrückt wird, recht trivial daherkommt, so hilft sie doch dabei, dass sich die Idee vom „Gesetz der Gesetze“ als eine Art „Nebenbedingung“ oder letztes Bollwerk, vor dem der Staat stark abbremst und hinter dem der individuelle Bürger ruhig entspannen kann, in nichts auflöst.
Konsens erkaufen Mehrheiten muss man mit dem Geld der Minderheiten bezahlen. Diese Bedingung lässt dem Staat wenig Spielraum bei der Auferlegung von Umverteilungsmodellen.
Im Wettbewerb der wählbaren Politik heißt die Belohnung des Gewinners Macht ohne Gewinn. Jede beliebige Gesellschaft im Naturzustand, die nicht im Zeichen eines Staates steht, kann man von anderen Gesellschaften unterscheiden, indem man darauf verweist, wie die Verteilung all jener ungleichen Eigenschaften, die eine Differenzierung der Gesellschaftsmitglieder ermöglichen, ursprünglich aussah. Ihre Zahl ist, wie wir an anderer Stelle gesehen haben, nahezu unendlich. Die diversen Verteilungen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ergeben, sind nur insofern „ursprünglich“, als sie den Aktivitäten des Staates vorausgehen. Vergleichsweise wenige von ihnen bringen Angleichungsversuche hervor. Wenn man dieser Gesellschaft einen Staat überstülpt, dessen Machterhalt auf die Zustimmung seiner Untertanen angewiesen ist, dann mag dieser Staat es für vorteilhaft halten (und unter Wettbewerbsbedingungen wird er dies tun), die „ursprüngliche“ Verteilung so zu
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ändern, dass die Umverteilung mehr Unterstützung findet (und zwar im Sinne von Einfluss und Stimmen bzw. im Sinne irgendeiner „Mischung“ aus beidem, die aus seiner Sicht machtrelevant ist). Ein solches Umverteilungsangebot ist offensichtlich eine Funktion der ursprünglichen Verteilung. Wenn z. B. in einer Gesellschaft manche viel und manche wenig wissen, das Wissen für beide Gruppen einen Preis hat und die Aufnahme von Wissen schmerzlos ist (was recht viel verlangt), dann kann der Staat an Unterstützung hinzugewinnen, wenn er die Wissenden dazu verpflichtet, ihre Zeit nicht auf die Kultivierung und den Genuss des eigenen Wissens, sondern auf die Belehrung der Unwissenden zu verwenden. Ähnlich ist es, wenn einige viel Land besitzen und andere wenig. Hier mag es ein Vorteil sein, Erstere zu verpflichten, Letzteren Land zu geben. Ein Umverteilungsangebot in entgegengesetzter Richtung, das einen Gütertransfer von den Besitzlosen zu den Besitzenden involvierte, würde sich wahrscheinlich als unterlegen herausstellen, weil es dabei weit weniger zu transferieren gäbe. Transfers von arm nach reich würden unter gewöhnlichen demokratischen Verhältnissen eine weniger vorteilhafte, ja eine geradezu negative Relation zwischen hinzugewonnener und verlorener Unterstützung bewirken. Wenn es irgendeine Anzahl von Ungleichheiten gibt (gleichwohl nur wenige von ihnen sich für Angleichungen eignen), dann kann der Staat zumindest vorschlagen oder vortäuschen, einige von ihnen anzugleichen. Dann aber ist es unmöglich, das effizienteste Umverteilungsangebot allein aufgrund der ursprünglichen Verteilungen vorherzusagen. Auch die Annahme, dass die Transfers von den Besitzenden zu den Besitzlosen den umgekehrten Transfers politisch überlegen sind, kann sich als falsch erweisen, wenn Einfluss weitaus mehr zählt als Stimmen und der Einfluss bei den Habenden liegt.159 Um eine genau festgelegte Lösung zu ermöglichen, wäre eine politische Kultur recht hilfreich, in der die meisten Ungleichheiten als unantastbar akzeptiert wären, so dass weder der Staat noch einer seiner Konkurrenten sie in ein Umverteilungsangebot einschließen könnte. In einer solchen Kultur wäre es z. B. erlaubt, dass Kinder von ihren eigenen (ungleichgeschlechtlichen) Eltern aufgezogen werden; dass persönliches Eigentum, das nicht aus Einkommen hervorgeht, nicht geteilt werden muss; dass Menschen unterschiedliche Kleider tragen; dass unangenehme Arbeit von denen verrichtet wird, die sonst keine bekommen, usw. Offensichtlich haben nicht alle Gesellschaften diese Art von Kultur, auch wenn jene, die wir konsensgeprägt nennen, es im Großen und Ganzen tun. Die Kultur würde also das mögliche Spektrum an politischen Angeboten schmälern. Um allerdings irrwitzige Programme und kulturelle Revolutionen außen vorzuhalten, wäre es am besten, zuerst eine Gesellschaft in Betracht zu ziehen, in der nur eine Ungleichheit als „politisch“ wahrgenommen wird: die Menge an Geld, über die die Menschen verfügen. 159 Letzteres muss nicht der Fall sein. Im Winter 1973/74 bewiesen die britischen Kohle bergarbeiter, dass sie genug Einfluss hatten, um die Regierung von Edward Heath in die Knie zu zwingen. Bezogen auf die Ungleichheiten, mit denen man ein Umverteilungsangebot sinnbildlich wiedergibt, würden sie zweifellos als die Besitzlosen durchgehen.
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Geld scheint das natürliche Objekt für Umverteilung zu sein, weil es, anders als die meisten anderen interpersonalen Unterschiede, par excellence messbar, teilbar und übertragbar ist.160 Aber es hat noch einen subtileren Vorteil. Zumindest rein konzeptionell gibt es politische Prozesse, die ihren Lauf nehmen, ihr Ziel erreichen und zu einem Ende kommen. Der Klassenkampf zwischen Kapital und Proletariat wird von Marx als ein solcher Prozess gedacht. Sobald dieser endliche Konflikt behoben ist und keine ausgebeutete Klasse mehr übrig ist, die vom Staat unterdrückt werden könnte, kommt die Politik an ihr Ende und geht der Staat dahin. Ähnlich wäre es, wenn es in der Politik um Latifundien und landlose Bauern ginge, oder um die Privilegien von Aristokratie und Kirche, oder um ähnliche Ungleichheiten, die nach der Nivellierung nivelliert blieben. Das staatliche Erkaufen von Konsens mittels Umverteilung wäre eine Episode, ein einmaliges Ereignis. Im besten Fall könnte die Geschichte aus einer Reihe von solchen Episoden bestehen. Aber wenn Geld das Ziel ist, dann ergibt die demokratische Politik als ein sich selbst erhaltendes statisches Gleichgewicht einen Sinn. Warum dies so ist, lässt sich am besten verstehen, wenn man sich die einfache Unterscheidung vergegenwärtigt, die Menschen gerne zwischen der Chancengleichheit und dem Endzustand treffen. Moderate Egalitaristen schlagen ab und an vor, dass die Chancen gleich sein sollten, die Endzustände aber, die sich aus den angeglichenen Chancen ergäben, unangetastet bleiben sollten. (Das wäre nur mithilfe von Spiegeln möglich, gehört aber nicht hierher.) Peter und Paul sollten dieselben Chancen auf das Erzielen jedmöglichen Einkommens- oder Wohlstandsniveaus haben, wenn Peter aber am Ende mehr einnähme, dann sollte man ihm nichts entreißen, um es Paul zu geben. Einkommensungleichheit und ungleiche Vermögen sind aber die Resultante eines großen Universums an vorherigen Ungleichheiten, von denen man einige nicht angleichen kann. Andere wiederum kann man angleichen. (Dann aber muss man zumindest in einige Endzustände permanent eingreifen; irgendeiner muss für die kostenfreie Schulpflicht aufkommen.) Wenn Peter tatsächlich mehr Geld gemacht haben sollte, dann müssen einige frühere Ungleichheiten zu seinen Gunsten existiert haben. Es braucht nicht viel, um einzusehen, dass es keinen anderen Test für jene Chancengleichheit, mit der die Menschen zu Geld kommen, gibt als das Geld, das sie erwirtschaften. Ist das Erben von Kapital erst einmal abgeschafft, jeder Schüler derselben Schule und jedes Mädchen mit 18 in Behandlung beim Schönheitschirurgen, dann gibt es immer noch 99 gute Gründe dafür, warum eine Person größeren materiellen Erfolg haben mag als eine andere. Wenn all die bekannten Gründe (vor allem die Eltern, die man hat) abgeschafft wären und es unmöglich wäre, mehr Talente zu erben als der Nebenmann, dann bliebe uns nur noch jener unbekannte Rest, den man für gewöhnlich „Glück“ nennt.
160 Ich ziehe es vor, ganz naiv von „Geld“ zu sprechen, und überlasse es anderen, ob nun Einkommen oder Wohlstand oder beides umverteilt werden sollte, und welchen Unterschied dies machte.
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4. Kapitel: Umverteilung
Das muss niemanden davon abhalten, irgendeine stipulative Definition von Chancengleichheit vorzuziehen, beruhend auf einer willkürlichen Auswahl der Kriterien, die Endzustände ungleich machen. (Man kann z. B. den Besuch derselben Schule in die Definitionskriterien einbinden, die „Öffnung der Karrieren für alle mit Talent“ oder die Bereitstellung eines bestimmten bedingungslosen Darlehens für Existenzgründer, und sonst alles ausschließen, wie z. B., dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist.) Man kann sich darauf verständigen, dass alle, die mit dem begehrtesten Mädchen des Abends getanzt haben, die gleiche Chance gehabt hätten, es zu erobern. Wenn sie ihre Gunst indes nur einem gezeigt habe und nicht allen, dann sei dies Glück gewesen. Es ist nicht nur so, dass die Chancengleichheit ein dubioses Gedankenkonstrukt ist und die ernstzunehmenden Egalitaristen sich aus praktischen Gründen mit Endzuständen befassen müssen – anders kann man Chancen wohl kaum angleichen. Obwohl beide Einwände schwer genug wiegen, ist der wesentliche Punkt ein anderer, nämlich, dass jedes Mal, wenn ein Endzustand nivelliert wird, genug „Chancen ungleichheit“ übrigbleibt, die rasch erneut ungleiche Endzustände herstellt. Diese werden nicht genau dieselben sein. Umverteilung muss, ob intendiert oder anders geartet, einen Einfluss auf die Ursachen einer Verteilung haben, wenn auch nur über die vielbeschworenen Anreizeffekte. Damit ist gemeint, dass die Gans aufhört, goldene Eier zu legen, wenn man sie ihr dauernd wegnimmt. Ungeachtet dessen wird sich eine neue ungleiche Verteilung urplötzlich einstellen. Diese erfordert Umverteilung, um sich zu wiederholen (z. B. am Ende des Jahresüberblicks?) oder um fortlaufend zu sein (Auszahlung bei Ernte). Auf jeden Fall besteht keine Gefahr, dass der Staat sich unwissentlich seiner eigenen Aufgabe beraubte und „sich selbst arbeitslos machen“ würde, indem er die Geldungleichheit überwände. Wenn wir uns mit dem Verhalten des Staates im Wettbewerb der Politiken befassen, dann müssen wir aus einigen der genannten Gründe die weitgehend vereinfachende Annahme treffen, dass der Staat über eine Gesellschaft herrscht, die eine amorphe Ansammlung von Menschen umfasst, denen es an einer Struktur fehlt. Sie gerinnt nicht zu Gruppen, Berufen, Schichten oder Klassen aufgrund materieller und moralischer Ungleichheiten. Sie ist die ideale demokratische Gesellschaft im Sinne Rousseaus, die nicht in Untergesellschaften zerfällt, die jede für sich einen Gemeinwillen hätte, der mit dem eigentlichen Gemeinwillen in Konflikt stünde. Zwischen dem Individuum und dem Staat gibt es kein Zwischending, weder historischer noch funktionaler Art, weder persönlicher noch institutioneller Natur. Auch wenn die Menschen folglich homogen sind, gehe ich doch davon aus, dass sie sehr unterschiedliche Mengen an Geld haben, sei es wegen der „Chancenungleichheit“ oder, was weniger strittig sein dürfte, aufgrund von Glück. Ich werde auch die ziemlich unrealistische, aber zweckmäßige These vertreten, dass die politischen Entscheidungen eines jeden völlig von dessen materiellen Interessen bestimmt sind. Und streng genommen gehe ich auch davon aus, dass es keinen Altruismus gibt, kein falsches Bewusstsein und keine Idiosynkrasie. Wenn
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die Menschen die Chance bekommen, dann wollen sie die Politik, die ihnen das meiste Geld gibt und das wenigste Geld wegnimmt. Das ist alles. Die anderen vereinfachenden Annahmen, die wir brauchen, stellen geringere Anforderungen. Es gelten die einfachen demokratischen Regeln. Die Macht im Staat wird als Belohnung an einen Kandidaten verliehen, und zwar auf Grundlage eines Vergleichs der im offenen Wettbewerb abgegebenen Angebote, die Umverteilungspolitiken zum Inhalt haben. Der aktuelle Machtinhaber ist der Staat. Wenn ein anderer Konkurrent das Amt erhält, dann wird er der Staat. Die Amtszeit gilt für eine bestimmte Zeitspanne. Es gibt Vorkehrungen im Falle vorläufiger Beendigung – „Abwahl“ –, falls das Verhalten des Staates einen gravierenden Bruch mit dem versprochenen Angebot darstellt. Gäbe es keine Abwahl und wäre die Zeitspanne der zugesicherten Amtszeit lang genug, dann könnte der Staat eine Sache versprechen und eine andere tun und dabei der Gesellschaft die entsprechenden neuen Vorlieben, Gebräuche und Süchte einimpfen sowie Unterstützung für das entlocken, was er getan hat, statt für das, was er nach eigenen Worten tun wollte. Obgleich dies in der wirklichen Politik offenkundig stattfindet, und das Regieren ansonsten kaum möglich wäre, würde unsere Untersuchung ungemein kompliziert werden, wenn wir dies nicht durch die Postulierung einer einfachen Abwahl ausschlössen. Die Verleihung der Staatsmacht erfolgt durch Wahl und einfache Mehrheit. Jeder eine Stimme und geheime Wahlen. Der Eintritt in die Politik ist frei, jeder kann mitbieten. Unter diesen Voraussetzungen liegen gegen Ende einer jeden Amtszeit der Staat und die Opposition im Bieterwettbewerb um die Wählerstimmen. Das höchste Angebot erhält zur vereinbarten Zeit die neue Amtszeit als Lohn. Aber welches Angebot ist das höchste? Weder der Staat noch einer der Mitbewerber hat Geld anzubieten, das nicht schon jemandem in der Gesellschaft gehört. Daher kann auch niemand der Zivilgesellschaft eine Gesamtnettosumme anbieten, die größer null wäre. Dennoch kann jeder anbieten, einigen Personen etwas Geld zu geben, indem mindestens genau so viel anderen weggenommen wird. (Es erleichtert die Darstellung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wenn man die Besteuerung als einen kostenfreien Vorgang unterstellt.) Die Umverteilungspolitik, die ein solches Angebot enthält, kann man als ein Gebot mit Preisdiskriminierung verstehen, wobei für einige Stimmen ein positiver Preis angeboten wird, und für andere ein negativer. Die entscheidende Klausel dabei ist, dass dann, wenn das betreffende Gebot den Zuschlag erhält, die Menschen, für deren Stimme ein negativer Preis geboten wurde, diesen Preis zahlen müssen, egal wie sie gewählt haben. (Es dürfte wohl offensichtlich sein, dass die Personen, für deren Stimme ein negativer Preis geboten wurde, rationalerweise entweder für oder gegen das betreffende Gebot stimmen, und zwar je nachdem, wieviel ein rivalisierendes Gebot, sollte dieses den Zuschlag erhalten, von ihnen als Zahlung verlangen würde.) Das Argument verliert nichts von seiner Gültigkeit, wenn wir das 2-Parteien-System nachstellen und nur zwei rivalisierende Gebote betrachten, wobei eines vom amtierenden Staat und eines von der Opposition eingereicht wird (die auch
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4. Kapitel: Umverteilung
eine Koalition sein kann), und wenn wir annehmen, dass es für potentielle Konkurrenten leicht genug ist, den Staat und seine Opposition davon abzuhalten, sich abzusprechen, um die Beute teilen und die Stimmen unter Preis kaufen zu können. (Das politische System Amerikas hat allerdings in den letzten Jahren Anzeichen beginnender Absprachen gezeigt, und zwar in Gestalt der Zweiparteienkommission, die an die Stelle der Gesetzgebung unter Widersachern trat, und nachdem der Wettbewerb zu Pattsituationen geführt hatte, z. B. beim Thema Haushaltsdefizit oder mangelnder Kontrolle über die Ausgaben im Bereich der sozialen Absicherung. Der einfache Zugang neuer Konkurrenten und viele andere eingebaute Wettbewerbselemente machen es m.E. trotz der Attraktivität von Absprachen recht unwahrscheinlich, dass das Regieren via Zweiparteienkommission weit darin käme, die grundsätzliche Rivalität zwischen denen, die „drin“ sind, und denen, die „draußen“ sind, zu verdrängen.) Wenn die Gesellschaft nur nach Reichtümern differenziert wird, dann können sich der Staat und die Opposition nur zwei Rollen teilen, nämlich Verfechter der Reichen oder Verfechter der Armen zu sein. Wer welche Rolle einnimmt, mag von den Zufällen der Geschichte abhängen. Für unsere Zwecke kann es auch durch das Werfen einer Münze entschieden werden. Der Bieter mit dem Zuschlag muss 50,1 % der Stimmen attrahieren. Dann gibt es immer 49,9 % der Menschen, deren Geld man nutzen kann, um die Stimmen der 50,1 % zu erkaufen. Der Erkauf größerer Prozentteile wäre reine Verschwendung. Unter dieser Bedingung sollte kein rational Bietender positive Preise für mehr als 50,1 % anbieten. Andernfalls könnte er logischerweise nur weniger als 49,9 % der Menschen Geld wegnehmen. Er würde vorschlagen, eine geringere Gesamtsumme unter die Menschen zu verteilen. Beim Versuch, zu viele Stimmen zu bekommen, wäre er gehalten, jedem einen geringeren Preis anzubieten. Er würde von seinen Mitbewerbern überboten, weil diese (wie künftige Generale es gelernt haben) ihre Munition dafür aufgespart haben, die notwendige und ausreichende einfache Majorität zu bekommen. In diesem stromlinienförmigen Politikwettbewerb würde jedes andere Ergebnis als das sprichwörtliche Kopf-an-Kopf-Rennen belegen, dass mindestens einer der Konkurrenten nicht richtig gerechnet und seinen Sieg an den anderen verschenkt hat. So weit, so gut. Dieses vereinfachte Schema gibt die Tendenz gebührend wieder, die in der komplizierten realen Welt herrscht. Dort steht es bei demokratischen Wahlen in Zweiparteiensystemen meistens Spitz auf Knopf, und fähige Fachleute auf beiden Seiten sind bestrebt, für jeden alles zu sein und ihre Wahlversprechen genau abzustimmen. Was indes unvorhersagbar zu sein scheint, ist der Gewinner. Wir wissen, dass der Höchstbietende gewinnt. Aber wir wissen nicht, was die konkurrierenden Bieter ausgehandelt haben. Nehmen wir z. B. an (wobei diese Annahme unserem Argument keinen unfairen Vorteil verschafft), dass man, sagen wir, 10 mal so viel Steuern von der reichen Hälfte der Gesellschaft kriegen kann als von der armen Hälfte, und dass jeder der Konkurrenten um die Staatsmacht die Besteuerung der einen oder der anderen Hälfte vorschlagen kann, aber nicht beide auf einmal. Die letzte Bedingung
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macht die Umverteilung in bequemer Weise transparent, auch wenn es natürlich möglich ist, ohne Rücksicht auf diese Bedingung umzuverteilen. Wir wollen außerdem annehmen, dass beide Konkurrenten dieselbe Vorstellung von der steuerlichen Belastungsgrenze haben, und dass diese über dem liegt, was sie einer von den beiden Hälften der Gesellschaft erst gar nicht zu entziehen versuchen. „Steuerliche Belastungsgrenze“ ist ein irritierender und nebulöser Begriff, auf den ich später zurückzukommen habe, wenn ich die Ursachen des „Umrührens“ behandle. Er wird für gewöhnlich im Sinne eines wirtschaftlichen Leistungsvermögens verwendet und hat mit den Effekten zu tun, die sich aus den unterschiedlichen Besteuerungsgraden ergeben, die auf Einkommen, Umsatz, Anstrengungen und Unternehmen161 erhoben werden können, wobei man implizit unterstellt, dass die Leistungsbereitschaft, die jeder bei der Bewältigung seiner Aufgaben zeigt, unter anderem davon abhängt, wie stark er besteuert wird. Ich verwende diesen Begriff sowohl in diesem Sinne als auch in einem, der ihm entspricht, und verstehe darunter eine Relation zwischen der Besteuerung und der Bereitschaft der Untertanen, den Regeln des politischen Systems zu folgen, unter denen ein bestimmter Teil ihres Einkommens oder Wohlstands ihnen weggenommen wird, und zwar unter der impliziten Annahme, dass mit der Größe dieses Anteils das Gefühl nachlässt, mit dem sich der Einzelne an den Respekt gegenüber Regeln gebunden sieht, die ihm so viel aufzugeben abverlangen. „Belastungsgrenze“ suggeriert, dass es eine Grenze gibt, jenseits der die wirtschaftliche oder politische Toleranz schwindet, vielleicht sogar abrupt. Sowohl im wirtschaftlichen wie auch im politischen Sinne ist der Begriff von Nebel bedeckt. Bislang hat keiner die Umrisse dieser Relation überzeugend dargestellt, ganz zu schweigen, dass jemand ihre Grenze vermessen hätte. Diskussionen darüber neigen dazu, sich in reiner Rhetorik zu verlieren. Wenn wir aber nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass sich jeder Gesellschaft irgendwann in ihrer Geschichte solche Grenzen zeigen und dass es Jahre braucht – soll heißen, eine lange Zeitspanne oder große Ereignisse in kurzer Folge –, um sie auch nur einen Zoll breit zu verschieben, dann ergibt vieles von dem, das zu den gesellschaftlichen Angelegenheiten zählt, für uns keinen Sinn mehr. Im Zusammenhang mit den von uns untersuchten Problemen würde es z. B. keinen vernünftigen Grund dafür geben, warum der Staat, beflügelt vom demokratischen Wettbewerb, große Teile der Gesellschaft, vielleicht sogar die Hälfte, nicht einer Marginalsteuer von 100 % unterwerfen sollte. (Wenn es keinerlei „Steuerbelastungsgrenze“ gäbe, über die hinaus nicht besteuert werden kann, ohne eine hohe Wahrscheinlichkeit politischer oder ökonomischer Anomie, Turbulenz, Verweigerung und Zerrüttung von möglicherweise obskurer Art zu erzeugen, die in ihren Einzelheiten nicht vorhersagbar, aber auf 161 Gäbe es solche Effekte nicht, dann entspräche die steuerliche Belastungsgrenze dem Einkommen, d. h., der infrage stehende Begriff wäre vollkommen überflüssig. Man könnte das Einkommen der Menschen mit 100 % besteuern, weil dies weder ihre Fähigkeit noch ihre Bereitschaft, weiterhin ihr Einkommen zu erwirtschaften, in adverser Weise berühren würde.
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jeden Fall inakzeptabel sind, dann müsste es von heute auf morgen möglich sein, jeden mit 100 % zu besteuern – „jeden nach seinen Möglichkeiten“ – und jeden zu subventionieren – „jeden nach seinen Bedürfnissen“ –, ohne die Gesellschaft zuvor durch die Phase einer proletarischen Diktatur schicken zu müssen. Ungeachtet seiner offensichtlichen Zweckdienlichkeit kann ein solches Programm Sozialisten kaum reizen. Wenn sie zu wählen hätten, würden sie wahrscheinlich lieber darin zustimmen, dass die steuerliche Belastbarkeit ihre Grenzen habe, als ihre Forderung nach einer grundsätzlichen Änderung der „Produktionsverhältnisse“, d. h. nach Abschaffung privater, kapitalistischer Eigentümerschaft, aufgeben.) Weil das Gewinnergebot eines ist, das von nicht weniger als 50,1 % der Wähler „akzeptiert“ wird, versuchen die beiden Konkurrenten, die Gewinnerkombination aus positiven und negativen „Preisen“ für 49,9 % der reichsten, 49,9 % der ärmsten und 0,2 % der mittleren Wählerschaft zu treffen. (1) Die reiche Partei könnte vorschlagen, die Armen zu besteuern, das so eingesammelte Geld an die eigene Wählerschaft und (damit eine Mehrheitskoalition gebildet werden kann) an die mittlere Wählerschaft zu verteilen. Die arme Partei könnte dementsprechend vorschlagen, die Reichen zu besteuern und die Einnahmen an ihre eigene arme und an die mittlere Wählerschaft zu transferieren. Tabelle 1 zeigt uns, was wir dann erhielten. Tabelle 1 Angebot der reichen Partei An die Reichen An die Mitte An die Armen
}+1 –1 0
Angebot der armen Partei –10 }+10 0
(2) Die reiche Partei würde aber sofort erkennen, dass ihr o.g. Angebot (1) unweigerlich zurückgewiesen würde, weil aus den Steuern der reicheren Hälfte immer mehr Geld zum Kauf der Stimmen aus der Mitte zur Verfügung steht als aus den Steuern der armen Hälfte. Daher muss sie der armen Partei die Kleider stehlen und sich gegen die eigene Wählerschaft stellen. (Das ist es auch, was reiche Parteien in wirklichen Demokratien tun.) Tabelle 2 zeigt, wie die beiden Gebote dann im Vergleich aussehen. Tabelle 2 An die Reichen An die Mitte An die Armen
Angebot der reichen Partei –9 +9 0
Angebot der armen Partei –10
0
0
}+10
(3) Gemäß (2) würde die reiche Partei gewinnen. Sie erhielte die Zustimmung der Reichen, die es vorzögen, wenn man ihnen 9 statt 10 Punkte wegsteuern würde, sowie die Zustimmung der Mitte, die lieber den ganzen Gewinn hätte, als ihn mit den Armen zu teilen. Allerdings ist „der Weg ins Mittelfeld“ ein Spiel, das zwei spielen können. Um im Rennen zu bleiben, müssen beide es spielen. Deshalb ist das Ergebnis das in Tabelle 3.
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Nun kann keiner der Konkurrenten sein Angebot weiter verbessern. Logisch betrachtet sind beide dazu in der Lage, den Konsens der Mehrheit sicherzustellen. Die Reichen stimmen für das Angebot der reichen Partei, und die Armen für das Angebot der armen Partei. Die Mitte ist mit Blick auf die beiden Angebote indifferent. Für sie ist es gleichermaßen rational, der oberen bzw. der unteren Hälfte beizutreten oder eine Münze zu werfen.162 Tabelle 3 An die Reichen An die Mitte An die Armen
Angebot der reichen Partei –9 +9 0
Angebot der armen Partei –10 +9 +1
0
0
162 Robert Nozick (1974) kommt in seinem Buch Anarchy, State and Utopia, S. 274 f., zu einer anderen Schlussfolgerung (bei gleichen Regeln und Spielern). Er hält die reiche Partei für den klaren Gewinner. Nozicks Argument ist, „dass eine untere Wählerkoalition sich nicht bilden wird, weil es die Spitzengruppe weniger teuer zu stehen kommt, die schwankende Mittelgruppe einzukaufen, als die Koalition sich bilden zu lassen; die oberen 49 % können immer gewinnen, indem sie den mittleren 2 Prozent etwas mehr anbieten, als es die untere Gruppe tun würde.“ „Die Spitzengruppe kann immer die Unterstützung der schwankenden 2-Prozent-Mittelgruppe erkaufen, um Maßnahmen abzuwehren, die ihre Rechte ernsthafter verletzen würden.“ Ich kann nicht erkennen, warum dies so sein sollte. Der oberen wie der unteren Koalition steht die gleiche Gewinnoption offen. Diese enthält das, was die untere Koalition bekommt oder die obere Koalition behält, wenn die Koalitionsbildung klappt. (In meinem Beispiel beträgt der Gesamtgewinn 10. Statt Minorität zu werden, würden die oberen und die unteren 49 % gewinnen, indem sie den mittleren 2 % ein Angebot für den Fall einer Koalitionseinwilligung machten. Die Mittelgruppe würde das höhere Angebot annehmen. Das maximale Angebot umfasst natürlich den Gesamtgewinn (10 für beide Parteien). Wenn nun eine von beiden der Mittelgruppe den gesamten Gewinn anböte, um Teil der Mehrheitskoalition zu werden, dann könnte sie auch genauso gut ihr Angebot zurückziehen und weiterhin die Minorität bilden. In dem Fall würde sich das Spiel nicht lohnen. Also wäre das größte Angebot, das beide Parteien rationaler Weise der Mitte unterbreiten können, der Gesamtgewinn abzüglich der Summe, die es braucht, damit es sich für die jeweiligen Parteien lohnt, mit der Mitte zu koalieren, statt die Niederlage einfach hinzunehmen. Diese Summe kann groß oder klein sein. (Ich verwendete in meinem Beispiel den Wert 1). Mehr wissen wir nicht. Aber wie groß sie auch ist, sie ist für beide Hälften der Gesellschaft gleich groß. Daher sind die untere Koalition und die obere Koalition gleich wahrscheinlich, und somit ist das Ergebnis unbestimmt. Damit die gegenteilige Folgerung schlüssig ist, müsste der Anreiz zur Koalition mit der Mitte für die Armen größer sein als für die Reichen. Es scheint aber keinen besonderen Grund für die Annahme zu geben, dass dies eher der Fall als nicht der Fall wäre – zumindest kann ich keinen erkennen. Bevor wir im Text weitergehen, sollten wir festhalten, dass in Nozicks Schema die obere und die untere Gruppe die Mühe auf sich nehmen müssten, mit der Mitte eine Koalition auszuhandeln. In unserem Schema befreien Staat und Opposition die Gruppen von dieser Last, indem sie ihnen einen fertigen Handel anbieten, für oder gegen den die Gruppen im Rahmen einer Wahl stimmen können.
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4. Kapitel: Umverteilung
Der aufmerksame Leser wird schon erahnen, dass der oben dargelegte schlichte Mechanismus, mittels dessen die Demokratie Umverteilung erwirkt, mutatis mutandis auch funktionieren würde, wenn die Verfassung Umverteilung verbieten würde. (Seinerzeit sollten der vierte und fünfte Zusatz zur amerikanischen Verfassung dies verhindern.)163 Wenn man nicht um die Verfassung herumkommt, z. B. indem man die Verfassungswächter zähmt, dann muss man die Verfassung eben verbessern, modernisieren und den gegebenen Verhältnissen anpassen. Statt der 50 % ist es dann halt die qualifizierte Mehrheit, welche die Verfassung für ihre Ergänzung erfordert. Die wird dann zur gesellschaftlichen Grenzlinie von unten und oben, von arm und reich. Zumindest dann, wenn man annimmt, dass der Konsens nur eine Funktion alternativer Angebote zur Verwendung öffentlicher Gelder ist, sind die Auszahlungen, aus denen jenes Umverteilungsangebot geschneidert wird, das die Unterstützung für die Verfassungszusätze sicherstellt, genau das Geld, das man der blockierenden Minderheit im Anschluss an den Verfassungszusatz wegnehmen kann.164 Die artifizielle Mechanik rivalisierender Politikangebote, welche die gleichermaßen künstlichen Ergebnisse der fein ausbalancierten Unwägbarkeiten einer Wahl hervorbringen, muss man natürlich mit Vorsicht genießen. Ungeachtet all ihrer Abgeklärtheit und Finesse bei der Gestaltung ihrer Wahlbühnen können weder der Staat noch seine Opposition ein Verführungsmuster auf die Beine stellen, das für das erforderliche Resultat präzise genug wäre. Aber auch die Wähler würden die Preise, die man für ihre Unterstützung anböte, nicht korrekt verstehen und einschätzen können, wie sich die komplexen Umverteilungsmaßnahmen auf ihr Einkommen auswirkten. Viele dieser Maßnahmen dürften den Gewinnern weitaus lukrativer und den Verlierern weniger kostspielig angepriesen werden, als es dann in Wirklichkeit der Fall wäre. Unwissenheit und Unvorhersehbarkeit dessen, was wirklich eintreten würde, aber auch die Undurchsichtigkeit sozialer und ökonomischer Vorgänge sind nicht nur ein Handicap für die Wählerschaft, sondern auch für jene, die um deren Unterstützung werben. Selbst dann, wenn die Rivalen dieselben Daten verwendeten und bei den Meinungsforschern dieselben Umfrageergebnisse einlaufen würden, könnte keiner der beiden Konkurrenten es riskieren, allzu dicht neben dem anderen herzusegeln. Hinzu kommt, dass in Wirklichkeit die heiß umworbene Mitte viel größer ist und ihre Umverteilungsvorteile weitaus verwässerter sind als in unserer Darstellung. Trotz aller Künstlichkeit bringen die Beobachtungen zur Arbeitsweise unserer schematisierten Darstellung der Wahldemokratie doch mehr zutage, als das bloße Betrachten des Räderwerks es je könnte. Sie bestärken auf die einfachste nur denkbare Art eine Annahme, die intuitiv einleuchtet: Materielles Interesse alleine reicht nicht aus, um vorherzubestimmen, welchem der Konkurrenten die Macht zuerkannt wird, weil diese, wenn auch unter unterschiedlichen Flaggen, zu guter 163 Vgl.
Hayek (20054), S. 257 ff. zur „eigenartige[n] Geschichte des Due Process“. 25 % den Verfassungszusatz blockieren können, dann entsprechen die Auszahlungen genau dem, was man aus 24,9 % herausholen kann, um auf 75,1 % zu kommen. 164 Wenn
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Letzt im Kern um dieselben Interessen buhlen, und das mit so ziemlich denselben Gewinnaussichten. Vertrauter ist man wohl mit der entsprechenden „Konvergenz der Programme“, also der Tendenz (die manche für eine Stärke der Demokratie halten), die Bandbreite, innerhalb derer politische Maßnahmen (und die Erscheinungsbilder der um hohe Ämter buhlenden Kandidaten) wählbar bleiben, einzuengen. Die Rückseite der Medaille ist natürlich die Klage der Nonkonformisten, dass die Wahldemokratie echte und unterscheidbare Alternativen ausschließe. Es ist das Prinzip der öffentlichen Wahl, dass am Ende wenig zu wählen übrig bleibt. Unsere Auffassung einer „reinen“ Umverteilungsart (von den Reichen zur Mitte durch Steuern und Transfers), die der Staat angesichts seiner Konkurrenten in der Wahldemokratie unter bestimmten vereinfachten Annahmen sich zu eigen machen würde, ist für die allgemeine Umverteilungstheorie das, was in der Ökonomie der perfekte Wettbewerb für die Theorie des Produzentenverhaltens ist. Sie ist ein Trittstein oder ein heuristisches Mittel, ohne dessen Hilfe allgemeinere Aussagen nicht klar genug hervorgingen. Obwohl ich nicht behaupte, eine allgemeine Umverteilungstheorie aufzustellen, und es für meinen Beweisgang auch nicht muss, skizziere ich im Rest dieses Kapitels einige Bausteine, die aussehen, als wären sie Teil einer solchen Theorie. Ich beabsichtige, mit ihnen Teile der Dynamik zu erklären, mit der die Zivilgesellschaft, nachdem sie von der Umverteilung abhängig geworden ist, ihren Charakter ändert und den Staat dazu auffordert, „ihre Angewohnheit zu nähren“. Vom Nutznießer zum Verführer, die Rolle des Staates wandelt sich zu der eines Arbeitsesels, der sich an eine illusorische Macht klammert und dennoch nur in der Lage ist, eine von Grund auf undankbare Aufgabe zu erfüllen. Wie wir gesehen haben, wird Konsens im Großen und Ganzen nicht durch Handlungen erkauft, mit denen der Staat der Mehrheit auf Kosten der Minderheit ein für alle Mal hilft. Helfen und hindern müssen Prozesse sein, die einen gewünschten Zustand erhalten und ohne die der Zustand sich in einen anderen verwandeln würde, der dem vorherigen ähnlich (aber nicht genau gleich) wäre. Die Bestie muss unentwegt gefüttert werden. Und wenn dies unter den Bedingungen eines offenen demokratischen Wettbewerbs von statten zu gehen hat, dann muss alles, was der Staat seinen Bürgern an Freiheit und Eigentum wegnehmen kann, an andere umverteilt werden. Wenn der Staat dies nicht täte, dann würde das Umverteilungsangebot seines Rivalen das des Staates schlagen und die Macht in andere Hände übergehen. Die Dauer der Macht hängt also davon ab, dass die Macht nicht nach dem Ermessen des Staates genutzt wird. Die Ressourcen, die der Staat befehligt, müssen vollständig auf den Erwerb der Macht verwendet werden. Die Einnahmen entsprechen damit den Kosten, und der Ertrag dem Einsatz. Hier drängt sich die Analogie zum Unternehmen auf, das im Zustand des Equilibriums den Profit nicht weiter maximieren kann, als die Deckung der Faktorkosten (einschließlich der Löhne) verlangt. An dieser Stelle stoßen wir nun mit der Theorie des Staates zusammen und nähern uns dem Kern der Sache. Wenn die Crux, Staat zu sein, darin läge, Macht zu haben (d. h., wenn dies der Maximand, das Ziel des Staates wäre), dann würde der
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4. Kapitel: Umverteilung
Satz, dass der Staat seine Macht maximiert habe, in einer Situation, deren Gleichgewichtsbedingungen wir oben abgeleitet haben, wenig bedeuten. Gesellschaftliche Macht ist, wie uns Max Weber gelehrt hat, die Fähigkeit des Machtinhabers, durch Rückgriff auf eine Kombination aus physischer Gewalt und Legitimität einen anderen zu einer Handlung zu bewegen, die dieser sonst unterlassen hätte. Der demokratische Staat hat in seinem Kern die Fähigkeit, die Bürger der Zivilgesellschaft dazu zu bringen, bestimmte ihrer Güter aufzugeben. Ohne seine „Macht“ würden sie das sonst nicht tun. Aber es liegt nicht in seiner Hand, dass sie mehr oder weniger aufgeben. Er würde an „Macht“ verlieren, wenn er es versuchte. Er muss einer Untergruppe S der Gesellschaft eine Summe T besteuern, und er muss T‘ an eine andere Untergruppe U umverteilen. Er kann S noch U verändern, und er kann nicht T variieren und T‘ zu knapp ausfallen lassen. Auf die Gefahr hin, ausgebootet zu werden, darf er nicht seinen Sympathien nachgeben, dem eigenen Geschmack frönen, seinen Hobbies nachgehen, „Politik machen“ oder im Allgemeinen das Wohl verfolgen, wie er es versteht.165 Obwohl er einen anderen dazu bringen kann, etwas zu tun, das dieser sonst nicht machen würde, kann er das, wozu er ihn bringen wird, nicht auswählen. Ihm fehlt die andere Wesenseigenschaft der Macht: Ermessen. Wenn Macht als Ziel an sich bedeutete, „an der Macht zu sein“, dann wäre es dem Machthaber egal, dass er die Macht nur in einer einzigen Form zu nutzen hat, also nur für dies und nicht für das, Hauptsache er hat die Macht. Aber man erhielte eine ziemlich dürftige Theorie, wenn man die Rolle des Maximanden damit ausfüllen würde. In ähnlicher Weise würden wir bei einer reinen Snobismustheorie enden, wenn wir meinten, der Zweck einer adligen Existenz liege allein in ihrem Adelstitel und man könne Güter, Privilegien, Ethos sowie gesellschaftliche und ökonomische Funktion weglassen. Der Staat könnte diese Art von Restmacht also weder nutzen noch ausbauen. Er könnte sie nur haben oder nicht haben. Wenn er sich damit zufrieden gäbe, dann wäre die reine Wahldemokratie eine Art Endstation der politischen Entwicklung, und unsere Überlegungen wären in der Sache am Ende. Die Befreiung von zusätzlicher Arbeit mag zwar für den Autor und seinen Leser ein willkommenes Nebenprodukt sein, aber man würde die Erfahrungen der Geschichte kaum angemessen wiedergeben, wenn man einräumte, der Staat würde im Sinne eines derart hohlen und fast leeren Machtbegriffs motiviert. Es widerspräche dem offensichtlichen Streben des Staates nach mehr Autonomie und Ermessensspielraum bei der Wahl der Handlungen, zu denen er die Menschen nötigen will; zumindest erklärte es dieses Streben nicht. Nur der Wille, Macht als ein Mittel zu haben, kann dies angemessen erklären. Die Logik des Wettbewerbs ist dennoch so, dass die demokratische Macht letztlich zur Antithese der Auffassung wird, Macht sei ein Mittel zur freien Wahl der Ziele. Dass man am Ende wieder da ankommt, wo man begann, zeigt einmal mehr, dass die entlegenen Konsequenzen der Handlungen in und an der Gesellschaft meistens 165
Vgl. den Aufsatz March (1966).
