Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie [1. Aufl.] 9783839411520

Dieser Band versammelt Beiträge zur Szenografie und Kultur des Ereignisses. Angesichts zunehmender Ausdifferenzierung vo

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German Pages 406 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
Die Geburt der Szene aus dem Geiste der Musik. Ein Beitrag zur Theorie der Szenografie am Beispiel von Richard Wagners Vorspiel zum Rheingold
Versteckspiel. Ecksteine einer Genealogie der Szenifikation
Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen
Der Gegen-Raum/die Heterotopie und der virtuell-mobile/ szenographische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den „Répons“ und dem „Dialogue de l’ombre double“ von Pierre Boulez
Das Ephemere. (Wolken, Dünste, Nebel)
Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung
Die Inszenierung von Vertrauen. Zur Theatralität des Geldes
Ereignis, Inszenierung, Effekt. Bausteine der Szenologik
Strategien und Figuren der Szenografie bei Eames und Tati
MetaSzenografie. ‚The Paradise Institute‘ von Janet Cardiff & George Bures Miller als inszenatorischer Hyperraum der post-ästhetizistischen Szenografie
Erweiterter Raum. Inframediale Osmosen zwischen Künstler und Betrachter nach Marcel Duchamp
Die Exstase der Theorie. Theoretische Konstruktionen und gestalterische Entscheidungen
Raum und Natur im Design von Hassan Fathy
Szenografie. Obszenografie Über die Gratwanderung der offenen Künste – Eine szenische Lesung
Die Autoren
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Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie [1. Aufl.]
 9783839411520

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Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Ereignis

Band 1

Editorial Die Reihe Szenografie & Szenologie versammelt aktuelle Aufsätze und Monografien zum neuen Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie. Im Kontext neuer Medientechniken und -gestaltungen, Materialien und narrativer Strukturen präsentiert sie Inszenierungserfahrungen in öffentlichen Vor-, Aus- und Darstellungsräumen. Zugleich analysiert die Reihe an Beispielen und in theoretischer Auseinandersetzung eine Kultur der Ereignissetzung als transdisziplinäre Diskursivität zwischen Design, Kunst, Wissenschaft und Alltag. Die Reihe wird herausgegeben von Ralf Bohn und Heiner Wilharm.

Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.)

Inszenierung und Ereignis Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagabbildung: Bildcollage aus dem Videomitschnitt der Performance »Szenografie.Obszenografie« von Frank den Oudsten, Dezember 2007 Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Lektorat & Satz: Ralf Bohn und Heiner Wilharm Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1152-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

INHALT

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HEINER WILHARM, RALF BOHN Einführung

45

CHRISTOPH WEISMÜLLER Die Geburt der Szene aus dem Geiste der Musik. Ein Beitrag zur Theorie der Szenografie am Beispiel von Richard Wagners Vorspiel zum Rheingold

61

RALF BOHN Versteckspiel. Ecksteine einer Genealogie der Szenifikation

105

PETRA MARIA MEYER Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen

135

MARTIN ZENCK Der Gegen-Raum/die Heterotopie und der virtuell-mobile/ szenographische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den „Répons“ und dem „Dialogue de l’ombre double“ von Pierre Boulez

157

JOSEPH IMORDE Das Ephemere. (Wolken, Dünste, Nebel)

171

BRIGITTE MARSCHALL Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung

189

WOLFGANG PIRCHER Die Inszenierung von Vertrauen. Zur Theatralität des Geldes

5

6

INHALT

207

HEINER WILHARM Ereignis, Inszenierung, Effekt. Bausteine der Szenologik

269

SANDRA SCHRAMKE, WOLFGANG BOCK Strategien und Figuren der Szenografie bei Eames und Tati

301

PAMELA C. SCORZIN MetaSzenografie. ‚The Paradise Institute‘ von Janet Cardiff & George Bures Miller als inszenatorischer Hyperraum der post-ästhetizistischen Szenografie

315

MICHAEL WETZEL Erweiterter Raum. Inframediale Osmosen zwischen Künstler und Betrachter nach Marcel Duchamp

329

KARL STOCKER, ERIKA THÜMMEL Die Exstase der Theorie. Theoretische Konstruktionen und gestalterische Entscheidungen

349

ERNEST WOLF-GAZO Raum und Natur im Design von Hassan Fathy

371

FRANK DEN OUDSTEN Szenografie.Obszenografie Über die Gratwanderung der offenen Künste – Eine szenische Lesung

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DIE AUTOREN

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Szenografie & Szenologie

Die mit diesem Band eröffnete Reihe Szenografie & Szenologie versammelt Monografien, Dokumentationen und Materialien zu einem neuen, sich zunehmend professionalisierenden Praxisfeld im Schnittpunkt von Ereignis- und Darstellungs-, Ausstellungs- und Vorstellungskultur. Die Themen kreisen um Inszenierungspraktiken und ein darauf zielendes gestalterisches, szenografisches Schaffen im Schnittpunkt von Design und Kunst, Wissenschaft und Alltag. Die Reihe richtet sich an Leser – und Autoren – mit praktisch kreativen wie mit theoretischen Interessen. Der vorliegende Band fokussiert in seinen Beiträgen die Frage, ob und wie angesichts zunehmender Ausdifferenzierung von Medien und Techniken dem damit einhergehenden Verlust leiblich-sinnlicher Erfahrung mit szenische Praktiken und szenografische Projekten entgegengewirkt werden kann. Und was man davon erwarten darf, entsprechende Inszenierungsstrategien im Umfeld einer Kultur des Ereignisses zu denken und bewusst zu machen.

Die Herausgeber danken der Fachhochschule Dortmund für die Unterstützung der Veröffentlichung aus Forschungsmitteln. Katharina Gogolok danken wir für Layout und Redaktion.

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Heiner Wilharm/Ralf Bohn EINFÜHRUNG

1. Inszenierung, Szenografie, Szenologie – ein Tableau

Die Herausgeber der neuen Reihe Szenografie & Szenologie möchten mit dem vorliegenden Band eine Diskussion eröffnen, in deren Mittelpunkt die raum- und ereignisbezogene Gestaltung steht. Dabei tragen sie den Bedürfnissen nach gemeinsamer Fundierung einer Reihe von gestalterischen, künstlerischen und medientechnischen Tätigkeiten Rechnung, die sich zunehmend auch im deutschen Sprachraum als „szenografische“ Künste verstehen. Die Artikulation als „Szenografie“ signalisiert dabei den Wunsch nach einer integrativen, von der Bindung an überkommene Gattungsgrenzen relativ freien Design- und Gestaltungshandlung rund um die Produktion von Ereignissen und Erlebnissen im öffentlichen Raum. Welche Veränderungen und Erweiterungen finden statt, wenn man sich dem Raum nicht mehr nur auf der Ebene von Dingen und Objekten nähert, sondern auf der Ebene von Ereignissen? Das Interesse gilt nicht allein dem Resultat der faktischen Intervention. Gleichviel interessieren die konzeptionellen und theoretischen Verschiebungen bei solcher Näherung. Der Anstoß der Reihe betrifft mithin auch die Reflexion, die der Frage nach einer „szenologisch“ inspirierten Inszenierungspraxis nachgeht. Einer Reflexion, die sich, was das Selbstverständnis des Unternehmens betrifft, auch selbst als „szenologisch“ versteht. Verstärkt durch die dynamische Entwicklung sich ausdifferenzierender Techniken, führt das Bedürfnis nach integrativer Tätigkeit auf vielen Medien-, Gestaltungsund Kunstfeldern zu Versuchen, die integrative Entwicklung mittels disziplinärer Ordnung und Akademisierung zu realisieren. Auch so werden erweiterte Ansichten von erweiterten Räumen geschaffen, Räume, in denen die Dynamik von Integration (Gestaltbildung) und Differenzierung reflektiert werden kann. Im Sinne szenologischer Beobachtung eröffnen sich damit nicht nur Theorie- und Methodenräume für die Grundlegung szenografischer Praxis: von Ausbildungsfeldern für Theatermacher, Ausstellungsgestalter und Eventdesigner. Traum- und Denkräume, soziale und wissenschaftliche Experimentalräume können ebenfalls dem Paradigma der Ereignisbeobachtung, der „Ereignishaftigkeitsprüfung“ (Foucault)1, unterzogen werden. 1 Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 30/31; vgl. den Aufsatz von Heiner Wilharm in diesem Band.

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„Erweiterung“ von Raum zielt nicht auf imperiale Eroberung neuer Technikräume, sondern darauf, die Genese von raumbildenden und in diesem Sinne szenografischen Ereignissen zu beobachten beziehungsweise die Beobachtung selbst erst zu ermöglichen. Zunächst aber gilt es, die Werkzeuge für die Realisierung szenografischer Ereignisse mit den klassischen Techniken von Architektur, Grafik, Design und Marketing zu erstellen und einschlägige Anwendungen zu erlernen; es heißt, den öffentlichen Raum und seine Interaktionsmöglichkeiten in aller Breite in den Blick zu nehmen. Das war dem Design so fremd nie, bedeutet unter den Bedingungen von Medienvernetzung und transdisziplinärer Kooperation dennoch eine veränderte Perspektive. Abstraktion der Einzelphänomene und mediale Differenzierung verlangen nach vermittelter Teilhabe und Inkorporierung. Von daher eröffnet das ereignisorientierte, szenografische Designverständnis die Chance, Ereignishaftigkeit an den Körper zurück zu binden. Doch wie sind Wissensgesellschaft und Erfahrungsgesellschaft in einer Epoche der Ökonomisierung von Lehre und Forschung noch unter einen Hut zu bringen? Person und Verantwortung dienen bestenfalls als Initial öffentlicher Bildungsangebote. Auch hier sieht sich die szenografischszenologische Initiative herausgefordert. Ihr Anliegen, angesichts der inversen Tauschmöglichkeit von Akteur und Beobachter im erweiterten Raum, widmet sich den Zwischenräumen: zwischen den vielfältig platzierten Inszenierungen, den szenografischen Entwürfen für die Bühnen der unterschiedlichsten Medien, den Varianten der Selbstinszenierung. Der Szenograf, der sich weder zum Büttel von Medientools noch zum Manager bloßer Direktiven machen lassen will, verspricht, den Riss zwischen Technikbeherrschung in einem lange schon industrialisierten Designprozess und kreativem Widerstand im alltäglichen Interaktions- und Kommunikationskontext erfahrbar zu machen. Erweiterter Raum als szenischer Raum meint den Ort, an dem Reflexion, Inversion und Torsion spielerisch dargestellt werden können (siehe den Beitrag von Michael Wetzel). Ob man die neuerliche Wiederkehr des Körpers2 als dialektische Repositionierung oder als erneute und beschleunigte Maschinisierung des Körpers begreifen will: in der szenografischen Praxis wie in der diskursiven Entfaltung ihrer Logik ist das Spiel dieser Indifferenzbestimmung selbst nur szenisch darstellbar. Nicht zuletzt stellt sich die Szenologie die Aufgabe, die inflationäre Diskursivität von Medienräumen auf ihren tatsächlichen Körperbezug hin zu analysieren. Die Reihe Szenografie & Szenologie wird nach den Ableitungen fragen, die eine Gesellschaft der Events und Abenteuer, des Spiels und der medialen Simulationen, 2 Am bekanntesten sind wohl die Titel von Claudia Gehrke (Hg.): Ich habe einen Körper, München 1981, und Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen, Frankfurt am Main 1974, sowie ders.: Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens, Frankfurt am Main 1978.

EINFÜHRUNG

der Theatralitäten und der erweiterten und integrierten Räume bestimmen; auf Grundlage der Künste, des Designs und der Medialitäten. Szenologisch betrachtet verbreitet sich ein Arbeitsbegriff, der mit der gegenwärtigen Grobdifferenzierung von Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum, von Lust und Genuss nicht mehr in Deckung zu bringen ist. Tiefgreifend reagiert die Ereignisbeschwörung auf die Unhaltbarkeit solcher Trennungszustände – zugleich jedoch erweist sich die Konfusion derselben, wenn sich rituell szenisch künstlerische wie künstliche Räume auftun und Raum-Zeitübergänge bilden. Die praxisnahen Überlegungen der Herausgeber stehen im Kontext der Arbeit einer Designfakultät an einer Fachhochschule. Schon 2006 war hier eine Reihe international ambitionierter Szenografen – Ausstellungsmacher, Museumsgestalter, Bühnenbildner, Production-Designer – zusammengekommen, um im Rahmen eines mehrtägigen Kongresses das Spektrum, die Arbeitsweisen und die Ergebnisse szenografischer Praxis vorzustellen.3 2007 folgte ein Theorie-Kolloquium, das sich vornahm, mögliche Schlussfolgerungen aus der gegenwärtigen Praxis zu ziehen und sie mit einem Wissen von Inszenierung, Szenografie und Ereignishaftigkeit zu konfrontieren, das seit der Antike existiert und wieder bekannt zu machen wäre.4 Über die Theorie der Szenografie zu spekulieren, schien und scheint freilich unangemessen. Lieber – und komplexer – sprechen wir in den Beiträgen des vorliegenden Bandes von einer Kultur des Ereignisses, wenn wir an seine Inszenierung denken. Gemeint, insofern, ist dann eben auch seine Kultivierung. In den meisten Beiträgen, die anlässlich des Kolloquiums 2007 vorgetragen wurden, stand der Blick in die Kultivierung qua Werkstatt, die Inspektion fertiger Szenografien, nicht im Vordergrund. Doch dem gemeinsam nachzuforschen, was konzeptionell und intellektuell vor sich geht in den szenografischen Entwürfen und den Praktiken der Inszenierung, dürfte nicht nur dem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Fundierung solcher Gestaltungspraxis zugutekommen. Auch abgesehen davon wird man fragen können, wie kritisch das ‚szenografische Theater‘ gesellschaftlich betrachtet werden sollte, und auch, warum ein medial omnipräsentes Tauschgeschäft der Unterhaltung verdienen könnte, von einem Programm akademischer Lehre unterstützt oder gar verstärkt zu werden. Zweifellos hat das Interesse, über Szenografie und entsprechend gelenkte Inszenierungen nachzudenken, auch mit dem Umstand zu tun, dass das, worauf wir in der Gestaltungs- und Designpraxis seit

3 „Szene

1“. Internationaler Kongress für Szenografie, Dortmund, Juli 2006.

4 „Theatralität, Intermedialität, Erweiterter Raum“. Künstlerisch-wissenschaftliches Kolloquium zur

Theorie der Szenografie, Dortmund, Dezember 2007. Aktuelles zur Szenografie und Szenologie in Dortmund unter www.szenografie.fh-dortmund.de

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einiger Zeit treffen, auf einen Trend gesellschaftlicher Praktiken insgesamt verweist – Praktiken der modernen, reichen Gesellschaften, wäre fürs Erste einzuschränken. Vielleicht ist es keine Pointe, dass zu inszenieren keine Designer braucht. Wer wüsste mittlerweile nicht, dass wir alle Theater spielen (Goffman), und auch, dass jeder von uns ein Künstler ist (Beuys). Aber sind wir sicher, dass die Inszenierungsformen, auf die wir allenthalben, und keineswegs nur in Oper, Ausstellung, Museum, Event treffen, mit Kunst zu tun haben und dass es sich, wenn von Inszenierung und Szenografie die Rede ist, per se um eine Kunst oder gar die Künste der Inszenierung handelt? Sind wir am Ende alle auch noch Szenografen? Die Skepsis allein dürfte schon begründen, dass genauer nachgefragt wird, womit denn Inszenierung und Szenografie zu tun haben und wo sie ihre Grenze finden. Haben wir es vielleicht mit einem weiteren Baustein im globalen Marketingspiel um Aufmerksamkeit zu tun, mit einem trojanischen Pferd, einer List systemischer Subversion, einem Spiel, das sich im Moment des Ereignens der Kontrolle entzieht? Was die in diesem Band versammelten Aufsätze tun wollen, ist nachzufragen. Beispielhafte Analysen von szenografisch inspirierten Inszenierungs-Praktiken werden vorgenommen, die sie leitenden Konzepte werden untersucht und diskutiert – auch unter dem inzwischen geschmähten dialektischen Vorbehalt wegbahnender Unlösbarkeit. Wenn wir nicht vorweg akzeptieren mögen, dass es Inszenierungen nur in gestalterischen, Design- und Kunst-Kontexten gibt, sondern auch auf anderen Feldern der Tätigkeit und des Umgangs von Menschen miteinander – in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, im Privatbereich –, dann brauchen wir eine Diagnose, wo denn sonst und wie inszeniert wird, ohne dass solches Tun bisher auch schon mit dem Begriff „Szenografie“ verbunden worden wäre. Und ob und wie die Entwürfe für solche Inszenierungen und Szenografien sich unterscheiden von Inszenierungen, Szenischem und Szenen, die Arrangeure, Regisseure, Kuratoren, Eventmanager und Art Direktoren verantworten. Wenn wir nicht ausschließen können, dass Dispositive der gesteuerten Inszenierung nicht nur in Gestaltung und Kunst anzutreffen sind, sondern ebenso im alltäglichen Leben und allen seinen Facetten, folgt ein Weiteres: Was Diagnose und Analyse unternehmen, zählt mit zu den Praktiken, die wir untersuchen. Nachzufragen also wäre auch, was für Spiele auf diesem Feld gespielt werden. Die Frage, ob wir uns in oder außerhalb einer Inszenierung bewegen, verweist auf den Spiel-Raum, den Individuum, Subjekt und Person für einige Zeit in der Gesellschaft einnehmen können. Nicht auf den ausgetretenen Pfaden wissenschaftlicher Konventionen wäre eine „Kunst der Wissenschaft“ (Brandstetter) an- und auszudenken, sondern im Blick auf alternative, performative und überhaupt ‚künstlerische‘ Praktiken – theatrale oder literarische, filmische oder poetische. Auch die Theorie, auch die Szenologie hat ihre Szenografien, deren Wandlungen anders vonstatten gehen, als dies paradigmatische Wechsel verkünden.

EINFÜHRUNG

2. Die Inszenierungsgesellschaft – vom Theater zum Event, von der Theatralität zum Erweiterten Raum

Die Beiträge des Bandes verdanken sich einem Forschungskolloquium. Die Unterschiedlichkeit der systematischen, wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Hinsichten, die mit dem inhaltlich umrissenen Programm berührt sind – keineswegs nur Design- und Kunstwissenschaften, sondern ebenso Psychologie und Psychoanalyse, Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaften, Philosophie, Philologie und Geschichte; Medienwissenschaften, Semiotik ohnehin –, die Eigenheiten dieser Disziplinen können und sollen mithin nicht voreilig unterschlagen werden. Und auch historisch, erinnern wir nur an Aristoteles’ Rhetorik und Poetik, beginnen wir mit der Entzifferung inszenatorischer und szenografischer Praktiken nicht bei null, auch wenn die Reflexion auf Design davon bisher nicht viel Kenntnis genommen hat. Nein, die seit längerer Zeit intensiven Bemühungen, Inszenierung und Ereignis, die Räume des Auftritts und der Performanz zu denken, sollen durchaus zur Kenntnis genommen werden. Die ganz großen Autoritäten beiseite lassend, denken wir beispielsweise an den erwähnten Erving Goffman, der mit seiner zur damaligen Zeit Aufsehen erregenden Publikation: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag schon Mitte der 50er Jahre auf alternative Strategien zu einer eindimensionalen Wirklichkeit anzuspielen hoffte.5 Insbesondere wenn man auf die Popularisierung der sozialen Interaktionstheorie schaut, waren Goffmans Arbeiten einflussreich.6 Aus der Zeit der 60er Jahre klingt der Name Guy Debord nach und sein La Société du Spectacle (1967)7, ebenfalls mit entsprechendem, gerade gegenwärtig wieder zunehmendem Einfluss. (siehe den Beitrag von Brigitte Marschall). Ab Mitte der 80er Jahre sehen wir dann geradezu eine Konjunktur der Veröffentlichungen zum Thema Inszenierung. In den 90er Jahren scheint sie zu kulminieren, so dass es nicht fern liegt, zu behaupten8, dass damit ein neuer Leitbegriff für die Kulturwissenschaften gefunden war. Einige Überschriften, die das Spektrum der Diskussion allein zum Ende des 20. Jahrhun-

5

Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2001 (9. Aufl.), Original: The representation of the presentation of self in everyday life. Garden City, N.Y. (Doubleday) 1959. 6 Erving Goffman: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh 1971 (original 1963); Erving Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main 1974. 7 Auf Deutsch u.d.T. Die Gesellschaft des Spektakels erst vollständig 1996 erschienen bei Bittermann (Edition Tiamat), Berlin. 8 Vgl. Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main 2001, S. 9.

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derts andeuten9 und die ‚Leitkategorie‘ im Titel führen, seien illustrierend erwähnt: Inszenierung von Welt (1989)10, Inszenierung der Macht (1988)11, Die Inszenierung des Absoluten (1992)12, Die Inszenierung des Scheins (1992)13, Inszenierungen von Information (1992)14, Ludwig XIV. Inszenierung des Sonnenkönigs (1993)15, Kultur-Inszenierungen (1995)16, Inszenierungen des Sehens (1995)17, Blick-Inszenierungen (1996)18, Inszenierungen der Schrift (1996)19, Inszenierte Natur (1997)20, Körper-Inszenierungen (1997-2006)21, Die Inszenierung von Schönheit und Erotik (1998)22, Inszenierungsgesellschaft (1998)23, Ethnologie und Inszenierung (1998)24, Inszenierungen des Begeh-

9 Vgl.

Früchtl, Zimmermann, Ästhetik der Inszenierung, ebd. der Zeitschrift für Semiotik 1,1989. 11 Ausstellung Berlin 1988 zur „ästhetischen Faszination des Faschismus“. 12 Fritz Reckow (Hg.): Die Inszenierung des Absoluten. Politische Begründung und künstlerische Gestaltung höfischer Feste im Frankreich Ludwigs XIV., Erlangen 1992. 13 Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt am Main 1992. 14 Manfred Faßler, Wulf Halbach (Hg.): Inszenierungen von Information. Motive elektronischer Ordnung, Gießen 1992. 15 Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993 (2. Auflage, Frankfurt am Main 1995). 16 Stefan Müller-Doohm, Klaus Neumann- Braun (Hg.): Kulturinszenierungen, Frankfurt am Main 2005. 17 Sigrid Schade, Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995. 18 Judith Klinger: Blick-Inszenierungen und Seh-Geschichten in der mittelalterlichen Kultur, Berlin 1996 (auch HS 2006). 19 Cornelia Epping-Jäger: Die Inszenierung der Schrift. Der Literalisierungsprozess und die Entstehungsgeschichte des Dramas, Stuttgart 1996. 20 Barbara Baumüller, Ulrich Kuder, Thomas Zoglauer: Inszenierte Natur. Landschaftskunst im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. 21 Titel des Graduierten-Kollegs an der Freien Universität Berlin zwischen 1997 und 2006 unter Leitung von Erika Fischer-Lichte mit den Untersuchungsschwerpunkten: Verfahren der Inszenierung; Medium der Inszenierung; Körper als Materialität, Agens und symbolisches Medium in verschiedenen Inszenierungen; Funktion des Körpers für die Identitätsbildung. Siehe auch: Erika Fischer-Lichte, Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen 2000. 22 Alex Larg, Jan Wood: Glamourfotografie. Die Inszenierung von Schönheit und Erotik, München 1998. 23 Herbert Willems, Martin Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998. 24 Bettina E. Schmidt, Mark Münzel (Hg.): Ethnologie und Inszenierung, Ansätze zur Theaterethnologie, Marburg 1998. 10 Titel

EINFÜHRUNG

rens (1999)25, Die Inszenierung von Prominenz und Schicksal (1999)26, Die Inszenierung des Politischen (2000)27, Inszenierungen des Nationalen (2001)28. Schon diese überfliegende Listung zeigt, dass es verschiedene, keineswegs nur der Gestaltung, der Kunst oder dem Theater affine Bereiche oder Aspekte sind, die nahelegen, Untersuchungen anzustellen, für die der Inszenierungsbegriff unverzichtbar erscheint.29 Wohlgemerkt der Inszenierungsbegriff, nicht der Begriff der Szenografie. Der erste Eindruck vermittelt gewisserweise eine Fortschreibung des Goffman’Debord’schen Programms. Es scheint vor allem das Feld des Sozialen und der sozialen Auseinandersetzung, der Kultur, der Medien zu sein, auf dem inszeniert wird, im Großen und im Kleinen, sodann das Feld der Politik und das der Geschichte – das vergangener Politik30 – , schließlich das Feld der „Überzeugungsmittel“, wie Aristoteles sagen würde31, und das eines vorkommunikativen Grundvertrauens. Entsprechend treten auch direkt Wissenschaften als mögliche Inszenierungsfelder in den Blick. Einzelwissenschaften wie Historiographie, Ethnologie, Psychologie, Physiologie, Kommunikations- und Informationswissenschaften und Formwissenschaften wie Ästhetik oder Semiotik. Soziologie bzw. Sozial- und Kulturwissenschaften sowie verwandte Einzelwissenschaften bieten sich über die Inaugenscheinnahme der Praxis- und Performanzfelder einem zweiten Blick dar. Schließlich bleiben die gestalterischen Künste nicht außen vor. Genauere Recherche unterstreicht und belehrt den ersten Eindruck. Denn die Beschäftigung mit der Kunst und der Gestaltung im Rahmen von Inszenierungspraktiken reicht weiter als die Kenntnisnahme von Designhandbüchern zur Förderung technischer und medialer Ertüchtigung eigener kreativer Ambitionen oder auch das Studium literarisch, philologisch oder historisch interessanter Aufführungs- und Inszenierungsgeschichte(n).

25

Brigitte Hipfl: Inszenierungen des Begehrens. Zur Rolle der Fantasien im Umgang mit Medien, in: Andreas Hepp, Rainer Winter: Kultur – Medien – Macht, Berlin, Heidelberg, New York 1999. 26 Julia Wippersberg: Prominenz. Entstehung, Erklärungen, Erwartungen, Konstanz 2007. Werner Gephart: Medien-Mythos? Die Inszenierung von Prominenz und Schicksal am Beispiel von Diana Spencer. Opladen, Wiesbaden 1999 (Zusammen mit Miriam Meckel, Klaus Kamps, Patrick Rössler). 27 Thomas Meyer/Christian Schicha (Hg.), Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen, Wiesbaden 2000. 28 Beate Binder, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller (Hg.): Inszenierungen des Nationalen: Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2001. 29 Nicht gerechnet die Unzahl von Publikationen, die vergleichbaren Intentionen folgen, ohne den Inszenierungsbegriff im Titel zu führen. 30 Siehe zum Beispiel Jürgen v. Martschukat und Steffen Patzold (Hg.): Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln, Weimar 2003. 31 ... die auch in der Rhetorik nicht allein rhetorischer Art sind. Siehe Aristoteles’ Rhetorik, Buch 1.

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Theatergeschichte und Theatertheorie sind zweifellos wichtige Schauplätze von Analyse und Debatte, das ist angesichts der Herkunft der Inszenierungskategorie nicht verwunderlich. Insofern geht der Blick auch auf die Theaterwissenschaften und von hier aus angestoßene, wissenschaftstheoretische Befunde und Impulse. Sie sind mit dem Namen und den Arbeiten von Erika Fischer-Lichte verbunden32, aber auch mit denen unserer Mitautorin Petra Maria Meyer.33 Im Besonderen liegt die Reflexion auf der Theaterpraxis als Modell. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, so formuliert der Untertitel der von Fischer-Lichte herausgegebenen Reihe Theatralität.34 Die für unsere Thematik einschlägige Reihe Theatralität hat es bisher im Zusammenhang des gleichnamigen DFG-Forschungsprogramms35 auf rund ein Dutzend Monografien und Diskussionsbände gebracht. Unter anderem erschien 2004 Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften als eigener Band, 2005 kam Diskurse des Theatralen heraus und unter dem Titel Inszenierung von Authentizität 2006 die Neuauflage des ersten Bandes aus dem Jahr 2000. Beispielhaft offeriert das Vorwort der Autorin zu Diskurse der Theatralität 36 der kulturwissenschaftlichen Epistemologie noch einmal die relevanten Diskurskontexte37, für die die Theatralitätskategorie ausgebreitet und fruchtbar gemacht werden soll. In der Tat bilden sich um die hier genannten zentralen Kategorien eigene Forschungs- und Publikationsnetze, deren Produktivität mengenmäßig vielleicht nicht mit der um die Leitkategorie „Inszenierung“ vergleichbar erscheint, die indes – durchaus im Kontakt mit dieser Diskussion – die vor allem sozial- und kulturwissenschaftlich angrenzenden Praxis- und Theoriefelder abtasten. Nahe liegen die Themen Performativität 38 und 32 Schon in „Inszenierungsgesellschaft“ veröffentlicht Erika Fischer-Lichte einen programmatischen

Aufsatz zum Verhältnis von Inszenierung und Theatralität. Ebd., S. 81-92. Siehe unten den Kontext des Beitrags von Petra Maria Meyer. Überblick siehe unter http://www. muthesius-kunsthochschule.de/de/hochschule/personenverzeichnis/meyer_petra_maria/veroeffentlichungen.php – Zugriff 10.11. 2008. 34 Siehe Anmerkung 18. 35 Ein vergleichbares DFG-Langzeitprojekt lief zwischen 1996 und 2002 unter dem Titel „Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen“. Projektleitung Prof. Dr. Martin Zenck, damals Universität Bamberg, heut Universität Würzburg in Kooperation der Universität Heidelberg (Institut für Ethnologie: Prof. Dr. H.-P. Köpping), Universität Konstanz (Institut für Politologie: Prof. Dr. H. P. Soeffner), Universität Frankfurt (Theaterwissenschaftliches Institut: Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann und Prof. Dr. Günther Heeg), Universität Basel (Literaturwissenschaftliches Institut: Prof. Dr. Gabriele Brandstetter). 36 Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat (Hg.), Diskurse des Theatralen, Tübingen, Basel 2005 (Bd. 7 der Reihe Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften). 37 Die, und zwar durchaus auch unter Einbezug der Theatralitätskategorie (siehe Goffman), schon seit den 60er Jahren offensichtlich waren. 38 Einen Überblick zum Sonderforschungsprojekt „Kulturen des Performativen“ und den in diesem Zusammenhang entstandenen Veröffentlichungen zur „Ästhetik des Performativen“ – auch und in 33

EINFÜHRUNG

Verkörperlichung; letzterer Begriff im Anschluss an Plessner und Merleau-Ponty aufbereitet, womit der „Doppelcharakter von Körperlichkeit“ zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper ins Zentrum des Interesses rückt. Das Thema Rituale und rituelle Performanz führt an besonderen Beispielen zu ‚szenografischen Konstrukten‘, die ebenfalls, so die Perspektive des Programms, für weiterreichende kulturelle Performanzen operationalisierbar erschienen.39 Die politische Inszenierung wurde unter dem Aspekt der Macht-Inszenierungen und der politischen Darstellungsweisen ausgelotet – durchaus mit einem Fokus auf die Instanzen medialer Vermittlung und das Phänomen der „doppelten Theatralität“. Auch der Themenkomplex Ereignis, Emergenz, Event-Kultur ist im Programm Theatralität präsent (und hat ebenfalls zu einem eigenen Diskussionsband der Reihe geführt40). „Event“ dabei als repräsentationstheoretisch eigene Kategorie gefasst und von Fischer-Lichte mit Hilfe der Habitustheorie Bourdieus aktiviert. Fragen des Verlustes bzw. der möglichen Restituierung von Leiblichkeit finden sich wieder im Themenkontext Medien und Mediengesellschaft. Hier ist es der Theatralitätsbegriff im Sinne von Roland Barthes, der den Anstoß gibt. Soweit angesichts der Medienpraxis von hier aus ein „Prozess der Entgrenzung“ mitgedacht wird, scheint das Theatralitätskonzept auch die entgrenzenden Tendenzen der modernen, zunehmend integrierten und integrierenden Massenmedien fassen zu können, zugleich aber dafür sensibel machen zu wollen, dass die fehlende Leib- und Körperpolung und die Vereinzelung zumindest kompensiert gehören.41 Die rege Diskussion des Inszenierungsbegriffs in den Kulturwissenschaften hielt auch seit Anfang des neuen Jahrtausends an.42 Darüber hinaus vermerken wir ein

erster Linie Erika Fischer-Lichtes – findet man unter http://www.sfb-performativ.de/seiten/b1_lit. html – Zugriff 10.10.2008; zu Einzelprojekten siehe http://www.sfb-performativ.de/seiten/frame_proj. html. 39 Siehe die Rezension des Bandes von Katharina Natalia Piechocki unter http://www.theaterforschung.de/rezension.php4?ID=161 – Zugriff 15.11.2008; Copyright by www.theaterforschung. de. Des Weiteren siehe Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, Paderborn 2004. 40 Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen, Basel 2004 (Bd. 4 der Reihe Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften). Zum Kontext Performativität, aber auch darüber hinaus im Rahmen unserer Interessen, vgl. die Veröffentlichungen in der Zeitschrift Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, hgg. vom Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin, besonders die Ausgaben 1/1998; 2/2000; 1/2001 und 2/2003; 1,2004; 1/2006. 41 Vgl. dazu den Beitrag von Petra Maria Meyer in: Diskurse des Theatralen: Vom Nutzen des Theatralitäts-Diskurses für eine prozessuale Medientheorie. 42 Neben den oben erwähnten Titeln (darunter auch der von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann verantwortete Suhrkampband „Ästhetik der Inszenierung“, worin die Ergebnisse eines gleichnamigen

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wiederkehrendes Interesse am Begriff des Ereignisses, wobei hier dezidiert eine philosophische Tradition mobilisiert wird – auch gegen die theatral performative Lesart und durchaus sensibel für ontologische Fragestellungen. Namen, die für Stationen der Diskussion stehen, sind u.a. Nietzsche, Heidegger, Foucault. Wir verweisen, pars pro toto, auf die im Kontext unserer Beiträge wie unserer Reihe relevanten Arbeiten Dieter Merschs; zum Beispiel seine Arbeit Ereignis und Aura (2002), die sich ebenfalls als Untersuchung zur Ästhetik des Performativen darstellt.43 Philosophisch argumentiert auch die Ästhetik der Installation von Juliane Rebentisch aus dem Jahr 2003, die sich auf Positionen Adornos, Heideggers und Derridas einlässt.44 Medienbilder. Inszenierung von Sichtbarkeit (2004) von Götz Großklaus sei schließlich herausgestellt, da hier, wie der Untertitel andeutet, ein wesentliches Problem szenografischer Tätigkeit diskutiert und zudem die Zeit-Raum-Problematik (Stichworte: Ereignis, Event, Erinnerung, Darstellung) medientheoretisch ausgelotet wird.45 Nun sollte man meinen, dass, den genannten Begriffsnetzen nicht fern, auch die Thematiserung des Raums einbezogen worden wäre und zu einer vergleichbar regen Diskussion geführt hätte. Dies ist nur begrenzt und mit Zeitversatz der Fall. Eher finden wir hier, auch wenn es eine Reihe von Vermittlungsgliedern zur angedeuteten Diskussion gibt (zum Beispiel über die Gender-, die Leib-Körper-Thematisierung, die Gedächtniskultur und ähnliche ‚Leib-Seele-Schnittstellen‘), einen verselbständigten Diskurs, der indes über die Problematisierung der Einrichtung physikalisch

Kongresses, der in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Oper im Jahr 2000 stattfand, festgehalten sind), wiederum ohne Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit einige weitere sprechende Titel: Ulrich Arnswald: Die Inszenierung der Politik in einer theatralisierten Gesellschaft, in: Öffentlichkeit als Bühne: Kontaminationen, in: Iablis – Jahrbuch für Europäische Prozesse, 2. Jg., 2003; Rudolf Schlögl, Bernhard Giesen, Jürgen Osterhammel (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004; Rosmarie Beier-de Haan: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte, Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2005; Ada Borkenhagen: Gemachte Körper: Die Inszenierung des modernen Selbst mit dem Skalpell. Aspekte zur Schönheitschirurgie, 2006; Irene Chytraeus-Auerbach, Georg Maag, Die italienische Mediendemokratie. Zur Geschichte politischer Inszenierungen und inszenierter Politik im Medienzeitalter 2006: Irene Chytraeus-Auerbach, Inszenierte Männerträume: Eine Untersuchung zur politischen Selbstinszenierung der italienischen Schriftsteller Gabriele D’Annunzio und Filippo Tommaso. Zeit zwischen Fin de Siècle und Faschismus, Essen 2003; Geschichte als Oper: Die Konstruktion und Inszenierung von Geschichte im europäischen Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Beitrag auf dem Historikertag 2006; Stephanie Herold: Inszenierungen von Geschichte und Landschaft. Schwedische Malerei um 1900, Saarbrücken 2007. 43 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zur Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002; Überblick zu Merschs Veröffentlichungen unter http://emw.fh-potsdam.de/ personen _lehrende_portrait.php?tid=34 – Zugriff 12.11.2008. 44 Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003. 45 Götz Großklaus: Medienbilder. Inszenierung von Sichtbarkeit, Frankfurt am Main 2004; zur Problematik der „Inszenierung der Sichtbarkeit“ siehe den Beitrag Wilharms in diesem Band.

EINFÜHRUNG

realer Räume: Stadt-, Verkehrs- und Architekturräume, Arbeitsräume, Wohnräume, Unterhaltungs- und Erlebnisräume, große Affinitäten zur Thematik Szenografie und Szenologie gewinnt. Es geht hier nicht mehr nur um die Thematisierung der „spatial“, „topological“ oder „topographical turns“, wie sie Doris Bachmann-Medicks Überblick zu den „Cultural Turns“ in den Kulturwissenschaften46 konstatiert und angesichts derer Thomas Anz unterstreicht, dass es sich „bei allen unterschiedlichen Perspektivierungen, die mit der Wahl des einen oder anderen Attributs vorgenommen werden“, um ein sich gleichendes „raummetaphorisches Begriffsfeld“ handelt.47 Folglich stehen hier vornehmlich Texte im Mittelpunkt des Interesses. Und ihre Darstellungsqualitäten werden ob ihrer topographischen oder topologischen Vermögen gewürdigt, die dann, naheliegend, als „Kartierung“, „Mapping“ oder „Vermessung“ gefasst werden.48 Es leuchtet ein, dass tatsächliche Ereignisse in tatsächlichen Räumen aus der Perspektive der „Begriffsmetaphorik“ leicht auf Distanz rutschen.49 (Auch dies ein Thema unserer Beiträge.) Obwohl es nicht darum gehen kann, Zeichen, Medien und medientechnische Implementierungen von der Raumkonstitution fern zu halten50: in dem etwa auf die Arbeiten Henri Lefebvres51 zurückgehenden Raum-

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Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbeck 2006. 47 Thomas Anz: Raum als Metapher. Anmerkungen zum „topographical turn“ in den Kulturwissenschaften, in: Rezensionsforum Literaturkritik, Februar 2008, veröffentlicht unter http://www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11620&ausgabe=200802 – Zugriff 02.11.2008. 48 Im Kontext der Kunst siehe: Christin Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick der Kunst. Berlin 1996. 49 Vergleichbar das Unternehmen „Raum als mediale Konstruktion“; als Übersicht zur Literatur vgl. die Liste von Doreen Hartmann (Universität Paderborn) unter: http://www.uni-paderborn.de/ fileadmin/mw/Lemke/LiteraturRaum.pdf - Zugriff 14.11.2008. 50 Vgl. teils kritisch (besonders aus Reihen der Geografen) gegen die ‚metaphorische Bemächtigung‘: Klaus Kuhm: Telekommunikative Medien und Raumstrukturen der Kommunikation, in: Christiane Funken, Martina Löw (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, Opladen 2003; Werner Köster: Deutschland, 1900-2000: Der Raum als Kategorie der Resubstanzialisierung. Analysen zur deutschen Semantik und Wissenschaftsgeschichte, in: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005; Roland Lippuner: Raum – Systeme – Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart 2005. Siehe auch den neueren Überblick: Thomas Schindl: Räume des Medialen. Zum „spatial turn“ in Kulturwissenschaften und Medientheorien. Paper/Artikel, 2007, unter: http://textfeld.ac.at/text/1022 – Zugriff 02.10.2008. 51 Zu nennen u.a.: Henri Lefebvre: La production de l’espace. Paris 1974; dt. erreichbar: Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, München 1974; Die Stadt im marxistischen Denken, Ravensburg 1975; Metaphilosophie: Prolegomena, Frankfurt am Main 1975; Einführung in die Modernität: 12 Präludien, Frankfurt am Main 1978; Kritik des Alltagslebens: Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit, Frankfurt am Main 1987; Die Revolution der Städte, Frankfurt am Main 1990 (Neuausgabe: Berlin: b_books, 2003) – Literatur: Corell Wex: Logistik der Macht: Henri Lefebvres Sozialtheorie und die Räumlichkeit des Staates, Diss., Marburg 2000; Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft: Henri Lefebvre und die Theorie der

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diskurs liegen die Dinge anders. Von hier aus wird das Verhältnis von Körperraum – auch leiblich-sinnlicher Existenz – und architektonischem (Lebens-)Raum, wie er seit Benjamins Passagenwerk52 oder Richard Sennetts einschlägigen Veröffentlichungen53 thematisiert wird54, nicht vornehmlich symbolisch kartiert. Es bleibt beim Blick auf Diskussion und Literatur zum Raum darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich nicht nur Realräume der Inszenierung, Leib- und Körperräume im Fokus der Thematik stehen, sondern selbstverständlich auch Wissensräume, so vermittelte oder authentische wie in den Wissenschaften. Auch hier ist der Inszenierungsbegriff produktiv. Und über die Inszenierungskategorie erscheint auch hier der Raumbegriff hilfreich, wenn auch keineswegs selbstbezüglich beschränkt auf den ‚Wissensraum Wissenschaft‘ als exklusiven Raum ihrer Darstellung.55 Aus den überschlägig aufgeführten Stichproben sollte ersichtlich werden, dass das Thema Inszenierung keine Trouvaille eines nach Theorieansätzen suchenden Designdiskurses ist. Es ist in der Debatte der Kulturwissenschaften seit Jahren präsent, wenn auch die Frage nach den Szenografien im künstlerischen und Gestaltungskontext von Design und Architektur eine spezifischere Fragestellung impliziert als die nach den Inszenierungen. Produktion des Raumes, Stuttgart 2005; Hans Jürgen Macher: Methodische Perspektiven auf Theorien des sozialen Raumes: Zu Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und David Harvey, München 2007; Kanishka Goonewardena, Stefan Kipfer, Richard Milgrom, Christian Schmid (Hg.): Space Difference, Everyday Life. Reading Henri Lefebvre, Oxford, New York 2008. Zu nennen wären hier auch die Arbeiten von Paul Virilio zu Raum- und Verkehrsverhältnissen der Gegenwart. 52 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: GS V.1 u. 2. hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991. 53 Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt am Main 1994 (1997). Früher schon siehe: Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., GA 7.1: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Frankfurt am Main 1993 (original 1908); in diesem Zusammenhang siehe auch die Einführung und die Beiträge in: Robert Gugutzer: Der Body Turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung, in: Ders. (Hg.), Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006. 54 Im Anschluss siehe: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hgg. von Andreas Bähr, Peter Burschel, Gabriele Jancke. Köln, Weimar, Wien 2007. 55 Insgesamt zur Thematik der Raumpraktiken vgl. den Forschungsüberblick zur Raum-Theorie (bis 11/2004) von Jörg Dünne im Vorwort zu: Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke (Hg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg 2004; auch als pdf unter http://www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf – Zugriff 02.08.2008. Des Weiteren siehe: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann, Walter Prigge (Hg.): Mythos Metropole. Frankfurt am Main 1995; Birgit Althans: Stadt als performativer Raum, in: Christoph Wulf u.a.: Das Soziale als Ritual. Opladen 2001; Rudolf Maresch: Raum, Wissen, Macht, Frankfurt am Main 2002; Jörg Dünne, Stefan Günzel (Hg.), in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke: Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006; eine Textsammlung klassischer Texte bietet: Ulf Heuner (Hg.): Klassische Texte zum Raum, Berlin 2008.

EINFÜHRUNG

Der in Szene gesetzte Auftritt im Rahmen medial spezifisch definierter Räume und Zeiten – ein zweifellos immer schon bedeutsamer Aspekt der Gestaltungspraxis – trat in der Reflexion aufs Design verstärkt erst im Laufe der 90er Jahre in den Vordergrund: provoziert weniger von der wissenschaftlichen und literarischen Debatte als von den Möglichkeiten der Neuen Medien, vermittelt über die Künste und den Markt, herausgefordert von der zunehmenden Eventkultur.56 Das Design, traditionell zuständig für die ‚gute Form‘ von Objekten und Artefakten, blickte als Erstes von den zu gestaltenden Objekten auf die Kommunikation, die Geschichten um das Produkt und seine Aktualisierungsformen. Das Interesse an Auftritt und Bühne von Design und Kommunikation kam erst später. Sicher nicht ohne die Experimente der Künste, besonders der installativen und Medienkünste, mehr aber noch mit dem Ausbau der Medien- und Unterhaltungsgesellschaft, einer aufblühenden Ausstellungs-, Museums- und Eventkultur. Zunehmend trat die ästhetische Präsenz von Gestaltungsprozessen und -resultaten in ihren eigenen Räumen der Performanz in den Mittelpunkt des Interesses. Die maßgebliche Gestaltung wandte sich dem Design in Event and Motion (auch in Emotion) zu, begann sich auf den Tauschwert und die sozialisierenden Symbiosen der Praxis zu konzentrieren, die als ‚Kommunikation in der Kommunikation‘ gehandelt werden und dem Produkt Persönlichkeit und Erlebniswert verleihen. Die Tendenz zur allegorischen Verlebendigung in medialen Kontexten begann sich durchzusetzen. Seitdem wird die Fokussierung auf eine Erlebnisdimension gestalterischer Möglichkeiten und Tätigkeiten sichtbar, die dem traditionellen Design (traditionell im Sinne der kurzen Geschichte seit der Industrialisierung) so nicht verfügbar erschien. Und dies, neuerdings, unter medial, technisch, technologisch, aber auch gesellschaftlich ökonomisch besten Bedingungen, die antagonistischen Gesellschaftsdispositionen auch unter krisenhaften Bedingungen zu stabilisieren. Die szenografischen Künste, genealogisch allesamt Künste zeitgebundener Spiel- und Raumgestaltung, wachsen also zusammen. Ausstellungsmacher inszenieren Musiktheater, Choreographen die Eröffnungsveranstaltungen eines Sportevents, 56

So entstand auch die Schriftenreihe zur Szenografie in Ausstellung und Museum aus der praktischen Ausstellungstätigkeit der DASA (Deutsche Arbeits-Schutz Ausstellung) Dortmund, ihrer Kolloquien- und Publikationstätigkeit. Siehe: Gerhard Kilger, Wolfgang Müller-Kuhlmann, Madeleine Shekarie Oureh (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen: Beiträge zum Kolloquium vom November 2000 in der DASA, Essen 2004; Gerhard Kilger, Wolfgang Müller-Kuhlmann (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen II: Wissensräume: Kunst und Raum – Raum durch Kunst, Essen 2006; Gerhard Kilger, Wolfgang Müller-Kuhlmann (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen III: Raumerfahrung oder Erlebnispark? Raum – Zeit / Zeit – Raum, Essen 2008; siehe auch: Kerstin Selle, Szenographie als neues Gestaltungskonzept in Ausstellungen und Museen am Beispiel des Historischen Museums Hannover, Hamburg 2005, oder Brigitte Kaiser, Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen: Museale Kommunikation in kunstpädagogischer Perspektive, Bielefeld 2006.