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unbeabsichtigt und unvorhergesehen oder beides sind. Ein Staat, der hauptsächlich mittels Zustimmung statt durch Repression cum Legitimität regieren will, kann zum Opfer werden, wenn es ihm an Voraussicht, Willensstärke oder Konsistenz mangelt. Es könnte also durchaus rational sein, wenn er auf der Suche nach mehr Manöverspielraum, bereitwilligerem Gehorsam, weniger Abhängigkeit von zu engen Klassenkonzepten – kurz, auf der Suche nach mehr Ermessensspielraum – sein Heil in demokratischen Reformen suchte, um die Konsensverlässlichkeit auszubauen. Zu Beginn hat er seine Bürger gezielt provoziert, Anforderungen an ihn zu stellen, so wie ein Verkäufer die Werbetrommel für seine Waren rührt, indem er Kostproben verteilte und Referenzen vorwies, um einen politischen Markt zu erzeugen, in dem man Konsens im Austausch gegen die staatliche Bereitstellung von Nutzen und Gleichheit erhält. Am Ende des Tages (wobei solche Tage meistens ein Jahrhundert dauern) stehen solche Staaten auf ihre Art aber ziemlich genau mit leeren Händen da. Ihre politischen Maßnahmen werden von den Anforderungen des wettbewerblichen Wahlgleichgewichts entschieden, und es fällt zunehmend schwerer, sich zu behaupten. Es ist dann eine rein akademische Frage, ob sie diese Art von Ergebnis hätten vorhersehen können. Eigentlich konnten sie es nicht. Zu ihrer Entschuldigung muss man sagen, dass sie weniger gewarnt waren als Adam, bevor er vom Baum der Erkenntnis aß.
Abhängig machende Umverteilung Hilfe und Not füttern sich gegenseitig. Ihr Zusammenspiel kann zu einem unkontrollierten Kumulationsprozess ausarten.
Indem der Staat Ansprüche schafft und Interessengruppen formt, ändert er das Bild der Gesellschaft auf deren Kosten. Umverteilung kann in zweierlei unterschiedlichen, aber verwandten Hinsichten süchtig machen. In dem einen Fall ist das Verhalten von Personen und Familien betroffen – die Keimzelle der Gesellschaft. In dem anderen Fall trifft es die Gruppen und damit die stärker sichtbaren „strukturellen“ Eigenschaften der Gesellschaft. Wenn man die beiden im Sinne einer einzigen Gruppentheorie verquickt (schließlich können wir immer sagen, Familien seien kleine Gruppen und einzelne Individuen unvollständige Gruppen), dann mag man zwar von der Eleganz der größeren Allgemeinheit profitieren, aber mir scheint die separate Behandlung für mehr Klarheit zu sorgen. Die Grundgedanken zu den bei Personen und Familien auftretenden verhaltensformenden Wirkungen der Umverteilung sind alt und recht abgedroschen. Ihr Anklang in der Öffentlichkeit erreichte mit Cobden und Herbert Spencer ihren Zenith. (Den beiden mag man das eigenartige amerikanische Phänomen W.G. Sumner an die Seite stellen.) Seiher haben sie viel von ihrem Wert eingebüßt, und das aus
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keinem anderen Grund als dem, dass Tugend langweilt.166 Die viktorianischen Predigten über Selbstständigkeit und darüber, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen, oder auch über die Zersetzungswirkungen der Wohltätigkeit sind aus dem öffentlichen Diskurs so gut wie verschwunden. Auf der anderen Seite hat der vollentwickelte Wohlfahrtsstaat seine Wirkung inzwischen lange genug entfaltet und das Leben der breiten Gesellschaftsschichten derart durchdrungen, dass man heute diese Dinge mit Hilfe von Theorien erklären kann und man nicht mehr den moralischen Zeigefinger zu heben braucht. Im Sinne einer recht allgemein gehaltenen Hypothese kann man behaupten, dass erzwungene Hilfeleistungen, die über einen längeren Zeitraum gewährt werden, nach einer gewissen Zeit auf zahlreiche, nicht näher spezifizierte Weisen auf das menschliche Verhalten abfärben. Man sollte z. B., um es näher zu veranschaulichen, annehmen, dass das Erfahren von Hilfeleistungen die Menschen erwarten lässt, dass man ihnen wohl auch in Zukunft helfen wird. Einige der selbstverstärkenden, kumulativen Eigenschaften der Bereitstellung sozialer Wohlfahrt dürfte zu der etwas spezifischeren Hypothese einladen, dass mit dem Ausmaß, in dem man einer Person in deren Not hilft und diese die eintreffende Hilfe für wahrscheinlich hält (bis der Grenzfall der Gewissheit erreicht ist, d. h. bis sie Anrechte besitzt), die Abhängigkeit dieser Person von der Hilfe wächst. Im Einklang mit dem üblichen Verhältnis zwischen Praxis und Vermögen wird also das Vermögen, sich selbst zu helfen, mit zunehmender Hilfe geringer. Auf die Dauer züchtet Hilfe eine Abhängigkeit heran, und damit die Wahrscheinlichkeit eines Bedürfnisses nach Hilfe. Gewohnheit ist nicht nur eine temporäre Anpassung an vorübergehende Bedingungen. Sie impliziert mehr als Änderungen im momentanen, kurzfristigen Verhalten. Sie ändert den Charakter. Diese Änderungen mögen bis zu einem gewissen Grad irreversibel sein. Es fällt zunehmend schwerer, die betreffende Hilfe zu entbehren und sich umzugewöhnen. Irgendwann kann es die Ausmaße einer persönlichen Katastrophe, gesellschaftlichen Krise oder politischen Unmöglichkeit annehmen. Der Aufschrei und die Unruhe, die gegenwärtig die Versuche (die ich hier nach dem mir erscheinenden Grad ihrer Ernsthaftigkeit aufzähle) in Holland, Großbritannien, Deutschland, Schweden und Amerika zur geringfügigen Eindämmung der Wohlfahrtsausgaben in Relation zum Bruttosozialprodukt hervorgerufen haben, eignen sich recht gut dazu, im Sinne von „Entzugserscheinungen“ gedeutet zu werden, nämlich die in einer Phase, in welcher der Süchtige eine zunehmend größere Dosis der süchtig machenden Substanz verlangt, um seine „Gewohnheiten zu füttern.“167 166 Herbert Marcuse kommt wohl das Verdienst zu, den alten Glauben daran, dass Umverteilung den Charakter des Empfängers schwäche, wiederbelebt zu haben, wenn auch in einer eher wortkargen Version. S.E. fügt das Individuum, indem es sich in die Abhängigkeit zum Wohlfahrtsstaat fügt, sich selbst Schaden zu. (Marcuse (1969), S. 4.) 167 Die OECD berichtet 1983, dass in den sieben größten Ländern im Zeitraum 1960 – 1981 die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge und Arbeitslosenhilfe von durchschnittlich 14 % auf 24 % des BIP gestiegen seien. Dieses Wachstum ist
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In Gesellschaften mit intensiver Umverteilung kann man beobachten, wie die Anpassung von Verhalten und Charakter an ausstehende öffentliche Hilfen auf direktem Weg zu Prozessen der Verselbständigung führt. So weicht z. B. ein gewisses Maß an öffentlicher Fürsorge um das Wohlergehen von Müttern und Kindern die für den Familienzusammenhalt prägenden materiellen Härten auf, oder lässt sie gar ganz verschwinden. Die Absicherung der materiellen Bedürfnisse für Mutter und Kind verleitet einen gewissen (wenn auch nicht notwendigerweise einen beträchtlichen) Teil der Väter, die beiden zu verlassen; etwas, das er sonst nicht getan hätte. (Wer sich noch an die Ära der Großen Gesellschaft in Amerika erinnert, der weiß, dass die Diagnose dieses Phänomens Daniel P. Moynihan viele unverdiente Beschuldigungen und Rassismusvorwürfe eingebracht hat, obwohl die Fakten sich gut gegen die Angriffe behaupten konnten.) Die Desertion der Väter raubt der geschrumpften Restfamilie weitgehend die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. In der Folge brauchen Ein-Eltern-Familien mehr Zuwendung und eine umfänglichere Unterstützung. Wird diese Hilfe erst einmal verlässlich gewährt, dann ermuntert dies einen gewissen (anfänglich vielleicht nur kleinen) Teil der unverheirateten jungen Frauen, Kinder zu bekommen (oder sie früh zu bekommen). Auf diese Weise werden zusätzliche unvollständige Familien entstehen. Deren Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, ist gering. Folglich steigt das Bedürfnis nach öffentlicher Unterstützung weiter an. Auch die Abhängigkeit von ihr breitet sich nun soweit aus, dass man sie nicht mehr als einen Affront gegen die Klassen- und Gemeinschaftsstandards rücksichtsvollen Verhaltens ansieht. Die öffentliche Fürsorge für alte Menschen dürfte weitgehend ähnliche Reaktionen auslösen, wenn damit die Nachkommen von ihrer Verantwortung befreit werden, und davon, ihren Beitrag zur Selbstversorgung und gegen die Vereinsamung der Großeltern zu leisten, die ohne staatliche Hilfe ganz selbstverständlich mit ihren Nachkommen zusammenleben würden. Ähnliches gilt für jene Menschen, die im Sinne der allgemeinsten Form der Altersvorsorge Kinder gezeugt und großgezogen haben und nun auf den Staat als ihren Absicherer vertrauen. Egal, ob der daraus resultierende Rückgang der Geburtenrate eine gute Sache ist oder nicht, er löst demographische Schockwellen aus, die eine Gesellschaft über Generationen hinweg empfindlich treffen können, unter anderem dadurch, dass sie die Finanzierung der auf einem Schneeballsystem basierenden, rücklagenlosen, öffentlichen „Altersversicherung“ gefährden.
nicht in erster Linie auf eine Zunahme der Arbeitslosigkeit zurückzuführen, und auch nicht auf demographisches Pech (wobei die Auswirkungen von Letzterem hauptsächlich in der Zukunft stattfinden). Die OECD stellt fest, dass jene „Bevölkerungsteile, die zunehmend vom Wohlfahrtsstaat abhängig geworden sind, weiterhin Unterstützung erwarten“ und dass einige hochgesteckte Annahmen über das künftige Wachstum der Kosten bestehender Ansprüche sowie über das künftige Wirtschaftswachstum eintreten müssten, damit die wachsenden Zuwendungen nicht mehr als den gegenwärtigen Anteil am BIP verschlängen. Die OECD enthält sich der Prognosen darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass die gegenwärtige Wirtschaftsleistung diesen Anforderungen gerecht werden kann.
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Ähnliche Abläufe, bei denen die Auswirkungen zu den Ursachen für weitere Auswirkungen derselben janusköpfigen Sorte werden, dürften in vielen anderen Bereichen am Werk sein, in denen Umverteilungshandlungen stattfinden oder zumindest ähnlich vonstattengehen. Das gemeinsame Merkmal ist die langfristige Anpassung des persönlichen und familiären Verhaltens an die Bereitstellung unentgeltlicher Hilfsmittel, die zunächst passiv hingenommen wird, dann nachgefragt und schließlich nach einiger Zeit als durchsetzbares Recht angesehen wird (z. B. das Recht, nicht hungern zu müssen, das Recht auf Gesundheitsfürsorge, das Recht auf Bildung oder das Recht auf Altersabsicherung). Solche Anpassungen sind offensichtlich in der Lage, einige Menschen glücklicher zu machen als andere. Womöglich machen sie sogar einige der Empfänger staatlicher Hilfen unglücklicher. Sehr viel mehr kann man aber dazu wohl nicht sagen. Man kann aber etwas zu den allgemeineren politischen Implikationen sagen, vor allem im Hinblick auf das Umfeld, in dem der Staat wirkt und seine Ziele zu verfolgen trachtet. Die Aufgaben, die eine Person bisher für sich übernommen hat (z. B. Sparen fürs Rentenalter), oder die Familie für die Familienmitglieder (z. B. sich um die Kranken, Jungen oder Alten kümmern), und das auf eine dezentrale und autonome Weise, mehr oder weniger spontan und zumeist liebevoll, will und wird keiner mehr länger in dieser Form erfüllen. Stattdessen werden sie nun vom Staat bewältigt, stärker geregelt, umfassender, vielleicht auch vollständiger und mit Rückgriff auf Zwang. Dass der Staat sich diese Aufgaben anmaßt, hat nicht ganz unbeträchtliche Nebeneffekte. Das Machtverhältnis zwischen Individuum und Zivilgesellschaft auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite wird beeinträchtigt. Darüber hinaus färben die soziale Wohlfahrt aufgrund ihrer süchtig machenden Natur und die Tatsache, dass ihre Leistungsempfänger sie im Allgemeinen kostenlos oder zu geringen Kosten „konsumieren“, stark auf das Ausmaß ab, in dem die Wohlfahrtsleistungen produziert werden. Man kann natürlich argumentieren, dass letztlich mit der Umverteilung die soziale Wohlfahrt steige, weil die lähmenden und abhängig machenden Wirkungen der Sozialhilfe unbeabsichtigt seien. Dieselben zeigen aber einmal mehr, dass die unangenehmen Gepflogenheiten gesellschaftlicher Phänomene außer Kontrolle geraten und Formen und Ausmaße annehmen, an die ihre Initiatoren wohl niemals gedacht haben. Angesichts der in Kraft befindlichen gewohnheitsprägenden Rückwirkungen ist es doppelt unbefriedigend, die Fiktion einer bewussten Sozialwahl auf diese spezielle Umverteilungsform anzuwenden.168 168 Es gibt in jedem Fall einen allgemeinen Grund dafür, die Sozialwahl als einen fiktiven Begriff anzusehen, nämlich den, dass zwar Mehrheiten, Führer, Fraktionen, Regierungen usw. Entscheidungen für die Gesellschaft fällen können, Entscheidungen aber nicht von der Gesellschaft getroffen werden können (sieht man einmal von einhelligen Volksentscheiden mit klaren Alternativen ab). Aussagen der Form „Die Gesellschaft hat eine bestimmte Ressourcenallokation gewählt“ kann man keine operative Bedeutung zuordnen. Es gibt weder eine Methode, um festzustellen, ob die „Gesellschaft“ die fragliche Allokation vorzieht, noch einen Mechanismus, mittels dessen sie das angeblich Bevorzugte hätte wählen können. Man kann sich immer auf irgendeine Konvention verständigen, die an der eigentlichen
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Der partielle Kontrollverlust über die Produktion der sozialen Wohlfahrt und die entsprechenden Kosten ist ein wichtiger Aspekt im Dilemma des adversen Staates. Ich werde auf ihn zurückkommen, wenn ich das Phänomen des „Umrührens“ erörtern werde. Wie auch immer, ich habe erst mit der Betrachtung der süchtig machenden Umverteilung begonnen und muss nun die Arbeitsweise jener Form von Umverteilung untersuchen, welche die Ausbreitung bestimmter geschlossener Gruppen in der Gesellschaft fördert, die wiederum mehr Umverteilung fordern. Legen wir nun die vereinfachenden Annahmen einer amorphen, strukturlosen Gesellschaft beiseite, die uns im vorigen Unterkapitel über „Konsens erkaufen“ die bequeme Gleichgewichtslösung bescherte. Nun kommt die Gesellschaft der Realität schon näher. Ihre Mitglieder sind nun nach zahllosen Ungleichheitsattributen zu unterscheiden. Der Quell ihres Lebensunterhalts (Ackerbau, Geldverleih, Arbeiten für IBM), ihr Domizil (Stadt oder Land, Hauptstadt oder Provinz) und ihr Status (Arbeiter, Kapitalist, Lumpenintellegentsia usw.) sind nur einige der vielen offenkundigen Attribute. Menschen, die sich von anderen in gewissen Hinsichten unterscheiden, können in Gruppen eingeordnet werden, und zwar gemäß jeder und jeder beliebigen dieser Hinsichten. Jedes Gesellschaftsmitglied kann simultan Mitglied so vieler Gruppen sein, wie es Attribute hat, die es mit anderen teilt. Alle Mitglieder einer Gruppe sind sich zumindest in einer Hinsicht ähnlich, auch wenn sie sich in vielen oder gar allen anderen Hinsichten von ihren Gruppenmitgliedern unterscheiden sollten. Folglich gibt es eine sehr große Zahl an potentiellen Gruppen, von denen jede partiell homogen ist und so, dass die heterogene Bevölkerung einer gegebenen Gesellschaft unter entsprechend günstigen Bedingungen in ihr verschmelzen kann. Einige dieser Gruppen, wenn auch nicht mehr als ein kleiner Teil aller möglichen Gruppen, werden sich auch in dem bis zu einem gewissen Grad empfundenen Bewusstsein bilden, dass sie zusammengehören und zusammen agieren wollen. Glücklicherweise ist es für unsere Zwecke nicht notwendig, die Gruppen über diesen Sinn hinaus scharf zu trennen. Sie können mehr oder weniger stark geschlossen sein, vorübergehend oder dauerhaft, eine individuelle Körperschaft Frage vorbeigeht und die bestimmte getroffene Entscheidungen für die Gesellschaft „Sozialwahlen“ nennt, z. B. dann, wenn sie durch einen staatlichen Mechanismus erzielt werden, der sein Mandat einem Mehrheitsbeschluss verdankt. Die Konvention erzeugt einen fiktiven Begriff, dessen Gebrauch gar nicht anders kann, als den weiteren Diskurs anzuheizen. Außerdem dürften zusätzliche Gründe dafür sprechen, in besonderen Situationen Einwände gegen den Begriff zu erheben. Wenn ein gewisses Umverteilungsschema so süchtig macht wie die Einnahme von Drogen, dann ist es ein Euphemismus, zu sagen, die Gesellschaft „entscheide“ sich dafür, das Schema beizubehalten oder zu stärken. Im Grunde handelt es sich hier um das generelle Problem, dass die Wünsche von heute im Kern von der Befriedigung abhängen, die sie gestern bzw. im Verlauf der Geschichte erfahren haben (vgl. Kap. 1.1). Wir sollten aber bedenken, dass Abhängigkeit nicht die einzige denkbare Beziehung zwischen dem ist, das wir kriegen, und dem, das wir haben wollen. Der eigentliche Bereich der Entscheidungstheorien ist das Mittelfeld der ganzen Palette. Doch selbst in der Mitte ist es nicht die „Gesellschaft“, die entscheidet.
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bilden oder eher informell sein. Sie können sich aus Personen zusammensetzen (z. B. Gewerkschaften) oder Koalitionen aus kleinen Gruppen bilden (z. B. ein Firmenkartell, ein Gewerkschaftsbund). Außerdem können sie als Antwort auf eine Vielzahl von Stimuli ökonomischer, politischer oder kultureller Natur entstehen. Wir werden vor allem an solchen Gruppen interessiert sein, die wegen einer Belohnung (worunter auch die Reduktion einer Last fällt), die sie aufgrund ihrer Eigenschaft, als Gruppe aufzutreten, erwarten, zusammenfinden und zumindest solange zusammen agieren, wie für das Zusammenklauben der Belohnung notwendig ist. So definiert, sind alle Gruppen, die ich in Betracht ziehen will, Inter essengruppen. Keine von ihnen muss egoistisch sein, weil die von mir gewählte Umschreibung gleichermaßen auf altruistische Aktionsgruppen passt wie auch auf Gruppen exzentrischer Sonderlinge, die zusammenarbeiten, um anderen einen vermeintlichen Vorteil zu verschaffen (z. B. die Abschaffung der Sklaverei, die Förderung von Enthaltsamkeit und Belesenheit oder die Beimischung von Fluorid in jedermanns Trinkwasser). Im Naturzustand erhalten die Mitglieder einer geschlossen agierenden Gruppe eine Gruppenbelohnung (d.i. ein Vorteil, der jenseits der Summe dessen liegt, was jeder Einzelne isoliert erwirken könnte) auf zwei Arten. (1) Sie können zusammen ein Gut erzeugen (oder auch eine Dienstleistung), das naturgemäß entweder nicht oder nicht so gut wäre, wenn man es anders erzeugte. Es ist nicht klar, ob es viele solcher Güter gibt. Straßen und Feuerwehren sind beliebte Beispiele solcher Güter. Die Gruppenbelohnung ist gewissermaßen autark für die Mitglieder sichergestellt, ohne dass Außenstehende dazu beitragen müssten oder schlechter gestellt würden. (2) Sie können die Gruppenbelohnung gemeinsam außerhalb der Gruppe extrahieren, und zwar durch Änderung der Geschäftsbedingungen, die zwischen einzeln interagierenden Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern bestehen. Gilden, Gewerkschaften, Kartelle und Berufsverbände zählen zu den bekanntesten Beispielen dieser Verfahrensweise. Im Naturzustand würde das Kippen der Geschäftsbedingungen, das die Gruppe besser und die anderen wahrscheinlich schlechter stellt, nicht auf Brauchtum gründen. (Wie könnte man auch Bedingungen „kippen“, die nicht vorher zum Brauchtum gehörten? Es würde auch nicht auf einem allerhöchsten Befehl gründen (weil es keine politische Autorität gibt). Seine einzige mögliche Quelle wäre der Vertrag (ansonsten müsste man Märkte mit einem besonderen Perfektionsgrad voraussetzen). Folglich hat das Kippen mit dem zu tun, was man unter Alternativen und einer Wahl versteht. Die Freiheit der anderen, dem Vertrag einer Gruppe nicht beizutreten, so bitter einem das auch aufstoßen mag, macht die Gruppenbelohnung zu einer Verhandlungssache. Das machen vor allem ausgehandelte Eins-zu-eins-Transaktionen deutlich, und weniger Routine- und Wiederholungstransaktionen in organisierten Märkten mit einer großen Zahl von Verhandlungspartnern mit entsprechend unterschiedlichen Monopol- und Monopsonkonstellationen und mehr oder weniger unvollkommenem Wettbewerb. Dort stellen letztere zumindest implizite Händel dar, bei denen das Element der Verhandlung im Verborgenen wirkt.
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Zumindest für unseren unmittelbaren Zweck, der darauf zielt, den Unterschied zwischen der Gruppenstruktur im Naturzustand und der Gruppenstruktur der Zivilgesellschaft zu verstehen, ist die kritische Größe im Gruppenverhalten das Phänomen des „Trittbrettfahrens“. Das Trittbrettfahren manifestiert sich sowohl innerhalb der Gruppe als auch in den Beziehungen zu anderen. Seine Grundform ist uns im Alltag bekannt. Die Fahrgäste in einem öffentlichen Bus müssen die Gesamtkosten für den Unterhalt des Busses für einen gewissen Zeitraum gemeinsam tragen.169 Ansonsten wird der Busservice eingestellt. Gleichwohl eignet sich jede vollständige Kostenaufteilung (die fein säuberlich dem Zeitraum angepasst ist) für diese Aufgabe. Der Bus fährt auch dann, wenn ein Passagier für alle zahlt und die anderen alle kostenlos mitfahren. Es gibt keine Regel zur Aufteilung der zu tragenden Kosten, die offenkundig logischer, effizienter, egalitärer oder fairer wäre als alle anderen. Wenn alle Fahrgäste Buchhalter wären, die dasselbe Lehrbuch hatten, dann würden sie vielleicht alle eine Fahrpreisstruktur ausklügeln, die allen Variablen Rechnung trägt, die in die langfristigen Marginalkosten der jeweils fraglichen Fahrt einfließen: Fahrten pro Passagier, Länge der Gesamtfahrt, Anzahl der Haltestellen auf der Strecke, durchschnittliche Angebotsfrequenz zu verkehrsstarken bzw. verkehrsschwachen Zeiten, Dichte des übrigen Verkehrs, Material- und Gebrauchsabnutzung usw. Aber auch dann, wenn alle die Fahrpreisstruktur für technisch gerecht hielten (d. h. im Sinne guter Betriebsabrechnung), gäbe es weder ein Grund dafür, warum alle die so konstruierte Fahrpreisstruktur für recht und billig halten sollten, noch dafür, warum sie selbst dann, wenn sie diese für recht und billig halten sollten, wünschen sollten, dass dieselbe umgesetzt wird. Altruismus brächte jeden dazu, für den anderen zahlen zu wollen. Ein Sinn für Gleichheit könnte die Menschen dazu bringen, jene mehr zahlen zu lassen, die mehr von dem Angebot profitieren, und so den „Konsumentenmehrwert“, der diesen erwächst, zu erfassen und zu verteilen. Eine bestimmte Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, in Abgrenzung zum Billigkeitsprinzip, könnte sie höhere Tarife für Reiche und niedrigere für Arme festlegen lassen. Das wie auch immer geartete Herausfinden einer geeigneten Tarifstruktur zur Deckung der Kosten einer gegebenen Dienstleistung ist allerdings nur die halbe Schlacht. Wenn Veränderungen der Dienstleistung machbar sind, dann muss man in der Genossenschaft auch Einvernehmen hinsichtlich der bereitzustellenden Änderung herstellen. Wenn der Bus an jeder Haustür hielte, dann müsste zwar niemand gehen, aber es würde Jahre dauern, bis der Bus in der Innenstadt wäre. Wenn er nur an einigen Haustüren halten sollte, dann fragt sich, an welchen. Sollten die auf diese Weise bevorzugten Fahrgäste für die gewährte Mehrleistung mehr zahlen und jene kompensieren, die zur Bushaltestelle laufen müssen? Es scheint keinen 169 Ich wähle den Bus als Beispiel, weil er das Trittbrettfahrerproblem anschaulicher macht, und nicht, weil ich glaube, dass Busse nur von Genossenschaften bereitgestellt werden könnten. Eine Welt, in der alle Busse von privaten Anbietern profitabel angeboten werden, ist vorstellbar. Eine Welt, in der dies auch für Straßen gilt, mag hingegen unvorstellbar sein.
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einzigen „rechten“ Weg zu geben, den alle Gruppenmitglieder einzuschlagen wünschen, um die Gruppenlast und die Gruppenbelohnung aufzuteilen; und zwar weder aus ethischen Gründen, noch aus Interessensgründen, und schon gar nicht aus beiden. Daumenregeln wie „Jeder trägt seinen Teil bei“, „Jeder zahlt für sich“ und „Jeder kriegt seinen gerechten Anteil“ kann man nur in Relation zu dem verstehen, wozu die Menschen sich in der Praxis einverstanden erklärt haben. Es gibt keinen anderen Gemeinschaftsstandard für den richtigen „Teil“, den jeder beitragen soll, oder für den „gerechten Anteil“, den jeder erhalten soll. Dies gilt umso mehr, als einige Gruppenmitglieder anderen darin widersprechen mögen, was man der Fairness halber, logischer Weise oder um der Gerechtigkeit willen hätte vereinbaren sollen; und das, ohne aus der Kooperative auszuscheren. Welche Route und Tarife man auch festlegen mag, letzten Endes kann jeder eigennützige Fahrgast, der den Bus besteigt, mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass sein Zusteigen die Betriebskosten nicht verändert. Die Kooperative als Ganzes kontrolliert die Bücher, und sollte es eine Deckungslücke geben, dann zieht jeder Fahrgast es vor, nicht derjenige zu sein, der sie schließt. Wenn alle Mitglieder einer Naturzustandsgruppe im o.g. Sinne eigennützig wären, dann würden alle ihre Last minimieren wollen und, im Grenzfall, auf dem Trittbrett fahren. Damit die Gruppenbelohnung zustande kommt – damit der Bus weiterhin fährt, der Streik bei den Kollektivverhandlungen ernstgenommen wird, Marktanteilsquoten zur Sicherung der Kartellpreise beachtet werden usw. –, muss die entsprechende Gruppenlast komplett getragen werden. Es gibt die weitverbreitete Auffassung, dass das Trittbrettfahrerproblem als Hindernis kooperativer Lösungen große Gruppen stärker beträfe als kleine Gruppen, weil das asoziale Verhalten des Trittbrettfahrers in großen Gruppen keinen spürbaren Einfluss auf die Gruppenbelohnung nähme und somit erst recht keinen auf seine Belohnung. Folglich würde es sich für ihn lohnen, auf dem Trittbrett zu fahren, während er in einer kleinen Gruppe über die Gruppenbelohnung und seinen Anteil an dieser eine Rückmeldung auf sein asoziales Verhalten erführe.170 Es trifft zwar wahrscheinlich zu, dass die Menschen sich in kleinen Gruppen besser als in großen Gruppen verhalten, der Rückmeldeeffekt dürfte aber dabei wohl kaum eine große Rolle spielen. Das Mitglied einer Kleingruppe mag durchaus die Minderung der Gruppenbelohnung infolge seines Fehlverhaltens spüren. Es ist aber trotzdem rational für das Mitglied, sich weiterhin fehl zu verhalten, solange die Auswirkung der einsetzenden Minderung der Gruppenbelohnung auf seinen Anteil geringer ausfällt als der Anteil an der Gruppenlast, dem er durch das Trittbrettfahren entgeht.171 170 Diese These vertritt Mancur Olson (1965), S. 36. Vgl. auch The Rise and Decline of Nations, 1982, vom selben Autor, besonders die darin vertretene Position, dass die „flächendeckenden Organisationen“, z. B. die Verbände der Gewerkschaften, der Hersteller oder des Einzelhandels in einem korporativen Staat, „so viel von der Gesellschaft besitzen, dass sie einen erheblichen Anreiz haben, sich aktiv um deren Produktivität zu sorgen“ (S. 48), soll heißen, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Die flächendeckende Organisation ist für die Gesellschaft das, was die Person für die Kleingruppe ist.
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Diese Bedingung erfüllt jede Gruppe mit Leichtigkeit, unabhängig von ihrer Größe und solange, bis das Trittbrettfahren die Gruppe insgesamt zum Scheitern bringt. Die meisten Gründe dafür, warum kleine Gruppen leichter entstehen und bestehen als große Gruppen, hängen damit zusammen, dass das Verhalten der Mitglieder leichter sichtbar ist. Schande, Solidarität und Scham haben es schwerer, Menschen zu beeinflussen, die in der Masse untergehen. 171
Wenn also Naturzustandsgruppen sich bilden und die ganze Last der Gruppe von einer Person allein getragen wird, dann muss unabhängig von den Anreizen zum Trittbrettfahren, die eigennützige Gruppenmitglieder haben mögen, mindestens eine der folgenden drei Bedingungen gelten (obgleich es eventuell notwendig sein kann, dass auch andere Umstände begünstigend wirken): (a) Einige Gruppenmitglieder sind altruistisch und ziehen es eigentlich vor, des „anderen Last“ zu tragen oder „ihren Anteil“ der Belohnung anderen zu überlassen. Die anderen können dementsprechend bis zu einem gewissen Grad kostenlos fahren, wenn auch nicht notwendigerweise ganz unbehelligt. (b) Obwohl alle Mitglieder eigennützig sind, sind einige neidlos. Wenn sie müssen, dann tragen sie lieber mehr als ihren Teil der Gruppenlast, als zuzulassen, dass die Gruppe letztlich scheitert, weil die auf sie entfallende Last die Gruppenbelohnung nur geringfügig übersteigt und sie es den Trittbrettfahrern nicht missgönnen, ein besseres Geschäft zu machen. (c) Alle Gruppenmitglieder sind sowohl eigennützig als auch neidisch. Nun muss das Trittbrettfahren sich irgendwie unterhalb eines kritischen Schwellenwerts bewegen und die von den zahlenden Fahrgästen empfundene Missgunst gegenüber den Trittbrettfahrern muss durch den Nettogewinn ausgeglichen werden, den diese dadurch erzielen, dass sie mit der Gruppe und für die Gruppe weitermachen können. Fall (a) entspricht dem freiwilligen bürgerlichen Engagement, den aufopferungsbereiten Anstrengungen von Pionieren, die „die Fronttruppe anführen“, und vielleicht auch dem politischen Aktivismus und der Wichtigtuerei; wobei es hier neben dem Wohl der Gruppe auch andere Befriedigungen geben mag. Fall (b) liegt z. B. der Schöpfung von Zusatzerträgen zugrunde, die nicht zustande kämen, wenn jene, deren (kostenträchtige) Handlungen sie erst hervorbringen, sich über ihre eigene Unfähigkeit, andere, die keine Kosten tragen, vom Nutznieß auszuschließen, ärgern würden. Fall (c) stellt die größten Herausforderungen. Hier ist das Trittbrettfahrerproblem für die Entstehung und das Überleben der Gruppe entscheidend. Eine kooperative Lösung erfordert hier zwei Hilfestellungen. Beginnen wir mit der zweiten Hilfestellung: Die von eigennützigen und neidischen Mitgliedern zu erzielende Kooperationslösung muss eine Inkraftsetzung vorsehen, die eine effektive Andro171 Hinsichtlich der Auswirkungen der Gruppengröße auf das Trittbrettfahren innerhalb einer Gruppe kommen manche Autoren zu konträren Schlussfolgerungen. Einen Überblick dazu bietet Hardin (1982), S. 44.
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hung von Strafe oder Vergeltung impliziert.172 Dort, wo die Gruppenbelohnung technisch leicht zu kontrollieren ist, ist die Inkraftsetzung passiv. Sie ähnelt einem münzbetriebenen Drehkreuz. Wenn Sie eine Münze einwerfen, dann sind Sie drin; wenn nicht, dann nicht. Heiklere Situationen verlangen, dass man aktivere und vielleicht komplexere Methoden der Inkraftsetzung ersinnt. Vielleicht braucht es die gesellschaftliche Ächtung der Streikbrecher, Schikanen für den Arbeitgeber oder den Boykott seiner Waren und Angebote, bevor die neue (oder die alte, aber recht kraftlose) Gewerkschaft es durchsetzt, dass nur noch Gewerkschaftsmitglieder eingestellt werden. Vergeltung an einem Preis- oder Kartellbrecher kann recht ausgefuchst verübt werden. Doch selbst dann ist sie nicht immer effektiv. John D. Rockefeller, der sich auf solch gerissene Methoden gut verstand, hatte letzten Endes so wenig Vertrauen in deren Verlässlichkeit, dass er Zuflucht in der Fusion von Eigentum suchte – d. h. in der Schaffung von Standard Oil. Der kurze Prozess, den man im amerikanischen Westen mit jenen machte, die sich den gängigen Grundregeln des Zusammenlebens (z. B., dass man Kühe und Pferde nicht von der Weide stiehlt, sich über Ansprüche auf Bergminen nicht hinwegsetzt und alleinstehende Frauen nicht belästigt) widersetzten, war ein Versuch, einen unsicheren Lebensweg abzusichern, dessen Begehbarkeit weitgehend davon abhing, dass es kein „Trittbrettfahren“ gab und jeder die Regeln einhielt. Vor der Inkraftsetzung muss man sich über die vereinbarten Klauseln verständigen. Welchen Anteil an der Gruppenlast soll jeder tragen, und wie soll die Gruppenbelohnung aufgeteilt werden (sofern sie nicht vollkommen unteilbar ist)? 172 So gesehen ist man versucht, Interessengruppen als Miniaturstaaten und die Staatstheorie als Unterfall einer allgemeineren Theorie der Interessengruppen zu betrachten. Wenn wir der Versuchung nachgeben, dann verschwindet die herkömmliche Trennlinie in der politischen Theorie zwischen Naturzustand und Zivilgesellschaft. Gegen einen solchen Ansatz gibt es einige Haupteinwände. (1) Der Staat hat ein einzigartiges Attribut – Souveränität. (2) Der Ansatz umgeht die entscheidenden Fragen. Er setzt axiomatisch voraus, dass für die möglichen Mitglieder der „Gruppe“ (soll heißen: alle Mitglieder der Gesellschaft) die „Gruppenbelohnung“ die „Gruppenlast“ übersteigt. D.h., es gibt einen Lohn dafür, das Trittbrettfahrerproblem anzugehen. Aber worin zeigt sich dieser Lohn? Üblicherweise nimmt man an, dass der Lohn für die Bildung einer Gewerkschaft in höheren Löhnen und kürzeren Arbeitszeiten bestehe, und der für die Bildung eines Kartells in exzessiven Profiten. Der Lohn für den Gesellschaftsvertrag liegt in der Realisierung des Gemeinwillens; offensichtlich eine andere Kategorie von Lohn. Sogar sein Vorzeichen hängt vollkommen von den Werten ab, die ihm der Interpret des Gemeinwillens gibt. (Gemeint ist der mitfühlende Beobachter der „sozialen Wohlfahrtsfunktion“). (3) Die Theorie der Interessengruppenbildung lässt Raum für einen Staat, der anderen nur solche Kooperationslösungen auferlegt, die einige besser und niemanden schlechter stellen. Sie lässt aber keinen Raum für einen Staat, der Lösungen aufzwingt, die einige besser und andere schlechter stellen; also für eine Gruppe, welche die Vorteile intern umverteilt. Außerdem eignet sie sich nicht für einen Staat, der einen eigenen Maximanden hat und eigene Ziele verfolgt, die denen seiner Bürger entgegenstehen. Die o.g. Aufzählung all dessen, was man angemessen und was man unangemessen abhandeln kann, wenn man Staat und Interessengruppen mit Zwangsmaßnahmen einander angleicht, zeigt, welch starres Korsett der Vertragsansatz der Theorie des Staates anlegt.
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Die meisten von uns würden wohl reflexartig antworten: „gleich“, „gerecht“ oder „fair“. Da diese Begriffe aber nicht deskriptiv sind, sondern wertend, gibt es keine Garantie dafür, dass die Mitglieder eine gegebene Aufteilung mehrheitlich für gleich, gerecht usw. halten. Noch ungewisser ist, ob dann, falls sie es doch täten, der Satz an gleichen, gerechten u.a. Klauseln derjenige wäre, der am ehesten die Annahme der „kooperativen Lösung“ sicherstellte und damit den Gruppenzusammenhalt sicherte. Strategisch platzierten Mitgliedern, „Aussitzern“ oder Unterhändlergruppen muss man vielleicht bessere Bedingungen einräumen als denen, „die sonst nirgends hin können“. Eines ist klar: Je besser die Bedingungen sind, die ein Mitglied oder eine Untergruppe dem Rest der Gruppe abringen kann, desto näher ist er an den Trittbrettfahrer-Status herangerückt, und auch an die Grenzen, innerhalb derer die Gruppe Trittbrettfahrer mittragen kann, ohne zusammenzubrechen. Man sollte glauben, dass die Gruppe, sobald sie erst einmal an diese Grenzen gestoßen ist und vor dem Zusammenbruch steht, sich abzusichern trachtete, indem sie Zuflucht zu neuen, effektiveren Methoden suchte, um das Gruppenverständnis, die Aufteilung der Kosten und Nutzen oder den Verhaltenskodex umzusetzen, und energischer gegen die Trittbrettfahrer vorginge. Ein derartiges Zusammenreißen könnte in der Tat machbar sein. Aber die Gruppe ist nicht der Staat. Ihr fehlt die repressive Gewalt des Staates völlig bzw. weitgehend. Ihr Vorrang vor den Mitgliedern ist von anderer Natur. Auch die Möglichkeiten der Mitglieder, auszuscheren, wenn sie unter Druck gesetzt werden, sind von anderer Natur.173 Die Fähigkeiten einer Gruppe, eine Inkraftsetzung zu entwickeln, hängt erheblich von der Natur der Belohnung ab, die sie erwirken soll, und auch von der Art der Last, die geschultert werden muss, um die Belohnung zu erzielen. Man kann nicht davon ausgehen, dass sie immer oder meistens ausreichen, um das Trittbrettfahrerproblem in den Griff zu kriegen und die Gruppe in die Lage zu versetzen, zu überleben bzw. überhaupt erst einmal zu entstehen. So gesehen ist es vernünftig, dem Naturzustand ein gewisses Gleichgewicht in der Gruppenstruktur der Gesellschaft zu unterstellen – ähnlich einem ökologischen System, das Raubtiere, Beutetiere und Parasiten kennt. Das Gleichgewicht steht und fällt mit dem destruktiven Potential des Trittbrettfahrerphänomens. Letzteres schränkt Zahl und Größe der Interessengruppen ein, die es schaffen, sich zu formieren. Die Gesamtheit aller Gruppen bestimmt wiederum die Anzahl der tolerierten Trittbrettfahrer und das tatsächliche Ausmaß ihrer „parasitären“ Gewinne, das mit dem Überleben der Gruppe verträglich ist. Ob man Interessengruppen, die aus Transaktionen Belohnungen herausschlagen können, die dem einzelnen Individuum aus Transaktionen mit anderen nicht zugänglich sind, gutartig oder bösartig nennt, hängt grundsätzlich vom Standpunkt des Betrachters ab. Wenn ihre Transaktionen ausschließlich oder fast ausschließ173 Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen „Gruppen“ (einschließlich politischer Gemeinschaften), in denen die Menschen mit „den Füßen abstimmen“ können, und Gruppen, in denen sie das nicht können, siehe Hirschman (1970).