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Kommunikationsdesigner Expo-Pavillons, Bühnendramaturgen den Christopher Street Day. Die Szenografien treten umso eher in den Vordergrund, als sie die maßgeblichen medialen Verstärker auf ihrer Seite wissen. Was sich klassischerweise in einem ganzen Strauß eigenständiger Professionen darbot, soll sich unter Voraussetzung und Bedingungen gemischter und akkumulierter Kompetenzen zu Hybridgestaltung fügen. Aber handelt es sich tatsächlich um Integrationsakte oder um therapeutische Effekte? Gehören vielleicht beide Aspekte zusammen? Nur solche vergleichsweise philosophischen Fragestellungen können den globalisierten Effektraum, den auszuloten die Reihe sich vorgenommen hat, in den Blick nehmen. Aber es sind auch alte Affären in neuem Gewand. Immer schon standen dem Handwerker der Prediger und der Schauspieler zur Seite, dem Objekt immer die Geschichten, seine und unsere, und der belebte Raum, worin die Begegnungen spielen und Spiel haben. Bemerkenswert allerdings für heutige Tage sind die Reichweite, die Breite der Inszenierungen und der Grad der Durchdringung derselben durch mehr oder weniger geplante und expressive Szenografien, ihre Rückkehr aus den privaten Spielwelten der Simulation in den realen Raum der Öffentlichkeit. Bei aller Attraktivität, Design szenografisch spielerisch zu denken, sollte man nicht vergessen, dass die inszenierende Gestaltung nach wie vor objektinteressiert und kommunikationsbezogen, insofern profitorient ist. Doch auch wenn es in den meisten Fällen um Käufer und ums Verkaufen geht, der Dialektik der Inszenierung, den Möglichkeiten der Querstellung tut das keinen Abbruch. Nimmt man die Szenografien der Gestalter genauer in den Blick, stößt man schnell auf Verwandtschaften. Theater, Wunderkammer, Museum, Kino, Fußball könnten vielleicht als Paradigmen szenografischer Gesten, sich und andere(s) darzustellen und auszustellen, herangezogen werden. Unter dem Druck von Design, Technologie und Kommerz sind sie indes dabei, ihr angestammtes Gehäuse zu verlassen. Denn die Inszenierung bedient den Medien-, ja den gesamten öffentlichen Raum, instituiert ihn. Man kann die New Yorker Ausstellung des MoMA in Berlin nehmen, den Wiener Opernball, die Eröffnung der Winterspiele in Turin, Vancouver oder Sotschi, die Fußballweltmeisterschaft, die Expo-Ereignisse in Saragossa oder in Shanghai: die großen Events sprengen den physischen Raum ihrer Präsenz und strahlen weltweit in den Raum von Kommunikation, Information, Unterhaltung. Herrscht dort schon die gnadenlose Sichtbarkeit, wie sie Baudrillard analysiert, eine Sichtbarkeit, die jede wirkliche Szene zugrunde richtet und nur noch die Obszönität der Sichtbarkeit, ‚schlechte Obszenografie‘ (siehe den Beitrag von Frank den Oudsten) zurücklässt? Wo es nichts mehr gibt, was noch als Szene sich abgrenzte?57 57

Siehe Jean Baudrillard: Die Szene und das Obszöne, in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne, Frankfurt am Main 1983.

EINFÜHRUNG

Die apokalyptischen Perspektiven der Diskussion überlassen wir einem der nächsten Bände der Reihe Szenografie & Szenologie. Die Herausgeber glauben, dass die Überbelichtung des Sichtbaren ‚obszenografisch kritische‘ Ambitionen reflektierten Gestaltens auch erleichtern kann. Wie können pathografischen Szenen für die Einsicht sensibel machen, dass ein Ereignis in keiner Darstellung zur Ruhe kommen kann, auch wenn es sich auf die Darstellung und nicht auf das Ereignishafte als (vermeintlich) Authentisches bezieht? Lyotard wiederholte es notorisch: „Es gibt wenig zu sehen und viel zu denken“ – mehr Darstellungen und Perspektiven als Ereignisse und Sichtbares. Gibt es Körper und Raum ohne Illusion? Inszenierung ist offenbar kein Selbstzweck, selbst nicht beim Theater. Der Beobachter – Betroffene, Leser, Zuschauer, Besucher, Rezensent, Kritiker, Wissenschaftler – spielt mit, ist Teil der Geschichte wie der Inszenierung und bereit, sich für eine gewisse Zeit auf die Unbestimmtheit einzulassen, um Bestimmbarkeit zu ermöglichen.

3. Politik der Künste – Inszenierungen des Sozialen

Schaut man auf die geltende gesellschaftliche Raumordnung, zeigt sich, dass sich Orte der Inszenierung nicht nur in großer Fülle finden lassen, sondern auch, dass sie – zumindest im Grundsatz – als öffentliche Bereiche der Dar-, Vor- und Ausstellung markiert sind, dass in der Regel auch professionelles Know-how zu ihrer Bewirtschaftung unterstellt wird. Das legitimiert zwar vielleicht noch keine akademische Ausbildung von Szenografien, weist aber darauf hin, dass solche Ausbildung nicht allein kulturelle, künstlerische und gestalterische Ambitionen im Blick haben kann, sondern auch soziale und ökonomische. Dazu dient die Heranbildung gestalterischer und planerischer, freilich kritischer Kompetenz und Professionalität und entsprechender Verantwortung. Ihr geht es um die sinnbildende Bewirtschaftung menschlicher Arbeit jenseits des bloßen Produzierens, Verwaltens und Konsumierens, um Bildung also im emphatischen Sinn. Das In-Szene-Setzen und Dramatisieren von realen und virtuellen Räumen umgreift viel weiter zu fassende kulturelle Territorien als die, welche mit den säkularen Arealen öffentlicher Aufführung und Zurschaustellung herausgegriffen werden. Man denke etwa an die aktuelle Inszenierungskrise des Vertrauens, wie sie der Beitrag von Wolfgang Pircher nahebringt. Im Hinblick auf diesen Aspekt gibt es Bereiche, die sich nur inszenatorisch darstellen lassen, gerade weil sie sich auf die Freiheit und Unbestimmtheit menschlichen Spiels beziehen. Oder man denke an die Tradition der Liturgien und der Inszenierungen sakraler Räume, an die Dramaturgie der Bräuche, Feste und Feiern des Gedenkens, der Begegnung und der Abschiede, an die Riten der Geburt, der Initiation und des Endes, an die Auftritte auf den Bühnen

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der Politik und den Brettern des gesellschaftlichen Lebens, nicht zuletzt der Selbstinszenierung in erdachten, selbst gefertigten oder entliehenen Rollen und Kostümen: allesamt öffentliche Inszenierungen mit ureigenen Orten, Räumen und Zeiten, im Detail hoch entwickelten, immer wieder ausgearbeiteten und perfektionierten Szenografien. Ihre professionalisierte Kostümierung im Design- und Kunstkontext tritt auch dann auf den Plan, wenn die medientechnische Sublimierung der Topologien nach neuen Subjektivitäts- und Realitätsmodellen verlangt, solchen vorzüglich, die sich auf die Realität des Körpers und die Unbestimmtheit seiner sich selbst vorstellenden Darstellung beziehen lassen.58 Damit verschiebt sich die Frage der Rückvermittlung szenografischer Ereignisse: Was gerät hier, um salopp zu fragen, „libidoökonomisch“ in Arbeit, welche Widerständigkeit wird eingeführt? Für die Szenifikation des Szenografen muss ein öffentlicher Raum erkämpft werden, dessen Versprechen in der Vielfältigkeit der Beziehungen und den möglichen Affären zwischen Ich und Anderem/n liegt. In dieser Hinsicht ist die Professionalisierung der Szenografie nicht nur eine ästhetische, sondern ebenso eine gesellschaftliche – politisch, philosophisch und psychoanalytisch zu formulierende – Herausforderung. Zu naiv wäre die Behauptung, die Leute seien es leid, in den inflationär simulativen Bilderwelten ihre Körperfühlbarkeit abgeben zu müssen. Wer indes von der Szenografie Kirmesattraktionen und Körperirritationen erwartet, muss die klappernde Dualität, die es in einer Welt pluraler Wertbeziehungen und unter Bedingungen der Entwertung von Arbeit und Widerstand nur im Zustand rhetorischer Diversion gibt, neuerdings dialektisch revidieren. Alles das ist zu berücksichtigen, wenn die szenologische Reflexion professioneller Szenografie (und Szenografieausbildung) nicht nur die medialen und intermedialen Differenzierungen in den Blick nimmt. Statt der medialen Rationalisierung von Kommunikation in Information überantwortet zu werden, müssen die eingefahrenen Medienstreams szenisch in Gang kommen. Dazu gehört, sich dem Prozess der allmählichen, körpersimulativen Vervollkommnung leiblich präsent, szenisch gestikulierend, auch schimpfend, verweigernd, gar hysterisch (siehe den Beitrag von Ralf Bohn) entgegenzustellen. Von beiden Seiten der medialen Vermittlung erarbeiten Szenografen ihre osmotischen Werke. Wer mit der Pluralisierung von Andersheit die Verflechtung von Realität, Spiel und Subjektivität anspricht, kommt historisch nicht umhin, Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts zu zitieren. Schillers Frage, warum die begriffliche Archivierung von Revolutionskategorien an der Einmaligkeit geschicht58 Freuds Diktum von der „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ im Traum (in: „Die Traumdeutung“) und

der pathologischen Szene wäre einer eigenen Darstellung wert. Allerdings ist das Thema mit komplexen Verbindungen außerhalb der Sprachregelung der Designpraxis verbunden, die im Allgemeinen nicht psychoanalytisch argumentiert. Eine solche Untersuchung der „Szene“ bleibt einem eigenen Band der Reihe vorbehalten.

EINFÜHRUNG

licher Ereignisse gewagt werden soll, obwohl doch Geschichtliches seine Wirkungsmacht im Wesentlichen ästhetisch entfaltet, ist bis zu Benjamins Verdikt einer ‚Politisierung der Kunst‘ wider eine ‚Ästhetisierung der Politik‘ im Kunstwerkaufsatz lebendig geblieben.59 Der Begriff, so Schiller, sei immer schon voreilig und müsse, um wirkungsmächtig zu sein, szenifizierend gerettet werden. Es wäre angebracht, sagt Schiller, wir würden das, was wir im Wahrnehmen immer schon zu erkennen glaubten, besser noch ein zweites Mal wahrnehmen. Das heißt, das historische Ereignis auf seine ästhetische Wirkung zu befragen. Dazu aber müssten wir uns einer vorgängigen Wahrnehmung erinnern können, die wir so indes gar nicht kannten und die als ursprüngliche auch nicht erinnert werden kann, weil sie nicht szeno-graphisch präsent war. Das frühromantische Konzept der reflektierenden Begriffsinszenierung am Tauschort der Inversion60 der Reflexionspositionen nahm das Hegel/Schelling’sche Programm der „Neuen Mythologie“ ernst. Hier liegt die Dignität des Schiller’schen Spielbegriffs, genauer des „Spieltriebs“, für eine Grundlegung der Szenografie. Szenografie als Reanimation, als Dichtung, als Tausch der Evidenz von Gegenwärtigem mit Präreflexivem – das ist das (unendliche) Programm der ästhetischen und politischen Pädagogik, das Schiller vorschwebt und das noch die Szene bei Nietzsche und Wagner belebt. Es heißt, den Blick zu schärfen für das, was sich in Reflexion, Inversion und Torsion evidenterweise der inzestuösen ökonomischen Äquivalenz wie dem ästhetischen Schein zu entziehen vermag, indem er des Produktionsopfers gedenkt. Schillers ‚Präszenifikation‘ zielt auf die Verzerrung einer Macht des Faktischen, die ihre abgetrennten Glaubensakte eben nicht mehr inszeniert sehen will, sondern ‚Alter Mythologie‘ – für Schiller wie noch für Heidegger die metaphysischen Abgründe der Kausalität – überantwortet. Die genealogischen Abtrennungen der Evidenz sollten in einer Theorie der Szenografie verfolgt werden können. Unsere Beiträge sprechen davon. Schiller fragt nach der Vorgängigkeit eines möglichen Realen, aus dem heraus jede Realität als inszeniertes Spiel zu werten ist. Er verkennt dabei nicht die Gefahr, dass gerade infolge der revolutionären Ereignisse von 1789 die Legitimationskräfte nur noch binnensystemisch ausweisbar sind. Er sieht, dass zu Gunsten einer antiklerikalen Dialektik rationalistischer Mythisierungen ein Glaubenskontext die Oberhand gewinnt, der mit eigenen Sakralitäten, mit der Guillotine und der Göttin der Vernunft daherkommt. Einer delirierenden Wirklichkeit stellt Schiller umso entschiedener die Kunst als Politik der Selbstbemächtigung des Produzierten entgegen. Dem Realitätszwang der Technik begegnet er mit dem auf Naturproduktion abzielenden Begriff des Spieltriebs. Das pädagogische 59 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS Bd. I, Frankfurt am Main 1980, S. 508. 60 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt am Main 1989.

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Abb. 1 Otto von Guericke inszeniert die Leere. Ein Experiment mit den ‚Magdeburger Halbkugeln‘

Programm, in historisch revolutionärer Zeit am lebenden Objekt auf Inszenierung zu setzen, dient der Bestimmung von Akteur und Beobachter und seiner Positionierung im revolutionär erweiterten Raum sich öffnender Freiheit(en). In Ermangelung von Guillotinen bewähren sich heute Casting-Shows. Die künstlerische Utopie überschreitet die Legitimitäten der Realitätsmächte beständig, indem sie den Widerstreit mit der Wissenschaft aushält (siehe dazu den Beitrag von Heiner Wilharm). Dass über Ästhetisches trefflich zu streiten sei, ist immer schon Teil des Inszenierungswissens gewesen. Dieser kommunikativ-soziale Vorteil ästhetischer Inszenierungen erweitert unsere Bedeutungsräume, weil das Schauspiel der Präsenz der Körper zu einer Sprache verhilft und damit zu einem leiblich praktischen Arbeitsprogramm der Selbstvergewisserung. Man muss nicht gleich von sozialer Plastik oder Revolution sprechen, wenn man erwägt, das Gelingen eines Events auf die Selbstreflexionsfähigkeit des Beobachters abzustimmen. Die Reinszenierungsmöglichkeit von global verfügbarem Internet-Wissen zeigt, dass zur Selbstreflexion nicht ein egalitäres Wissen, sondern ein Zweifel gehört, der einen ökonomischen Aufschub – damit notwendig Freiheit – produziert. Die postmoderne Pathosformel: Inszenierung oder Geschichte – Poesie oder Politik? – kann nur lauten: Inszenierung trotz Geschichte! Poesie trotz Expertenwissen! Seit von Guerickes Großinszenierung des Experiments mit den Magdeburger Halbku61 Nachdem Guericke spektakulär die Rücktauschbarkeit von Leere in Sinnlichkeit augenfällig gemacht

hat, bittet er ein kleines Kind, das Ventil zu öffnen, um wieder Luft in die Halbkugeln einzulassen: die Rückkehr zur Welt – ein Kinderspiel. Diese politische Demonstration des Vertrauens hinderte von Guericke nicht, beispielsweise bei seinen Versuchen Vögel ersticken und Fische im Wasser platzen zu lassen. (Abb 1 aus: Ottonis de Guericke, Experimenta Nova (ut vacuntur) Magdeburgia de Vacuo Spatio, Amsterdam 1672, veröffentlicht auf: http://www.ohm-hochschule.de/bib/textarchiv/Guericke. Vacuo_Spatio. pdf, S. 121 - Zugriff 11/08; zuvor bei Gaspar Schott in: Mechanica hydraulico pneumatica, 1657, und in: Technica curiosa, 1664, ausführlich beschrieben.)

EINFÜHRUNG

geln61 vor den Augen des Königs im Jahre 1657 weiß jeder: Der Vorstellungsraum spekulativer Wissenschaft hat keine Wahrheit ohne ein Bedenken, ein Besehen, ein Bearbeiten des Darstellungsraums. Hat die Schiller’sche, die poetische Politik sich dadurch schon realisiert, dass sie den Grad der Erziehung an der ästhetischen Disziplinierung misst? Folgen aus den Inszenierungen Handlungsanweisungen oder sind sie performativ dieses Handeln selber? Diese Fragen bieten weitere Ausblicke auf die zukünftig in der Reihe Szenografie & Szenologie zu diskutierenden und szenifizierenden Ansätze.

4. Prospekt der Beiträge

Bei unserem Vorhaben, Inszenierung, Szenografie und Szenologie in theatralen, intermedialen und erweiterten Räumen zu denken, setzen wir weder auf archäologische Vollständigkeit noch auf universalisierende Gesamtschau. Die Beiträge leben vom Atemholen. Sie bereiten – um mit Derrida zu sprechen – die Spur einer Bahnung und die Bahnung einer Spur, wo Raum- und Zeitpositionen zur Disposition stehen. Allen Beiträgen jedoch liegt der Versuch einer Anbindung und Annäherung an bestehende Disziplinen zu Grunde, die den Bereich der Szenografie von dem immer wieder aufkeimenden Verdacht62 befreien, alles sei Inszenierung. Für Szenografie gilt die Epiphänomenalität von Schrift, die nicht Vorschrift, sondern osmotisch einen „Schauplatz des Stattfindens“ (Wetzel) protegiert. Sie kreditiert eine sowohl verführende als auch Vertrauen bildende Grenzüberschreitung (Pircher). Schrift wie Musik zur Verstetigung des Atems der Künste einzusetzen (Weismüller, Zenck, Meyer), fordert, alte Szenografien unter neuen technologischen Optionen zu betrachten. Je für sich öffnen die Beiträge dazu eine Tür. Der Szenograf ist Wanderer (Imorde) oder ‚Scout‘, besessen von dem Ziel, nicht anzukommen. In Odysseus, dem Insel- und Szenenspringer, hat er ebenso sein allegorisches Bild wie im urbanen Flaneur (Marschall). Das, was nie anwesend war, soll als Ereignis des Negativen dauern: Anfang und Evidenz (Bohn, Scorzin) der Inszenierung. In vergegenwärtigter Rand-Geschichte (Wolf-Gazo), im Einlassen auf technische und architektonische Verführung (Schramke/Bock) und labyrinthischen Durchgang (Thümmel/Stocker)

62 Zur Unlogik des Satzes „Alles ist Inszenierung“ vgl. Früchtl/Zimmermann: Ästhetik der Inszenie-

rung, a.a.O., 21. Der wichtige Hinweis zur Problematik der Darstellung von Abwesenheit, auf den sich Inszenierung bezieht (Aufführungscharakter), markiert zugleich die Unmöglichkeit der Setzung eines Anfangs ohne gleichzeitige Voraussetzung der Bedrohung eines Endes. Aus diesem anthropologischen und ontologischen Grund ist die Inszenierung das Spiel der Mitte. Allaussagen wie die obigen gehorchen dem Russel-Paradoxon, das nicht zulässt, zugleich innerhalb und außerhalb einer Inszenierung zu stehen: genau dieser Zustand bildet das funktionale Thema einer jeden Inszenierung.

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kontingentiert sich das Bild. Die Szenografie kommt nicht an, sie ereignet sich (den Oudsten). Ontologische Verweigerung wissenschaftlicher oder sonstiger Absolutheit gehört zum Effekt ihrer permanenten dichterischen Neuorientierung (Wilharm). In Reihenfolge der Beiträge in diesem Band sei dazu ein kommentierender Prospekt gegeben. Um der Frage des Ursprungs der Szene als einer „inszenierten Erinnerung“ nachzukommen, widmet sich CHRISTOPH WEISMÜLLER Wagners Rheingold. Musik ist nicht immer schon da, sondern kündigt sich an. Wie anders könnte der Ursprung sich zeigen als in der Widerständigkeit der Übersetzung von Hören in Sehen und davor von Klang in Musik? Die These, der Anfang des Rheingolds sei die erinnernde Manifestation „des Erwachen[s] aus dem Schlaf in den Traum“, verfolgt Weismüller am Vorgang der Klangdifferenzierung aus dem ununterbrochenen tiefen Es-Ton bis zur Rettung dieses binnensubjektiven Phänomens in einem Raum der Sichtbarkeit. Wie anders kann Gedächtnisrettung von Klang erfolgen als eben durch „inszenierte Erinnerung“, Rettung in die Klangbildhaftigkeit der Szene als „Darstellung der Vermittlung zwischen der Musik und dem Bühnenbild“. Weismüller geht dem Spiel der Rheintöchter und ihrer wachenden Bewachung detailliert nach. Die Töchter durchspielen die Genesis medialer Differenzierung, die in der Wache Alberichs jäh erstarrt: die gehortete Tauschsubstanz ist das Rheingold. Im Gold kommt die Selbstthematisierung von Ich, Ich-Anderem und Anderem zur Ruhe. Der „inszenierte Wunsch […] wird zur szenischen, ästhetischen und des Weiteren auch zur technischen Realität, zum Beispiel, zum Theater, zum Film, gewendet“. Es macht die Leistung der Szenografie Wagners aus, sich mit seinen hochdifferenzierten Bühnentechniken der intellektuellen Effekthascherei zu widersetzen. Mit Wagner, so Weismüller, sind der tiefste Grund wie die avancierteste Möglichkeit der szenografischen Genesis konzeptualisiert, reflektiert und realisiert. Im Gegensatz zu Weismüllers gesamtheitlichem Darstellungsansatz der Szene wagt RALF BOHN, nach dem Ursprung der Szene im Sinne eines ersten signifikanten Ereignisses zu fragen. Was heißt das, wenn man im vulgären Sprachgebrauch davon spricht, ‚eine Szene zu machen‘? Offenbar ist der Begriff „Szene“ dem Versuch geschuldet, die eigene Ursprungsmarkierung von außen zu erfassen. Vom Selbstverhältnis erfährt die Szene ihre Spaltung und ihre performative Einheit. Die ontologische Frage nach dem ersten Signifikanten karikiert sich in der hysterischen Diktion der „Szene“ als Versuch, der „Seinsvergessenheit“ nachzudenken. Räumt man dieser Frage Raum ein, so „lichtet“ sich die Szene als unendliches Spiel, in dem die anthropologische wie individuelle Geburt durch den Anderen vorenthalten wird. Als Fluch dieser Inversion der Signifikation – der eigentlichen szenografischen Basisarbeit – perpe-

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tuiert die Neutralisierung des Geschlechts (eine universelle Medientauschbarkeit) und die Fixierung auf eine zweite, selbstermächtigte Geburt: die Personalisierung des Subjekts. Diesen Vorgang von Kastration und Selbstermächtigung als Realität von Kultur demonstriert das Versteckspiel. „Verstecken zeigen“, so Lyotard, „das ist Theatralität.“ Sich verstecken heißt, dem Sexus und der Geschlechtsdisponiertheit entsagen, um in der Entdeckung seines eigenen Namens und der Personalisierung aus der Hysterese des szenischen Spiels hinauszutreten. An drei Inszenierungsbeispielen illustriert Bohn seine für den Produktionscharakter einer Szene grundlegenden Überlegungen. Erstes Beispiel ist die Verfilmung des Theaterstücks Wer hat Angst vor Virginia Woolf. Sie thematisiert die phantasmatische Zeugung und Tötung eines Sohnes durch ein hysterisch unfruchtbares Paar, das im Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton besetzt ist, deren hysterische Eskapaden mehr als ein Jahrzehnt auch die ‚Yellow Press‘ in Atem hielten. Das zweite Beispiel widmet sich dem Film Das Leben ist schön von und mit Roberto Benigni. In diesem Film geht es unter anderem um das Versteckspiel eines kleinen Jungen in einem Konzentrationslager und die Inszenierung des Vaters, die es dem Jungen ermöglicht, das Grauen als Teil eines weit angelegten Gewinnspiels glaubhaft zu machen. Verstecken und Inszenieren sind retroaktiv miteinander und mit den Positionen des Wissens verwoben. Zum Dritten widmet sich Bohn den phänomenologischen und soziologischen Stationen, die eine Gruppe Kinder durchschreitet, wenn sie ein Versteckspiel inszeniert und das Spiel als Enthierarchisierung und Befreiung der Signifikantenstarre erlebt. Versteckspiel zeigt sich als parthenogenetische Selbstanmaßung des Zeugungs- und Geburtsvorgangs, in dessen Zentrum die Aneignung des Eigennamens steht. „Eine[r] Wende zu neuen Raumfragen und eine Wende zu neuen Fragen nach Theatralität“ widmet sich PETRA MARIA MEYER in ihrem Beitrag Der Raum, der Dir einwohnt. Gemeint ist die Hinwendung zu einer räumlichen Existenz, die sich als wahrnehmbare und wahrnehmende „Raumorganisation“ relational entfaltet. Damit wird der Ursprung der Szene in der Differenzerfahrung von Körper, Leib und Anderem ausgemacht. Die „Bühne der Einbildung“ korrespondiert mit dem „Schauspiel der Welt“. Existenz kann nicht anders als sich in der Selbstbegegnung über den Dritten räumlich zu konstituieren. Die Neubewertung des theatrum mundi auf die Theatralitätsdiskurse zurückgewendet macht eine Unterscheidung „zwischen Konzepten von Theatralität, die darin ein Spezifikum des Theaters sehen, und Konzepten, die das Theater nur für einen speziellen Fall von Theatralität“ halten, notwendig. Erweiterter Raum heißt für Petra Maria Meyer, nach Barthes, „illimiter le langage“ – nicht nur im Sinne eines die Bedeutungen überschreitenden Zeichentauschs, sondern auch einer Entgrenzung in mediale Sprachmodifikationen. Welt und Existenz

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werden relational leiblich vermittelt gedacht. Die Selbstkonstitution ist nicht mehr projektiv auf das klassische Bühnengeschehen abbildbar und bedeutsam, sondern schafft sich einen pulsierend-entgrenzenden Theatralitätsraum: Theatralität, Intermedialität, Erweiterter Raum – die Leitbegriffe werden generativ in Bewegung gesetzt. Die akustischen Künste insbesondere erweitern die Raumvorstellung. Den Ansatz der „Verräumlichung der Schrift“ (Derrida) nimmt Meyer zum Anlass, einen „Wandel der Bühnenraumkonzepte“ als ein „In-mitten-Sein“ (Merleau-Ponty; siehe auch den Beitrag von P. Scorzin) zu konstatieren. Die Mittenbetonung ist gleichwohl einer Topologie enthoben, insofern sich mediale Performanzen in ihrer Mittigkeit nicht zentrieren lassen. Als „In-mitten-Sein“ wird vielmehr „Wohnen“ mit der von Heidegger abweichenden Bedeutung verstanden, wie sie Merleau-Ponty hervorgehoben hat: „Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein.“ Die Mitte-als-Existenz verweist auf „ein infinites Spiel von Differenzen“, die entweder als Mangel (Lacan) oder als Überschuss (Merleau-Ponty) erfahren werden können. Diese Erfahrungsweisen ermöglichen eine qualitative Dimensionierung von Raum. Das heißt, die Zeichen haben aufgehört, in Registern des Bedeutens zu regieren. Sie sind performativ entmachtet. Petra Maria Meyer präzisiert das mit dem Begriff der Immersion. Eine solche dezentrierte Mitte zeigt die Analyse einer Tanzdarstellung in einem „Weltraum“ besonderer Art: ICH2 [Ich hoch zwei] – Tanz intermedial für Planetarien wird im Kieler Planetarium aufgeführt. Die Dezentrierung geschieht über die Figur des Schattens wie die des Doppelgängers und führt zur Ausgangsthese zurück, dass nämlich Theatralität die Gedoppeltheit von Innen- und Außenerfahrung im theatralen Außen selbst darstellbar zu machen versucht. Eine weitere Analyse widmet Petra Maria Meyer einer Choreographie von Klaus Obermaier unter dem Titel Apparation. Obermaier könnte – so der Eindruck – eine Intention Adornos zum Anlass genommen haben, eine Rückprojektion von Schrift auf den Körper zu generieren, so dass hier die Auflösung der Körpergrenze als Projektionsfläche ebenfalls die Verräumlichung narzisstischer Immanenzbestrebungen exemplifiziert. Im Szenischen kann gezeigt werden, dass die ganze Welt draußen, inmitten der Anderen stattfinden muss. Körper im Raum imponiert akustisch. MARTIN ZENCK untersucht aus diskurstheoretischer Sicht ein Gespräch zwischen Pierre Boulez und Michel Foucault, die am Collège de France ab 1976 einen intensiven Austausch pflegten. Dieser Austausch betrifft leider nur am Rande die von beiden theoretisch forcierte Diskussion um die Bedeutung der Raumbildung in der Musik, die Stockhausen „ausdrücklich unter dem Terminus ‚Tonort (Topik)‘ mit Blick auf ‚Boulez, Pousseur und Berio‘“ entwickelt hat. Zenck konstruiert einen „fiktiven Dialog“ Foucaults mit Boulez, der – in Rücksicht auf die Formel des Parsival („Zum Raum wird hier die Zeit“) und deren Umkehrung durch Foucault – das 20. Jh. als das „Zeitalter des Raums“ bezeich-

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net hat. Die Foucault’sche These vom Primat des Raumes begründet sich durch die Möglichkeit zunehmend simultaneisierter und synchronisierter Ereignisformen, die unter instrumentellen und tontechnischen Gesichtspunkten die Musik ab den 50er Jahren zu einer „verräumlichenden Kunst“ werden lassen. Zenck wendet sich einer Gruppe von Beispielen zu, in denen die räumlichen, klanglichen und Aufführungsrespektive Aufzeichnungstechniken Hörer und Klangkörper in relationale Bewegung bringen. Damit werden Bewegungs- und Ausdrucksformen dialogisch bis zum LiveSampling aufeinander bezogen. Der Klangkörper und sein Double (Lautsprecher) irritieren die Verortung von Musik wie den Standort des Hörers, indem sie, nach Tabori, „Inszenieren“ als „Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln“ zulassen. Daraus lassen sich natürlich auch ganz andere Einbeziehungen – der Choreographie, etwa des Balletts in Stücken von Paul Claudel – ableiten. Die räumliche Bewegung von Musik und Klang korrespondiert mit der Ortlosigkeit eines pluralen Subjekts. Mit Erfindung des sogenannten „Spatialisateurs“ gelingt es, noch den Ort des Instruments mittels räumlich angeordneter Lautsprecher in Echtzeit durch den Raum zu jagen. Dieses szenografische Potential des Bewegungsklangraums in Erweiterung des Bewegungsbildes (Deleuze) macht die neuesten Kompositionen dem visuell gebundenen Bild überlegen. Hier ist der Moment, die Raumkonzepte von Foucault und Boulez erneut auf ihre Thematisierung der Ortlosigkeit, wie sie etwa der Konzertsaal in Ircam realisiert, zu befragen. „Multidirektionale und multivektorielle“ Klangräume behaupten sich nämlich als – so Foucaults Begriff – „Heterotopien“, denen auf dem Gebiet der Verortung nur die Schwerelosigkeit gleichkommt. Heterotopische Klangräume zu szenografieren, heißt, den Bewegungslärm der Stadt kompositorisch zu bearbeiten. Martin Zencks Ausführungen verdeutlichen, dass es mehr als reizvoll ist, auch 20 Jahre nach Foucaults Tod eine Diskursbestimmung neuester elektronischer Klangkunstwerke durchzuführen, die den visuellen Werken, so scheint es, technisch und im Bezug auf Körpererfahrung um Jahrzehnte voraus sind. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive ist die Hinwendung zur Ephemerisierung und Auflösung des Werkhaften zweischneidig, wie JOSEPH IMORDE in seiner Darstellung Das Ephemere betont. Denn Rettung des Ereignishaften als je stattfindende Aktualität im Medium der Geschichte muss immer den Wandlungen einer Kontextualität ebenso gerecht werden wie einem „intendierten Medienwechsel in die relative Ewigkeit des Diskurses.“ Die kunstwissenschaftliche Diskursverantwortung hat sich immer auch dem klaren Blick von Wolken, Dünsten, Nebeln gestellt und z.B. Unschärfe als eine präzisierbare Technik von Distanzierung bestimmt. Die Genauigkeit, mit der man sich Ereignissen und Inszenierungen zu nähern hat, verdeutlicht Imorde an einer Druckgrafik, die das liturgische Zeremoniell Papst Gregor des XIII. in nachvollziehbare und reglementierende Choreografie verwandelt, die zeitlichen

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und persönlichen Exzessen der Riten entgegentreten will. Eine solche „Semiotisierung des Raumes“ (Braungart) leitet die szenografisch geschulte kunstwissenschaftliche Betrachtung, auch indem sie die „Mischungs- und Entmischungsvorgänge“ von Architektur und Kunst noch einmal in den Blick nimmt und damit das ephemere Wissen in ein konzeptuelles verwandelt und für die Programmatik szenografischer Strategien vorbereitet. Imorde plädiert für eine Genealogie kunstwissenschaftlicher Begrifflichkeiten, die immer noch zu stark von „Rezeptionsästhetik“ und Subjektzentriertheit geprägt sind und das „Eintauchen“ in bedeutungsgestörte oder entleerte Kunst- und Architekturräume mit ihren Sogwirkungen für Imagination und Erinnerung erschweren. Der Betrachter vor einem Bild – die klassische Szene der Kunstwissenschaft – muss als Spezialfall von sich verändernden Diskurstopologien gesehen werden. An markanten Installationen (Blur-Building, On Mice and Men) prüft Joseph Imorde die Detopologisierung kunstwissenschaftlicher Kategorien hinsichtlich neuer szenografischer Techniken. „Abstieg in die zerklüfteten Spiralen der Zeit“, so entwendet er das Motto der Kuratoren von On Mice and Men. Es könnte auch als Projektskizze einer Kunstwissenschaft dienen, die die „verschlungenen Kontextualitäten ephemer-situativer Ereignisse wieder in dokumentierende ‚Feststellungen‘ hinüberrettet“ und so das Szenische ihrer selbst in den Blick nähme. Unter dem Titel Öffentlicher Raum als theatraler Raum: Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung versammelt BRIGITTE MARSCHALL u.a. die wichtigsten Vertreter einer „Situationistischen Internationale“, um eine psychogeographische Darstellung der mit Walter Benjamin beginnenden Interpretation der Stadt als Inszenierungsraum zu beschreiben. Benjamins Verweise auf den Flaneur als Kritiker der städtischen Bewegungsgeschwindigkeit, wie sie später Virilio im höheren Gang beobachtet, spielt auf die Erschließung städtischer Räume nicht nur als Tauschorte, sondern als Bewegungsräume an. Die Stadt wie einen Text zu dechiffrieren, heißt für Marschall, die „Praktiken des Gehens“ im gesellschaftlichen Raum zu fördern und nicht als eine Krankheit der ausufernden Stadt zu disqualifizieren. Es wird, mit Michel de Certeau, „zwischen Ort (Lieu) und Raum (Espace)“ zu unterscheiden sein. Der Flaneur schafft eine „Inszenierung des Gehens“, ist „Stadt-Jäger“ gegenüber dem „Text-Jäger in der Gestalt des Lesers“. Dem Flaneur wird die Stadt Interieur. Der Rückeroberung der Raumbildung ist verschiedentlich in den 50er und 60er Jahren die Kunstgruppe um Guy Debord und Chtcheglov mit dem Versuch „psychogeografischer“ Rückerinnerung nachgegangen. Die Gruppe setzt auf ein drogiertes Abdriften, bewusstes Verirren und Fragmentieren der Stadtlandschaften, um die schon zur Evidenz herabgesunkenen urbanen Welten neu zu beleben. Brigitte Marschall zeigt – auch an den Initiativen und Happenings von Wolf Vostell orientiert –, dass die Wiederbelebung nicht an der Zerstörung einer Architektur ansetzt, die bereits

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die Städte einer konsumistischen Eventkultur preisgegeben hat, sondern an einer subversiven Guerillatätigkeit, wie sie in einigen Protestbewegungen der 68er Generation konzeptualisiert wird. Certeau hat später die Unmöglichkeit erkannt, „die Lebendigkeit des Alltags in Landkarten zu übertragen“. Besser greifen die absurden Handlungsanweisungen, die Vostell zur Aktivierung des öffentlichen Raums initiiert. Erst wenn die Stadt wieder zum Bewegungsraum und „die Straße zur Bühne“ geworden ist, kann der von den Künsten beanspruchte Auszug aus der Musealisierung ernst genommen werden. Brigitte Marschall plädiert auf ihrem Weg in die urbane Geschichte der Bewegungsinszenierung für ein nomadisches Konzept, wie es Deleuze und Guattari für die 70er Jahre propagieren. „Als Abwehrreflex“ gegen die urbane Bewegung stellt sich erneut eine Mobilität der Architektur ein: „mobile Strände und Eislaufplätze“, Love Parade und karnevaleske Umzüge. Dass Inszenierungen nicht unbedingt nur Kirmesattraktionen sind, die den Sinnen Ablenkung und Verführung bieten, macht WOLFGANG PIRCHER mit seinem angesichts der Finanzkrisen hochaktuellen Beitrag verständlich, indem er über die Inszenierung von Vertrauen spricht. Die „Theatralität des Geldes“ ist in Kreditgesellschaften unmittelbar an die Inszenierung von Vertrauen geknüpft, und diese an den guten Namen. Das lässt die Frage aufkommen, wie denn vertrauenswürdige Inszenierungen von solchen des bloßen Scheins, Wahrheit von der Lüge unterschieden werden können? Kann nicht auch eine schöne Lüge ihre Wahrheit haben, die Poesie heißt? Zentrales vertrauenbildendes Medium ist die Sprache respektive sprachliche Inszenierung. Sprache, die an sich die Darstellung des Undarstellbaren (Phantasie) ist, unterschiebt einen Glauben, dessen Kredit man nur im Jenseits einlösen muss, falls überhaupt. Sprache als Gabe hat unbeschränkten Kredit – so jedenfalls, wenn man Pirchers Erzählungen über die Spezies des „Confidence Man“ vertrauen kann, der als gerissener Trickbetrüger in vielen Masken Leuten lächelnd und sprachgewandt das Geld aus der Tasche ziehen kann, und zwar so, dass diese von der Freiwilligkeit der Gabe überzeugt sind. Im Amerika um die Mitte des 19. Jh. hat die Popularität dieser Trickbetrüger gerade die ihm verwandten Dichter zu Phantasieprodukten angeregt. Herman Melville hat in seinem Roman The Confidence Man. His Masquerade (1857) einen solchen Betrüger zum Titelhelden gemacht. Pircher widmet sich vor allem der inszenatorischen Wortgewandtheit und bezieht damit die Kunst der Literatur schlechthin in die Frage der Glaubhaftigkeit mit ein: Betrug setzt sich in Szene, aber als literarisches Produkt. Die Frage, warum denn Szenografie das griechische Wort graphein beinhaltet, beantwortet sich evident. Mit den schreibenden Künsten ist die Illusion und Treu und Glauben beinhaltet, dass die Materialisation weniger gilt als die Einbildung, die sie erzeugt: der Tauschwert dominiert den Gebrauchswert schwarz auf weiß. Der Confdence Man ist, so Pircher, „das Medium“,

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in dem Mitmenschlichkeit (Vertrauen, Glauben) […] mit dem Impuls der Bereicherung“ ein Tauschverhältnis eingeht. Die kommunikative und sozialisierende Kraft des Kredits hat ihren Höhepunkt in der auf dokumentarischen Quellen beruhenden Confidence Woman. Man kann sich vorstellen, dass die Verführungs- und Überredungskunst als Gabe der Sprache bei einer Frau, wie sie die naive, unschuldige und arme Thérèse Daurignac verkörpert, die eines jeden Mannes überragt. Dennoch ist man von der Leichtgläubigkeit der Menschen irritiert, wenn man voll Staunen die unglaublichen Höhen ihrer Inszenierungen von Vertrauen liest. Es ist schon beinahe völlig unglaubwürdig, dass aus diesem armen Bauernkind durch Lug und Betrug bis in höchste Ministerkreise über zwei Jahrzehnte ein Lügenimperium aufgebaut werden konnte, welches das Frankreich des ausgehenden 19. Jh. tief erschütterte. Wer aus den Intimitäten dieser Münchhausengeschichten der Daurignac, die, bevor der Schwindel aufflog, aus ihren Luftschlössern mehrere reale gemacht hatte, in diesem Fall Gewinn zog, war ebenfalls ein Dichter: Emile Zola, der, wie auch der Staatspräsident, gelegentlich im realen Luftschloss der Daurignac und bei ihrer professionell betrügerischen Familie verkehrte. 1890 publiziert Zola seinen Roman Das Geld (L’argent) und macht eine der damals üblichen Eisenbahnspekulationen zum Thema literarischer Glaubwürdigkeitsinszenierung. Pircher gelingt es, mit seinem Blick auf die Verwertungskompetenzen der Literatur die Problematik von kommerziellen und künstlerischen Inszenierungen in die Mitte zu rücken. Szeno-Graphie – gegen alle lärmende Mediendiversifizierung – darf sich immer noch auch der Schrift als legitimem Erbe versichern, auch wenn die Exklusivität des Buches durch die Pflicht der Buchführung entwertet worden ist. Mit Foucault hat Martin Zenck einen Grundbass der Diskussion um die Darstellungsform von Ereignissen und den Zwang ihrer Bemächtigung angeschlagen, dessen Orchestrierung HEINER WILHARM in seinem Essay Ereignis, Inszenierung, Effekt nachgeht. Die Beispiele, die er dazu anführt, entstammen nicht dem modernen Spektrum der Szenografie, sondern sind phänomenaler orientiert an der Frage von Macht und Herrschaft über Darstellungsverhältnisse und -techniken. Das initiierende Beispiel geht bezeichnenderweise Spuren einer dichterischen Ereignisbestimmung nach, die immer zugleich Darstellung ist. Die Bucolica Vergils beschreibt in des Dichters Worten und in Gegenwart seines Alter Ego eine Landschaft und deren Umgestaltung durch ‚historische‘ Ereignisse um 50 vor Christus. Nicht nur Literaturarchäologen sahen sich in der Lage, den Ort zu verifizieren, von dem aus heute die nicht dargestellte Historizität der Dichtung touristisch als Event realisiert werden kann. Dass in Dichtung das Ungesagte das Ereignis darstellt, hat auch Historiker immer wieder dazu verführt, die Lücke mit geschichtlichen Ereignissen zu füllen. Verkannt wird

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dabei, dass das Ereignis seit der Aristotelischen Poetik immer schon dem Unsagbaren verpflichtet ist, einer Wahrheit, die sich durch die Vielfalt auch mythischer Wiederholungen als Realität nur ‚verdichten‘ kann. So wie erst eine unzählige Anzahl von Experimenten ein wissenschaftliches Gesetz als evident erweist durch den Effekt der Wiederholung und die erreichte Akzeptanz. Dichtung ist immer nur Verdichtung – dem Umstand Rechnung tragend, dass das Darstellungsproblem die Wahrheitsfrage herausfordert. Sein zweites Beispiel nimmt der Autor aus der Fülle der Geschichtsschreibung Paul Veynes, der sich im Namen des Ereignisbegriffs auf den Realgehalt der dichterischen Darstellung Vergils bezieht, um zu zeigen, dass es der Dichtung wie der Historie immer um die zukünftige Proliferation, also um die Unabschließbarkeit der Wahrheit und somit der Kommunikabilität geht. Dies eigens zu zeigen, bedeutet zu inszenieren. Veyne ist sich dessen bewusst. Von der Poesie über die Historiographie gelangt Wilharm zu den ‚harten‘ Wissenschaften. Vom auf Foucault gestützten Programm der Geschichte, dem sich Paul Veyne verschrieben hat, zum verwandten Wissenschaftsgeschichtsprogramm Michel Serres’ und zu Isabell Stengers, deren Epistemologie sich unter anderem und exemplarisch den ‚Galilei-Affären‘ zuwandte. Um den Vergleich der Konzeptualität von Ereignis und Dichtung respektive glaubensträchtiger Ritualisierung geht es auch hier: ob Galilei sich selbst inszeniert und – „als Gewährsmann der Tatsachen“ und „Statthalter der Wahrheit“ – defizitäre Kenntnis wissenschaftlicher Methodik heroisch kompensiert oder ob es die Neuinszenierungen der Nachkommenden sind, die sich der kopernikanischen Wende schreibend widmen. Arthur Koestler etwa findet bei Galilei eine der Aufführungen der wiederkehrenden Schlachten von Aufklärung und Gegenaufklärung, die bis in die Gegenwart währen. Und auch diejenigen Wissenschaftshistoriker, die tun, was Historiker gewöhnlich tun, Parteilichkeiten und Traditionen von Parteilichkeit zu legitimieren – womit sie sich ohnehin aufs Feld der Politik begeben – realisieren ihre Szenografien. Schließlich setzen selbst die experimentellen und theoretischen Praktiken der (Natur-)Wissenschaftler, die sich vermeintlich mit ganz eigenen „epistemischen Objekten“ beschäftigen, auf die Effektivität szenografischen Know-hows. Die Beispielfolge, in der Wilharm die Frage nach der Inszenierung und der Szenografie auch an die Usancen der Wissenschaft stellt (und im Verlauf der Argumentation auch an modernen epistemologisch relevanten Beispielen, wie etwa der Geschichte der Genetik, realisiert), indiziert die Totalisierung der Darstellungsabhängigkeit von Ereignissen jedweder Art, auch in der Fabrikation wissenschaftlicher, „harter Tatsachen“ – und noch vor der Differenzierung von Auffindungs- und Darstellungskontexten und vor jeder medialen Differenzierung in Formen von „Gegebenem“.