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lich zwischen ihnen und anderen Interessengruppen stattfinden, dann dürfte der unbeteiligte Beobachter den Extragewinn, den sich eine Gruppe sichert, dadurch kompensiert sehen, dass die anderen Gruppen sich am Ende des Tages Vorteile sichern, die zu Lasten der einen Gruppe gehen. So ungefähr funktioniert die moderne Welt aus „pluralistischer“, „entideologisierter“ Sicht. Statt Klassen, die um Vorherrschaft und Mehrwert ringen, verhandeln Interessengruppen miteinander bis zum Stillstand. Obgleich die moderne Welt nicht wirklich so funktioniert, spricht doch einiges dafür, dass es für die Gesellschaft im Naturzustand so sein könnte. Wenn sie umfassend organisiert ist, dann besteht Grund zur Hoffnung, dass die Gewinne und Verluste im Zuge gemeinschaftlicher Gruppenhandlungen klein ausfallen. („Auf dem Papier“ gewinnt natürlich jeder als ein organisierter Produzent auf Kosten seines anderen Ichs, dem unorganisierten Konsumenten.) Außerdem, wenn eine Gruppe gegenüber anderen Gruppen mit schlechterer Ausgangsposition „exzessiv“ hart verhandelt, dann führt dies zu derselben Art von selbstregulierenden, selbstausbalancierenden Effekten wie „exzessives“ Trittbrettfahren innerhalb einer Gruppe. D.h., so wie die Herausbildung von Gruppen im Rahmen bleibt, so bleibt es auch die unmäßige, an Trittbrettfahren angrenzende Ausbeutung durch Gruppenstärke. Damit steht unserer Rahmen, und wir können den Staat darin einfügen. Nun wollen wir die Frage beantworten, welchen Unterschied es für das Gleichgewicht der Gruppenstruktur in der Gesellschaft mache, wenn der Staat funktioniert. Soviel steht fest: Wo es einen Staat gibt, da tritt zum Vertrag als Mittel, Gruppenbelohnungen aus anderen herauszupressen, der souveräne Befehl hinzu. Neben den Anreizen für marktorientierte Gruppen gibt es nun rationale Anreize zur Bildung staatsorientierter Gruppen bzw. für Gruppen, die nach beiden Richtungen ausschauen können, zum Markt hin und zum Staat hin. Mit der Reichweite des Staates wächst auch die Bandbreite der Möglichkeiten, von seinen Befehlen zu profitieren, und, wie auch Marx nicht entging, die „legitime Monarchie und die Julimonarchie fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit, in demselben Maße wachsend, als die Teilung der Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft neue Gruppen von Interessen schuf, also neues Material für die Staatsverwaltung.“174 Wenn in einer Demokratie die Gesellschaft nur aus Personen, Familien und, schlimmstenfalls, Kleinstgruppen besteht, dann geben diese ihre Zustimmung zur Staatsherrschaft als Antwort auf die bestehenden Anreize. Sie sind sozusagen perfekt konkurrierende „Verkäufer“ ihrer Zustimmung – „Preisnehmer“, wie George J. Stigler es so treffend nannte. Der „Preis“, den sie annehmen oder ausschlagen, ist in dem umfassenden Umverteilungsangebot enthalten, das der Staat im Wissen um rivalisierende Angebote erstellt, um die Mehrheit zu gewinnen. Eine staatsorientierte Interessengruppe feilscht jedoch aktiv, anstatt nur auf das stehende Angebot zu reagieren, und handelt als Repräsentant von Stimmen und Einfluss einen besseren Handel aus, als es die einzelnen Mitglieder unvereinigt könnten. Die Gruppenbelohnung besteht also in der zusätzlichen Umverteilung, 174
Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 197.
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die die Gruppe dank ihres Zusammenhalts auszupressen versteht. Wie jeder andere „Preismacher“ auch, kann sie den Preis, den sie bekommt, bis zu einem bestimmten Grad in ihrem Sinne beeinflussen. Der Preis, den sie ansetzt, steht, politisch gesehen, für ihre Loyalität, ihre Zustimmung. Die Belohnung – ob Subvention, Steuerbefreiung, Tarif, Quote, öffentliches Bauprojekt, Forschungsstipendium, militärischer Versorgungsauftrag, „industriepolitische“ Maßnahme oder Maßnahme zur regionalen Entwicklung (ganz zu schweigen von der Kulturpolitik) – ist nur in einem indirekten Sinne vom Staat „gegeben“. Anhand des Musters der reinen Peter-besteuern-um-Paul-zu-helfen-Umverteilung kann man das erkennen. Aber bei den undurchsichtigeren (und weitaus üblicheren) Methoden ist die Umverteilung besser getarnt, vor allem, wenn der Umverteilungseffekt mit anderen Effekten (z. B. Industrialisierung) gemeinsam erzeugt wird. Die letztendlichen „Geber“ – Steuerzahler, Konsumenten dieses oder jenes Artikels, Konkurrenten, rivalisierende Klassen und Schichten, Gruppen oder Regionen, die von einer Politik hätten begünstigt sein können, es aber nicht waren – bleiben den Augen der Nutznießer verborgen. Das geschieht zum einen wegen der unlösbaren Mysterien der wahren Ereignisse (Wer zahlt am Ende „wirklich“ für eine Preiskontrolle? Wer trägt die Kosten einer Steuervergünstigung? Wer wird um was beraubt, wenn die Sportler der Nation ein neues Stadion bekommen?) und zum anderen wegen der Größe und Dicke des Puffers, das die Kosten des öffentlichen Sektors in der Wahrnehmung der Gewinner und Verlierer darstellen. Eine Gruppe, die dem Staat durch Lobbying und Feilschen erfolgreich einen Vorteil abringt, könnte selbstredend und nicht ohne Grund behaupten, dass die dadurch entstehenden Kosten sich auf jedem gängigen Maßstab, mit dem man öffentliche Maßnahmen misst, winzig klein ausnähmen; im Vergleich zur Gesamtmenge all der Sondervorteile, die man bereits anderen zugestanden hat, oder in Relation zum großen Nutzen, den der Vorteil erbringen wird, oder in Bezug auf den gesamten Staatshaushalt usw.175 Man denke an den Bettler, der im Cartoon den Hut ausstreckt und sagt: „Haben Sie einen Cent des Bruttoinlandsproduktes übrig, meine Dame?“ So wie er meint auch die Gruppe eine Forderung aufzustellen, die, wie jeder leicht einsehen kann, im Falle ihrer Gewährung für den Staat keine große Sache ist. Vielleicht stellt sie nie Forderungen nach einer unentgeltlichen Hilfe, auch nicht in einer kleineren Größenordnung, an Personen oder Gruppen, weil es ihr nicht darum geht, Almosen zu erbitten. Allerdings, wenn sie sich doch dazu durchringen sollte, wie weit käme sie mit einem Cent des Einkommens von Peter oder Paul? Und wie geht man die Sache an, wenn man genug Leute anbetteln will, damit es sich lohnt? Selbst wenn sie die Wahl hätte, wäre es für eine Gruppe die schlechtere Taktik, sich an eine andere Gruppe zu wenden, als an den Staat. Die Gründe dafür liegen in der Natur des „quid pro quo“, aber auch in der Tatsache, 175 Wie der amerikanische Senator, der in Anspielung auf die Überlegungen im Finanzausschuss des Senats meinte: „Eine Milliarde hier, eine Milliarde dort, und es dauert nicht lange, bis Sie über richtiges Geld reden.“ Meine Quelle ist Hörensagen, aber: „se non e vero, e ben trovato“ („Wenn es auch nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden.“)
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dass nur der Staat allein in die Kiste der „Politikwerkzeuge“ greifen kann, um die aufkommenden Kosten zu verteilen und unsichtbar werden zu lassen. Es gibt nur ein Instrument, den Staat, dessen Position als universaler Mittler den Antragsteller in die Lage versetzt, nicht nur an das Einkommen einer geeigneten kleinen Fraktion von Menschen zu kommen, sondern an das einer ganzen Nation. Aber es gibt wirksamere Mittel, mit deren Hilfe die Möglichkeit, Belohnungen „vom“ Staat zu bekommen, statt über den Markt und direkt von Personen oder Gruppen der Zivilgesellschaft, das Umfeld verändert, in dem Interessengruppen sich organisieren und überleben. Wenn ein Betrag beträchtlich genug ist, dann kann er die Gruppe dazu zu bringen, eine Gemeinschaftsaktion auf die Beine zu stellen, um an ihn ranzukommen. Es liegt in der Natur des Staates als Mittler, dass die entsprechenden Kosten weit über die Gesellschaft verteilt und nur noch schwer mit ihrem Anlass in Verbindung gebracht werden können. „Niemand spürt es wirklich“ und „jeder kann es sich leisten“. Die staatsorientierte Gruppe, die aus der Gesellschaft einen Vorteil generiert, für dessen Kosten der Rest der Gesellschaft aufkommen muss, spielt gegenüber der Gesellschaft die Rolle des Trittbrettfahrers in genau derselben Weise, wie es ein Gruppenmitglied gegenüber dem Rest der Gruppe tut. Anders als der individuelle Trittbrettfahrer, der ab einem bestimmten Punkt auf Widerstand stößt oder die Gruppe zerstört, und die marktorientierte „Trittbrettfahrergruppe“, gegen die sich jene wehren, von denen man eine Einwilligung in überzogene Vertragsforderungen erwartet, trifft die staatsorientierte Gruppe nicht auf Widerstand, sondern auf Komplizenschaft. Sie verhandelt mit dem Staat, für den die Billigung ihres Trittbrettfahrerverhaltens Teil und Baustein jener Zustimmungsgrundlage ist, für die er sich (kluger oder blöder Weise) als Fundament seiner Macht entschieden hat. Die Konsensbildung via Umverteilung steht stark im Zeichen des politischen Wettbewerbs. Im Wettbewerb mit der Opposition hat der Staat in der Frage, wem er was und in welchem Umfang gewähren will, nur einen engen Ermessensspielraum. Ihm wird schnell klar, dass er über ein Umverteilungsschema herrscht, das an Komplexität wächst und dem es an Transparenz mangelt. Wenn ein weiterer „Trittbrettfahrer“ aufspringt, dann haben die „zahlenden Fahrgäste“ die Möglichkeit, diesen Umstand und das Ansteigen der von ihnen zu zahlenden „Fahrpreise“ wie bisher zu ignorieren. Obwohl sie ein allgemeines Bewusstwerden zunehmender Trittbrettfahrerei kaum vermeiden können und das Ausmaß womöglich gar überschätzen, liegt es in der Natur der Sache, dass sie die spezifischen marginalen Zuwächse kaum wahrnehmen können. Daher kann man von ihnen auch kaum erwarten, gegen die zusätzlichen Trittbrettfahrer eine Verteidigungshaltung aufzubauen. Während die Verschleierung der Kosten aufgrund des ungeheuren Umfangs und der Komplexität der staatlichen Umverteilungsmaschinerie den Widerstand der Gruppen gegen das Trittbrettfahren bremst, neutralisiert sich das Trittbrettfahren innerhalb staatsorientierter Gruppen infolge der Besonderheit der Last, welche die Gruppenmitglieder schultern müssen, um die Gruppenbelohnung zu ernten.
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Eine marktorientierte Gruppe muss die Last der Gruppenaktion komplett auf die Gruppenmitglieder verteilen (wenn auch nicht notwendigerweise „gleich“ oder „gerecht“) – die Kosten für den Gruppenbus; die Disziplin und der Lohnverlust, wenn man dem Streikaufruf folgt; der verlorene Profit infolge limitierten Verkaufs; die Selbstverleugnung, die der Respekt eines Verhaltenskodex erfordert. Wenn keine der zu Beginn dieses Abschnitts skizzierten Bedingungen erfüllt ist (Altruismus, Neidlosigkeit und reichlicher Mehrwert der die Gruppenkosten überragenden Gruppenbelohnung, nebst erfolgreicher Begrenzung des Trittbrettfahrens), dann kommt es zum Abbruch des durch Gruppeninteresse verursachten Trittbrettfahrerproblems, noch bevor dieses richtig entstehen kann: Die Gruppe zerfällt, bricht auseinander oder kommt erst gar nicht zu ihrem kooperativen Verständnis. Eine staatsorientierte Gruppe trägt jedoch eine federleichte Bürde. Sie muss nicht viel von ihren Mitgliedern verlangen. Es reicht, wenn die Milchbauern als solche für den Staat existieren und die Opposition dem Staat im Nacken sitzt, um eine Milchpolitik (und eine für Butter und Käse) zu ersinnen, die den Bauern bessere Gewinne beschert, als es der Markt ohne die Hilfe der Milchpolitik je könnte. Im Gegenzug muss die Gruppe nicht einmal das Bestehen des impliziten politischen Vertrages durch „Abliefern der Stimmen“ bestätigen. Die Milchbauern haben für ihre Trittbrettfahrerei in zweierlei Hinsicht großen Spielraum: Sie können für die Opposition stimmen (was den Staat, soweit ihm bekannt, schlicht dazu veranlassen könnte, die Anstrengungen zu verdoppeln und eine effektivere Butterpolitik auszudenken), und sie können ihre Mitgliedsbeiträge zurückhalten, die zur Finanzierung der Milchindustrielobby gebraucht werden. Für keine der Trittbrettfahrervarianten ist es, wenn überhaupt, sehr wahrscheinlich, dass sie ihre Effektivität beim Generieren einer Umverteilungsbelohnung reduziert. Auch wenn eine Interessengruppe politisch „sonst nirgends hin kann“ und ihre implizite Drohung, ihre Unterstützung der Opposition hinterherzuwerfen, mangels Glaubwürdigkeit ineffektiv ist und auch wenn ihre Verhandlungsstärke aus irgendeinem Grund nicht so unschlagbar ist wie die der Milchbauern, so dass der Versuch, sich durchzusetzen, kaum lohnt, ist doch das, was sie sinnvoll für Lobbying, politische Beiträge und dergleichen ausgeben kann, im Vergleich zum möglichen Gewinn kleines Geld. Selbst wenn nicht alle Gruppenmitglieder ihr Scherflein beitragen, so können doch einige die notwendigen Kosten für die ganze Gruppe mühelos aufbringen (und tun es auch). So ziemlich das Gleiche dürfte geschehen, wenn das Gruppeninteresse von den Mitgliedern verlangt, Fahnen zu schwenken, zu marschieren, Menschenketten zu bilden oder Steine zu werfen. Viele Trittbrettfahrer bleiben zuhause, aber im Regelfall hat die Gruppe genug bereitwillige Mitglieder, damit die Bedingungen für Fall (b) (S. 23) erfüllt sind und eine kleine, laute Demonstration ihre Wirkung zeigt. Weil politische Aktionen insgesamt außerordentlich günstig sind, bleiben staatsorientierte Interessengruppen, alles in allem, gegen ihr eigenes Trittbrettfahrerproblem fast immun. Durch den Staat als Quelle der Belohnung für Interessengruppen verliert das Trittbrettfahren größtenteils sein destruktives Potential als Hindernis der Grup-
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penbildung und des Gruppenfortbestands. Im Sinne der oben zur „Ökologie“ gezogenen Parallele halten sich Raubtiere, Beutetiere und Parasiten nicht mehr die Waage. Die Abwehrreaktionen der Beutetiere sind wirkungslos. Es gibt keinen Marktmechanismus, welcher der Gesellschaft signalisierte, dass eine bestimmte Interessengruppe ihre Ansprüche an sie verschärft. Deren Einlösung wird von der Größe und Komplexität des staatlichen Fiskal- und Umverteilungsapparates vernebelt. Außerdem ist der politische Prozess in der Demokratie so konstruiert, dass er asymmetrisch arbeitet, d. h., man macht einer Vielzahl unterschiedlicher Ansprüche Zugeständnisse, statt sie abzulehnen, während der Mechanismus bilateraler Verträge unter Einvernehmen erzielenden Parteien insofern symmetrisch arbeitet, als er Vertragsabschlüsse unter akzeptablen Bedingungen zulässt und unter inakzeptablen ausschließt. Folglich hätten die „Beutetiere“ auch dann, wenn sie sehr wohl um ihre „Räuber“ wüssten, keinen passenden Verteidigungsmechanismus, um mit ihnen fertig zu werden. Indes können „Räubergruppen“ im Sinne meines Arguments bezüglich des geringen Preises geschlossener Politikaktionen überleben und sich von der Gesellschaft ernähren, egal wie sehr sie auch von ihren eigenen „Trittbrettparasiten“ befallen sein mögen. Daraus ergibt sich auch, dass der Parasit gedeihen kann, ohne dass dies sich auf die Fähigkeit des Räubers, ihn mitzuschleppen und zu ernähren, auswirkte. Mehr von einer Sache hat nicht zur Folge, dass es von einer anderen Sache weniger gäbe. Wenn eine Bevölkerung aus Interessengruppen besteht, dann können beliebig viele Trittbrettfahrergruppen in ihr unterkommen und zumindest als partielle Trittbrettfahrer gegenüber der Großgruppe, d. h. der Gesellschaft, auftreten. Das Gesagte legt eine gewisse instabile und federleichte Unbestimmtheit nahe, mit der Interessengruppen aus dem Stand heraus genauso gut schrumpfen wie sich vervielfältigen können. Ohne eingebaute Eigendynamik liegt es am stochastischen Zufall, ob das eine oder das andere eintritt. Gegen diese Vorstellung, der sicherlich der größte Teil der historischen Tatsachen entgegensteht (und zwar dergestalt, dass Interessengruppen mit der Zeit zumeist an Zahl und Einfluss zunehmen), sprechen zwei zusätzliche Merkmale, die der Interaktion von Gruppe und Staat innewohnen. Erstens und unabhängig davon, ob das Gewähren einer Gruppenbelohnung von Erfolg gekrönt wird, indem es die Unterstützung der Gruppe erhält und die Amtszeit der Staatsgewalt stärkt, vergrößert dieses Gewähren im Allgemeinen den Staatsapparat und dessen Aktivitäten in Bezug auf Intensität und Sorgfalt, weil das Gewähren jeder Gruppenbelohnung passende Einrichtungen zur Überwachung, Regulierung und Durchführung der Aufgabe braucht. Indes, je mehr der Staat regiert, desto größer werden die Gewinne der Gruppenbildung und die möglichen Belohnungen, die durch ein erfolgreiches Anbahnen staatlicher Hilfe entstehen können, im Großen und Ganzen sein. Zweitens, jede gewährte Gruppenbelohnung belegt den „weichen“ Charakter des Staates, der in der Zwickmühle des Wettbewerbs erwischt wird. Jede Subvention ist daher ein Signal an potentielle Gruppen, die sich irgendwie in einer ähnlichen Lage wähnen und nun ihrerseits glauben,
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dass die Wahrscheinlichkeit, eine mögliche Belohnung an Land zu ziehen, wachse, sofern sie die entsprechende Nachfrage organisierten. Aus den beiden Gründen liegt es im System, dass die Interessengruppen sich vermehren. Wer war zuerst da: die Henne oder das Ei? Ob der Prozess damit beginnt, dass der Staat einer Gruppe einen Gefallen anbietet oder die Gruppe nach einem solchen fragt, ist ziemlich unwichtig. Ungeachtet des ursprünglichen Anlasses scheinen die Anreize und Widerstände so angeordnet zu sein, dass sie die Umverteilungspolitik und Interessengruppenbildung dazu bringen, sich gegenseitig zu erhalten und zu intensivieren. Das Zusammenspiel von Gruppendruck und Umverteilungsmaßnahme muss nicht auf Angelegenheiten des Eigeninteresses im engeren Sinne beschränkt sein. Gruppen können entstehen und im Interesse einer dritten Partei agieren, z. B. der Sklaven, Geisteskranken, der „dritten Welt“ usw. Vielleicht haben solche „Überzeugungslobbies“ nicht genug Einfluss, um ihre politische Unterstützung gegen politische Maßnahmen in ihrem Sinne einzutauschen. Aber womöglich gelingt es ihnen, die öffentliche Meinung soweit zu beeinflussen, dass der Staat, die Opposition oder beide darüber nachdenken, die geforderte Maßnahme in ihr Programm aufzunehmen. Ist sie erst einmal akzeptiert, dann weitet eine uneigennützige Maßnahme sowohl das anerkannte Ausmaß staatlichen Handelns als auch den zur Durchführung notwendigen Apparat. Zudem dient sie als Präzendenzfall und verleitet andere Überzeugungslobbies, sich zu organisieren und den nächsten Fall zu bewerben.176 Hinter jedem würdigen Fall wartet eine lange Schlange aus anderen Fällen mit vergleichbarer Würdigkeit. Wenn der Kampf gegen den Krebs die Unterstützung des Staates verdient, sollte dann der Staat nicht auch im Kampf gegen die Kinderlähmung dabei sein und bei anderen lebenswichtigen Fragen der medizinischen Forschung helfend zur Seite stehen? Und die Ansprüche der Medizinforschung: sind sie nicht ein Beleg dafür, dass man auch andere, wertvolle Wissenschaften fördern sollte, oder die Künste und den Sport, usw. usw.? Das Aufkommen weiterer Lobbygruppen für Wissenschaft, Kultur und Sport kann man sich mühelos ausmalen, aber Lobbies, die sich offen gegen Kultur oder Sport aussprächen, sind einfach undenkbar. Noch einmal, die Situation ist im Grunde die, dass die Entwicklung sich ausdehnt und größer wird, um mehr Fälle zu bedenken, mehr Ansprüche durchzusetzen, mehr Ressourcen umzuverteilen und neue Anforderungen herauszukitzeln. Sie verläuft nicht entgegengesetzt, nicht rückwärts und kleiner werdend, hin zu einer weniger stark ausgeprägten Gruppenstruktur und einem weniger umverteilenden, eher „minimalen“ Staat. 176 Wallace (1975), S. 93 f. Wallace weist auch darauf hin, dass die Fälle die Massenmedien füttern und die Massenmedien die Fälle füttern. Insofern könne man darauf schließen, dass auch in Abwesenheit des Staates ein weiterer kumulativer Prozess im Gange sei. Würden die Menschen im Naturzustand eigentlich auch so viel fernsehen? Ich meine, ist nicht die Gewohnheit übermäßigen Fernsehens zumindest teilweise ein Ergebnis davon, dass die Menschen weniger daran interessiert sind, Dinge wie im Naturzustand zu tun, weil es entweder keinen Spaß mehr macht oder weil der Staat sie an ihrer Stelle erledigt?
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Im Unterbewusstsein der gebildeten liberalen Öffentlichkeit war lange Zeit ein Sinn für die Unterscheidung von guter und schlechter Umverteilung verankert, von der Honorierung berechtigter Verdienste und der reinen Anbiederung. Samuel Brittan hat in seinem jüngsten Buch viel dafür getan, diesen Unterschied herauszustellen.177 Im Ganzen gesehen ist es demnach gut, das Einkommen so umzuverteilen, dass soziale Gerechtigkeit und Sicherheit sowie Gesundheit und Bildung entstehen. Schlecht hingegen ist, umzuverteilen, um bestimmte Interessengruppen zu bedienen. Landwirtschaftliche Subventionen, „Industriepolitik“, Mieterschutz, beschleunigte Abschreibungen, Steuererleichterungen auf Hauskredite oder Altersvorsorge sind demnach allesamt schlecht, weil sie die Ressourcenallokation verzerren – in dem Sinne, dass sie das nationale Einkommen gegenüber dem, wie es sonst ausfiele, schmälern. Dazu sind zwei kurze Bemerkungen dringend angebracht. Da wäre zum einen, dass uns eigentlich nichts zu der Annahme berechtigt, die Besteuerung, mit der die Einnahmen für ein würdiges Projekt oder für die Ausbreitung sozialer Gerechtigkeit erhöht werden, „verzerre“ die Vorsteuerallokation der Ressourcen nicht (es sei denn, wir definierten „Verzerrung“ so, dass wir die gewünschte Antwort erhielten). So oder so müssen alle Steuern (selbst der einzigartige heilige Gral der Wohlfahrtsökonomie, die „neutrale“ Pauschalsteuer), alle Transfers, Subventionen, Tarife, Mindestpreise und Höchstpreise usw. das Angebot und die Nachfrage der betroffenen Produkte und Faktoren ändern. Wenn wir sagen, dass sie dieselben verzerrten, dann sagen wir im Grunde, dass wir mit der Änderung nicht einverstanden sind. Es ist schon eine Selbsttäuschung, wenn wir uns vormachen, dass unsere Zustimmung viel mehr sei als ein Spiegelbild unserer Vorurteile, eine von Kenntnis geprägte Diagnose, die Funktion eines „objektiven“ Kriteriums, das sich in der einen oder anderen Weise spiegele, z. B. in der Allokationseffizienz des Nationaleinkommens (statt in den eher umstrittenen Größen wie „Gesamtnutzen“ oder „Wohlfahrt“). Ob die Ressourcenallokation nach Steuern, nach Wohlfahrtszuschüssen, nach Tarifen usw. eher ein größeres oder ein kleineres Nationaleinkommen produziert hätte als die Ressourcenallokation vor Steuern, vor Tarifen etc., ist ein Problem der Indexzahlen, das keine wertfreie „objektive Lösung“ hat. Es ist keine Frage des Wissens, sondern der Meinung, auch wenn diese durchaus „vernünftig“ sein mag. Die meisten Menschen, die vernünftig sind, dürften die Meinung teilen, dass dann, wenn der Staat alle Einnahmen durch hohe Steuern auf ein Gut wie das von allen gebrauchte Salz generierte und alles für die Launen von Madame de Pompadour ausgäbe (eine einnehmend einfache Auffassung von der schlechten alten Zeit, zu der sich wohl kaum jemand bekennen würde, obwohl viele sie mindestens für halb wahr halten), das Nationaleinkommen (vom Nutzen ganz zu schweigen) unter dem läge, das die meisten anderen Umverteilungsmuster der Geschichte kennen.178 Weniger wirklichkeitsfremde Einnahmen-Ausgaben-Muster 177
Brittan (1983). Madame de Pompadour würde all ihr Geld für Sevres Porzellan ausgeben und die übrigen Menschen all ihr Einkommen für Salz, sofern die Salzsteuer hoch genug ist, um ihnen 178
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lassen uns indes vielleicht tatsächlich an ihrer Auswirkung auf das Nationalprodukt zweifeln. Aber selbst jene, die dann am wenigsten zum Zweifel neigen, dürften die „nicht-verzerrende“ Natur zusätzlich erhobener Steuern ernsthaft in Frage stellen, möge der Anlass, zu der diese erhoben wurden, auch noch so edel gewesen sein. Die andere Bemerkung ist einfacher und zugleich wichtiger. Es ist einfach so, dass es praktisch keinen Unterschied macht, ob wir gute von schlechter Umverteilung „objektiv“ unterscheiden können. Wenn wir die eine haben, dann haben wir die andere auch. Ein politisches System, das, dank der Konkurrenzangebote für Zustimmung, Umverteilung produziert, die in unseren Augen der Gleichheit und Gerechtigkeit zuträglich ist, wird auch Umverteilung herstellen, die wir für eine Begünstigung der Interessengruppen halten. Auf keinen Fall ist klar, ob es „objektive“ Kriterien gibt, die sagen, wer wer ist. Noch weniger klar sind die Mittel, mit denen man die einen vielleicht eingrenzen oder stoppen und die anderen durchlassen kann. Fassen wir zusammen: Während der Staat in einem politischen System, das Konsens verlangt und Wettbewerb zulässt, logisch daran gebunden ist, Umverteilung zu erzeugen, bestimmt er deren Ausmaß und Reichweite nicht; nicht im herkömmlichen Sinne von „bestimmen“. Hat die Umverteilung erst einmal begonnen, dann setzt ihre süchtig machende Natur unbeabsichtigte Veränderungen im individuellen Charakter und in den Strukturen der Familie und der Gesellschaft in Gang. Obwohl man manche gutheißen und andere verurteilen mag, gibt es dazu keine praktikabel erscheinende Selektionskontrolle. Die besagten Veränderungen wirken auf die Art und das Ausmaß der Umverteilung, die der Staat vorzunehmen hat, zurück. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass verschiedene kumulative Prozesse in Gang gesetzt werden. In all diesen Prozessen treiben die Umverteilung und gewisse soziale Veränderungen einander an. Die innere Dynamik dieser Prozesse zeigt immer nach vorn. Sie scheinen keinen Begrenzungs- oder Gleichgewichtsmechanismus zu haben. Staatliche Begrenzungsversuche provozieren Entzugserscheinungen und dürften mit dem politischen Überleben in demokratischen Verhältnissen unvereinbar sein.
sonst kein Geld für andere Sachen übrig zu lassen. Man beachte, dass die Besteuerung von Salz (statt von Dingen mit einer elastischeren Nachfrage) keine große Verzerrung auslösen würde, weil die Nachfrage nach Salz nicht mit dem Preis variierte. Gleichwohl würden wir meinen, dass das Nationaleinkommen durch die Salzsteuer sinken würde, wenn man es nur für Salz und chinesisches Porzellan ausgäbe.
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4. Kapitel: Umverteilung
Steigende Preise Inflation ist entweder ein Heilmittel oder eine endemische Bedingung. Was sie von beiden ist, hängt davon ab, ob sie die Verluste, die notwendig sind, um den Gewinnen andernorts Rechnung zu tragen, jemandem aufdrängen kann.
Die Regierten zu regieren hilft, sie unregierbar zu machen. Es gibt kein Phänomen, das mehr als eine vollständige Erklärung hätte. Dennoch kann die vollständige Erklärung in mehr als einem Ausdruckssystem kodiert sein. Ob auf englisch, japanisch oder spanisch: sie muss dieselbe Erklärung bleiben. Alternative Theorien zu einem präzise identifizierten Phänomen ökonomischer oder gesellschaftlicher Natur konkurrieren oft aufs Schärfste miteinander, als bestünden sie darauf, sich gegenseitig auszuschließen. Aber entweder sind sie unvollständig und falsch oder vollständig und inhaltlich identisch. Ist Letzteres der Fall, dann müssen sie jeweils in das andere Begriffssystem übertragbar sein. Die alternativen Inflationstheorien sind dafür ein typisches Beispiel. Ihre Konkurrenz ist berüchtigt. Eine Theorie argumentiert im Sinne überhöhter Güternachfragen und fasst die Inflation als Defizit der Sparabsicht in Relation zur Investitionsabsicht auf. Dies wiederum wird mit einem Überschuss an erwarteten Kapitalgewinnen via Zinsrate in Verbindung gebracht oder in anderen Worten ausgedrückt, die in dieselbe Richtung zielen. Eine andere Theorie geht zum einen von dem Verhältnis aus, das zwischen den Preisen und Zinsraten von heute und jenen von morgen besteht, und andererseits davon, dass die Menschen versuchen, ihr Barguthaben zu reduzieren (oder zu erhöhen), was die gegenwärtigen Preise hochtreibe. Für den, der seine Ökonomie lieber mit einer Dosis Physik mag: Die „Geschwindigkeit“ einer als passend empfundenen „Geldmenge“ steigt, bzw. es zeigt sich, dass bei gleicher Geschwindigkeit eine größere Geldmenge passender wäre. Wie immer man es auch drehen mag, die Idee, dass die Menschen den realen Wert des von ihnen gehaltenen Geldes an das, was sie ihrer Meinung nach besser halten sollten, anpassen, drückt in Form des Geldüberangebots das aus, was andere Theorien in Form einer überschüssigen Güternachfrage darstellen. Folgt man wiederum einer anderen Theorie, dann entspricht die Verteilung des Realeinkommens unter Kapitalisten mit hohen Rücklagen (bzw. Unternehmen, die ihnen gehören) und Arbeitern mit geringen Ersparnissen dem, was notwendig ist, damit die Höhe der Ersparnisse für das Investment reicht. Die Inflation soll die Konsumption reduzieren und die Profite durch Lohnabwertung ankurbeln, wohingegen dann, wenn die Lebenshaltungsindexierung oder das Aushandeln eines kräftigen Lohnanstiegs dasselbe verhindern würden, die Inflation einfach weiter ihre Runden drehte und zu nichts führte. Die Übertragung dieser Theorie in die Sprache der beiden anderen Theorien ist vielleicht nicht unmittelbar möglich, liegt aber dennoch im Rahmen dessen, was dem ökonomisch Gebildeten möglich sein sollte. (Vielleicht braucht er einen kleinen Stups. Wahrscheinlich hat er seine „Lieblingssprache“ und mag es nicht, sie zu übersetzen.)
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Ein Ziel dieser Gedankenspielerei ist es, die Auffassung zu unterstreichen, dass es eigentlich unter dem intellektuellen Niveau einiger ihrer Vertreter liegt, wenn man zwei Preisniveautheorien (von denen eine peinlicherweise „Monetarismus“ genannt wird) zum Gegenstand hitziger Kontroversen mit einem religiösen Anstrich macht. Die Kontroverse ist entweder gestellt oder sie dreht sich eigentlich um andere Dinge und würde davon profitieren, wenn man diese explizit herausstellte. Ich beharre aber auch deshalb auf dem Standpunkt, dass die ehrbaren Theorien im Grunde äquivalent sind, um sicherzustellen, dass man mir nicht unterstellt, ich täuschte mit dem Erklärungsschema, das ich nun in seiner Kurzform vorstellen möchte, eine Innovation vor. Das Schema ist nichts anderes als eine weitere stark verkürzte „Übersetzung“ der besagten Theorie und greift weitgehend auf die Terminologie zurück, die im vorigen Abschnitt dieses Kapitels verwendet wurde. Warum man das Schema überhaupt aufstellen sollte und wie es sich in die Hauptthese dieses Buches einfügt, sollte im weiteren Verlauf der Überlegungen deutlich werden. Nehmen wir der Einfachheit halber an, eine Gesellschaft bestünde nur aus organisierten Interessengruppen. Jede verkauft nun ihren Sonderbeitrag zum Wohlergehen der anderen und erwirbt deren Beiträge. Die Anzahl dieser Gruppen ist endlich. Folglich kann jede ihren Verkaufspreis beeinflussen, und wir nehmen an, dass jede das so getan hat, dass sie ihre Position nicht weiter verbessern kann. Nun lassen wir die vor uns liegende Jahrtausendwende alle Mitglieder zu gleichgesinnten Altruisten machen, die sich in kollektiven Handlungen dafür einsetzen, dass die Mitglieder der anderen Gruppen besser gestellt werden (ohne dass es ihnen etwas ausmacht, falls dadurch ihre Gruppenmitglieder verarmen sollten). Sie reduzieren den Preis für das Gut oder die Dienstleistung, das bzw. die sie beitragen, und versuchen, die Handelsbedingungen für die anderen zu verbessern. Weil aber auch die anderen ähnlich empfinden, „rächen“ sie sich ihrerseits mit Preisreduzierung; nicht nur, um die Ausgangslage wieder herzustellen, sondern um darüber hinaus zu gelangen, weil sie für Erstere wollen, dass diese als Gruppe besser dastehen als zu Beginn. Dann rächt sich die erste Gruppe usw. Es gibt keinen eingebauten Grund, der den Bockspringprozess an irgendeinem besonderen Punkt, z. B. nach einer bestimmten Anzahl ergebnisloser Runden, enden ließe. Die verschiedenen „Preissetzer“ werden im Wettbewerb um die Besserstellung ihrer Vertragspartner eine lebhafte Nachfrage nach fallenden Preisen in Gang setzen. Selbstredend gibt es in unserem Jahrtausend dazu ein fast perfektes Gegenstück, zumindest näherungsweise. Gemeint ist die moderne Gesellschaft, so wie sie sich seit der Jahrhundertmitte entwickelt hat. Das „Preisniveau“ der besagten Güter und Dienstleistungen fiel in dieser Zeit nie, während die Preise für Anlagegüter in diesem Zeitraum sowohl stiegen als auch fielen, wie man weiß. Meistens stieg das Preisniveau, und die Tonlage des gegenwärtigen Diskurses legt den Schluss nahe, dass dies ein weithin akzeptierter Dauerzustand ist, mit dem man zu leben hat und den man auf die eine oder andere Art in Schranken halten muss (ohne ernsthafte Hoffnung auf dessen Beendigung). Eine Gesellschaft eigeninteressierter
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Interessengruppen, in der die vergeblichen Versuche, Verteilungsanteile zu gewinnen, zu einer Interaktion führten, die sich spiegelverkehrt zu der imaginären Interaktion der im vorigen Absatz beschriebenen Altruisten verhielte, würde natürlich eine endimische Inflation auslösen. Zu der Erklärung, die auf Gewinnstreben und Zurückweisung entsprechender Verluste rekurriert, kann man problemlos Versionen ersinnen, die den Sachverhalt besser artikulieren. Wir könnten eine Naturzustandsgesellschaft nehmen, in der die Interessengruppen, nach langem Handeln zum Stillstand gekommen, ihre absoluten und relativen Anteile nur noch schützen (und nicht länger vergrößern) wollen. Überraschungsgewinne würden sie wohl noch annehmen, aber Überraschungsverluste würden sie ablehnen. (Vielleicht ist es unfair, aber genau so würde ich die Idee verstehen, die man in einem Großteil der übertrieben optimistischen Makrosoziologie findet, die von einem pluralistischen Gleichgewicht schreibt, das aus dem reziproken Anpassen aller wichtigen, einander entgegengesetzten Interessen hervorgehe, ohne dass jemand wirklich böse würde.) Jeder exogene Schock (ausgenommen Überraschungsgewinne, die zufälligerweise jeden proportional gleich bereichern) muss demnach eine Inflationsspirale auslösen. Aus Sicht der Theorie gibt es keinen Grund, warum die Spirale, einmal in Gang, je enden sollte. Außerdem gibt es nichts, das ihre Geschwindigkeit (oder ihre Beschleunigung) steuerte. Gleichwohl passt sie recht gut zur klassischen Kausalerklärung, wonach der Krieg zum Scheitern der Ernte führt, denn sie sieht in den Strukturmerkmalen der Gesellschaft die Gründe dafür, warum die einmal verlorene Preisstabilität nie mehr zurückgewonnen werden kann (soll heißen: warum die Inflation nicht tut, was sie soll). Solch eine Theorie kann auf der üblichen Einbahnstraße vom Naturzustand zur politischen Gesellschaft ihre Flügel ausbreiten und fliegen. Hier wird das Tauziehen um die Verteilungsanteile nicht durch einen Anstoß in Gang gesetzt. Der Schock ist nicht exogen, sondern wird vom System selbst generiert, und zwar endogen. Das Tauziehen ist das, worum es bei der Interaktion von Staat und Interessengruppen hauptsächlich geht (wobei die Skala der Interessengruppen von einzelnen Unternehmen bis hin zu kompletten gesellschaftlichen Klassen reicht). Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den hochgradig politisierten Auswüchsen der Theorie; mit Umverteilungsgewinnen infolge von staatsorientierten Gruppenhandlungen, die entweder marktorientierte und/oder staatsorientierte Gegenaktionen bei den Verlierern auslösen, einschließlich jener urwüchsigen Hybridaktionen, bei denen eine Verlierergruppe sich einem bestimmten Teil der neutralen Öffentlichkeit in den Weg stellt (z. B. Fernfahrer, die Autobahnen und Straßen blockieren), um den Staat zum Ausbügeln der Verluste zu zwingen. In ausgebauter Form könnte die Theorie auch andere Elemente berücksichtigen, wie z. B. die Trägheit, die Illusion des Geldes oder die unterschiedlich große Macht, mit der die Gruppen ihre eigenen Geschäftsbedingungen durchsetzen. Sie sollte auch einräumen, dass die Umverteilung ihrer Natur gemäß weitgehend schleichend ist, und zwar infolge der unermesslichen Weite und ungeheuren Vielschichtigkeit,
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die in den „Werkzeugkisten“ der modernen Fiskal- und Wirtschaftspolitik herrschen, dem in der Regel ungewissen Einsetzen der politischen Maßnahmen und auch dem verführerischen Augenwischertrick, durch den die wachsenden Haushaltsausgaben die „wahre“ Verteilung in der Gegenwart herbeiführen, während das wachsende Haushaltsdefizit die „finanzielle“ Last offenkundig in die Zukunft schiebt. Bei aller Zufälligkeit und Ungeplantheit der Umverteilung sollte man doch davon ausgehen, dass die Undurchsichtigkeit, die der Mechanik vieler Umverteilungsformen innewohnt – für die Gewinner offenkundig, für die Verlierer verdeckt – zu verspäteten oder unvollständigen Gegenmaßnahmen auf Seiten der Verlierer führt und die Inflation somit die Umverteilung nicht komplett nullifiziert. Sobald keiner mehr, der es könnte, weiter nachgibt, ist eine weitere Umverteilung auf dessen Kosten theoriegemäß zum Scheitern verurteilt. Setzt man die Versuche dennoch weiter fort, dann hält auch die Inflation der Vereitelung weiter an. Wenn es in der Natur demokratischer Politik liegt, dass die Versuche endemisch sind, dann ist auch die Inflation endemisch. Ein weniger abstraktes Szenario würde auch für einige unorganisierte Teile, Schichten oder Funktionen der Gesellschaft eine Rolle vorsehen; für Rentenpapierinhaber, Kleinanleger, Witwen und Waisen (und für alle, die unter einer „Liquiditätspräferenz“ leiden). Sie würden verlieren, wenn die vom Staat ausersehenen Gewinner gewännen. Aber die designierten Verlierer schaffen es, den ihnen zugedachten Verlust zu vermeiden. Die Inflation hält gewissermaßen „Ausschau“ nach schwachen Händen, denen sie, sofern es solche gibt, die Ressourcen entreißen kann, die eigentlich die Gewinner einstreichen sollten. Sie agiert damit als Heilmittel gegen das Ungleichgewicht der Ressourcen. Hat sie so ihre eigenen Ursachen behandelt, dann kann sie abklingen. Was folgt daraus? Wenn erst einmal jeder gleichermaßen welterfahren ist und zudem organisiert, achtsam und fest entschlossen, auf dem Markt, in der Streikpostenkette, der Parteisitzung oder unter Fahnen auf der Straße, das, was er hält, zu verteidigen, dann hat die Inflation keine Macht mehr, die Umverteilungsanteile zu ändern. Stattdessen wird sie zu einem der mächtigeren Mittel, mit deren Hilfe solche Anteile gegen den Druck verteidigt werden, der dem politischen Prozess oder der Natur entsteigt. Eine Inflationstheorie, die vor allem auf das Bollwerk rekurriert, das der demokratische Staat um genau jene Verteilungsanteile herumbaut, deren Manipulation wahrscheinlich seine hauptsächliche Machterhaltungsmethode darstellt, benötigt zunächst keine Erklärung dafür, warum diese Anteile das sind, was sie sind, und die Interessengruppen einen bestimmten Grad an Preisgestaltungsmacht haben. Allerdings ist sie anschlussfähig und kann so Bestandteil einer ökonomischen Theorie werden, die derlei Erklärungen enthält. Der Anschluss wäre sogar die natürliche Weiterführung der „Übertragung“ jener Form vagen soziopolitischen Diskurses in eine präzisere Wirtschaftstheorie der einen oder anderen Art. Diese Übung würde allerdings nur den Mangel an Novität, den unser Ansatz im Grunde hat, offenlegen. Dessen wirkliche Daseinsberechtigung liegt nicht in dem Anspruch, bei der Erklärung der Inflation helfen zu können, sondern mittels Betrachtung des
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Nutzens bzw. der Nutzlosigkeit der Inflation ein Verständnis für den wachsenden Widerspruch zu entwickeln, nämlich dem, dass die Umverteilung einerseits Zustimmung zu staatlicher Macht erzeugt und anderseits genau die Bedingungen fördert, unter denen die Gesellschaft gegen ihre Umsetzung resistent wird. Im Unterkapitel über die süchtig machende Umverteilung habe ich die These aufgestellt, dass mit der Produktion demokratischer Werte immer mehr Menschen öffentliche Hilfe erhalten, nutzen und zu fordern beginnen und dass deren Verfügbarkeit sie lehrt, sich zu organisieren, um mehr und in vielfältigerer Weise von ihr zu profitieren. Aus der Betrachtung der Inflation ergibt sich sogleich die Antithese. Die Umverteilung verformt den Charakter der Personen, Familien und Gruppen in einer Weise, dass die vorhandene Umverteilung „einfriert“. Indem sie „Ansprüche“ heranzüchtet und dafür sorgt, dass errungene Positionen korporativ verteidigt werden, sind Umverteilungsanpassungen immer schwerer zu erzielen. Wechsel einläuten, „Politik machen“ und neue Muster mit Gewinnern und Verlierern erfinden überfordern die Staatskunst. Wenn im Leben eine übermächtige Tatsache erzwingt, dass es Verlierer gibt, dann zeigen sich Rückzugssymptome und Trotzreaktionen, dann wünschen sich die Ludditen der Letzten Tage lieber den Tod herbei und ruinieren lieber ihre Existenzgrundlage als zuzusehen, wie sie dahinschwindet, während das fehlinvestierte Kapital Himmel und Erde in Bewegung setzt, um gerettet zu werden. Wenn der Staat merkt, dass die Gesellschaft „unregierbar“ ist, dann spricht einiges dafür, dass es seine eigene Regierung war, die sie dazu gemacht hat.