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Mit seinen einleitenden Bemerkungen unter der Überschrift „Ontologie Ereignis“ stellt Wilharm die Weichen für seine Untersuchung. Durchaus ventiliert er die Qualitäten des Ereignisses als Unsagbares. Er bestätigt eine Definition, die Ereignis als das bestimmt, „was unablässig in der Wiederholung seiner Beschreibung und zugleich außerhalb dieser Beschreibung statt hat, der es eben nie gelingt, das Ereignis zu erfassen“. So wird das Ereignis „zur Wiederholung seiner eigenen Abwesenheit“, so dass das „wirkliche Ereignis im Ereignis [...] gerade in der Erwartung des Ereignisses und im Angedenken an es enthalten“ ist. Das heißt, es drängt zu einer (sich selbst) darstellenden Tat. Mit Peirce und aus seiner metaphysischen und semiotischen Perspektive wendet sich Wilharm den logischen und ontologischen Problemen von „Erstheit“, „Zweitheit“ und „Drittheit“ zu und den Fragen ihrer faktischen Identifizierbarkeit, Fragen, die für eine Typologisierung von Inszenierung und Szenografie wesentlich erscheinen. Mit ausdrücklichem Bezug auf die Aristotelische Tradition von Poetik und Rhetorik und gestützt auf die Effekttheorie Foucaults, die anstelle einer Legitimitätsprüfung in Erwartung letzter Kausalitäten auf eine „Ereignisprüfung“ (Foucault) setzt, empfiehlt Wilharm fürs erste Zweckoptimismus. Wobei der „Zweck der Inszenierung in allen Fällen darin [besteht], einen Effekt zu erzeugen“, der das Ereignis als gewollt und somit die Diskursivität für würdig und wiederholbar erachtet. Die Mängel von Inszenierungen werden gleichsam zur Triebfeder beständiger Diskursivität. Ob sie sich, mehr oder weniger gerechtfertigt, aufblähen können zu Tatsache oder Wert, ist abhängig davon und absehbar daran, ob oder dass ihre Effekte zu Ereignissen werden, die Akzeptanz, Vertrauen finden. Davon, dass ein entsprechender gesellschaftlicher Tauschakt vollzogen wird. Eine Diskussion dessen, was unter Ereignis und Event zu verstehen ist, so zeigt Wilharms ausführliche Analyse, ist nicht am Argument der Authentizität und Ursprünglichkeit zu erweisen, das den Bannungsort des Zufälligen und Nichtinszenierten behauptet. Erst in der Inszenierung steht das Gewollte und Nichtzufällige in Rede. Mit den systemtheoretischen Konzeptionen von Wahrscheinlichkeit zu operieren, wenn von wissenschaftlicher Beweiskraft die Rede ist, zeigt die Sprengkraft der Aufdeckung vorwissenschaftlicher Geltungsformen, deren Gedächtnis die Einsicht von Dichtung ist. Wilharm liest auf diese Weise Aristoteles gegen den Strich. Dass sich aus diesem Verhältnis von Inszenierung vs. Nichtinszenierungsbehauptung eine Reihe von Übergängen zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Inszenierung konstruieren lassen und zugleich auch die Effektivität von szenografischen Techniken auf allen Ebenen kultureller Ereignisplatzierung beweist, zeigen seine abschließenden Analysevorgriffe auf eine ausgebildete Theorie der Szenografie. Dabei verbleibt er nicht im positivistischen Programm aristotelisch-foucault’scher Prägung. Mit Rückgriff auf Platons Kritik der Rolle des Künstlers in der Polis erweitert Wilharm die ästhetische Debatte um ethische Gesichtspunkte. Angesichts der

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schon von Platon aufgeworfenen Problematik einer „Deplatzierung der Sichtbarkeit“ durch die freien Kräfte von Kunst, Gestaltung und Design streicht Heiner Wilharm die Dialektik von Szenografie und Obszenografie heraus, die Notwendigkeit, schon den Szenografien möglicher Inszenierungen auf dem Weg paradoxer Intervention nicht nur Selbstbewusstsein, sondern auch gesellschaftliche Verantwortung an die Hand zu geben. Was haben Szenografien der Eames-Brüder und Figuren in den Filmen Jacques Tatis gemeinsam? Dieser Frage gehen SANDRA SCHRAMKE und WOLFGANG BOCK nach. Die Ausstellungsarchitektur von Charles und Ray Eames, die sich zu Beginn der 60er Jahre der avanciertesten Bildprojektion und Architektur bedient, um direkt oder indirekt die Propagandamaschine des ‚American way of life‘ zu protegieren, unterstellt sich den zur damaligen Zeit neuesten kybernetischen Marketingmethoden. Heutige Informationstheorie, die in ihren tayloristischen Flegeljahren diesem Steuerungsaspekt und einem Objektivismus der Maschine den Weg bereitete – in der Allianz von US-Propaganda und IBM-Werbung – glaubte noch an die Reaktionswilligkeit eines auf Reiz und Schock dressierten Publikums zur Erzeugung von Sentimentalität – wider ihre inszenatorische Raffinesse. Zu einer Zeit, da sich ein Weltausstellungspublikum noch dem unbedingten Paradigma des Fortschritts und der heilsamen Wirkung von Schocks unterwirft und Roboter sich als Prothesen des defizitären Körpers andienen, scheint für die fragmentierten Dia- und Filmshows der Eames wesentlich zu sein, dass sie mit Pseudodigitalität analoge Effekte zu streuen vermögen. Schramkes und Bocks Einführung in diese kurze Epoche der Technikeuphorie inszenieren den Menschen als vermittelnden Diener im Übergang zur Ganzkörperprothese von Zeichentrickfiguren. „Nach den Lehrsätzen der Kognitionstheorie wie Shannons Kommunikationsmodell funktioniert das Gehirn analog zu technischen Systemen.“ Diesen Satz wird heute niemand mehr unterschreiben, verquickt er doch Digitalisierung mit der Darstellung im Analogen und dementiert die Behauptung, Kommunikation wäre überhaupt als Information zu formalisieren. Auf diesen Widerspruch weisen – parallel zur Fortschrittsideologie, die bei den Eames im IBM-Pavillon der Weltausstellung 1964/65 noch protegiert wird – die kritisch reflektierenden Filme Tatis hin. Während bei den Eames ein Diener im Frack „die Rolle eines Instrukteurs“ spielt und als Vermittler von Mensch und Technikinszenierung hilfreich ist, spielt der rasende Postbote in Tatis Schützenfest (1947) als versagender Dienstbote wider den Propagandarummel der Amerikanischen Post die Karte französischer Selbstinszenierung aus. „Die Technik setzt insbesondere in der Filmtechnik ein bestimmtes Gesellschaftsverhältnis in ein bestimmtes Darstellungsverhältnis um.“ Nach diesem Grundsatz zeigt Tati, dass Frankreich zwar technisch unterlegen sein mag,

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inszenatorisch aber auf der Höhe der Zeit ist. Die inszenatorische Avantgarde trifft auch für die Eames zu, unterstellt aber die Inszenierung dem Mechanismus einer von Schock und Schnitt geprägten Welt, die Tati in die Effektivität des Lachens verwandelt: der Einsicht in die Unmöglichkeit, den Tod auf dem Wege der Maschinisierung überholen zu können. Psychoökonomisch hat dieses Lachen eine zirkuläre, entlastende Funktion, während der lineare Fortschrittsbegriff hortenden Waffencharakter ausbildet. Das Schützenfest Tatis schießt nicht gegen den Körper, sondern gegen die Gewalt der Inszenierung des Fortschritts, der sich als Film im Film und damit als Inszenierung der Inszenierung zeigt. Die Selbstreflexion der Inszenierung, gibt dem Körper seine Leiblichkeit zurück, statt Mimesis einer dienenden Unterwerfung Vorschub zu leisten. Im Inszenieren öffnet sich so der Raum für eine Mimesis des Unkalkulierbaren, des Kommunikativen und Poetischen. „Anders gesagt, er [Tati] fällt auf diese Weise aus einer Aufteilung in Bewegungs- und Zeitbilder (Deleuze) heraus und beharrt auf der Mimesis als Bedingung jeder szenografischen Inszenierung, wenn man darunter die Übertragung auf die Leiber der Zuschauer versteht.“ Ein Plädoyer für eine szenologische Fundierung „post-medialer Gestaltungspraxis“ in einer „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ gibt PAMELA C. SCORZIN unter dem Titel MetaSzenografie ab. Ihr schlagendes Beispiel für die neueste Umwertung und Verwerfung der strategischen Begriffe Realität, Virtualität, Imagination ist der Länderbeitrag von Janet Cardiff und George Bures Miller The Paradise Institute auf der Biennale in Venedig 2001. Bei der Installation handelt es sich um einen bewusst konventionell theatral arrangierten kleinen Kino- oder Theatersaal, zu dem das Publikum, von Platzanweisern eingeladen und mit Kopfhörern versehen, eine Art „schnell zusammengeschnittenen Trailer für einen Film“ zu sehen bekommt. Saal und Projektion entpuppen sich jedoch als verführerische Kulisse für den eigentlich performierenden Sound, den die beiden Künstler geschickt vom Film in die Wirklichkeit der Zuschauerreihen lenken. Einmal mehr zeigt sich, dass Raum- und Realitätsverortung dominant über den Ton und nicht über das Bild koordiniert wird. Dem iconic turn hat Petra Maria Meyer jüngst in einer umfänglichen Aufsatzsammlung den acoustic turn zur Seite gestellt.63 Während Zenck und Weismüller in ihren Beiträgen im Raum von Musik eine Erwartungsverführung erfüllen, dementieren Cardiff und Miller, so Scorzin, das Leitmedium der Visualität, in dem – nach Foucault – Gouvernementalität herrscht. Die Nähe und Ferne von inszeniertem Realton und -sound (Türklopfen, Handy-Klingeln), die an Filme Hitchcocks oder Lynchs erinnern mögen, realisieren sich unmittelbar. Artifizieller Sound lässt sich

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Petra Maria Meyer (Hg.): Acoustic turn, a.a.O.

EINFÜHRUNG

schlechterdings nicht als Simulation erfahren, sondern muss in der „Entkopplung von Figuren und Stimmen“ für echt gehalten werden und „destabilisiert somit die ‚gesunden‘ Differenzierungen und Markierungen von real und imaginär, fiktiv und objektiv“. Mit dem Gegenbegriff des Pathogenen, der „Anomalien“, werden alle Gespenster psychopathologischer Besetzung aufgerufen: Tinnitus, Stimmenhalluzination, psychotische Krisen, die sich wider den Leitsinn des Sehens Körperautorität eigenmächtig sichern. Pamela C. Scorzin spricht vorsichtiger von „Erfahrungsgestaltern“, die weniger die autoritative Kontrolle über die Geltung von Realität und Inszenierung als vielmehr die liminale, limitierende und temporäre Führung in der Projektarbeit solcher szenografischer ‚Szenerien‘ präsentieren, die den dualistischen Schein von Wahrheit und Schein logisch, und zwar szenologisch als „Metaszenografie“ in Erfahrung bringen. Für die Kommunikation mit den „Prosumern“ (Weibel), die sich auf diese Erfahrungen einlassen, prägt Scorzin treffend den Begriff „Quanten-Szenografie“. Denn auch in der Szenifikation physikalischer Quantenräume ist einem Drittenurteil überlassen, wer Verführer und Verführter ist. Cardiff und Miller überschreiten mit ihrer gegen die Kinoinszenierung eindringenden Realsoundinszenierung alle hilflosen Versuche von Virtual Reality. Die operativen Begriffe der Überschreitungen leitet Scorzin ebenfalls ab: „Shifting, Spacing, Staging, Condensing, Stimulation, Fusing, Crossing over und Delimiting.“ Dass sich die Fragestellung der Erweiterung nicht an die Topologie des Raumes, sondern an jede Differenz bindet, zeigt MICHAEL WETZEL in seiner Darstellung eines „inframedialen“ Ereignisraumes, der dynamisch zu denken ist. Ausgehend von Heideggers Markierung eines „Zeit-Spiel-Raumes“ öffnet Wetzel den Blick für den Blick und dessen Unruheposition. Dieser reflektierende Blickwechsel erlaubt, von einem zeichenbezogenen Theorieraum in einen medienbezogenen ‚Realraum‘ umzudisponieren. Er nimmt dabei, von Platons Begriff „Chora“ ausgehend, – eine Beziehung zwischen Sehraum und Blickraum – jene minimale Differenz des ‚triton genos‘ zum Ausgangspunkt. Die Bewegungen der Reflexion, der „Inversion“, „Torsion“, verbinden sich zu einem taumelnden Tanz und choreografieren eine Leib-Raum-Spur, die als osmotische Grenze die Extensionsversuche des Körpers vor den Medienablösungen darstellen. Was wir heute als mediale Ausdifferenzierung bezeichnen, ist der Versuch einer stillstellenden Orientierung in einem vom Körper abgelösten Leib-Raum, der von beständigen Blickwechseln zwischen Nähe und Ferne heimgesucht wird. Mit der Ballistik des Blicks sind jene minimalen Grenzerfahrungen der Berührung und der osmotischen Sensibilisierung gemeint, die den topologischen Raum vernichten und negieren, weil sie entweder auf die Hautoberfläche zurückgeführt werden können oder diesen Membrankontakt simulieren. Als Vergleich dient der osmotisierende Akt der Malerei, der Moment, in dem der Maler die Leinwand berührt.

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Von der Antike bis zu Duchamp zeichnet Wetzel ein Bild der Restitution und Überwindung des Momentes, in dem der Pinsel des Malers die Wirklichkeit selbst zeichnen könnte. Damit umschreibt, „umspielt“ er unentwegt einen Möglichkeitsraum, der seit dem Kubismus und über Pollock hinaus mit der Gestik des Tanzes verglichen worden ist. In diesem Möglichkeitsraum – das Diktum des Parsival eingedenk: „Zeit-Spiel-Raum“ – fällt der szenische Tauschort von Sichtbarkeit und Blick in das szenische Ereignis selbst. Im Ereignis wird gleichsam die Hochzeit von Raum und Zeit gefeiert, ohne dass sich hier die Zeichen vom Körper lösten. Das Ereignis zumal ist auch Schock des Zusammen-Bruchs der auf Distanz gehaltenen Medienwelten. Die „Eröffnung einer vierten Dimension“, eines nicht zu sich kommenden Ereignisses, tendiert zu einem „infinitesimalen Wert einer Ununterscheidbarkeit“, in dem „Autor, Werk und Rezipient“ das Werk als Schöpfungs- und Erschöpfungsprozess bis zur Müdigkeit, d.h. zeitlichen Unendlichkeit, durchspielen. Das zentrale Werk, dem sich Wetzel in seiner Analyse widmet, Duchamps Das große Glas, lässt in diesem Sinne die „Puppen“ um ein „goldenes Kalb“ „tanzen“ – als Travestie auf den endlosen Tauschwertvorgang der Ökonomie, der auch Kunst sich nicht entziehen kann. Medientheoretische Konsequenzen aus dem hysterisierenden Taumel von Blickbewegungen und Standortänderungen, die die „inframince“ (Duchamp) zu stellen versucht, gibt es als technische Realisierung der entfesselten elektrischen Kräfte, die von der Verbrennungsmaschine bis zum Generator den Taumel des Tanzes in eine Kreisbewegung übersetzen. Selbst der Film, der das tanzende Bild schließlich als Zeit-Bild realisiert, findet vor Bergsons Verdikt, die Dauer anders als eine bloße Wiederholung zu denken, keine Gnade. Die materielle Spur des Einzelbildes, die der osmotische Film in seiner Materialität bis vor kurzem noch hatte, ist spurlos in die oszillierende Elektronik digitaler Schocks übersetzt und simuliert jene Unschuld, die die Braut des Großen Glases im Tausch gegen den haptischen Tanz der Junggesellen auf Dauer wahrt – jedenfalls so lange, bis ein ungeschickter Transportarbeiter das Glas des Großen Glases zersplittern lässt und in diesem Ereignis – quasi aus dem Jenseits der transparenten Kunst – einen weiteren osmotisch gebrochenen Blickraum zeugt. KARL STOCKER und ERIKA THÜMMEL berichten in ihrem dialogischen Beitrag über den schwierigen Alltag des Szenografen. Sie hatten 2002 im Projekt Berg der Erinnerungen „eine Version der Geschichte von Graz im 20. Jh.“ – anlässlich des Kulturhauptstadtjahres 2003 abzuliefern. „Geschichte als kommunikative Wissenschaft“ in einem 7 km langen, brüchigen, feuchten Stollensystem – im zentralen Schlossberg inmitten der Stadt Graz – treibt in der Tat die Theorie zur Exstase. Nicht nur sammelten die Szenografen über Scouts 20.000 Erinnerungsdokumente der Bürger und Bürgerinnen aus dem „Subsystem des lebensweltlichen kommunikativen

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Alltagshandeln[s]“ und extrahierten daraus 200 Exponate; sie setzten sich auch mit Geologen, Feuerwehrleuten und Rettungsexperten auseinander, sowie mit Sicherheits- und Bedeutungsträgern, die in dem labyrinthischen Stollensystem die barrierefreie Durchführung der Ausstellung, die 100.000 Besucher anzog, garantieren und verantworten mussten. Grundhaltung des Szenografen kann in dieser Post-k.u.k.Regulierungswut nur die Ironie gegenüber der Realität sein, die sich als listigere Inszenierung erweist. Stocker und Thümmel schafften es dennoch in außerordentlich kurzer Zeit, „Windungen des Gehirns“, so die Metapher für die „Pfade des Gedächtnisses“, in die Unwirtlichkeit des Berges zu bahnen und durch eigens von Jungbürgern erstelltes Videomaterial bis in die Neuzeit zu dokumentieren. Die Erfahrung, Geschichtlichkeit nur im Verhältnis zur Obrigkeit zu zelebrieren, korrigierte ihre Ausstellung, die in Graz unter großer Bürgerbeteiligung eine „konstruktive Geschichtsauffassung“ unter Einbeziehung alltäglicher Gegenstände propagierte – gegen alle Widrigkeiten der wohl immer noch ‚kakanischen Bürokratie‘ (Musil). Schon die Planung einer Inszenierung muss inszeniert werden, so kann man zwischen den Zeilen dem Praxisbericht entnehmen. Szenografie ist auch Management subversiver Alternativen. Musil kamen deutliche Zweifel, ob man das in Preußen besser könne. Ob Szenografie eine neue Bezeichnung für eine Architektur und ein Design von Ereignis sei – diese Frage knüpft an Positionen des Bauhauses an, in der Architektur im Kanon der Künste selbstverständlich soziale, ökonomische und ökologische und städtebauliche Aspekte mit zu berücksichtigen hat. Genau diese Randbedingungen der Architektur sind es, die ERNEST WOLF-GAZO in seinem Beitrag Raum und Natur im Design von Hassan Fathy als Bedingung für menschliches Wohnen im Gegensatz zum Bauen hervorhebt. Wolf-Gazo stellt den ägyptischen Architekten, Designer, Philosophen Hassan Fathy (1900-1989) vor, der mit seinen Aktivitäten, die an das Bauhaus ebenso anknüpfen wie an Heidegger, an Le Corbusier, ebenso wie an die traditionelle orientalische Architektur, als Vorreiter eines menschengerechten, sozialen Wohnens gilt. Dabei widmet sich Fathy in seiner Architecture for the Poor (so der Buchtitel seiner wichtigsten Veröffentlichung) schon früh einem Baugedanken, der vor allem den Bedingungen der Familienstruktur des Orients (Ägyptens) gerecht zu werden versucht. Ein Bauen mit einfachsten Materialien, verbunden mit einem „Blick durch Kinderaugen“, verschafft Fathy, der in der englisch-französischen Tradition der ägyptischen Mittelschicht erzogen und an der Universität von Kairo ausgebildet worden ist, den „human touch“, den wir nicht nur mit menschlichem Bauen, sondern, mit Heidegger, dem natürlichen und sozialen Wohnen verbinden müssen. Hierzu gehört die Berücksichtigung klimatischer, materialer/materieller und familiärer Bedingungen – etwa auch getrennte Bereiche für Frauen und Männer sowie

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Separationen und Übergänge von Innen und Außen in einem nicht funktionalistischen, sondern „kosmologischen“ und „spirituellen“ Baugedanken. Die Wohnverhältnisse der Ärmsten zu ändern, heißt nicht, sie in neuen, hygienisch einwandfreien Verhältnissen unterzubringen. Architektur muss immer Inszenierung der „Lebenswelt“ sein. Die „Choreografie der Bewegung, Treppen, Fenster und Loggien“ haben sich den funktionalen Elementen mindestens gleichberechtigt zur Seite zu stellen. Dabei hat Hassan Fathy in seiner Metropole Kairo und im ständigen Kampf mit der ägyptischen Bürokratie vor allem an seinem zentralen Projekt, der Siedlung von New Gourna, erfahren müssen, dass das Scheitern für Architekten lehrreich sein kann. Nach New Gourna sollten die Menschen umgesiedelt werden, die im Tal der Könige seit Urzeiten vom Verkauf ausgegrabener Pharaonenschätze lebten. Diese Lebensgrundlage fehlte ihnen in New Gourna und veranlasste sie, letztlich wieder in ihre „Platonischen Höhlen“ zurückzukehren. Diese leidvolle Erfahrung veranlasste Fathy, ein Konzept von Architektur zu entwickeln, das zunehmend in den Fokus der unterschiedlichsten Architekturschulen gerät, die sich in einer 15 Millionen-Metropole wie Kairo versammeln. „That he designs his work analogous to musical composition, rhythm and harmony, lines intersection of the planes, walls, rofs with the crown, the flor, length, height, width of the room. Architecture was to him ‚frozen music‘.“ Die Hinwendung zur Musik, die auch eine Wende zum Zuhören bedeutet, denkt den Raum in orientalischer Sicht sakral, vom Himmel aus, und gedenkt so der religiösen und familiären und familialen Wurzeln einer Wohngemeinschaft als Imaginationsgemeinschaft. FRANK DEN OUDSTEN provozierte in seiner inszenatorischen Improvisation Szenografie.Obszenografie die „Gratwanderung der Künste“ in einer szenischen Lesung. Der Begriff Lesung wäre aber für den performativen Beitrag medial zu kurz gedacht; es wäre im Sinne Flussers an das Lesen und Legen von Spuren zu denken. Den Oudsten verortet die Begriffe auf die Bühne der Sprache zurück. Dass nämlich jemand über Stunden wissenschaftliche Spekulationen, die erst kurz vorher vorgetragen wurden, derart pointiert darstellen kann, zeigt, jeden Zettelkasten sprengend, die subversive Kraft der Erinnerung in ihrer ganzen Fruchtbarkeit. Die Herausgeber haben versucht, der Performance Frank den Oudstens in der schriftfixierten Widergabe gerecht zu werden. Ihrerseits also wieder eine Rückübersetzung zu leisten, deren Vorgabe ein dreistündiges Videoprotokoll war. Dabei geraten der reale Raum und die Aktionen und Reaktionen von Akteuren und Zuschauern leicht unter die Räder. Denn die körperlich sinnlich definierten Räume für Menschen weichen zunehmend den in Fernseh- oder Internetzeit gespannten Virtualitäten imaginärer Räume und Präsenz. Ist da noch Szene? Oder herrscht dort schon, wie Baudrillard analysiert, die gnadenlose Sichtbarkeit, die jede wirkliche Szene zugrunde richtet und nur noch

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„Ob-Szenen“, die Obszönität der Sichtbarkeit zurücklässt? Wo es dann auch nichts mehr In-Szene-zu-setzen gibt.64 Mit diesem Spiegelbegriff des Obszönografischen gelingt es den Oudsten zunächst aber, das Eis zu brechen, das in seinen Seminaren in Zürich herrscht, wenn neue Studenten nach dem Ziel der Ausbildung zum Szenografen gefragt werden. Infolgedessen ist die ironische und selbstironische Selbstthematisierung der Szenografie eine Methode, die entscheidende „Parallaxe“ zwischen Szenografie und szenischer Wirklichkeit zu bestimmen. Dazu setzt er zunächst die Unterscheidung zwischen inventio und manifestatio im Entwurfsprozess voraus und beobachtet den Tauschort im szenografischen Denken selbst. In der Performance geht es ihm um diesen Übergang, den er die „Beherbergung einer Idee“ nennt. Den Oudsten durchstreift in Bild und Ton solche Beherbergungsorte von der Musik bis zum klassischen Theater, von der Wissenschaft (Descartes entwendet er den Begriff der Parallaxe) bis zur Kunst. An Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ demonstriert er, dass eine solche Beherbergung ein vielfach sich überlagernder, revidierender, heterotoper Archivierungsort ganz neuer Qualität sein kann, der entweder Spuren löscht/liest, oder wie in den Film-Fotografien Sugimotos, Spuren erstrahlen lässt. Soll und wie soll der Szenograf diese Überlagerungen entwirren? Zwei Wege bietet den Oudsten unter anderen an: den der Totalisierung des Inszenatorischen, wie ihn Rodtschenko in einem Buch Alles ist Experiment! propagiert. Und den der parallaktischen Grenzerfahrung, d.h. „zwischen Elefant und Kolibri, zwischen Raubvogel und Fuchs“ eine Monade, einen Nukleus zu finden, der sich beliebig zwischen inventio und manifestatio kombinieren lässt. Einen Bezugspunkt solcher monadischer Verdichtungen thematisiert den Oudsten mit Beckett. Während aber Beckett die Heimatlosigkeit und Hoffnungslosigkeit des Menschen im Modell Leibniz’scher, fensterloser Monadologie erkennt, plädiert er für eine offene Monade: Begriffe und Ideen müssen sich auf der Bühne als dem Ort ihrer Beherbergung der Realität aussetzen, ohne obszön in sie auszufließen. Nicht umsonst demonstriert den Oudsten den Ort der „Urhütte der Szenografie“ ganz im Sinne Benjamins am Ende seiner Performanz mit dem Erzählen seiner Kindheit. Er schildert ausführlich seine Urszene im Holland der frühen 60er Jahre als ‚revolutionäre‘ Praxis, die zugleich die Geborgenheit der Kindheit überschreitet und den monadischen Lebensraum zur Welt listig öffnet. Das Initial, oder den Nukleus dieser Initiation bestimmt er als „Szenografie avant la lettre: ein minimaler physischer Akt mit einem maximalen psychischen Effekt“.

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Jean Baudrillard: Die Szene und das Obszöne, in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne, a.a.O. Siehe dazu auch das letzte Kapitel im Beitrag Wilharm.

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Christoph Weismüller DIE GEBURT DER SZENE AUS DEM GEISTE DER MUSIK EIN B EITR AG ZUR THEORIE D ER SZEN O GR AFIE A M B EISPIEL VO N RIC H A R D W AG N ERS VORSPIEL ZU M R H EIN G OL D

In enger Anlehnung an die Kunst und das Denken Richard Wagners verfasste Friedrich Nietzsche sein erstes großes Werk: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Wie Nietzsche, gemäß seines eigenen Bekenntnisses, in diesem Buch nur etwas der Gegenwart Wagners „Entsprechendes niederschreiben durfte“1 und diesem die Schrift konsequenterweise widmet, will auch ich mich zur Klärung der Frage nach der Herkunft der Szene dem Werk Richard Wagners, ein Stück weit zumindest, anvertrauen. Konzentrieren möchte ich mich diesbezüglich auf das inszenierte Initial des als opus magnum konzipierten musikdramatischen Gesamtkunstwerks, das 26 Jahre zu seiner Vollendung bedurfte. Zu Anfang von Richard Wagners Vorabend zum Ring des Nibelungen, des Rheingold, wird das Hervorkommen von Musik zum Zuhörererlebnis, und im Anschluss an das akustische Ereignis wird die Szene eingeführt. Deren Besonderheit besteht darin, die Hervorkunft der Szene aus der Musik, also ihre eigene Herkunftsgeschichte darzustellen, im Sinne eines Versuchs, seines Vorausgangs durch Visualisierung dieses Unsichtbaren und Undarstellbaren habhaft zu werden. Die Bühnenszene, die Wagner vorführt, zeigt, auf den Zuhörer und Zuschauer bezogen, dasjenige, was vorab bereits als ästhetisches Ereignis eingeführt wurde mit dem Übergang vom Klang zur Musik im musikalischen Vorspiel sowie mit dem Übergang von diesem zur Bühnenszene im Moment der Öffnung des Vorhangs. Der Beginn des Rheingold greift auf die körperliche Referenz künstlerischer Ästhetik zurück: auf das Vorstellungs- und Imaginationsvermögen. In diesem Sinne führt er das Erwachen aus dem Schlaf in den Traum vor. Wie wird dies inszeniert? Beim Hören des Rheingold-Anfangs wird schnell deutlich, dass es kaum als Musik zu bezeichnen ist, was da zu hören ist, vielmehr ein Tönen, Hervorbringen eines Klangs, der, um Musik zu werden, einer Gestaltung erst noch bedarf. So führt Wagner zu Anfang des Rheingold an den Ausgangspunkt zur Bildung von Musik und das heißt: an den Ort der Abstoßung vom Klang. Auf die im Wagner’schen 1 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), in: Werke, hg. von

Karl Schlechta, Band 1, München: Ullstein 1969, S. 19.

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Gesamtkunstwerk mitinszenierten Verhältnisse des Übergangs zwischen Schlaf, Traum und Erwachen bezogen, führt er damit an die Grenze von Tiefschlaf und Traum. Mit anderen Worten: Diese Wagner’sche Inszenierung führt an den Ort der Geburt der Szene und weiter noch: des Vorstellens und der phänomenalen Welt überhaupt. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass es sich nicht um ein ursprüngliches, auch nicht um ein faktisches Geburtsgeschehen handelt, das vorstellig wird, sondern vielmehr um das inszenierte Erinnern der Konditionen des Erscheinens, um ein Wiedereintreten in den Vorstellungsraum, der für einen Moment – den des Tiefschlafs – verlassen worden war und nun einer erneuten Zugangsbahnung bedarf. Es gilt, einen Übergang zu gewährleisten, der keineswegs als selbstverständlich begriffen werden, sondern allemal als Sperre sich aufwerfen kann. Im Tiefschlaf sind die Innen- und die Außenwelt, sind der Körper und sein Gedächtnis, Körper und Ding, fast in eine Unterschiedslosigkeit geraten, das Gedächtnis mündet im Selbstbezug; doch bevor der ultimative Abschluss dieses Selbstbezugs des Gedächtnisses zum Körper, dem, respektive dessen Opfer, es sich verdankt, sich im Tod vollendet, an der Grenze des Tiefschlafs zum Tod, treibt ein Selbstentsetzen das Gedächtnis in die Trennung seiner beiden Seiten, einerseits Körper und andererseits Vorstellung auseinander, und zwar zur Wiedereinleitung der Gedächtnisbildung; damit wird die Allheit des einen umfassenden Tiefschlafklangs differenziert und damit der Übergang zur Szenenbildung möglich. Dieses Moment präsentiert Wagner zu Anfang des Rheingold. Er lässt die Musik mit einem Klang beginnen, der erst noch zur Musik übergehen, sich durch Momente einer progressiven Vorstellungs- und Gedächtnisbildung differenzieren muss und damit den Übergang zur Szene einleitet.

Wie inszeniert Wagner den Übergang im Einzelnen?

Zunächst ist des Zuschauers inszenierte Devisualisierung im Sinne der Schlafsituation hervorzuheben: In der völligen Dunkelheit eines Raumes wartet der Zuschauer auf die Eröffnung seines Sehens, auf den Aufzug eines Vorhangs, auf sein Erwachen wie im Schlaf auf den Traum hin. Bis zu den Aufführungen der musikdramatischen Werke Wagners war die Verdunkelung des Zuschauerraums keineswegs üblich. Erst Wagners Ästhetik des Gesamtkunstwerks übernimmt eine einmal ausgefallene Raumbeleuchtung konzeptuell, und zwar um des radikalen ästhetischen, des sinnlich-leiblichen Einbezugs der Zuhörer und Zuschauer willen, die dergestalt zu integralen Element des Gesamtkunstwerks werden können. Vermittels der Verdunkelung und der in dieser anhebenden Musik, aus welcher später die Szene sich

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herausbilden soll, wird der Ursprung der Musik aus der Absetzung zum Tiefschlaf und der Szene aus der Musik als Selbsterfahrung des Rezipienten möglich. Die Musik ist die Darstellung des Übergangs vom Tiefschlaf zum Traum, des Übergangs vom Sichtentzug zur Visualisierung, und imponiert dementsprechend als die sichtentzogene Darstellung. Wagners Anspruch im Sinne des musikdramatischen Gesamtkunstwerks geht nun aber so weit, diese Taten der Musik auch zur sichtbaren Erscheinung bringen zu wollen. An dieser wichtigen Stelle zur Komplettierung des Gesamtkunstwerks kommt die Szene im Sinne des Dramas ins Spiel; dementsprechend hätte Wagner seine „Dramen gern als ersichtlich gewordene Taten der Musik bezeichnet“.2 Das musikalische Vorspiel des Rheingold entfaltet sich als ein großer musikalischer Bogen, der ohne Unterbrechung von der einleitenden Pedalnote des tiefen Es bis zum abschließenden Des-Dur-Akkord gespannt ist; zur Ausbildung eines vollständigen musikalischen Motivs kommt es nicht: Es entfaltet sich Klang; ein Erwachen, das im Übergang wie stecken bleibt und in demselben immer weiter wie zu einem Kurzschluss von Tiefschlaf und Wachen hoch getrieben wird. Tatsächlich verdankt sich nach Wagners eigenen Angaben die musikalische Konzeption des RheingoldVorspiels der Umsetzung einer somnambulen Erfahrung, wie er es in seiner Biographie Mein Leben darlegt. So imponiert das Rheingold-Vorspiel als eine 136 Takte lange Passage, die vom Klang zur Sichteröffnung führt und lediglich aus Figurationen über dem ununterbrochen ausgehaltenen tiefen Es besteht. Sukzessive erhöht sich die Intensität der Musik, während Noten sich halbieren, auflösen, zerfallen, halbe Noten über Viertel und Achtel in Sechzehntel sich zerstreuen und mit dieser Auflösung in die Sechzehntel die Sicht eröffnen. Im Anschluss an das Vorspiel eröffnet sich das Bühnenbild und aus diesem die Szene: Auf dem Grunde des Rheins. Der Grund erscheint auf der erhobenen Bühne: Grünliche Dämmerung, nach oben zu lichter, nach unten zu dunkler. Die Höhe ist von wogendem Gewässer erfüllt, das rastlos von rechts nach links zu strömt. Nach der Tiefe zu lösen sich die Fluthen in einen immer feineren feuchten Nebel auf, so dass der Raum der Manneshöhe vom Boden auf gänzlich frei vom Wasser zu sein scheint, welches wie in Wolkenzügen über den nächtlichen Grund dahin fliesst. Ueberall ragen schroffe Felsenriffe aus der Tiefe auf, und grenzen den Raum der Bühne ab; der ganze Boden ist in ein wildes

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Richard Wagner: Über die Benennung ‚Musikdrama‘ (1872), in: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von D. Borchmeyer, Band 9, Frankfurt am Main 1983, S. 271-277, S. 276.

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Zackengewirr zerspalten, so dass er nirgends vollkommen eben ist und nach allen Seiten hin in dichtester Finsterniss tiefere Schlüffte annehmen lässt. Um ein Riff in der Mitte der Bühne, welches mit seiner schlanken Spitze bis in die dichtere, heller dämmernde Wasserfluth hinaufragt, kreist in anmuthig schwimmender Bewegung eine der Rheintöchter.3

Die Szene zeigt eine verkehrte Welt, eine Welt, die auf den Kopf gestellt ist. Im Inneren dieser Welt erscheinen Dinge, die einerseits wie an ihren Ursprung zurückgekehrt sind, andererseits aber auch herausdrängen aus dieser Welt. Die zeigt sich dergestalt in der ganzen Widersprüchlichkeit des Übergangs, in der Spanne zwischen der Rückkehr in den Sichtentzug und dem Ausbruch zum oberen Licht. Zwischen Tiefschlaf und Erwachen imponiert ein Dabeisein im Reich der Musik, und daraus tritt das Unmögliche hervor: die Visualisierung des Unsichtbaren, nämlich die Bedingung des Sehens und der Bildung der Szene. Der Zuhörer und Zuschauer erfasst aus der Klangpassage heraus die Eröffnung des Blicks. Die Szene, die er dann außer sich auf der Bühne erblicken wird, die zeigt ihm die Kriterien seines Blickens, als Bühnenszene begegnet ihm die Erscheinung der Bedingung seines Sehens. Diese suggeriert damit, dass der Grund des Sehens zu sehen möglich sei. So bildet sich das Bühnenbild, diese erste Visualisierung, aus der initialen Passage der Formung des Klangs zur Musik. Das Wagner’sche musikdramatische Gesamtkunstwerk wird dergestalt inszeniert als das Erwachen im Schlaf, und zwar als ein Gesamtereignis von Rezipient, Musik, Bühne und Szene. Ein inneres Körperereignis wird dergestalt zur Außendarstellung, und insofern diese angemessen vorgenommen, inszeniert wird, so führt dies bis an die Grenzen zur Aufhebung der Differenz, des Bühnengrabens, der Sperre zwischen dem Körper und seinem Gedächtnis, zu einem zumindest zeitweiligen Kurzschluss des Rezipienten mit der Musik und deren Taten sowie dem initialen Bühnenbild im Sinne einer Selbsteinsichtnahme, einer in der Musik vermittelten Innenspiegelung am Außen, mit welcher aber der gerade erst konstituierte Blick schon wieder in sich zurückzubrechen, ins Dunkel wiedereinzutauchen droht. Zu Beginn des Rheingold-Vorspiels ist die Gesamt-Situation aber noch wie im Schlaf festgehalten, kein Traum ausgebildet. Entsprechend droht eine Erstarrung, der Rückfall in den Tiefschlaf, der Tod womöglich, insofern der aufgekommene Weckreiz nicht in den Traum, in eine Differenzierung des Selbstbezugs überführt werden kann. Das Gelingen des Übergangs steht auf dem Spiel. Der Weckreiz muss zur Gestaltung des Schlafs überführt werden; das heißt: Die Szene muss gebildet werden, und zwar zur Wiedereinführung und Sicherung 3

Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (1848-1874), Mainz 1980, S. 9.

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der Differenz, die Zeit und Raum allererst zu gewährleisten vermag; es bedarf der Szene als Darstellung der Vermittlung zwischen der Musik und dem Bühnenbild. Wie also ist zum Bild und in die Szene zu kommen? Wagners Inszenierungsvorgaben beginnen mit der unscharfen Farbnennung eines Licht-, Tages- und Bewusstseinszustandes: „grünliche Dämmerung“ heißt es dort. An solchem Initial werfen sich hinsichtlich des Übergangs der Musik, von Tiefschlaf zu Traum sowie des Übergangs in Bezug auf die Sinne von Hören zu Sehen, Klang, Musik zu Bild und Szene solche Fragen auf wie die folgenden: Wird beim Hören bereits innensichtig gesehen? Was könnte beim Hören der Musik gesehen werden? Erscheinen Farben? Tritt möglicherweise ein Grün hervor? Wagners Bühnenbildbeschreibung eröffnet grünlich, bezogen auf die Dämmerung; diese ist farbig begriffen, doch keineswegs ist sie von eindeutiger Farbe, eher verweist das aus dem Hören auftauchende Sehen auf eine Farbe, aufs Grün; es ist auf diese hin übergängig, ein aus einem unsichtigen Innen sich sichteröffnend überführendes Darstellen dieses Innen an die Grenze eines Außen. So lässt sich von der Darstellung einer grünlichen Traumeröffnung sprechen. Mit den Worten der Bibel kann man sagen: Am Anfang war das Wort, und das anfängliche Wort verweist auf eine Farbigkeit, die dem Zustand eignet, dem das Wort sich entrang. Dieser Zustand aber ist Farbe und nicht Farbe, Sein und Nichts in eins, ist Übergang. So wird erst auf der Ebene der Worte und des Begriffs das Grünliche deutlich als die Darstellung der Musik in ihrem basalen Charakter als Bildung des Übergangs, in dem das Undarstellbare seine zunächst der Sicht entzogene, akustische Darstellung erfährt, um von dort aus die Darstellung hinüberspringen zu lassen auf die andere Ebene, die Metabasis der Sichtbarkeit. Aus der „grünlichen Dämmerung“ bricht die Farbzuversichtlichkeit hervor, aus der noch von der Nacht umfangenen Dämmerung die Lichtung des Tages, die Weckung des Schlafs; im Verhältnis zum gegenläufigen Sog des Tiefschlafs eröffnet sich so dämmernd eine Spanne, in welcher es möglich werden könnte, den der Sicht entzogenen Übergang in derselben anzuzeigen, szenisch zu gestalten. Entsprechend lässt sich die Farbe Grün erschließen: Grün ist die Farbe des Außen, in der das Innen sich darstellt; grünlich ist, in Absetzung zum klaren Grün, die Darstellung des entsprechenden inneren Mischverhältnisses im Sinne des Übergangs; am Grünlichen beginnt die Wiedererinnerung des Grüns und damit die raumöffnende Gestaltung des Körpers; grünliche Dämmerung ist mithin zu entziffern als die Darstellung der initialen Raumgabe, als Herstellung einer Körperhülle für die Traumeingabe. So ist das gänzliche Erwachen in den Traum und damit der Zugang zum Reich der Szenen und Szenenwechsel, zum Reich der beständigen Rücksicht auf Darstell-

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barkeit, der Verdichtung und der Verschiebung vorbereitet. Der Traum, das ist das im Schlaf aufgefangene Erwachen, der paradoxe Schlaf, welcher dem Selbstentsetzen des Gedächtnisses sich verdankt, das heißt einerseits der zur Indifferenzierung von Körper und Ding neigenden Begegnung beider im Tiefschlaf und der lebensnotwendigen differenzierenden, Raum und Zeit bildenden (!) Abstoßung von der drohenden Indifferenz sowie vom Aufgehen im Allklang des Tiefschlafs. Diese Bewegung der Bildung von Raum und Zeit ist zugleich die Restitutionsbewegung des Gedächtnisses, die Bahnung zum Wiederanschluss des Körpers an die äußere Gedächtniswelt, und zwar vermittels der Aufrechterhaltung der Inszenierung der Darstellung des Zugangs zur Darstellungs- und Visualisierungssphäre; kurz: Der Traum erhält sich dadurch, dass er sich selbst darstellt. Diese Art der visualisierenden Selbstdarstellung ist zugleich aber gegen sich selbst gerichtet, insofern es sich dabei um ein Zuwachsen auf das Erwachen handelt. Solches Zuwachsen ist vergleichbar den grünen Pflanzen, die der Sonne sich entgegenrecken, welche deren Grün-erzeugende Photosynthese ermöglicht. Alles Grün ist dergestalt seinem Opfer entgegengetrieben, wie es einem solchen sich verdankt, nämlich der Nichtung des Körpers und seiner Undarstellbarkeit, dieser Erhebung der Natur ins Erhabene der Vorstellung. In solcher Hinsicht mahnt der Traum an den Spruch des Vorsokratikers Anaximander, der im Anschluss an andere Übersetzungen von Nietzsche und Diels bei Heidegger in erster Version wie folgt übersetzt ist: Aus welchem aber das Entstehen ist den Dingen, auch das Entgehen zu diesem entsteht nach dem Notwendigen; sie geben nämlich Recht und Buße einander für die Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.4

Der Spruch des Anaximander, so lautet meine These, ist die Urformel des Traums und nicht weniger die der Weltgestaltung und der Szenenbildung. Er sagt Existenz und Dasein aus als die funktionale Aufrechterhaltung des initialen Übergangsgeschehens, und zwar vermittels der Darstellung dieses Übergangs, die dergestalt die Abdeckung des Risses, der fundamentalen Differenz des Entstandenen zum Realen seiner Entstehung, den fundamentalen Brückenbau besorgt. Solche die Übergänge konstituierende Abgrund-Überbrückung wird im Objektiven kultureller Gestaltung zu allererst wohl gewährleistet durch „Recht und Buße“; bei diesen handelt es sich um die ersten Ableitungen aus den initialen Weltvorstellungen und Szenenbildungen; um die weltlichen und göttlichen Gesetze im Sinne der vielfältig verschobenen und entstellten Darstellung der Initialverschuldung. 4 Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander (1946), in: Holzwege, Frankfurt am Main 1960, S. 317-368, S. 325.

DIE GEBURT DER SZENE AUS DEM GEIST DER MUSIK

Traum-, Welt- und Szenenbildung lassen sich mithin begreifen als Darstellungen des Verschuldens im Übergang. Auf dem Grunde des Rheins wird es nach unten hin dunkler, nach oben hin heller; die Szene spannt sich als Übergang auf, den Traumbereich nachstellend, zwischen zwei tödlichen Positionen des Endes von Traum, Raum und Zeit, zwischen dem Dunkel des Tiefschlafs und der lichten Helle des Erwachens. Nur der Übergang, der zwischen beiden gewoben wird, nur die Möglichkeit einer Mischung der Extreme, ermöglicht einen Raum der Szene. Entsprechend imponiert in der Szene die Bewegung von Mischwesen: die Rheintöchter; das sind halb Wasser- und halb Landwesen; sie sind nicht zu Reptilien erstarrt, mahnen aber gleichwohl an das Schlangenwesen, nicht zuletzt auch an das negativ-paradiesische, mit dem der weibliche Körper sich vermählt, wenn die Rheintöchter scheinbar fahrlässig anbieten, was gehütet werden soll: das auf dem Grunde des Rheins ruhende Gold. Halb Fisch noch sind sie geblieben, kein primäres Geschlecht ist dem unteren Körper abzulesen, und wie weit über diese frühe Entwicklungsstufe der Lebewesen hinaus sind sie andererseits halb Mensch-Weib. Die Rheintöchter sind Figuren, denen der Übergang vom Tier zum Mensch, die Menschwerdung selbst noch angebildet ist. Das heißt: Den bewegten Wesen, den Rheintöchtern, ist die Ordnung dessen angebildet, in dem sie sich befinden; an ihnen stellen sich die Konditionen des Raums, ihres Lebensraums, der Übergangs- und Mischungswelt dar; und dieser an den Körpern dargestellte Raum, der stellt seinerseits die Konditionen seiner Konstitution dar, insofern er die Visualisierung der Konditionen der Musik ausmacht. In diesem Sinne von Einfaltungen des Äußeren ins Innere und des Inneren ins Äußere konzipiert Wagner das Musikdrama respektive das Gesamtkunstwerk, in welchem das Drama als die Erscheinung der Taten der Musik gedacht ist. Gemäß eines solchen Bühnen- und Dramenverständnisses ist auch unter dem Grunde des Rheins, in der Dimension der totalen Absorption, die Welt, insofern sie einmal dem Verdikt visueller Gestaltung unterworfen ist, noch nicht zuende; ein zentrales Moment des Begehrens der Inszenierung und mithin der Szenografie, das ist: die Unendlichkeit. So tritt in Wagners Szene Alberich, der Schwarzalbe, aus dem Grunde hervor und unter die Rheintöchter. Er taucht auf, als könne der Tiefschlaf selbst erscheinen, und zumindest in intimer Nähe zu diesem entfaltet sich an Alberichs Erscheinen ein Sog hinab ins Reich des Undarstellbaren. Alberich ist aufgekommen, um eben dieses zur Darstellung, zu angemessener und machtvoller Repräsentation zu führen; so erscheint er wie das missing link, als Darstellung des Undarstellbaren auf der visuellen Ebene von Drama, Bühne, Szene. Sein Erscheinen aber zitiert vor allem die Krise des Übergangs, wenn das Dunkel im Licht erscheint. Auf dem Grunde des Rheins wird es nach oben hin lichter: Das ist die Annonce des Erwachens. Die Bewegung des Wassers in der Höhe, auf sichtbarem Erwachens-

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niveau also, erfolgt von rechts nach links. Damit ist, den Schreibvorgang zugrunde gelegt, eine Rückwärtsbewegung, die Bewegung des Traums auf den Tiefschlaf und aus der Sicht zur Musik hin dargestellt. Dargestellt wird eine Gegenbewegung zum Erwachen, die allerdings die dem Traum entsprechende Szene zu vernichten droht. Solches gilt für jegliche Erhaltensbewegung des Traums und der Szene; Erhaltung heißt: sich auf die Zerstörung zubewegen. Der Traum sitzt in der Klemme zwischen Tiefschlaf und Erwachen; die Szenengestaltung zwischen der Auflösung in die Musik bis hinunter zum Klang und der Erstarrung im bloßen Bild. Die Wasserbewegung von rechts nach links, die leitet zur Musik und zum Klang zurück und verweist somit auf die Herkunft der Szene aus dem Geist der Musik. Lässt der Zuschauer von solcher Bewegung sich mitreißen, so wird er – allemal technisch und ästhetisch abgesichert5 – mitgenommen von der Bewegung, die begehrlich dem eigenen Ursprung entgegenstrebt. Damit folgt der Zuschauer der Ordnung der szenischen Vorgabe, deren fundamentales Begehren sich hier entdecken lässt: als der Versuch der Selbstbegründung des Sehens. Zur Selbstbegründung des Sehens müsste es allerdings gelingen, visuell an den Grund des Klanges zu gelangen, das heißt: Die Konstitutionsbedingungen des Sehens müssten auf dessen inszenierte Vorgängigkeit hin hintertrieben werden. Eben jenes Bemühen um die Selbstbegründung des Sehens imponiert als der Anfang des Rheingold: 1. die Entwicklung der Musik aus dem Klang, 2. der Hervortritt des Sehens aus dem Hören als quasi notwendiger Übersprung, der die drohende Indifferenzierung redifferenzierend abwendet; 3. der Hervortritt der Szene aus der Musik und 4. die Szene als Versuch der Visualisierung der Bedingungen des Sehens und somit der Szene selbst: die Szene als Selbstbegründungsunternehmen. Es geht mithin in narzisstischer Weise darum, den Grund des Anderen als sich selbst zu entdecken. Die Szene betreffend stellt das die Anforderung, den Grund des Klanges sichtbar zu machen. Entsprechend erfolgt die weitere Darstellung des diskutierten Bühnenbildes von oben nach unten: auf die Tiefe hin, in deren Richtung das Wasser in Nebel aufgelöst und somit der weiteren Sichtöffnung auf den Grund des Klanges hin zugeführt wird.

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Auch diese Absicherung stellt die Szene dar, insofern die Bewegung des Rücksogs nach links zugleich eine in die Höhe ist, ins Erwachen und somit zum verfügenden, sogar die Verschwindensbewegungen sichernden Bewusstsein.

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Die Manneshöhe bestimmt den im Nebel liegenden Zwischenbereich; über diesem das nach links ziehende Wasser; unter diesem ziehen die Wolken, und so bleibt die Sicht auf den Grund entzogen. In das Diffuse der Aggregatzustände des Wassers reckt sich aber die steinerne Natur hinein: die Felsen. Offenbar handelt es sich bei diesen um das aus der Tiefe nach außen gestülpte Innen: Verfestigung des Weichen, Ansichtigkeit des Undarstellbaren, welche die Sichtverhinderungen in phallischem Gestus durchstößt und somit visualisierte Klangmonumente, Tiefschlaf-Klang-Erhebungen, einführt. Diese bilden einerseits die Grenze der Bühne und Szene und verteilen sich andererseits sogleich über den gesamten Boden, zerklüften, zerspalten alles, recken den Sog der Klüfte in die Höhen, weben die Tiefschlaffluchten, lassen sogar Schlüffte nur noch angenommen sein. In der Mitte prangt ein Riff: Das ist der ersichtlich gewordene Ton des Grundes, der visuell aufgereckte Grundton, das bühnengestaltete tiefe Es, die Klanggestalt des Nichts, die ins Bild getriebene Darstellung der musikalischen Welteröffnung aus dem Grundton; um diesen vertikal aufgereckten Felsen kreist in anmutig schwimmender Bewegung eine der Rheintöchter. Mit dieser trägt sich zum Grundton der Bezug der Obertöne in die Szene ein; stehen die Obertöne einerseits in einem strengen Bezug zum Grundton, insofern sie die Töne sind, die mit jedem Grundton mitklingen und mit diesen in bestimmten harmonischen Verhältnissen stehen, so beginnen diese in der Gestalt der Rheintöchter sich auf sich selbst zu beziehen; solches verdeutlicht bereits die Eingangsszene, in welcher die Rheintochter um den aufgereckten Felsen kreist und sich dergestalt immer hinterher und zugleich voraus und somit im Bezug zu sich ist; entsprechend auch scheinen in der Wagner’schen musikalischen Komposition die Obertöne sich auf sich selbst zu beziehen. Solcher Selbstbezug aber nötigt zu Differenzierungen, um die Szene, die ansteht, sich als die ultimative Selbstaussage des Grundes der Musik zu behaupten, nicht in sich selbst kollabieren zu lassen, sondern fortführen zu machen. Zu diesem Zweck der immanenten Differenzierung, um der Reinszenierung von Klang, Raum und Szene willen, führt Wagner endlich die Sangesstimmen ein.

Wagners Inszenierung der visuellen Anwesenheit beim Ursprung des Gesangs

Die Szene und die Inszenierung müssen immer wieder dem Geist der Musik entbunden werden. Solch dauerhaftem Entbindungsgeschäft ist jedoch auch das gegenläufige Unternehmen der Selbstbegründung der visuellen Sphäre verbunden, dieser Versuch der imaginären, symbolischen und technischen Abdeckung des Realen. Zur möglichen Selbstbegründung der Szene und des Sehens insgesamt

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muss der Ursprung der Musik selbst gesehen, sichtbar gemacht, in Szene gesetzt werden können. Die Visualisierung und damit die Inszenierung und die Szene haben ihr Recht – allemal phantasmatisch – sich gewonnen, wenn sie ihren Widerspruch, nämlich nicht dem Sehen sich zu verdanken, abdecken können, und zwar vermittels der Integration ihres Dementis, ihrer Krisis, das heißt durch die Inszenierung der Anwesenheit und Sichtbarkeit des Ursprungs der Musik, durch dessen visuelle szenische Darstellung. Solche Inszenierung der visuellen Anwesenheit beim Ursprung der Musik setzt Wagners – ins musikdramatische Gesamtkunstwerk initiierende – Szene Auf dem Grunde des Rheins fort mit der Darstellung des Einsatzes des Gesangs. Wie im Tiefschlaf noch befangen, wie regressiv dem Klang verfallen, Sprachbestimmung suchend, anstimmend aus dem Reich allererst aufkommender Zeichen, die der Natur sich noch zu entbinden haben, erschallt die Stimme wie eine Körperfanfare, die als Gesang in den Traum hinein und aus der Exklusivität von Klang und Musik heraus weckt. Und während noch die Stimme nur sich selbst zu hören scheint, kündigt darin schon das Ende der Grundton-Naturerhabenheit des Klangs sich an. WOGLINDE Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala weiala weia!

Woglinde ist schon der Sicht anheim gegeben, sie kreist wachend um das Riff; das will weniger heißen, dass sie dort im wachen Bewusstseinszustand angetroffen wird, vielmehr im bewachenden Zustand: Den szenischen Traum einleitend bewacht sie das Rheingold. Mit ihrem einsetzenden Gesang wird endlich der Klang visuell und auf einen gestalteten und zugleich gestaltenden, mithin einen sich gestaltenden Körper hin rückbezüglich verortbar. Nicht mehr imponiert nur das Erhabene der Natur, der Körper, eines Klangs, vielmehr vereignet sich die Stimme dieses Erhabene, insbesondere den Klang, und moduliert diesen; die Stimme nimmt das Erhabene des Klangs in Disposition, und zwar im Sinne eines Geburtsaktes, zumindest einer Geburtshilfe: „Woge, du Welle, / walle zur Wiege!“, heißt es, und so verheißt dieser Gesang, bei der Geburt der Zeichen selbst dabei zu sein. Die Pointe dieser Szene aber besteht darin, dass jetzt der Ursprung der Musik auch auf der Bühne, szenisch disponiert, objektiv abgesichert zu sehen ist, und gesehen werden kann auch des Gesangs Modulation des Klangs zu Musik, so dass hier eine Vielfalt des Ursprungs zu imponieren scheint, nämlich Ursprung von Musik, Gesang, Sprache und Szene, Bühne und Welt. Das alles ist und bleibt inszenierter Wunsch; doch der wird zur szenischen, ästhetischen und des Weiteren auch zur technischen Realität gewendet, zum Beispiel zum Theater, zum Film. In dieser Szene ist die technische Realität im

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Sinne der fortgeschrittenen medialen Selbstbegründung des Sehens respektive der totalen Transparenz bereits antizipiert; das ist oft schon angemerkt worden. Dieser inszenierte Wunsch wird weiterhin szenisch, ästhetisch und technisch auszulegen sein und damit das narzisstische Selbstbegehren fortsetzen. An dieser Stelle gewinnt die Szenografie ihren Platz. Dem inszenierten Wunsch entspricht die Bewegung der Woglinde. Woglinde bewegt sich gänzlich selbstbezogen, selbstgenießend, doch auch sich selbst fordernd und somit selbstdifferenzierend, so aber, dass die Differenz ins Selbst auch wieder eingefangen wird und sie sich, aufs Hören bezogen, selbst noch wie weghört respektive in den Ursprung des Gesangs – gegen die bereits provozierte Technik – fortsingt. Doch die Stimme ist bereits zu einem Teil der Szene geworden, welche dem Begehren der Visualisierung des Ursprungs der Musik folgt. Noch aber ist die Musik in dieser Szene fast auf den Klang zurückgenommen, die Bilder sind noch unscharf, eher diffus, und beide könnten womöglich in sich selbst zurücklaufen. Dem entgegen erklingt eine zweite Stimme, die Stimme der Wellgunde, die Woglindes Gesang verdoppelt: Von oben, aus übersichtigen, aber nicht einsichtigen, aus nicht der Sichtbarkeit zugänglichen, aber auf dieselbe ausgerichteten Höhen erklingt ihre Stimme. Wellgunde ist die der Sicht zunächst entzogene Verdoppelung der Tiefenstimme als Höhenstimme, eine Weckung des Undarstellbaren in die Sicht: WELLGUNDES (Stimme, von oben). Woglinde, wachst du allein?

Der Selbstbezug Woglindes ist zu groß, zu gering die Differenz, zu mächtig der Klang und das Dunkel noch, als dass das Sehen seines Grundes bereits ansichtig werden könnte. Wellgundes Stimme von oben ruft ins Wachen, führt so die zur Fortsetzung der Szene nötige Differenz ein. Eine Andere zur Ersten aber ist die zweite Rheintochter kaum, vielmehr die verkörperte Reflexion der Stimme Woglindes, die weckend an die obere Grenze zur Visualität traf und nun als die Frage nach dem Wachen sich zurückwendet. Wellgunde ist in diesem Sinne der noch unscharfe, aber eine deutliche Differenz einführende Sichtrücklauf des Stimmenvorlaufs der Woglinde. Entsprechend antwortet Woglinde der Wellgunde: „Mit Wellgunde wär’ ich zu zwei“; das heißt: Wellgunde markiert den Riss der Repräsentation, der sich durch Woglinde zieht und sie spaltet; Wellgunde hebt die Grenze zwischen dem Körper und den Zeichen, dem Klang und dem Bild hervor. In diesem Sinne ist Woglinde im Alleinsein schon immer „zu zwei“, und sie war dies als Mischwesen Rheintochter je schon vorab. Nochmals verdeutlicht sich somit in dieser Gestalt Wellgundes, vor allem in dieser Szene, die Darstellung des Ursprungswesens, dessen Konstituti-

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onskriterien und Existenzbedingungen ihm nicht nur körperlich eingetragen sind und ausgetragen werden müssen, sondern auch von außen her im Sinne eines sich erweiternden Selbstverhältnisses erscheinen. Zusammengenommen heißt das auf dieser Ebene: Wellgunde ist die Visualisierung von Woglindes Stimme, sie ist die Außendarstellung von Woglindes Binnenbewegung, und zwar im Kontext der Inszenierung der Selbstbegründung des Sehens durch Visualisierung des undarstellbaren Ursprungs der Musik. Als visualisierte Stimme taucht Wellgunde aus der Flut zum Riff herab und ruft, der Selbstkonstitution und der Selbstbegründung begehrlich, zum Sehen auf mit den Worten: Laß sehn, wie du wachst. Sie sucht Woglinde zu erhaschen. WOGLINDE (entweicht ihr schwimmend). Sicher vor dir. (Sie necken sich und suchen sich spielend zu fangen.)

Sie begehren einander, wissen sich als geschwisterliche Identität, in der sie aufeinander bezogen sind, und zwar bis zur Ununterschiedenheit. Mit dem Versuch, „Woglinde zu erhaschen“, will die Veräußerung nicht zuletzt heimkehren zum Körper, dem sie entsprang. Solche Inszenierung, auch wenn sie um der Einbringung einer Differenz Willen geschah, läuft also auf ihre Abschaffung hinaus, auf das Ende der Szene. Es bedarf also einer dritten Position, welche die beiden bereits bedrohlich nah zueinander geratenden Rheintöchter wieder differenzierend auseinander bringt. In diesem Moment ertönt FLOSSHILDE’S (Stimme, von oben). Heiala weia! Wildes Geschwister!

Flosshildes Stimme von oben bereitet nun den stereoskopischen Blick zur vollen Erfassung der Szene der Visualisierung des Ursprungs der Musik vor. Ist Woglinde noch am Klang verhaftet kaum des Sehens fähig, so ist Wellgunde gewissermaßen schon die Einäugige, Flosshilde aber erst die Zweiäugige. Wellgunde wird also zur Entlastung von ihrer Defizienz mit zumindest einer der beiden Schwestern sich verbünden: entweder dem Klang – Woglinde – oder dem Blick – Flosshilde –, der Musik oder der Szene zustreben müssen. Doch Wellgunde strebt mehr an: Sie will die Einheit, womöglich die Identität der schwesterlichen Trias, und zieht Flosshilde, die der Sichtbarkeit sich noch enthält, in die Szene, um zusammen mit dieser Woglinde, diesen fast blinden Stimmeinsatz, zu fangen. WELLGUNDE Floßhilde, schwimm! Woglinde flieht: hilf mir die Fließende fangen!

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Floßhilde nimmt in diesem Szenarium die Rolle der absichernden Differenzierung ein gegenüber einem eventuellen Zusammenfall der Geschwister im Klangrausch und Tiefschlafrücksturz. Wie folgt führt sie die Differenz – in Moll – ein: FLOSSHILDE (taucht herab und fährt zwischen die Spielenden). Des Goldes Schlaf hütet ihr schlecht; besser bewacht des Schlummernden Bett, sonst büss’t ihr beide das Spiel!

Flosshilde stellt die nächste Stufe der Einführung des Sehens zum Erblicken des Ursprungs der Musik dar. Sie führt die notwendige sowie weitgehende Differenzierung der beiden Spielenden unter Verweisung auf ein Drittes ein, auf ein Drittes, das Buße verlangen könnte, Rückkehr in den Ort der Herkunft, in die NichtSicht, Tiefschlaf, Allklang, wenn nicht wachend der Schlaf gehütet, Traumarbeit und mithin Szenengestaltung geleistet wird.6 Aber auch der Flosshilde bleibt ihre initiale Sichtentzogenheit anhängig, sie versucht, die dem Sehen eigene Abstandsbildung dem Schwesternpaar durch sich als Dritte einzutragen, doch bald schon wird sie selbst unabständig zu beiden und nimmt an dem Spiel der Rheintöchter teil, an dieser Inszenierung des Verschwindens aus der Szene in den Klang und den Schlaf retour: Mit munt’rem Gekreisch fahren die beiden auseinander: Floßhilde sucht bald die eine, bald die andere zu erhaschen; sie entschlüpfen ihr und vereinigen sich endlich, um gemeinschaftlich auf Floßhilde Jagd zu machen: so schnellen sie gleich Fischen von Riff zu Riff, scherzend und lachend.

Nun bedarf es eines vehementeren Einspruchs, um die Szene noch wahren zu können, um sie nicht in den Unort ihrer Herkunft verschwinden zu lassen, um die Rheintöchter davor zu bewahren, gänzlich zu dem Fisch-Teil ihrer selbst, zu ihrer eigenen Vorzeit zu werden, der sie sich gemäß ihrer eigenen Oberwelt, der Mensch-Teile, entrecken, um von dieser her sich zurückzusehnen. Zu einer klareren Differenzierung aber bedarf es vor allem eines ganz anderen In-ErscheinungTretens, eines Inszenierens nämlich, das nicht mit seiner Wahrheit, das heißt mit der Anmahnung seiner Herkunft, mit dem Zitat seiner Opfer beginnt, nicht mit Klang, Musik, Stimme, Gesang, sondern mit der Behauptung der visuellen Erscheinung als Wahrheit selbst und als Ort der eigenen Herkunft. Woher aber 6 Ich erinnere den Spruch des Anaximander: „Aus welchem aber das Entstehen ist den Dingen, auch das Entgehen zu diesem entsteht nach dem Notwendigen; sie geben nämlich Recht und Buße einander für die Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“

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soll solcherart Autonomie des Inszenierens kommen? Die Antwort auf diese Frage, insofern sie nicht in sich selbst die Wahrheit der Erscheinung dementieren will, muss selbst eine Inszenierung sein, und so lässt die Wagner’sche Szene das Erscheinen sich aus sich ereignen, während die Rheintöchter noch spielen: Aus einer finsteren Schlufft ist währenddem Alberich, an einem Riffe klimmend, dem Abgrunde entstiegen. Er hält, noch vom Dunkel umgeben, an, und schaut dem Spiele der Wassermädchen mit steigendem Wohlgefallen zu.

Bevor Alberichs Stimme erklingt, ist er bereits in der Szene visualisiert. Damit ist er als der Gegenspieler der Rheintöchter ausgewiesen, die aus der Stimme erst ihre Versichtlichung gewannen. Alberich erscheint mithin als der Stellvertreter der These, das Sehen sei vor dem Klang und der Musik und Letztere ließen sich aus Ersterem ableiten. So vertritt er die auch heute noch gängige Meinung, das Sehen sei der erste Sinn, verstanden als der zuhöchst zu wertende Sinn. Doch Alberich ist zugleich das Dementi solcher These, Krisis der Visualisierung, Androhung der radikalen Rücknahme aller Szene in den Klang, des Traums in den Tiefschlaf, Aufreckung korporaler Binnenverfassung in die Szene, ohne aber Erhabenes geworden zu sein, sondern vielmehr misslungene Gestalt, voll der Nöte im Übergang verhaftet und abgesperrt von Körper, Tiefschlaf, Klang, denen er sich und alle Szene entgegensehnt, die ihn als ihre Begründungsfigur, Visualisierung des Ursprungs der Musik, eingesetzt hat. Geht man weiter davon aus, dass die Musik des Klangmaterials zu ihrer Konstitution bedarf, so müssen für Alberich die Rheintöchter als solches erscheinen, so dass er selbst zum Grunde der Musik zu werden vermöchte, insofern er dieses Klangmaterial sich gefügig zu machen verstünde. Das Problem der kompositorischen Verfügung des Materials hebt sich somit hervor, und es wird alle weiteren Szenen des Musikdramas in immer wieder neuen Wendungen bestimmen. Aber von dem Moment an, in dem Alberich erscheint, scheint die Entfaltung der Musik und des Kompositorischen in die Hand der visuellen Szenengestaltung gelegt zu sein; die aber inszeniert sich konsequent weiter als ihr Dementi, gemäß des Versuchs, den Grund der Musik szenisch auszusagen, so dass die Szene zur Basis der kompositorischen Verfügung des Materials sich aufzuwerfen vermöchte. Dem entgegen konnte die Musik bereits erkannt werden als der kulturell realisierte Versuch, den undarstellbaren Übergang in die Szene, auf den konkreten Körper bezogen: den Übergang vom Tiefschlaf zum Traum, darzustellen. Wie aber tritt die Musik aus dem Klang hervor? Diese Frage zumindest gilt es noch zu beantworten, zumal in der Hinsicht auf das visuelle Begehren, den Ursprung der Musik zu sehen. Was denn könnte gesehen werden?

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Gesehen werden könnte das, was eben nicht zu sehen ist: der Tod, der Entzug, die Absenz, das Nichts. Gesehen und gehört werden kann hingegen das Opfer, der Opferkörper, also der Tod am Anderen. Genauer auf die Sinne bezogen heißt dies: Gesehen werden kann der sterbende oder tote Körper, gehört werden kann die Klage oder der Todesschrei des Anderen. Initial für die Musik ist es also nicht zuletzt, solche Todesabwehr im Sinne der Bearbeitung des Klangmaterials vorzunehmen; solche Abwehr durch Bearbeitung stellt Medien her, vermittels derer der Tod auf der Seite der Anderen sich verorten lässt. Die hervorzuhebende Erkenntnis, insbesondere in Bezug auf die Medien, ist mithin die folgende: Medien sind die Maschinen zur Exekution des Todes am Ort des Anderen. Zu den fundamentalen Medien gehören die Musik und die Szene. Im Begriff der Medien-bildenden Todesabwehr durch Bearbeitung des Materials sind die Momente der Verausgabung, der Projektion, des Isolierens, des Sadismus und der Objektivation angesprochen. Aber aus dem Klang wird die Musik auch umgekehrt in narzisstisch introjektiver Rücksicht in dem Sinne, dass in ihr und vermittels ihrer das Fremde ins Humane integriert werden soll. Musik gewinnt dem Humanen seine Binnendifferenzierung vermittels der Aneignung der Fremdheit, der Differenz des Klangs; sie ist die rationale In-Verfügung-Nahme des Hörens und versucht, das Hören als humane Selbstbewusstseinsbildung einzuüben und kulturell verfügbar zu verfassen, was dem Humanen sich entzieht. Die phantasmatische Forderung lautet diesbezüglich: Alle Klänge der Natur und der Körper inklusive des eigenen sollen dem Menschen sein sich selbst Hören sein, Reflektion und Rücklauf seiner akustischen und phantasmatischen Entäußerung, selbsterfahrenes Selbstbewusstsein. Doch was ihm entgegenoder zurückklingt, insofern es nicht in die ästhetischen technischen Formen des Musikalischen eingebracht werden kann, sind exklusiv die Todesklagen der Natur und der Körper, die Klagen über den Übergriff des Humanen auf den Körper der Natur, welcher der Körper des Humanen zumal ist. Dieses Rücklaufs Bannung endlich hat die Visualisierung vorzunehmen: Das ist die Fundamentalaufgabe szenischer Gestaltung: die Abdeckung der Anmahnung von Opfer, Sterblichkeit, Schuld und Tod. In diesem Sinne hat sie fetischisierende Ablenkung vom Trauma des Todes und der Sterblichkeit zu sein.

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Ralf Bohn VERSTECKSPIEL. ECKSTEINE EINER GENEALOGIE DER SZENIFIKATION

1. Ökonomie und Anökonomie von Szene und Medialität

In zwei Richtungen hat die jüngere Philosophiegeschichte den Begriff und das Ereignis des Ereignisses zu denken versucht. Zum einen konstituiert sie das Ereignis als negative dialektische Bewegung, die eine jede Totalität in disparate Momente aufsplittet1, weil sie spätestens seit Nietzsche erkennen muss, „daß die Begriffe dem Lebendigen, das sie unter sich befassen, gegenüber insuffizient“ sind.2 Adornos Begriff der negativen Dialektik hat auf die Insuffizienz mit einer ästhetischen Wende zur Kritik reagiert und damit an den Kritikbegriff Benjamins im Zuge der „Zertrümmerung“3 totalisierender, idealistischer Positionen im Sinne der Frühromantik angeknüpft. ‚Ereignishaftigkeit‘ ist gleichsam ein ins Positiv gewendeter Mangel von Negativität und als solcher mediiert. Adorno bemerkt eine ökonomische Sichtweise, in der sich die Mangelsituation nothaft zwischen Wert und Ereignis als Ereignis4 selbst darstellt. Zum anderen ist von Lyotard hinsichtlich der Unterscheidung Realität/Inszenierung auf die Ambivalenz des Freudschen Todestriebes mit dem energetischen Begriff der Libido hingewiesen worden, der eine Ökonomie zwischen physischem (körperlichen) und phantasmatischem (leiblichen) Widerstand aufzeigt. Im Schnittpunkt dieser Zerrissenheit spielt sich Szenisches als Tauschereignis ab.5 Meine Betrachtungen zielen auf die unmögliche ontologische Reduktion von Ereignis, Unbestimmtheit eines ersten/liminalen Signifikanten, der sich in und als produktives Ereignis zugleich zeigt als auch in der Produktion verschiebt und 1

Jean-François Lyotard: Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 135.

2 Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik (1960/61). Nachgelassene Schriften Abt. IV, Vorle-

sungen Bd. 7, Frankfurt am Main 2002, S. 62. Benjamin: Ges. Briefe, Bd. III: 1925-1930, Frankfurt am Main 1997, S. 522. 4 Ich knüpfe, einem Hinweis von Petra Maria Meyer folgend, an Lyotards Theatralitäts-Definition an, in welcher auf die Entzugs-Position des Ereignisses gedeutet wird: „Verstecken-Zeigen, das ist Theatralität.“ Jean-François Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1977, S. 11 u. S.13. Vgl. auch Petra Maria Meyer: Die ‚schöpferische Rolle der Zeit‘ in Weltumschlungen von Nam June Paik. In: Erika Fischer Lichte: Performativität und Ereignis, Tübingen, Basel, S. 185-203. 5 Vgl. Rudolf Heinz: Todesnäherungen. Düsseldorf 2007. Heinz geht historisch und systematisch den Spuren der Freudschen Todestrieb-Ambivalenzen nach. 3 Walter

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verbirgt – ein ortloses Quantum, das sein eigenes Fehlen, sein Verstecktsein repräsentiert. Insofern ist Ontologie eine positive Logik des Entzugs, die Heidegger als Szene einer Lichtung, als Theater der Entbergung, Sartre als ‚Seinsriss‘, Adorno aber gegen den frühen Heidegger als ein historisch uneinlösbares Versprechen beklagt, das logisch zu konstatieren, nicht ontologisch in Aussicht zu stellen sei. Lyotard unterlegt, mit Rücksicht auf Freud, diesem ersten fehlenden/deliminalen Signifikanten die Libido, eine ‚Energie‘, die jede Verschiebung als ein ‚nihilistisches‘ Ereignis, Produktivität selbst, begleitet. Die Inszenierung ist keine ‚künstlerische‘ Tätigkeit, sie ist ein allgemeiner Vorgang, der alle Tätigkeitsbereiche betrifft, ein zutiefst unbewusster Vorgang des Auswählens, des Ausschließens und des Auslöschens. Mit anderen Worten, die Inszenierungsarbeit vollzieht sich auf zwei Ebenen zugleich und dies ist das allerrätselhafteste. Auf der einen Seite läuft diese Arbeit schlicht darauf hinaus, die Realität hier und im Spielplatz dort (ein ‚Reales‘ oder ein Objektiv befindliches ‚Dereales‘) zu trennen. […] Aber andererseits, und hiervon untrennbar, soll die Funktion der Repräsentation gewährleistet werden.6

Ein solcher Ort nicht allein der Darstellungsformen (Medien), sondern der Epochen, in denen ein Darstellen sich selbst z.B. mathematisch-technisch nicht mehr zur Darstellung bringt, ist das szenologische Arbeitsprogramm, das nach den Bedingungen der Möglichkeit von Ökonomie und Arbeit überhaupt fragt. Es gilt, das semiologische Universum und das der Wertgesetze in ein energetisches Modell zu übersetzen, in dem sich Repräsentationen noch nicht von der Körperoberfläche abgelöst und den Raum leiblicher Beziehung phantasmatisch eröffnet haben. Lyotard bezieht sich durchgehend in seinem Essay auf die Funktion der Haut, der Haut der Organe und der medialen Membrane (Film, Foto, Malerei), auf deren Grenzflächen allein sich die Ambivalenz der Libido einschreiben kann, als einer Energie, die über den Tod hinausreicht und von der her ‚Libido‘ sich nährt. In gleicher Weise fließt die theatrale Inszenierung des Körpers in den Raum der Szene aus. Dort, wo Adorno die Medien der Kulturindustrie als Tauschorte wahrnimmt, tritt eine Mehrdeutigkeit im Sinne des szenischen Ensembles auf.7 Diese szenische Idee – ursprünglich die von der Frühromantik angedachte Poetisierung der lebensweltlichen Organisation, war poiesis, Produktivität körperaffiner Membrane: um 6

F. Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, a.a.O., S. 34f. Hier wäre an die im SPIEGEL-Gespräch von Heidegger vorgeschlagene Antwort auf die Frage „Und wer nimmt den Platz der Philosophie jetzt ein?“ zu erinnern. Heidegger: „Die Kybernetik.“ Ob Heidegger dabei an die vielfältigen Einlassungen von Gotthard Günther gedacht hat, die dieser sowohl in seinen Beiträgen zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, als auch in Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik gemacht hat, kann hier nicht diskutiert werden. Die Stoßrichtung wider den Nihilismus in Zusammenhang mit dem, was in der Szene als deren Vorzustand ‚Diffusion‘ genannt wird, muss hier den Begriffen ‚Wiederholung‘ und ‚Programm‘ (im Sinne kybernetischer ‚Programmierung‘ und des medialen ‚Programms‘) unterlegt werden. Philosophie ist dezidiert dann nur Medienphilosophie, also der Selbsteinspruch gegen den wissenschaftlich-technischen

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in die Situation der Tauschvermögenden eintreten zu können, von denen aus sich das Verhältnis von Wert (Produktionsvermögen) und Ereignis (reine Produktivität, Arbeit) als Widerstand repräsentierte – Dichtung und Theater. Noch aber das kritisiert Adorno als Medienmacht: „Ich glaube, daß, wie dem Wort Überwindung allgemein, so einer Philosophie alles Misstrauen gebührt, die an die Stelle jener Positivität, die ihr Pathos ausmacht, nichts anderes zu setzen hat als die Zweideutigkeit des Mediums, innerhalb dessen sie sich bewegt.“8 Auf die Mehrdeutigkeit des Medialen und auf die topologische Bestimmung, dass sich etwas in einem Medium (dem Spiel des Widerstandes) zu bewegen habe, antwortet Austins Begriff des Performativen mit einer typologischen, genauer, szenologischen Unterscheidung, die die Rede vom Medium als Körper einer Aussage und nicht als Ablösung derselben vom Körper reklamiert. Es bleibt in der strukturalen Ordnung der Rede eine Leerstelle, die den Körper der Rede mit der Sprache unlösbar verbindet und von der aus der Binnentausch des Subjekts als Raum ausgreift. Löst (verkörpert) sich medientechnisch die Rede vom Körper, insistiert dieser umso hysterischer auf eine sprachliche Rückaneignung. Die Hysterie der Darstellung und die im Versteckspiel konstituierte Leerstelle sind Versuche, die Ökonomie von Ereignis und Bewahrung desselben in der Sprache zu fügen, und zwar dann, wenn das Sprechen des Anderen in einem anderen, der theatralen Rolle, gespielt wird. Die Szene ist der Ort, an dem die Produktion selbst performiert. Historisch erscheint die Psychoanalyse als Ökonomietheorie zu der Zeit, als Telefon, Grammophon und Phonograph Stimmenphänomene neu verkörpern, Phantasmatik und Verkörperung auseinander fallen, mediale Membranen diffundieren.9 Die Neuverortung der Sprache erscheint in der hysterischen Szene zunächst in Form der Besessenheit. Das bedeutet zweierlei: Zum einen beherrscht der Körper performativ die Szene der Konsumation, zum anderen hysterisiert sich die Produktions-KonsumationsValenz in einem Raum neuer Distanzen, den man mit dem doppeldeutigen Begriff Spielraum benennen kann, der sich durch Freiheit wie Angst vor ihr auszeichnet. Die Eroberung der neuen Distanzen protegiert das Versteckspiel. Das freie, kommunikative Spiel als nicht mehr rituelle Form erscheint als Folge medienökonomischer Distanziertheit. Kommunikation ist etwas, das diesem leeren Raum mit einem leeren, tonlosen Sprechen, einer Geste antwortet. Denn die Leere lässt sich nicht repräsentieren. Unter den Gesichtspunkten szenologischer Professionalisierung tritt der

Progress, der selbst aber nur Ausdruck der fetischisierten Flucht vor der Unmöglichkeit der Selbsteinholung des Grundes ist und zwar fortwährend so exklusiv erfolgreich, dass er sich, wenigstens bis zur Heisenberg’schen Lösung, im kausalen Widerstand der Flucht halten kann. 8 Th. W. Adorno: Ontologie und Dialektik, a.a.O., S. 72. 9 Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 60ff.

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Körper arbeitend direkt in ein Währungsverhältnis ein. Der Ort des Geldtauschs, so die Beschreibung Sohn-Rethels, ist die Membran, an der sich diese beiden Entleerungen – die der Stimme und die der Produktion – quasi magnetisch abstoßen, um als Repräsentationen von Ware und phantasmatischem Wert zu zerfallen und in ihrer konsumativen Entleerung neue ‚libidinöse Energien‘ aufladen. Neben dieser Entwicklung einer hysterisierten Eventkultur, die Adorno beklagt, steht auf der anderen Seite die Forderung einer reinen Objektbestimmung seit Husserl und über Heidegger hinaus: Realität wird als objektives Medium im Sinne eines ungeschichtliches Seins zu denken versucht, das dem Ereignis entgegengesetzt ist – ein Sein des Subjekts, das ihm selbst gegeben ist, bedarf nicht der medialen Vermittlungen, sofern die Sprache des Seins selbst spricht. Diese Gabe ist zwar der Kategorie der Geschichtlichkeit enthoben, aber, so Adornos Kritik an Heideggers Ontologiebegriff, immerhin so gedacht, dass ihre Erinnerbarkeit zugleich an eine archaische Zeit ihrer Präsenz rührt. Adorno liest diesen Seinsbegriff als bewusst lancierte Zweideutigkeit der Heidegger’schen Begriffe Geschichte und Geschichtlichkeit, sowie Sprache und Sein. „Es kommt infolgedessen bei ihm [Heidegger; R.B.] so zu einem Kult von Ursprung oder Erneuerung, dem die Sympathie mit der Barbarei, die in seiner politischen Geschichte sich ausgeprägt hat, nicht zufällig und nicht äußerlich ist.“10 Die Verkennung Heideggers besteht – nach Adorno – nicht darin, dass Heidegger kein Problembewusstsein für das Dilemma einer objektiven Medialität hätte, sondern dass er die, auch für Adorno nicht zu revidierende, performative Situativität (Existenz) aller Medienübergänge positiv und ästhetisch zu bestimmen versucht. Das permanente Misslingen der Erinnerung an das Sein der Gabe, so Adornos Pointierung, ist nicht geschichtlich zu ermächtigen, sondern geht zurück „auf die Erinnerung daran, daß unsere Existenz von körperlicher Arbeit abhängig ist“.11 Bourdieu fügt diesem anthropologischen Argument ein soziologisches der Gabe hinzu. Das Archaische, „kunstgewerbliche“ Heideggers ist „ein Moment der Fiktion“12, nämlich, dass durch permanente Wiederholung, einem Wiederholungszwang, einem Waschzwang, die „Allergie gegen das Seiende“13 auszuhalten wäre. Näher an Medienkritik formuliert äußert Adorno den Verdacht, die Tauschmechanismen der philosophischen Traditionen und -ismen seien zu einer „Umschrift“14

10 Th.

W. Adorno: Ontologie und Dialektik, a.a.O., S. 240. Vgl. auch Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt am Main 1988, S.78f. 11 Ebd., S. 104. 12 Ebd., S. 231. 13 Ebd., S. 102. Adorno spricht im psychoanalytischen Sinne von einer neurotischen Besetzung, in der sich der Körper in der Arbeit selbst abarbeitet. 14 J.-F. Lyotard: Streifzüge, a.a.O., S. 134.

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nur innerhalb kontingenter Serien bzw. Diskursgattungen im Stande.15 Mit diesem elitären Diskurskonzepten (Bourdieu) zu brechen, bedeutet aber, den Körper als eine erste, extensiv erarbeitete Realität, als Medium der Philosophie wieder zuzulassen. „Ein[] jegliche[s] ist in sich auch Körpergefühl.“16 ‚Energie‘ ist der Ausdruck für die Distanz des phantasmatisch abgespaltenen Binnenwiderstandes. Orte, an denen die Zweideutigkeiten als Mehrdeutigkeiten sich zu erkennen geben, so wäre die Kritik Adornos weiterzuführen, sind im Sinne Foucaults heterotop, das heißt, sie inszenieren sich als Entzug oder Verschwinden idealistisch gedachter Medialität dadurch, dass das Subjekt seiner Objektivierung, die zum technisch-logischen Faktum einer globalisierten Realität geworden ist, theatralisch und zwanghaft, hysterisch und dramatisch sowohl zu entrinnen als auch sie auszutesten versucht17, um darzustellen, dass die Objektivierung nur eine phantasmatische der vorherrschenden Wertsetzung ist, mit der Arbeit in Materie und somit Raumokkupation verwandelt wird. ‚Hysterie‘ versucht paradox die Produktion als solche zu repräsentieren. Genau das meint der inflationäre Begriff der ‚Kreativität‘ innerhalb der künstlerisch-gestalterischen Produktion: Erfindung wie Zurücknahme seines objekthaften Selbstwiderstandes in herrschende Ökonomie ist die Folge. Die dramatische Performanz ist Ausdruck der Erinnerung, dass die Sprache in einer pluralen Dialektik nicht nichtintentional zum Ausdruck kommen kann. In der Kritik sprachökonomischer Körpervorbehalte (Symptom) erweisen sich gerade neuere psychoanalytische Ökonomiemodelle als hilfreich. Wir setzen also zunächst, dass das (Versteck-)Spiel der Szene eine Geschichte der Ökonomie der Sprache (Gesellschaft) und der Arbeit des Körpers nachstellt. Dieses kann nun nicht wieder in der dualen Opposition von Konsumation und Produktion dargestellt werden, sondern muss der pluralen Struktur von Gesten sich öffnen, die nicht vom Körper sich ablösen lassen wollen. Dieser Ablösungsvorbehalt genügt, um der herrschenden Realität ein Spiel abzutrotzen, das vom anderen (Betrachter) 15

Th. W. Adorno: Ontologie und Dialektik, a.a.O., 123. „[...] und diese Wiederholung, dieses reclamare, das ja bekanntlich auch das Geheimnis von Reklame ist, das scheint nun einmal das zu sein, was die Wirksamkeit von Theorien verbürgt.“ Adorno wendet sich nicht nur an dieser Stelle dagegen, „daß Dasein, daß Faktizität selber eine allgemeine Struktur ist“. Er folgt damit einer Begriffsbestimmung, die sowohl die Frühromantik als auch vor allem Sartre angeregt haben, die des ‚allgemeinen Individuellen‘, respektive des l’Idiot de la famille. Diese Figur kombiniert, wie Manfred Frank nachgewiesen hat, nichtidealistische und nichtontologische, strukturale und hermeneutische Sinngebungsverfahren miteinander. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt am Main 1977. 16 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1980, S. 194. 17 Petra Maria Meyer: Performance im medialen Wandel. Einleitender Problemaufriss. In: Dies. (Hg.): Performance im medialen Wandel, München 2006, S. 61. Meyer spricht von einer „Ästhetik des Entzugs“ und einer „Ästhetik des Verschwindens“ in Bezug auf künstlerische Performance und die Einmaligkeit der Aufführung.

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mit einer gewissen Neugierde quittiert wird, die das nicht abgelöste Objekt sich zu erschleichen versucht und eine Art maieutische Verbindung von Akteur und Besucher, also das Theater jenseits der Kapitalökonomie ermöglicht. In der Szenifikation von Einmaligkeit (einer Aufführung) und dem Wiederholungszwang (Motorik, Programm) der immer gleichen Darstellung entfaltet sich das Problem der medialen Kontingenz von Realität überhaupt, deren Produkt letztlich in der Stabilisierung einer Ich-Position (Personalisierung) mündet. Was also das Theater zeigt, ist der Geburtsvorgang selbst, ohne dass etwas geboren wird: die ‚unschuldige Produktion‘. Die Szene produziert nichts – sie produziert sich. Als ihr Zerfallsprodukt erscheint wieder nur die abstrakte Tauschbeziehung von Ware und Wert (Zeichen). Die Szene/ die Membranen/die Medien sind Orte parthenogenetischer Produktion, an denen die Produkte der Gesellschaft synchron, gleichsam allegorisch vereint und elektrolytisch dissoziiert werden. Dass ihre Unschuld nur der Effekt des Spiels ist, versteht sich von selbst. Drei szenische Entfaltungen sollen hier vorgestellt werden. Gemeinsam ist ihnen der Bezug zur Ästhetik des Verschwindens, die im kindlichen Versteckspiel ihren Allgemeinplatz hat. Kinder produzieren sich, ohne etwas zu produzieren, ja sie versuchen sogar dezidiert der Einschreibung zu widerstehen. In gewissem Sinne ist die parthenogenetische Produktion immer infantil und pervers. Als Verschwinden wird jeweils das szenisch fingiert, was nicht erscheinen kann: der Ursprung, das Ende des Spiels und die Identität von Name und Körper. Es handelt sich also auch um die Kompensation einer natürlichen Kastration, die die Kindheit von der Arbeit ausschließt, andererseits die Neugierigen je wieder zu Kindern macht, womit der Voyeurismus der Kinder im Versteckspiel immer zu einer Antizipation des Erwachsenseins antizipiert. Wie beschafft sich Kommunikation quasi aus dem Nichts dieses Spiel? Konkret wäre die Frage im Gedächtnis zu behalten, wie die Arbeit des Individuums zu einer Personalisierung des Subjekts führt, also die Produktion auf es selbst zurückschlägt, so ja das Marx’sche Argument einer nichtentfremdeten Produktion. Das heißt, wie kann das infantile Subjekt sich – neben der Kontinuität des Namen des Vaters – als ein unschuldig-schuldhaftes Sein, als ein nicht-setzendes Bewusstsein von sich selbst reflektieren und sich einen Eigennamen geben? Die erste Entfaltung widmet sich der Frage nach der Funktion der Fiktion eines Sohnes in Albees Theaterstück Wer hat Angst vor Virginia Woolf … ? (der Filmtitel verzichtet auf die drei Punkte), das 1966 mit Richard Burton und Elizabeth Taylor filmisch inszeniert worden ist. Die Frage nach der strukturalen Position des Sohns zielt auf die ontische Qualität des ersten Signifikanten und seiner Phantasmatik. Um es vorweg zu sagen: Im Sohnesstatus wird die Möglichkeit von Reaktualisierung und somit die Frage nach dem Wiederholungszwang und der Abwehr in der Vorstel-

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lung eines einmaligen, performativen Ereignisses gestellt. Der fiktionale Zustand der Phantasmatik (der eingebildete Sohn) verhindert den Inzest des Wiederholungszwangs und den kriegshaften Kollaps von Konsumation und Produktion. Die Fiktion und der Erhalt des Phantasmas ist tatsächlich eine Produktion im Sinne des parthenogenetischen Ereignisses. Die zweite Entfaltung widmet sich dem Film Das Leben ist schön von und mit Roberto Benigni. In diesem Oscar prämiertem Werk von 1997 wird das Überleben eines kleinen Jungen in einem KZ geschildert. Der Junge behauptet sich mit Versteckspiel und Verschwiegenheit gegen die Gewalt eines faschistischen Vatersignifikanten, der auf absolute Realität drängt. Wiederholbarkeit als Spiel des Realen wird im Faschismus durch die Einmaligkeit des Todes herausgefordert. Benignis Film wendet sich mit den Mitteln des running gag, einer Re-Aktualisierungsschleife, und des Spiels gegen die faschistische Realitätssetzung eines strukturalen Vatersignifikanten (Gottes- und Naturfunktion (Absolutheit) und Führerprinzip (Nachfolgeschaft)). Der Film zeigt die Regression des Vaters in eine infantile Situation und zwar dadurch, dass der Vater seinem eigenen Sohn gegenüber das KZ als Ort eines Versteckspiels ausgibt. Die dritte Entfaltung dient der performativen Darstellung des Versteckspiels selber, in welchem der Übergang von Ontologie (Verführung zum reinen Sein) in optischer Präsenz (Seiendes) als Subjektivität (Dialektik) erstritten wird. Subjektivität gedacht hier als Kompetenz, den Streit des ersten Signifikanten vorläufig zu schlichten, und zwar in einer Setzung, mit der das Individuum von sich in der ersten Person singular sprechen kann: Ich! Diese Singularitätssetzung (im Sinne des Lacanschen Spiegelstadiums) schaltet Wiederholung durch Individuation aus, ist jedoch beständig vom Wiederholungszwang in seiner Singularität bedroht. Das Subjekt muss dem Phantasma erliegen, sein eigener Ursprung und somit Sohn sein zu können: das geht nur in zwei Schritten: 1. Es muss sich einen Mutterkörper suchen (das Versteck). 2. Es muss am Tochtersubstitut, dem Eckstein anschlagen und damit seine Transformationskompetenz (Wettlauf zum Eckstein) beweisen. Das Produkt (Ich) erscheint, aber nur als Fiktionalität und nur insofern sich die Fiktion für eine Weile gegen eine Realität (die die der produzierten Dinge ist) behauptet. Die Fiktion ist immer ein Teil der Realität und begründet das Reale als ontologische Kategorie, die sich im Moment ihrer Kontingentierung dialektisch zersetzt. Damit es infantile Subjektorte des Scheins gibt, gibt es Kunst und mediale Inszenierung. „Inszenierte Unverfügbarkeit des Menschen manifestiert sich in unvordenklichen Konflikten, die ihre Veranschaulichung nur durch Spielvariationen gewinnen können.“18 18 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1993, S. 505.

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In Bezug auf die Notwendigkeit des Spiels ist eine Szenologie vorbereitend für eine Anthropogenese von Medialität, also der Genese der Vorstellungs- und Darstellungsräume. Was bedeutet das für eine Idee der Politisierung des künstlerischen Scheins (nach Schiller), wenn das Phantasma der Realität – die Selbstanmaßung der existentialen Setzung eines ersten Signifikanten – keine ontologische, sondern eine mediale Grundlage hat, insofern das Medium etwas ist, das dem Wiederholungszwang einen Widerstand und gleichzeitig eine Leere/Aufschub bietet, in der etwas szenisch zur Darstellung kommen kann?19 Martin Seel hat auf das besondere Moment der Begrenzung aufmerksam gemacht, in der Schein in Erscheinung übergeht. „Das begrenzte räumliche und zeitliche Arrangement, das eine Inszenierung ausmacht, lässt die Elemente, mit denen es operiert, in ihrem Erscheinen hervortreten.“20 Der Grenzbestimmung in räumlicher Hinsicht ist von den Theaterwissenschaften in erster Linie Aufmerksamkeit zugekommen. Zeitlich gesehen handelt es sich um die Markierung eines Anfangs, respektive einer Finalität, die aber nicht positiv gesetzt wird, sondern die Unmöglichkeit einer solchen Setzung selber funktional inszeniert und somit Medialität als Ausdruck dieser unmöglichen Möglichkeit vorbereitend arrangiert und dramatisch verdichtet. In dieser Funktionalisierung ist zugleich die Trennung von Raum- und Zeitfunktion ebenfalls als eine nichtrealisierbare ausgemacht – anders als Hans Ulrich Gumbrecht im Anschluss an Seel glaubt: „Weil man Zeit benötigt, um Intentionen zu verwirklichen, ist Zeit die dominante Dimension der Sinnkultur. Präsenzkultur dagegen wird dominiert von der Dimension des Raums, denn Räume konstituieren sich um Körper – also um die zentrale menschliche Selbstreferenz der Präsenzkultur.“21 Gumbrechts hilfreiche Unterscheidung zwischen Präsenz- und Reproduktionskultur, bedarf jedoch der Ökonomisierung genau dieses Unterschieds einer nicht reflexionstheoretischen Selbstbegrün-

19 Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914). In: Zur Dynamik der Über-

tragung. Behandlungstechnische Schriften, Frankfurt am Main 1992, S. 89. Freud weist in diesem Zusammenhang auf die performative Rede des Analysierten hin, der das, „was zu keiner Zeit gemerkt wurde, niemals bewußt war“, nicht erinnert, sondern das Register wechselt und agiert. D.h. der Analysierte gewinnt Einsicht in das, was die Sprache performativ schafft. „Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.“ Freuds Analyse richtet sich gegen solche funktionale Inszenierungen, die in einer Neurosenwahl motorisch sind (S. 93). Er verkennt dadurch nicht die Struktur der Arbeit des Menschen, die in einer paradoxen Situation physische Widerstände beseitigt, um sie im Mediengenuss, („Abführung“ motorisch-performativer Energie in Mimesis medialer Szenifikationen) psychisch wieder zu ‚kreieren‘. 20 Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. In: Früchtl/Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, a.a.O., S. 56. 21 Hans Ulrich Gumbrecht: Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung. In: Früchtl/Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, a.a.O., S. 67.