Umrühren Eine Gewinnkaskade, deren Kosten von den Gewinnern selbst getragen werden müssen, sorgt letzten Endes mehr für Frustration, Missmut und Wirbel als für Zustimmung.
Das entscheidende Dilemma der Demokratie ist, dass der Staat sich selbst zurückdrängen muss und es nicht kann. Ob ganz schlicht in Form von Steuern und Transfers oder durch Bereitstellung öffentlicher Güter, für die einige vor allem zahlen und an denen andere sich vor allem erfreuen, wie Industriepolitik und ähnliches: per saldo werden einige Bürger des Staates behindert, damit anderen geholfen wird. Das gilt unabhängig vom Ziel der Übung, also auch dann, wenn der Umverteilungseffekt ein beiläufiges, indifferentes, unbeabsichtigtes und vielleicht sogar unbemerktes Nebenprodukt ist. Das allgemeine, gemeinsame Merkmal dieser Transaktionen ist, dass der Staat im Grunde Peter beraubt, um Paul zu bezahlen. Sie sind nicht „pareto-optimal“; sie würden nicht die einhellige Billigung der eigeninteressierten Personen Peter und Paul erhalten. In diesem Sinne rangieren sie unterhalb jenes Typs von „Gesellschaftsvertrag“, bei dem der souveräne Zwang nur deshalb gefragt ist, um allen zuzusichern, dass jeder sich an die kooperative Lösung hält und Paul gewinnen kann,
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ohne dass Peter verliert (oder, wie Rousseau es so unglücklich ausdrückte, dass beide „gezwungen werden können, frei zu sein“, soll heißen: besser dran zu sein, als beide es sein könnten, wenn sie nicht zur Kooperation gezwungen würden.) Sie rangieren auch unter den Arrangements vom Typ Einige-gewinnen-und-keiner-verliert, aber nicht, weil wir immer ein Arrangement, bei dem Paul gewinnt, ohne dass Peter verliert, einem anderen Arrangement vorziehen, bei dem Paul viel gewinnt und Peter wenig verliert. So mancher würde es bestimmt gutheißen, wenn man Peter einen Dämpfer versetzte. Es mag aber auch andere Gründe dafür geben, das eine Arrangement dem anderen vorzuziehen, selbst wenn wir nicht glauben, dass es einen Sinn ergäbe, das Gute ins rechte Gleichgewicht zu bringen, indem man die Verluste des einen von den Gewinnen des anderen abzieht. Arrangements vom Typ Einige-gewinnen-und-einige-verlieren sind jenen vom Typ Einige-gewinnen-und-keiner-verliert allein deshalb unterlegen, weil letztere ipso facto gut sind (zumindest wenn Neid bei der Rechnung außen vor bleibt) und erstere einen Grund erfordern, auf dem der Anspruch der Güte fundiert werden kann. Nur-Gewinner-Arrangements sind interessante gedankliche Konstrukte. Es ist umstritten, ob es sie in der Wirklichkeit gibt und, falls ja, ob sie im Verhältnis von Staat und Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen.179 Andererseits sind Arrangements der Form Einige-gewinnen-und-andere-verlieren das, was die Zustimmung und die adversen Beziehungen zwischen Staat und Bürger hauptsächlich im Umlauf hält. Bevor wir einen letzten Blick auf die Sackgasse werfen, in die sich der Staat im Zuge seines Aushandelns von Gewinnen und Verlusten fatalerweise hineinzumanövrieren scheint, ist es m.E. notwendig, und weit mehr als reine Pedanterie, Protest gegen ein weitverbreitetes Missverständnis bezüglich des Umverteilungsmechanismus einzulegen. Es ist seit geraumer Zeit üblich, die Fiskalfunktionen des Staates unter dem Reiter Allokation und Distribution zu führen.180 Unter Allokation subsummiert man die Wer macht was-Entscheidungen über die bereitzustellenden öffentlichen Güter, die „Lenkung der Wirtschaft“ und die Sicherstellung, dass der Markt seine Arbeit macht. Als Fiskalfunktion geht es bei der Distribution darum, wer was kriegt, ohne dass die Märkte arbeiten. Die gedankliche Separierung hat dazu geführt, dass man diese Funktion als eine Sequenz auffasst, welche die Sozialingenieure einlädt, die Ärmel hochzukrempeln und sich an die Arbeit zu machen: „Zuerst allozieren wir, und dann distribuieren wir, was die Allokation 179 Es fällt ohnehin schwer, sich ein reines öffentliches Gut vorzustellen, das im Naturzustand gar nicht hergestellt werden könnte. Gleichwohl kann man durchaus behaupten, dass Güter mit einem hohen Grad an „Öffentlichkeit“ nur in einem „suboptimalen“ Umfang produziert würden. Die Idee des optimalen Umfangs ist jedoch anfälliger, als es aussieht, schon allein, wenn man bedenkt, dass der Geschmack für öffentliche Güter sehr wohl davon abhängen kann, wie sie produziert werden. D.h., die Politik kann einen Geschmack für politische Lösungen heranzüchten und die Menschen vergessen lassen, wie sie ihre Probleme durch spontane Kooperationen lösen können. 180 Genau genommen seit 1959, wie ich meine, dem Jahr, in dem R.A. Musgraves Lehrbuch The Theory of Public Finance erschien.
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ergeben hat.“ Die Annahme, dass in einem System mit starken Interdependenzen die Distribution von der Allokation abhänge, aber die Allokation nicht von der Distribution, ist schon bemerkenswert.181 Jene, die diese Annahme teilen, kämen ganz schön ins Schwitzen, falls sie sich als wahr herausstellte. Wenn dem Berauben von Peter nicht folgte, dass er weniger Champagner und Tänzerinnen konsumierte, und das Bezahlen von Paul nicht dazu führte, dass er eine bessere Gesundheitsversorgung und seine Kinder die verdiente Weiterbildung genießen könnten, warum sollten die Sozialingenieure sich dann Sorgen machen? Die Entscheidung, dass Paul mehr kriegt und Peter weniger, impliziert auch die Entscheidung, ehemalige Tänzerinnen für den Bereich der Erziehung und Krankenpflege zu allozieren. Nur in dem seltsamen Fall, in dem ein entreicherter Peter und bereicherter Paul die Dienste der Tänzerinnen, Krankenschwestern und Lehrer gemeinsam in derselben „Gesamtkonstellation“ wie zuvor in Anspruch nähmen, träfe dies nicht zu. Im Anschluss an die Dichotomie von Allokation und Distribution gehen Liberale davon aus, dass es zwei Domänen gibt, die ihrer Art nach verschieden sind. Eine von diesen ist die Domäne der Allokation, die grundsätzlich nicht-konfliktgeladen ist und zu „positiven Summenspielen“ führt. Die andere ist die düstere, konfliktreiche Domäne der „Nullsummenspiele“, in der es darum geht, wer was bekommt. (Wie bereits in Kapitel 3.4 erwähnt, handelt es sich nicht um Spiele, und die Sprache der Spieltheorie zu bemühen, ist eher schick. Aber sei es drum.) Ich habe, vielleicht mehr als ausreichend, betont, dass die vermeintlichen Spiele nicht einzeln gespielt werden können und Allokationsentscheidungen gleichzeitig Distributionsentscheidungen sind, und umgekehrt. Eine Entscheidung darüber, wer was kriegt, legt fest, was produziert werden soll, und, folglich, wer was tun soll. Die Emanzipierung der einen Entscheidung von der anderen erinnert an den marxistischen Ehrgeiz, das „Regieren der Menschen“ von der „Verwaltung der Dinge“ trennen zu wollen. Es mag ja legitim sein, Allokationsveränderungen als ein Mittel zu sehen, das im Erfolgsfall positive Summen zeitigt, so dass, mathematisch gesehen, niemand infolge der Veränderung etwas verlieren muss. Aber was sagen wir, wenn jemand dabei etwas verloren hat? Es ergibt keinen Sinn zu sagen, dass der Verlust eigentlich einer begleitenden Nullsummenverteilungsentscheidung zuzuschreiben ist und dass der Verlierer nichts hätte verlieren müssen, wenn die Verteilung anders ausgefallen wäre; es ergibt deshalb keinen Sinn, weil eine andere Verteilung eine andere Allokation bedingt hätte. Wenn wir die Aussage über die beiden Entscheidungen auf Geldsummen oder Apfelmengen münzten, dann würde sie inkohärent werden, weil wir nicht einfach voraussetzen können, dass der Allokationsgewinn der gleiche geblieben wäre, falls wir versucht hätten, ihn anders aufzuteilen. Sie wäre doppelt inkohärent, wenn wir sie auf Güterbündel münzten (von Nutzen ganz zu schweigen), denn dieses Vorgehen käme vielen Menschen wie der Versuch vor, 181 Im Zusammenhang mit Rawls’ Verteilungsgerechtigkeit und den sie begleitenden „Hintergrundinstitutionen“ (S. 172) habe ich eine besonders starke Form dieser Annahme herausgestellt.
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das Restgleichgewicht zwischen mehr Äpfeln für Paul und weniger Birnen für Peter zu finden. Das Argument, sofern es überhaupt eines ist, leidet darunter, dass Umverteilung a priori kein Nullsummenspiel ist (weil es sich auf die Allokation auswirkt) und es sehr schwierig zu sein scheint, empirisch zu sagen, was sie ist. Sie „Nullsumme“ zu nennen, weckt die falsche Vorstellung von der Umverteilungsfunktion des Staates als etwas, das neutral und harmlos sei und die Interessen der Parteien, außer jenen von Peter und Paul, intakt ließe. Die heraufbeschworene Vorstellung ist aus zwei Gründen falsch. Erstens, selbst wenn der Ressourcenaufwand für Pauls Gewinn in einem buchhalterischen Sinne den Ressourcenkosten für Peters Verlust genau entspräche (und wir von den Verwaltungs- und Durchsetzungskosten dieser Arrangements absähen), könnte man Peter und Paul immer noch unter den Aspekten wie „Wohlfahrt“ oder Klassenkampf als ungleich betrachten. Zweitens und wichtiger ist, dass die Ressourcenallokation der neuen Verteilung entsprechen muss. Die Verträge, Eigentumsverhältnisse, Investitionen und Arbeitsplätze usw.: sie alle müssen angepasst werden. Die Interessen eines jeden sind von den Rückwirkungen mehr oder weniger betroffen, obgleich manche Interessen nur unmerklich davon beeinträchtigt sein mögen. Die Rückwirkungen selbst sind ebenfalls umverteilend – vielleicht unbeabsichtigt und nur in verdrehter Weise.182 Summa summarum weitet und vergrößert dies die von einem primären Umverteilungsakt induzierte sekundäre Wirbelbewegung aus Allokation-cum-Distribution, und zwar weit über die Interessen jener Parteien hinaus, die davon angeblich betroffen sind. Zumindest in konzeptioneller Hinsicht sollten wir drei separate Elemente der Wirbelbewegung im Auge behalten. Das erste ist die direkte Umverteilung, bei welcher der Staat ein Arrangement verordnet, das einige Interessen auf Kosten anderer besser bedient (egal ob beabsichtigt oder nicht). Das zweite ist die von der ersten induzierte, unbeabsichtigte Reallokation-cum-Redistribution. Diese sekundäre Wirbelbewegung, die einige Energie absorbiert und Anpassungsprobleme impliziert, wollen wir „indirektes Umrühren“ nennen. „Direktes Umrühren“ beschreibt das dritte Element voll und ganz. Aus buchhalterischer Sicht ist es eine reine Bruttoverteilung, die kein oder nur zufällig ein Nettogleichgewicht zurücklässt. Dies tritt dann ein, wenn der Staat einer Person oder einem Interesse Hilfe, Immunität, 182 Anders
die Position, die Nozick (1974), S. 27, einnimmt: „Wir mögen ein Arrangement verkürzend ,redistributiv‘ nennen, wenn die wesentlichen es unterstützenden Ursachen selbst umverteilend sind. … Ob wir von einer Institution, die Geld von einigen nimmt und anderen gibt, sagen, sie sei redistributiv, hängt davon ab, warum sie das unserer Meinung nach tut.“ Nach dieser Auffassung wären unbeabsichtigte, zufällige und perverse Umverteilungen nicht als solche zu begreifen; auch unser „direktes Umrühren“ wäre dann womöglich nicht als Umverteilung anzusehen. Für sie ist nicht interessant, ob gewisse Arrangements Ressourcen umverteilen, sondern ob dies mit ihnen beabsichtigt war. Für manche Zwecke mag diese Unterscheidung interessant sein. Sie erinnert an die Unterscheidung, die Gerichte zwischen vorsätzlichem Mord und fahrlässiger Tötung treffen, eine Unterscheidung, die für den Angeklagten von größerer Bedeutung ist als für das Opfer.
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unterschiedliche Behandlung oder sonst einen Vorteil gewährt und (vielleicht nur wohl oder übel, weil es der zweckmäßigste Weg ist) die Ressourcenkosten aufbringt, indem er derselben Person oder dem Interesse einen mehr oder weniger gleichgroßen Verlust zufügt, der allerdings für gewöhnlich anderer Natur ist. Oberflächlich betrachtet mag dies absurd erscheinen, aber ich hoffe, dass es dies nicht tut. Der Staat hat überzeugende Gründe dafür, in dieser Weise umzurühren. Für reines Umrühren spricht eine Reihe von Überlegungen. Wir wollen nur einige von ihnen anstellen, um die Stärke des Arguments zu erkennen. Es ist durchaus nicht absurd, zunächst anzunehmen, dass es in der Wahrnehmung der Menschen bezüglich großer und kleiner Interessen einen Mangel an Symmetrie gibt (ähnlich wie bei einer kritischen Masse oder dem zu recht verachteten „Wechsel von der Quantität zur Qualität“). Viele Menschen bemerken Gewinne oder Verluste unterhalb einer gewissen Schwelle einfach nicht oder zucken nur mit den Schultern. Wenn der Staat zu dieser Diagnose kommt, dann ist es vernünftig, wenn er seine Berechnungen für die Bildung politischer Unterstützung im Lichte dieses Umstandes durchführt. In gewissen Situationen ist es klug, wenn er ein paar große Gewinner kreiert (deren Unterstützung er damit erkaufen kann), denen viele kleine Verlierer gegenüberstehen (die bloß mit den Schultern zucken). Deshalb kann es eine gute Politik sein, ausländischen Weizen mit einem hohen Zoll zu belegen, um den Bauern einen Gefallen zu erweisen, und den Preis für einen Laib Brot nur geringfügig ansteigen zu lassen183, bzw. generell die Produzenteninteressen über die eher diffusen Konsumenteninteressen zu stellen, ungeachtet der Tatsache, dass der Produzent ausreichend organisiert ist, um einen Preis für seine Unterstützung herauspressen zu können, und der Konsument nicht, respektive nicht so effektiv. Wir brauchen uns nicht klar zu machen, dass dann, wenn der Staat von einer zur anderen Produzentengruppe übergeht, um diese wohlwollende Asymmetrie auszunutzen und dadurch das Rennen zu machen oder zumindest der Opposition einen Schritt vorauszubleiben, jeder seiner Bürger, der als Produzent und Konsument in einer Doppelrolle steckt, einen beträchtlichen Gewinn durch eine große Anzahl kleiner Verluste „finanziert“. Das Nettogleichgewicht der Umverteilung, wenn es denn eines gibt, das zudem zugesichert werden kann, geht in der Flut an Bruttogewinnen und Bruttoverlusten, die weitgehend dieselben Personen treffen, unter; und das „direkte“ Umrühren geht weiter. Die Mengen an Ressourcen, die durch indirekte Steuern, Subventionen und Preisfestsetzungen umgerührt werden, dürften den mit dem Umrühren verbundenen Nettotransfer weit in den Schatten stellen. Ein ähnliches Standardargument führt von der „Industriepolitik“ zum Umrühren. Sei es, um ihr Wachstum zu fördern oder sie vor dem Untergang und der 183 Vor allem in Staaten wie Afrika, wo die Landbevölkerung rein physisch zu sehr von der Politik abgeschnitten ist und es am besten ist, mittels einer Niedrigpreispolitik für landwirtschaftliche Produkte die ländlichen Interessen dem städtischen Proletariat, den staatlichen Bediensteten, den Soldaten usw. zu opfern, scheint die Rechnung eher umgekehrt aufzugehen.
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Auslöschung zu bewahren: der politische Nutzen, der entsteht, wenn man einer Firma oder einer Industrie hilft (vor allem, wenn diese „Arbeitsplätze sichert“) übersteigt wahrscheinlich den politischen Schaden, der eintritt, wenn die anderen Firmen und Industrien mit dem geringen und diffusen Kostenanstieg konfrontiert werden. Daraus ergibt sich, dass es für den demokratischen Staat gut ist, wenn er jeden Industriezweig dazu bringt, jeden anderen Industriezweig auf verschiedenen und mehr oder weniger schwer einsehbaren Wegen zu unterstützen.184 In der Folge kommt es zu großen Überlappungen von sich gegenseitig aufhebenden Gewinnen und Verlusten, die vielleicht nur irgendeinen schmalen Nettogewinn hier und einen Nettoverlust da zurücklassen. Darüber, wo solche Gewinnsplitter abfallen werden, lässt sich indes nur rätseln. Aufgrund der verwobenen Natur der sozialen und ökonomischen Materie, die umgerührt wird, liegt es sowohl auf der Hand, dass der Industriezweig, dem geholfen werden sollte, Schaden erlitt, als auch, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, wohin der Nettoeffekt ging, wenn es denn einen gab. Ein anderer Aspekt der These über das Umrühren ist die offenkundige Asymmetrie der Möglichkeiten, die der Staat hat, ja oder nein zu sagen. Dem Druck standhalten, ein Interessenbedürfnis zurückweisen oder ein Gut, für das es große uneigennützige Fürsprache gibt, einfach einmal nicht zu liefern, hat zweifellos meistens unmittelbare und oft verheerende politische Kosten. Auf der anderen Seite ist der politische Vorteil des Neinsagens eher ein langfristiger, unsicherer und nur langsam heranreifender Vorteil. Der Rabatt, den die Ungewissheit der Amtszeit auf ferne Auszahlungen gewährt, entwertet ihn genauso, wie es die triviale Natur tut, die den meisten Einzelentscheidungen für oder gegen etwas eigen ist: sie sind „ein Tropfen auf den heißen Stein“. In einer vielfältig differenzierten Gesellschaft mit breitgefächerten Anliegen und Interessen ist der Staat andauernd dabei, viele kleine Entscheidungen gegen oder für derlei Interessen zu fällen, und sie alle kosten nur „eine Million hier, eine Million da“. Freilich kommen in der Summe so bald Milliarden zusammen und: „Eine Milliarde hier, eine Milliarde dort, und es dauert nicht lange, bis Sie über richtiges Geld reden.“ Aber mit keiner der einzelnen Entscheidungen springt der Staat aus dem Reich der Millionen direkt in das Reich des richtigen Geldes. Der Tag der Abrechnung ist noch nicht in einer Woche („in der Politik eine lange Zeit“). Und da Kompromisse und das Vermengen der Angelegenheiten sui generis vorteilhafter sind als „gegensätzliche“ Lösungen, gelingt es dem Staat letzten Endes doch, alle vorhandenen Bedürfnisse zumindest teilweise zufriedenzustellen. Allerdings haben Peter und Paul wiederholt die Gelegenheit, mit verschiedenen 184 Mathias (1969), S. 87 f., listet die Maßnahmen auf, mit denen die Politik der britischen Textilindustrie half: die Korngesetze, das Exportverbot für Schafe und Wolle, die Exportprämien auf Bier und Malz, das Importverbot für Malz, die Schifffahrtsgesetze usw.; alles Beispiele für Maßnahmen, mit denen einem Industriezweig auf Kosten der anderen Industriezweige geholfen wurde, und umgekehrt. Professor Mathias merkt an, dass all dies widersprüchlich und unvernünftig aussähe, wenn man die Wirtschaftspolitik jener Ära als ein logisch organisiertes System anzusehen hätte.
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Bedürfnissen an den Staat heranzutreten. Je öfter sie mit ihren Nachfragen in der Vergangenheit Erfolg hatten, desto öfter werden sie vermutlich jetzt ihre Wünsche einfordern. Weil das System im Grunde so ist, dass der Staat dazu neigt, den Großteil der Anfragen mindestens teilweise mit „ja“ zu beantworten, muss das Hauptergebnis im Umrühren bestehen. Sowohl Peter als auch Paul werden etliche Male damit bezahlt, dass beide auf verschiedene mehr oder weniger durchsichtige Arten beraubt werden, wobei vielleicht als residuales Nebenprodukt eine kleine Nettoumverteilung zugunsten von Paul übrigbleibt. Eine implizite Schlussfolgerung all dessen ist, dass einige Menschen oder Gruppen durch einige direkte oder unbeabsichtigte Umverteilungsarrangements profitieren werden, während sie durch andere Arrangements im gleichen Maße verlieren werden. Ihre Nettoposition können sie bei alledem aber nicht erkennen, falls sie dies überhaupt wollen und falls Nettoposition tatsächlich eine objektive Bedeutung haben sollte. Weil die Wirtschaftspolitik die Preise und Faktoreinkommen zu anderen macht, als sie es in einem politikärmeren kapitalistischen Staat wären, und weil es von Natur aus unmöglich ist, das Einsetzen aller geltenden Direktiven, Anreize, Verbote, Steuern, Tarife usw. zu „kennen“, braucht ein Bürger nicht dumm zu sein, um sich darin zu irren, wo er bei all dem Umrühren bleibt.185 Es liegt im Interesse des Staates, den systematischen Irrtum zu nähren.186 Je mehr Menschen sich für 185 Sogar die einfachste Form eines direkten und „netto“ verbleibenden Umverteilungsarrangements kann irreführend sein und überall Unheil stiften, wie Tocqueville schon feststellte. Die adeligen Großgrundbesitzer Kontinentaleuropas legten großen Wert auf ihre Steuerbefreiung, während der gemeine Mann grollte. Tocqueville erkannte, dass in Wirklichkeit die Steuern eigentlich auf die Pacht des adeligen Bodens erhoben wurden, egal ob diese, technisch gesehen, vom Landeigentümer selbst oder von seinen Leibeigenen bzw. Bauern entrichtet wurden. Eigentlich wurden sowohl die Adeligen wie auch die Bürgerlichen in ihren politischen Haltungen durch die scheinbare Ungleichheit der Behandlung und nicht von den tatsächlichen Verhältnissen geleitet bzw. fehlgeleitet. (Tocqueville (1967), S. 165 f.) 186 Bartlett (1973) verweist in dem Zusammenhang darauf hin, dass die Regierungen versuchen, den Wähler durch die Produktion geschönter Informationen über öffentliche Ausgaben, Steuern usw. irrezuführen. Es ist nur fair, wenn man hinzufügt, dass in so manchem modernen Staat die Indizes zu den Lebenshaltungskosten und die Arbeitslosenstatistiken auch nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Man bedenke auch die Bedingungen, unter denen ein rationaler Staat sich selektiv dazu entscheidet, mal wahrheitsgetreue Statistiken, mal Lügen und mal gar keine Statistiken zu veröffentlichen, und damit sich Raum verschafft, um (besonders ausgewählte) Geheimnisse bewahren zu können. Man denke dabei auch an die Unannehmlichkeiten aufgrund des Umstandes, dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut, und an die Risiken, die es mit sich bringt, wenn man anfängt, seinen eigenen Lügen zu glauben. Es scheint schwierig zu sein, die richtige Mischung aus Wahrheit, Falschheit und Schweigen zu finden – sogar die Sowjetunion, die ihre bevorzugte „Mischung“ freier wählt als die meisten anderen Staaten, scheint sich ein giftiges Gebräu gemischt zu haben. Das Nähren des systematischen Irrtums durch verfälschte Statistiken ist dennoch im Vergleich zu anderen Methoden Kinderkram. Bei der Entwicklung und Propagierung einer dominanten Ideologie, definiert als jene, die den Zwecken des Staates entgegenkommt, wird
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Gewinner halten und je weniger Menschen ihnen deshalb grollen, desto billiger ist es – vereinfacht gesprochen –, die Gesellschaft in zwei mäßig ungleiche Hälften zu teilen und die Zustimmung der dominierenden Hälfte zu sichern. Angesichts des freien Zugangs zum Wettbewerb um die staatliche Macht und der somit extremen Unwahrscheinlichkeit, dass die Rivalen zusammenstoßen werden, muss die Opposition wohl versuchen, den systematischen Irrtum so schnell aufzulösen, wie es dem Staat gelang, ihn herbeizuführen, bzw. einen systematischen Irrtum mit umgekehrten Vorzeichen zu erzeugen, indem sie den Gewinnern sagt, dass sie die Verlierer seien. Wer immer in einem demokratischen Staat an der Macht ist: es ist das stete Bemühen der Opposition, die breite Mittelklasse davon zu überzeugen, dass sie mehr Steuern zahle, als sie zurückerhalte, und die Arbeiterklasse (sofern man von einer derart altmodischen Kategorie überhaupt sagen kann, dass es sie noch gibt) wissen zu lassen, dass die Last des Wohlfahrtsstaates eigentlich auf ihren Schultern ruhe. (Wenn „Rechte“ und „Linke“ in der Opposition sind, dann gelangen beide von entgegengesetzten Prämissen aus zu einem Schluss, der ungefähr so aussieht: Der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung ist zu niedrig, weil die Profite zu niedrig/zu hoch sind.) Was auch immer diese Debatten bewirken mögen, es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sie sich einfach gegenseitig aufhöben. Folgendes scheint von vornherein wahrscheinlich zu sein: Je unsystematischer und weiter vorangeschritten das Umverteilungssystem ist und je schwieriger es ist, seine Verästelung auszumachen, umso mehr Raum muss für falsches Bewusstsein, Illusionen und regelrechte Fehler bleiben, sowohl für den Staat als auch für dessen Bürger. Anders als das klar konturierte Resultat, das eintritt, wenn in einer homogenen Gesellschaft mit nur einem Interesse im Rahmen einer Auktion die Umverteilung von großen zu mittleren Einkommen festgelegt wird (vgl. Kap. 4.2), scheint das Muster, das vom Umrühren komplexer, süchtiger und heterogener Interessengruppen erzeugt wird, viel unschärfer zu sein. Wahrscheinlich kann das Umrühren verschiedene solcher Muster erzeugen, und wir können nicht wirklich vorhersagen, welches es sein wird. Weil es sehr viele alternative Möglichkeiten gibt, die Vielfalt an Interessen in einer hoch differenzierten und ungleichen Gesellschaft auf zwei annähernd gleiche Seiten aufzuteilen, gibt es keinen Grund mehr für die These (die ich für eine homogene Gesellschaft aufgestellt habe), es gebe ein Verteilungsmuster, das unschlagbar, ja das beste sei und mit dem ein politischer Konkurrent zwar gleichziehen, es aber nicht mehr überbieten könne. Folglich braucht es weder eine starke Tendenz zu einer Konvergenz der Programme, noch zu einem Verschwinden echter politischer Alternativen. Eine halbwegs rechte und eine erkennbar linke Politik können durchaus ernsthafte Rivalen sein. der systematische Irrtum generell ohne bewussten Plan genährt, d. h. weitaus effektiver und dauerhaft als durch reines Lügen. So entstand z. B. die wirkmächtige Idee, der Staat sei ein Instrument in den Händen der Bürger (egal ob aller Bürger, deren Mehrheit oder aller Besitzbürger), bestimmt nicht in irgendeinem Propagandaministerium. Die Erzieher, die anderen Menschen Doktrinen vom Staat als Produzenten des öffentlichen Wohls und die erforderlichen Normen guter Staatsbürgerschaft einschärfen, tun dies mit großer Ernsthaftigkeit.
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Jede Rivalität bedeutet dennoch konkurrierende Angebote zu irgendeinem Nettotransfer an Geld, Dienstleistungen, Gefälligkeiten oder Freiheiten gegenüber anderen Personen. Ceteris paribus kann derjenige, der ein solches Angebot macht, mehr Unterstützung generieren als jener, der keines macht, und zwar aufgrund der überall anzutreffenden Prämissen, welche die Menschen überhaupt dazu bringen, eine Politik zu unterstützen. Das ist auch dann der Fall, wenn die Form der Gewinnerofferte mehr als unklar ist. (Man sollte beachten, dass ein deterministisches Vertrauen auf „natürliche Wählerschaften“ und auf Programme, die eine der Wählerschaften ihrem Favoriten aufdrängt, nicht ausreicht. Viele der Interessen passen nicht mehr länger zu einer natürlichen Wählerschaft im Sinne von links, rechts, konservativ und sozialistisch, sondern lassen die „schwankende Mitte“ anschwellen, die gekauft sein will.) Allmählich wird unsere Theorie unscharf. Das muss wohl so sein, wenn sie sich auf ein zunehmend weniger abstraktes Niveau herabbegibt. Die eigentliche Stoßrichtung der Theorie geht darüber indes nicht verloren. Da seine Amtszeit sehr vom Konsens seiner eigenen Bürger abhängt, wird der Staat immer noch vom Wettbewerb zu Umverteilungsauktionen getrieben. Die Vergleichbarkeit der konkurrierenden Angebote ist stärker eingeschränkt als in der abstrakten Version, in der Steuern und Transfers von den großen zu den mittleren Einkommen fließen. Dass man sich mit einem Angebot mit zueinander passenden positiven wie negativen Zahlungen gleichzeitig an bestimmte Segmente der Gesellschaft wendet und bei ihnen um Zustimmung wirbt, ist nicht länger der Fall. Stattdessen gibt es eine lange Kaskade (wobei Ebbe und Flut wohl mit dem Wahlkalender einhergehen) von recht unterschiedlichen Hilfen und Strafen, Zuschüssen und Verboten, Tarifen und Erstattungen, Privilegien und Hindernissen, von denen manche kaum zu quantifizieren sind. Die Kaskade der Opposition ist das Versprechen, die des Staates die Performanz, zumindest teilweise. Ein Vergleich der beiden ist offensichtlich kein leichtes Unterfangen für eine Person mit vielen Anliegen. Diese Anliegen fangen bei den Bürgerrechten an und reichen bis zu den Raten fürs Haus, betreffen den fairen Umgang im Geschäftsleben genauso wie den lausigen Unterricht in der Schule der Kinder, um nur einige, zufällig herausgegriffene Anliegen zu nennen. Die konkurrierenden Angebote müssen einander weder sehr ähneln, noch müssen sie das gesamte Potential an „Auszahlungen“, die zur Umverteilung bereitstehen, vollständig ausschöpfen. Die Vorstellung vom Auszahlungspotential muss in einer weniger präzisen Weise umgedeutet werden. Man kann das Potential nicht so behandeln, als wäre es mit der Besteuerungsfähigkeit ausdehnbar, unter anderem deshalb nicht, weil die Umverteilung zu einem großen Teil das indirekte Ergebnis verschiedener politischer Maßnahmen ist und die Steuern völlig umgeht. Aber auch nachdem dies alles gebührend dargelegt ist, bedeutet der politische Wettbewerb immer noch, dass keiner der Rivalen damit zufrieden sein kann, Umverteilungsgewinne anzubieten, die erheblich unter jenen von ihm vorsichtig geschätzten Nettoverlusten liegen, die er dem Verlierer getrost aufbürden kann.
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Die in jedem differenzierten Gesellschaftssystem vorhandene Interdependenz zwischen dem, wer was kriegt, und dem, wer was tut, und die wenigen, in diesem Unterkapitel eingeführten allgemeinen Annahmen zur Psychologie und zur Arbeitsweise in einem konsensabhängigen politischen Regime führen die Angelegenheit aus dem Wettbewerbsgleichgewicht hinaus zu dem, was man, meinem Vorschlag folgend, das letzte demokratische Dilemma nennen könnte. Zusätzlich zur direkten Umverteilung wird auch ein großer Teil an indirekter Umrührung hervorgerufen. Zudem wird der Staat auch auf eigene Faust und als Reaktion auf politische Anreize hier und da sich zusätzlich auf direktes Umrühren verlegen. Der Suchteffekt von (Brutto)gewinnen durch Umrühren, zusammen mit dem Anreiz zur Ausbreitung von Interessengruppen, führt wahrscheinlich dazu, dass das Umrühren auch dann noch anhält, wenn es keine weiteren Nettogewinne mehr gibt bzw. geben kann. Falsches Bewusstsein, systematischer Irrtum, ein gewisser Grad an Produzenten-Konsumenten-Schizophrenie, aber auch die Neigung zur Trittbrettfahrerei bei Gruppenaktionen zugunsten von Gewinnerpressung (ganz zu schweigen davon, dass dann, nachdem alle anderen Gruppen ihren Gewinn erpresst haben, der Gewinn der ersten Gruppe wieder zunichte gemacht sein wird, und zwar durch den Anteil an den Gesamtkosten, den die erste Gruppe trägt): all diese Umwege dürften reichen, um letztlich die Unannehmlichkeiten und Kosten des Umrührens weitgehend zu kompensieren und zudem politische Vorteile zu erzeugen. Je mehr Umrühren es jedoch gibt, desto mehr neigt die Balance zu kippen, sowohl weil das Umrühren mehr erfordert: mehr Staatsapparat, mehr Außerkraftsetzen gegenseitig geschlossener Privatverträge und mehr staatlicher Einfluss auf die Verwendung der Einkommen und die Nutzung der Eigentumsrechte (was die Hälfte der Gesellschaft verärgern dürfte), als auch wegen des dumpfen Gefühls und der unausgesprochenen Frustration, Wut und Enttäuschung darüber, dass am Ende des Tages doch so viel Umverteilungslärm um nichts gemacht wird (was die andere Hälfte verärgern dürfte). So wie der individuelle politische Hedonist, der merkt, dass nach anfänglicher Freudvermehrung durch den Staat ab einem gewissen Punkt (der eventuell schon erreicht ist oder auch nicht) die Begleitschmerzen immer schlimmer werden und es besser wäre, wenn man schon früher hätte aufhören können, so erreicht wahrscheinlich auch die Gesellschaft einen Grenzpunkt, an dem „sie gerne anhalten würde“, weil sich dort Freud und Leid die Waage halten. Allerdings hat dieses „würde gerne“ keinerlei operative Bedeutung. Die Gesellschaft kann weder die Stopptaste drücken, noch kann sie irgendeine andere Entscheidung treffen. (Gleichwohl können Mehrheiten in ihrem Namen einige Entscheidungen treffen. Ähnlich und auf andere Entscheidungen bezogen können auch die Mehrheitsvertreter im Namen der Mehrheit einige Entscheidungen treffen, die der Staat dann in ihrem Namen ausführen kann. Aber diese Entscheidungen stehen hier nicht zur Debatte.) Wenn die Gesellschaft den Eindruck haben sollte, dass ihre Arrangements stärker umgerührt sind, als ihr genehm ist oder tolerabel erscheint, dann kann sie offenbar nichts gegen den demokratisch-politischen Prozess unternehmen, der das Ergebnis
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4. Kapitel: Umverteilung
ermöglicht hat. Sie mag mit Unverständnis und Verärgerung reagieren, mit dem, was der früherer französische Präsident Valerie Giscard D’Estaing so treffend „griesgrämische Unruhe“ und trotzigen Zynismus nannte. Ihre Frustration wird zu einer Gefahr für das politische Überleben des Staates werden, der durch sein eigenes Streben nach Konsens die letzte Verteidigungslinie und den Druck der sozialen Struktur auf den Plan rief und aus Unachtsamkeit das Umrühren zu weit getrieben hat. Andererseits geht netto mit brutto, d. h., echte Umverteilung wird vom Umrühren begleitet. Wenn die Dauer der Amtsmacht eine gewisse echte Umverteilung vorschreibt, dann ist es so gut wie sicher, dass es den einen oder anderen guten Grund gibt, eine Extraportion Umrühren oben draufzulegen. Doch während Ersteres mit dem politischen Überleben vereinbar ist, könnte Letzteres für das Überleben zu viel sein. In der Folge dürfte kein politisches Gleichgewicht mehr möglich sein, so sehr sich der Staat auch abstrampeln mag. Eine echte existentielle Sackgasse könnte erreicht sein: Der Staat muss und darf nicht umverteilen. Es ist genau dieser Widerspruch, der die leicht zu verwechselnde, orientierungslose und gespaltene Persönlichkeit vieler demokratischer Staaten unserer Zeit bedingt.187 Die Ideologie muss mit dem Interesse Hand in Hand gehen. In den letzten Jahren hat die vorherrschende Ideologie in den westlichen Demokratien vorsichtig ein wenig von vormals zurückgewiesenen Elementen aus den Theorien des Anarchismus und Libertarianismus sowie aus der individualistischen Tradition beigemischt. Bevor wir uns umgesehen haben, ist Herbert Spencer wieder hochmodern. Auf einer weniger kopflastigen Ebene fordert man mit tief empfundenen Ansprüchen, „den Staat zurückzudrängen“. Wie die Vierteldrehung in der Ideologiemode unübersehbar zeigt, war es eine kluge Politik des Staates, sich selbst zurückzunehmen. Hin und her geworfen zwischen dem vernünftigen Interesse, weiterhin die „demokratischen Werte“ zu schaffen, von denen abhängig zu sein, die Empfänger sich selbst beigebracht haben, (und das Gruppeninteresse, auf dessen Unterstützung der Staat nicht verzichten kann, weiterhin zumindest aufrechtzuerhalten, wenn nicht gar zu vergrößern), und dem gleichermaßen vernünftigen Interesse, eigentlich das Gegenteil zu tun und auf den zunehmenden Poujadismus zu reagieren, und auch auf die wachsende Frustration und Unregierbarkeit bei mehr oder weniger denselben Menschen und Interessen, dreht und windet sich der Staat und erklärt er in zusammenhangsloser Rhetorik seine eigene zusammenhangslose Entwicklung weg. Uneins mit sich selbst und trotz sporadischer Anläufe, gegen die eigene Natur anzukämpfen, widersteht der Staat dem eigenen Versuch, sich selbst zu schrumpfen.