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dung. „Aber wie schaffen es Inszenierungen, so auf ihre eigene Gegenwärtigkeit zu verweisen, daß diese zu auffälliger Gegenwärtigkeit wird? Vor allem (und wohl fast immer) dadurch, daß Inszenierungen über deutlich markierte Elemente des Auftakts und über (normalerweise etwas weniger deutliche) Gesten des Abschlusses verfügen.“22 Anders als Gumbrecht das setzt, ist aber Zeit ein Ergebnis, nicht eine Voraussetzung der Bewusstwerdung der Leere. Denken wir diese wiederum funktional, dann problematisieren sich in Inszenierungen Medienübergänge wie Sinnenübergänge als Rettungsphänomene in der Zeit, die das Reale der Realität einem körpermotorischen Sinn unterstellen, der im Geschichtsbewusstsein aufgeht. Genau hier setzt Lyotard mit dem von Freud entborgten Begriff der Libido an. Darunter ist eben keine Triebenergie, sondern die Ambivalenz eines Todestriebs zu verstehen, der sowohl auf die Sterblichkeit wie auf dessen technische Überwindung des Todes (Finalisierung) referiert. Und zwar, das ist entscheidend, mit dem Phantasma seiner eigenen Unsterblichkeit, insofern die ‚Libido‘ menschheitsgeschichtlich nicht zu Grunde gehen kann. In diesem Sinne hat Foucault23 – in selten deutlicher Referenz auf Lacan – das Reale die Wahrheit des Wahnsinn genannt, in dem die nicht inszenierte ‚Realität‘ selbst szenisch eingebettet ist.

2. Eine Szene machen. Zur Darstellung des fiktiven Sohnes in Albees Stück ‚Wer hat Angst vor Virginia Woolf … ?’

Wenn man versucht, sich dem Gegenstand der Szenografie naiv zu nähern, fällt die Formulierung ‚eine Szene machen‘ ein. Ist jeder, der ‚jemandem eine Szene macht‘ ein Szenograf? Was bedeutet die Professionalisierung der Eröffnung eines szenischen Raumes? Heißt das nicht, die Regeln des Medienspiels nach ästhetischen Gesichtpunkten so auszurichten, dass ihre ökonomische Bewegung in der Szene gebannt wird? „Wenn Inszenieren ein Ausrichten, Ordnen von Bewegungen ist, dann nicht,

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Ebd., S. 74. Zum Beispiel in: Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt am Main 1977, S. 168: „Einzig und allein der reale Konflikt der Existenzbedingungen kann als Strukturmodell für die Paradoxe der schizophrenen Welt dienen.“ Lacans Darstellungen des Realen in Absetzung von der Realität werden im Begriff der Verwerfung der Ordnung der Signifikanten thematisiert, und zwar als Widerstreit der Instanzen der Ich-Konstitution: „Es handelt sich um die Verwerfung eines ursprünglichen Signifikanten in die äußere Finsternis, eines Signifikanten, der von da an auf dieser Ebene fehlen wird. Das ist also der Grundmechanismus, den ich am Fundament der Paranoia annehme. Es handelt sich um einen ursprünglichen Ausschlußprozeß eines primären Innens, das nicht das Innen des Körpers ist, sondern dasjenige eines ersten Signifikantenkörpers.“ Jacques Lacan: Die Psychosen. Das Seminar Buch III, Weinheim 1997, S. 179.

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weil es Werbezwecken, der Propaganda dient […], sondern weil es Vermehrungsinteressen, der Fortpflanzung, der Propagation dient.“24 Aber die Bewegung tritt auf der Stelle: das heißt, sie fingiert eine organische, keine anorganische Ordnung. Die Epik, vor allem die des Films vertritt heute diese musikologische Zirkulation: „Das Spiel (ist) die einzige Präsenz, die sich selbst entspringt, weshalb es auch verlischt, wenn es zu Ende gespielt wird.“25 Der Film „wird zum Körper des Phantasmas, zum Phantasiegebilde.“26 Das Spiel – will man Isers Idee nicht eines unendlichen Regresses bezichtigen – ist eine Sperrung, ein Raum-Geben des Seinsgedankens und zwar insofern dieses Sein, sobald es in einer Realität verhandelt wird, in ein Seiendes umschlägt. Die Geschichte des Seinsbegriffs ist nicht zu denken ohne die Geschichte des medialen Nichts. Die dialektische Vermittlung von ‚Medium‘ und ‚Inhalt‘ lässt plurale Perspektiven und Spielräume entstehen, die als fingierte Subjektivitätsmasken sich auf die Selbsthervorbringung des Spiels der Körper beziehen. Die Allegorien solcher Orte des medialen Nichts sind der Tod, das Rätsel, der Familienkonflikt, die institutionelle Hierarchie etc. – allegorisierte Formen, die in der Medienrealität als Selbsthervorbringungsfiguren sich auf das Episodische des Spiels selbst beziehen, das der Gestaltbildung der Zerstreuung und Sammlung unterworfen ist. Unter dem ‚Machen einer Szene‘ ist das Initiationsverfahren in einem solchen Grundkonflikt zu verstehen. Die Szene streitet in der Fiktionalität einer Leere: ein hysterisches Verhalten, ein Schauspiel, vorzugsweise ein Ehedrama, etwa das berühmte, mit Burton/Taylor besetzte des Films Wer hat Angst vor Virginia Woolf? zeigt diese Verweisung auf Leere positiv durch eine Fehlstelle (Fehlen des Sohnes). Die Hysterese sucht hier die Unvereinbarkeit von Vereinigung in Extensionen des Körpers auszutragen – wobei wir es schlicht und naiv mit dem Problem des Sohneswunsches und einer schuldzirkulierenden, masochistischen Selbstkastration zu tun haben. Der Film von Mike Nichols, den wir der allgemeinen Kenntnis wegen exemplifizieren, lässt genüsslich die Realität und das Schauspiel des mehrmals verheirateten und geschiedenen Ehepaares Burton/Taylor ineinander übergehen. Beide Schauspieler waren bekanntlich weder dem Alkohol noch dem Streit abgeneigt. Wobei wir nicht wissen, ob die massenmediale Aufbereitung der Eheeskapaden in der Yellow Press nicht ebenfalls Inszenierung war. Die Besetzung des Films führt als Spiel des Spiels, das in Stück, Buch, Aufführung und Film medial proliferiert, in die ‚Realität‘ zurück, die im Starkult ebenfalls als professionell inszeniert angesehen werden muss, und eröffnet so die Möglichkeit, den ganzen ökonomischen Kreis vom diffusen Imaginären über die dialektische Mediation (Fiktion), der szenologischen 24

J.-F. Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, a.a.O., S. 30. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, a.a.O., S. 501. 26 J.-F. Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, a.a.O., S. 40. 25 W.

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Performanz bis zum Einbruch in eine Realitätsbestimmung (Universalisierung des Marketing) abzuschreiten. Es ist keineswegs so, dass die Kette des Spiels im Spiel etc. ins Unendliche fortführbar ist. Denn sobald das Spiel, das an den Wiederholungszwang der Motorik des Körpers gebunden ist, die spiegelbildliche Ganzheit (Lacan) des Körpers als Negation realisiert, sobald also der Körper im reflexiven Ich totalisiert, löst sich die Spielbeziehung in die Realitätsbeziehung auf. In der personalen Einheit des Leibzusammenhangs endet das Spiel nicht. Bricht der szenische Leib zusammen, d.h. reduziert er sich auf den Körper, wird dieser zu einem Gegenstand der Verletzbarkeit. Es geht am Ende des Spiels darum, sich der Integrität des Körpers zu versichern. Das Spiel kann nur aufrechterhalten werden, solange körperliche Gewalt suspendiert ist. Der Sport markiert hier die Grenze, da er die Leiblichkeit verinnerlicht und damit eine neue Dimension der Ganzheit eröffnet. Der Film von Nichols, der sich eng an das Theaterstück anlehnt, spielt in einer einzigen Nacht, etwa von Mitternacht bis zum Morgengrauen, während die Filmwie die Theatervorführung in der Regel den ersten Teil der Nacht vor Mitternacht in Anspruch nimmt. Es handelt sich zeitlich um eine Art Durcharbeitung und Darstellung der Medieninszenierung in einem epigonalen Zeitfenster, das eigentlich dem Traum vorbehalten ist. Das Stück verweist einige Male auf eine Party, die im Hause des Vaters von Martha vor den im Stück dargestellten Ereignissen stattgefunden hat. Diese Party, die in der ersten Hälfte der Nacht stattfand, gibt den Kontext ‚Realität‘ vor. Der Inhalt der Filmhandlung ist schnell erzählt: Martha, die Tochter eines College-Rektors (Elizabeth Taylor), und ihr Mann George (Richard Burton), Professor für Geschichte und Philologie am College, bekommen Besuch, den sie kurz zuvor auf der Party des Rektors kennen gelernt haben: Nick, gut aussehender Biologe, ebenfalls am College beschäftigt, und seine neurotisch-naive, schmalhüftige Frau Putzi. Mit derben Späßen, aggressiven Dialogen und viel Alkohol versuchen die vier Personen die jeweiligen Schwächen des anderen zu entlarven. Der Film unterlegt Idealisierungen, die den realen, also fiktiven Rollen des Quartetts nicht gerecht werden. Alle vier Personen sind in eine Realität verstrickt, die sie so nicht gewollt haben. Insbesondere das Verhältnis von Martha und George ist in einer Hassliebe auf die Unfähigkeit von George fixiert, nicht die Nachfolge des Vaters als Rektor angetreten zu haben und damit quasi Sohnesstatus zu erlangen. Da Martha und George keine Kinder bekommen können (wie man erst am Schluss erfährt), haben sie sich einen Sohn illusioniert, dessen fiktive Existenz alsbald zur Sprache kommt. Die wechselseitige, hysterische Demaskierung führt schließlich dazu, dass George gegen Ende des Stücks den Tod des fiktiven Sohnes fingiert. Hier kommt zum Ausdruck, dass die kommunikative Aggressivität der provinziellen College-Gesellschaft Voraussetzung für das Überleben dieser Gesellschaft und ihrer Kompromissfähigkeit ist. Es bleibt aber bei dieser unproduktiven Überlebensstrategie.

In der Dramatik der Filmszenen geht es im Kern um die Frage: warum der Wunsch des Paares nach einem Sohn und damit nach der Setzung eines ersten Signifikanten, der Vaterschaft, nicht erhört wird, warum dieser Eintritt in die Realität einerseits gewollt ist, andererseits aber subliminal sich verweigert. In genau dieser Ambivalenz

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Abb. 1 Szenenfoto aus dem Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? 1966, Regie: Mike Nichols; mit Elizabeth Taylor und Richard Burton.

erfährt die Szene ihre Eröffnung. So spielen Martha und George ihren Gästen vor, sie hätten einen Sohn. Sie ersetzen den imaginären durch einen fiktiven Sohn – der gerade abwesend ist – und zeigen damit die hybride Position des ersten Signifikanten, der, nach Lacan, stets ein imaginärer bleiben muss. Die Ersetzung erfüllt nun die Funktion eines phantasmatischen Widerstandes, eines Wertes an sich. Demzufolge wird klar, was mit der Vaterposition eigentlich gesetzt sein soll: die unendliche Produktivität 27 des Imaginären, dessen, was sich gibt, um eine Floskel Heideggers und Derridas aufzunehmen.28 Dabei kommt zum Ausdruck, was mit ‚Begehren nach einem Sohn‘ eigentlich gemeint ist: die Setzung eines ersten Signifikanten als Möglichkeit einer positiven Wieder-Holung des Sich-selbst-Setzens. Das aber ist bekanntlich eine Unmöglichkeit, deren Paralyse sich in der Fiktion selbst Bahn bricht.

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In Bezug auf eine Philosophie des Films vgl. Ralf Beuthan: Das Undarstellbare: Film und Philosophie. Metaphysik und Moderne, Würzburg 2002, S. 29. 28 Vgl. Jacques Derrida im Anschluss an Mauss und Heidegger: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993.

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Der Film thematisiert also schlicht die Frage der medialen Differenz, der Wolfgang Iser zwischen Imagination und Fiktion nachgeht: Die Fiktion ist Realitätsersatz einer unmöglichen, paralogischen Realität, die gleichwohl möglich ist, nämlich im Film (respektive auf der Bühne).

Abb. 2 Szenenfoto aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

Das, was sich gibt (Vaterschaft), kann nur in der Alterität des Spiels der Hassliebe als Gegebenheit inszeniert werden. Der konvulsivische Ort dieser Auseinandersetzung ist die Hysterie, im moderaten Sinne des ‚eine Szene Machens‘. Die Ersetzung, die ein Effekt der Übertragung der Produktivität auf sie selber ist, – die Idee der Performanz, – erfolgt als Spiel mit mehreren, immer wieder gleich ablaufenden Regeln und Regelüberschreitungen, in dennen die Bloßstellung des jeweiligen anderen die Funktion der Fiktion demaskiert, ihr zugleich aber auch die Konstitution eines Realen mit körperlichen Wirkungen verleiht. Das Spiel dient dazu, den Leib des anderen zu verletzen, ohne seinen Körper zu treffen. Streitkompetenz und Komplizenschaft der Spieler sorgen für eine Atmosphäre permanenter Produktivität, aber sie diffundiert im töchterlichen Substitut, nämlich der Aufdeckung einer sprachlichen Agonistik, die für alle Beteiligten immer nur unglückliche, nicht erlöste und nicht geborene Fiktion bleibt, weil sie sich nicht in Handlung emanzipiert und produktiv ablöst. Wenn man gemein wäre, könnte man sagen: Hier verwirklicht sich die Schiller’sche Utopie einer Gesellschaft von Dichtern. Der Unbestimmtheit des ersten Signifikanten korrespondiert eine waffenähnliche Treffsicherheit in der Bestimmung derjenigen Disposition, die die Rolle des jeweils anderen als Lebenslüge entlarvt. Das Tochtersubstitut, in dem die Lücke des ersten Signifikanten struktural disponibel gehalten wird, wird durch die brillante

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sprachliche Performativität der handelnden Personen aufgedeckt, durch den Wiederholungszwang des Spiels jedoch gleich wieder verdeckt. Sprache bleibt das Medium der theatralen Handlungen. So etwas wie ein vernünftiger Signifikant, der seiner Genealogie einen Namen zu verleihen möchte, wird im Streit wie auch im Alkohol verflüssigt, liquidiert, so dass sich von keiner Stelle aus eine Schlichtung der Streiterei herbeiführen lässt. Wie auch? Das Über-Ich des väterlichen Rektorats (Marthas Vater) zementiert den Status quo der College-Gemeinschaft. Tatsächlich sind die vier Protagonisten unter der Wirkung von Müdigkeit und Alkohol nicht in der Lage durch eine Hierarchisierung der Fiktionen, an denen die Negationen der Idealitäten des Lebens, der Ehe, des Berufs etc. hängen, eine gemeinsame positive Referenzrealität zu konstituieren. Der Kern des Problems, die Unmöglichkeit der Selbstbegründung, wird stets kurz vor der Abnabelung, nämlich dem symbolischen Tod (Gesichtsverlust) eines der Beteiligten, abgebogen. Hier gewinnt das Stück von Albee theoretische Qualitäten. Es inszeniert nämlich das Dilemma einer zwischenmenschlichen Diffusion, in der das „Realwerden des Imaginären“29 nur durch das Fingieren des Realen realisiert werden kann: denn insgeheim besteht die Übereinkunft, dass die Regeln des College-Lebens selbst nur symbolische Fiktionen einer mythisierten Natur der Gesellschaft sind. Die Gesellschaftspiele des trinkenden Quartetts, angestoßen jeweils durch die Initiativen von George, dem professionellen Literaten und Szenografen, können nur so lange gespielt werden, wie der Schein des Spiels akzeptiert wird, wie also eine vorgängige Idealisierung als contreparti (Lacan) außerhalb des Spiels gehalten wird: Marthas patriarchalischer Vater. Damit aber wird erkannt, dass Realität eine ontologische Fiktion ist. Denn nur, wenn die „im Fingieren wiederholte Realität zum Zeichen“30 wird, also der mimetische Konsens einen Sinn als gemeinsamen Wert generiert, der von allen geteilt und somit als Realität anerkannt wird, ist das Spiel zu Ende. Wo das Spiel zu Ende ist, beginnt die Repräsentation des Körpers, der also erneut aus der Schusslinie gebracht werden muss. Wie alle Spiele, die sich metaphysischen Fragen nach dem Leben stellen, endet aber auch dieser Abend bei Martha und George durch Ermüdung, dass heißt, das Innewerden des Körpers als eines ganzen. Das Spiel selbst ist die Grenzüberschreitung einer normierenden Realitätsmacht, die in der von dem Vater auf den Sohn geknüpften Kette der Signifikanten besteht. Genau diese Verknüpfung fehlt. Sie bildet die dramatische Leerstelle: George ist unfähig (und unwillig), die Nachfolge des Schwiegervaters anzutreten. „Wenn es sich so verhält, dann ist damit auch die Oppo-

29 W. 30

Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, a.a.O., S. 22. Ebd., S. 21.

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sition von Fiktion und Wirklichkeit verabschiedet, denn sie impliziert als ‚stummes Wissen‘ immer ein Bezugssystem, das für den Akt des Fingierens als Grenzüberschreitung nicht mehr in Anschlag gebracht werden kann. Denn nun gilt es, Relationen aufzusuchen, statt Oppositionen auszumachen, und das heißt zugleich, von dem Entwerfen eines transzendentalen Ortes entbunden zu sein.“31 Eben diese fehlende Akzeptanz an den Glauben der Ordnung väterlicher Signifikanten treibt das Spiel in seinen hysterisierten Ernst. Die Relationen sind jeweils strategische Koalitionen zwischen den Protagonisten des Spiels. Das äußere Bezugssystem bleibt außen vor. Die instabile Opposition von Fiktion und Realität, die im Begriff der Neurose arbeitet, bezieht Freud in der Traumdeutung auf eine „Rücksicht auf Darstellbarkeit“.32 Darstellbarkeit ist nicht Bedingung, sondern Voraussetzung: Was zur Darstellung kommt, sind Phantasmen, deren Widerständigkeit jeder dem anderen in die Schuhe schiebt, die aber beständig unterhalten werden wollen. Von was nährt sich denn diese College-Renitenz? Von der Nacht und dem Alkohol, das heißt, von der Extension der inszenierten Leere. Nun bekommt die Fiktion ‚Sohn‘ selbst tatsächlich eine relationale Komplexion. Welches Begehren geht dem Wunsch nach einem Sohn voraus? Die Trieb-/Widerstandsrelation besteht einerseits in der logischen Unmöglichkeit eines ersten, singulären Signifikanten und andererseits in der Unmöglichkeit, mit der Sohnesgeburt, nicht zugleich auch den Wiederholungszwang ins Recht zu setzen und damit die Singularität des Ereignisses, von Ereignishaftigkeit überhaupt, zu negieren. Es ist das frühromantische Paradoxon des Sich-selbst-setzenden-Bewusstseins, das in der Figur der Inversion33, eines Platztauschs der Signifikate, die Kontingenz der Differenzen ermöglicht. Dafür aber gilt es, die Zeit der Inversion poetisch aus der Ökonomie der Realität herauszunehmen. Der Platztausch (Reflexion) verlangt nach einem leeren

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Ebd., S. 23. Innerhalb der Logik des Traums scheint dieser Aspekt nur allzu leicht das Problem der „Vertauschung“ von symbolischer und funktionaler Deutung zu überspielen, das von Herbert Silberer veranschlagte ‚funktionale‘ oder ‚autosymbolische‘ Phänomen. Im Traum, aber auch im mythischen Übergriff erfolgt die Verschiebung in der Regel so, „daß ein farbloser und abstrakter Ausdruck des Traumgedankens gegen einen bildlichen und konkreten eingetauscht wird“. (S. 283) Freud macht damit auf die Bildmedialität als „ein mittleres Gemeinsames“ (S. 282) aufmerksam, von dem aus szenisch die Deutungsintention in der Schwebe gehalten wird, um den ontologischen Bruch zu verdecken. Die Entscheidung für eine Art der Deutung zeigt, welcher funktionale Zusammenhang von Subjektivität und Realität durch den Körper im Raum geleistet wird. Wir können also die ‚Verbildlichung‘ nicht allein als eine Ökonomisierung ansehen, sondern müssen, wie Freud, die konstitutionelle „Phantasiebeschäftigung mit dem eigenen Körper“ (S. 288) als eine Auslegungsmöglichkeit betrachten, in der das Individuum sein Ausfließen in den Raum bewacht. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1984. 33 Vgl. die Geschichte des Inversionsbegriffs bis in die Neuzeit: Ralf Bohn: Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils, Würzburg 1988. 32

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Platz, an dem die Person ihre Selbstbegründung nachträglich fingieren kann. Genau das spielt sich im Versteckspiel ab und genau darauf zielt der nichtökonomische, allegorische Tausch der Signifikate in Warendinge, der sich auf die Relation leerer Platz – besetzter Platz bezieht. Entgegen der Tatsache, dass gleichzeitig nur ein Ding an einer Stelle des Raums sein kann, können das in der Phantasmatik mehrere Fiktionen sein. In diesem Sinne wird die Zeit in der Szenifikation außer Kraft gesetzt, sie bekommt den Wert Ontologie der Produktion. Der Paralogismus lautet in Albees Stück: Wenn ich einen realen Sohn zeuge, dann habe ich auch die Möglichkeit seines Todes schuldhaft in die Welt gesetzt. D.h. die Welt kann dann nicht länger ein Spiel sein, sie ist schicksalhaft disponiert. Wenn ich aber keinen Sohn gebäre, gewinne ich nicht den Ursprung meiner selbst und bin permanent dem Tode als einer zufälligen, nicht wiederholbaren Sache ausgesetzt. So muss die Zeugung selbst im Tochtersubstitut (Medialität) in Schwebe gehalten werden. Der Sohn wird zum Gespenst, zur Dauerschwangerschaft, in der Zeugung und Geburt auseinanderfallen. Dieser Schwebezustand ist achronisch der der Wiederholung, der Spielrunden, der seriellen Programmatik von Massenmedien. Es ist die performative Darstellung eines bestimmten Zwischenzustandes, einer Schwangerschaft, der als solcher im Stück als Drama ausgehalten werden muss, wenn die Farce nicht in die Katastrophe abgleiten soll. Angesichts dieser Position des Aus- und Durchhaltens der szenischen Stellung des Spiels ist es kein Wunder, wenn die vier Protagonisten sich dem Suff als kulturprobates Mittel einer Selbstliquidierung des Problems der Existenz und der zeitlichen Dauer ergeben. Der Alkohol ist weniger eine Verführung zum Tode als ein Mittel, um die Zeit zu eliminieren und Gleichzeitigkeiten zu ermöglichen, das was seit Lewin ein Feldzustand genannt wird. Das Performative einer Inszenierung bemisst sich daran, wie der erste Signifikant, die nichtinszenierte Realität, als Fiktion repräsentiert wird. Infolgedessen erscheint im Stück von Albee auch nicht ‚die Realität‘, sondern nur das Reale: d.h. eine Struktur übergeordneter Regeln, die als charakterliche und physiognomische Setzungen im Verlauf des Stücks aufgedeckt werden. Der Vatersignifikant, der sich gleichsam als unerfüllter Wunsch von Marthas Vater nach einem repräsentablen Nachfolger und Schwiegersohn aufprägt, wird als Mangelstruktur begriffen, deren Erfüllung im (Schwieger-)Sohn nur dann gelingt, wenn der ‚Sohn‘ (Marthas Vater) seinerseits einen Sohn zeugt, und zwar unter Umgehung der Vaterschaft: das geht freilich nur bei einer Jungfrauengeburt. Da es sich in der Genealogie aber um einen Schwiegersohn handelt, geht diese Zeugung wiederum nur über ein Tochtersubstitut. George, alias Richard Burton, setzt als unfähiger und trunksüchtiger Geschichts- und Philologieprofessor jedoch auf fiktive, nicht auf reale Produktionen. Martha tituliert ihn gleich zu

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Beginn des Stücks als „alte Gouvernante! Eine gluckernde, alte Henne bist du.“34 Das Einzige, worin George sich als wirklich kompetent erweist, die Fähigkeit, andere zum entlarvenden Spiel zu animieren und das Äußerste an Gemeinheiten zu platzieren, hält die Grenzüberschreitung als solche auf der Ebene eines Gesellschaftsspiels. Es ist wie bei einem Phobiker, der langsam einen Turm erklimmt, um zu spüren, ob die Angst noch vorhanden ist, die zugleich seine integrative Subjektivität sichert; das Reale der totalisierten Instanz des Körpers, insofern die Angst das ist, was nicht täuscht. Aus dieser Sicht wird verständlich, dass eine szenische Folge sich erst durch nachträgliche Genealogisierung eines Kontextes bemerkbar macht, in dem der nichtfinalisierbare und unbegründbare Widerstreit des ersten Signifikanten zur Disposition gestellt wird. Diese Dis- und Exposition fordert dialektisch den ersten Signifikanten, die Realität, als gewalthafte Setzung heraus. Sie erklärt diese für nicht länger wirkungsmächtig – und dennoch verleiht sie ihr einen ontologischen Sinn: die Unfruchtbarkeit von Martha und George ist – weitere Hinweise gibt Albee nicht – ein neurotischer Jungfrauenstatus, der ihnen erlaubt, das Realitätsprinzip zu missachten, von dem sie wissen, dass es auf den Glauben an die symbolische Macht (des Vaters) aufgebaut ist. Es gibt, so die Behauptung des Films, Realität nur um den Preis einer gewalthaften Entscheidung, deren Schuld das Paar Burton/Taylor sowohl im Film als auch im Leben endlos aufschiebt, indem man zutiefst an der Integrität des Körpers festhält. Watzlawick, Beavin und Jackson haben schon in den späten 60er Jahren in einem weit verbreiteten Buch auf die offene Struktur der Schuldzirkulation hingewiesen, auf die das Stück aufgebaut ist. Damit solche Systeme überdauern, muss in ihnen die szenische Darstellung als negativ dialektische plural angelegt sein. „In dem Grad, in dem der Konflikt sowohl an Schärfe als auch an Ausmaß zunimmt (von kurzen, fast verspielten Sticheleien zu einem Gemetzel wie ‚der gebeutelte Hausherr‘), werden auch immer umfassendere Stabilisierungsmechanismen notwendig, doch Georges und Marthas Versöhnungsfähigkeit steht in kläglichem Gegensatz zu ihrer Kampfbereitschaft.“35 Als Kern der Dauer wird in dieser Nacht die den Konflikt stabilisierende Fiktion des Sohnes36 aufgekündigt. Das Reale kommt zum Vorschein, und zwar als Rest an Ver-Söhnung. Es ist die Realität der Angst in der Bestimmung des Körpers, als eines ersten Signifikanten, die jetzt die Szene beherrscht und damit aufs 34

Edward Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf … ?, Frankfurt am Main 2007, S. 7. Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern 1974, S. 146f. 36 Ebd., S. 160. 35

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Neue die Phantasie nährt, von dem einzigen Körper, der gegeben ist, sich dispensieren zu müssen. Ich und Realität gehen in das arbeitsame Spiel ihrer wechselseitigen Unbegründbarkeit ein. GEORGE legt ihr ganz zart die Hand auf die Schulter, sie läßt den Kopf darauf sinken, und er singt ganz leiste: „Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Virginia Woolf, Virginia Woolf...“ MARTHA: „Ich ... George ...“ GEORGE: „... Wer hat Angst vor Virginia Woolf...“ MARTHA: „Ich ... George ... ich ... ich ...“ Stille Vorhang.37

Wenn das Stück von Albee als Szenifikation der Szenologie verstanden werden soll, dann müssen wir es als Versuch der Professionalisierung eines Widerstandes gegen die Entgrenzung der Welt ansehen, in der es Wirkungen gibt, deren Ursachen der Sinnlichkeit zunehmend aus strukturellen und technischen Gründen verborgen bleiben müssen.38 Solche quasimetaphysischen Irrealitäten, Darstellungen, die nicht bloß nur abwesend sind, erfordern fiktionale Sichtbarkeitsausweise, die die Unsichtbarkeit oder Unlösbarkeit als Mimetik eines Scheins proliferieren. Die transzendentalontologische Bestimmung von Ereignis und Herkunft, die in der endlosen Medienverweisung (Spiel) atopisch wird, kann nur als Inszenierung, also als Konstitution von Schein, Illusion oder Simulakrum das Nichts im von Adorno kritisierten Sinne in ein (noch nicht und nicht mehr, so Heidegger) Sein verwandeln. Die Inszenierung ist, wie die Mimesis, eine Weise, mit dem, was uns metaphysisch vorausgeht, umzugehen – nicht dadurch, dass sie den Mangel an Totalisierung kritisiert, sondern, dass der Mangel ökonomisch valide bleibt und kursiert. Der Modus dieser Darstellung des strukturalen Mangels ist zeitlich, sofern er sich die Orte erstreitet, die ein hysterischer Körper in seiner Zerrissenheit zu besetzen im Stande ist. Nicht der Raum geht der Inszenierung voraus, sondern er muss als solcher in der Inszenierung erst von seiner realen Zeitlichkeit als Spielraum befreit werden. Diese Befreiung geschieht durch doppelte Platzierung des eigenen Körpers, in einem anderen, fiktiven.

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E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf...?, a.a.O., S. 143 (zitiert ist der Schluss des Stücks). In Bezug auf die Medien heißt es bei Iser: „Die Performanz wird wachsen, je unbestimmter die Referenz der Repräsentation wird, und wenn heute vom ‚Ende der Repräsentation‘ die Rede ist, so bleibt zu überlegen, ob damit lediglich eine historische Zustandsbeschreibung oder nicht eher die Unzulässigkeit gemeint ist, durch den Repräsentationsbegriff das fassen zu können, was in Kunst und Literatur geschieht.“ W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, a.a.O., S. 500.

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3. Genius loci. Die Extensionen des Körpers in der Geste

Foucault hat in seiner Darstellung des utopischen Körpers darauf hingewiesen, dass die Einheit des Körpers nicht als gegeben hingenommen werden muss, sondern dass diese Einheit eine Vermittlung des Spiegels und der Leiche39 sei. Der Spiegel wird somit zu einem unsichtbaren Objekt, das der Leiche Leben einschreibt und korrespondiert mit der Haut des Körpers, die gleichfalls als Einschreibfläche dient.40 Strukturell lässt sich von einer Umkehrung der Ordnung der Signifikation sprechen, wie sie seit Cezanne in die Malerei eingeführt wird. Es ist notwendig, das Medium/die Szene zu zeigen, um das Versteckspiel der Repräsentation aufzubrechen. In diesen Dienst tritt sowohl die Haut als Körpergrenze als auch die Geste, die in den Raum ausgreift, ohne aber in das dingliche Schwerefeld einzutreten und sich so einen Widerstand zu erarbeiten. Die Geste ist, wie die Sprache, ein Spiel mit der Luft, der letzten, ungreifbaren Membran. In einer medialen Realität kann die Vorstellung eines einheitlichen, widerständigen Körpers als negative Synthese eines Außen und Innen nicht mehr gedacht werden. Hier hat Realität rein appellativen Charakter: Nehmt doch Vernunft an! Insofern der Körper sein/das Produzieren spielt, erschafft er einen Raum, den er nicht mehr selbst einnimmt, sondern der durch die kleinste Geste – wir kennen das im Japanischen Theater, aber auch in den Filmen Hitchcocks – nach dem Widerstand eines Ideal-Ichs fragt. Raum wird zum Ort der Produktion auf dieses Ideal-Ich hin. Diese Arbeit der Trennung des Körpers in seine funktionellen Bestandteile dramatisiert die Szene: gleichermaßen als Genuss, wie als Schmerz. „Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo.“41 Lacan hat in seiner Darstellung des Spiegelstadiums auf den Prozess der Verwandlung hingewiesen, die das Infans der „motorischen Ohnmacht“ mittels eines Bildes, einer „Imago“ in eine Identifikation als „Ideal-Ich“42 treibt, das es in der Darstellung inzestuös begehrt, zugleich aber durch die Spiegelgrenze auf Abstand hält. Dadurch aber wird dem Infans im Spiegel die Möglichkeit zuteil, die Konstanz dieser Differenz als seine eigene Produziertheit zu erfahren, die niemals identisch

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Michel Foucault: Der utopische Körper. In: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt am Main 2005, S. 35. 40 J.-F. Lyotard: Essays zur affirmativen Ästhetik, a.a.O., S. 41: „Die dünne Haut wird nicht mehr zugunsten des Fleisches aufgegeben, sie bietet sich im Gegenteil als das sich zur Schau stellenden Fleisch selbst aus.“ Lyotard bezieht sich auf den Film als „Körper des Phantasmas“ (S. 40). 41 M. Foucault: Der utopische Körper, a.a.O., S. 34. 42 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I, Frankfurt am Main 1975, S. 64.

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mit dem Spiegelbild werden darf, wenn nicht die symptomatische Epikalypse der Bewusstseinsdifferenz ausgelöst werden soll. Lacan vermeidet es, vom Körper im Raum zu sprechen. Er spricht von einer „Bewegungsfülle“ und von einer „Schwangerschaft“, in der die Produktivkraft eines Ichs sich aus sich herausarbeitet. Die Stelle im Text des Spiegelstadiums ist in ihrer extremen Verdichtung von Lacan selbst mehr szenisch als theoretisch dargestellt: Die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in eine Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt, ist ihm nur als „Gestalt“ gegeben, in einem Außerhalb, wo zwar diese Form eher bestimmend als bestimmt ist, wo sie ihm aber als Relief in Lebensgröße erscheint, das sie erstarren läßt, und einer Symmetrie unterworfen wird, die ihre Seiten verkehrt – und dies im Gegensatz zu der Bewegungsfülle, mit der es sie auszustatten meint. Solchermaßen symbolisiert diese „Gestalt“ – [...] – durch die zwei Aspekte ihrer Erscheinungsweise die mentale Permanenz des Ich (je) und präfiguriert gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung; sie geht schwanger mit den Entsprechungen, die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sie projiziert, wie mit den Phantomen, die es beherrschen, wie auch schließlich mit dem Automaten, in dem sich, in mehrdeutiger Beziehung, die Welt seiner Produktion zu vollenden sucht.43

Von Schwangerschaft, die sich nicht austrägt, ist schon gesprochen worden. In Wer hat Angst vor Virginia Woolf? offenbart Nick die hysterische Schwangerschaft von Putzi, die Anlass zu einer übereilten Heirat war. Die Scheinschwangerschaft44 kontrastiert mit einer rückgängig gemachten Defloration Marthas. Die Symmetrie, die sich herstellt, ist die folgende: Die Blase der Schwangerschaft als Einbehalt der mütterlichen Raumextension korrespondiert in männlicher Mimesis mit dem szenografischen Raum, der als Raum, als „Heterochronie“45, seine Sohnesgeburt einbehält, um sie nicht an die Macht des Sohnes und also an die Dinge zu verlieren. Wie die Liebe, so muss auch die Szene ihre endlose Dauer bewachen.46 Das bedeutet zum einen die Befreiung von der Drohung eines leeren Raumes und zum anderen die äußerste Reduktion des Ideal-Ichs als einer Transparenz der Dinge, die diesen Freiraum besetzen und Synchronie durch Diachronie ersetzen. Da nicht jedes Zwischenstadium sich als Blase einer Schwangerschaft darstellen kann, muss, vom Mann aus gesehen, der Raum als sich abschließende Szene die Funktion des weiblichen Körpers, eines Körpers des Genießens bekommen. Von der Frau aus betrachtet wird die Raumeroberung narrativ weitergesponnen, sodass die Szene und die Narration im Konflikt von Kompression und Extension balancieren. Foucault nennt den Garten, das Theater, das Kino, das Bett – allesamt Räume des 43 J.

Lacan: Das Spiegelstadium, a.a.O., S. 64f. E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf … ?, a.a.O., S. 59. 45 M. Foucault: Die Heterotopien, a.a.O., S. 16. 46 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1995, S. 96. 44

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Verweilens auf Zeit, des Spiels und des performativen Scheins und der auf Dauer zielenden Wiederholungen. Solche Räume leben von den Ekstasen des Körpers, von der Bewegungsfülle. Ihre Eigenzeitlichkeit behaupten sie durch Ritualisierungen, der ihren Programm- oder moderner ihren Programmierungscharakter ausmacht47, wie beispielsweise im Gefängnis. Jede Inszenierung stellt sich die Aufgabe, den Geist des unlösbaren Sachverhalts von Existenz und Sein in der Schwebe zu halten. Geist ist die am Subjekt bestimmte Mimesis des Scheins, also des Aufschubs des Realitätszwangs. Geist und Schein korrespondieren als Orte des Irrealen. Es ist eine Auszeichnung von Geistern, dass sie transparente Gespenster sind, die als Diffusionen dem Raum seine Widerständigkeit entziehen. Insofern scheitert an ihnen das factum brutum von Grund-Folge-, Mittel-Zweck-Relationen. Gespenstern ist eigen, dass sie an einen Platz gebannt sind, oftmals so, dass es ihnen unmöglich ist, zu sterben und sie in einer medialen Zwischenwelt verharren müssen (Vampirismus als unausgetragene Geburt48). Man spricht vom Geist eines Platzes als genius loci. Was am Geist geisthaft ist, ist der nicht auffindbare Platz seiner Archivierung, respektive seines Todes. Dieser ‚ursprüngliche‘ Platz ist der inversionslogische Ort einer Zeit, die sich erst als Different der Wiederholung, der Suche szenifiziert. Geist, das ist nun die Idee des sich vom Körper ablösenden Produktionsphantasmas von Raum. Geist erscheint als Mahnung, wenn die Produktion sich zu vollenden droht, d.h., wenn kein leerer Ort der Einbildung zur Verfügung steht. Lacan: „Der Augenblick, in dem sich das Spiegelstadium vollendet, begründet – durch die Identifikation mit der Imago des Nächsten und das Drama der Ur-Eifersucht […] – die Dialektik, welche von nun an das Ich (je) mit sozial erarbeiteten Situationen verbindet. Dieser Augenblick läßt auf entscheidende Weise das ganze menschliche Wissen in die Vermittlung durch das Begehren des anderen umkippen.“49 Lacan verkneift sich 1949 nicht die Kritik an den beiden Idealismen, dem Existenzialismus und der Ontologie, die ihm sich als theatrale Spielorte eines „primären Narzissmus“ historisch aufdrängen. „Das bedeutet, daß sie an jene existentielle

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R. Beuthan: Das Undarstellbare, a.a.O., S. 31. „Die Wahrheit der Produktivität ist ihr Programm“ – so noch die Losung bei Nietzsche und Schopenhauer. Dagegen gilt für die nachmoderne Umschreibung, so Beuthan, die Genese des „Umprogrammierens“, in deren Verlauf sich „unter dem Primat der Möglichkeit“ Wirklichkeit „gleichsam wie ein Stoffwechselprodukt“ ausscheidet. „Denn während die Moderne das Undarstellbare im Sinne ursprünglicher Produktivität letztlich gegen alle bestehende Bestimmtheiten kontrastiert und so ins Utopische verwiesen wurde, versteht sich die Postmoderne darauf, die Voraussetzungsstruktur zu konkretisieren und eben deshalb das Undarstellbare darzustellen, zu vergegenwärtigen.“ S. 32. 48 Rudolf Heinz: „acoustic turn“ in der Psychopathologie. Über Bildersturm, Stimmenhören und weitere Abwegigkeiten. In: Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic turn, München 2008, S. 109f. 49 J. Lacan: Das Spiegelstadium, a.a.O., S. 68.

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Negativität gerührt haben, deren Wirklichkeit so lebhaft gefördert wird durch das zeitgenössische Philosophieren über Sein und Nichts.“50 Von Außen betrachtet ist der genius loci historischer Ort, an dem ein Ereignis stattgefunden hat, das sich dort aber nicht archiviert hat, also in Gewalt umgeschlagen ist. Zur Repräsentation solcher Plätze dienen Denkmale. Denkmale bannen die szenische Kraft. Betrachten wir etwa den Obelisken auf dem Place Concorde als Signum einer Nullstelle von Körperhaftigkeit, die sich Platz verschafft hat und den Zeiten Raum gibt: eine überdimensionale Sonnenuhr, die die Stunden der Geschichte schattiert, oder die Statue des Giordano Bruno auf dem Campo dei fiori. Damit das Ereignis archiviert werden kann, muss der Szene ein Ding korrespondieren. Die wahren Szenen aber erhalten sich durch tabuisierte Orte, die für den Körper nicht betretbar sind, da sie von einer Unsterblichkeit, einer Nichtarchivierbarkeit und folglich von einer anderen Energie zeugen: heilige Plätze. Das Tabu ist der ausgezeichnete Ort einer Präheterotopie. Das Tabu ist als Abwesenheit präsent. So muss auf dem Platz, an dem Giordano Bruno verbrannt worden ist, damit man ihn vergisst, ein Denkmal von Bruno aufgestellt werden, damit man sich des drohenden Vergessens erinnert. Im kontrollierten Spiel von Vergessen und Erinnern wird die produktive Energie Brunos in einem ökonomischen Spiel gebannt. Um seine Verwesung zu sammeln, wird eine Statue gestiftet, die den Geist Brunos als einer realen Abwesenheit beglaubigt. Die Statue inszeniert den Platz, indem sie Nähe und Ferne in ein Verhältnis bringt. Denn eine drohende Entleerung des Platzes (Agoraphobie51) stellt ein Macht- und Gewaltvakuum dar, das es dringlich macht, einen Raum – das Theater, das Museum – durch ein Reglement – die Intendanz, die Regie, Archivierungsmedien – beherrschbar zu machen. Es wird etwas beherrscht, was sich der Beherrschbarkeit entzieht, die Einmaligkeit: das Zeigen des Zeigens, die Sprache der Sprache, der erste Signifikant, der in der Wiederholung – memento mori – sein drittes Element als Tochtersubstitut schafft. Nicht zuletzt das Argument des Erhabenen als einer repräsentablen Leere, hat Schiller veranlasst, in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts über das Verhältnis von Spieltrieb und Freiheit in politischem Sinne nachzudenken.52 Schiller denkt Freiheit als „Bestimmungslosigkeit einer[r] leere[n] Unendlich-

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Ebd., S. 68 u. S. 69. Die Agoraphobie zeigt, dass es die Leere, um die es dem Platz geht, nicht geben kann. Denn einmal in die Leere des Geisterreichs verschwunden, ist es unmöglich, wieder in den Bereich der Sterblichen einzutreten. Das phobische Element ist die unbewusste Gewissheit der drohenden Sterblichkeit des vollen Ortes, den der Körper repräsentiert, denn da, wo ich bin, kann kein Anderer sein, mit Ausnahme eben der Besessenheit: in mir wohnt der Andere, in mir wohnt die Schuld. 52 Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie, Stuttgart 2005, S. 69. Schiller beschreibt den Umschlag vom Erhabenen zum 51

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keit“, welche keinesfalls „mit einer unendlichen Leere“ zu verwechseln sei.53 Gerade aber die Gefahr der Verwechselbarkeit von Möglichkeit und Nichtung kann nur aufgehalten werden „durch Schranken [der] Realität.“54 Diese ist aber nicht eine Faktische, sondern eine, die durch die programmatische Fiktion eines phantasmatischen Widerstandes, das Gesetz, vor der Enthemmung der Freiheit schützt.55 Doch welche Gewalt waltet hinter dem Gesetz?

4. Szenenwechsel: die delegitimierende Funktion der Szene

Bevor wir zur zweiten Entfaltung einer szenologischen Vermittlung von Ontologie und Dialektik kommen, erscheint es angebracht, die Gewalt einer faschistischen Ästhetik der Totalisierung einer Realität darzustellen. Der Faschismus missachtet drei Regeln: 1. Er bleibt nicht in der Schwebe, er unterliegt dem Realisierungszwang, d.h. er ist technisch. 2. Er legitimiert sich im Hinblick auf die Antizipation einer mythischen Natur und realisiert damit einen Kurzschluss zwischen Wirklichkeit und Fiktion, d.h. er missachtet die Organität von Medien. 3. Indem er die Ganzheit des Körpers in die funktionellen Glieder des Volkskörpers auflöst (entpersonalisiert), legitimiert er die Gewalt gegenüber dem Körper, d.h. ein Spiel leiblicher Distanzen findet nicht statt. Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus in diesen drei Punkten soll die Analyse des Films Das Leben ist schön vorbereiten. Ich wähle zunächst ein Foto aus dem Film Babette zieht in den Krieg (1959), von Christian Jacque mit Brigitte Bardot.56 (Abb. 3) Das Fotografische komprimiert das

Pathetischen als eine Fingierung des eigenen Affektes am Ort und in der Beziehung mehrerer Anderer (hier der Laokoon-Gruppe): „Das Gemüt verliert also einen Teil seiner Freiheit, weil es von außen empfängt, was es vorher durch seine Selbsttätigkeit erzeugte. Die Vorstellung der Gefahr erhält einen Anschein objektiver Realität, und es wird ernst mit dem Affekte.“ „Bei allem Pathos muß also der Sinn durch Leiden, der Geist durch Freiheit interessiert sein.“ (S. 70) 53 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, (19. Brief ), Stuttgart 2006, S. 74. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 82. Schiller leistet diese Ableitung in einer langen Fußnote am Ende des 20. Briefes zum Begriff des ästhetischen Zustandes. Der ästhetische Zustand bewahrt Realität als eine nicht ontologisch, sondern modallogisch gedachte Freiheitsbestimmung, und zwar nicht aus aisthetischen, sondern aus transzendentallogischen Bestimmungen. Schiller gelangt dadurch zur Bestimmung eines Spieltriebs, der in einer Art negativer Anthropologie Menschsein erst gründet. Wesentlich an der Schillerschen Darstellung ist, dass die normative Funktion von Realität als dialektisch begründete einer Willkür der Macht enthoben ist, also die fiktionale Struktur von Macht beweist, wie sie im inneren Gesetz des Spiels vermittelt ist. 56 Szenenfoto aus Babette s’en Va-t-en Guerre (Babette zieht in den Krieg), 1959, Regie: Christian Jacque. Foto aus Peter W. Engelmeier: Europas Sterne strahlen hell. Die 100 schönsten Fotos der europäischen Kinogeschichte, München 1989, S. 55.

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Abb. 3 Szenenfoto aus Babette zieht in den Krieg, 1959, Regie: Christian Jacque; mit Brigitte Bardot.

Filmische auf eine Szene: Der helle, schöne, unschuldige aber doch mutige Blick der Bardot kontert den weichen, sadistischen, selbstgewissen Gestus des schwarzen SS-Offiziers, dessen Finger die Drohung seines hinter einer listigen Brille vorborgenen Begehrens symbolisiert. Der richtende Zeigefinger ist der Vektor einer deiktischen Aussage, eines Sprechens des Unbewussten, das eine unvermittelte Gewalt androht, die kein Argument besänftigen kann. Der Zeigefinger, das ist die Sprache der faschistischen Hysterie, ein umgestürzter Obelisk, der aus dem schwarzledernen Körper der SS (der durch den Tod schon als hindurchgegangen repräsentiert ist) heraussticht. Der Körper der SS erobert sich nicht in der Widerständigkeit des Raumes, der faschistoide Körper verteidigt den Raum, den er den Dingen entreißt, behauptet sich als „das genaue Gegenteil einer Utopie“57 und setzt sich selbst als ersten Signifikanten mit dem für die Ontologie üblichen Verweis auf eine Anknüpfung an den archaischen Mythos des autonomen (Ödipus) und autarken (Narziss) Helden ein. In Folge des Angriffs auf die Dinge, die den Raum bereits einmal erobert haben, steht der SS-Offizier stets mit dem Rücken zur Wand. Der Zeigefinger ist die aus der Deckung hinausweisende Verteidigung. In diesem Sinne ist der Faschismus immer destruktiv und nichtutopisch. Selbst wenn er mit der Eroberung von Lebensraum prahlt, meint er nur eine Reinigung des bestehenden Raumes. Alle diese Anweisungen macht die Geste sichtbar. Das bühnenhafte Arrangement zeigt ein Bistro: Ein Glas Wein und eine Flasche Wasser stehen auf dem Tisch. Zeichen der Liquidität, Zeichen eines kleinen

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M. Foucault: Der utopische Körper, a.a.O., S. 25.

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Soziotops. An welchem anderen Ort hätte die SS ihre dialektische contreparti besser zeigen können als in einem Pariser Bistro, dem Ort, an dem zur gleichen Zeit Sartre die Fiktionen schweifen lässt und die Resistance ihre Utopien ausbrütet? Wenn, wie Adorno schreibt, „Philosophie wesentlich nicht referierbar“58 ist, dann stiftet die fotografierte Szene im Bistro „Denkmodelle“ und ein „Ensemble von Modellanalysen“, die Adorno der negativen Dialektik als methodische Winke mitgibt.59 Wie auch immer das Genre-Marketing den Kontrast einer Gegenüberstellung zwischen dem kleinbürgerlich karikierten SS-Mann und Brigitte Bardot reizte – die Vater-Sohn- und Herr-Knecht-Dualität ist aufgefächert in eine Geste, die eben deutlich den Bruch durch den töchterlichen Auftritt manifestiert. Man sieht die Bardot, den weißen Engel, nämlich in einem Trenchcoat, dem Kleidungsstück, das im ersten Weltkrieg noch der britischen Armee vorbehalten war, die Arme zum Widerstand verschränkt, auch nicht ganz unschuldig, quasi in der Hülle des toten Soldaten. Auch Weltkriege wiederholen sich. Zwischen den beiden Protagonisten sitzt, beinahe betend, ein Gast, der in die Vermittlung nicht eingreift. Er beobachtet gespannt, als Spiegelung des Kinozuschauers (respektive des Betrachters der Fotografie) entrückt das Ensemble der Möglichkeiten. Dahinter sichern die Schergen des SS-Offiziers und ein eingeschüchtertes Bistro-Publikum die Szene ab. Kurz, eine in Licht, Stimmung, Bühne und Choreografie völlig eindeutige, schematisierte Genre-Szene. Nichts in dieser Besatzungs-Zone des Realisateurs deutet auf eine Ausflucht, auf eine Außenwelt hin, mit Ausnahme vielleicht des hölzernen Spielautomaten im Hintergrund – und ein in das Auge springendes Detail: der Reklameaufdruck auf dem Aschenbecher ist sorgfältig von der Requisite überklebt worden. Dennoch, oben in der Mitte des Fotos sind die drei Buchstaben BEL... einer Leuchtschrift zu entziffern. Sie sind der einzige externale Bezug, und man mag sich fragen, ob diese drei Buchstaben, die im französischen die Vorsilbe „Gut“, „Schön“ wie auch „Krieg“(belle) bezeichnen, nicht die Assoziation des Blickdialoges ins Extrem verdichten? Bel(le) wird damit gleichsam zur Chiffre, zum Punktum der Fotografie (nicht der Szene wie im Filmtitel Belle du your von Luis Bunuel oder Les belles de nuit von René Clair. Auch die Fotografie zeigt somit, dass es etwas gibt, was nur in ihr selbst existiert, in dem Spiel ihrer Szene. Jedenfalls verrät die Existenz des Buchstabens – die die Aufmerksamkeit von der fiktiven auf die imaginäre Ebene lenkt – etwas von der reflexiven Kraft, die ihm innewohnt und aufgrund derer er die magische Funktion bekommt, vom Jenseits der Sichtbarkeit zu berichten. Der Buchstabe ist das Außen der Fiktion, so wie es bei Paul Klee versprengte Buchstaben und typografische Zeichen gibt, die durch Bildtitel aufgefangen, aber nicht bestimmt werden. Die Titel wie die Begriffe dienen 58 Th. W. 59

Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., S. 44. Ebd., S. 39.

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dazu, das Imaginäre zu disziplinieren, es in die Gesetzmäßigkeit der Sprache einzuschreiben, ohne allerdings jemals vollständig in Handlung unterzugehen. Mit einem Wort, der Buchstaben ist das Reale, das vor dem Gesetz die Möglichkeit der Repräsentation als Geste einsetzt. Von dieser Buchstäblichkeit ist der performative Gestus des SS-Mannes ausgegrenzt. Er beherrscht allein die Interpunktion, übrigens die gleiche wie die der Fotografie: Dies da! Du bist es! Die SS handelt im unbedingten Vollzug der Sprache des Fotografischen. Während aber die Fotografie sich durch die Inszenierung vom Fotografischen absetzen kann, kann das die SS nicht. Ihr Gesetz ist im Moment seiner Erlassung Vollzug und bannt die Geister in eine totalisierte, universalisierte und globalisierte Ordnung. Das Leben aber besteht in der Freiheit, aus einem Medium in ein anderes springen zu können. Das genau ist eben dem Setfoto hier nur in Folge der drei Buchstaben möglich, die die Hermetik der Szene opfern. Es gibt noch eine zweite Freiheit. Sie ist technischer Natur und besteht darin, dass die Szene in einem Halbrund angeordnet ist und das Licht eine Tiefenperspektive andeutet, sodass tatsächlich ein Bühnencharakter das geheime Einverständnis, in eine Fiktion einzutreten, verstärkt. Der Buchstabe ist der Tod des Faschismus im Medium der Fotografie. Das Foto an sich ist hermetisch, wie eben die Situation in diesem Bistro: es gibt kein Entrinnen, keine Freiheit. Von dieser Unfreiheit rührt eine emblematische Wirkung, die dem Kult des Filmstars und des Starkinos ökonomisch entgegenkommt, denn im Star realisiert sich der Film als eine Konstante der Medienübergänge, in denen sich Inszenierung und Skandal (etwa beim Paar Taylor/Burton) die Waage halten. Entgegen der Vorstellung ist der Star wirklicher als die Wirklichkeit, er ist die Verkörperung des Differenten als Hyperrealen, er markiert eine mythische Realität des über-natürlichen Körpers. Das Denken der Szene beginnt damit, dass man im Hinblick auf den Leibraum des Anderen eine Pluralität erkennt und das Ensemble der Vermittlungen realisiert. Deswegen ist der Dialog im Grunde der Szene fremd. Sartre gebraucht den Übergang von Wahrnehmung und Erkennen in eben diesem szenologisch-analogischen Sinne.60 Szenisches Denken heißt Übertragungen übertragen. Wie anders ist sonst ein Szenenfoto wie das aus Babette zieht in den Krieg gegen die kinematografische Aussage glaubwürdig? Die Fotografie verhält sich zum Film, wie die drei Buchstaben

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Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek 1971, S. 63: „Es ist der Bereich der Wahrnehmung, in welchem ich Peters Gesicht erscheinen lassen will, ich will es mir ‚vergegenwärtigen‘. Und da ich seine Wahrnehmung nicht unmittelbar hervorbringen kann, bediene ich mich einer bestimmten Materie, die als ein Analogon wirkt, als Äquivalent der Wahrnehmung.“ In diesem Fall ein Foto von Peter. Das Medium eröffnet den Raum des Übergangs, in dem Sartre sich dem Foto gegenüber in einer szenischen Situation befindet, in der der Übergang von Vorstellung in Wahrnehmung erfolgt.

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BEL zur Geste der SS. Das Foto ist, entgegen der üblichen Auffassung, näher an der Realität als der Film. So ist in ihm eben auch der Blick des Betrachters präsent und zwar in jenem scheinbar unbeteiligten Blick des Bistrobesuchers, der im Hintergrund zwischen dem SS-Offizier und Babette sitzt und von der Szene nicht berührt ist. Aufgrund der Tatsache, dass im Zeigefinger die Ablösung des Buchstabens verhindert wird und die Sprache nicht in den Raum dringt, kann Roland Barthes zu dem Urteil kommen, dass eben auch das Sprechen, insofern „es spricht“, faschistisch sein kann, was vom Blickpunkt eines linken Semiologen doch immerhin bedenkenswert ist. „Doch die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch; denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Sagen zwingen.“61 Der Zeigefinger des SS-Offiziers zwingt hier nicht die Bardot etwas zu sagen, sondern er zwingt den Offizier, etwas von sich preiszugeben. Durch den Zeigefinger wird etwas über die SS ausgesagt, was diese in ihren schwarzen Rüstungen sich selbst zu verbergen sucht. Dass man nicht nicht einem Anderen verpflichtet sein kann, ohne die symbolische Kompetenz zu verlieren, das eben zeigt der Zeigefinger als Unbewusstes. Diese Reversion, das Offenbar-Werden des szenischen Sprechens, wird durch den fragmentierten Körper ausgelöst, der sich in Gesten desorganisiert, also in jene von Foucault gemeinte arbeitsame Vereinzelung retardiert. Der organlose Körper und der heterotope Ort werden durch Gesten produktiv, nicht durch Zeichen bestimmt.62 Dass der Nationalsozialismus sich diesen Vorzustand der szenischen Entwicklung in fortschrittlichsten Techniken zunutze gemacht hat, ist unbestritten, wie eben auch die Einsicht, dass die Gesten des Faschismus als einer heroischen Natur sich der Ablösung vom Körper verweigern. Damit treten wir in die Dialektik von allegorischer Sammlung und Zerstreuung ein, in der die Szene von den Handlungen des Körpers bestimmt wird. Die Szene ist zunächst ganz und gar ein Raum, der zur Handlung zwingt. Kommen wir damit zur zweiten Szenifikation, Benignis Film Das Leben ist schön. Diese zweite Darstellung geht auf die Kontrapunktik der faschistischen Ästhetisierung ein, die einerseits technisch-aggressiv, andererseits abschließend, defensiv und körperhaft auftritt. Sie fragt nach der Möglichkeit, den Körper verschwinden und in einen medialen Leib auflösen zu lassen und somit nach den Bedingungen der Transzendierung der Geste in ein Zeichen. Die Tauschbedingungen des Übergangs vom Imaginären zum Realen sind so zu analysieren, dass das signifikative Fehlen des ersten Signifikanten (Sohnesopfer) in einer Realität der Tauschsignifikate (Toch61

Roland Barthes: Lektion, Frankfurt am Main 1995, S. 19. Vgl. Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht, In: ders. GS Bd. II, S. 519ff.

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tersubstitute bzw. Medienübergangsstörungen) zirkuliert. Der ambivalente Antrieb dieser Frage orientiert sich an dem Abenteuer63, das Roland Barthes gestartet hat: Wie ist eine komplexe Analyse der Gesellschaft möglich, ohne in das Dilemma der Semiologie einzutreten, in der das Ereignis nicht repräsentiert werden kann? Wir fragen nach den Bedingungen von Realität und schlagen zu ihrer Kritik eben eine Szenologie vor, die einer strukturalen Semiologie beiseite steht. Der Film Das Leben ist schön kehrt die Genealogie der Szene nicht nur um: er beginnt in der sinnlich und sinnendifferenzierten Idylle und endet im Faschismus; er invertiert Geste und Zeichen, indem er zeigt, dass auch der Faschismus invertiert werden kann, kurz, dass die Szene einen Tauschort markiert, in dem die Tauschmedialitäten verhandelt werden und vereitelt so die Romantik einer Metamedialität, die immer wieder Kontingenzen für Inkontingenzen schaffen muss, immer wieder Medien in Medien verschachtelt.

4. Das Rätsel der Szene: retroaktive Performativität in Benignis Film ‚Das Leben ist schön‘

Das Leben ist schön von 1997 ist eine Tragikomödie, die in zwei Handlungsabschnitten und an zwei unterschiedlichen Orten spielt. Der erste Teil schildert ein unbeschwertes italienisches Provinzleben. Drehort ist der bei Filmproduktionen beliebte Ort Todi in Umbrien, der sich als touristischer Musterort die Fassade italienischer Improvisationskunst und Theatralik bewahrt hat. Zwischen einem Filmset und dem Touristenort besteht nur noch ein marginaler Unterschied. Hier lebt der gewitzte Jude Guido (Roberto Benigni), der mit allerlei Clownerien der Lehrerin Dora (gespielt von Benignis ‚realer‘ Frau Nicoletta Braschi) Avancen macht. Wie im Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ist auch hier eine ‚fiktive‘ mit einer ‚reellen‘ Realität im Film verwoben. Unter allerlei komischen Missgeschicken und zufälliger, aber im Sinne des running gag gesteuerter Begegnungen kommen sich Guido und Dora näher, heiraten und zeugen einen Sohn namens Giosué, dessen ganze Liebe dem Versteckspiel und einem Spielzeugpanzer gilt. Dieser erste Teil des Films, der in einigen Szenen schon die aufkommende Diktatur des Faschismus schildert, endet abrupt mit der Deportation von Guido und Giosué in ein deutsches KZ. Die Darstellung des KZs folgt – Inversion von Fiktion und Realität – den Erinnerungen von Benignis ‚realem‘ Vater, der zwei Jahre in Bergen-Belsen interniert worden war.

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Vgl. Roland Barthes: Das Semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 10. „Die Lust am System ersetzte bei mir das Über-Ich der Wissenschaft.“

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Abb. 4 Das Leben ist schön, 1997, Regie: Roberto Benigni; mit Roberto Benigni. Giosué in seinem letzten Versteck. (Screenshot)

Dora wird in die Frauenabteilung des gleichen KZs verschleppt, weil sie sich weigert, Vater und Sohn zu verlassen. Guido versteckt Giosué und lügt ihm vor, die ganze Repressionsmaschinerie diene einem inszenierten Spiel, in dem das Kind, das als letztes von den Wachmannschaften entdeckt wird, einen echten Panzer geschenkt bekommt. Von diesem Moment an wird das im Frieden eingeübte Versteckspiel zu einer Realität des Überlebens, verpackt allerdings in das umgreifendere Spiel: 1.000 Punkte für einen echten Panzer! Guido wird kurz vor Abzug der SS auf der Suche nach Dora erschossen, Giosué entsteigt seinem letzten Versteck und findet, hoch oben auf einem amerikanischen Panzer sitzend, seine Mutter wieder. Auf Kosten des Vaters realisiert der Sohn seine Fiktion. Vatertod und Mutterinzest sabotieren die faschistische Forderung des reinen, opferlogischen Ursprungs, eine psychotische Forderung, die jegliches Spiel zu Gunsten einer inneren, dramatischen Triebdialektik ausschließt. Das Spiel zwingt zur Anerkennung einer Grenze, dem Opfer. Die faschistische Totalisierung drängt darauf, jede Grenze auszugrenzen, um dem Opfer zu widerstehen. Gegen das Prinzip einer ontologisch begründeten Geschichtslosigkeit, die in der Ewigkeit des faschistischen Führerprinzips festgeschrieben wird, ist die abstruse Vorstellung, das KZ sei ein inszeniertes Spiel, eine Art Disneyworld-Event nach den Regeln von Preisausschreiben, sarkastische Sabotage. Guido gelingt die Umwertung aller faschistischen Werte in der eindrucksvollsten Szene des Films. Der deutsche Wachsoldat erklärt den neuen Lagerinsassen die bestialischen Gesetze des KZs in deutschem Befehlston. Guido, der so tut, als könne er deutsch verstehen, übersetzt seinen Mithäftlingen nicht diese Gesetze, sondern die Spielregeln, bei deren strikter

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Abb. 5 Das Leben ist schön. Guido überträgt die Regeln. (Screenshot)

Befolgung man 1.000 Punkte erhält und somit einen echten Panzer gewinnen kann. Dabei achtet er darauf, die Intonation und die Performanz sowie die Gesten des Wachsoldaten zu kopieren, der seinerseits kein Wort italienisch versteht. Die Transzendenz von Übersetzbarkeit (der Sprache der Faschisten in eine Sprache des Spiels), ermöglicht einen Aufschub des Todes, weil die zur Übertragung verschobene Übersetzung die Identität ausschließt – familial nicht den Sohnes-, sondern den Tochterstatus protegiert. Die Signifikatsverschiebung ermöglicht die Sabotage des psychotischen in einer symbolischen Tauschordnung. Guido verwandelt zudem die lineare Deiktik des Faschismus für seinen Sohn in ein performatives Geschehen: denn das Spiel muss sowohl gegen die Wachmannschaft als auch gegenüber seinem Sohn immunisiert werden. Unter Missachtung aller Vokabeln wird aus teutonischem Ernst (der Monomedialität des bösen Geistes der Realitätsmacht) italienisches Spiel (die Multimedialität des guten Geistes). Das heißt, Guido ist Szenograf, insofern es ihm nicht um das Zeigen von Gegenständen oder Dingen geht, sondern darum, zu zeigen, welche Blickpunkte, d.h. welche Totalisierungen unter einer gegebenen Sache einzunehmen möglich sind, vorausgesetzt man gibt die eine, nichtmediale Fokusierung auf Realität preis. Wesentlich ist in dieser Kunst die körperliche Präsenz, ist der eingeschlossene Ausschluss eines Dritten, der die deutsch-italienische Pragmatik verifizieren könnte: Die Wachmannschaft hat keinen Übersetzer und den Häftlingen ist verboten zu sprechen. Giosué soll jede Handlung im Sinne seiner Intention deuten können, ohne dass die Handlung selbst modifiziert wird. Das aber setzt voraus, dass Guido eine jede Handlung so ausführen muss, dass sie einerseits die Lagerordnung, andererseits die Spielregeln nicht verletzt. Das Spiel mit diesen Übertragungen zielt auf

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die Hinauszögerung von Realisierung, den Tod. Voraussetzung für ein Gelingen dieser Akrobatik ist das Lager: ein abgegrenztes, nach eigenen Regeln funktionierendes ‚Spiel‘, das nur an einer einzigen Stelle die Gesetze des Spiels überschreitet: im bewusst herbeigeführten Tod, also der Totalisierung der Körper der Häftlinge. Der Witz an Benignis Film ist also der, dass er Guido unter Spiel nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Entmachtung von Realität verstehen lässt, wie sie die disparate Synchronie der Schnitttechnik eines Filmes ermöglicht. Im Sinne einer Hysterie, eines ‚Szene Machens‘, ist das nicht mehr zu verstehen. Wir haben es bei dem Film von Mike Nichols mit einer Problematisierung der neurotischen, bei Benigni mit einem Kino der Zeit und mit einer psychotischen Problematisierung zu tun – wenn man hier die Unterscheidung von Freud64 mit der von Deleuze kreuzen darf. Das hat auch mit der Loslösung des Films vom Theater zu tun. Die psychotische Dramaturgie offenbart, dass die Erkenntnisfunktion nur lose an die Wahrnehmungsfunktion gekoppelt ist und dass diese Kopplungen offenbar eine logische Lücke in der ‚normalerweise‘ als Universalität erfassten Realität ausnutzen: den fiktiven Vatersignifikanten. Auch wenn Guido alle formalen Qualitäten einer Vaterschaft auszeichnen, so irritiert er doch beständig die normativen Funktionen seiner Mitmenschen wie ein Kind. Man kann sagen, er spielt seinen eigenen Sohn. Er spielt den Clown, den Magier und den Lebenskünstler und diffundiert damit die Glaubwürdigkeit an faktische Realität. Zwei Instrumente lassen vor allem Zweifel an der Universalität der bürgerlichen Maskierung aufkommen: erstens der running gag, der unter der Logik einer „retroaktiven Performativität“, so der Begriff Žižeks, lineare Zeitlichkeit in eine reversible Zeitschleife verwandelt; zweitens das Rätselspiel, das Guido mit dem deutschen Arzt Dr. Lessing (Horst Buchholz) noch in den Tagen der unbeschwerten Idylle spielt. Beide, Rätsel wie running gag arbeiten mit der Logik nachträglicher Ganzheit: „Welches ist das eine Korn, das den Haufen zum Haufen macht?“65 – diese Frage, so Žižek mit Lacan, lässt sich erst nachträglich beantworten. Das Signifikat erscheint stets als eine verspätete Ganzheit der Einzelelemente, die retroaktiv diese Ganzheit als vorgängig legitimieren, denn sonst könnten die Signifikanten ja nicht als Wiederholungsmomente erscheinen: Dieser Prozess der nachträglichen Legitimation, der Realisierung von Fiktion, bestimmt den Charakter der Wirklichkeitsauffassung. Wenn aber Signifikat und Signifikant wechselseitig ihre Bestimmung erfahren, dann bekommt der Zufall die Folge einer Notwendigkeit. Das Zufällige 64 Vgl. Sigmund Freud: Realitätsverlust bei Psychose und Neurose. In: Schriften zur Krankheitslehre

der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1991. Slavoj Žižek: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien 1992, S. 33.

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wird Realität gerade unter der Möglichkeit, dass das Ende nicht bestimmt wird, dass also alternative Serien von Grund und Folge möglich sind. Guido ist nicht nur in der Lage, von gegebenen Punkten aus den Anfang eines Gags durch sein Ende rückwirkend zu verändern, er ist auch in der Lage, jedes mögliche Ende aus einer gegebenen Folge zu antizipieren, also jedes ihm durch Dr. Lessing aufgegebene Rätsel durch die Einsetzung eines Signifikats zu lösen. Indem Guido den Clown spielt, spielt er nicht nur mit der Realität und der Einheit seines Körpers, er spielt zugleich mit seiner Identität, ja angesichts der Drehbuchvorlage darf sogar gesagt werden, dass er wenigstens im zweiten Teil des Films seinen eigenen Vater spielt. Damit umfasst die Folge seiner Rollen die von Großvater, Vater und Sohn. Drehbuch, Regie und Hauptrolle sind ebenfalls durch seinen Namen gezeichnet, sodass der Film im Ganzen als ein kinematologisches Gegenparadigma der Genesis gelesen werden kann: das der Parthenogenese, deren Inzestdrohung am Ende für Guido tödlich wird. Im ersten Teil des Films ist diese Drohung noch gebannt. Die Idylle stellt diverse Tauschorte des Seins, zeitliche Retroaktivitäten vor, kleine Begebenheiten Guidos, die darauf verweisen, dass man seinen eigenen Ursprung zwar nicht bestimmen kann, dass es aber möglich ist, eine symbolische Freiheit über die Reihenfolge der Ereignisse in der Zeit zu induzieren. Diese Freiheit von der Kausalität der Zeitordnung wird als Witz thematisiert und an eine Differenz des Wissens gekoppelt, so dass Nichtwissen die Voraussetzung der Disponierbarkeit eines Anderen darstellt. Damit ist etwas über die Performanz insgesamt ausgesagt, nämlich über die selten thematisierte Vorbestimmung der Rolle des Zuschauers im Verhältnis zum Schauspieler, in unserem Fall des Filmpublikums und seiner Identifikationsfigur Guido, die ihr Wissen gegen die unwissende Dora ausspielen. Wie im Hitchcock’schen Suspense vertauscht sich die Rolle des Zuschauers mit der der Akteure. Der Zuschauer wird in das Spiel als Dritter, als Komplize miteinbezogen, und zwar so, wie es der Begriff der Performanz meint: als Produzent von Realisierung.66 Es ist der Erkenntnissog selbst, der mimetisch die Differenz zu den handelnden Personen schließt: Erkennen ist ein Handeln, das sich selbst reflexiv vom mimetischen Affekt der Identifikation dispensieren kann. Der „anthropologische Modus“ der retroaktiven Szene wird, entgegen der Meinung von Iser, doch noch zu einer „Kategorie der Erkenntnis“67, weil er den

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Die These der Implementierung des Zuschauers in eine Realität der Aktivierung greift mittlerweile stark in die übliche konfrontative Darstellung von Kinobesucher und Film ein. Sie ist der zunehmenden Realisierung des Raumerlebens (Dolby-Ton) und Digitalisierung des Films geschuldet. Vgl. Thomas Elsaesser, Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007. „Wenn der Film über den Ton nicht nur vorne auf der Leinwand lokalisiert werden kann, dann stellt sich einmal mehr die Frage, ob der Film in der Filmerfahrung ‚außen‘ oder ‚innen‘ stattfindet.“ S. 176f. 67 W. Iser: Das Imaginäre und das Fiktive, a.a.O., S. 508.

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anderen so wahrnimmt, dass er auf dessen andere kontextuelle Situation (Nichtwissen) reagiert und nicht auf dessen positive Andersheit. Zu diesen logischen Bewegungen ein Beispiel: in der Vorbereitung eines running gag, sieht Guido, wie eine Frau den Hausschlüssel aus dem Fenster ihres Hauses herabwirft, wenn der Mann unten ihren Namen (Maria) ruft und Einlass begehrt – eine sicher mehr als symbolische Szene. Guido tritt mehrmals in diese Szene ein, und sie bleibt im Gedächtnis, da ihm der Schlüssel jedes Mal beinahe auf den Kopf fällt. Und es gibt eine zweite Vorbereitung: Guido stibitzt bei jeder Gelegenheit den schönen, schwarzen Hut eines reichen Ladenbesitzers und lässt ihm dafür seinen schäbigen liegen. Bei der darauf folgenden Begegnung gelingt es dem Ladenbesitzer stets, seinen Hut zurückzutauschen. Jetzt baut Benigni die Vorbereitungen, die an sich schon sehr witzig sind, zu running gags aus, um für Dora das Wunder der Reversion der Zeit aufgehen zu lassen. Die Wiederholung als wesentliches Moment des running gag macht den Tausch der Reihenfolge der Ereignisse möglich, weil ihre Bedeutung in der zweiten Darstellung eine andere ist als in der ersten und rückwirkend das Prinzip der Erkenntnis der ersten Bedeutungsbesetzung begriffen wird. Genau diese Neubesetzung aber ist als Ereignis zu bezeichnen. Hier wird Erkenntnisvollzug selbst begriffen. Die Bestimmung einer „vermeintlich Zeitlose[n] und Überzeitliche[n]“68 Realität wird als Prinzip der „Vorgängigkeit“69 reflektiert und damit die Dialektik der Performanz zur Schau gestellt: dass nämlich Wahrnehmung und Erkennen, wie Sprechen und Handeln sich gegeneinander bedingen und diese ihre Bedingtheit aus der Szene einen Tauschort macht, der Realität genau dann abbindet, wenn das Erkennen und das Handeln, wenn Theorie und Praxis personal und gesellschaftlich getrennt werden. Die Szene kennt diese Trennung selbst nicht: Ihre Funktion ist gerade der Versuch, dies Getrennte in Einheit zu versammeln – dadurch aber muss sie sich von der Kette der Kausalitäten dramatisch abschließen und die Totalisierungen des personalen Körpers in Gesten der Subjektivität auflösen. Zurück zum Beispiel: Das Wunder der Zeit existiert nur für Dora, weil sie die Vorgeschichte des running gag nicht kennt und auch nur, weil Guido ihr eine alternative sprachliche Bedeutung präsentiert. Eines Abends also gehen Guido und Dora spazieren. Guido kommt auf den Schlüssel zu sprechen, mit dem er Dora erobern kann. Dora verweist auf den himmlischen Schlüssel der Liebe. Sie kommen gerade vor dem Haus an, von dem die Frau mit dem heiligen Namen Maria jeden Morgen den Schlüssel für ihren Mann herunterwirft. Also baut sich Guido vor Dora auf und verspricht unter Anbetung 68 Th. W. 69 Ebd.,

Adorno: Ontologie und Dialektik, a.a.O., S. 231. S. 68.

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Mariens den Schlüssel der Liebe herunterzuholen und ruft laut: „Maria, den Schlüssel!“ Sofort fällt – zum Erstaunen von Dora – von oben der Schlüssel herab. Der innere Zusammenhang, die Realität der Wiederholung, bleibt Dora natürlich verborgen – ein Wunder. Der zweite running gag wird ebenfalls als Zauberkunststück szenifiziert. Vor Doras Haus will sich Guido verabschieden, da er vom Regen durchnässt ist. Dora kommt auf den völlig durchnässten Hut zu sprechen und will den Trick Guidos ausprobieren, um den ersten Schlüssel-Gag als Zufall zu entlarven. Sie ruft: „Maria, schicke jemandem, der diesem Mann einen trockenen Hut schenkt.“ Im gleichen Augenblick (Guido hatte ihn schon kommen sehen) kommt der Ladenbesitzer vorbei und tauscht verärgert, ohne ein Wort, Guidos alten aber trockenen Hut gegen seinen nassen, den Guido am Morgen aus dem Laden stibitzt hat. Das retroaktive Wunder vollzieht sich ein weiteres Mal. Dieses Mal ist die unwissende Dora selbst die Aktive und aus der möglichen Zufälligkeit eine logische, wenn auch magische Notwendigkeit geworden. Es handelt sich um einen running gag höherer Ordnung, der aus zwei einfachen running gags besteht. Die Vielzahl der retroaktiven Ereignisse, die der Zuschauer ohne Mühe entschlüsseln kann, dissoziiert die performative Einheit von Sprache und Handlung. Es wird gezeigt, wie die Diffusion als Vorgeschichte der Szenifikation in eine scheinbar magische Beziehung von Sprechen und Handeln überführt wird, deren Erklärung einem Glauben unterstellt ist, dass – anders als ein Wissen – mit dem Zufall produktiv umgegangen werden kann, weil die dialektischen Beziehungen plural sind. Damit kommen wir zur zweiten performativen Struktur des Films Das Leben ist schön. Sie besteht im Einsatz von Rätseln. Guido, der in der Kleinstadt als Kellner arbeitet, und der deutsche Arzt Dr. Lessing, dem Guido vor dem Krieg freundschaftlich verbunden ist, tauschen bei ihren Begegnungen Rätsel aus. Während Dr. Lessing bei jedem Rätsel qualvoll und schlaflos tage- und nächtelang nach der Antwort sucht, gelingt Guido aus dem Stand heraus die Lösung, weil er nicht identitätslogisch, sondern inversionslogisch denkt, also nicht im Sinne einer realisierenden, sondern einer parabelhaften Weltauffassung. Außerdem zeigt sich, dass des Rätsels Lösung niemals ein auf Wissen beruhender Signifikant, sondern ein aus verschiedenen Bedingungen sich formierendes Signifikat ist. Diese Differenzsetzung gebietet sich allein schon aus dem Namen Lessing, der mit dem Rätsel der Ringparabel unauflösbar verbunden ist. In der Ringparabel wird nicht von ungefähr an den Vater-Sohn-Konflikt und die Substitution einer vorgängigen Wahrheit der Handlungen appelliert. Wenn G. E. Lessing alternativlogisch drei Söhne die Nachfolge des toten Vaters antreten lässt, dann stellt sich die Erbschaft des Vatersignifikanten im Sohn nicht durch die Struktur der Signifikantenkette, sondern durch das Signifikat (den Ring), also den Geist des Vaters dar.

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Dr. Lessing und Guido tauschen also Rätsel aus. Eines geht so: „So wie du meinen Namen sprichst bin ich schon nicht mehr da.“ (Antwort: Das Schweigen.) Ein anderes: „Je mächtiger sie wird, umso weniger siehst du sie.“ (Die Dunkelheit). In diesen Rätseln wird die Negation der Anwesenheit, das Zeigen des Nicht-Zeigens als Performativität thematisiert. Das heißt, es handelt sich, psychologisch betrachtet, beim Rätsel um eine Einübung ins Sterben, die strukturale Thematisierung eines leeren Ortes. Dieses Sterben aber ist nicht an einen Signifikanten, sondern an die Erbschaft eines signifikativen Kontinuums gekoppelt: das Leben. Die Antwort der Rätselfrage liegt jeweils in der Frage als deren Signifikat. Die Lösung bedingt also eine Inversion von Signifikat und Signifikant, so aber, dass das Signifikat an ein Ensemble von Bedingungen geknüpft wird, die die Signifikanten der Rätselfrage szenifizieren. Nur weil es mehrere Bedingungen (mindestens zwei) sind, kann das Rätsel überhaupt als rätselhaft erscheinen, sonst bliebe es eine einfache Frage, die identitätslogisch auf ein Wissen zielt. So offenbart sich die performative Szene ein weiteres Mal als Ort, in dem die Inversion als Zeit- oder Zeichentausch stattfinden kann. Trifft das auch für die Szene zu, in der Ich-Bewusstsein und Realität sich gegenseitig herausarbeiten und aneinander koppeln? In der Tat, die Szene zeigt uns, dass beide in einer negativen Dialektik ausgespielt werden und nicht ontologisch gebunden sind. Wir können die bisher herausgestellten szenologischen Kriterien in einer dritten Szenifikation wiederfinden: in den Elementen des Versteckspiels.

5. Das Versteckspiel: Darstellung einer Genealogie inszenierter Realität

Um Verstecken spielen zu können, muss es etwas geben, was sich so zeigt, dass man dahinter eine Leere vermuten kann. Es muss nicht viel Phantasie aufgebracht werden, um in diesem Verhältnis die von Adorno kritisierte Figur der ontologischen Differenz zu sehen: eine Fülle an Seiendem, deren Einheit durch eine Rahmung gegeben ist, die an diesem Seienden nicht Anteil hat, sie jedoch bedingt.70 Dort, wo

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Th. W. Adorno, Ontologie und Dialektik, a.a.O., S. 95. Adornos Argumentation gegen Heidegger zielt auf eine Variante des Russell-Paradoxons, nämlich sich mit der Tauschbarkeit von Sein in Zeit das A priori der Totalität des Seins erkaufen zu wollen, um es dann als eine zeitlose Gabe zu konsumieren. Adorno dringt damit auf jene genealogische, mediale und szenisch-praktische Entzerrung (Lichtung, Darstellung), die sich Heidegger aus eben diesen Gründen immer wieder entziehen muss. „Nur dann nämlich ist Ontologie in nachdrücklichem Sinn, eine Lehre von Sein überhaupt, möglich, wenn Sein – was immer wir uns darunter vorstellen mögen – als ein von allem Seienden Unabhängiges oder, wie es in der Sprache von Sein und Zeit heißt, ‚Vorgängiges‘ kann erwiesen werden.“ Soll diese Vorgängigkeit zeitlos sein, kann für sie nur das Imaginäre reklamiert werden, was – vice versa – von den Frühromantikern als Inversion in Anschlag gebracht worden ist. Gegen Adorno

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ein Geheimnis bewahrt, archiviert werden kann, wo die Welt rätselhaft ist, ist das Versteckspiel möglich, denn es beruht auf einer geheimen Übereinkunft eines jeden Spiels: die Rückkehr in und die Kompetenz der Realität (Spielregeln) müssen durch diese Rahmung abgesichert sein. Diese Realitätssicherung bedingt – in der psychoanalytischen Topologie Freuds – eine Abwehr der Idealität des Ideal-Ichs, dessen Zerstreuung (Diffusion) und somit die Prüfung des Nachweises, dass das Ich (je) tatsächlich nicht im Spiegel steckt. Der solchermaßen abgesicherte Körper kann nun sein Versteckspiel beginnen. Das Versteckspiel setzt eine allegorische Zerstreuung der Dinge voraus und kann – wie immer diese Voraussetzung auch ein zerstörerisches Potential erkennen lässt – darin die Funktion des Ichs in Beziehung auf den Körper erproben. Auf diese Körpervermittlung sichernden Dinge kommt es an, um die Funktion der Realitätskonstitution durch den Körper an die sinnhaften und sinnlichen Vermittlungen delegieren zu können und infolge der Erprobung im Leib auf Distanz zu halten. Das Versteckspiel feiert diese Distanz zwischen Ding und Körper. Freud knüpft die Frage der Realität an die Bedingung der Deformation von Körper und Außenwelt, also das Spiel, das ihnen eine phantasmatische Absicherung (ex negativo des Seinkontinuums) ermöglicht. „Es wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst deformiert, sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen läßt, eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt.“71 Die Zerstreuung wird durch das Spiel des Körpers als Spielraum versammelt und zugleich macht sich das Kind mit dem Geist des Ortes bekannt: der möglichen Leere des Seienden, in die das Kind sich mimetisch einfügt, und zwar eben als ein genichtetes, deformiertes Ich, das sich seinen Verstecken anschmiegen muss. Ein weiteres Moment der Zerstreuung ist melancholischer Natur: die Zerstreuung diffundiert die Realität, wie die Melancholie den Körper. Die Einheit freier Persönlichkeit retardiert in physiognomische Individualität.72 So ist die Szene des Versteckspiels ein allegorisch gefangener Ort, indem das Subjekt auf seine dialektische Stabilisierung in der dinglichen Realität verzichtet, um nachträglich seine Selbst-

ist einzuwenden, dass Heidegger in seinem Buch Kant und das Problem der Metaphysik (Frankfurt am Main 1973) als Korrektiv von Sein und Zeit auf dieses Problem eingegangen ist. 71 Sigmund Freud: Neurose und Psychose, a.a.O., S. 270. 72 Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1992, S. 353. Die humanistische Freiheit wird hier im Sinne des Schiller’schen ‚Freiheitstriebes‘ (und im Sinne Lacans) schon für die ausklingende Renaissance angesetzt: „In allen diesen Fällen aber bedeutet dieser Freiheitsbegriff die Entfaltung der Persönlichkeit in einen exemplarischen Typus eines bestimmten Menschenideals, nicht aber die Selbsterfüllung des Individuums in seiner seelischen Einmaligkeit.“

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konstitution zu zelebrieren.73 Sowohl das Versteck als auch der sich Versteckende genießen die Bewegung, die sie quasi die Geburt ihres Bewusstseins spielerisch nachvollziehen lässt. Nach Lacan gibt es in der Struktur des Todestriebes überhaupt nur diese Form des Genießens, die der Arbeit der Lust entgegenwirkt. Es ist das Rätsel der Personalisierung und der Entdeckung einer phantasmatisch gesetzten Realität, die im Versteckspiel zur Darstellung kommt. Um also der Macht der Realität (des phantasmatisch wiederholten ersten Signifikanten) zu entgehen, muss man gegenüber der Realität einen destruktiven, das heißt einen singulären Signifikanten, eine konstitutive Leere in das Spiel einfügen, „sich seine eigenen Geschichte […] machen: gleichsam fiktional die Geschichte […] fabrizieren, die von den Fragen nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist.“74 Dieser singuläre Signifikant ist allein durch das Moment der Abwesenheit als Möglichkeit der Totalisierung bestimmt: der Signifikant des Seins. Wenn das Kind sich im Versteckspiel seiner Archäologie unterwirft, so ahmt es, wie Foucault sagt, den Wahnsinnigen nach, der eine „absolute Singularität“75 wider alle Vernunft zu behaupten wagt. Nacheinander haben wir gesehen, dass die retardierende Setzung einer Fiktion (des Sohnes in Wer hat Angst vor Virginia Woolf?), eines Memorials des Vergessens (die Statue von Bruno), einer magischen Inversion der Zeit (der Retroaktivität, der Suspence in Das Leben ist schön) und des Rätsels (der inverse Signifikant) die Realität als eine Wiederholungskonstante durch die Idee der Singularität-als-ein-Nichts außer Kraft setzen. Während das Phantasma der Wiederholbarkeit die Grundlage der Macht, des Wissens, der Kausalität und der herrschenden Realität darstellt, zeigt die performative Szene, dass die Wiederholbarkeit darin besteht, das zu wiederholende (erste) Ereignis in einer retroaktiven Setzung des Ursprungs zu substituieren, es auszuschalten und einer Ästhetik des Verschwindens zu unterstellen.76 Das Kind setzt sich 73

Im Gegensatz dazu hat Benjamin sich auf die Zerstreuung und Sammlung der Dinge bezogen, ohne direkt auf die in der Allegorie angesprochene (Re-)Personalisierung einzugehen, die – wenigstens für ein bestimmtes Umfeld der barocken Allegorie – in der konfessionellen Zersplitterung der Einheit der Welt, im Concettismo professionell und im Sinne der Szenografie gefügt werden muss. Es sollte nicht ausbleiben, an anderer Stelle einmal die Geschichte des Versteckspiels etwa im barocken Garten zu untersuchen. 74 Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 26. 75 Ebd., S. 36. 76 Virilio erzählt folgende Geschichte, die ihm der berühmte Fotograph Jacques-Henri Lartigue über seine Initiation als Fotograf berichtet: „[…] das liegt weiter zurück, es ist etwas, das ich als kleines Kind machte. Ich schloß, die Augen halb und ließ nur einen kleinen Schlitz offen, durch ihn betrachtete ich intensiv das, was ich sehen wollte. Dann drehte ich mich dreimal um die eigene Achse und glaubte so das Angeschaute eingefangen zu haben. Ich dachte, es wäre mir in die Falle gegangen und ich könnte es beliebig lange behalten, und zwar nicht nur das Gesehene, sondern auch Gerüche und Geräusche.“ Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S. 11.

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diesem Genuss des Verschwindens im Versteckspiel aus, einerseits um sich selbst im Spiel konstituieren zu können, andererseits um die Macht über die subliminale und substituierende Kraft der Zeichen zu gewinnen, auf deren Ebene sich ein Muster, eine Ordnung, ein Wissen als Signifikantenkette auf der Phantasmatik des Glaubens, also des Signifikanten-für-mich realisiert. Das Versteckspiel simuliert die Genesis der Selbstbehauptung in einer vorgängigen Welt magischer Körper. Infolgedessen ist das Zeichen des singulären Signifikanten, der Name, in der Lage, den Körper zu repräsentieren. Oder genauer, der Name ist der Ort, an dem sich ein Ich (je) gegen alle physische Realität behauptet. Den Namen des Kindes und die Identität des Ortes und Körpers zu zeugen, ist Aufgabe desjenigen, der im Versteckspiel die Position des Suchers (Vaterposition) einnimmt. Das Kind ahnt, dass die Macht des Spiels (seiner Selbstgeburt) von der Möglichkeit her definiert wird, inwieweit ein Zeichen, das immer allen gehört, von ihm selbst bestimmt wird. Die Herrschaft über Zeichen ist nicht konkret, sie ist an die Fähigkeit gebunden, das Zeigen und das sich Zeigen zu tauschen, Sucher und Finder, Akteur und Zuschauer zu sein. Das Zeichen aber, das als einziger Signifikant sich jedem Tausch entzieht, das ist das „Ich“, das sich in der Totalisierung des Bildes meines Körpers – so Lacans Darstellung des Spiegelstadiums – nur in der sozialen Beziehung als einer Wiederholung meiner Individualität im Anderen realisiert. Genau diese Asymmetrie der Bestimmung kommt durch den Wechsel der medialen Kategorie zum Ausdruck, nämlich der Identifizierung von Körper und Name. Einzig in der Genealogie des Namens ist die Rettung der Inzestdrohung des singulären Signifikanten (und des zerklüfteten Anderen) gewährleistet, und der Name muss vom Anderen her der Entdeckung meines Körpers zukommen. Wir haben es also mit der Präsenz eines Zeichens zu tun, das der Gefahr unterliegt, aus Gründen des Inzests seine Zeichenhaftigkeit zu verlieren. Aus diesem Grunde kann das Spiel um die Existenz nicht ohne den Sucher als symbolischen Zuschauer stattfinden, unter dessen Kompetenz sich die Inzestgefahr bannt. Im Versteckspiel geht es nämlich darum, den Namen zu rufen und ihm einen Ort zuzuweisen, der der eines abwesenden Körpers ist. Es geht dem Kind im Versteck darum, entdeckt zu werden und sich in seinem Namen zu identifizieren. Wird es nicht entdeckt (bzw. zuletzt entdeckt), ist es keinesfalls der Sieger des Spiels, sondern muss sich als Sucher in der Rolle des Zuschauers, in der Identifikation von Name und Körper, kompetent erweisen. Der programmatische Akt der Wiederholung des Spiels, der für das Spiel wie die Performanz der Szene wesentlich ist, belegt jedes Kind in jeder Folge des Spiels – und reihum jeweils einem anderen Sucher77 – mit einem immer gleichen Ereignis,

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Man kann sich leicht vorstellen, dass die Spielrunden schnell ermüdend sind und dass man die Wechsel der Sucherpositionen schließlich durch eine synchron anwesende Zuschauermenge ersetzt,

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nämlich der Identifikation des Körpers im Namen. Genau das aber ist die Entdeckung „der Einheit des Bewußtseins. […] Man erkennt, daß es ein einziges Ding ist, das alle selbstpräsentierenden Eigenschaften besitzt, und daß dies das Ding ist, dem man alle seine direkten Zuschreibungen zuschreibt.“78 Die soziale Stabilisierung kommunikativer Realität im szenischen Regulativ eines Spiels bannt die Gefahr, die selbst gewählte Nichtung (Identifikation mit dem Anderen) nicht zurücktauschen zu können. Anders wäre das Spiel ein hysterisches.

Abb. 6 Das Leben ist schön. Giosué spielt unbemerkt mit den Kindern der Wachmannschaften verstecken. (Screenshot)

Wie wird Versteckspielen gespielt? Von einem strategischen Tabuort aus, dem Eckstein, der als Opferstein an exponiertem Ort der Spielszene steht, beginnt das Spiel. Häufig, wie in dem Film von Benigni, ist der Stein auch einfach eine begrenzende Wand, eine blinde Spiegelfläche, die eine Blickschneise über das Gelände ermöglicht. Der Erste, der die Bedrohung der Versammlung immobiler Zerstreuung, also ihren Destruktionsstatus nicht erträgt, soll als Initiator des Versteckspiels suchen. Vermutlich ist in diesem Kind die Problematik des Rücktauschs des in den Dingen

was dem Sucher (Zuschauer) naturgemäß eine gewisse Passivität verleiht, die auf Seiten der Protagonisten dann eine programmatische Mehrfachbesetzung (Maskierung, Rollenwechsel) abverlangt. So wäre es durchaus möglich, das ‚Versteckspiel der Toten‘ als ursprünglich für das griechische Theater anzunehmen und im Chor die Anrufung des Namens. 78 Roderick Chrisholm: Die erste Person. Eine Theorie der Referenz und der Intentionalität, Frankfurt am Main 1992, S. 134. Die Voraussetzung von Selbstidentifikation ist – gemäß einer Einsicht Franz Brentanos – durch das Anerkennen des Bewusstseins als Apperzeption von Abwesenheit gegeben (S. 153).