187 Während ich schreibe (1984) steht das Urteil über die Reagan-Regierung und die von Frau Thatcher noch aus. Beide scheinen den Staat gleichzeitig zurückzudrängen und nicht zurückzudrängen. Wenn man die starke Verpflichtung einerseits mit der Geringfügigkeit der Resultate andererseits vergleicht, dann fühlt man sich an das Aufeinandertreffen von unwiderstehlicher Kraft und unbeweglichem Objekt erinnert.
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Auf zu einer Theorie des Staates Für einen Staat, der seine eigenen Ziele verfolgt, wäre es rational, jener Tretmühle zu entfliehen, in der seine Macht nur im Dienste seiner eigenen Reproduktion steht.
„Degenerierte“ Platons Staat auf dem Weg von der Demokratie zur Despotie? Dies ist der Ort, um unsere Fäden zusammenzuziehen. Je nach Umfang und Ausrichtung einer Untersuchung kann man den Staat auf mehrere Weisen betrachten. Eine Möglichkeit ist, ihn als ein seelenloses Instrument zu sehen, als eine Maschine. Er hat keine Ziele und keinen Willen. Nur Menschen haben Ziele. Erklärung und Vorhersage seiner Bewegungen müssen daher auf die Personen gerichtet sein, die das Instrument handhaben und die Hebel der Maschine bedienen. Eine andere Möglichkeit ist, die Maschine und die Menschen, die sie bedienen, miteinander zu verflechten und den Staat als eine lebendige Institution zu betrachten, die sich so verhält, als ob sie einen eigenen Willen und eine eigene Zielehierarchie hätte; als ob sie zwischen Alternativen wählen könnte und dabei der Rationalität rudimentär zu entsprechen schiene. Wir haben stets die letzte Auffassung geteilt, nicht weil sie realistischer wäre (das ist keine von beiden), sondern weil sie mit Blick auf plausible ableitbare Konsequenzen die fruchtbarste zu sein scheint. Sobald wir glauben, der Staat habe Ziele und einen eigenen Willen, nehmen die Theorien und Doktrinen, denen zufolge der Staat entweder die Interessen der Ehrsüchtigen (Hobbes), die der kurzsichtigen Jäger (Rousseau) oder die der Unterdrückerklasse (Engels) bedient, immer mehr die Eigenschaft an, die eigentlichen Fragen zu umgehen. So überzeugend sie auch darlegen mögen, wie der Staat solche Interessen bedienen könnte oder in der Tat bedient, sie nennen keinen Grund dafür, warum er dies tun sollte. Die Annahme, dass ein Wille nach Vollendung seiner Ziele strebe, kann man so hinnehmen (die Rationalität impliziert diese Annahme; außerdem kann man sich nur schwer vorstellen, dass ein Wille frei und ohne Verbindung mit irgendwelchen Zielen umherschwebte), aber die These, dass er danach strebe, den Zielen anderer zu dienen, verlangt nach Begründung oder sonst einer expliziten Form der Untermauerung. Aus meiner Sicht gibt es dafür weder in der kontraktualistischen noch in der marxistischen Staatstheorie derlei Untermauerung. Vielleicht ist der Name Staatstheorie für beide Ansätze sogar eine Fehlbezeichnung, obgleich beide Theorien des Interesses einzelner (oder der Klasse der) Bürger im Staate sind. Darüber hinaus könnte der Staat auch dann, wenn er, wie ich im ersten Kapitel darlegte, gute Gründe hätte, es zu tun, die Interessen seiner Bürger nicht verfolgen, es sei denn, sie wären homogen. Seine adverse Beziehung zu ihnen wohnt dem Umstand inne, dass er im Falle konfligierender Interessen sich auf die eine oder andere Seite schlagen muss, weil er sonst überhaupt keine „politischen Maßnahmen“ ergreifen kann. Eine gelungene Staatstheorie sollte nicht auf die unbegründete Annahme setzen, dass der Staat irgendeinem anderen Interesse dienlich sei als dem eigenen. Sie sollte in der Lage sein, die Rolle des Staates in der politischen Theorie im Sinne je-
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ner Interessen des Staates zu erklären, die mit den Interessen Anderer interagieren, konkurrieren, konfligieren und auf dieselben in gebührender Weise ausgerichtet sind.188 Welche Ansicht bezüglich der Interessen des Staates ist denn nun die richtige? Wann sagen wir, dass er seine Macht dazu nutzt, seine Ziele zu vollenden. Mir ging es von Anfang an um die Möglichkeit, dass „Minimalismus“ und Rationalität im Einklang zueinander stehen, darum, wann der Staat sich entscheidet, minimal zu sein („kapitalistisch“ und „politikfrei“ – alternative Begriffe, die aus meiner Sicht im Kern dasselbe meinen wie „minimal“), nämlich dann, wenn seine Ziele jenseits der Politik liegen und nicht durch die Nutzung von Macht erreicht werden können; wenn sie nicht die Befriedigung des Regierens darstellen. Andererseits sind alle politischen Maßnahmen, die ein nicht-minimaler Staat ergreift, tautologischer Weise in seinem Interesse und dienen der Vollendung seiner Ziele, es sei denn, der Staat ist dumm. Einige dieser Maßnahmen können jedoch von allen anderen unterschieden werden. In dieser Spalte kann man das dünne Ende der Staatstheorie festkeilen. Die eine oder andere Politik und die spezifischen Maßnahmen, nach denen man verlangt, können zumindest konzeptionell als Träger einer gemeinsamen negativen Eigenschaft hervorgehoben werden: Sie scheinen kein anderes plausibles Ziel zu fördern, keine andere sichtbare Vorliebe zu befriedigen und keinen anderen denkbaren Genuss für den Staat zu vergrößern als die Aufrechterhaltung der Macht. Sie helfen einfach nur dabei, an der Macht zu bleiben. Sie verwenden die Macht, um sie zu reproduzieren. Wenn die These stimmt, der zufolge die römischen Senatoren keine altruistischen Empfindungen für den Plebs hatten, ihnen aber Brot und Spiele gaben, dann mussten sie dies deshalb tun, weil es ihnen für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung notwendig zu sein schien. Wenn man davon ausgeht, dass Richelieu die Städter den Adeligen nicht wirklich vorzogen hat, aber Erstere begünstigte und Letztere zu schwächen trachtete, dann musste er dies tun, um die königliche Macht zu konsolidieren. (Das „musste“ steht in Anführungszeichen, um beim Leser Zustimmung und Nachsicht zu wecken. Viele historische Erklärungen sind m.E. zwangsläufig eigentlich nicht mehr als die Erhebung der am wenigsten unvernünftigen Hypothese in den Rang der wahren Ursache.) Einige Maßnahmen dürften nicht nur zur Reproduzierung der staatlichen Macht dienen, sondern auch den anderen Interessen des Staates. Sie sind von Natur aus so, dass man gar nichts anderes annehmen kann. Wenn, wie früher Präsident Perón, 188 Die Art, wie die Historiographie sich für gewöhnlich mit Staaten, die in Gestalt eines Königs oder Herrschers auftreten, befasst, befriedigt mehr als die, in der sie Staaten mit unpersönlichen Institutionen abhandelt. Letztere werden nur zu oft mit dem Land oder der Nation verwechselt. Die historische Triebkraft, die dem Konflikt zwischen Staat und Zivilgesellschaft entspringt, liegt eher am Rande des Betrachtungsfeldes. Wenn das Spiel Kaiser gegen Senat lautet, oder Der König und seine Bürger gegen den Adel oder Der König gegen etablierte Privilegien und „altertümliche Freiheiten“, dann gelingt es den Historikern weniger, uns aus den Augen verlieren zu lassen, welche Interessen es sind, die den Staat das tun lassen, was er tut.
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heute ein Regime in Afrika die städtischen Massen verhätschelt, dann können wir sagen, dass es dies tun „muss“, weil es so sein politisches Überleben mit deren Unterstützung oder Duldung sichert. Es ist allerdings auch nicht absurd, einzuräumen, dass es die Massen zudem mag. Es kann ihm sogar durchaus gefallen, Arbeiter, Angestellte und Soldaten auf Kosten hochmütiger Viehbarone oder dumpfer Bauern auf dem Land besserzustellen. Die Art dieser Maßnahmen offenbart seine Konsens kaufende und machterhaltende Funktion und erlaubt die These, dass hier auch ein anderes Ziel erfüllt wird. Ein großer Teil der von demokratischen Staaten durchgeführten Umverteilung ist von dieser Art. Es gibt aber auch genug historische Beispiele für eine klar umrissene Klasse anderer Maßnahmen und Aktionen, bei denen der Staat seine Macht nutzt, ohne dass er dabei spürbar oder deutlich erkennbar etwas zur Aufrechterhaltung seiner Macht täte. Die Religionspolitik Jakobs II., die Feldzüge Karls XII. von Schweden oder die Verschwendungssucht der Bourbonen im Königreich Neapel haben, wenn überhaupt, die Macht der jeweiligen Herrscher nur geschwächt. Gladstones gescheiterte Versuche, Irland mit einer Selbstverwaltung auszustatten, der Kulturkampf, der im Deutschen Kaiserreich geführt wurde, oder die fast kriegslüsterne Art, die Amerika 1940 an Britanniens Seite zeigte: sie alle verbrauchten viel von der Unterstützung, deren die jeweiligen Regierungen sich damals erfreuen konnten. Auch wenn ihre Durchführung richtig gewesen sein mag, so kann man doch schwerlich behaupten, dass diese Phänomene Ausdruck guter Politik waren. Wenn derlei politische Maßnahmen dennoch verfolgt werden, dann „müssen“ sie einem anderen Ziel dienen als dem, die Amtszeit zu verlängern. Als Peter der Große Deutsche dafür gewann, Russland zu verwalten, machte er sich verhasst, weil er rücksichtslos gegen die alten Sitten verstieß. Kurzfristig brauchte er so einen Teil der Macht (von der er etwas über hatte) auf, auch wenn er damit langfristig den Thron gefestigt haben mag (was strittig ist). Mittels einer Parallele kann man den Unterschied noch deutlicher machen. Konzeptionell sind wir mit der Idee des „Minimallohnes“ vertraut. Marx hat seine unglückselige Wert- und Kapitaltheorie völlig auf der Idee aufgebaut, dass die Arbeitszeit für die Reproduktion der Arbeit „gesellschaftlich notwendig“ sei. Nur ein Teil der Zeit des Arbeiters wird benötigt, um den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, den der Arbeiter braucht, um weiter arbeiten zu können. Mehr als den Lebensunterhalt kriegt er nicht.189 Es spielt keine Rolle, dass man den Minimallohn nicht festnageln kann. Als Idee ist er einfach und mächtig und führt zu Mehrwert und 189 In der Sprache von heute würde man sagen, der Arbeiter habe „maximiert“, indem er akzeptiert habe, zum Minimallohn zu arbeiten. Ein besseres Angebot hat man ihm nicht gemacht. In einem anderen, eher „strategischen“ Sinn von Maximierung könnte er jedoch versucht sein, die möglichen Angebote zu beeinflussen. Er könnte versuchen, eine Gewerkschaft zu organisieren und gemeinschaftlich zu verhandeln bzw. zu streiken. Er könnte im Rahmen des politischen Prozesses Abhilfe in der „Verteilungsgerechtigkeit“ suchen. Er könnte sich auch hinter die „Vorhut der Arbeiterklasse“ stellen und den Kampf aufnehmen, um die „Produktionsverhältnisse“ zu verändern.
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Klassenkampf. Innerhalb unseres Rahmens nimmt die Nutzung der Macht, die zur Erhaltung der Macht notwendig ist, den Platz des Minimallohnes ein, der für den Erhalt des Arbeiters notwendig ist. Der Mehrwert, der während der Arbeitszeit des Arbeiters zusätzlich produziert wurde, fließt an das Kapital, und zwar als Lohn für die Vorherrschaft. In unserem Schema würde der „Mehrwert“ den Befriedigungen entsprechen, die der Staat sich neben jenen leisten kann, die der Aufrechterhaltung seiner Amtszeit dienen. Eine andere und weniger „analytische“ Parallele ist die zwischen Einkommen und verfügbarem Einkommen sowie zwischen Gewalt und Verfügungsgewalt. Die Verfügungsgewalt ist jene, die der Staat nutzen kann, um seine Bürger dazu zu bringen, Bach anstatt Rockmusik zu hören; um den Lauf mächtiger Ströme zu begradigen und die Natur umzugestalten; um Präsidentenpaläste und Verwaltungsgebäude im Stile der Zeit und mit einem Sinn für die rechten Dimensionen zu bauen; um Belohnungen und Privilegien für jene auszuhandeln, die sie verdienen, und jene unten zu halten, die dies ebenso verdient haben; um Gutes zu tun und sich wichtiger Dinge anzunehmen, um die sich die Bürger wenig scheren; um nach nationaler Größe zu streben; um in das Wohlergehen der Nachwelt in ferner Zukunft zu investieren und andere dazu zu bringen, die Werte des Staates anzunehmen. Unsere Theorie wäre aber keine Gesellschaftstheorie, wenn sie keinen Stachel in ihrem Schwanz und keine indirekten, mäandernden Sekundäreffekte oder „Rückschläge“ hätte. D.h., es ist sehr wahrscheinlich, dass dann, nachdem der Staat die Menschen erst einmal dazu gebracht hat, dem Bach-Kult zu folgen, und diese sich in einer angemessenen Frist selbst beigebracht haben, ihn zu mögen, die Bürger sich mit dem Staat, der ihnen ihren Geschmack vorgibt, besser „identifizieren“. In ähnlicher Weise mögen die Pracht des Präsidentenpalastes, die Errungenschaften nationaler Größe oder „der Erste auf dem Mond zu sein“ am Ende einen gewissen Sinn für die staatliche Legitimität in das öffentliche Bewusstsein einpflanzen, vielleicht sogar ein wachsenden Willen, diese zu achten, und zwar ungeachtet aller Hoffnung auf Gewinne und jeglicher Verlustängste. Sie können also als raffinierter und langsam wirkender Ersatz für den Zustimmungskauf dienen. Aber wie im Falle der Verwaltungsreform unter Peter dem Großen, erfordern sie jetzt einen Rest an Verfügungsgewalt, selbst wenn man sicher sein kann, dass sie später zu mehr Legitimität oder einem stärkeren Repressionsapparat oder gar zu beidem führen. Statt tautologisch zu sagen, der rationale Staat verfolge seine Interessen und maximiere seine Ziele, welche auch immer, schlage ich als Kriterium für dessen Rationalität vor, dass der Staat seine Verfügungsmacht zu maximieren versuche.190, 191 190 Wenn es die Anwendung einer fixen „Menge“ an Macht braucht, um an der Macht zu bleiben, und der verfügbare Machtüberschuss (falls vorhanden) nach Ermessen verwendet werden kann, dann muss alles, was die Macht maximiert, auch den verfügbaren Überschuss maximieren. Der Wählerische dürfte sich daher vor der „Verfügungsgewalt“ als Maximand winden. Warum reicht nicht einfach Macht? Wie auch immer, eine eingebaute Trennung zwischen „an der Macht sein“ und „Macht für frei gewählte Ziele verwenden“ ist bequem, was m.E. die mangelnde Eleganz der Lö-
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Die Verfügungsgewalt erlaubt dem Staat, seine Bürger das machen zu lassen, was er von ihnen will, und nicht das, was sie selbst wollen. Sie wird ausgeübt, indem ihnen die Freiheit und das Eigentum weggenommen werden. Der Staat kann sich das Geld der Menschen aneignen und davon Dinge kaufen (einschließlich der von ihm besorgten Dienstleistungen). Er kann auch ihre spontanen Absichten überstimmen und anordnen, dass sie seinen Zwecken zu dienen haben. Wenn der Staat aber seine Amtszeit in einem offenen Wettbewerb verteidigt, dann fließt alles an Eigentum und Freiheit, das er wegnehmen kann, gemäß der Definition des Wettbewerbsgleichgewichts in die „Reproduktion“ der Macht, d. h. in die Aufrechterhaltung der Amtsgewalt durch Umverteilung. Ein Verfügungsüberschuss würde der Wettbewerbsannahme widersprechen, der zufolge es unmöglich ist, das Umverteilungsmuster so umzustellen oder zu bereichern, dass man dafür mehr Zustimmung erhält (vgl. den früheren Abschnitt in diesem Kapitel zum „profitlosen“, kostendeckenden Charakter des Gleichgewichts). Diese Bedingung verliert etwas an Schärfe und Rigidität, je mehr wir die Höhen der Abstraktion verlassen sowie Konturlosigkeit und Raum für Irrtümer einführen. Aber all das führt zu keinen neuen Gründen, die das Auftreten eines merklichen Verfügungsüberschusses wahrscheinlich machten. 191
sung ausgleicht. Wenn die Verfügungsgewalt der Maximand ist, dann können wir das Wettbewerbsgleichgewicht in der Politik als den Punkt beschreiben, an dem die Verfügungsgewalt null ist. Dies hat den didaktischen Vorteil, dass er sich gewissermaßen auf den Punkt reimt, den die perfekt konkurrierende Firma einnimmt, deren Profite null sind, nachdem sie für alle ihre Produktionsfaktoren gezahlt hat. 191 Wie wir sahen, stellt die politische Theorie auch Fragen teleologischer Natur und behandelt den Staat als Werkzeug: Was kann der Staat für seine Bürger tun? Was sollte er tun? Welche Pflichten und Grenzen des zivilen Gehorsams gibt es?, usw. Ich kenne nur zwei Präzedenzbeispiele, in denen dem Staat selbst ein Maximand zugeschrieben wird. In beiden Fällen geschieht dies im Zusammenhang mit einer Theorie über die Produktion öffentlicher Güter. Den ersten Fall bildet Albert Breton (1974). Breton behauptet, die Mehrheitspartei verhalte sich so, dass sie eine Funktion maximiere, die in einer bestimmten Weise zusammen mit der Chance auf Wiederwahl auch ihre Macht, ihren persönlichen Gewinn und ihren Platz in der Geschichte sowie ihre Auffassung vom öffentlichen Gut stärke. Den anderen Fall bilden Richard Auster und Morris Silver (1979). Hier ist der Maximand die Differenz zwischen den Steuereinnahmen und den Kosten für die öffentlichen Güter, die der Staat produziert. Auster und Silver meinen, dass die Demokratie, anders als die Monarchie oder die Oligarchie, auf eine „diffuse Eigentümerschaft“ unter Politikern und Bürokraten hinauslaufe. Es gebe folglich keinen Rezipienten für Residualeinkommen, der von einem Überschuss an Steuern, die über den Kosten der öffentlichen Güter liegen, profitierte (was zur Überproduktion von öffentlichen Gütern führe). Ich verstehe das so, dass es in einer Demokratie keinen „Maximierer“ gibt. Beispiele für einen Ansatz, der sozusagen von den Motiven des „Produzenten“ ausgeht, statt von denen des „Konsumenten“, bieten Niskanen (1971) (hier trachten die „Ämter“ danach, ihre Budgets zu vergrößern) und Frey/Schneider (1978), die zu dem Ergebnis kommen, dass die Regierung populäre Maßnahmen verfolgt, wenn sie unpopulär ist, und ihrer eigenen Ideologie frönt, wenn sie populär ist.
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An diesem Punkt vollendet sich die ungeahnte Transformation des Staates vom Verführer, der utilitaristische Verbesserungen offen anbietet (jeder eine Stimme und Verteilungsgerechtigkeit), zum Arbeitsesel, der mit seinen selbstauferlegten Verpflichtungen kämpft. Außerdem hat er sich nun in mehrere Zwickmühlen gleichzeitig manövriert. Die eine heißt Wettbewerb, während er in der Tretmühle sitzt. Eine andere ist der Charakterwechsel der Gesellschaft als Antwort auf seine Umverteilungsaktivitäten, vor allem die Abhängigkeit von Hilfen, das Trittbrettfahrerverhalten aller Interessengruppen gegenüber allen anderen Interessengruppen und der zunehmende Verlust an Umverteilungskontrolle. Eine besonders missliche Lage für den Staat ist, dass er es nun mit einer „unregierbaren“ Gesellschaft zu tun hat. Und da sich durch Umrühren eine noch viel dickere Schicht über die direkte Umverteilung legt, ist in der ultimativen Zwickmühle der Demokratie kein Gleichgewicht mehr möglich: Die Gesellschaft verlangt nach der Umverteilungsrolle des Staates, aber auch nach deren Ablehnung. Um den Konsens zu wahren, sollte der Staat beides tun: sich ausdehnen und „sich zurücknehmen“. Wenn wir diesen schlussendlichen Selbstwiderspruch als reine dialektische Wortspielerei abtäten und einräumten, dass weiterhin ein Gleichgewicht gegeben sei, dann würde Letzteres trotzdem kein angemessenes Maximum für den Staat darstellen, außer in dem dürftigen Sinn, in dem das Verdienen des Minimaleinkommens ein „Maximum“ für den Arbeiter ist. Ohne oder mit nur geringer Verfügungsgewalt ist der Staat besser dran als in jeder anderen möglichen Lage, weil er in jeder von ihnen generell an Macht verlieren und durch die Opposition ersetzt würde.192 Für ihn ist es rational, sich an diese Position zu klammern. Es kann durchaus sein, das er sich mit ihr zufrieden gibt und einfach weitermacht. Dennoch könnte er sich besserstellen, wenn er bewusst einige der verfügbaren Alternativen änderte, z. B. das soziale und politische Umfeld, an das er sich beim „Maximieren“ anpasst. Die Erkenntnis, dass es derlei Möglichkeiten gibt (wenn man auch nicht zwangsläufig weiß, wie man sie umsetzt), könnte man in der Tat als Kriterium einer anderen Rationalität, einer Rationalität höherer Ordnung sehen. Sich selbst weniger vom Konsens der Bürger abhängig machen und die Konkurrenz für die Rivalen härter machen würde darauf hinauslaufen, das Umfeld zu verbessern, statt sich ihm anzupassen. Es ist indes für den Staat eigentlich nicht irrational, dies nicht zu tun. Ich argumentiere nicht für irgendeine historische Notwendigkeit oder unaufhaltsame Dynamik, die den Staat bei vollem Verstand dazu veranlasst, totalitär zu werden. Andererseits würde ich auch nicht davon ausgehen, dass der Staat, ähnlich wie Platons Staat auf seinem Weg von der Demokratie zur Despotie, unterwegs „degeneriert“. Wenn er seine Fähigkeit, seine Ziele zu vollenden, verbessert hat, dann ist er nicht verkommen, auch wenn er inzwischen womöglich weniger in der Lage ist, die Ziele des Beobachters zu erfüllen. Dieser hätte dann aber jeden Grund, durch 192 Formal betrachtet würde die Verfügungsgewalt in solchen Situationen negativ werden und die Macht (insgesamt) würde nicht mehr ausreichen, um ihre eigene Aufrechterhaltung zu gewähren. Der Staat bekäme einen neuen Pächter.
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die Änderung alarmiert zu sein. Gleichwohl argumentiere ich jedoch dafür, dass es in einem höheren, „strategischen“ Sinn von Rationalität, der vom „taktischen“ Sinn der optimalen Anpassung zu unterscheiden ist, für den Staat generell rational ist, mehr statt weniger totalitär zu werden, sofern er damit durchkommt, d. h., sofern er dort noch die Zustimmung der Mehrheit bekommt, wo er sie immer noch braucht. In einer Demokratie ist es auch für den Rivalen der Macht rational, eine totalitärere Alternative vorzuschlagen, wenn diese, obwohl für die Minderheit unattraktiver, der Mehrheit attraktiver zu sein scheint.193 In einer von Wettbewerb und Demokratie geprägten Politik gibt es also immer einen gewissen Hang zu totalitären Transformationen. Er manifestiert sich im regelmäßigen Auftauchen sozialistischer Politik in nicht-sozialistischen Regierungen und Oppositionsprogrammen und in sozialistischen Fähnchen auf der liberalen Ideologie. Ob und in welchem Maße dieses Potential verwirklicht ist, ist weitgehend eine Frage des Zufalls und der grundsätzlich unvorhersehbaren historischen Gegebenheiten. Im Vergleich dazu gibt es keine Maximierungsannahme, aus der man einen möglichen Umkehrweg, eine Transformation eines totalitären Staates in eine Demokratie, logisch ableiten könnte; einen Umkehrweg, der dem Staat die Art von Zielen zugestände, deren Umsetzung nach willkürlicher Nutzung der Macht verlangte; egal wie die Ziele im einzelnen auch aussehen mögen.
193 Solche Vorschläge reichen über jene Grenzen hinaus, die der einfachen Art von Wahlwettbewerb, die zu Beginn dieses Kapitels dargelegt wurde, gesteckt sind. Zusätzlich zum Versprechen, der Mehrheit das Geld der Minderheit zu geben (Angleichung der Einkommen), können sie auch die Angleichung der Schulen beinhalten (Erziehungsgleichschaltung) oder die Angleichung entweder der wirtschaftlichen Macht (Nationalisierung der „Produktionsmittel“) oder sonstiger Dinge wie Besitztümer, Privilegien und Immunitäten von Minoritäten, deren Glaube (Hugenotten, Mormonen) und Rasse (Juden) eingeschlossen.
5. Kapitel
Staatskapitalismus 5. Kapitel: Staatskapitalismus
Was tun? Der Staatskapitalismus ist die Fusion von politischer und wirtschaftlicher Macht. Er setzt dem Sonderfall, in dem die Waffengewalt im Staat zentriert ist, während das Kapital über die ganze Gesellschaft verstreut ist, ein Ende.
Irgendwann werden die Menschen damit aufhören, von der Politik zu verlangen, was ihnen die Wirtschaft verwehrt. Als Lenin in „Was tun?“ die Agenda für die entmachtete Elite niederschrieb, wollte er, dass seine Partei die Macht mit Professionalität, Geheimhaltung, Zentralisierung, Spezialisierung und Exklusivität erobert. Schroff und schaurig, wie es war, war sein Programm nicht von der Sorte, die jemand auf der Suche nach Macht jener Öffentlichkeit vorlegen kann, die er erst noch verführen muss. Es offenzulegen, hätte seine Chancen verspielt, sofern diese auf breite öffentliche Unterstützung angewiesen gewesen wären, oder auf sonst eine Art, die oberste Macht zu erobern; eine, die nicht dem Standard des früheren Machtinhabers entsprochen hätte; z. B. wenn die Verteidigung des Regimes, das er ersetzen wollte, im Chaos des verlorenen Krieges und der Februarrevolution von 1917 versunken wäre. Er wollte die Gesellschaft überrumpeln, die hauptsächlichen Instrumente der Repression sichern und sie ohne große Rücksicht auf die öffentliche Meinung einsetzen. Kurz vor der bolschewistischen Machtergreifung im Oktober 1917 sprach er davon, dass die „Menschen, wie sie gegenwärtig sind“, anders als die „anarchistischen Utopisten“, zu denen man sie machen wollte, „ohne Unterordnung … nicht auskommen werden.“ Außerdem: „Aber unterzuordnen hat man sich der bewaffneten Avantgarde aller Ausgebeuteten und Werktätigen – dem Proletariat.“194 So sei man ungetrübt von der kleinbürgerlichen Heuchelei über die „friedliche Unterordnung der Minderheit unter die … Mehrheit.“195 Er hielt es für „großartig, dass Engels erklärte, dass ,das Proletariat den Staat noch gebraucht, … nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner[.]‘“196 Einmal an der Macht, schimpfte er, dass „unsere Regierung zu milde ist und einem Gelee mehr gleicht als Eisen.“197 194
Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_426.htm. Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_413.htm. 196 Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_395.htm. Das Zitat stammt aus Engels, Brief an Bebel, S. 7, geschrieben 1875. 197 Lenin, The Immediate Tasks, S. 419. 195
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Er rief auf, die Fiktion eines unparteiischen Beobachters zu vergessen, stellte unheilverheißend fest, dass die Gerichte als Organe der proletarischen Macht „ein Instrument zur Einschärfung der Disziplin“198 seien, und fügte erklärend hinzu, dass es „absolut keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der sowjetischen (soll heißen: sozialistischen) Demokratie und der Ausübung diktatorischer Gewalt durch Individuen“ gebe.199 (Diese Wahrheit muss man als eine mächtige Wahrheit behandeln, weil sie auf der „materialistischen Grundlage“ der Gesellschaft gründet, der zufolge „die bedingungslose Unterwerfung unter einen einzigen Willen für den Erfolg von Prozessen, die auf dem Muster einer umfassenden Maschinerie gründen, absolut notwendig ist.“200 Tatsächlich liquidierte Lenins Regierung in den ersten sechs Monaten fast alle Menschewiken und Basismitglieder mit ihrem Unfug über die dezentralisierte Autorität der Sowjets in den Betrieben, brüderliches Teilen, Arbeiterselbstverwaltung und ausufernden Vorwänden für endlose Diskussionen und „Versammlungen“ auf allen Ebenen und im Namen der direkten Demokratie.) Das war alles starker Tobak, ungenießbar und schamlos. Es klang gut im Ohr des Siegers, war aber nicht dazu gemacht, die Opfer zu versöhnen. Die Agenda für einen amtierenden Staat, der von der Zustimmung einiger weiterer Vorreiter abhängt, sieht für mich vollkommen anders aus. Lässt man einmal den Fall beiseite, in dem ein Staat übernommen wird, der wegen einer Niederlage in einem großen Krieg am Boden liegt, dann stehen und fallen die Chancen einer zynischen Minderheit mit deren Schläue, so unangenehm dies auch für den Rest der Gesellschaft sein mag. Auf seinem Weg zur Verfügungsgewalt braucht ein amtierender Staat zunächst Dilettantismus statt Professionalität; und anstelle von Geheimhaltung und Exklusivität Offenheit und breit angelegte Kooption.201 Ein amtierender Staat, der von Zustimmung abhängig ist, darf nicht zu offen und zu professionell zeigen bzw. darüber reden, wie er an die Macht kommt und wie er sie nutzt. Er darf zu keiner Zeit wie eine (wenn auch wohlwollende) Verschwörung wirken – oder sich selbst als solche betrachten –, die versucht, die Gesellschaft einzunehmen, und gleichzeitig vorgibt, ihrem Mandat verpflichtet zu sein. Er muss in Wirklichkeit ernsthaft der Meinung sein, dass er das Mandat des Volkes auf seine Weise erfüllt (die einzige Weise, auf die er es „wirklich“ „ganz“ erfüllen kann). Wenn seine politischen Maßnahmen bewirken sollen, dass seine Bürger hereingelegt und der Unabhängigkeit ihrer Lebensgrundlage, die sie zur Zustimmungsverweigerung brauchen, beraubt werden, dann muss dies langsam und als Nebenproduktion konstruktiver Staatshandlungen vonstattengehen, denen der Bürger 198
Lenin, The Immediate Tasks, S. 419. Lenin, The Immediate Tasks, S. 421. Hervorhebung im Text. 200 Lenin, The Immediate Tasks, S. 421. 201 Sogar Lenins eigene Schöpfung brauchte recht lange, um dieses Bewusstsein zu wecken: In der sowjetischen Verfassung von 1977 nennt sie sich „der Staat des ganzen Volkes“, vollkommen unbekümmert ob der Absurdität, zumindest der für Marxisten, dass ein Staat der Staat aller ist. 199
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
einzeln leicht zustimmen kann. Fallen stellen und unterwerfen hat unter den bewusst gesetzten Ziele eines Staates genauso wenig verloren wie Monopolprofite im Zielekatalog innovativer Unternehmen. Die staatliche Amtsmacht ist insofern unsicher, als sie eine eindimensionale Macht ist, eine reine politische Macht. Das gilt vor allem in historischen Situationen, in denen die wirtschaftliche Macht über die Zivilgesellschaft verstreut ist und somit dem Privateigentum als Institution entspricht, dem es von Natur aus innewohnt, verstreut zu sein. Derlei Situationen mögen uns sehr natürlich vorkommen, sind aber keineswegs die historische Norm. Auch aus analytischer Sicht sind sie eher ein Sonderfall, eine Anomalie. Angesichts der Tatsache, dass der Staat als einziger über organisierte Streitkräfte verfügen darf, ist es eher unlogisch, dass die wirtschaftliche Macht gewissermaßen an anderer Stelle zuhause ist. Wenn die Dualität dieser zwei Machtquellen ziemlich lange währt, passiert dies dann nicht aus Versehen bzw. weil irgendjemand eigenartiger Weise keinen Machthunger hat? Die Betonung seitens moderner Historiker aller Schulen in Bezug auf die möglichen Kausalbeziehungen zwischen Kapitalbesitz und Staatsmacht erschwert eigentlich nur das Rätsel um die Frage, warum das Geld noch nicht die Pistole gekauft bzw. die Pistole noch nicht das Geld konfisziert habe. Einige der politischen Theorien definieren, nicht ganz ohne ein paar Verrenkungen, diese Anomalie einfach weg, indem sie die Abtrennung und Autonomie der politischen Macht schlicht leugnen (gestehen dennoch eine „relative Autonomie“ zu, die sich aber ob ihrer allzu gefälligen Biegsamkeit als ernstzunehmende Konzeption nicht eignet). Politische und wirtschaftliche Macht wohnen demnach in der metaphysischen Kategorie des „Kapitals“ zusammen und sorgen gemeinsam dafür, dass dem „objektiven“ Bedürfnis in seiner „ausgedehnten Reproduktion“ genügt wird. Wenn wir uns aber der Möglichkeit einer derart praktischen Lösung verschließen, dann bleibt uns bloß noch das übrig, das wie ein ziemlich instabiles System aussieht. Ein kleiner Schwenk des Systems in Richtung Anarchie oder eine kleine Vormachtstellung der Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat entspräche einer Streuung der bis dahin zentralisierten politischen Macht. Einmal in Gang gesetzt, könnte solch eine Streuung leicht Fahrt aufnehmen. In einem vollentfalteten Streuungsprozess der Macht würden private Armeen, indem sie die Steuereintreiber von Grund und Boden fernhielten, zur Atrophie des Staates beitragen und wahrscheinlich sogar für eine Zunahme an privaten Armeen sorgen.202 Zurzeit gibt es nicht die leisesten Anzeichen dafür, dass gesellschaftliche Veränderungen diesen Weg 202 Im Mittelalter übten schwache Könige und mächtige Landgrafen eine fast-souveräne politische Macht aus, aber nur über das Land, das sie „besaßen“ (was einer Quasi-Eigentümerschaft gleichkam). Die Muster von verstreuter politischer Macht und verstreuter wirtschaftlicher Macht fielen in einer Weise zusammen, die es später nie mehr gab. Zentralisierte politische und wirtschaftliche Macht hat es indes oft gleichzeitig gegeben. In Ländern der „zweiten“ und „dritten“ Welt gehen sie zumeist immer noch Hand in Hand.
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einschlagen könnten. Die Eventualität einer Streuung politischer Macht, die zur Streuung wirtschaftlicher Macht passte, kommt lediglich dem Symbol einer „leeren Schachtel“ gleich. Ein kleiner Schwenk des Systems in die andere Richtung, hin zum Staatskapitalismus mit einer Vormachtstellung des Staates gegenüber der Zivilgesellschaft, entspräche einer Zentralisierung der bis dahin diffusen wirtschaftlichen Macht und deren Zusammenlegung mit der politischen Macht. Zusammengefasst könnte man des Amtsinhabers rhetorische Frage „Was tun?“ so beantworten: „Verschmelze politische und wirtschaftliche Macht zu einer einzigen staatlichen Macht.“ Außerdem: „Integriere Staatsbürgerschaft und Lebensunterhalt“, damit die gesamte Existenz des Bürgers nur unter einer einzigen Relation aus Befehl und Gehorsam steht: ohne Trennung von öffentlichen und private Sphären, ohne geteilte Loyalitäten, ohne antagonistische Machtzentren, ohne Rückzugsmöglichkeiten und ohne Ausweichoptionen. Sowohl im staatlichen wie auch im öffentlichen Bewusstsein muss diese apokalyptische Agenda einen prosaischen, ruhigen, erdverbundenen und beruhigenden Aspekt mit sich führen. Dieser dürfte sich selbst (und wird dies auch mit Leichtigkeit können) in eine Formel verwandeln, welche die herrschende Ideologie weitgehend auf friedlichem Wege bewirkt hat, etwa in dem Sinne, dass man „die demokratische Kontrolle über die Wirtschaft stärken“ soll, damit „diese im Einklang mit den Prioritäten der Gesellschaft ihre Wirkung entfalten kann.“ Wenn ich sage, der Staat solle seine Macht über die Gesellschaft besser nicht mit rücksichtsloser Gerissenheit maximieren, wie Lenin vorschlug, sondern durch ein anfänglich amateurhaftes und aufrechtes Verhalten, dann deshalb, weil ich vor allem an den Vorteil denke, der mit dem sichtbaren Vertrauen in eine ökonomische und gesellschaftliche Sozialtechnik, die schmerzfrei und wohlwollend ist, einhergeht. Für den Staat ist es definitiv gut, wenn man glaubt, dass die zur Etablierung „demokratischer Kontrolle“ der Wirtschaft für notwendig befundenen Maßnahmen in absehbarer Zeit vor allem dazu führen, dass das Volk bei der eigentlichen Verwendung des Produktionsapparates im Land ein Wort mit zu reden hat. Für ihn ist es gut, Stimmen, die das exakte Gegenteil behaupten, ernst zu nehmen und für verdächtig zu halten. Es ist den letzten Zielen des Staates zuträglich, die absichtsvolle Richtung des Gesellschaftssystems an die Stelle des Automatismus zu setzen, weil jeder dieser „freiwilligen“ Schritte die Chancen erhöht, dass selbst dort, wo man es kaum erwartet, durch kumulative Veränderungen im System ein Bedarf an mehr Führung entsteht. Je wirkungsloser (zumindest im Sinne der „Selbsterhaltung“, „Spontaneität“ und „Selbstregulierung“ die Arbeitsweisen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems werden, umso mehr gewinnt der Staat die direkte Kontrolle über die Lebensgrundlage der Menschen. Es gehört zu den zahlreichen Paradoxien rationaler Handlung, dass ein gewisses Maß an wohldosierter Stümperei beim wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwalten und das übliche Scheitern beim Vorhersehen der Auswirkungen der eigenen Maßnahmen sich auf die Ziele des
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
Staates besonders günstig auswirken. Es ist die Inkompetenz der Regierung, die einen Bedarf am Zurechtrücken der Ergebnisse schafft, stetig den Umfang ausweitet, in dem der Staat die wirtschaftliche Macht in seiner Hand konzentrieren sollte, und am besten zur Verschmelzung von wirtschaftlicher und politischer Macht beiträgt. Man darf bezweifeln, ob Regierungskompetenz diesen Prozess von seinem demokratischen Beginn an genau so weit vorantreiben könnte. Angesichts dieses Paradoxons sollten wir sogar noch etwas weitergehen und behaupten, dass jener Geist, der dem Staat bei der Emanzipierung von seiner undankbaren Rolle als demokratischer Arbeitsesel hilft, darin besteht, unbedarft zu vertrauen und aufrecht zu bleiben, ohne zu verstehen. Bei der Wahl meiner Attribute habe ich mich vom Beispiel inspirieren lassen, das ein Sozialtheoretiker mit einer Abhandlung gab, die er zum Programm der vereinten französischen Linken vor deren Sieg bei den Wahlen von 1981 geschrieben hatte. In diesem Traktat wird in aufrichtiger Überzeugung erklärt, dass die Nationalisierung großer Teile der Industrie und der Banken den Etatismus und die Bürokratie reduzieren, einen zusätzlichen Wächter für die pluralistische Demokratie bereitstellen und einen wirklich freien Markt schaffen würde.203 Das Schema, nach dem der Staat sich am besten der Verfügungsgewalt nähert, besteht aus kleinen, stetigen Schritten und darin, dem Standardrezept der Liberalen zu folgen. Der Staat sollte zur Allokation der Ressourcen zunächst „auf Preise und Märkte vertrauen und dann“ zur Umverteilung des resultierenden Sozialproduktes schreiten, „welche die Gerechtigkeit verlangt.“204 Die auf diesem Wege erzielte Inkonsistenz zwischen Allokation und Distribution sollte ausreichen, um Teilungleichgewichte, falsche Signale und Anzeichen der Vergeudung hervorzubringen. Angesichts der dann auftretenden Evidenz, dass „die Märkte nicht funktionieren“, die Industrie den Anschluss an die sich ändernden Zeiten verpasst, die Arbeitslosigkeit weiter besteht und die Preise sich unanständig verhalten, sollte an sich genug Unterstützung dafür finden, dass der Staat ambitiöse Maßnahmen ergreift. Deren beabsichtigter Effekt bestünde in der Korrektur der durch die anfängliche Politik entstandenen Defekte. Einer ihrer unbeabsichtigten Effekte dürfte darin bestehen, dass die Defekte schlimmer werden oder sonst wo Unheil anrichten. Ein anderer führt unvermeidlich dazu, dass viele Existenzen, Arbeitsplätze, Geschäftsbereiche, wenn nicht gar ganze Industrien, von der „Wirtschaftspolitik“ abhängig werden und viele andere diese Abhängigkeit zumindest teilweise spüren werden. 203 Elleinstein (1977), S. 140 – 151. Wie der Mann im Park, der den spazierenden Duke of Wellington für einen gewissen Herrn Smith hielt („Herr Smith, wenn ich richtig glaube?“ – „Wenn Sie das glauben, mein Herr, dann werden Sie auch sonst alles glauben.“), so glaubte auch Elleinstein offensichtlich, dass die Nationalisierung all diese Dinge tun würde, statt deren Gegenteil. Das Beste, das dem Staat (und dessen Anführern) in dieser schwierigen Phase des Übergangs von der Demokratie zum Sozialismus passieren kann, ist das Vertrauen in die Schlichtheit. 204 Wer Rawls (1972) und Kapitel 3 dieses Buches gelesen hat, dem werden diese Phrasen bekannt vorkommen.