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und Höhlungen verborgenen Geistes am dringlichsten. Der erste Sucher verbirgt sein Gesicht und zählt am Eckstein so lange, bis alle Kinder versteckt sein sollten, etwa bis hundert. Die Zählung soll den Abwesenheitscharakter und den rauschhaften Automatismus des Blicks vorbereiten und zugleich den Körper des Kindes entindividualisieren, das heißt, es wird rituell ‚um die Ecke gebracht‘, um eine mimicry des Verschwindens zu szenifizieren (Reduktion auf den Körper). Gleichzeitig wird damit der Übergang von Rausch/Traum in eine Realität des Spiels chronotopologisiert.79 Die Zahl fungiert als eine Art Zaubermedium der Bannung des Wiederholungszwanges. Nun folgt der Spruch des Suchers: „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vor mir, da gilt es nicht. Eins, zwei, drei – ich komme!“

Abb. 7 Das Leben ist schön. Giosué beobachtet den Einzug der amerikanischen Panzer. (Screenshot)

Der Spruch wird in einem poetischen Singsang laut vorgetragen und gibt dem Sucher die Kompetenz über vier Übertragungen: Erwachen, Sehen, Verlauten, Aufzählen, also Sammeln. Schon hier ist die Stimme das eigentliche Medium der Besetzung der Realität, weil es die Extension des Körpers am weitesten trägt und das

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Iser schlägt innerhalb der Pendelbewegung von play (freiem Spielen) und game (instrumenteller Spielform) nach Caillois vier spieltheoretische Unterscheidungen vor: Agon, Alea, Mimicry und Ilinx (Das Imaginäre und das Fiktive, a.a.O., S. 445f ). Unter Agon ist der Wettstreit, „mit einer künstlichen Gleichheit der Chancen“ (Huizinga), unter Alea der Streit mit einer exterioren Macht (Schicksal) zu verstehen. Mimicry ist als Illusionierung, das heißt „Eintritt ins Spiel: in-lusio“ (also Rollenspiel) zu verstehen. Zuletzt bedeutet Ilinx eine Spielkategorie, „die auf dem Begehren nach Rausch beruht“.

VERSTECKSPIEL

Außen mit dem Innen homogenisiert. Kraft der aus dem Zahlenrausch erwachten Trennung erlangt der Sucher die Kompetenz, das Sich-Zeigen einer möglichen Leere zu erkennen – die Bestimmung des ersten Signifikanten ex negativo aus der sich allmählich entfaltenden Szene. Damit steht er in der Macht, die von den Kindern gewählte Privation der Zeichensetzung (Ich-Position der Leere des ersten Signifikanten) in eine mediale Ordnung zurückzuholen, das heißt, den Triumph einer SohnesWerdung zu feiern, insofern er die Kinder aus dem Spiel in die Realität zurückzurufen vermag, deren agonales Gesetz er angestoßen hat. Der Sucher wird nämlich dann zum ‚Vater‘, wenn er den Körper der Mitspieler sieht und ihn rufend benennt. Wird nämlich eines der Kinder in seinem Versteck mit Namen benannt, müssen Kind und Sucher zum Eckstein zurücklaufen, um im dramatischen Agon die Macht über den eigenen Körper wiederzugewinnen. Genauer: Sie müssen das Dilemma der Gleichursprünglichkeit von Sehen und Hören, von Ich und Anderem (Sohn und Vater) als Frage der Nähe des Ursprungs genealogisch entscheiden. Am factum brutum des Ecksteins wird diese Entscheidung zur Realität, denn der Eckstein ist der Ort, von dem aus das Spiel beginnt – das ist seine ursprüngliche, strategische und transzendente Bestimmung. Im Allgemeinen endet eine Spielsequenz durch Ermüdung. Denn dasjenige Kind, das so lange in seinem Versteck verharrt, bis der Sucher aufgibt, muss den Sucher spielen, darf durch den Blick des Vaters die Kinder in die Gemeinschaft der Szene zurückholen. Aber die Rolle des Suchers ist nicht eben die beliebteste im Versteckspiel. Es bleibt eine Frage des Genießens, die Entdeckung zwischen dem Blick und dem Lauf zu zelebrieren. Die Ermüdung jedenfalls ist der Beweis, dass das Spiel nicht finalisierbar ist, sondern der Einübung in eine Differenzerfahrung dient, der, zwischen dem Namen-des-Vaters und dem Eigennamen unterscheiden zu können. Diese Differenzerfahrung, die Freud eine symbolische nennt, leitet er aus dem „Kinderspiel“ ab, das in der Lage ist, die Neurose zu simulieren, ohne der Psychose – dem Verlust der Realität – anheim zu fallen.80 Benigni hat in seinem Film die Naivität des Versteckspiels entzaubert. Es ist Sache der SS, dafür zu sorgen, dass in einem KZ das Ich der Gewalt eines einzigen Signifikanten untergeordnet bleibt, weil der Faschismus die Herrschaft über den Blick der Anderen verlangt. In der szenologischen Folge ist auch der immer wieder von der Kritik problematisierte Kontrast, zwischen dem ersten Teil des Films, der idyllischen, italienischen Komödie, und dem zweiten Teil, der faschistischen, deutschen Tragödie, aufgelöst. Für Guido nämlich hat sich das Spiel nicht verändert, es hat nur weltgeschichtliche 80

S. Freud: Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, a.a.O., S. 278.

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Dimension angenommen. Es beweist, dass der Faschismus nicht finalisierbar ist, sondern dass er eine Ordnungsfunktion innerhalb der Soziotopologie des Versteckspiels ist, nämlich, die Abwesenheit des ersten Signifikanten paranoetisch besetzen zu müssen, und zwar mit der Unbedingtheit des menschlichen Körpers. Der psychotische Verlust des Ichs wie der der Realität lässt sich daraus ableiten. Wie entgeht man dieser Realisierung unter Einsatz des Körpers? – Indem man ihn medial und symbolisch sich zerstreuen lässt. Die Medien konstituieren ein Realitätsspiel, das verdrängt, dass die Realität stets nur eine konstitutive Fiktion des Umstandes ist, dass das Ich vor seiner Verdinglichung zurückschreckt, nämlich in seinem Versteck mit den Dingen zu verschmelzen. Damit es im KZ nicht sofort zum Todesschuss kommt, d.h. der Verwandlung des Körpers in eine leere Ganzheit, streckt das Spiel, das Guido erfindet, die Zeit, und zwar, indem es eine Belohnung in Aussicht stellt, und es entfaltet den Raum, indem es innerhalb des KZs Refugien des Versteckens nutzt. Zu diesem Zweck müssen die heterotopen Versteckensorte in einem weiblichen Körper kontingentiert und verbunden werden. Dieser weibliche Körper garantiert das Überleben in einer Realität. Und in der Tat ist dieses weibliche Medium, in dem die Versteckensorte sich homogenisieren, der Mutterkörper als Panzer, den Guido seinem Sohn verspricht, wenn die 1.000 Punkte erreicht und das Spiel beendet ist. Der Panzer ist auch schon vor dem Krieg der Körper des Genießens des kleinen Giosué. Er ist nicht nur gleichsam der in die Positivität der Realität übertragene Wunsch nach dem sozialen Schutz innerhalb der Fragmente floatierender Signifikanten, mit denen der Vater so virtuos spielt, mit denen er aber die Freiheit bis zur Angst vor ihr übertreibt. D.h., grundsätzlich unterscheidet sich der Wunsch Giosués nach einer gepanzerten Realität nicht von dem der SS. Nur Giosué kann diesen Wunsch als Wunsch aushalten – die SS nicht, sie baut reale Panzer, in denen sie sich versteckt und die der Abwehr der Leere dienen. Überleben im KZ bedeutet für den kleinen Giosué, an die Ordnung des Spiels zu glauben und sich der Entdeckung (Inzest) durch die Verbergung im symbolischen Mutterkörper zu entziehen. Wie nämlich der Panzer das Symbol der kommenden und Schutz bergenden Mutter als Modell signifikanter, in das Gesetz gebannter Herrschaft ist – der Panzer besitzt eine Kanone –, so ist das Versteck (am Ende des Films ein Stromkasten) immer schon die passive Versicherung, der realen Mutter: das Sich-Bergen in die Dinglichkeit, die körperliche Kontingentierung der Seinsrisse. So schließen sich die beiden Teile des Films letztlich in der problematischen inversions- und reversionsversessenen Figur Guidos, der in permanenter Überschreitung der Ordnung der Dinge und Signifikanten die Vorgeschichte der Realität als szenische Performance ausspielt.

VERSTECKSPIEL

Wir sehen, wie sich die Wünsche des Jungen zu erfüllen beginnen, weil er gelernt hat, im Signifikanten seinen Glauben zu verehren. Am Ende des Films wird er seine Mutter in die Arme schließen können: Das Leben ist schön – la vita é bella. Freilich gibt es das Opfer, den Vater, der in Frauenkleidern versucht, Dora zu finden, aber von einer Patrouille ‚um die Ecke‘ gebracht wird und damit das Rätsel proliferiert, das alle Gewalt beherrscht, das der Vaterschaft, das Rätsel des fehlenden Drittenelements im Akt des Ereignisses, für das der Körper des Menschen zur Verantwortung gezogen wird.

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Petra Maria Meyer DER RAUM, DER DIR EINWOHNT. ZU EXISTENTIELLEN KLANG- UND BILDRÄUMEN

Ein Titel ist ein Versprechen, das insofern eingelöst werden soll, dass von Beginn an ein wandelbares Bezugsystem für alle Raumfragen unterstellt wird: der wahrnehmende Mensch, der sich nicht nur in seiner Umwelt ebenso wie in inszenierten Räumen orientiert, sondern von differenten Atmosphären und Stimmungen erfasst wird, die er sich geradezu einverleibt. Raum wird hier also weder als eigenständige, unabhängige Entität noch als Behälter für Objekte verstanden. Vielmehr wird von sozio-kulturell geprägten, künstlerisch gestalteten, wahrnehmbaren Raumorganisationen ausgegangen, die erst in einer Wechselwirkung mit dem wahrnehmenden Menschen hervorgebracht werden. Ein damit verbundener Theorieanschluss wird vorrangig phänomenologisch mit Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty1 und psychoanalytisch im Anschluss an Jacques Lacan erfolgen. Diskursive Voraussetzungen lassen sich durch zwei Wendemarken innerhalb der Forschung benennen: eine Wende zu neuen Raumfragen und eine Wende zu neuen Fragen nach Theatralität. Ich werde mich zunächst einem ‚spatial‘ oder ‚topographical turn‘ widmen, dann mit Beachtung der Wandlungsprozesse von Theaterräumen und Einflüssen eines Theatralitätsdiskurses einen erweiterten Raum des Theaters thematisieren, der mit einer veränderten Bedeutung von Szenographie ebenso einhergeht wie mit Intermedialität. Im Anschluss werde ich Konsequenzen für meinen Raumbegriff erwägen, um schließlich die Überlegungen auf zwei konkrete Beispiele zu beziehen. 1 Eine phänomenologische Theoriebildung des Raumes beginnt bereits bei Husserl, der in seinen Vorträgen von 1904 bis 1907 verdeutlichte, dass der Raum aus einem Wahrnehmungsvollzug resultiert, also Raumeindruck ist. Das phänomenologische Erkenntnisinteresse richtet sich auf einen erlebten Raum, der vom Leib aus geschaffen wird, und nicht auf einen mathematischen, homogenen Raum der Physik. Neben Maurice Merleau-Ponty bieten somit auch Edmund Husserl, Martin Heidgegger oder Jean-Paul Sartre phänomenologische Theorieanschlüsse, die bezogen auf die Analyse konkreter künstlerischer Raumkonzeptionen je nach Erkenntnisinteresse unterschiedlichen Aufschluss versprechen. In diesem Zusammenhang sei zudem auf die grundlegenden Forschungen im Bereich einer „Neuen Phänomenologie“ von Hermann Schmitz zum „Gefühlsraum“ oder zum „leiblichen Raum“ hingewiesen. Vgl. z.B. Hermann Schmitz: System der Philosophie, 2/3, Studienausgabe, Bonn 2005, oder: Ders.: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart 1998. Im Anschluss an Schmitz hat Gernot Böhme wegweisend den Atmosphärenbegriff in die Forschung eingebracht. Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, Frankfurt am Main 1995. Zudem sei auf die wichtige Berücksichtigung eines niemals leeren, sondern immer schon durch Phantasmen besetzten Raumes bei Bachelard hingewiesen: Vgl. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987.

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Spatial Turn

Man mag von den verschiedenen, proklamierten ‚turns‘ halten, was man will – sie womöglich berechtigt für Durchsetzungsstrategien fachpolitischer Interessen halten – ihre Auswirkungen sind jedoch immer auch fruchtbar zu nennen, denn sie haben zur Akzeptanz und Ausdifferenzierung von vielfältigen Erscheinungsformen geführt. Das gilt auch für den sogenannten ‚spatial turn‘, den man mal mit Michel Foucaults Vortrags-Typoskript Andere Räume von 19642, ein anderes Mal mit Edward Sojas Studie Postmodern Geographies von 1989 verbindet. Bereits Foucault hat deutlich gemacht, dass wir nicht in einem leeren Raum leben, den man irgendwie füllen kann, sondern immer schon mit „einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren“, konfrontiert sind, d.h. mit einer gesellschaftlich geprägten relationalen Verortung, die sich ebenso machtvoll auswirkt wie sie Machtverhältnisse sichtbar macht. Mit stärkerer Betonung auf die kulturellen Praktiken, in die soziale als auch technische einbezogen sind, hat Sigrid Weigel von einem „topographical turn“3 gesprochen. Einigkeit herrscht darüber, dass die kulturelle bzw. soziale Organisation von Raum erst eine wahrnehmbare Raumorganisation schafft, an der nun die Künste in veränderter Weise mitarbeiten können. Selbstreflexive Arbeit und Veränderung der Raumwahrnehmung durch die Künste haben eine neue Zentralstellung erlangt. Auch Michel de Certeaus wichtige Unterscheidung zwischen Ort und Raum, die er im Anschluß an Foucault vornahm, hat zur Präzisierung dieser künstlerischen Arbeit beigetragen. Den Raum als „Geflecht von beweglichen Elementen“ verstehend, der von Bewegungen erfüllt ist, geht er davon aus, daß der Raum durch diese Aktivitäten erst erzeugt wird. Bei Certeau erweist sich der Raum als Resultat performativer Vorgänge. „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“4, sagt Certeau, so wird er durch einen Akt in jedem Moment geschaffen und immer wieder neu geschaffen, d.h. transformiert. Marc Augé hat diese Überlegung aus der Perspektive des Ethnologen aufgegriffen und den Fokus auf „Orte und Nicht-Orte“5, die heute ubiquitären Passagen, Durchgänge und Zwischenräume gerichtet, die eine Transformation von Räumen stetig dynamisieren. Beide verweisen auf eine bereits zuvor von Maurice Merleau-Ponty vorgenommene Unterscheidung eines „geometrischen Raumes“ (der wie der Ort bei Certeau

2 Foucault

hat den Vortrag am Cercle d’Etudes Architecturales, Paris, am 14. März 1967 gehalten.

3 Vgl. Sigrid Weigel: Zum topographical turn – Kartographie und Raumkonzepte in den Kulturwis-

senschaften, in: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151-165. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. 5 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt am Main 1994. Franz. „Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité“, Paris 1992. 4 Vgl.

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und Augé verstanden werden kann) von einem „anthropologischen Raum“. Merleau-Ponty ging es bei dieser Unterscheidung, die er in der Phänomenologie der Wahrnehmung vornimmt, darum, einen in Länge, Breite und Höhe messbaren „geometrischen Raum“ von einem erlebbaren Raum6 zu unterscheiden, der „existenziell“ ist bzw. wo „die Existenz räumlich“ ist. Diese andere Räumlichkeit wird mit einem anderen Verhältnis zur Welt verbunden, das man in der Wahrnehmung, insbesondere jedoch im Traum einnimmt und das durch ein Begehren gesetzt ist, welches von einer spezifischen „Richtung der Existenz“ geprägt ist. Die für den Menschen allzeit existentielle Frage nach dem Verhältnis von Ich und Welt, Innen und Außen, hat zu historisch unterschiedlichen Raumvorstellungen geführt. René Descartes entwarf eine wegweisende Topologie, in der ein Denk- und Vorstellungsraum (res cogitans) von der Welt als Raum der Dinge (res extensa) abgelöst betrachtet wurde. In Immanuel Kants Transzendentalphilosophie wird der Raum ebenfalls wegweisend zur Bedingung der Möglichkeit menschlicher Vorstellung und Erkenntnis. Als „Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt“7 hat der Raum keine Realität. Er wird also als Erkenntnisraum auch bei Kant vom Weltbezug losgelöst. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty wendet sich sowohl gegen die rationalistische Auffassung Descartes als auch gegen die transzendentale Position von Kant, um das Wechselspiel von Vorstellung und leibhafter Erfahrung des wirklichen Lebensraumes, die Relevanz der Welt als Wahrnehmungs- und Denkmillieu einzubeziehen. Dabei hat er die Beiträge von Descartes und Kant durchaus zu würdigen gewusst: „Gewiß, auch für Kant ist der Akt des Verknüpfens nichts ohne das Schauspiel der Welt, das in ihm sich verknüpft, ist Bewußtseinseinheit gleichursprünglich mit der Einheit der Welt, und Descartes’ methodischer Zweifel läßt uns nichts verlieren, da die Welt im ganzen zumindest als die von uns erfahrene sich dem cogito integriert, […]“8 Ausgehend von der erfahrenen Welt als einem gleichsam erlebten Raum, der als Wahrnehmungsvollzug integriert ins cogito zum bewussten Raumeindruck wird, nimmt Merleau-Ponty keine einseitige Beziehung zwischen Subjekt und Welt an, vielmehr wird das Wahrnehmungsfeld, das in jede Reflexion einwirkt, immer auch der Welt zugeschrieben, so dass eine wechselseitige Beeinflussung angenommen 6 Parallel zur philosophischen Neubetrachtung der Zeit, die Henri Bergson wegweisend ermöglichte, lässt sich nun auch der Raum aus neuer Perspektive betrachten. Hat Bergson eine „räumliche Zeit“ der Physik von einer „erlebten Zeit“ des Bewusstseins als zwei komplementäre Aspekte von Zeit unterschieden, so wird eine parallele Unterscheidung heute auf den Raum bezogen vorgenommen. Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 1994. 7 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 67. 8 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S. 5.

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wird, die zwischen der „Bühne der Einbildung“9 und dem „Schauspiel der Welt“10 besteht. Merleau-Pontys phänomenologische Reflexionen, die eine „Philosophie der Existenz“11 implizieren, in der auch der Bereich des Unbewussten einbezogen ist, sind ebenso wegweisend wie seine Theatermetaphorik bezeichnend ist. Diese korrespondiert einem Modellcharakter des Theaters einerseits und einem zunehmenden Theatralitätsdiskurs andererseits, der es gleichsam ermöglicht, Intermedialität und Erweiterten Raum zusammen zu denken.

Zur Modellhaftigkeit des Theaters

Eine Wechselwirkung zwischen dem wahrnehmenden Menschen, der „Bühne der Vorstellungen und Einbildungen“, und dem „Schauspiel der Welt“ lässt sich immer schon am Theater verdeutlichen. „Bühnenkunst ist Raumkunst“12, lautet ein grundlegendes Diktum von Max Herrmann, der schon zu Beginn der theaterwissenschaftlichen Forschung einen verwandelten „imaginären Kunstraum“ thematisiert, der zum Erlebnis wird. Herrmann berücksichtigt nicht nur den Umstand, dass der Schauspieler durch Wort, Habitus und Bewegung den theatralen Kunstraum erst erschafft13, sondern auch die konstitutive Wahrnehmung des Publikums, die Herrmann als „schöpferische, mitschöpferische Tätigkeit“14 bezeichnet. Eine den Raum immer schon mit konstituierende Funktion15 der Wahrnehmung wird durch eine grundlegende Verhältnisbestimmung von Bühnen- und Zuschauerraum geprägt, die theatergeschichtlich unterschiedlich verläuft. Die Bandbreite reicht vom Freilicht-Amphitheater mit Blick in die Weite der Landschaft über die

9 Ebd.,

S. 6. Ebd., S. 5. 11 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: The Philosophy of Existence, in: H. J. Silverman (Hg.), Philosophy and Non-Philosophy Since Merleau-Ponty, New York/London 1988, S. 129-139. 12 Max Herrmann: Das theatralische Raumerlebnis (1931), wieder abgedruckt, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorien. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 501-514, hier S. 501. 13 Vgl. ebd., S. 506. 14 Ebd., S. 508. 15 Es wird hier kein Radikaler-Konstruktivismus-Gedanke verfolgt, da die Realität der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty nicht nur auf die innere Kohärenz der Vorstellungen, sondern auch auf die Phänomene der Welt zurückgeführt wird. „Die Wirklichkeit ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu konstituieren.“ Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S. 6. Damit wird der konstruierende, konstitutive Wahrnehmungsakt des Menschen jedoch nicht unterschlagen, er erfolgt nach Merleau-Ponty jedoch im Verhalten „zur Welt“. Im Inneren findet Merleau-Ponty ein „Zur-Welt-Sein“ und somit ein Nach-außen-gerichtet-Sein des Menschen. 10

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mittelalterliche Simultanbühne zur Sukkzessionsbühne im Innenraum fester Häuser bis zur Guckkastenbühne mit Blick auf die vierte Wand und weiter zur Aufhebung jeder Bühnenrampe in der Performancekunst. Theater kann heute überall stattfinden. Obwohl die Guckkastenbühne immer noch dominiert, sind mit Theater sehr variante Raumkonzepte verbunden, die die Rezeptionssituation sehr unterschiedlich bestimmen, das Verhältnis zwischen Zuschauern und Akteuren verschiedenartig definieren und die Art und Weise, etwas zur Erscheinung zu bringen bzw. aufzuführen, d.h. die Inszenierung, vielfältig prägen. Theater und theatrale Raumerlebnisse gibt es insofern nur im Plural.16

Theatralität, Szenographie, Choreographie und Erweiterter Raum

Zur Erweiterung theatraler Spielräume hat sowohl eine Retheatralisierung des Theaters im 20. Jahrhundert als auch ein interdisziplinärer Diskurs beigetragen17, der ‚Theatralität‘ auch außerhalb des Theaters markierte. Aus heutiger Sicht lässt sich ein implizites Einwirken von ‚Theatralität‘ in verschiedenen kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskursfeldern unterschiedlicher historischer Epochen auffinden. Ein expliziter Theatralitäts-Diskurs beginnt jedoch erst mit der Einführung des Begriffes und seiner Integration in Redeketten. In diesem Sinne ist er erstaunlich jung und bis heute flexibel geblieben, denn der Begriff ‚Theatralität‘ ist im Bereich europäischer Sprachen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts nachweisbar18 und hat im Weiteren eine Vielfalt an Bedeutungen angenommen. Insbesondere zwei unterschiedliche Ausrichtungen waren dabei wegweisend. Während im Kontext einer von Georg Fuchs 1909 sogenannten „Retheatralisierung des Theaters“ der Begriff ‚Theatralität‘ programmatisch zur „Entliterarisierung des Theaters“ an Kennzeichen medialer Spezifität des Theaters gebunden wird, entsteht bei Nikolaj Evreinov ein universalistisches Konzept von ‚Theatralität‘, das sich nahezu auf alle Phänomene beziehen lässt. Der Unterschied zwischen Konzepten von Theatralität, die darin ein Spezifikum des Theaters sehen, und Konzepten, die das Theater nur für einen

16

In ähnlicher Weise äußert sich schon Max Herrmann. Vgl. ebd., S. 513. Ab 1996 bestand für sechs Jahre ein DFG-Forschungsschwerpunkt „Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften“ unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte. Eine Übersicht über die Bandbreite der Theatralitätsforschungen in diesem Diskursfeld geben die von Erika Fischer-Lichte et al. von 2000 bis 2005 herausgegebenen Sammelbände. 18 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Introduction: Theatricality: A Key Concept in Theatre and Cultural Studies, Theatre Research International, Bd. 20, Nr. 2, New York 1995, S. 85-89, hier S. 86. 17

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speziellen Fall von Theatralität19 halten, prägt von Beginn an die Diskursgeschichte des Begriffes. Auch heutige Ausrichtungen sind heterogen geblieben. Mit besonderem Fokus auf den Zusammenhang von Theatralität und Medialität erwies sich für meine Forschungen ein offener Theatralitäts-Begriff als fruchtbarer Suchbegriff. Entsprechend nutze ich seit 1996 eine Definition von Roland Barthes, „Qu’est-ce que c’est théâtraliser? Ce n’est pas décorer la représentation, c’est illimiter le langage“20, die mir die Berücksichtigung einer Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände von der Performance Art über Film und Fernsehen bis zur Videokunst21 ermöglichte. Nach Barthes überschreitet „das Theatralisieren“22 die diskursiven und repräsentationslogischen Grenzen, denen die Institution Theater häufig dient, und denen eine Theateravantgarde mit Rekurs auf eine ‚Szene‘ entgegentrat, die seit Antonin Artaud mit Sprachklängen, Gesten, Bewegungen, Geräuschen auf der Theaterbühne, im Radio und im Film medienübergreifend insistiert. Barthes verweist in diesem Zusammenhang auf das „Insistieren“ bei Jacques Lacan, das einsetzt, „wo sich die Signifikanten so staffeln, dass kein Sprachgrund mehr ausgemacht werden kann“.23 Wo dieser Sprachgrund fehlt, hat die verweisende Bewegung im Raum der Signifikanten prinzipiell keine Begrenzung mehr.24 Entsprechend wird bei Barthes kein mathematischer oder physikalischer Raum25, sondern ein semiotischer, kultureller Raum bedacht, ein Raum der Zeichen, der 19

Vgl. Gottfried Fischborn: Theatralität – Dramaturgie – Dramatisierung: Einige fragmentarische Bemerkungen zum Problemfeld, in: Forum Modernes Theater, Bd. 10, 2 (1995), S. 126-134, hier S. 126. 20 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola, Paris 1971, S. 10. 21 Vgl. z.B. Petra Maria Meyer: Mediale Inszenierung von Authentizität und ihre Dekonstruktion im theatralen Spiel mit Spiegeln. Am Beispiel des komponierten Filmes Solo von Mauricio Kage, in: Erika Fischer-Lichte/I. Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Theatralität Bd. 1, Tübingen und Basel 2000, S. 71-91, und dies.: „Bei jedem Lidschlag senkt und hebt sich ein Vorhang“. Mediale Strategien der Wahrnehmungsveränderung in der Videokunst, in: Erika Fischer-Lichte/Chr. Horn/M. Warstatt: Wahrnehmung und Medialität, Theatralität Bd. 3, Tübingen/Basel 2001, S. 127-142, und dies.: Die „schöpferische Rolle der Zeit“ in „Weltumschlungen“ von Nam June Paik. Verfehlende Beschreibung eines „Medien-Ereignisses“, in: E. Fischer-Lichte/Chr. Horn/M. Warstatt: Performativität und Ereignis, Theatralität Bd. 4, Tübingen und Basel 2003, S. 185-203, sowie dies.: Vom Nutzen des Theatralitäts-Diskurses für eine prozessuale Medientheorie. Am Beispiel eines Video-Ereignisses im Film „American Beauty“, in: E. Fischer-Lichte et al. (Hg.): Diskurse des Theatralen, Theatralität Bd. 7, Tübingen/Basel 2005, S. 269-289. 22 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola, (dt. Übersetzung), Frankfurt am Main 1986, S. 10. Vgl. zudem Barthes 1971, ebd. 23 Ebd. S. 10. Wenn der Stil im Schreiben realisiert wird, entsteht ein prinzipiell infinites Drängen und Betonen, das auf „Konsistenz“ verzichtet, stattdessen aber insistiert. 24 Aus Kommunikationsgründen gibt es praktisch immer wieder Begrenzungen. Auch Jacques Lacan spricht diesbezüglich von „points de capiton“, Haltepunkten der Signifikanten. 25 Der unendliche Raum wurde historisch variant beispielsweise im Sinne Euklids oder der

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jedoch zum phänomenologischen Wahrnehmungsraum erweitert wird, denn für diesen Raum der Zeichen ist ihre signifiance26, ihre wahrnehmbare medienspezifische Sinnlichkeit, mindestens ebenso relevant wie ihre kulturell codierte Funktion, Bedeutungszuweisungen zu stimulieren und zu motivieren. „Theatralisieren“ als Bewegung des Unbegrenzens (illimiter) verschiebt die Relevanz zugunsten der „signifiance“ und ist entsprechend an einen erweiterten Raum der langage und nicht an einem Modell „Theater“ orientiert, das die „Dynastie der Darstellung“ (Derrida) und eine psychologisch-realistische Figurenkonzeption fortführt. Vielmehr wird „Theatralität“ hier mit einer grenzüberschreitenden Bewegung verbunden, die in ganz unterschiedlichen Medien und auf vielfältigen Schauplätzen des Denkens, Sprechens, Schreibens und des gestischen Agierens zur Wirkung kommt.27 Wenn man in diesem Sinne unter Theatralität ein generatives Element medialer Prozesse der Unbegrenzung versteht, sind die Leitbegriffe dieses Sammelbandes, Theatralität, Intermedialität, Erweiterter Raum, untrennbar miteinander verbunden.28 Wegweisend ist der Begriff der „Theatralität“ bei Barthes zudem mit dem Begriff „scénographie“ verknüpft. Bei seiner Lektüre von Sade, Fourier und Loyola versteht er unter einem „Szenographen“ jemanden, „[…], der sich in den Streben, die er aufbaut und bis ins Unendliche fortführt, verliert.“29 Wiederum in Nähe zu Lacan30 denkt auch Barthes das Subjekt als eines, das den Signifikanten und Medien unterworfen ist, sich auf der Szenographie als einem „anderen Schauplatz“ (Freud) als Unterworfenes zeigt. Da sich ein solcher Schauplatz gleichsam theatraler Repräsentation verweigert, liegt es nahe, ihn mit davon abweichenden Theaterformen in Verbindung zu bringen. Neben den wegweisenden Arbeiten von Artaud wird Szenographie bei Barthes in

Physik Newtons, heute im Sinne von Einsteins Relativitätstheorie bedacht, in der die Zeit als vierte Dimension des Raumes verstehbar wird. 26 „Qu’est-ce que la signifiance? C’est le sens en ce qu’il est produit sensuellement.“ Roland Barthes: Le plaisir du texte, Oeuvres complètes, Tome 2 1966-1973, S. 1495-1529, hier S. 1526. 27 Vgl. zur genauen Reflexion dieser offenen Definition von Barthes, Meyer in Fischer-Lichte/Pflug: Inszenierung von Authentizität, Theatralität Bd. 1, a.a.O., S. 76-80. Vgl. zu einer korrespondierenden Begriffsbestimmung am Leitfaden von Roland Barthes auch: Neumann et al. 2000. 28 Dieses Verständnis von ‚Theatralität‘ als einer grundlegenden energeia medialer Prozesse unterscheidet sich somit deutlich von Theatralitäts-Begriffen, die eher Substantielles des Theaters damit zu bezeichnen suchen. 29 R. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, a.a.O., S. 10. 30 Jacques Lacans Theorie, in der die Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure, die Poetologie von Roman Jakobson und die Psychoanalyse von Sigmund Freud in eigenwilliger Weise auf neuen psychoanalytischen Denkwegen verbunden werden, hat ebenso deutliche Spuren im Denken von Roland Barthes hinterlassen wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Julia Kristeva, die er namentlich verbunden mit den ihn beeinflussenden Diskursen nennt. Vgl. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 10.

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Auseinandersetzung mit Brecht, Beckett oder Adamov einerseits und dem japanischen Nô-Theater oder dem Bunraku andererseits, also mit einer Überwindung des bürgerlichen Theaters, der Überschreitung bisheriger Grenzen und Rahmungen verbunden. Das japanische Puppenspiel Bunraku, das japanischen Theaterdarstellern als ideale Schulung dient, so dass sie es häufig aufsuchen, wird dabei als Gegenmodell zum westlichen Schauspielertheater exponiert. Nach Barthes liegt die Besonderheit des Bunraku in seiner Zergliederung in „drei Schriften“.31 Einerseits ostentatives Theater des Zeigens und zur Kenntlichkeit verfremdetes Vor-Zeigen der Zeichen im Brechtschen oder fernöstlichen Sinne, andererseits Schauplatz des Unbewussten, entfaltet sich die Szene bei Barthes aus der Schrift. Was im deutschen Sprachraum überraschen mag, erscheint im französischen verständlicher. Der französische Theaterwissenschaftler Patrice Pavis bezeichnet ‚Szenographie‘ entsprechend als „une écriture dans l’espace“32 und kann sich damit auf einen sehr viel weiteren Begriff der écriture 33 stützen. Szenographie läßt sich in diesem Sinne auch in Korrespondenz zu Jacques Derrida als Verräumlichung der Schrift – graphe – verstehen und ist als solche mit einer Inszenierung verbunden, der in der Literatur oder in der Photographie ebenso nachgegangen werden kann wie in einer Ausstellung oder Theateraufführung. Theatergeschichtlich betrachtet ist der Begriff ‚Szenographie‘ gleichsam Ausdruck eines Wandels der Bühnenraumkonzepte und einer Erweiterung der damit verbundenen Raumvorstellung. Unter skênographia verstand man im antiken Griechenland eine Kunst der Ausschmückung des Theaters, die insbesondere mit malerischem Dekor verbunden wurde. Auch in der Renaissance ist der Begriff mit einem perspektivisch gemalten Hintergrundbild verbunden. Das moderne Verständnis von ‚Szenographie‘ als Gestaltung des Bühnenraumes überwindet nicht nur das Konzept der Dekoration („Ce n’est pas décorer la représentation, c’est illimiter le langage.“ Barthes), sondern unbegrenzt den Bereich in den dreidimensionalen Raum und die

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„Der Bunraku praktiziert also drei gesonderte Schriften, die er gleichzeitig an drei Orten des Schauspiels zu lesen gibt: die Marionette, den Spieler und den Sprecher: die ausgeführte Gebärde, die ausführende Gebärde und die stimmliche Gebärde.“ Roland Barthes: Die drei Schriften, in: Ders.: Im Reich der Zeichen, Frankfurt am Main 1981, S. 70. 32 Vgl. Patrice Pavis: Dictionaire du Théâtre, Paris 1996, S. 314. 33 Der im Unterschied zum deutschen Terminus „Schrift“ sehr viel umfassendere, weiter reichende Begriff „écriture“ ist Bestandteil einer poststrukturalistischen Differenzphilosophie in Frankreich, die Denker wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Julia Kristeva ebenso umfasst wie Roland Barthes. Écriture ist eng verbunden mit einem anderen Textverständnis (du texte), das wiederum den Wandel vom Bühnenbild zur Szenographie begleitet. Vgl. ausführlich zur écriture und dieser wichtigen philosophischen Ausrichtung in Frankreich: Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf 2001. Darin insbesondere S. 78-93.

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vierte Dimension der Zeit hinein34, ohne die Bildfläche aufzugeben.35 Verbunden mit einem ästhetischen und einem texttheoretischen Wandel wurde auch eine strikte Bindung an den Dramentext, der mit seinen Szenenangaben die Lokalität und die Zeichen des Raumes festschreibt, zunehmend aufgegeben. Einerseits wird Raum als sozio-kulturell geprägter Schauplatz, der gesellschaftliche Strukturen sichtbar macht, wichtiger, andererseits wird Raum als atmosphärischer Wirkungsbereich, als ‚Gefühlsraum‘ ausschlaggebend, in dem Klänge, Farben und Formen in plurimedialen Wechselspielen auftreten und in ihrer „signifiance“ bestechen. Dabei wird der Raumbegriff auch ins Imaginäre unbegrenzt. Nicht mehr wiedererkennbare, benennbare Orte, sondern Traumgespinste oder szenische Phantasmagorien sowie geistige Räume entstehen. Für den damit verbundenen Wechsel vom Bühnenbild zur Szenografie waren jedoch nicht nur die bereits benannten Erneuerungen einer historischen Avantgarde, sondern auch Vertreter einer Nachkriegsavantgarde wegweisend. Die Freisetzung musikalischer Zeit- und Klang-Raumkonzepte von John Cage in Verbindung mit Choreographien von Merce Cunningham, die in Kooperation mit bildenden Künstlern wie Robert Rauschenberg oder Jasper Johns ganz neue Kunstraumerfahrungen und Figur-Hintergrund-Verhältnisse ermöglichten, haben ebenso dazu beigetragen wie Experimente von Wilfried Minks und Peter Zadek in den 60er Jahren oder das Regietheater der 70er Jahre, in dem zunehmend auch Architekten wie Robert Wilson oder Bühnenbildner wie Achim Freyer als Regisseure agieren. Heute gibt es den plurimedialen Raum des Theaters eine mediale Erweiterung auf, die den Gesichtskreis oder Hörraum des Zuschauers auch umgibt. Auch eine Klanggestaltung im Raum lässt sich einbeziehen. Vergleichbar mit der DolbySurround-Technik im Kino kann auch der Zuschauer im Theater durch Platzierung von Lautsprechern im Zuschauerraum in eine akustische Szene integriert und intensiv affiziert werden. Zu solchen Szenographien kann sich der Zuschauer nicht mehr mit dem gleichen distanzierten Blick verhalten, den er zum Tafelbild wie zur Guckkastenbühne gerne einnahm. Wie im Leben auch befindet er sich zunehmend ‚in-mitten‘ des Geschehens. Dieses In-mitten-Sein ist nicht mit bewährten Vorstellungen von einem Gegenstand in einem Container oder einer Schachtel zu verwechseln und lässt sich erneut mit Maurice Merleau-Ponty bedenken. Nach Merleau-Ponty ist das In-mit34 In den einschlägigen, theaterwissenschaftlichen Lexika wird entsprechend zwischen Bühnenbild und Szenographie unterschieden: „Wenn das Bühnenbild im zweidimensionalen Raum angesiedelt ist, der durch die bemalte Leinwand dargestellt wird, ist die Szenographie eine Kunst im dreidimensionalen Raum.“ Manfred Brauneck/Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 901ff. 35 Für Szenographen wie Achim Freyer oder Robert Wilson ist die Fläche in neuer Funktion im Wechselspiel mit dem Raum konstitutiv.

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ten-Sein eine grundlegende Verfassung menschlicher Existenz, durch die er seine Wirklichkeit immer schon durchwirkt.36 Zudem ist eine Ebene des Dazwischenwahrgenommenen zu berücksichtigen. Durch den zunehmenden Einsatz avancierter Medientechnik und die steigende Tendenz von Theatermachern, über die Medialität der Zeichen und nicht über die referentielle Bedeutungszuweisung Wirklichkeitsbezug herzustellen, hat sich der Theaterraum als Kunstraum noch in anderer Hinsicht verändert. Im psychologisch realistischen Theater wurde und wird der Theaterraum gerne territorial bestimmt und durch codierte Zeichen des Raumes als identifizierbare Lokalität oder Materialisierung gesellschaftlicher Verhältnisse inszeniert. Der multiple Hör- und Sehräume in Form von medialen Inszenierungsebenen umfassende Kunstraum im Gegenwartstheater erweist sich dagegen als differenzieller, relationaler Zeit-Raum mit wechselnden Raum-Zeiten. Die Wahrnehmung des Publikums ist insofern mit Mischgebilden, mit hybriden Räumen konfrontiert, die immer auch Ebenen des Dazwischenwahrgenommenen freisetzen, die eine relationale Verortung im Wahrnehmungsprozess dynamisieren. Für die raumbezogene theoretische Ausrichtung sind drei Interessen maßgeblich: eine konstitutive Funktion der menschlichen Wahrnehmung einzubedenken, eine Einbindung des Raumes in existentielle Fragen zu ermöglichen und eine differenzierte Betrachtung von Raumzonen, zu der nicht nur mediale Inszenierungsebenen, sondern auch virtuelle Räume des Traumes und der Imagination gehören, zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang ist eine Ebene des Dazwischenwahrgenommenen zu berücksichtigen. Zugleich ist Kompatibilität mit dem markierten Theatralitätsverständnis nötig. Diese Bedürfnisse vermag der phänomenologische Raumbegriff in der Philosophie des Leibes von Maurice Merleau-Ponty zu erfüllen.

Der Raum als Phänomen des „In-mitten-Seins“

„Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.“37

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In diesem Zusammenhang ließe sich auch der „Taumel der Immanenz“ bei Gilles Deleuze thematisieren. 37 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 239. „Le corps propre est dans le monde comme le coeur dans l’organisme: il maintient continuellement en vie le spectacle visible, il l’anime et le nourrit intérieurement, il forme avec lui un système.“ Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 235.

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Es ist bezeichnend, dass Merleau-Ponty in den ersten Sätzen eines grundlegenden Kapitels mit dem Titel: „Die Theorie des Leibes als Grundlegung einer Theorie der Wahrnehmung“ erneut auf eine Theater-Metapher zurückgreift. In seiner phänomenologisch ausgerichteten Philosophie meint das „être au monde“, das Sein-zurWelt, eine von Beginn an durch den Leib bestehende Verankerung in der Welt und Verbundenheit mit anderen Menschen.38 Diese leibliche Verbundenheit zeigt sich insbesondere in der Geste, einer Grundlagenkategorie des Theaters als Körperkunst und des Theatralitätskonzeptes von Roland Barthes gleichermaßen. Bei MerleauPonty wird der Leib nicht als substantielle oder materielle Körperlichkeit verstanden, sondern als ein sich ständig wandelndes Medium, das zwischen Mensch und Welt in einem dynamischen Prozess vermittelt, der präreflexiv erfolgt und dem Menschen somit nicht bewusst ist. Ein uns objekthaft und vergänglich gegebener Körper ist vom niemals gegenständlichen Leib zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Ist der Körper durch das Leibliche existenziell mit der Welt verbunden, so kann das Leibliche nur über den Körper auf die Welt zugreifen. Nach Maurice Merleau-Ponty ist der Leib als Körper im Raum, der sich dem Koordinatensystem derart einfügt, dass er dem Menschen Gewissheit darüber geben mag, wo er gerade steht (Körperschema), andererseits ist sein Verhältnis zum Raum ein inneres, so dass Merleau-Ponty sagt: „Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein.“39 Indem er dem Raum einwohnt, konstituiert er erst Raum. Durch sein leibliches Zur-Welt-Sein in Auseineinandersetzung des Menschen mit anderen Menschen und seinen Lebensbedingungen, mit der eigenen Existenz, stiftet er eine spezifische Räumlichkeit. Raum lässt sich hier als Wahrnehmungsmilieu verstehen, so dass wir es nicht mehr mit einem sichtbaren Raum zu tun haben, der bloß Gegenstand distanzierter Beobachtung ist.40 Der französische Begriff „milieu“ weist den Raum als Phänomen des „In-mitten-Seins“ aus.41 Der Mensch ist im Raum dadurch auch inmitten des 38 Vgl.

ebd., S. 198. Ebd., S. 169. 40 „Das Sichtbare kann mich nur deshalb erfüllen und besetzen, weil ich als derjenige, der es sieht, es nicht aus der Tiefe des Nichts heraus sehe, sondern aus der Mitte seiner selbst, denn als Sehender bin ich ebenfalls sichtbar; das Gewicht, die Dichte, das Fleisch jeder Farbe, jedes Tones, jedes tastbaren Gewebes, der Gegenwart und der Welt kommt dadurch zustande, dass derjenige, der sie erfaßt, sich wie durch eine Art Einrollung oder Verdopplung aus ihnen auftauchen fühlt, von Grund auf gleicher Art wie sie, dass er das zu sich selbst kommende Sinnliche ist und dass das Sinnliche hinwiederum vor seinen Augen liegt wie eine Doublette oder eine Erweiterung seines Fleisches.“ Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 152. 41 „In-mitten-Sein“ erweist sich als treffliche Übersetzung, die vor „Umwelt“ zu bevorzugen ist. Bernhard Waldenfels hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass Merleau-Ponty für „Umwelt“ den Begriff „universale milieu“ benutzt Vgl. Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1994 (1985), S. 61.. 39

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Sichtbaren und des Unsichtbaren. Das Sichtbare sieht der Mensch aus der Mitte seiner selbst als Sehender heraus, der selber sichtbar ist.

Das Sichtbare und das Unsichtbare

Im Sehen wirken Sichtbares und Unsichtbares, Anwesenheit und Abwesenheit zusammen. Das Sichtbare hat seinen Horizont dort, wo gleichsam Unsichtbares entsteht. Dieser Horizont kann nach Merleau-Ponty als ein nicht gegebener Bereich verstanden werden, an dem sich durch die Abtrennung des Anderen etwas zeigt. Phänomenologisch ist somit Präsenz nie ohne Absenz, Sichtbares nicht ohne Unsichtbares, Sich-Zeigendes nicht ohne Sich-Verbergendes zu denken.42 Ontologisch bezieht sich die Wahrnehmungslücke auf den Leib des Anderen, der im Feld des Sichtbaren interveniert. Der Leib ist Position und Disposition, von der aus jeder Mensch ins Verhältnis zur Welt und zum Anderen tritt. Für MerleauPonty liegen Rätsel und Schöpfungskraft des Leibes in seiner doppelten Verfasstheit als sehend und sichtbar (voyant-visible), als empfindene und empfundener (sentantsenti), berührender und berührter (touchant-touché). Da der „Leib, der Sinne hat, auch ein Leib ist, der begehrt“43, implizieren die Überlegungen von Merleau-Ponty auch eine spezifische Einschätzung der Beziehung des Menschen zum Anderen. Die Welt ist nach Merleau-Ponty der Raum, an dem das eigene Erleben und Sehen und das des Anderen zusammenkommen.44 Es ist notwendig und hinreichend, dass der Leib des Anderen, den ich sehe, und sein Sprechen, das ich höre, das also, was mir in meinem Gesichtsfeld als unmittelbar gegenwärtig entgegentritt, mir auf seine Weise all das gegenwärtigt, was ich mir niemals gegenwärtigen werde, was mir immer unsichtbar bleiben wird, dessen direkter Zeuge ich niemals sein kann – eine Abwesenheit also, jedoch nicht irgendeine, sondern eine gewisse Abwesenheit, eine gewisse Differenz im Verhältnis zu den Dimensionen, die uns allen von vornherein gemeinsam sind, die den Anderen dazu prädestinieren,/ mein Spiegel zu sein so wie ich es für ihn bin, […].45

Da die „Lücke der Wahrnehmung“ bei Merleau-Ponty mit dem Blick des Anderen auf die Dinge und auf das eigene Ich verbunden wird, ist eine Korrespondenz

42

Phänomenologisch macht Merleau-Ponty diese Gegebenheit des Unsichtbaren mit dem Sichtbaren am berühmten Würfelbeispiel deutlich. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 2003, S. 29ff. 43 „Le corps qui a des sens est aussi un corps qui désire […]“ Maurice Merleau-Ponty, Résumés de cours. Collège de France 1952-1960, C. Lefort (Hg.), Paris 1968, S. 178. 44 Vgl. M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 26. 45 Ebd., S. 114f.