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Auf dieser Stufe – die oft zustimmend „Mischwirtschaft“ genannt wird und einen zivilisierten Kompromiss zwischen komplementären Interessen der Privat initiative und der gesellschaftlichen Kontrolle suggeriert – ist das Dickicht an Hindernissen, Wallmauern und Bunkern, wohin sich privates Unternehmertum zurückziehen kann, um, nicht ganz frei von Kosten, die Lebensgrundlage jener zu schützen, die, seien sie Eigentümer oder nicht, die Gelegenheit haben, dem Staat die Stirn zu bieten, zwar hier und da gelichtet, aber nicht komplett gerodet. Nur die Abschaffung von Kapital in Privatbesitz stellt sicher, dass diese Unterschlupfe verschwinden. Eine „Mischwirtschaft“ muss sich im Sinne staatlicher Kontrolle schon sehr weit strecken, damit Privatunternehmen nicht länger eine potentielle Grundlage für politische Obstruktion oder Renitenz bilden können. Planung, Industriepolitik und Verteilungsgerechtigkeit sind zwar ein vielversprechender, aber unzureichender Ersatz für die staatliche Eigentümerschaft. Die eigentliche, nahezu unersetzliche Eigenschaft der staatlichen Eigentümerschaft liegt nicht in der Macht, die sie dem Staat verleiht, sondern in der Macht, die sie der Zivilgesellschaft entnimmt, so wie die Füllung, die man einer Spielpuppe entnimmt. Der Übergang zum Sozialismus im Sinne einer unbewussten, ja schlafwandlerischen „maximax“-artigen Strategie des Staates, die sowohl die potentielle Verfügungsgewalt des Staates erweitern soll als auch in einem Zug den größtmöglichen Teil des geschaffenen Potentials realisieren soll, findet wahrscheinlich friedlich, fade und farblos statt. Darin liegt ihr Ansatz, hohe Gewinne bei niedrigem Risiko zu machen. Weit entfernt von irgendeiner lauten „Schlacht der Demokratie … zur Vereinigung aller Produktionsmittel in den Händen des Staates“, weit entfernt von irgendwelchen heldenhaften Revolutionären, die mit der Kontinuität brechen; weit entfernt vom Ruf nach gewaltsamer Unterwerfung der besitzenden Minderheit, wäre der Übergang zum Sozialismus wahrscheinlich gewisser, wenn der Staat sich mehr auf die langsame Rückbildung der ursprünglich unabhängigen und selbstregulierenden Subsysteme der Gesellschaft verließe. Weil ihre ungehinderte Arbeitsweise eingeschränkt wäre, würde die nachlassende Vitalität der schrittweisen Folgeformen der „Mischwirtschaft“ irgendwann zu einer passiven Hinnahme einer schrittweisen Ausdehnung öffentlicher Eigentümerschaft führen, wenn nicht gar zu einem Verlangen nach derselben. In seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie widmet Schumpeter einen Abschnitt der Soziologie des Intellektuellen, in dem er behauptet, dass der Intellektuelle (den er etwas streng als Menschen definiert, „der die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes handhabt und sich durch das Fehlen von Kenntnissen aus erster Hand auszeichnet sowie durch eine kritische Haltung bei gleichzeitigem Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge … der nicht anders könne, als an den Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zu nuckeln.“ Sie springen der Ideologie zur Seite, welche die kapitalistische Ordnung untergräbt, die sich notorisch impotent dabei zeigt, ihre Intellektuellen in Schach zu halten. „Nur eine Regierung nicht-bourgeoiser Natur … unter modernen Umständen nur eine sozialistische oder faschistische – ist stark genug, sie zu
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
disziplinieren.“ Solange das Kapital in privater Hand ist und es eine Autonomie der Sonderinteressen gibt (die sie eifrig ideologisch unterminieren), können die Intellektuellen dem feindseligen Staat etwas entgegenhalten, geschützt von den „privaten Bollwerken der bürgerlichen Geschäftswelt, zumindest von einigen, die den Gejagten Unterschlupf gewähren.“205 Der Staatskapitalismus bietet den fügsamen, nicht-nuckelnden Intellektuellen größere Belohnungen als der Privatkapitalismus (im Sinne nicht-greifbarer Größen wie sozialer Status sogar unvergleichlich größere Belohnungen, z. B. ganz oben auf der Liste zu stehen und eine gebannte Leserschaft an der Basis der Gesellschaft zu haben). Derlei Belohnungen entschädigen sie womöglich (vielleicht auch nicht) für das dauerhafte Risiko in einer Welt, die keine „privaten Bollwerke“ hat, keinen Schutz mehr zu finden und am Ende doch am System nuckeln zu müssen. Warum Intellektuelle aller Gruppierungen, Schichten, Kasten etc. ein privilegiertes Verhältnis zum sozialistischen Staat unterhalten sollten und warum sie umworben und belohnt werden, ist ein Frage, die einen nachdenklich stimmt.206 Dass der Staat stark genug ist, sie zu disziplinieren, ist m.E. Grund genug, sie nicht zu umwerben und zu belohnen. Dass der sozialistische Staat die Intellektuellen anzieht, versteht sich fast von alleine, wenn man an die Rolle denkt, welche die Vernunft bei der Formulierung und Legitimierung aktiver Politik einnimmt. (Ich habe die natürliche Vorliebe der Gescheiten für die Linken in Kapitel 2.4 behandelt.) Weniger offensichtlich ist jedoch, warum diese Liebe nicht unerwidert bleibt, warum der sozialistische Staat mit den Intellektuellen gemäß deren eigener Einschätzung verfährt – eine merkwürdige Haltung für einen Monopsisten, den einzigen Abnehmer ihrer Dienste. Selbst wenn es einige schwer ergründbare, aber rationale Gründe dafür gäbe, sie zu verhätscheln, müsste sonst niemand verzärtelt werden. Der obige und bedauerlicherweise nicht zielführende Exkurs über die Intellektuellen diente der schärferen Konturierung genau dieser These. Trotzkis Schlussfolgerung in Verratene Revolution, dass dann, wenn der Staat erst einmal alles Kapital besäße, der Widerstand langsam dahinstürbe, ist vielleicht überzogen. Nichtsdestotrotz geht man wohl recht in der Annahme, dass die Erwerbstätigen möglicherweise einer Beschränkungsmacht unterliegen, wenn das Politische und das Wirtschaftliche sich nicht mehr oder weniger gegenseitig aufheben, sondern vereinigt werden und den Menschen umzingeln. Der zur Reproduktion der Arbeit notwendige Minimallohn mag nun ermittelbar sein oder nicht. (Ich würde behaupten, dass er zumindest in Marxens Werttheorie eine Tautologie ist. Welcher Lohn auch immer gezahlt werden mag, sei er hoch oder niedrig, er ist stets mit dem Lohnminimum identisch.) Wenn 205
Schumpeter (19765), S. 146 ff. Wenn die ungarischen Soziologen G. Konrád und I. Szelényi sich nicht so schwer mit der Last täten, die dem Einfluss von György Lukács geschuldet ist, dessen hermetischem und nebulösem Stil die Autoren zu folgen neigen, dann wäre ihr Buch The Road of the Intellectuals to Class Power von 1979 ein sehr wertvoller Beitrag zu einer möglichen Antwort auf diese Frage. Ihre originellen Ideen sind im Dunkel lucácsistischen Gewabers indes nur annäherungsweise zu erkennen. 206
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aber das Lohnminimum tatsächlich eine objektive Bedeutung hat, dann hätte mit Sicherheit allein der Staat die Fähigkeit, jedermanns Lohn auf das Existenzniveau zu drücken. In einer Welt, in der der Staat sowohl Partei als auch Richter ist, d. h., in der er die wirtschaftliche und politische Macht mit Erfolg verschmolzen hat, ist es natürlich absurd, wenn unzufriedene Lohnempfänger Zuflucht im politischen Prozess suchen und den Staat anrufen. Für den Staat liegt die Pointe, eine solche Fusion zu erreichen, nicht in erster Linie darin, dass die Opposition langsam abstirbt, auch wenn dieses Ziel an und für sich wertvoll genug ist. Die Pointe liegt vor allem darin, dass er Nicht-Opposition als Gegenleistung für die reine „Subsistenz“ erhält bzw. – sollte dieser Begriff für seinen Zweck zu unklar sein – als Gegenleistung für weniger, als er in einer kompetitiven politischen Situation zahlen müsste, um dort Zustimmung zu erhalten. Nach Auffassung des amerikanischen Soziologen James O’Connor, die aus irgendeinem Grund als wichtiger Beitrag zur modernen Staatstheorie gilt, könnten die im Staatsbesitz befindlichen Industrien zu einer „fiskalischen Befreiung“ des Staates führen, wenn deren Mehrwert nicht für gesellschaftliche Investitionen aufgewendet oder für die Interessen der in Privateigentum befindlichen „Monopole“, die es noch gibt, vergeudet würden.207 Im Umkehrschluss folgt, dass der Staat sein rationales Ziel erreicht hat, sobald keine oder nur mehr wenige „private Monopole“ übrig sind, an die er den Mehrwert vergeuden kann, und er keinem Wettbewerbsdruck mehr ausgesetzt ist und somit nicht mehr „gesellschaftliche Investitionen“ tätigen muss, als er für richtig hält. „Fiskalische Befreiung“ mag dafür nicht das passende Etikett sein, wohlklingend ist es allemal. Der Staat maximiert so nicht nur seine Verfügungsgewalt, indem er aus dem gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld (z. B. das Umfeld, das von der demokratischen Politik und der „Mischwirtschaft“ bestimmt wird) das Meiste macht, er verbessert dadurch auch das Umfeld, indem er die Zivilgesellschaft von der wirtschaftlichen Macht befreit, die in ihr verbreitet war. In einem solchen Umfeld steht für den Staat weitaus mehr Potential an Verfügungsmacht bereit. Indem er dieses Potential erschafft und auch das Meiste aus ihm macht, maximiert er sozusagen das Maximum. Ist sein Erfolg nun komplett? Wie es scheint, fehlt noch ein Bindeglied, um den Staatskapitalismus in ein funktionierendes System zu verwandeln. Wenn der Staat der einzige Arbeitgeber ist, dann kann er Ressourcen für seine eigene Verfügungsmacht freisetzen, indem er den Menschen sagt, was sie zu tun haben, ohne sie für ihren Gehorsam über Gebühr zu bezahlen. Aber wie hält man einen Rivalen davon ab, alles zu vermasseln und als Angebot für die politische Macht höhere Löhne zu versprechen (so wie ein Rivale im Privatkapitalismus ein Gebot für die politische Macht abgeben kann, indem er mehr Verteilungsgerechtigkeit verspricht)? Was sollte die Politik davon abhalten, die Ökonomie ungeschehen zu machen? Oder, um es auf den Punkt zu bringen, können wir darauf vertrauen, dass die Formen demo207
O’Connor (1973), Kap. 7.
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
kratischer Politik ipso facto ihren Inhalt verlieren und zu leeren Riten werden, die man nur noch der Form halber wahrt, wenn die wirtschaftliche Macht ganz beim Staat liegt? Zumindest was diesen Punkt angeht, so war J.S. Mill, bei all seinem Pragmatismus, doch sehr bestimmt: „[W]enn die Angestellten all dieser Betriebe von der Regierung angeheuert und bezahlt würden und sich wegen jeder Kleinigkeit an die Regierung wenden würden, dann würde keine Pressefreiheit der Welt und keine noch so volksnahe Gesetzgebung dieses oder irgend ein anderes Land freier machen; und wenn doch, dann nur dem Namen nach.“208 Was Mill beschreibt, ist im Kern die sozialistische Position (wenn auch nicht von ihrer Schokoladenseite). Für eingefleischte Sozialisten ist die Idee, dass der Kapitaleigner seine Vorherrschaft freiwillig aufgebe, indem er sich den Launen der Wahlurne beuge, bestenfalls komisch. Für sie braucht der Austausch der bourgeoisen Demokratie gegen die sozialistische Demokratie Wächter der einen oder anderen Art, die dafür sorgen, dass die Wahlurne keine rückschrittlichen Ergebnisse produziert. Die Wahlergebnisse müssen die Realitäten der neuen „Produktionsverhältnisse“ respektieren, und die Frage, ob der Staat nicht eventuell einem demagogischen Konkurrenten unterliege, darf sich gar nicht erst stellen. Gleichwohl erwirbt kein Staat zuerst ein sozialistisches Bewusstsein und macht sich dann erst an die Nationalisierung des Kapitals. Dass die Dinge in dieser Reihenfolge stattfinden, ist eigentlich ein Szenario für Länder in der Dritten Welt. Überall sonst ist eher der umgekehrte Weg praktischer. In einer fortgeschrittenen Gesellschaft dürfte der Staat seinen „maximierenden“ Kurs zur eigenen Emanzipation nur einschlagen wollen und können, solange er den „bourgeoisen“ Demokratieregeln verpflichtet ist. Auch wenn deren Wettbewerbselement dem Staat Kärrnerarbeit auferlegen mag, so wird er sich doch diesen Regeln beugen, weil er, zumindest jetzt noch nicht, anders kann, und weil es zu Beginn für ihn keinen überzeugenden Grund dafür gibt, das Risiko einzugehen, das mit der Verbiegung der Regeln einhergeht. Auf dem Weg zum Ziel des „Maximax“ kann der Staat voranschreiten – oder sollen wir „schlafwandeln“ sagen? – und dabei womöglich jenen Punkt passieren, ab dem es kein zurück mehr gibt; und auch ohne vorher die Demokratie von einer der „Bourgeoisie“ in eine des „Volkes“ zu verwandeln. Wenn die „Mischwirtschaft“ einmal nicht mehr in der Lage (und nicht mehr willens) ist, sich so anzupassen, dass die Nationalisierung wie der offensichtliche Retter der gefährdeten Industrien und Arbeitsplätze aussieht, dann ist die elektorale Politik in der Tat der natürliche Dünger staatlicher Eigentümerschaft. Der Staat kann sich zu seinem Vorteil ein wenig die sozialdemokratische Straße hinunter tragen lassen. Der Wettbewerbsprozess unter den um Konsens ringenden Politiken setzt sich auch 208 Mill (1910), S. 165. Es mag erbauend sein, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es ganz allein die Leveller waren, die in ihrer Inbrunst für die Demokratie den Vorschlag unterbreitet haben, der Dienerschaft das Wahlrecht vorzuenthalten, weil man ihnen, die „vom Willen anderer Menschen abhängen“, beim Abstimmen nicht trauen könne. Vgl. Macpherson (1962), S. 107 – 136.
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hier fort und lässt zudem Raum für die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen des Staates. Volkssouveränität und kompetitive Politik mit freiem Zugang vertragen sich aber letztlich nicht mit dem Daseinszweck des Staatskapitalismus und würden ihn als funktionierendes System eigentlich zerstören. In der Demokratie sind die Menschen versucht, dem politischen Prozess zu entringen, was der wirtschaftliche Prozess ihnen verweigert. Im 4. Kapitel ging es hauptsächlich darum, die unschönen Konsequenzen dieses Widerspruchs für Staat und Zivilgesellschaft freizulegen und aufzuzeigen. Obwohl unschön und in ihrem kumulativen Effekt heimtückisch, sind sie für ein System, in dem die politische und wirtschaftliche Macht und Verantwortung vernünftig getrennt sind, nicht tödlich. Sind sie aber vereint, dann wird der Widerspruch übermächtig. Durch den Mehrparteienwettbewerb um das Amt, sowohl der alleinige Eigentümer der Wirtschaft als auch Arbeitgeber des ganzen Wahlvolks zu sein, träfen zwei sich gegenseitig zerstörende Elemente in einem System aufeinander. Es würde darauf hinauslaufen, die Lohnempfänger mittels Wahl ihren Lohn und ihre Arbeitszeiten selbst festsetzen zu lassen. Um sich das Ergebnis vor Augen zu führen, braucht es schon ein wenig Phantasie.209 Ob nun 209 Freier Zugang, geheime Wahlen und Mehrheitsregel in Kombination mit einem überwiegenden Anteil an Staatseigentum bedeuten, dass die Staatsmacht und somit auch die Rolle des Universalarbeitgebers jener Partei übertragen wird, die höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten verspricht als ihre Rivalin. Produktivität, Arbeitsdisziplin, Konsump tion und Investition werden allesamt auf der Wahlkampfbühne entschieden. Der politische Wettbewerb sorgt dafür, dass sie in größtmöglicher Weise inkompatibel sind und zu einem heillosen Durcheinander führen. Der „jugoslawische Weg zum Sozialismus“ kann als der Versuch verstanden werden, den Widerspruch zwischen Staatskapitalismus und bourgeoiser Demokratie zu umgehen, und zwar nicht mittels der offensichtlichen Methode, jeglichen politischen Wettbewerb zu unterdrücken, sondern durch seine partielle Verlagerung von der staatlichen Ebene auf die Ebene einzelner Staatsunternehmen. Die Angestellten können zwar nicht die Regierung wählen, aber sie wählen die Arbeiterräte und haben somit bei der Wahl der Unternehmensmanager direkt ein Wörtchen mitzureden. Gleiches gilt mit Blick auf die Lohnniveaus und die Verteilung der Boni beim Teilen der Profite. Folglich haben sie auch beim Betriebsergebnis und bei den Preisen mitzureden, allerdings eher indirekt. Soweit dies der Fall ist, haben die Unternehmen die Tendenz, den Mehrwert pro Arbeiter zu maximieren. D.h., ein Unternehmen wird im Allgemeinen versuchen, mehr Maschinen und Material und weniger Menschen einzusetzen, als kollektiv verfügbar sind. Die daraus resultierenden Tendenzen zu chronischer Inflation und zu der mit ihr einhergehenden Arbeitslosigkeit werden mit komplexen Verwaltungsmaßnahmen bekämpft. Politisch betrachtet erzeugt das System eine Cliquenwirtschaft mit Fraktionssitzungen und Abmachungen. Wirtschaftlich gesehen, schützen die einzelnen Unternehmen, die zum Zwecke des Broterwerbs zumindest prinzipiell untereinander und mit Importeuren auf einem spontan funktionierenden Markt konkurrieren, das System vor einem totalen Scherbenhaufen. Es gibt eine „Güterproduktion zu Tauschzwecken“. Vom Kapital heißt es, es sei in der Hand der Gesellschaft, nicht der des Staates. Was das heißt, lässt sich unmöglich herausfinden. Es bedeutet nicht Syndikalismus, Eigentümerschaft von Kooperativen oder Gemeindesozialismus. Ich glaube, es soll „gute Staatseigentümerschaft“ bedeuten, im Gegensatz zu „schlechter Staatseigentümerschaft“ (in etwa so
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
sozialdemokratisch oder demokratisch sozialistisch, der Staat kann auf Dauer nicht mit Regeln leben, die in unaufhaltbarer Weise ein Gesellschaftssystem erzeugen, das sich selbst zerfleischt. Als Eigentümer und Arbeitgeber hat der Staat nun genug Macht, um mit dem Verbiegen der demokratischen Regeln zu beginnen. So entgeht er den demagogischen und inkompatiblen Ergebnissen, indem er den alten politischen Prozess den funktionalen Anforderungen des neuen gesellschaftlichen Systems und dessen neuen „Produktionsverhältnissen“ anpasst. Zu diesem Zweck stehen ihm zwei Sorten möglicher Lösungen zur Verfügung. Die eine ist, die bürgerliche Demokratie zusammen mit dem Mehrparteienwettbewerb beizubehalten, jedoch das Spektrum der Volkssouveränität schrittweise zu beschränken, damit die siegreiche Partei für ihre Amtsperiode nicht die ganze staatliche Macht erhält, sondern nur die Macht über bestimmte Bereiche, in denen die getroffenen Entscheidungen die vorgesehene Funktionsweise der Wirtschaft nicht beeinträchtigen. (Ob man solche Bereiche überhaupt finden kann, hängt indes davon ab, wie intensiv man nach ihnen Ausschau hält.) Das Einstellen und Entlassen der Menschen, das Kommando über die Polizei und die Armee sowie über Angelegenheiten von Einkommen und Ausgaben müssen einer permanenten Exekutive vorbehalten bleiben, die nicht Gegenstand von Wahl und Abwahl ist, weil sonst (wie jeder verantwortungsvolle Bürger unmittelbar erkennen kann) demagogisches Überbieten schnell zum Zusammenbruch führen würde. Die nicht-gewählte und permanente Exekutive würde mit der Zeit feststellen, dass die Wahrung und angemessene Nutzung der Ressourcen ihr die Pflicht auferlegte, auf ihrer Führungsrolle über alle Bereiche des sozialen Lebens, die Bereiche von Erziehung und Kultur eingeschlossen, zu bestehen. Gleichwohl mag sie (selbst wenn dies der öffentlichen Ruhe gefährlich werden könnte) einigen der gewählten Mitglieder der Mehrparteienversammlung in nicht-wesentlichen Fragen eine konsultative Funktion zugestehen. Der andere Lösungstyp sieht vor, den politischen Wettbewerb u.a. durch eine Zulassungsregelung so zu beschränken und zu reformieren, dass die gewählte Versammlung zwar weiterhin, technisch gesehen, über die ganze Staatsmacht verfügt, es aber schwierig und letztlich unmöglich wird, Menschen zu wählen, die unangemessen über sie verfügten. Die im Amt befindliche Exekutive könnte z. B. die vorgesehenen Kandidaten aller Parteien im Hinblick darauf durchleuchten. Da alle Menschen Angestellte des Staates sind (und das Gleiche für deren Eltern, Kinder, Angehörige, Verwandten und Freunde gilt), würden jene, die den Führungsanspruch des Staates eventuell nicht anerkennen, von einer möglichen Kandidatur wie „soziale“ Planung gute Planung und „bürokratische“ Planung schlechte Planung bedeuten). Die meisten der Eigentümervorrechte werden in der Praxis von staatlichen Agenturen wahrgenommen, die sich selbst „Banken“ nennen, statt, wie in orthodoxen sozialistischen Staaten üblich, „Ministerien“ oder „Planungsbehörden“. Dass dieses Hybridsystem weniger totalitär erdrückt als der reinrassige Staatskapitalismus nordöstlich von ihm dürfte sowohl historische, charakterliche und zufällige Ursachen haben als auch in „systemischen“ Unterschieden begründet sein.
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abgehalten. Dank einer solchen Durchleuchtung ist es nun möglich, in freien und demokratischen Wahlen verantwortungsbewusste und nicht-demagogische Volksvertreter zu wählen. Weil sie gleichermaßen um das Wohlergehen ihrer Familien wie das ihres Landes besorgt sind, kann man darauf vertrauen, dass sie (entweder aufgrund eines informellen Konsenses, einer formellen Koalition bzw. „nationalen Front“ und abhold kleinkarierter Parteirivalitäten) die verantwortungsvolle, nicht-demagogische Lenkung des Staates stärken und dem Staat die Sicherheit und Kontinuität seiner Amtszeit bescheren, die dieser braucht, um frei von Hast und Unbeständigkeit die Realisierung seiner Ziele zu verfolgen. Es kann natürlich auch noch andere, heimtückischere und unauffälligere Wege geben, die Regeln der Wettbewerbsdemokratie zu verbiegen, sie ihres Inhalts zu berauben oder zu sinnentleerten Riten werden zu lassen, mit der Folge, dass der Wettbewerb um die Staatsmacht nicht länger eine echte Bedrohung für die Amtsinhaber ist. Dies ist die logische Konsequenz einer überwiegend staatlichen Eigentümerschaft und eine notwendige Bedingung für das Funktionieren jenes Gesellschaftssystems, zu dessen Bestand die staatliche Eigentümerschaft gehört, und nicht etwa eine „geschichtliche Notwendigkeit“ oder sonst etwas, das „ohne menschliches Zutun“ geschähe. Die Abwahl ist praktisch abgeschafft. Die Menschen können so oder so den politischen Prozess nicht länger dazu nutzen, ihre eigenen Arbeitgeber zu entlassen. Ohne eine derartige Prävention würde das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer absurde Züge annehmen: Die Möchtegern-Arbeitgeber müssten die Arbeitnehmer darum bitten, sie einzustellen; was die Arbeit betrifft, müsste man rund um die Uhr Rücksprache halten; und die Bezahlung würde von jedem selbst festgelegt werden (jedem das, was er zu verdienen glaubt). Mit der Abschaffung der Abwahl würde die Revolution auf der Skala der politischen Alternativen nach oben steigen. Sie, die letzte aller Zufluchten, wird so für den enttäuschten Hedonisten, den Non-Konformisten, den Menschen, der sich ungern belügen lässt, und den, der seine Arbeit hasst, zur einzigen Rückzugsalternative. Aufgrund des wirklich tiefgreifenden, alles durchziehenden Wechsels, den die Gleichschaltung von wirtschaftlicher und politischer Macht bewirkt hat, sind die verstreuten autonomen Machtstrukturen niedergerissen und werden alle Spannungen zu Spannungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern. In bilateralen Verhandlungen zwischen Bürgern, zwischen Eigentümern und Nichteigentümern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Verkäufern und Käufern, Vermietern und Mietern, Verlegern und Autoren, Banken und Schuldnern kann von nun an nur noch wenig bis gar nichts festgelegt werden. Jenseits des Geheimen und Kriminellen gibt es kaum noch ein Geben und Nehmen, bei dem ein anderer als der Staat, zumindest von Rechts wegen, geben kann. An die Stelle von Verhandlungs- und Vertragsbeziehungen treten nun fast überall Beziehungen zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger. Unabhängige Hierarchien verschwinden. Gruppen, die irgendwo zwischen Mensch und Staat stehen, werden besten-
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
falls zu „Transmissionsriemen“ und schlimmstenfalls falsche Fassaden, hinter den nichts steht. Für den Staat mag dies eine große Erleichterung sein. Es stellt aber auch eine große Gefahrenquelle dar. Nun ist alles der Staat schuld. Alle schmerzhaften Entscheidungen sind seine. Er steckt in der Klemme, zumal es ohnehin verführerisch ist, alles der „Bürokratie“ und „dem verlorenen Kontakt zu den Massen“ anzuhängen, seien es stinkende Abwasserkanäle, langweilige Fernsehprogramme, gleichgültige Ärzte, übergriffige Aufseher, schäbige Güter oder apathische Verkäuferinnen. Als Staat darf er nicht zugeben, falsch zu liegen, aber gegenüber seinen Angestellten und Erfüllungsgehilfen kann er das nur allzu oft nicht verbergen. Totalitarismus ist also weder eine Sache fanatischer Köpfe und gewalttätiger Mächte „da oben“, noch eine der erschreckenden Naivität ihrer Ideologen. Sie ist für jeden Staat, der um hohe Einsätze gespielt und gewonnen hat, eine Sache der Selbstverteidigung, bei der eine Zwickmühle gegen eine andere eingetauscht wird. Nachdem er alle Macht auf sich vereinigt hat, wird er zum Mittelpunkt aller Konflikte und muss totalitäre Maßnahmen ergreifen, um all dem, dem er ausgesetzt ist, gewachsen zu sein. Was ist zu tun, um den Staatskapitalismus vor der Revolution zu bewahren? Mag sein, dass die Gefahr weitgehend nur eine theoretische ist, eine leere Schachtel, die man nur der logischen Vollständigkeit halber betrachtet, weil der technische Fortschritt Revolutionen überflüssig gemacht hat. Schnellfeuerwaffen, bewaffnete Fahrzeuge, Wasserkanonen, „Wahrheitsseren“ und vor allem die zentrale Kontrolle der Telekommunikation dürften inzwischen dazu geführt haben, dass der amtierende Staat leichter zu verteidigen als anzugreifen ist. Nicht umsonst nennt man den Nachfolgerstaat des Kathedersozialismus den Staat des Panzersozialismus. Seit kurzem wird behauptet, dass die technische Entwicklung sich mithilfe der Computer auf die Seite des amtierenden Staates geschlagen habe. Für den Laien ist nur schwer einzusehen, warum dies so sein sollte (zumal das Gegenteil auf den ersten Blick viel wahrscheinlicher zu sein scheint). Insofern müssen wir diese Frage den qualifizierten Köpfen überlassen. Wenn man sich moderne Revolutionen überhaupt noch vorstellen kann, dann kann man auf jeden Fall davon ausgehen, dass der Staatskapitalismus aus denselben Gründen, die ihn dazu nötigen, totalitär zu sein, größeren Revolutionsrisiken ausgesetzt ist und sich stärker gegen Revolutionen verteidigen muss als jene Staaten, die das, was andere besitzen, nur verteilen, aber nicht selbst besitzen.210 210 Einer der schwächsten unter all den schwachen Gründen, die Trotzki dafür anführte, warum es so etwas wie Staatskapitalismus „nie geben könne“, beruht auf der Annahme, dass „der Staat als Universalvertreter des kapitalistischen Eigentums für die soziale Revolution ein allzu verlockendes Objekt wäre.“ (Trotzki, Verratene Revolution, https://www.marxists. org/deutsch/archiv/ trotzki/1936/verrev/kap09.htm#s2.) Trotzki hat aber einen überzeugenderen Grund: In seinem Ideensystem muss der Staatskapitalismus im Privatbesitz sein. Der Staat muss, so wie ein gigantisches Unternehmen, Anteilseignern gehören, die in der Lage sind, ihre Anteile zu verkaufen und zu vererben. Wenn sie nicht verkaufen und ihre Söhne
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Terror und Staatsfernsehen ergeben in der Summe, was nach allgemeinen Vorstellungen notwendig ist, um die Staatssicherheit herzustellen. Zweifellos spielen beide eine Rolle, wenn es darauf ankommt, es gar nicht erst zu aktuellen Repressionen kommen zu lassen, so wie präventive Arzneien die sonst fälligen Behandlungs- und Krankenhauskosten reduzieren. Gleichwohl beginnen die besten Verteidigungsmaßnahmen eine Stufe früher, nämlich bei der Formung des Charakters und des Verhaltens, bei der Einschärfung des Glaubens, dass bestimmte Grundzüge des gesellschaftlichen Lebens, wie die „Führungsrolle“ des Staates, seine Kontinuität und Unabsetzbarkeit, sein Monopol über das Kapital und seine Vorherrschaft über die individuellen Rechte, unveränderlich seien. Die Bestimmung des Staates, seine Untertanen zu gebrauchen, sollte nicht schwanken, nicht anschwellen und nicht schwinden. Deren Schicksal muss vorherbestimmt und stabil sein; es sollte sich nicht erheblich verschlimmern, aber auch nur mit Bedacht und langsam verbessern. Schneller Wandel in jedwede Richtung ist schlecht, und wenn es ihn schon gibt, dann ist der Wandel zum Besseren der gefährlichere von beiden. So wie man in der Ökonomie schon „alles bei Marschall“ findet, so wurde in der Soziologie „schon alles von Tocqueville gesagt.“ In drei Kapiteln seines Buches Der alte Staat und die Revolution finden wir alles: wie aufkommender Wohlstand und Fortschritt in Richtung Gleichheit die Revolution beförderten (Buch III, Kap. IV), wie Aufmunterung die Menschen dazu brachte, aufzubegehren (Buch III, Kap. V) und wie das monarchische Regime den Menschen Bildung brachte und damit den Boden für seinen eigenen Umsturz bereitete (Buch III, Kap. VI). Die Aussicht auf einen Wandel zum Besseren weckt im Menschen zunehmend das Gefühl, unglücklich zu sein, etwas zu verpassen; er wird aggressiv und ungeduldig.211 Konzessionen und Reformen vom Typ „Sicherheitsventil“ – ganz egal ob nicht erben können, dann ist das System kein Staatskapitalismus. (Wenn er sich auch sicher war, was der Staatskapitalismus nicht war, so änderte Trotzki dennoch seine Meinung darüber, was der Staatskapitalismus ist. Siehe dazu Ruehl-Gerstel (1982). Es stimmt traurig, wenn man sieht, dass ein Marxist sich auf diese Position zurückzieht. Für Trotzki sollten die „Produktionsverhältnisse“ von der „Warenproduktion“, der entfremdenden Arbeit und deren Beherrschung durch das Kapital sowie von der Aneignungsart des Mehrwertes bestimmt werden, und nicht von der Frage, ob man die Anteile verkaufen oder vererben könne. Man muss hinzufügen, dass auch Lenins Gebrauch von „Staatskapitalismus“ als Begriff zur Bezeichnung eines privaten Unternehmens unter strenger staatlicher Kontrolle den sozialistischen Respekt kaum mehr verdient hat. Es ist vor allem schwer einzusehen, wie der Staat (ungeachtet eines gewissen Maßes an „relativer Autonomie“) ein Unternehmen kontrollieren soll, wenn er doch kraft der Natur der Produktionsverhältnisse von diesem kontrolliert und beherrscht werden muss. 211 Einige dieser und verwandte Überlegungen finden sich Raymond Boudons einflussreichem Aufsatz „La logique de la frustration relative“ in Boudon (19792). Professor Boudon will darlegen, dass die fein beobachtete Korrelation von Unzufriedenheit und Frustration angesichts verbesserter Aussichten nicht von irgendwelchen psychologischen Zusatzannahmen abhänge, sondern allein aus der Rationalität abgeleitet werden könne, und zwar im Sinne risikoorientierter Nutzenmaximierung.
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groß oder klein, früh oder spät – erweisen sich in der Regel immer als etwas zu spät kommend. Aus der historischen Erfahrung weiß man, dass sie jene Erwartungen an den Wandel wecken, die weit über das hinausragen, was an tatsächlichen Veränderungen eintritt. Wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass dieses sozialpsychologische Merkmal in einem Interessenkonflikt zwischen Staat und Gesellschaft vorliegt, dann kann es für den Staat nur falsch sein, nachzugeben. Selbst wenn es falsch war, die Zügel anfangs zu kurz zu halten, ist es nun besser, sie so zu halten und sie nicht locker zu lassen, jedenfalls nicht allzu spürbar. Nimmt man einmal den Wutanfall aus, in dem man 1937 – 1938 willkürlich terrorisierte, sowie die paar Jahre planloser Experimente nach 1955, also zwei Phasen, die gleichermaßen das amtierende Regime in Gefahr brachten und nicht zu früh beendet wurden, dann ist es aus meiner Sicht seit 1926 gängige sowjetische Praxis, diesem Rezept zu folgen. Ungeachtet der vielen guten Gründe, die schon längst zum Einsturz des auf tönernen Füßen stehenden modernen Sowjetstaates hätten führen sollen, ist dieser Staat in seiner Stabilität kein Widerspruch zur These, dass Reform, Entspannung, soziale Mobilität, dynamisches Streben nach Innovation und dezentralisierter Initiativen keine notwendigen Zutaten sind, um die Gesellschaft angesichts der ihr zugemuteten totalitären Forderungen ruhig, gefügig, duldsam und devot zu halten; was immer auch diese Zutaten zur Effizienz und dem materiellen Wohlergehen der Gesellschaft beisteuern mögen.
Norman Cohn entdeckt am anderen Ende des Spektrums menschlicher Motive, nämlich in den nicht-rationalen Motiven, dieselbe Korrelation zwischen verbesserten Bedingungen und Aussichten einerseits und revolutionärem Handeln andererseits, und zwar in seinem Klassiker über die Mystik mittelalterlicher Revolutionen. Vgl. dazu seine Stellungnahme zum deutschen Bauernkrieg von 1525: „Den deutschen Bauern ging es damals besser als je zuvor … weit davon entfernt, nur aus Elend und Verzweiflung zu handeln, gehörten sie einer aufsteigenden und selbstbewussten Klasse an. Sie waren Menschen, deren Lage sich sowohl gesellschaftlich wie wirtschaftlich verbesserte.“ (Cohn (1970), S. 245) Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur zur Untermauerung der Theorie, Revolutionen träten in der Regel dann ein, wenn der Druck nachlasse und die Aussichten auf Reformen besser würden. M.E. ist es wichtig zu betonen, dass es viele andere gute Gründe für sie geben mag als die These, Reformen seien ein Zeichen für einen „auf der Kippe“ stehenden Staat, der schwächer und somit zum Freiwild werde; Freiwild für kluge Revolutionäre, die das Verhältnis von Risiko und Gewinn abwögen.
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Der Staat als Klasse Mithilfe der richtigen Verwaltung kann der Kapitalismus „verantwortungsvoll“ werden und der Sozialismus ein „menschliches Antlitz“ erhalten. Aber beide Systeme sind nicht ausreichend kontrollierbar, um Bewegung in ihre Konstanten zu bringen.
Wenn es in einer Welt, in der Knappheit herrscht, einen Klassenkonflikt geben muss, wer, wenn nicht der Universalkapitalist, könnte dann aus der Position der herrschenden Klasse heraus agieren? Es ist wohl kaum übertrieben, wenn man behauptet, die Form der Eigentümerschaft sei hinreichend gut beschreiben, indem man die Frage beantwortete: „Wem gehört was?“ Durch eine einfache Antwort auf diese einfache Frage können wir, ohne allzu doktrinär zu sein, den Unterschied zwischen privatem und staatlichem Kapitalismus angeben und die alternativen Machtkonfigurationen in der Gesellschaft leicht verständlich darstellen.212 Die hoffnungsfrohe Zusicherung, dass das Kapital, einmal nationalisiert, der „Gesellschaft gehöre“, kann, so bedeutungslos sie auch ist, als nützlicher Euphemismus zu politischen Zwecken genutzt werden. Die anspruchsvollere Behauptung, dass es einen nachweislichen Unterschied zwischen „staatlicher“, „gesellschaftlicher“ und „sozialistischer“ Eigentümerschaft gebe, in dem Sinne, dass das einer staatlichen Eigentümerschaft unterstellte despotische Potential in einer gesellschaftlichen Eigentümerschaft nicht vorliege, muss man erst dann ernstnehmen, wenn man zeigen kann, wie die Vorgehensweise, in der die „Gesellschaft“ ihre Eigentumsrechte wahrnimmt, sich von der unterscheidet, die der Staat an den Tag legt. Im Anti-Dühring mahnt Engels, die reine Staatseigentümerschaft sei nur ein fadenscheiniger Sozialismus, und erst dann sozialistisch, wenn die Produktionsmit212 Man findet übrigens, was nicht ganz uninteressant ist, auch ausdrücklich nicht-marxistische Gründe, die für eine Definition des Staatskapitalismus als „die Symbiose von Staat und Unternehmen“ im Sinne Lenins sprechen (z. B. in Wiles (1979), S. 51). Was aber ist dann privater Kapitalismus, und wie unterscheiden wir diesen vom Staatskapitalismus? Wiles meint, dass Letzterer als Terminus von der Sowjetunion „missbräuchlich verwendet“ worden sei, weil diese „gewiss eine Ideologie hat, die ihn vom wahren Staatskapitalismus deutlich abgrenzt.“ Wahrer Staatskapitalismus, der dem Eigentum gegenüber mehr oder weniger indifferent ist, ist bar jeglicher Ideologie. Das gilt jedoch nur im Sinne einer Konvention, den wahren Staatskapitalismus als einen zu definieren, der gegenüber Eigentum indifferent ist. Aber welches derzeit wirklich existierende System oder Land würde dieser Definition gerecht werden? Nehmen wir das Wort eines prominenten Staatskapitalisten, eines Angehörigen der großen Verbindungen (Grand Corps) auf einem Gipfeltreffen der französischen Staatsdiener, der später Industrieminister wurde: „Kein noch so großer Dirigismus kann sich mit einem mächtigen öffentlichen Sektor messen.“ (Chevènement (1977), S. 180, Übersetzung ins Englische von mir.) Sein Staatskapitalismus ist gegenüber Eigentum bestimmt nicht indifferent. Wenn es Staatskapitalismen gibt, die es sind, dann fallen sie nicht auf. Kann es sein, dass man sie womöglich allzu leicht mit privaten Kapitalismen verwechselt?
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tel der „Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich entwachsen sind“; ansonsten könnten auch staatseigene Bordelle als „sozialistische Einrichtungen“ angesehen werden.213 Wie groß müsste ein Bordell dann werden, um als ein sozialistisches Etablissement zu gelten, im Unterschied zu einem rein staatseigenen Etablissement? Es reicht nicht, wenn man die magische Eigenschaft, die Staatseigentum in sozialistisches Eigentum überführt, in der Größe sucht. Ein Jahrhundert Wirtschaftswachstum hat indes gezeigt, dass die wissenschaftlich-sozialistische Idee von den Produktionsmitteln, die der Leitung durch Aktiengesellschaften „entwachsen“, den Test nicht bestanden hat. Aus Fairness gegenüber Engels muss man sagen, dass sein Anti-Dühring wiederum in leicht verständlichen Worten einen alternativen marxistischen Weg zur Identifizierung von Eigentumsarten und Gesellschaftssystemen beinhaltet. Er erklärt, dass in einer von Knappheit geprägten Welt (alias „im Reich der Notwendigkeit“) die Teilung der Gesellschaft in antagonistische Klassen voranschreiten muss. Der Klassenkonflikt wiederum setzt die Existenz eines Staates voraus, der die Vorherrschaft einer Klasse sicherstellt. Der „sozialistische Staat“ ist somit kein Widerspruch in sich. Der Staat, dem alle Produktionsmittel gehören, ist ein repressiver sozialistischer Staat. Weil es immer noch Klassen gibt, kann er sich noch nicht aufgelöst haben. Er muss weiterhin die Ausgebeuteten im Namen der Ausbeuter unterdrücken. Er kann erst absterben, wenn der Überfluss die Knappheit ersetzt haben wird. (Falls der Sozialismus die Knappheit nie überwindet, eine Möglichkeit, die Engels nicht ausdrücklich bespricht, dann wird der Staat nie absterben und auf ewig die Produktionsmittel besitzen. Daher ist der Staat sicher, solange er beim „Freisetzen der Produktionskräfte“ nicht allzu erfolgreich ist und uns nicht unabwendbar eine Welt im Überfluss beschert.) Solange Überfluss und Absterben des Staates auf sich warten lassen, sind „Sozialismus in einer von Knappheit geprägten Welt“ und „Staatskapitalismus“ für die praktischen Zwecke Synonyme. Die Arbeitsteilung ist immer noch eine Notwendigkeit, und die Produktion dient immer noch dem Austausch und nicht dem Bedürfnis. Es gibt zwei Klassen, die sich nach ihren Funktionen unterscheiden, wobei die Unterdrückerklasse sich den Mehrwert aneignet, den die unterdrückte Klasse produziert. Anders als im privaten Kapitalismus wird der Mehrwert, obgleich gegen den Willen der unterdrückten Klasse, in deren langfristigem Interesse (oder in dem der ganzen Gesellschaft) angeeignet. Wer aber ist die Unterdrückerklasse? Um es in einer weniger verlotterten Sprache zu sagen: das Drama ist zur Aufführung bereit, aber einer der Schauspieler passt nicht zu seiner Rolle. Der Staat besitzt, aber die Unterdrückten nicht, und die mutmaßlichen Unterdrücker auch nicht. Es gibt keine herrschende Klasse, deren Macht in Eigentümerschaft fest zementiert wäre. An ihrer Stelle soll eine seltsame gesellschaftliche Kaste stehen, die ihr die Privilegien entreißt; ein Hermaphrodit, der ein Klasseninteresse hat, ohne Klasse zu sein, und der herrscht, ohne zu besitzen: die Verwaltung.214 213
Engels, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung, S. 259.
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Bevor die Verwaltung herrschen kann, muss die Eigentümerschaft ihre Bedeutung verlieren. Folglich enthalten die Modelle zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene, die auf dem Dreigestirn aus Bürgerschaft, Verwaltung und Staat fußen, stets eine Spielart des bewährten Musters, in dem es um eine „zunehmende Trennung von Eigentümerschaft und Kontrolle“ geht. Im Sinne dieser These wird die Eigentümerschaft auf ein Recht reduziert, und zwar auf das Recht auf eine (private oder gesellschaftliche) Dividende, die von der leitenden Verwaltung zur Ausschüttung festgelegt wird. Die Kontrolle liegt unter anderem im Ermessen darüber, den Menschen Kapital zuzuweisen, und umgekehrt in Entscheidungen darüber, wie zu investieren, zu heuern und zu feuern ist und wie die Verdienste jener zu beurteilen sind, die vom Zuweisen und Verteilen betroffen sind. 214
Jede Gesellschaft hat ihre eigene Verwaltung hervorgebracht. England sagt man nach, ein Establishment zu haben, Frankreich hat zweifellos seine großen Verbindungen (Grand Corps) (so wie umgekehrt die Grand Corps ihr Frankreich haben). Russland hatte früher seine Klassen (Tschin) und hat nun die Nomenklatura, der in den USA in etwa 500.000 Anwälte und leitende Mitarbeiter entsprechen. Man riskiert wohl nur wenig Widerspruch, wenn man behauptet, dass jede Gesellschaft von ihrer „Machtelite“ regiert wird. Ein großer Teil der modernen Wirtschaft wird zweifellos von professionellen Managern geführt, während in der anderen, der geistigen Hälfte der Welt „die Medien“, die „geistigen Autoritäten“ oder die „technokratische Ebene“215 sich als die führenden Eliten erweisen. Unter der impliziten und hier näher betrachteten Voraussetzung, dass die Trennung von Eigentümerschaft und Kontrolle einen Kontrollverlust des Eigentümers bedeutet (und nicht die weniger drastische und widerrufbare Delegierung von Kontrolle), kann die Herrschaft der Verwaltung in vereinfachter Form aus Michels’ „ehernem Gesetz“ abgeleitet werden. Jede Organisation braucht für die vielen Organisierten nur wenige Organisierer. Es sind die Organisierer, welche die Ämter 214 Wir gebrauchen das Wort hier in einem sehr allgemeinen und keineswegs abschätzigen Sinn und umfassen damit die Kategorie der angestellten Verwalter und Adminis tratoren, welche die Behörden bevölkern. Der Begriff verweist auf eine Aufgabe in der Gesellschaft und ist nicht dazu gedacht, irgendwelche Neigungen oder Abneigungen zum Ausdruck zu bringen. 215 Nach meinem Verständnis haben Nachdenken und Feldforschung gemeinsam zu dem Ergebnis geführt, dass die technokratische Ebene sich aus Personen zusammensetzt, die jene Entscheidungen treffen, die Wissen voraussetzen. (Damit verbleiben für den Rest von uns offensichtlich nur noch wenige Entscheidungen, die wir zu treffen haben.) Die technokratische Ebene nimmt der Eigentümerschaft jegliche tatsächliche Macht. „Liturgische Aspekte“ des Wirtschaftslebens allein veranlassen die technokratische Ebene dazu, die Unantastbarkeit des Privateigentums hochzuhalten. Sie ist aber genauso gut darin geübt, private und öffentliche Anteilseigner an ihrem Platz zu lassen. (Warum aber zieht sie es in diesem Fall vor, private Anteilseigner zu dulden, sei es auch nur der „Liturgie“ wegen?) Es wäre indes Ausdruck „größter Torheit“, seine eigenen Anteilseigner zu fürchten. Die technokratische Ebene ist mehr am Wachstum als am Gewinn interessiert. Und so weiter. Diese Enthüllungen sind Galbraith/Salinger (1979), S. 58 ff., entnommen.
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bevölkern. Sobald die Bürokraten dort Stellung bezogen haben, beginnt ihre Herrschaft, weil die da draußen schlecht aufgestellt und zu wenig motiviert sind, um jene des Platzes zu verweisen. In einer für ihn recht untypischen, utopischen Weise versichert uns Lenin, dass die Verwaltungstätigkeiten eines Tages so einfach sein werden, dass „diese Funktionen alle Leute, die des Lesens und Schreibens kundig sind, ausüben können.“216 Dies führe zur „völligen Vernichtung des Bürokratismus“217, so dass „ALLE der Reihe nach regieren.“218 (In der Praxis hat er natürlich alles daran gesetzt, jeden Versuch „der Reihe nach“ zu regieren, zu unterbinden.) In der Zwischenzeit jedoch, so heißt es, werde die Verwaltung komplexer. Obwohl viele von uns bereits Bürokraten sind, ist für die übrigen von uns die Aussicht, die Verwaltung mal zu übernehmen, genauso wirklichkeitsfremd wie unattraktiv. Dieser Umstand spricht dafür, dass die Bürokratie eine Kategorie für sich ist. Je mehr man die These, Eigentümerschaft schließe die Kontrolle über Eigentum nicht ein, beim Wort nimmt, desto gravierender sind die Folgen, die einem ins Haus stehen. Kapital zu besitzen, wird für die Macht irrelevant. Das gilt sowohl für die Macht in dem herkömmlichen Sinne, dass man Menschen dazu bringt, Dinge zu tun, als auch in dem Sinne, dass man sich „den Mehrwert aneignet“, einschließlich der Dividende des Kapitalisten. Es gibt nur eine Dividende aus Gnade-und-Gefallen für die mutmaßlichen Eigentümer; im Sozialismus für „das Volk“, im privaten Kapitalismus für die „Anteilseigner“. Warum sollte man überhaupt noch um das Eigentum streiten? Die Nationalisierung und das Niederreißen der „privaten Festungen der bürgerlichen Wirtschaft“ verlieren ihren Sinn und ihr Ziel. Eine Verwaltung, die das Zepter des Staates in der Hand hielte und sich die wichtigsten Vorrechte der Eigentümerschaft sicherte, könnte ungestraft die Gesellschaft in die eine oder andere Richtung lenken. Sie könnte das Privateigentum auf den Schild heben, es zerstören oder beim Gesellschaftssystem halbe halbe machen. Man könnte nicht sehen, welche Art ihren Zwecken besser diente. Ob sie die „kapitalistische Straße“ oder die sozialistische nähme oder ob sie sie sich nur im Kreis drehte, wäre vollkommen ungewiss. In der Realität jedoch haben Verwaltungen offensichtlich Gründe dafür, sich am Status quo zu orientieren. Normalerweise trachten sie nicht danach, ihn zu ändern. Trotzkis Verdacht, Stalin plane einen neuen Thermidor „zur Restaurierung des Kapitalismus“, wäre weniger grotesk dahergekommen, wenn er vernünftige Gründe für die Annahme gehabt hätte, dass Stalin und die von ihm befehligte Verwaltung für den Fall, dass der „Kapitalismus restauriert“ würde, zumindest nichts an Macht, Kontrolle oder an dem, was auch immer sie hatten und wertschätzten, verlören. Allerdings zog er sich selbst den Boden unter den Füßen weg, als er, gewissermaßen im selben Atemzug, in dem er seine bizarren Anschuldigen vorbrachte, 216
Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_426.htm. Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_489.htm. 218 Lenin, Staat und Revolution, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_489.htm. 217
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darauf hinwies, dass die sowjetische Verwaltung so oder so dazu „gezwungen“ sei, das System der Staatseigentümerschaft als Quelle ihrer Macht zu schützen. Dies hat logisch zur Folge, dass ein System privater Eigentümerschaft der Verwaltung nicht so viel Macht eingebracht hätte, selbst dann nicht, wenn die neuen privaten Eigentümer aus ihren eigenen Reihen gekommen wären und jeder verdienstvolle Apparatschik zu einem Kapitalisten mit Zylinder und Zigarre mutiert wäre. Die interessanteste Implikation der These, dass Eigentümerschaft nicht Kontrolle bedeutet, liegt jedoch in der Stärkung des Glaubens daran, dass unser Schicksal weitgehend eine Sache der Sitten und Stimmungen der über uns thronenden Amtsstubenleiter sei. Ob ein Gesellschaftssystem erträglich ist oder nicht, ob es den Menschen in ihm weitgehend zufriedenstellend oder übel geht, hängt zum großen Teil von den jeweiligen persönlichen Verhaltensweisen der Verwaltungsmitglieder ab. Wenn der öffentliche Dienst arrogant, korrupt oder beides ist, die Managerelite hartherzig, die Mediengemeinde geldgierig und die „technokratische Ebene“ ein Heer seelenloser Spezialisten, dann sehen wir die „hässliche Fratze des Kapitalismus“. Wenn aber die Diensthabenden den Menschen ernsthaft helfen wollen und deren „legitimen Ansprüche“ ernstnehmen, dann bekommen wir den Prager Frühling und den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Nicht das Herrschaftssystem und die Machtstrukturen sind es, die über gutes oder schlechtes Leben entscheiden. Entscheidend ist vielmehr, wie die Menschen geartet sind, die sie verwalten. Wenn die Verwaltung nicht „bürokratisch“ ist, die Unternehmensleitung aber „sozial gesinnt“ und ein „Gemeinschaftsbewusstsein“ hat, und wenn der Parteifunktionär „den Kontakt zu den Menschen nicht verloren hat“, dann kann sowohl der private Kapitalismus wie auch der Staatskapitalismus erträglich sein. Dieser Glaube ist verlockend. Man verfällt ihm leicht. In der Folge wird es zur Lebensaufgabe, sicherzustellen bzw. alles daran zu setzen, dass die Positionen an der Spitze von Verwaltung und Geschäftsleitung von den richtigen Leuten besetzt werden. Jede Kultur weiß, wie sie ihre Verwaltung gut besetzt. Die eine schaut auf das gute Haus und den Landbesitz (England, vor dem 2. Weltkrieg, und auch Preußen kommen einem in den Sinn), die andere setzt auf bestandene Examen (Frankreich, das Kaiserreich China und seit jüngerem auch die USA sind Beispiele dafür), wohingegen das sozialistische Rezept schwielige Hände oder sonstige glaubhafte Belege für die „Herkunft aus der Arbeiterklasse“ vorsieht. (Gemischte und widersprüchliche Kriterien wären keine Überraschung. Ein volksnaher Aristokrat, ein Schweißer, der einen MBA nachmacht, oder umgekehrt ein Universitätsabsolvent, der durch seiner Hände Arbeit alles über das Leben lernt, sind allesamt höchst geeignete Rekruten zur Aufnahme in die „Machtelite“. Von den sich widersprechenden und gemischten Kriterien können aus unwesentlichen irgendwann wesentliche Kriterien werden. Es heißt, es habe zu Chruschtschows Niedergang beigetragen, dass die sowjetische Bevölkerung sich vor der Außenwelt wegen seiner Wichtigtuerei und Clownerie schämte, und weil er mit dem Akzent der ukrainischen Unterschicht sprach.)
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Die Zustimmung der Zivilgesellschaft zur Zusammensetzung der Verwaltung steht und fällt mit den vielversprechenden Ideen zum richtigen Rekrutieren der „Machtelite“ und zu dem vom Personal abhängigen Unterschied zwischen „Raubtierkapitalismus“ und „verantwortungsvollem Kapitalismus“ einerseits und „despotischem“ und „demokratischem“ Sozialismus andererseits. Mithilfe dieser Ideen kann man auch das leidenschaftliche Interesse der modernen Soziologie an den statistischen Parametern der jeweiligen Hierarchien erklären. Wenn nämlich das Verhalten der „Machteliten“ vor allem von deren Herkunft abhängt, dann ist es schon wichtig, was der Vater machte und welche Schule er besuchte. Die Voreingenommenheit mit Blick auf die „sozioökonomische Herkunft“ negiert vollkommen den Glauben, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, und folglich die Behörde das Bewusstsein des Bürokraten.219 Folgt man jedoch dem Glauben, dann bleibt ungeachtet der Frage, ob in den Ämtern eher die Söhne von Arbeitern, Lehrern oder die von Bürokraten sitzen, das institutionelle Interesse und somit auch das Verhalten der Bürokratie im Grunde unverändert, sieht man einmal von geringfügigen kulturellen Variationen im Stil ab, also davon, ob es noch nett oder doch eher unangenehm zugeht. Stimmt die erstgenannte Auffassung, dann muss die Bürokratie vollkommen autonom sein und darf keinem Herrn gehorchen, damit sie in der Lage ist, ihren eigenen persönlichen Vorstellungen und Dispositionen zu folgen. Stimmt jedoch die zweite Auffassung, dann ist das eigene existenzielle und institutionelle Interesse der Herr der Bürokratie, und dieses kann, muss aber nicht, mit dem „Maximanden“ des schlussendlichen Nutznießers zusammenfallen, dem die bürokratischen Institutionen zu Diensten sein sollen – im Staatskapitalismus dem Staat, im Privatkapitalismus den Anteilseignern. In beiden Fällen spielt die Bürokratie die Melodie, gleichwohl zusätzliche Größen mit festlegen, welche Melodie sie spielt. Beide Auffassungen stehen und fallen mit der These, dass nicht der Eigentümer kontrolliert, sondern der Bürokrat. Wie gut ist diese These? Damit die Teilung von Eigentümerschaft und Kontrolle das bedeutet, was die verschiedenen Befürworter der These von Berle und Means über Trotzki220, Burnham und C. W. Mills bis hin zu Marris and Penrose mit ihr ausdrücken wollten, 219 Ein politischer Philosoph von Rang, dessen „sozioökonomische Herkunft“ sich mit einigen Einsichten in diese Angelegenheiten weitgehend deckt (sein Vater war in seinem Heimatland Premierminister), hat die Sache mit den folgenden „holistischen“ Begriffen abgetan: „Warum sollten wir davon ausgehen, dass … [Institutionen] in der Regel lieber ihre korporativen Interessen aufopfern, wenn sie zwischen ihren korporativen Interessen und den Interessen jener Klassen, denen ihre Führungsmitglieder mehrheitlich entstammen, zu wählen haben?“ (Plamenatz (1963) S. 370.) 220 Gemäß der Theorie, die der im Exil weilende Trotzki von der sowjetischen Gesellschaft hatte, gehört das Kapital dem Arbeiterstaat (oder, wie er ihn zum Schluss nannte, dem „konterrevolutionären Arbeiterstaat“), wobei die Arbeiterklasse an der Wahrnehmung ihrer Vorrechte als Eigentümer von der Verwaltung, welche die Kontrolle über den Staat hat, abgehalten wird. Der Grund dafür, warum die Verwaltung erfolgreich die Rolle der herrschenden Klasse eingenommen hat, liegt in der Knappheit. Wo Menschen für das, was sie brauchen, anstehen müssen, gibt es eine Polizei, welche die Schlange maßregelt; sie „,weiß‘,
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muss man nur ganz trivial zeigen, dass die Verwaltung verwaltet und die Unternehmensführer die Unternehmen führen, ohne ihren scheinbaren Herren allzu großen Tribut zu zollen. Ein überzeugenderes Argument wäre der Nachweis, dass sie einen nicht-trivialen Ermessensspielraum haben. Derlei Ermessen könnte durch irgendeinen Maßstab nachgewiesen werden, der eine Divergenz offenlegte, und zwar die zwischen dem mutmaßlichen Maximanden des Eigentümers und dem Maximanden des Managements, den dieses tatsächlich zu verfolgen scheint.221 Dies ist jedoch nicht wirklich machbar, wenn die künftigen Konsequenzen der jetzigen Managerhandlungen ungewiss sind; d. h., wenn man annehmen kann, dass der Manager Konsequenz A avisiert hat (die beste für seinen Arbeitgeber) und nicht Konsequenz B (die beste für ihn, aber nicht die beste für seinen Arbeitgeber), ungeachtet dessen, ob das Resultat seiner Handlung nun A oder B bewirkt hat. Man kann z. B. Montgomerys Strategie in Nordafrika als eigennützig ansehen, weil er Rommel erst angreifen wollte, nachdem sein „bürokratisch“ beharrliches Verlangen nach ausreichenden Ressourcen ihm mehr als genug Chancen auf spektakuläre Siege bieten würde. Gewiss kann man immer sagen (und das Gegenteil ist „objektiv“ kaum zu widerlegen), dass er trotz des Ruhms, den er wegen der frech „einverleibten“ Ressourcen für die 8. Armee mühelos ernten konnte, in Wahrheit den langfristigen Ideen Britanniens gedient habe (z. B., weil die Ressourcen, die er „an sich gerissen“ hatte, an keinem anderen Kriegsschauplatz einen größeren Dienst geleistet hätten). Gleiches gilt für den Unternehmensmanager, der in offenkundiger Suche nach Selbstverherrlichung Marktanteile auf Kosten gegenwärtiger Profite erwerben will. Er kann immer vorgeben, die künftigen Profite vergrößern zu wollen. Man kennt dieses Geschwafel von Business Schools und Unternehmensberatungen. Man kann es mit einem Achselzucken abtun, aber nicht wissenschaftlich widerlegen. Immerhin ist es zumindest möglich, auf deduktivem Wege zu behaupten, dass nur die Sicherheit der dauerhaften Anstellung dem Staatsdiener, Unternehmensführer oder einer sonstigen angestellten Machtelite hinreichend sicherstelle, die wem sie zu geben hat, und wer zu warten hat.“ (Trotzki, Die Verratene Revolution, zitiert nach: https://www.marxists.org/deutsch/ archiv/trotzki/1936/verrev/kap05.htm#s3) Dass der Überfluss nicht die Konsequenz, sondern der Ursprung des Sozialismus ist, war der sozialistischen Theorie stets ein Dorn im Auge. Dieser Umstand führte zu einer Reihe komplizierter Theorien hinsichtlich der „Übergangsphase“, der Klassen in einer klassenlosen Gesellschaft, des stärker werdenden und zugleich absterbenden Staates usw. Der Leser weiß zweifellos darum, dass die explizite Nennung innerdoktrinärer Widersprüche und Ungereimtheiten, zu der ich gelegentlich genötigt bin, von den Marxisten als „Reduktionismus“ geschmäht wird. 221 In einem Aufsatz, der mit großer Klarheit einige dieser Zusammenhänge darstellt (Tullock (1969)), führt Gordon Tullock einige Forschungsergebnisse an, die belegen, dass Manager am meisten in regulierten Einrichtungen und in Spar-und-Darlehensgenossenschaften vom profitmaximierenden Verhalten abweichen, also dort, wo es, salopp formuliert, keine Eigentümer gibt oder die Regulierungsbarrieren die Manager von den Eigentümern abschirmen.
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
in seinem Ermessen stehende Macht ordnungsgemäß und in beträchtlicher Weise entgegen der Eigentümerinteressen auszuüben. Aus der sicheren Anstellung folgt im Umkehrschluss, dass der Eigentümer mit der Delegierung der Kontrolle an den Ermächtigten denselben dauerhaft belohnt und seine Möglichkeit der Abwahl verloren hat, soll heißen, dass er die Kontrolle verloren hat. Für gewöhnlich wird dieser Effekt damit erklärt, dass mit der Fragmentierung der Eigentümerschaft und mit der von vielen Eigentümern vollzogenen Delegierung der Verfügungsmacht an einen einzigen Pächter (Verwaltung oder Geschäftsführung) jeder einzelne Eigentümer nur einen verschwindend kleinen Einfluss auf die Amtsdauer des Pächters habe und damit nicht ausreichend motiviert sei, um die Kosten zur Mobilisierung der Miteigentümer für eine gemeinsame Aktion zu tragen. In der Fachsprache würde man sagen, der Verwaltungspächter sei durch eine „Externalität“ geschützt. Genau eine solche Externalität dürfte den Staat vor seinen unorganisierten Untertanen schützen. Der reine Geldwert, den die Freiheit für die Untergebenen eines despotischen Staates hat, mag viel größer als die Geldsumme sein, mit der man die Prätorianergarde besticht, Waffen oder Kopierer kauft oder was auch immer man braucht, um ein solches Regime zu stürzen. Dennoch würde kein politischer Unternehmer sich daran machen, die Kosten auf sich zu nehmen, wenn er es für unmöglich hielte, sein Geld von den befreiten Untergebenen zurückzubekommen. Er würde seine Auslagen abschreiben müssen, wenn ihre Freiheit eine Externalität wäre, für deren Bezahlung man sie nicht verpflichten könnte (abgesehen durch eine erneute Versklavung). Nun weiß jeder, der die Finanzbeilage der Zeitung liest, dass der Organisation eines Aufstandes gegen eigennützige oder schlicht erfolglose Unternehmensführung kein derartiges Hindernis im Wege steht. Die Macher von Übernahmeangeboten, die Mischkonzerngestalter, „Plünderer“, „Heuschrecken“ und Vertretungsbevollmächtigten kennen (ungeachtet der Regulierungshürden, die ihnen die wohlmeinenden Autoritäten in den Weg stellen) verschiedene Wege, um den möglichen Nutzen, der den Eigentümern durch das Abberufen des amtierenden Managements widerfährt, teilweise zu „internalisieren“. Diese Wege können hinterhältig und skrupellos sein, um mit den skrupellosen Verteidigungsmaßnahmen Schritt halten zu können, die das amtierende Management zum „Schutz des Firmeneigentums“ vor den Anteilseignern und auf deren Kosten ergreift (wie z. B. „verbrannte Erde“, Selbstanzeige aus kartellrechtlichen Gründen oder ein „flächendeckendes Bombardement“ ungerechtfertigter Klagen). Alles in allem sind „unfreundliche“ Übernahmen selbst angesichts verzweifelter Abwehrversuche oft erfolgreich genug, um das Durchschnittsvertrauen des angestellten Managements in die Sicherheit ihrer Beschäftigungsdauer zu erschüttern.222 222 Vgl. Drucker (1983). Es gibt, wie Professor Drucker beklagt, genug Belege dafür, dass das Management amerikanischer Unternehmen zunehmend von der Angst vor Kaufinteressenten bestimmt werde. Das Management sei daher von der unmittelbaren Profitmaximierung getrieben, hangele sich von Quartalsbericht zu Quartalsbericht und habe keine Zeit für die langfristige Planung.
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Wenn die Lage der Verwaltung angesichts einer unorganisierten, mannigfachen und weit verstreuten Eigentümerschaft heikel ist, dann ist sie es erst recht, wenn es nur einen einzelnen Eigentümer gibt Es gibt keine Externalität, welche die Verwaltung vor dem Staat schützte, dem sie dienen soll. Verfügungsgewalt einer Verwaltung oder Verwaltungseinrichtung darf ungeachtet der womöglich bedeutenden Rolle, die sie im Staat spielt, nicht mit der Macht des Staates verwechselt werden, aus der sie sich herleitet. Man kann sich auch nicht damit herausreden, man sei den üblichen Fallen vom Typ „Guter König, schlechte Ratgeber“ oder, umgekehrt, „verdorbener Fürst, gutherziger Landvogt“ auf den Leim gegangen. Der Landvogt mag gutherzig sein, den Leibeigenen nahestehen, vor allem seinen Verwandten unter denselben, aber nur selten liegt sein persönliches Interesse so weit von dem des Landesfürsten entfernt, dass er die Leibeigenen allzu leicht davonkommen ließe. Auch er will, dass die Grafschaft dauerhaft gut funktioniert. Der Grund dafür, dass die Verwaltung alles in allem den Zielen des Staates dient, ist nicht nur der, dass sie es tun muss, um nicht Gefahr zu laufen, ihre unsichere Position einzubüßen, sondern auch der, dass es eine große und echte Harmonie der jeweiligen Maximanden gibt; ausgenommen sind jene raren und leicht zu identifizierenden historischen Situationen, in denen die Staatsmacht an einen Invasor, Usurpator oder Machtinhaber aus einem fremden Kulturkreis übergeht. Je größer der Ermessensspielraum des Staates ist, desto mehr Möglichkeiten hat der Bürokrat, um seine Ziele zu verwirklichen. Er muss nicht dieselben Ziele haben, an denen dem Staat gelegen ist. Es reicht, wenn seine Ziele mit denen des Staates nicht konkurrieren bzw. denselben untergeordnet sind. Eine loyale Verwaltung kann in einem starken Staat ihr Glück machen. Um mit der Zivilgesellschaft gemeinsame Sache gegen ihren Herrn machen zu können, bräuchte es Illoyalität, die Sicherheit, unentdeckt zu bleiben, bzw. eine glaubhafte Entschuldigung in dem Sinne, dass man im „eigentlichen“ oder „langfristigen“ Interesse des Staates handle. Die Chance, in der Rolle der herrschenden Klasse sowohl dem Staat als auch der Zivilgesellschaft den eigenen Willen aufzudrängen, ist aus all den genannten Gründen nur halb so groß. Indem er von Monopolmechanismus sprach, brachte der Historiker Norbert Elias in vielsagender Weise zum Ausdruck, was den wahren Platz und die wahre Rolle der Verwaltung in Bezug auf den Staat auszeichnet. Der Staat ist der Monopolist von „Armee, Land und Geld“, und die Verwaltung ist die Körperschaft der „Abhängigen, von denen das Monopol abhängt.“ Gewiss sind die Abhängigen bedeutsam, und auch ihre Eigenschaften. Ihr Typus als Mensch steht im Verhältnis zu Diese Sichtweise ist weit von jener entfernt, der zufolge „Eigentümer Profit und Manager Wachstum wollen“ oder „kollegiale Zustimmung“ oder sonst einen anderen nach eigenem Ermessen festgelegten „Managermaximanden“. Die entgegengesetzte Auffassung kommt der Sache indes erheblich näher. Nur Manager, die zugleich Eigentümer sind, können sich eigenwillige Ziele leisten. Ein angestellter Unternehmensführer kann nie, wie Henry Ford es angeblich getan hat, verfügen, dass der „Kunde jede Farbe haben kann, solange sie schwarz ist.“
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5. Kapitel: Staatskapitalismus
dem Typ Staat, der von ihnen abhängt. Um ein Beispiel von Elias aufzugreifen: ein früherer Typ Staat passte zum freien und feudalen Adel, ein späterer Typ brachte dann den höfischen Adel hervor.223 In einer weniger streng geordneten Reihenfolge wären die Kleriker zu nennen, die Legisten, die Commoners, der landlose Verwaltungsadel, die chinesischen Mandarine, die preußischen Junker, die französischen „Enarques“, die Mitarbeiter im amerikanischen Kongress, die ein-Dollarpro-Jahr-Männer224 und die Apparatschiks der sozialistischen Partei. Jeder dieser Typen dürfte zweifellos ein paar menschliche Varianten hervorbringen, die in der Gesellschaft, die sie mitverwalten, ihren Stempel hinterlassen. Sie können dem Sozialismus fraglos ein menschliches Antlitz verpassen, aber auch ein inhumanes. Es liegt zum großen Teil in der persönlichen Bestimmung des Einzelnen, die an den Tag bringt, was ihm mehr bedeutet: das System oder dessen Antlitz. Gleichwohl erweist sich jedes, die Gesellschaft auf Klassen zurückführendes Erklärungsmodell, das der Verwaltung oder einer mehr oder weniger ähnlichen Kategorie aus Verwaltern, Managern, Insidern, Experten und Verantwortungsträgern die Rolle der Herrscherklasse zuweist, nur allzu leicht als irreführend. Wer dies tut, schreibt einer solchen Kategorie eine dauerhafte und wohldefinierte Identität zu („die neue Klasse?“), und zudem ein Maß an Ermessungsspielraum und Handlungsfreiheit, die sie im Allgemeinen kaum haben kann. Man verliert die politische Bedeutung aus den Augen, die das Kapitaleigentum aufgrund seiner Struktur hat, wenn man dieser Struktur unterstellt, sie sei im Sinne der Macht über andere unbedeutend. Infolgedessen wird schließlich den menschlichen Eigenschaften in dieser Kategorie eine übergroße Bedeutung für die Qualität des gesellschaftlichen Lebens beigemessen, so als ob Neigung und Charakter des Amtsinhabers, die variieren können, die systematischen Konstanten, welche die Quelle der an die Amtsstuben delegierten Macht darstellen, außer Kraft setzen könnten. Derlei Irrungen führen dann zu jenen Perlen des Unverständnisses, die meinen, dass ein bestimmter Despotismus nur eine „bürokratische Verzerrung“ oder ein „Persönlichkeitskult“ wäre bzw. aus derlei hervorginge. Wenn man das staatskapitalistische System im Sinne der traditionellen Klassenbegriffe versteht, dann kann man die Rolle der Herrschaftsklasse nur dem Staat selbst zuweisen. Dies verlangt nach keinem Anthropomorphismus und keiner Personifizierung des Staates als Monarch, Diktator oder Riege der Parteioberen. Genauso wenig verlangt dies nach einer Personifizierung des Staates mit einer spezifischen Institution, Versammlung, Kommission oder einem Kabinett. Ganz unverbindlich und allgemein verstanden, reicht es, wenn der Staat (um mit Marx zu sprechen) die Waffengewalt und ein „mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital“ hat.225
223
Elias (1982), S. 104 – 116. Regierungshelfer, die aus legalen Gründen nur als Regierungsangestellte wirken dürfen und daher ein symbolisches Gehalt von 1 Dollar pro Jahr beziehen, d. Hg. 225 Marx, Das Kapital, S. 168, zitiert nach http://www.mlwerke.de/ me/me23/ me23_161. htm. 224 Wichtige
Auf der Plantage
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Auf der Plantage Geld, Märkte und die Gewohnheit, zu wählen, kann man am besten ausmerzen, indem man das Gesellschaftssystem zu einer funktionierenden Plantage umformt.
Der Universalarbeitgeber, dem es nicht reicht, nur die Fäden in der Hand zu halten, wird letzten Endes zum Eigentümer seiner Arbeitnehmer. Die Vervollständigung der Herrschaft über die Zivilgesellschaft mittels Maximierung des Ermessensspielraums kann als eine Kette aus korrigierenden Schritten angesehen werden; jeder der Schritte zielt darauf, das Gesellschaftssystem den staatlichen Zielen unterzuordnen und von inneren Widersprüchen zu befreien. Gleichwohl müssen diese beiden Erfordernisse nicht kompatibel sein; wahrscheinlich sind sie es auch nicht. Jede Korrektur ist demnach in der Lage, neue systematische Inkonsistenzen zu schaffen und damit neue Korrekturen nötig zu machen. Es liegt in der Natur politischer Dynamik, dass diese Abfolge zum Staatskapitalismus beiträgt. Der erste und vielleicht entscheidende Schritt unter all diesen Schritten, der die Zivilgesellschaft von der dezentralisierten kapitalistischen Eigentümerschaft reinigt und den Staat zum universalen Eigentümer und Arbeitgeber macht, beseitigt die Inkonsistenz zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen Gehorsam, die das gleichzeitige Dienen zweier Herren mit sich bringt. Indes ist, wie ich zu Beginn dieses Kapitels darlegte, die Verschmelzung politischer und wirtschaftlicher Macht zu staatlicher Macht nicht mit dem Wahlwettbewerb um dauerhafte Amtsausübung vereinbar. Wenn der Universalarbeitgeber für sein Amt kandidieren muss, dann heißt das, dass er bei seinen Arbeitnehmern darum werben muss, weiterhin für mehr Geld und weniger Arbeit zu stimmen. Der nächste Korrekturschritt muss daher von der Wettbewerbspolitik zur Monopolpolitik führen. Auf diese Weise wird man der entsprechenden Umstellung auf das neue Modell der Eigentümerschaft gerecht. Die klassische „bürgerliche“ Demokratie muss in eine sozialistische Demokratie oder Volksdemokratie verwandelt werden; man mag sie auch anders nennen, solange sie nur ein System aus bedacht erzwungenen Regeln ist, welche die Zustimmung zu den Eckpfeilern der Macht nicht dem Wahltest aussetzen. In dem sich so ergebenden System ist der Pächter des Staates nicht von der Absetzung bedroht; man kann ihn nicht mit gewaltlosen Mitteln loswerden. Ihm gehört das ganze Kapital, auch wenn seine Arbeitnehmer immer noch ihre Arbeit besitzen. Aber die Inkonsistenzen manifestieren sich dabei und erfordern neue Maßnahmen, neue Anpassungen des Gesellschaftssystems. Da allein der Staat alle Produktionsfaktoren besitzt oder mietet, muss er allein alle Entscheidungen darüber, wer was macht, treffen oder delegieren. Durch diese Entscheidungen werden Kapital und Arbeit alloziert, um unterschiedliche Produkte und Mengen zu erzeugen. Damit ist nicht nur Verantwortung, sondern auch Befriedigung verbunden; die Befriedigung, die Ressourcen zu den ausgewählten
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Nutzen zu dirigieren, die Produktion bestimmter Güter statt die ihrer Alternativen zu veranlassen. Diese Befriedigung ist eine natürliche Komponente in jedem vernünftigen Maximanden bzw. in jeder sinnvollen Anwendung des Entscheidungsspielraumes. Ihren prosaischen Ausdruck findet sie darin, dass der Staat (und seine Ideologie) das „Planen“ wie ein heiß begehrtes Privileg behandeln, und nicht wie eine Pflichtübung. Der Staat muss über die Faktorallokation und die entsprechende Verteilung zusammen entscheiden. Die beiden Entscheidungen bedingen sich gegenseitig. Das ist schon allein deshalb so, weil man die Menschen für all die ihnen zugewiesenen Aufgaben entlohnen muss. (Es ist möglich, wenn auch nicht sicher, dass der Staat als alleiniger Arbeitgeber sie dazu kriegen kann, ihre Aufgaben für weniger zu verrichten, als ihnen private Kapitalisten, die miteinander konkurrieren, am Ende zugestehen würden. Die entsprechenden Löhne in den beiden Systemen würden unter anderem davon abhängen, wieviel von welcher Sorte Arbeit in den jeweiligen Arrangements verlangt würde. Unsere These setzt nicht voraus, dass ein spezieller „Minimallohn“, den ein vernünftiger Monopsist zu zahlen bereit wäre, stets niedriger sein müsste als der Lohn, den rivalisierende Kapitalisten anböten.) Die Interdependenz von Allokations- und Distributionsentscheidungen bedeutet, dass beide konsistent sein müssen, dies aber nicht zwangsläufig sind. Wenn die Lohnempfänger gemäß der Distributionsentscheidungen Geldsummen erhalten, um sie nach Belieben auszugeben, dann gibt es nichts, das sicherstellte, dass sie diese für jenen Strom an Gütern verwendeten, die aufgrund der Allokationsentscheidungen produziert werden. Es gibt keinen eingebauten Mechanismus, der sie davon abhielte, den Plan (unwissentlich) zu vereiteln. Inkonsistenzen zwischen dem Angebot an Gütern und der Nachfrage, die ihm folgt, zeigen sich unter flexiblen Preisen anders als unter Festpreisen. Die Symptome im Falle von Festpreisen – Schlangen, Quoten, Schwarzmärkte und Stapel übriggebliebener Güter (auf dem Weg zum Überfluss) – scheinen den sozialistischen Staaten weniger aufzustoßen als die Symptome im Falle flexibler Preise – nämlich Preisumwälzung. Die Inkonsistenz wird aber ungeachtet ihrer Symptome weiterbestehen und auf die Allokation und Distribution rückwirken und dabei den Plan durchkreuzen. Wenn man die Arbeiter anweist, Kanonen und Butter zu erzeugen, und diese mehr Butter wollen, als sie produzieren, dann wird es für den Teilplan, der die Produktion von Kanonen vorsieht, schwierig. Vielleicht kriegt man diese Schwierigkeiten etwas besser (oder etwas schlechter?) in den Griff, wenn man die Butter rationiert, statt sie teurer werden zu lassen.226 226 Wenn alle Inputs der buttererzeugenden und kanonenproduzierenden Anstrengungen nur vom Ausstoß der Butter abhingen, dann gäbe es (zumindest) eine ideale Verteilung der Arbeitskräfte auf die Milch- bzw. Waffenindustrie (die, nebenbei bemerkt, viel früher damit anfangen müssten, junge Leute zu Melkern und Waffenschmieden auszubilden), die den maximalen Ausstoß an Kanonen sicherstellen würde. Würde man zu viele Menschen in die Waffenindustrie stecken, dann würde das den Ausstoß von beidem reduzieren: Butter und Kanonen.
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Wie kann man nun eine Vereinbarkeit sicherstellen? Die am häufigsten empfohlene Lösung in dieser Frage heißt „Marktsozialismus“. Sie läuft darauf hinaus, den Ausstoß der von den Menschen gewollten Güter an die Anstrengungen anzupassen, welche die Menschen im Gegenzug bei der Herstellung zu leisten bereit sind. Dies kann ohne viel Lärm durch haufenweise Computer bewerkstelligt werden. Man muss sie nur mit Marktforschung und Produktionstechniken füttern und dann gleichzeitig viele Gleichungen lösen lassen. Ihre Ergebnisse kann man sodann nutzen, um die Menschen zu den Aktivitäten zu verleiten, die genau das Muster an Güterversorgung produzieren, von dem man annehmen kann, dass die zur Produktion verpflichteten Menschen es wollen. Alles, was es braucht, ist, dass die Gleichungen hinreichend genau die relevanten Verhältnisse wiedergeben, und zwar die zwischen den Geschmäckern, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen, der Kapitalausstattung, den zur Verfügung stehenden Materialien und den bekannten Produktionswegen, auf denen man all die Inputs vermengt, um den besagten Ausstoß zu erzeugen. Wenn man diesen Vorschlag als Scherz abtut, dann kann man sich an die realen, nicht-simulierten Märkte wenden und es deren Rückmeldungen überlassen, Allokation und Distribution in Einklang zu bringen. Dies geschieht (um die Arbeitsweise des heiklen Mechanismus verkürzend auf den Punkt zu bringen) durch die Berührung der unsichtbaren Hand, die sich auf einige der vielen einzelnen, dezentralisierten und allesamt eher recht kleinen Entscheidungen auswirkt. Im Staatskapitalismus kann die flüchtige Berührung der unsichtbaren Hand nur das leisten, was von ihr erwartet wird, wenn die Unternehmensleitung dazu gebracht wird, die separaten Profite einer hinreichend großen Zahl an „Profitzentren“ einzeln zu maximieren. Dies wiederum bedeutet, dass die Bürokraten den Anreizen und Strafen ausgesetzt werden müssen, die von den Verkäufern der Arbeit und den Käufern der Güter ausgehandelt wurden, und nicht vom Staat. Vor der Aufgabe stehend, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, würde der Erfolg der Bürokratie dann davon abhängen, wie gut er einem seiner Herren dient.227 Die Bürokraten würden sich nun zusehends in der anomalen Position des Quasi-Eigentümers befinden und durch den Markterfolg der von ihnen geleiteten Unternehmen und Profitzentren ein gewisses Maß an Autonomie und Sicherheit gewinnen. Kein totalitärer Staat bei Verstand kann eine solche Entwicklung zulassen. Wie auch immer, die Kanonenproduktion ist nur eines von vielen Zielen, die in den Maximanden des totalitären Staates einfließen; einige andere Ziele könnten mit der Idee, den Menschen die gewollte Butter zu geben, über Kreuz liegen, vor allem dann, wenn der Verzehr von Butter sie rebellischer werden ließe oder ihren Cholesterinspiegel in die Höhe triebe, und dadurch die Gesundheitskosten. Abgesehen von diesen pragmatischen Überlegungen könnte der Staat der Meinung sein, es sei schlecht, die Menschen zu verwöhnen, und es stehe ihnen nicht zu, zu sagen, wieviel Butter sie haben sollten. 227 Man könnte hier anführen, dass die Manager privatkapitalistischer Unternehmen auch zwei Herren dienten, dem Eigentümer und dem Kunden. Allerdings gefährden jene, die sehr erfolgreich darin sind, dem Kunden zu dienen, nicht den Besitz des Eigentümers. Manager sind keine Rivalen des Eigentümers.
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Das gilt umso mehr, als die resultierende politische Bedrohung seinem Amtsanspruch gilt, während die Vorteile der größeren ökonomischen Effizienz teilweise, wenn nicht gar ganz, seinen Untertanen zufallen. Die Geschichte der Experimente, welche die sozialistischen Staaten immer wieder mal mit Dezentralisierungen, Märkten und Selbstregulierungsmechanismen innerhalb der Wirtschaftsverwaltung ausprobiert haben, ist ein schlagender Beweis dafür, dass totalitäre Regime nur selten das „Primat der Politik“ aus den Augen verlieren. Sieht man einmal von Momenten der Geistesabwesenheit ab, setzen sie die Sicherheit ihres Bestands nie aufs Spiel, nur um den Käufern einen Gefallen zu erweisen.228 Wenn man den Versuchungen des Marktsozialismus nachgäbe, würde dies für eine Vereinbarkeit von Allokation und Distribution sorgen, und zwar durch das von Geld und Märkten inspirierte dezentralisierte Fällen von Entscheidungen. Dies wiederum würde eine neue Unvereinbarkeit hervorrufen; die zwischen der gebotenen Notwendigkeit, dass die Menschen (inklusive der Manager) vom Staat 228 Ungarn, das sich, ungeachtet gelegentlicher Rückfälle, seit den späten 60er Jahren dezentralisierter Profitmaximierung, aussagefähigen Preisen und der Tolerierung eines Unterbaus an Privatunternehmen schon sehr weit angenähert hat, kann paradoxerweise Weise als Beispiel zur Bestätigung dieser These herhalten. Sofern das Land ein lebender Beweis dafür ist, dass der „Marktsozialismus“ funktioniert, dann doch nur wegen des Traumas des 1956 von Russland niedergeschlagenen Aufstandes, das ein stillschweigendes Einvernehmen zwischen dem Regime und dessen Bürgern geschaffen hat. Der ungarische Staat war, nachdem die sowjetischen Streitkräfte ihn wieder eingesetzt hatten, klug genug, um zu verstehen, dass seine Sicherheit durch seine geographische Lage gewährleistet war und keine zweifache Absicherung durch ein Gesellschaftssystem braucht, in dem das Auskommen eines jeden unsicher ist. Eine Zivilgesellschaft, die ihre Lektion gelernt hat, begegnet der Politik mit einem Achselzucken. D.h., obwohl immer mehr und mehr Manager von Unternehmen und fadenscheinigen Kooperativen, Fachleute, Kleinunternehmer und Bauern unabhängige Existenzen aufbauen, gibt es keine damit einhergehende Zunahme an Nachfrage nach politischer Teilhabe und Selbstverwaltung. Unter diesen seltenen und holden Umständen kann der ungarische Staat sich so viel wirtschaftliche Freiheit leisten, wie seine Nachbarn zulassen, allen voran natürlich Moskau. Die einzige wirkliche Beschränkung ist Russlands Festhalten an einigen sozialistischen Prinzipien und die zunehmende Verstörung russischer Besucher, die sehen, wie ihre eroberte Kolonie sich in einem gehobenen Lebensstandard suhlt. Moskau, das nicht mehr die freundlichen Panzer der Nachbarn einladen muss, um die Dinge wieder zu „normalisieren“, sollte die Führungsrolle der Partei noch einmal durch selbstherrliche Technokraten, fette Bauern, ewige Studenten und all die anderen Unabhängigen, die aus dem Boden schießen, wenn die Reste der dezentralisierten wirtschaftlichen Macht sich wieder zeigen, herausgefordert werden, würde zweifellos sehr genau allen Expertenmeinungen zum Thema „ökonomische Reformen“ lauschen. Ihm geht es um wichtigeres als die größere Effizienz einer selbstregulierenden Wirtschaft. Andererseits ist es weniger klar, warum die Tschechoslowakei, deren Völker 1968 eine zwar unblutige, aber zweifelsohne nicht weniger überzeugende Lehrstunde in politischer Geographie erhielten wie die Ungarn 1956, es ablehnt, dass die unsichtbare Hand die Wirtschaft aus ihrem komatösen Schlaf erweckt. Man muss wohl annehmen, dass die Neigung der Nation, lieber auf der sicheren Seite zu stehen, durch die doppelte Sicherheit, die ihnen von den abhängigen Untertanen und der Bruderhilfe beschert wird, an Attraktivität gewinnt.
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abhängen, und dem ökonomischen Mechanismus, der für einige von ihnen die Unabhängigkeit in Teilen wieder herstellen würde. Dennoch ist jedweder Mechanismus (selbst wenn er politisch neutral und unverfänglich sein könnte, so wie es die Netzwerke gutmütiger Computer sind), der die Ressourcenallokation den Wünschen der Menschen anpasst, im Grunde eine Teilabtretung der vom Staat hartumkämpften Macht. Der rationale Staat, der letztlich die umfangreiche Macht besitzt und behalten will, die er sich dank eines gemeinsamen Waffen- und Kapitalmonopols leistet, sollte eigentlich nach einer Anpassungsmethode Ausschau halten, die derlei Abtretung nicht erfordert. Statt ungesundes Essen, Pop- und Pornovideos, Amphetamine, gesellschaftsschädliche Privatfahrzeuge und anderen verderblichen Schund deshalb herstellen zu lassen, weil die Menschen ihn wollen, kann er „meritorische Güter“ produzieren und die Menschen dazu bringen, lieber diese zu wollen.229 Die Anpassung der vom Staat gewünschten Ressourcenallokation muss also, wenn überhaupt, erfolgen, indem man die Geschmäcker der Leute, deren Lebensstil und Charakter so verbiegt, dass diese zu dem, was man ihnen anbietet, passen. Es wird wohl seine Zeit brauchen, bis sie, sagen wir, Vollkornmehl, Landesverteidigung, Schönbergs Musik, gescheite, strapazierfähige Kleidung, öffentliche Transportmittel (und keine im Stau steckenden privaten Pkw), schöne Regierungsgebäude und komplett standardisierte Wohnungen mögen. Statt Zeit und Gewohnheit ihre langsame Arbeit verrichten zu lassen, kann der Staat über eine Abkürzung diesen Zielen viel schneller näherkommen. Er kann die Angewohnheit, zu wählen, und damit die Mutter all der vielen Übel, als solche attackieren, indem er die Menschen nicht länger mit dem Universalgutschein Geld bezahlt. Geld zu haben heißt, viele Wahlmöglichkeiten zu haben, und verführt die Menschen dazu, sich im Entscheiden zu üben. Spezielle Gutscheine kann man nur für eine sehr viel kleinere Klasse an Gütern ausgeben, nur für Essen, Kindererziehung, Fahrten, Ferienunterbringung, medizinische Versorgung usw. Sie verengen die Bandbreite an Entscheidungen und führen dazu, dass man seine Gewohnheiten 229 „Meritorische Güter“ sind in den Augen des Staates gut für die Menschen. Wenn A ein meritorisches Gut ist, dann sollte sein Angebot so geregelt werden, dass niemand in der Lage ist, seinen Konsum eines nicht-meritorischen Gutes B zu erhöhen, indem er seinen Konsum von A reduziert. Es darf z. B. nicht möglich sein, dass man die Schulmilch gegen Dauerlutscher eintauscht oder gegen Bier für den Vater. Dies erreicht man, indem man die Milch durch den Zapfhahn fließen lässt und jedes Schulkind so viel trinken darf, wie es möchte. Wer Rinder an Futtertrögen mästet, die sich von selbst füllen, der nimmt wohl an, dass sie auf diese Weise gerade genug essen werden. Gleiches gilt für meritorische Güter. Kommen sie aus dem Zapfhahn, dann gilt die Vermutung, dass die Menschen genau so viel essen werden, wie sie brauchen. Es gibt einige wichtige meritorische Güter, die unter diesen Umständen zu zweifelhaften Ergebnissen führen. Eine kostenlose Gesundheitsfürsorge oder ein kostenloses Studium sind in dieser Hinsicht sehr bezeichnende Beispiele. Aufgrund von Wetteifer, Neid und anderen Gründen gerät die Konsumption dieser Güter außer Kontrolle und ist anscheinend nicht zu stabilisieren, ganz zu schweigen zu reduzieren.
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verlernt. Ein bequemer Begleitumstand dessen ist, dass man die Konsumentennachfrage für Planungszwecke besser voraussagen kann. Tiefgreifender ist, dass die Gutscheine einen Teil der Verfügungsmacht über das disponible Einkommen vom Empfänger auf den Staat übertragen. Der Staat kann nun im vernünftigen Rahmen die „Zusammenstellung“ der Gutscheine variieren und so die Lebensart der Menschen formen. Gutscheine verschaffen dem Staat somit eine direkte Befriedigung, insofern er will, dass seine Untertanen in einer bestimmten Weise leben, z. B. gesund; aus welchem Grunde auch immer, z. B. weil es gut für sie ist, gesund zu leben, oder weil sie besser arbeiten und kämpfen, wenn sie gesund sind, oder weil er die Gesundheit einfach wertschätzt. Was immer spezielle Gutscheine auch können, das Trucksystem kann es besser. Ein Essensbon oder auch eine Lebensmittelmarke: sie lassen einen zumindest das Essen wählen. Und mit einem Bildungsgutschein kann man die Schule nach eigenem Gutdünken auswählen. Gutscheine erkennen die Konsumentensouveränität zumindest an und ermutigen auch in gewissem Maße deren Nutzung. Fabrik- und Firmenkantinen, eine kleine Palette an Grundnahrungsmitteln zu Schleuderpreisen, eine zugewiesene Wohnung, Kinder auf bestimmte Schulen schicken, und Kranke zu einer speziellen Apotheke: all das räumt mit den letzten verbliebenen Wahlmöglichkeiten auf und untermauert das Vorrecht des Staates, zu entscheiden. Für den Untertan wird das Leben einfacher, seine Geheimnisse werden weniger und seine kommunale Existenz (im Unterschied zur individuellen und familiären Existenz) allumfassend. Weniger Geld und stattdessen mehr ausgewählte Güter bilden nur die Vorstufe zum kompletten Lohnausfall und der umfassenden Befriedigung der Grundbedürfnisse durch staatliche Güter. An die Stelle der Exklusion, bei der die Menschen mittels Lohn und Gutscheinen Zugriff auf die Güter haben, tritt der freie Zugang: Die U-Bahntickets sind abgeschafft, die Krankenhäuser berechnen nichts, die Milch ist kostenlos, der Eintritt ins Konzert ist frei, die Miete entfällt (wobei natürlich nicht jeder so viel Wohnraum bekommt, wie er gerne hätte). Bestimmte Güter, die jeder braucht, aber keiner will, wie Sicherheitshelme und Erbauungsliteratur, werden an alle ausgegeben, und zwar zu der Zeit, zu der alle zu kommen und sie abzuholen haben. Die Grenze zwischen staatlichen und privaten Gütern, die schon zur Blütezeit schlecht gezogen war, bewacht keiner mehr, und die staatliche Planung ist ein Beleg für die stetige Neigung zu mehr öffentlichen Gütern, die „überproduziert“ werden (zumindest im Sinne eines Pareto-Optimums, das den Geschmack des „Durchschnittsmenschen“ zufriedenstellt – eine recht nützliche Fiktion, die uns, ohne ein Wort darüber zu verlieren, vorzutäuschen ermöglicht, dass alle gleich und einer Meinung seien). Die öffentlichen Güter aufgrund ihres intrinsischen Charakters und die privaten Güter in dem Maße, in dem es sie angesichts des Verschwindens von Geld und Märkten noch gibt: sie werden nun an die Menschen im Sinne einer Funktion verteilt, also danach, wer diese sind und wo sie wohnen (ob man Bürger, Stadtbewohner, Mutter oder Student ist, welchen Platz man in der Hierarchie eines bestimmten
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„Kollektivs“ (Arbeitsplatz, Schule, Siedlung) einnimmt, welchen Rang man z. B. bei der Polizei oder der Behörde bekleidet usw.). Der Platz im Leben bestimmt weitgehend den Zugang zu den Gütern. Etwas pauschal gefasst, können wir sagen, dass alle Menschen das bekommen, was der Staat angesichts ihrer existentiellen Lage für angemessen hält. Mehr direkt ausgedrückt, kriegt jeder das, was er braucht. Auf diese Weise nähert sich das rationale Interesse des Staates dem entsprechenden ideologischen Grundsatz – der gleichermaßen Vorhersage und Befehl ist – an: „Jeder nach seinen Bedürfnissen“. Indem immer mehr Personen Dinge aufgrund ihrer nominalen Lebenssituation und ihres Ranges erhalten und nicht dafür, was sie tun und wie gut sie es tun, löst man zwar eine Inkonsistenz auf, schafft aber auch eine neue. Es gibt immer solche, die an bestimmten Herausforderungen Spaß haben, sagen wir am Unterrichten und Autofahren, und die das Glück haben, dass man ihnen eine Klasse oder ein Taxi anvertraut. Aber warum sollte der Rest das machen, was sie laut Plan der Ressourcenallokation zu tun haben, und warum sollten sie es gut tun, wenn sie sich lieber drücken und es vorziehen, zu schnorren? Was die evolvierende Gesellschaft in diesem Stadium ausprägt bzw. nicht vermeiden kann, ist Drückebergerei. Hinzu kommt, dass dort, wo Menschen in Gruppen arbeiten, die jeweilige Gruppe die Drückebergerei zur Pflicht macht und ihren Mitgliedern unter Androhung von Ausgrenzung einen langsamen Arbeitsrhythmus und lausige Arbeitsleistungen vorschreibt. Strebern (die ironische Anfeindung in diesem Begriff ist nicht in andere Sprachen zu übertragen) droht Missachtung und Vergeltung. Dieses Phänomen bildet das Gegenstück zu den Sanktionen, die von Gruppen, die ein hohes Niveau an Gruppeneinsatz erfordern, gegen Trittbrettfahrer eingesetzt werden, die ihren Beitrag nicht leisten. Wenn er die Unvereinbarkeit nicht behebt, die zwischen der Notwendigkeit und dem Fehlen systemimmanenter Gründe, sich zu bemühen, besteht, dann kann der Staat, der an der Spitze der Gesellschaftsstruktur steht, zur Maximierung seiner möglicherweise erreichbaren Ziele auch genauso gut ein Stück Schnur nach vorne schieben. Der Korrekturschritt beinhaltet eine Durchsetzung des Prinzips quid pro quo in Anpassung an die Bedürfnisbefriedigung. Wenn der Staat sich um den Lebensunterhalt der Bevölkerung kümmert, dann kann man nicht länger rechtfertigen, dass die Bürger ihre Arbeit weiterhin besitzen und sie teilweise oder ganz je nach Laune verweigern und, sofern sie ihr überhaupt nachgehen, dies in Berufen der eigenen Wahl tun. Rechtmäßig betrachtet schulden sie ihr Leistungsvermögen dem Staat, der es demzufolge vollständig für das Allgemeingut einsetzen kann. Wenn die allgemeinen Verpflichtungen des Menschen sich aus seinem Status ergeben und nicht mehr aus spezifischen Ad-hoc-Verträgen, die es ja nun nicht mehr gibt, dann ist der Moment erreicht, in dem der Staat seine Untertanen besitzt. Nun werden seine Ziele ambitiöser und anspruchsvoller. Seine Aufmerksamkeit gilt nun auch den Dingen, die bislang nicht-politischer Natur waren und ihren Platz in der Gesellschaft hatten (und auch den Dingen, die, außer in totalitären Syste-
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men, eigentlich kein Thema sind). Nun bewegt man sich auf dem Niveau einer all umfassenden Besorgung, wie sie der rationale Plantagenbesitzer in den südlichen Staaten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg kannte: „Kein Aspekt der Sklavenhaltung war so trivial, dass man ihn nicht bedacht oder diskutiert hätte. Details zur Unterbringung, Ernährung, medizinischen Versorgung, Verheiratung, Kinderaufzucht, zu Ferien, Anreizen und Strafen, alternativen Methoden zur Organisierung der Feldarbeit, den Pflichten des Verwaltungspersonals, ja sogar zu Auftreten und Gehabe des Plantagenbesitzers gegenüber seinen Sklaven …“230
Die meisten der Implikationen, die damit einhergehen, dass der Staat sich in Eigenregie wie eine große, komplexe Plantage führt, liegen auf der Hand. Einige davon sind von erdrückender Aktualität. Man muss sie nicht großartig herausarbeiten, es reicht, sie kurz zu erwähnen. Man muss die Arbeit dorthin leiten, wo sie gebraucht wird, und sie nicht ihres Weges gehen lassen. Die Bildungsangebote müssen alloziert werden und die Menschen so großgezogen und ausgebildet werden, dass sie die künftigen Rollen und Situationen, die der Staat zu schaffen gedenkt, ausfüllen können. Die bewaffneten Streitkräfte und die Überwachungs- und Unterdrückungskräfte müssen mehr als verdoppelt werden, weil sie nicht nur mit politischem Ungehorsam, sondern auch mit Trägheit, Verschwendung und Trittbrettfahrerei fertig werden müssen. Der Staat kann keine Streiks tolerieren. Er kann auch keine „Auswanderung“ hinnehmen; dass Menschen mit ihren Füßen abstimmen. Die Grenzen müssen geschlossen werden, damit das Eigentum innerhalb der Grenzen bleibt; in zweiter Linie vielleicht auch deshalb, um ausländischen, Zwietracht streuenden Einfluss, der die Situation des Eigentums beeinträchtigen würde, auszusperren. Ist dieses Gesellschaftssystem nun zumindest ausgewogen, funktionstüchtig und in sich widerspruchsfrei? Ist keines seiner Teile so verzahnt, dass es sich abreibt oder gar den Ablauf eines anderen Teils behindert, so dass lebenswichtige Innenteile zerstört würden? Bietet es die Befriedigungen des Regierens – verlockt es den Staat dazu, sich zurückzulehnen und über die ideale Form der Vollendung zu sinnieren; allein mit der Erhaltung und der Freude an seiner Rolle beschäftigt; bereit, die Geschichte anzuhalten? Wenn es eine plausible Antwort auf diese Frage gibt, dann braucht es ein weiteres und ebenso spekulatives Buch, um sie zu erörtern. Auf den ersten Blick sind die Aussichten auf eine endgültige Festlegung der ausstehenden Verhältnisse zwischen Staat und Zivilgesellschaft nicht ermutigend – vielleicht ist das beruhigend. Sollte das staatliche Bestreben nach Selbstvollendung mit Erfolg zu einem gutverwalteten Totalitarismus führen, dann würde die Art von Mensch (der süchtige Typus nicht minder als der allergische), die ein solches System auszubrüten in der Lage ist, über kurz oder lang die Erwartungen des Staates wahrscheinlich Lügen strafen und enttäuschen. In der Tat könnte darin das unausweichliche Dilemma des Staates bestehen, ähnlich wie es wohl das unausweichliche Dilemma der Zivilgesellschaft ist, im Staat enttäuscht zu werden. 230
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Personen- und Stichwortverzeichnis Personen- und Stichwortverzeichnis
Acton (Lord) 99, 125, 127, 143, 289 Altruismus 108, 134, 206, 221, 229 Altvater 65 Anspruch 17, 35, 37, 76, 77, 107, 115, 139, 142, 190, 237, 239, 240 Arbeitsrecht 95 Armenrecht 91 Arrow 75, 289 Arrows Unmöglichkeitstheorem 75 Asymmetrie 180, 181, 185, 192, 242, 243 Attlee 138 Ausbeutung 28, 64, 68, 71, 72, 226 Auster 253, 289 Autonomie 28, 48, 62, 67, 68, 69, 90, 167, 214, 258, 262, 269, 283 Barber 128, 169, 289 Barrot 95 Barry 32, 120, 289 Bartlett 244, 289 Basu 113, 289 Bauernaufstand 85 Baumol 57, 106, 136, 289 Befreiung, fiskalische 263 Bell 32 Bentham (Jeremy) 18, 102, 104, 105, 107, 108, 110, 112, 148 Berlin 5, 183, 289, 290, 291 Besteuerungsfähigkeit 246 Bewusstsein, falsches 21, 74, 79, 80, 88, 118, 134, 138, 143, 206, 245 Bismarck 68, 69, 97 Blackstone 105 Boudon 54, 269, 289 Bouillon 5, 9, 10, 289
Bourgeoisie 28, 62, 64, 65, 66, 67, 68, 90, 264 Bourricaud 54, 289 Breton 253, 289 Bright 94 Brittan 232, 289 Buchanan 7, 18, 289 Bugeaud 69 Bürger 13, 26, 27, 29, 35, 46, 49, 50, 71, 75, 87, 99, 100, 107, 114, 117, 124, 125, 126, 132, 133, 135, 195, 196, 202, 203, 214, 215, 224, 238, 239, 242, 244, 245, 246, 249, 250, 252, 253, 254, 257, 266, 286, 287 siehe auch Untertan Bürokratie 28, 69, 92, 260, 268, 274, 276, 283 siehe auch Verwaltung Calhoun 41 Carneiro 30, 289 Casimir-Périer 69 Cassirer 289 Castlereagh 69 Chadwick 91, 92 Chamberlain 126 Chancengleichheit 205, 206 Chancenungleichheit 206 Chevalier 96 Chevènement 271, 289 Chruschtschow 275 Clastres 33, 34, 289 Cobden 69, 94, 96, 215 Cohn 270, 289 Colbert 96 Combination Acts 69, 72
294
Personen- und Stichwortverzeichnis
Demokratie 18, 22, 24, 25, 28, 65, 67, 68, 70, 75, 79, 89, 95, 99, 124, 126, 127, 131, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 141, 142, 145, 147, 155, 162, 163, 189, 197, 212, 213, 226, 230, 238, 249, 253, 254, 255, 257, 260, 261, 264, 265, 266, 281 Der Finder darf's behalten 21, 38, 76, 120, 159 Dewey 119, 121, 144 Dicey 107, 289 Differenzprinzip 163, 164, 168 Dilemma, Hobbesches 51 Downs 186, 289 Drittparteieninteressen 77 Drucker 278, 289 Ebene, technokratische 273, 275 Edgeworth 24, 148, 151, 152, 289 Egalitarismus 22, 24, 76, 168, 178, 181 Eigentum 5, 18, 21, 26, 28, 35, 36, 38, 44, 45, 46, 49, 50, 64, 66, 68, 70, 76, 87, 96, 101, 115, 119, 120, 121, 124, 129, 132, 138, 141, 142, 143, 156, 158, 165, 167, 184, 195, 196, 198, 203, 204, 213, 224, 253, 271, 272, 274, 288 Eigentümerschaft 35, 36, 37, 38, 47, 48, 210, 253, 258, 261, 264, 265, 267, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 278, 279, 281 Einmischung 116, 128, 130, 142, 152 Elias 279, 280, 290 Elleinstein 260, 290 Elster 79, 200, 290 Engels 18, 25, 35, 48, 62, 64, 66, 67, 68, 72, 182, 249, 256, 271, 272, 290, 291 Engerman 288, 290 Entscheidung, kollektive 61 Entscheidungstheorie 20, 50, 51, 165, 171 Ermessensspielraum 23, 215 Favres 95 Ferry 95 Fishkin 171, 290 Fogel 288, 290
Foster 72, 290 Freiheit 18, 20, 24, 26, 29, 37, 38, 41, 42, 45, 49, 77, 94, 107, 108, 116, 121, 125, 127, 129, 141, 143, 144, 145, 146, 157, 163, 167, 168, 172, 179, 194, 195, 196, 197, 198, 203, 213, 220, 253, 256, 278, 284, 290 Frey 253, 290 Friedman 73, 150, 290 Friedrich Wilhelm I. 171 Friedrich Wilhelm IV. 97 Fry 93, 290 Furet 66, 290 Galbraith 273, 290 Gambetta 95, 96 Garfield 46 Gaxotte 198, 290 Gefangenendilemma 20, 51, 54, 56, 58, 59, 60, 101 Gehorsam 17, 20, 22, 30, 34, 48, 81, 84, 86, 132, 160, 215, 259, 263, 281 Gerechtigkeit – distributive 115 – interpersonale 123 – soziale 23, 94, 102, 116, 117, 118, 148, 155, 166, 190, 221, 232 – siehe auch Verteilungsgerechtigkeit Gesellschaftssystem 28, 29, 247, 266, 274, 275, 281, 284, 288 Gesellschaftsvertrag 13, 21, 30, 33, 34, 48, 50, 54, 55, 57, 61, 74, 76, 79, 87, 130, 132, 156, 158, 159, 160, 161, 167, 174, 199, 224, 238 Gesetz 73, 83, 92, 95, 117, 135, 149, 151, 184, 186, 196, 198, 201, 202, 203, 273 Gesetz variabler Proportionen 149 Gewaltenteilung 82, 83, 198, 201 Gewaltmonopol 19, 48, 65, 81, 196 Gewerbefreiheit 37 Ginsberg 87, 88, 290 Giscard D’Estaing 248 Gladstone 133, 164
Personen- und Stichwortverzeichnis Gleichheit 18, 24, 25, 37, 119, 133, 135, 138, 139, 141, 144, 145, 146, 147, 148, 152, 155, 156, 162, 163, 164, 165, 172, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 191, 192, 193, 215, 221, 233, 269 – Liebe zur 25, 183 Grant 46 Green 119, 120, 121 Grenznutzen 149, 150, 151, 152, 171, 173 – des Einkommens 149, 150 Gruppenbelohnung 220, 222, 223, 224, 226, 228, 230 Gruppeninteresse 229, 248 Guizot 69, 95, 197 Gut – meritorisches 29, 285 – öffentliches 29, 59, 102, 109, 117, 239 Habermann 5 Habermas 64 Hahn 104, 135, 290 Halévy 110, 290 Hamilton 46 Hammond 104, 290 Hanna 46 Hardin 58, 223, 290 Harding 46 Hayek 5, 126, 190, 212, 290, 292 Hedonismus, politischer 21, 50, 57, 65, 84, 131, 190 Hedonist, politischer 21, 61, 71, 72, 74, 130, 131, 247 Hegel 63, 121 Heinrich II. 84 Heinrich III. 84 Hexter 66, 290 Hirsch 54, 55, 65, 290 Hirschman 225, 290 Hitler 122 Hobbes 18, 19, 35, 48, 49, 50, 51, 57, 58, 65, 131, 158, 249
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Hobhouse 119 Honecker 171 Howard 81, 290 Hume 84 Inflation 27, 142, 160, 234, 236, 237, 238, 265 Intellektuelle 134, 261, 262 Interessengruppe 27, 60, 226, 229, 230 Intuitionismus 107 Jagdpartie (Rousseau) 54 Jakob II. 49, 251 Jakobiner 66, 94, 194 Jeder-eine-Stimme 89, 179, 186, 187, 189 Jennings 92, 98, 289, 290 Joseph II. 89, 138 Kant 43 Kapitalismus 28, 34, 36, 38, 40, 46, 47, 60, 65, 66, 67, 69, 70, 71, 72, 73, 76, 78, 95, 142, 145, 167, 188, 261, 271, 272, 274, 275, 276 siehe auch kapitalistischer Staat und Staatskapitalismus Karl III. 138 Karl XII. 251 Katharina, die Große 89 Klassenherrschaft 21, 48, 62, 76 Klasseninteresse 272 Klassenkonflikt 271, 272 Klassenunterdrückung 48, 67, 71, 72 Konrád 262, 290 Konsens 22, 24, 26, 27, 28, 80, 81, 84, 86, 87, 88, 89, 90, 99, 100, 101, 123, 131, 179, 186, 187, 188, 203, 205, 211, 212, 213, 215, 219, 233, 246, 248, 251, 254, 264 Kooperation 20, 25, 51, 54, 55, 56, 60, 131, 156, 159, 160, 161, 196, 239 – gesellschaftliche 19, 33, 53, 55, 56, 88, 116, 159, 160, 161, 165, 166 Kosten-Nutzen-Analyse 106 Kosten-Nutzen-Vergleich 106
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Personen- und Stichwortverzeichnis
Kreps 58, 290 Kurtz 85, 291 Laignel 202 Lassalle 68 Legitimität 17, 81, 84, 85, 86, 101, 111, 112, 131, 132, 202, 214, 215, 252 siehe auch Rechtmäßigkeit Lenin 18, 63, 64, 68, 256, 257, 259, 274, 291 Liberalismus 5, 131, 140, 141, 147, 164, 187 Lindblom 151, 291 Lipset 131, 291 Liquiditätspräferenz 237 Little 11, 125, 148, 166, 167, 291 Lobau 69 Locke 18, 35, 49, 76, 121 Lohnminimum 27, 262 Louis Philippe 46, 66 Louvois 96 Ludwig XIV. 84 Ludwig XV. 89 Ludwig XVI. 65 Machault 96 Machiavelli 17 Macht – politische 13, 28, 48, 67, 258, 263 – wirtschaftliche 258, 259, 260, 264, 265 Macpherson 36, 264, 291 March 214, 291 Marcuse 61, 216, 291, 292 Marktsozialismus 283, 284 Marx 9, 17, 18, 23, 28, 34, 36, 45, 62, 64, 66, 68, 69, 70, 71, 86, 96, 181, 182, 205, 226, 251, 272, 280, 290, 291 Marxismus 63, 64, 65, 70, 71, 79, 161 Mathias 243, 291 Maximand 49, 74, 153, 170, 213, 252, 253 Maximin 52, 53, 54, 150, 168, 170, 171, 172, 174, 175, 177, 178 Mazarin 84 McKinley 46, 98
McKisack 85, 291 Mehrheitsregel 17, 24, 89, 127, 135, 136, 137, 139, 143, 162, 265 Melbourne 46, 69 Metternich 46 Milgrom 58, 290 Mill 18, 94, 103, 186, 190, 197, 264, 291 Miller 161, 291 Minimalstaat 5, 21, 46, 74 Minogue 140, 291 Mischwirtschaft 8, 261, 263, 264 Mises, L. 9 Monarchie, konstitutionelle 197 Monopol 81, 220, 269, 279 Monopolmechanismus 279 Montesquieu 196 Münchhausen (Baron) 83 Napoleon 45, 95, 96 Napoleon III. 95, 96 Naturzustand 19, 26, 30, 32, 33, 34, 42, 51, 53, 56, 58, 72, 73, 78, 102, 116, 117, 128, 134, 144, 158, 159, 195, 196, 203, 220, 221, 224, 225, 226, 231, 236, 239 Necker 91 Neid 25, 190, 191, 192, 193, 194, 239, 285 Nietzsche 46 Niskanen 253, 291 Nozick 146, 161, 166, 188, 192, 211, 241, 289, 291 Nutzenvergleich, interpersonaler 23, 107, 114, 123, 148 Nützlichkeit 22, 24, 25, 74, 98, 108, 133, 144, 147, 179, 191, 194 Oakeshott 102, 291 O’Connor 263, 291 Ohio-Bande 46 Olson 222, 291 Orwell 80 Pazner 191, 291 Peel 69 Perón 138, 250
Personen- und Stichwortverzeichnis Peter der Große 251 Pigou 24, 148, 151 Pipes 67, 291 Pitt 198 Plamenatz 36, 276, 291 Popper 105, 145, 146, 291 Poulantzas 70 Primärgüter 33, 169, 170, 171 Proletariat 28, 205, 242, 256 Public Choice 18 Rae 185, 292 Rapaport 58, 292 Rawls 9, 24, 33, 120, 150, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 177, 178, 179, 195, 240, 260, 289, 290, 291, 292 Rechtmäßigkeit siehe auch Legitimität Repression 22, 81, 84, 85, 86, 89, 101, 131, 215, 256 Revolution 28, 45, 49, 65, 66, 67, 68, 97, 118, 256, 262, 267, 268, 269, 274, 277, 290, 291 – französische 65 – verratene 262 Richard II. 85 Richelieu 250 Robbins 110, 292 Roberts 58, 290 Robertson 117 Rockefeller 224 Roon 69 Roosevelt 98 Rothbard 73, 292 Rousseau 18, 35, 54, 57, 65, 87, 131, 158, 239, 249, 292 Ruehl-Gerstel 269, 292 Ryle 83 Salinger 273, 290 Savage 150, 290
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Schelling 136, 292 Schmeidler 191, 291 Schumpeter 28, 120, 188, 261, 262, 292 Schwarzenberg 69 Selbsterhaltung 50, 131, 259 Sen 60, 139, 148, 164, 290, 292 Shackle 175 Shaftesbury (Lord) 93 Sieyès (Abbé de) 121 Silver 253, 289 Smale 58, 292 Spencer 5, 94, 164, 215, 248 Sperrminorität 136 Spieltheorie 53, 168, 174, 240 Staat – adverser 74, 77, 81, 94, 96, 101, 109, 115, 131, 156, 197, 219 – kapitalistischer 20, 30, 35, 37, 38, 39, 42, 44, 45, 46, 71, 76, 78, 115, 128, 132, 156, 244 – sozialistischer 28, 188, 262, 272 Staatsbürger 17, 20, 21, 43, 44, 45, 46, 47 Staatskapitalismus 28, 29, 64, 90, 107, 134, 156, 256, 259, 262, 263, 265, 266, 268, 269, 271, 272, 275, 276, 281, 283 Staatssicherheit 269 Staatstheorie 7, 49, 224, 249, 250, 263 Stalin 85 Stein (Freiherr von) 98 Stigler 226 strains of commitments 175 Strauss 21, 57, 58, 292 Symmetrie, Liebe zur 25, 179, 182, 185, 189, 190, 191 Szelényi 262, 290 Talmon 141, 142, 292 Tawney 141, 292 Taylor 32, 51, 58, 292 Teapot-Dome-Skandal 46 Theorie der Gerechtigkeit 33, 150, 157, 168, 171, 292
298
Personen- und Stichwortverzeichnis
Thiers 95 Tocqueville 45, 94, 99, 125, 141, 155, 244, 269, 292 Totalitarismus 28, 137, 145, 268, 288 Treitschke 46 Trittbrettfahrerproblem 43, 59, 102, 221, 222, 223, 224, 225, 229 Trotzki 268, 269, 276, 292 Tullock 277, 292 Tyler (Wat) 85 Umverteilung 23, 26, 27, 90, 99, 116, 117, 139, 146, 148, 151, 153, 156, 160, 161, 162, 163, 188, 189, 195, 196, 204, 205, 206, 209, 212, 213, 215, 216, 217, 218, 219, 226, 227, 228, 232, 233, 236, 238, 241, 242, 245, 246, 247, 248, 251, 253, 254, 260 – abhängig machende 215 – süchtig machende 35, 215 Unfreiheit 122, 127 Ungleichheit 54, 119, 121, 133, 139, 144, 164, 172, 180, 181, 183, 185, 189, 191, 192, 193, 194, 204, 244, 292 Unterdrückung 22, 48, 49, 64, 71, 118, 130 – verkappte 121, 122, 123, 187 Unternehmer 28, 67, 116, 278 Untertan 19, 21, 63, 76, 85, 86, 87, 88, 89, 92, 100, 197, 286 siehe auch Bürger Urzustand 25, 33, 166, 168, 171, 172, 173, 174, 177 Utilitarismus 22, 23, 101, 103, 107, 108, 109, 110, 111 Varian 191, 292 Verfassung 26, 68, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 212, 257, 290 Vergleich, interpersonaler 113, 115, 152 siehe auch Nutzenvergleich, interpersonaler Vergleichbarkeit, interpersonale siehe auch Vergleich, interpersonaler Verpflichtungsfolgen 175 siehe auch strains of commitments
Verteilung 24, 39, 117, 119, 138, 148, 152, 153, 158, 159, 160, 163, 164, 165, 168, 170, 172, 174, 175, 177, 182, 188, 189, 203, 204, 206, 234, 237, 240, 241, 265, 282 – natürliche 158, 159, 160, 165 siehe auch Umverteilung Verteilungsgerechtigkeit 18, 22, 119, 123, 124, 129, 133, 161, 162, 163, 167, 195, 240, 251, 254, 261, 263 siehe auch Gerechtigkeit, soziale und Gerechtigkeit, distributive Vertragsfreiheit 38, 39, 40, 41, 42, 44, 77, 93, 115, 142, 156 Verwaltung 20, 96, 104, 240, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280 siehe auch Bürokratie Vorliebe (Präferenz) 30, 39, 41, 46, 56, 61, 75, 85, 90, 129, 134, 138, 139, 141, 144, 188, 189, 250, 262 Wahldemokratie 89, 100, 116, 123, 212, 213, 214 Wahlmöglichkeiten 285, 286 Wahlreform 93, 145 Wallace 231, 292 Walpole 46 Waltz 54, 292 Weber 81, 214, 292 Webster 41 Weede 5 Weg, jugoslawischer 265 Werksgesetze, englische 69 Werte, demokratische 24, 133, 134, 138, 141, 142, 147, 155 Werttheorie 262 Wiles 271, 292 Wilhelm I. 97 Wilhelm II. 98 Williams 184, 290, 292 Wilson 58, 91, 290 Wohlfahrtsstaat 91, 128, 179, 216, 217 Wolff 61, 152, 166, 292