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zur psychoanalytischen Ausrichtung Jacques Lacans deutlich. Neben dem fruchtbaren und sich gegenseitig bestärkenden Austausch dieser beiden Denker sind Unterschiede unverkennbar. Auch diese sind theoretisch fruchtbar. Während Lacan eher eine Verlust- und Mangeltheorie verfolgt, zeigt sich bei Merleau-Ponty die Fülle möglicher Begegnungen und der Reichtum der Empfindungen, die eine lebendige Kommunikation ausmachen. Die sich unterscheidenden Denkweisen MerleauPontys und Lacans schließen einander nicht aus. Vielmehr erhellen sie jeweils andere Aspekte. Lacan, der am „Spiegel als Bildner der Ichfunktion“ eine konstitutive, antizipatorische Verankerung des Blicks des Anderen in das Selbstbild aufzeigte, macht das verkennende Moment dieser Identitätskonstitution bewusst. In der Lust der Selbst-Findung ist ein Verlust einbedacht, Selbst-Erkennung von Verkennung gezeichnet. Am Leitfaden der späteren Schriften Merleau-Pontys lässt sich dagegen ein „wechselseitiges Eingelassensein“ und „Verflochtensein“ von Leib und Welt, eine Untrennbarkeit von „empfundenem Leib“ und „sinnlichem Ganzen, dessen Teil er ist“, wie er „in der Welt“46 ist, denken. Dieser Verbundenheit mit der Welt und dem Anderen, dieser Grundverfasstheit des sehend Sichtbaren, berührend Berührten ist der Spiegel nachgeordnet. Die Differenz ist hier genauso entscheidend wie die Gemeinsamkeit einer leiblichen Verankerung in der Welt, von der in je spezifischer Unterschiedlichkeit jede Geste mit Rücksicht auf existentielle Bedingungen kündet. Gemeinsam in der Sphäre einer Welt verankert, hat doch jeder seine spezifische Empfindung, Sicht und Klarheit. Diese spezifischen Empfindungen und Sichtweisen wirken aufeinander. Sehen wird von Merleau-Ponty insofern nicht als subjektive Tätigkeit verstanden, sondern vollzieht sich prozesshaft im Bereich der Intersubjektivität. Hier vollzieht sich ein Blickgeschehen, das den Sehenden und Gesehenes, Sichtbares und Unsichtbares, Eigenes und Fremdes einander überkreuzend als Chiasmus zusammenwirken lässt. Dieses Zusammenwirken generiert ein infinites Spiel von Differenzen, das in keiner völligen Koinzidenz aufgeht.47 In seinen späten Überlegungen zu einer „Ontologie des Sehens“ ist es bei Merleau-Ponty der Andere, ein anderer Körper, der sich in seiner spezifischen Weise vom Leibe aus zur Welt verhält und sich in den Chiasmus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einbringt. Dieser Chiasmus ist untrennbar mit der Überkreuzung zwischen dem Sehenden, Tastenden und der Welt verbunden, die Merleau-Ponty synästhetisch denkt. Der Andere ist das Unsichtbare, das als begehrte Störung konstitutiv im Sichtbaren, als notwendig Fremdes im Eigenen insistiert.

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Ebd., S. 182. eine Nähe zum Konzept der différance bei Jacques Derrida sei lediglich hingewiesen.

47 Auf

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Merleau-Pontys deutlich mit der Frage nach der Existenz und dem Verhältnis von Ich und dem Anderen verbundene Philosophie des Raumes ist Bestandteil seiner Philosophie des Leibes und untrennbar von seinem Konzept des „Fleisches“: „chair“. Darüber, was darunter zu verstehen ist, herrscht keinesfalls Einigkeit, da die dazu getroffenen Ausführungen es dem Leser leichter machen, zu sagen, was er darunter nicht verstanden wissen will: es ist nicht Geist noch Substanz, sondern untrennbar mit der Überkreuzung zwischen dem Sehenden, Tastenden und der Welt verbunden, mit einem Chiasmus, einer Kreuzung von Innen und Außen, wenn der Mensch jemanden berührend gleichsam Berührter ist. „Chair“ ist somit das Erfahrungsfeld des Menschen, in dem dieser in seiner Empfindungsfähigkeit und Sinnlichkeit immer schon eingegangen ist und zeitweise aufgeht.48

In-mitten des medialen Erfahrungsfeldes

Während sich die Philosophie Merleau-Pontys für den Bereich der Ko-Präsenz des menschlichen Miteinanders sofort aufdrängt, erscheint ihre Relevanz für mediale Erfahrungsfelder erst auf den zweiten Blick. Schon in seiner Auseinandersetzung mit der Malerei von Paul Cézanne markiert er einen Chiasmus, der sich auf der Bildoberfläche ereignet, die zwischen Objekt und Subjekt derart vermittelt, dass sie weniger etwas, ein Objekt abbildet, als eine Sichtweise, die Art, wie ein Subjekt etwas gesehen hat, zur Erscheinung bringt. Sichtbarer Inhalt und Anschauungsform fallen zusammen. Während im Zuge des „pictorial turn“ die Relevanz der Philosophie Merleau-Pontys für neuere Bildtheorien betont wurde49, hat Gilles Deleuze

48

Vgl. M. Merleau-Ponty: Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956-1960, hrsg. von Dominique Séglard, aus dem Französischen von Mira Köller, München 2000, S. 47. Stephan Günzel machte berechtigt darauf aufmerksam, dass man „chair“, Fleisch in der Merleau-Ponty-Rezeption erst sehr viel später in einer „umfassenderen Bedeutung von Raum und Umwelt bzw. Erde im Sinne der Platonischen chôra, d.h. dem Raum an sich vor jeder Ausdifferenzierung, der selbst differenzierend wirkt“, verstehen kann. Vgl. Stephan Günzel: Zur Rezeption von Merleau-Pontys Raumbegriff in Ästhetik, Film, Gender- und Wahrnehmungstheorie, Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse sowie Kultur-, Medien-, Politik- und Sozialwissenschaften. Ein Literaturbericht, in: Phänomenologische Forschungen, hrsg. von Ernst Wolfgang Orth und Karl-Heinz Lembeck: Hamburg 2004, S. 253-316, hier S. 256. Jacques Derrida sieht im platonischen Begriff der „chôra“ eine grundlegende Raumkonzeption: „Chôra ‚heißt‘: von jemandem eingenommener Platz, Land, bewohnter Ort, verzeichneter Platz, Rang, Posten, zugewiesene Position, Territorium oder Region. Und in der Tat wird chôra stets bereits eingenommen, besetzt/belehnt/ausgestattet sein, sogar als allgemeiner Ort und obgleich sie sich von allem unterscheidet, was Platz nimmt in ihr.“ Jacques Derrida: Chôra, Wien 1990, S. 42. Dieser ortlose Ort gibt allem seinen Ort, ohne sich auf einen Ort festzulegen. Derart erweist sich chôra als ebenso eigentümlich unbestimmbar bestimmend wie chair. 49 Vgl. Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994.

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eine Brauchbarkeit der Reflexionen von Merleau-Ponty für den Film bezweifelt. Stephan Günzel erinnert dagegen berechtigt daran, dass die von Gilles Deleuze grundgelegte Kinotheorie filmischen Denkens und filmischen Träumens im Ansatz schon bei Merleau-Ponty bedacht wird. „Der Film, zur Aufnahme sich bewegender Gegenstände oder zur Bewegungsdarstellung (représentation du mouvement) erfunden, hat zur Entdeckung weit mehr als der bloßen Ortsveränderung geführt, nämlich zur Entdeckung einer neuartigen Handhabe der Gedankensymbolisierung und der Vorstellungsbewegung (mouvement du représentation).“50 Unterschiedlich medial verfasste Denk- und Vorstellungsräume werden bei Merleau-Ponty insofern durchaus einbedacht. Medienspezifische Strategien zur Erzeugung eines In-mitten-Seins oder medial variierende Konstruktionen von Körpern im Raum bei gleichzeitiger Verflechtung zwischen Medium (z.B. Radio, Film oder Video) und Rezipient (Hörer und Betrachter) lassen sich phänomenologisch von Merleau-Ponty her verstehen.51 Zu den zwei konkreten Beispielen, auf die ich nun eingehen werde, werden die bisherigen, theoretischen Vorüberlegungen einen Verständnisweg bahnen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Szenografien und Choreographien52, die eine den Raum unbegrenzende intermediale Praxis mit Tanz verbinden, aber deutlich verschiedenartige Wege suchen. ‚Graphein‘ (griech. schreiben) als Wortbestandteil wird in diesem Zusammenhang im übertragenen Sinne verstanden. Unter Choreographie verstehe ich insofern die künstlerische Formung der Tanzfiguren, Bewegungen und Schritte, die zusammen mit hinzukommenden audio-visuellen Inszenierungsebenen in einem intermedialen Wechselspiel eine Szenografie ergeben. Hinsichtlich der gedanklichen Unternehmung, Theatralität, Intermedialität und erweiterten Raum

50

Maurice Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Schrift für die Kandidatur am Collège de France. Lob der Philosophie, hg. von Carl Friedrich Graumann, Bd. 9, Berlin/New York 1973, S. 57, zit. nach Stephan Günzel, Maurice Merleau-Ponty, Wien 2007, S. 152. 51 Im Bereich Film hat bereits Vivian Sobchack überzeugend diesen phänomenologischen Verstehensweg eingeschlagen. Vgl. z.B. Vivian Carol Sobchack, The Adress of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton University Press 1992. Bezogen auf einen medienübergreifend anwendbaren, medientheoretisch fundierten Begriff des Raumes hat Christoph Tholen im Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty und Jacques Lacan eine Theorie der „prekären Zwischenräume“ eingebracht, die auch hinsichtlich der wichtigen Ebene des Dazwischenwahrgenommenen erhellend ist. Vgl. Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien, Frankfurt am Main 2002. 52 Der Wortanteil des Schreibens, gr. graphein, in Choreographie wird heute als künstlerische Gestaltung der Tanzfiguren und Festlegung von Bewegungen und Schritten und somit erst in der tänzerischen Ausformung realisiert. In früherer Bedeutung war damit eine andere Form der Verschriftlichung verbunden, eine „graphische Darstellung von Tanz-Bewegungen und -haltungen“, eine Notation, die vorschreibenden Charakter hatte. Diese Vorschrift ist für den Tänzer bindend. So war Choreographie regelnde und regulierende Zurichtung des tanzenden Körpers, heute eher Freiraum für Umschriften von Vorschriften.

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zu verbinden, bietet sich der Gegenwartstanz als spezifische künstlerische Theaterpraxis besonders an. Im zeitgenössischen Tanz, der im Rückgriff auf avancierte Medientechnik allen anderen Künsten davongelaufen ist, wird Intermedialität dazu genutzt, das Potential des Theaters, Raumkunst zu sein, zu erweitern. Seit den ersten Experimenten mit Video-Choreographie entstehen vielfältige Formen eines Zusammenspiels zwischen der physischen Materialität des Tänzerkörpers und seinen medialen Projektionen und Transformationen, zwischen realen und virtuellen Räumen, so dass sich die Bühnenexistenz der Tänzer und der Räume verdoppelt hat. Unterschiedliche Medien sind an der Formung einer Choreographie beteiligt, die nun sowohl von tanzwissenschaftlichem als auch von medienwissenschaftlichem Interesse sind. Mein Interesse ist vorrangig ein medienwissenschaftliches, so dass Bewegungsphrasierungen weitgehend vernachlässigt werden und einer gesonderten Analyse bedürften.

„ICH². Tanz intermedial für Planetarien“

Die Choreographie ICH². Tanz intermedial für Planetarien53, eine Kooperation zwischen Muthesius Kunsthochschule, Ballett Kiel (Mario Schröder) und Mediendom der FH Kiel (Eduard Thomas) kann als work in progress verstanden werden, das bei Abschluss des Projektes zwar in eine Aufführung mündete, sich aber keineswegs als fertiges Werk verstand. An diesem Projekt waren maßgeblich zahlreiche Studierende sowie Mitarbeiter und neben Tom Duscher als Professor für Digitale Medien/ Intermedia an der Muthesius Kunsthochschule auch ich beteiligt, um dem technischen und choreographischen Experiment eine kulturphilosophische Inhaltsebene und Erzählstrategie hinzuzufügen. Im Unterschied zu anderen Kunsthochschulen, an denen Theorieseminare parallel zu und häufig allzu separat von praktischen Seminaren verlaufen, sucht die Muthesius Kunsthochschule, eine gesteigerte Vernetzung beider Bereiche und konkrete Zusammenarbeiten in Projekten zu realisieren. Der andere Raum eines Planetariums, der sich bot, war somit auch als Raum eines bewussten und unbewussten Denkens, Träumens, Empfindens auszuloten. Entsprechend wurde das räumliche Potential zum Wechselspiel zweier theatraler Raumkonzepte genutzt: des distanzierten Blickes und des ‚In-mitten-Seins‘. Die halbkugelförmige Kuppel eines Planetariums wird gewöhnlich als Projektionsraum zur Sichtbarmachung von Erscheinungen am Sternenhimmel oder zu diversen Wissenschaftsshows genutzt. In ICH² wird der ‚Mediendom‘, ein runder, 53 Die Welturaufführung fand am 6. Juli 2006 im Mediendom Kiel statt. Die Videodokumentation,

aus der die Abb. 1 bis 9 stammen, ist erstellt von Tom Duscher und Michael Magens. Sie kann bei der Muthesius Kunsthochschule Kiel angefordert werden.

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bestuhlter Raum mit einer 360 Grad-Bewegtbild-Darstellung, zum außergewöhnlichen Theater, in dem der Zuschauer eine doppelte Rezeptionssituation erfährt. In einer halbliegenden Sitzhaltung wird der Zuschauer zu einem Wechsel der Blickrichtungen und Erfahrungszonen gebracht. Die Kuppelprojektion stimuliert als immersives Medium ein Eintauchen in ein anderes räumliches Milieu. Immersion, abgeleitet von lat. ‚immersio‘, ist hier nicht nur in seiner neuesten Bedeutung des Eintauchens in technisch erzeugte, virtuelle Welten, sondern auch im ältesten Sinne des ursprünglich damit verbundenen Eintauchens in ein Taufbecken54 zu verstehen. Eine eingebaute Bühne erlaubt sowohl einen distanzierten Blick aus allerdings intimer Nähe auf die Tänzerinnen (Tina Slabon und Isis Calil De Albuquerque, Ballett Kiel) als auch eine Übergängigkeit zwischen der jeweiligen Tänzerin und ihrem digitalen Double, also zwischen Körpern in unterschiedlichen medialen Räumen.

Abb. 1 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Um verschiedene mediale Wahrnehmungszonen zu verbinden, wurde eine Bühnenebene zwischen Boden und Kuppel installiert (Abb. 1). Manuel Klauser und Jan Reiss, Architekturstudenten an der Muthesius Kunsthochschule, haben ein Bühnenobjekt gebaut, das sie dem Möbiusband nachempfunden haben. Es fungiert als Raumfigur, die ein Innen und ein Außen in eine unentscheidbare Beziehung bringt,

54 Sich geistig in ein Buch zu versenken, wird in der Literaturwissenschaft mit Immersion verbunden.

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da beim Möbiusband der Übergang zwischen beiden kontinuierlich und unmerklich ohne Schnitt verläuft. Gleichsam Zwischenebene im szenographischen Raum, ist das Bühnenobjekt auch Übergangsbereich von aktuell zu virtuell und Grenz- und Unbegrenzungszone der Differenz und der Berührung. Was in der Form nur angedeutet bleibt, wird inhaltlich an spezieller Thematik ausgeführt. Dabei ist auch der Bezug zu Jacques Lacans psychoanalytischer „Topologie des gespaltenen Subjektes“, die er mit dem Möbiusband verbindet, gegeben: „Ich sage irgendwo, dass das Unbewußte der Diskurs des Andern sei. Dieser Diskurs des Andern aber, den es zu realisieren gilt, der Diskurs des Unbewußten, […] er ist draußen.“55 Ganz im Sinne Lacans suchen die Tänzer im szenografischen Raum zwischen Realem, Symbolischem und Imaginärem zu vermitteln.56 Dabei orientieren sie sich an verschiedenen Mediationen ihres Körpers, denn draußen, in der Szenografie von ICH², fungiert rechnergestützte Bild- und Klanggenerierung im Wechselspiel von realem und virtuellem Raum als avancierte Verdopplungstechnologie, mit der sich eine existenzielle Problematik des Menschen unter neuen Voraussetzungen reflektieren lässt. Die Ich-Konstitution, die nach Lacan durch die In-Beziehung-Setzung eines Körpers zu seinen virtuellen Spiegelbildern erfolgt – die „Topik des Imaginären“ steht bei Lacan in direkter Wechselwirkung mit dem Spiegel-Stadium/Stadion –, erhält eine zusätzliche kulturgeschichtliche Reflexion. Grundlegend für die inhaltliche Ausrichtung von ICH² ist der andere Umgang mit dem aktuellen Thema der Gentechnologie.57 Die technisch avancierteste und neueste Verfahrenstechnik zur künstlichen Erschaffung eines Menschen, des sogenannten Klons, wird als Fortsetzung einer ebenso alten wie genuinen Problematik des Menschen unter neuen biotechnischen Voraussetzungen kenntlich. Gemeint ist die basale identitätskonstitutive Auseinandersetzung des Menschen mit seinem ‚zweiten Ich‘, seiner Verdopplung, seinem Doppelgänger oder Alter Ego in einem neuen Raum der Verführung, in dem die Monstrosität des eigenen Bildes intensiv spürbar wird. Das Stück beginnt mit der Eröffnung zweier Räume am Ort des Planetariums im Sinne von Michel Certeau als zwei Geflechte von beweglichen Elementen58, die sich durch die Bewegungen, die in ihnen erfolgen, erst performativ entfalten. 55

Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978, S. 137. Vgl. hierzu auch: Jacques Lacan: Die Topik des Imaginären, in: Ders.: Freuds technische Schriften. Das Seminar 1, Weinheim/Berlin 1986, S. 97-116. 57 An der Konzept- und Skriptentwicklung haben verschiedene Studierende teilgenommen: Alexander Brauch, Kenan Darwisch, Jens Ewald, Cornelia Fränz, Frauke Frech, Johannes Helberger, Manuel Klauser, Michael Magens, Patrick Müller, Hanna Muck, Andreas Meyen, Matthias Ott, Jan Reiss, Timo Schumacher, Martin Sperling. 58 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. 56

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Abb. 2 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Abb. 3 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Der architektonisch definierte Ort des Planetariums wird zum ‚Ort, mit dem man etwas macht‘. Dieses Machen erfolgt in zweifacher Weise, choreographisch durch die Bewegung der Tänzer und szenographisch durch eine plurimediale, audio-visuelle Inszenierung, die gleichermaßen permanente Transformationen ermöglichen.

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Mit Blick auf die konkrete Szene stellt sich das folgendermaßen dar. Ein in der Kuppel erscheinendes Bild59 einer schlafenden, träumenden Frau wird im Weiteren mit dem getanzten Traum durch die Tänzerin auf der Bühne kombiniert. (Abb. 2 u. 3) In der Eingangssequenz wird der Traum, das allnächtliche Theater auf der Bühne des Körpers, evoziert. Schon Erwin Rohde wusste: „Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche.“60 Erfahrbar wird dieses Doppelleben im Traum61, der zu Beginn den weiteren Verlauf in der Schwebe zwischen Traum und Wachbewusstsein lässt. Dabei werden allzu naheliegende Zuweisungen vermieden. Eine Traumszene wird nicht notwendig aufgrund der vielfach thematisierten Verwandtschaft zum Bewegtbildmedium Film auf der Projektionsleinwand lokalisiert. Vielmehr wird der Imaginationsraum der Projektionen als nicht weniger real und nicht mehr fiktiv als der TheaterTraumTanz auf der Bühne vermittelt. Auch auf der Bühne ist der Auftritt einer zweiten Tänzerin als Alter Ego denkbar. Nach Freud ist der Traum „absolut egoistisch, und die Person, die in seinen Szenen die Hauptrolle spiele, sei immer als die eigene“62 anzuerkennen. Dieses schöpferische Spiel mit der Verdopplung wird im weiteren Verlauf intermedial variiert. Eine andere Bild-Matrix des Schattens, der mit dem „Anderen des Selben“ und nicht mit „dem Selben als Kopie“63 konfrontiert, wird dabei ebenfalls berücksichtigt. Der Schatten als die Verdopplung, auf die man auch am Tage trifft, vermag in

59 Die Bildgestaltungen der Kuppelprojektionen, das Visual Design sowie die Programmierung und

Realisation wurden von Studierenden und Lehrenden der Muthesius Kunsthochschule vorgenommen: Alexander Brauch, Christian Engler, Jens Ewald, Michael Magens, Patrick Müller, Andreas Meyen und Timo Schumacher. 60 Erwin Rohde: Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Tübingen 1925, S. 5f. Die Annahme von einem „Doppelleben im Menschen“, die bis zu den Uranfängen der Menschheit zurückreicht und interkulturell von der „psyche“ im antiken Griechenland über den „genius“ der Römer, die „Fravaschi“ der Perser bis zum „Ka“ der Ägypter zu verfolgen ist, verbindet Erwin Rohde in seiner immer noch gültigen Studie „Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen“ mit der Erfahrung des Träumens. 61 „Nicht aus den Erscheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und Denkens im wachen und bewußten Menschen, sondern aus den Erfahrungen eines scheinbaren Doppellebens im Traum, in der Ohnmacht und Ekstase ist der Schluß auf das Dasein eines zwiefachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines selbständig ablösbaren ‚Zweiten Ich‘ in dem Innern des täglich sichtbaren Ich gewonnen worden.“ Ebd., S. 6. 62 Sigmund Freud: Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre, in: Ders. G.W., Bd. X, S. 413. 63 Vgl. zu dieser wichtigen Unterscheidung, die mit einer Gegenüberstellung eines Bild-Verständnisses bei Plinius und bei Platon verbunden ist: Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 27. Vgl. auch Petra Maria Meyer: Der Schatten als andere Bild-Matrix. „Light

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seiner flüchtigen Gestalt zudem die eigene Vergänglichkeit zu markieren. Als Vorläufer der materiellen Verdopplungen unter den Imitationen dient er nicht selten den Verfahren magischer Praktiken. Die Wirksamkeit des Doppels ist konstituierend und zerstörerisch. Mythen und Märchen berichten darüber, dass ein Doppel nicht lediglich verdoppelte Präsenz ist, sondern sich an seine Stelle stellt, sie vertritt. Eingestimmt durch die Musik von Henryk Mikolay Goreckis Arvo Pärt wird das Thema verbunden mit der Ambivalenz von Weiße und Schwärze, Licht und Schatten, Ruhe und aufgewühlter Bewegung im Tanz der beiden Protagonistinnen. Zwischen Lust und Angst, dem Wunsch und der Befürchtung wird der Schatten zum Akteur, der mediengeschichtlich filmische Verdopplungen vorwegnimmt, die im expressionistischen Film den Schatten als dämonische andere Seite des Selbst wiederkehren lassen.64 Der Wunsch, sich zu wiederholen, sich zu verdoppeln, zu repräsentieren, ist identitätskonstitutiv. Er zeugt gleichsam von einem Ungenügen des Menschen an sich selbst, von einer Abwesenheit, die seine Anwesenheit unerfüllt sein lässt.

Abb. 4 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Composition“ von Nan Hoover, in: Dies. (Hg.), Performance im medialen Wandel, München 2006, S. 299-313. 64 Den verkauften und verselbständigten Schatten in Märchen oder romantischer Prosa folgen die Schatten im expressionistischen Film, die sich wieder an der Traum-Logik orientieren. Im filmischen Außen zeigt sich das Innere, der Schatten indiziert hier den Seelenzustand häufig als das dämonische Andere des Selben.

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Die damit verbundene Notwendigkeit, sich seiner selbst zu vergewissern, verleiht dem Medium Spiegel identitätskonstitutive Funktion. Anders als der Traum bestätigt der Spiegel die Anwesenheit dessen, der gespiegelt wird. Zudem vermag er sein Abbild getreu wiederzugeben. Lediglich die seitenverkehrte Abbildung bezeugt das Medium, das hier interveniert. Seine Identitätsbestätigung ist jedoch nur vorübergehend. Der Spiegel hält nichts fest. So bedarf es der ständigen Wiederholung von Spiegelung und Selbstvergewisserung, der Erinnerung an sich selbst, die vornehmlich auch über das Medium Fotografie, diesem ‚Gefrierspiegel‘, der die Seitenverkehrtheit des Spiegels in positiver Erscheinung des Negativs begradigt, verläuft. Auch diese Suche wird szenographisch und choreographisch im Wechselspiel verschiedener Bewegungsräume versinnlicht. (Abb. 4) Der Tänzerkörper, der für den Zuschauer mit zahlreichen Selbstberührungen im Raum agiert, wohnt dem Imaginationsraum seiner städtischen Umgebung gleichsam ein, so wird im intermedialen Wechselspiel eine spezifische Räumlichkeit als Mischgebilde aus körperlicher Präsenz im Tanzraum und filmischer Anwesenheit der Abwesenheit konstituiert. Der daran via Wahrnehmung beteiligte Zuschauer wechselt mit der Blickrichtung auch das mediale Wahrnehmungsmilieu, das ihm im filmischen Raum mit Kamerafahrten einen Stadtrundgang beschert, der diskontinuierlich, abrupt abbrechend, rückspulend und wiederholend visuell und auditiv vielschichtig verläuft. Auf der akustischen Inszenierungsebene wird das Wahrnehmungsmilieu durch eine Geräusch-Klang-Collage von Sven Lütgen, künstlerischwissenschaftlicher Mitarbeiter an der Muthesius Kunsthochschule, erweitert, der Musikfragmente von Kreidler, Glenn Gould und DJ Spooky mit Alltags-O-Tönen wie Kinderlachen oder Hundegebell verband. Während der Tänzerkörper im digitalen Umraum einen erweiterten Raum gestaltwechselnder Offenheit erhält, geht er über den Zwischenbereich des Möbiusbandes immer wieder von der Weite in die Enge einer Bühnenwirklichkeit über. Die tänzerische Bewegung verläuft dabei ständig auch in Differenz zu sich selbst, der Körper zugleich oszillierend zwischen verschiedenen medialen Anwesenheiten. Im Feld des Dazwischenwahrgenommenen entsteht ein Changieren sowohl zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren als auch zwischen Gewinn und Verlust in der Wahrnehmung, was durchaus als erfahrbar gemachte mediale Selbstreflexion gewertet werden kann. (Abb. 5 u. 6) Die doppelte Funktion der Spiegelung, Projektion des Ich und Ideal des Ich zu sein, treibt den Menschen gleichsam zur permanenten, aber stets vergeblichen Anstrengung, sein perfektioniertes Alter Ego zu erreichen. ICH² liegt die Annahme zugrunde, dass die gentechnologische Erschaffung eines Ideal-Ichs als Klon diese Anstrengung auf avancierter Ebene weiterführt und konstruiert den Fall eines Doubles mit gestörter leiblicher Verankerung in der Welt. Die Stadt ist hier kein ‚sozialer Raum‘, das ‚Fleisch

DER RAUM, DER DIR EINWOHNT

Abb. 5 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Abb. 6 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

der Welt‘ ein Gerippe, das einen kalten, technizistischen Kontrapunkt bietet. Schließt man von dieser Projektion des ‚sozialen Raumes‘ auf das ‚Fleisch der Welt‘ des figurierten Klons in dieser Choreographie, so bleibt ihm der Versuch, sich über SpiegelVerkennungen zu erkennen, verwehrt. Diese Spiegelungs- und Bestätigungsfunktion kann auch der Blick eines anderen Menschen leisten. Doch auch eine Begegnung von Original und Klon, eine spezielle, neue Begegnung mit seiner Verdopplung, verläuft ambivalent, anziehend und abstoßend, schließlich ‚unheimlich‘ im Sinne Freuds.

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Zwischenzeitlich wird das immersive Wahrnehmungsmilieu der Kuppelprojektionen zum Raum des göttlichen Gens und seines Codes, in den man eintauchen kann wie ins Taufbecken einer neuen Menschheit. Damit ist jedoch der Schriftraum auch an den Körper gebunden, so dass er sich vielfältig poetisch und metatheoretisch entfalten kann. Der Schriftraum in der Kuppel wird zum Schauplatz von buchstäblichen Konstellationen und Schriftbewegungen, auch Spuren der Einschreibungen in den Körper. Für sie findet die Tänzerin Lisa May im Hörraum sprachkritische Worte, die sich zugleich als Sprachmusik mit fremdsprachigem Akzent, flüsternd gesprochen als Stimmgesten, in ein Wechselspiel mit Tanzgesten begeben. Die Art und Weise des Sprechens zwingt zur Aufmerksamkeit nicht nur für die Wortbedeutung, sondern für die Stimme, ein anderes Spurenmedium der Körperlichkeit, das hier die irreduzible Singularität der Sprecherin pars pro toto für jeden leiblich in der Welt verankerten Menschen indiziert. Während das Unbewusste nach Lacan an der Oberfläche in der Sprache aufgespürt werden kann, zeigt es sich nach Merleau-Ponty in den Bewegungen des Körpers, in Stimm- und Tanzgesten. Der Bild-Raum der Schrift, der die Szenographie in dieser Szene prägt, erfährt in der Choreographie immer andere Umschriften. Phasenweise finden sie zu einem Ausdruck zusammen. „Als Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“65, generiert der Leib alle Ausdrucksräume nach Merleau-Ponty. Die Ausdrucksräume des Choreographen Mario Schröder, der aus der Schule von Gret Palucca, einer von der bildenden Kunst geprägten Schule des Ausdruckstanzes, stammt, sind von einem existentiellen Anspruch geprägt, dem er sowohl mit abstrakten als auch mit an Alltagsbewegungen angenäherten Tanzfigurationen folgt. (Abb. 7-9) Athletisch intensive Körperlichkeit verbindet Schröder mit ruhigen, konzentrierten Bewegungsabläufen. Impulse erhalten Bewegungen immer wieder aus der Selbstberührung, dem Griff der Hand an den Arm. Seine Schwerpunktthemen, Menschen, die ihre Grenzen zu überwinden suchen, sowie innere Vorgänge und intensive menschliche Beziehungen, die er in ebenso kühnen wie klar strukturierten Bewegungsphrasierungen erfahrbar macht, kommen der Thematik von ICH² entgegen und prägen die Choreographie, in der beide Tänzerinnen, Ich und Alter Ego, das vermeintliche Original und die Kopie am Ende zusammen finden, um endgültig aneinander zu scheitern. Doch ist es nicht das Mangelwesen Mensch, das angesichts des idealen Anderen verzweifelt. Vielmehr steht eine Selbsttötung des Klons im Raum. Letztlich bleibt der Ausgang offen.

65 Ebd.,

S. 176.

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Abb. 7 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Abb. 8 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Auf der Ebene der Szenografie wird die Kuppel abschließend zum Spiegel aller im Raum, also auch der Zuschauer, die immer schon in die Thematik verstrickt sind. Hat sich der Zuschauer insbesondere auch durch die Erfahrung einer Ebene des Dazwischenwahrgenommenen selbst bereits als ‚Interface‘ erlebt, so wird ihm nun eine Erfahrung des ‚In-Mitten eines Denkraumes-Seins‘ ermöglicht, die sich

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nicht auf das immersive Medium reduzieren lässt, sondern zwischen einem virtuellen Raum und der konkreten Lebenswelt changiert. Die Verdopplungsproblematik markiert (vom Traum über den Schatten und den Spiegel zum digitalen Double und Klon) nicht nur dramaturgisch einen übergreifenden Spannungsbogen für das ganze Stück ICH², sondern erweist sich auch als Leitmotiv für die performative Herstellung des Raumes durch die digitale

Abb. 9 ICH2 – Still aus der Videodokumentation der Muthesius Kunsthochschule

Technik.66 In der Kreation eines digitalen Doubles für den Tänzer, dessen Bewegungsparameter via digitale Verarbeitung die Aktionen seines Doubles steuern, fungiert Motion-Tracking als avancierteste Verdopplungstechnik von Tänzern und Raum. Der konkrete Bühnenraum steht in Wechselwirkung mit einem virtuellen Raum, in dem jede Bewegung des Tänzers andere Raum- und Zeitstrukturen und somit andere Visualisierungen oder akustische Geschehnisse generieren kann. Der Tänzer agiert dabei als Interface in einem erweiterten Raum, denn mit der realisierten Echt-Zeit-Reaktion von Tänzerbewegungen im Hör- und Bildraum mit immersiver 360°-Optik hat insbesondere Christian Engler, künstlerisch-wissenschaftlicher

66 Technical Research: Christian Engler, Muthesius Kunsthochschule (V4-Dome Implementation, Tracking, Reactive Visuals), Dipl. Inf. Markus Schack, FH Kiel/Zentrum für Multimedia (Digistar 3 Interfaces, Dome Operations). Licht: Martin Witzel.

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Mitarbeiter an der Muthesius Kunsthochschule, den interaktiven und intermedialen Möglichkeitsraum erweitert.

„Apparition“ von Klaus Obermaier

Nach dieser Betrachtung eines ‚work in progress‘ an einer Kunsthochschule soll noch kurz – ohne Kenntnis der Produktionsbedingungen – auf eine Choreographie eingegangen werden, die in anderer Weise Intermedialität zur Unbegrenzung des Raumes nutzt. War in ICH² ganz im Sinne Merleau-Pontys der Tänzerkörper noch in Gesten des Ausdruckstanzes leiblich im Raum verankert, der immer auch mit wechselnden, wahrnehmbaren Bedeutungen ausgestattet war, so versinnlicht die Choreographie Apparition, die der Wiener Künstler und Komponist Klaus Obermaier mit Tänzern realisierte, nach meinem Eindruck die Abkehr vom illusionären Abbild, die ausgerechnet Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie formulierte: „Als

Abb. 10 Bilder von der Homepage des Künstlers Klaus Obermaier, der diese Nutzung freundlicherweise genehmigte

apparition, als Erscheinung und nicht Abbild, sind Kunstwerke Bilder.“67 Obermaiers Choreographie verdeutlicht, dass diese Bilder mit anderem Bildcharakter nicht nur das dinghaft Entfremdete erfahrbar machen, sondern auch neue spektakuläre 67 Theodor W.

Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 130.

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Abb. 11 Bilder von der Homepage des Künstlers Klaus Obermaier, der diese Nutzung freundlicherweise genehmigte

Szenographien entfalten, in denen der Tänzer durch brillante Projektionstechnik in neuer vielfältiger Weise als Kunstfigur zur Erscheinung kommt. (Abb. 10-13) In Schlemmer-Nachfolge werden hier der lebendige Tänzer und der abstrakte Raum in Beziehung zueinander gebracht. Anders als bei Schlemmer erweist sich der Raum in Apparition als performativ generiert und permanent transformiert. Auch die Tänzer bleiben keiner Geometrisierung verhaftet, sondern differenzieren sich immer wieder anders im Wechselspiel zwischen Zwei- und Dreidimensionalität aus. In dieser Szenographie haben wir es mit der Oberfläche des Körpers zu tun. Sie wird ihrerseits zum Screen, zur Projektionsfläche, die im gestaltpsychologischen Spiel mit dem Figur-Hintergrund-Phänomen abstrakt aufleuchtet oder im Muster verschwindet, um zwischenzeitlich als dreidimensionaler Körper in der erkennbaren Bühnenpräsenz des Tänzers aufzutreten. Diese verhilft dem Betrachter, sich im Raum zu orientieren, denn diese Orientierung verliert sich zwischenzeitlich, lässt sich doch kaum entscheiden, ob der Tänzerkörper beleuchtet wird oder dieser leuchtet. Als Screen wird der Tänzerkörper gleichsam zum Schauplatz einer grenzenlosen Verwandlung, in der der Körper als abwesender präsent bleibt, so fungiert er als das bewusst gemachte Unsichtbare unter dem Sichtbaren. Auf dem Tänzerkörper als Screen wird dieser nun auch als hybrider Körper lesbar, dem Spuren des Morphing eingeschrieben sind. Von seinem Abbildcharakter befreit, erscheint der Körper gleichsam seiner vorgegebenen Funktionen entledigt. Ein „organloser Körper“ im Sinne von Gilles Deleuze und Felix Guattari, eine Weiterentwicklung und Abkehr von

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Abb. 12 Bild Klaus Obermaier

Abb. 13 Bild Klaus Obermaier

Merleau-Pontys Philosophie des Fleisches lässt sich hier vermuten, denn „die Erfahrung des Fleisches als Hülle meiner Wahrnehmung“ lehrt mich – nach Good –, „dass die Wahrnehmung aus den Schlupfwinkeln eines Leibes auftaucht, aus einem „organlosen Körper“, wie G. Deleuze und F. Guattari später sagen

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werden.“68 Damit weist der Philosoph Paul Good darauf hin, dass Deleuze/Guattari den von Merleau-Ponty eingebrachten Gedanken weiterführen zu einem organlosen Körper, dessen Gestalt sich vielfach varrieren lässt und dessen Kennzeichen pure Immanenz ist, die sich der Transzendenz entzieht. Auf der Immanenzebene löst sich der Körper in den unendlichen Raum des Schriftuniversums auf. Fleisch erscheint gleichsam deterritorialisiert. An die Stelle inkarnierter Sinnhaftigkeit tritt die Aisthetik faszinierender Bilder, die eine Bildwerdung des Körpers auf neue Weise erfahrbar machen und ihr konventionelles Bildwesen gleichsam zerstören. So kommt man zum Lob der Oberfläche, ohne auf existentielle Klang- und Bildräume verzichten zu wollen.

68 Paul

Good: Maurice Merleau-Ponty, Düsseldorf 1998, S. 243.

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Martin Zenck DER GEGEN-RAUM/DIE HETEROTOPIE UND DER VIRTUELL-MOBILE/SZENOGRAPHISCHE RAUM. ÜBERLEGUNGEN ZU MICHEL FOUCAULT UND DEN „RÉPONS“ UND DEM „DIALOGUE DE L’OMBRE DOUBLE“ VON PIERRE BOULEZ

1. Einleitung: Michel Foucault und Pierre Boulez am Collège de France: ein erstes fiktives Gespräch über den „Raum“

Ans Collège de France wurde der Komponist, Dirigent, Musiktheoretiker und Kulturmanager Pierre Boulez im Jahr 1976 berufen, und zwar auf den „Chaire d’invention, technique et langage en musique“ (Lehrstuhl für Erfindung, Technik und die Sprache in der Musik). Seit 1970 lehrte kein Geringerer als Michel Foucault an eben dieser berühmten Institution und er war es auch, der Pierre Boulez für diesen Lehrstuhl vorschlug. Er erhielt diese Position gleichzeitig mit der Übernahme der Leitung des Ircam im Centre Pompidou, dem Institut de Recherches et de Coordination Acoustique/Musique (Forschungsinstitut für die Koordination von Akustik und Musik). Während der kurzen gemeinsamen Zeit am Collège de France begegneten sich Foucault und Boulez relativ häufig und hatten äußerst intensive Gespräche zusammen, die zumindest teilweise in der vierbändigen Ausgabe der Schriften Dits et Écrits (frz. Ausgabe 1994, dt. Ausgabe 2004) erschienen sind. Bedeutsam ist zunächst eine Widmungsschrift von Foucault für das Festival d’Automne von 1982 unter dem Titel „Pierre Boulez, l’écran traversé“1 („Pierre Boulez, oder die aufgerissene Wand“), die zuerst für das 10-jährige Jubiläum dieses Festivals geschrieben wurde und dann nochmals posthum nach Foucaults frühem Tod 1989 als Einleitung zur publizierten Vorlesungsreihe von Pierre Boulez unter dem Titel „Jalons (Pour une Décennie). Dix ans d’enseignement au Collège de France (1978-1988)“2 veröffentlicht wurde. Neben dieser einschlägigen Schrift von Foucault über Pierre Boulez, die bereits im 1 Michel Foucault: Pierre Boulez, l’écran traversé, in: Nouvel Observateur vom 2. Oktober 1982, dann in deutscher Sprache unter: Pierre Boulez oder die aufgerissene Wand, in: Dry. Ein Magazin, Berlin 1983; vgl. die deutsche, von Heinz-Klaus Metzer revidierte Übersetzung unter dem gleichen Titel, in: Pierre Boulez. Musik-Konzepte 89/90, Heinz-Klaus Metzer und Rainer Riehn (Hg.), München 1995, S. 3-6. 2 „Pierre Boulez ou l’écran traversé“ par Michel Foucault, in: Pierre Boulez, Jalons (Pour une décennie). Dix ans d’enseigenment au Collège de France (1978-1988). Textes réunis et présentés par Jean-Jacques Nattiez. Préface posthume de Michel Foucault, Paris 1989, S. 19-22.

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MARTIN ZENCK

Titel und im Aufsatz mit Bezug auf Jean Genets Les paravants paradigmatisch das Programm eines sich eröffnenden, durch die „Durchquerung“3 vertiefenden Raums (der auch mit der anderen hinteren Seite, der des Todes kommuniziert) thematisiert, existieren in der Hauptsache schriftlich dokumentierte Gespräche, die neben denjenigen mit François Lyotard4, Pierre Bourdieu5 und Gilles Deleuze6 von besonderer Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Philosophie und der Musik nicht nur in Frankreich sind. Auffallend für unseren thematischen Zusammenhang ist der Sachverhalt, dass die Problematik eines nicht-euklidischen Raums von diesen beiden Autoren in ihren Gesprächen nicht ausdrücklich berührt wurde, obwohl doch jeder für sich einen geschichtlich veränderten Raum, eine neue Topik über den Ort der Musik im Raum und Gegenraum im Blick oder im Ohr hatte. Deswegen möchte ich in diesem einleitenden ersten Teil ein mögliches Gespräch zwischen Foucault und Boulez über diesen Gegenstand skizzieren und die perspektivische Raum-Thematik später dann in weiteren einzelnen Hauptteilen meines Vortrags entwickeln. Ins Jahr 1982 fällt zunächst nach intensiven Studien zur Raum-Akustik und der Gründung der spezifischen Raum-Architektur des Ircam im Centre Pompidou das raum-mobile Orchesterstück der Répons, dem 1989 das szenographische Raumstück des Dialogue de l’ombre double folgen sollte. Vor diesem Zeitraum und später beinahe parallel dazu hat Michel Foucault folgende Diskurse zum Raum7 durchgeführt: 3 So kommt es nach Foucault bei Boulez nicht darauf an, ein Denkmal zu setzen und es in eine gesicherte Tradition des Komponierens zu überführen, sondern „es zu durchqueren, ‚querdurchzugehen‘, es mit einem Mal so auseinanderzunehmen, daß selbst die Gegenwart davon noch in Bewegung geraten sollte. ‚Es aufreißen wie eine Wand‘, sagt er heute noch gerne, wenn er wie in den Paravants, an die Geste denkt, die zerstört, durch die man selbst stirbt und die es ermöglicht, auf die andere Seite des Todes zu wechseln.“ (M. Foucault: Pierre Boulez oder die aufgerissene Wand, a.a.O., S. 5). Pierre Boulez hatte nach der intensiven Lektüre von Genets „Les Négres“ und „Les Paravants“ vor, mit diesem Dichter ein Opernprojekt zu realisieren. Es scheiterte, wie später bei der „Orestie“ mit Heiner Müller, an dem frühen Tod der beiden Schriftsteller; vgl. zu beiden, auch raum-orientierten Musiktheaterprojekten: Martin Zenck: Pierre Boulez – Adriana Hölszky. Jean Genets Dramen „Les nègres“ und „Les paravants“ im europäischen Musiktheater, in: angekommen: gehen. Adriana Hölszkys Textkompositionen, hg. v. Wolfgang Gratzer/Jörn Peter Hiekel (=edition neue zeitschrift für Musik, hg. v. Rolf W. Stoll), Mainz 2007, S. 45-56; vgl. Martin Zenck: Pierre Boulez’ Oper Orestie. Die Bühnenmusik von Pierre Boulez zu einer Orestie (1955) und das Opernprojekt einer Orestie (1995) von Heiner Müller und Pierre Boulez, in: Musik&Ästhetik, 8, H. 29, Januar 2004, S. 50-73. 4 Vgl. La refléxion créatrice par Jean-François Lyotard. Variations baudelairiennes. Entretien avec Pierre Boulez, in: Pierre Boulez: Éclats, ed. par Claude Samuel, Paris 2002, S. 29-62. 5 Vgl. Les mésaventures de l’amateures par Pierre Bourdieu. Jean-Jacques Rousseau ou l’éloge de la naiveté. Entretien avec Pierre Boulez, a.a.O., S. 221-234. 6 Vgl. La référence littéraire. Boulez, Proust et le temps par Gilles Deleuze, a.a.O., S. 301-310. 7 Vgl. dazu ausführlich Martin Zenck: Passagen zwischen Wissensformen und Wissensräumen. Überlegungen zu den ‚Orten‘ in der Topik, Heterotopie und Utopie bei Michel Foucault, in: Konstitutionsbedingungen von Wissensräumen von der Antike bis heute, hg. v. Mechthild Dreyer, Mainz 2008 (Druck in Vorbereitung); vgl. auch den Beitrag von Brigitte Marschall im vorliegenden Band: Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung.

DER GEGEN-RAUM/DIE HETEROTOPIE

Le langage de l’espace (Die Sprache des Raumes; 1964), Le pensée du dehors (Das Denken des Außen; 1966), Theatrum philosophicum (1970), Space, Knowledge and Power (Raum, Wissen und Macht; 1982) und der Text Des espaces autres (Von anderen Räumen; 1984), den Foucault im Zusammenhang mit seinem Konzept der „Heterotopien“ (1966) und dem „utopischen Körper“ (1966) entworfen hat. Von Boulez existieren neben den grundlegenden frühen Raum-Kompositionen von Poésie et pouvoir 8 (1958) und den späteren der Répons (1982) und des Dialogue de l’ombre double (1989) ebenfalls zahlreiche Aufsätze und Reflexionen über den musikalischen Raum, so dass es auf der Hand gelegen hätte, dass die beiden Autoren Foucault und Boulez über diesen Gegenstand hätten ins Gespräch kommen können. Bereits zu dem früheren Zeitpunkt um 1958 war parallel mit Boulez’ Poésie pour pouvoir bei Karlheinz Stockhausen die Begründung eines neuen, fünften Parameters des „Raums“ neben denjenigen kompositorischen Ordnungsgrößen und Dimensionen der Tonhöhe, Tondauer, Dynamik und Anschlagsart/Farbe absehbar, den Stockhausen ausdrücklich unter dem Terminus „Tonort (Topik)“9 mit Blick auf „Boulez, Pousseur und Berio“10 und auf die eigenen „Gruppen für drei Orchester“ entwickelt (sowohl Boulez11 als auch Stockhausen12 haben mit einer spezifisch räumlichen Aufstellung der drei Orchester sowie mit einer entsprechenden Sitzordnung des Publikums experimentiert). Exemplarisch für den Zusammenhang mit der Diskussion des Raums nach dieser frühen, bis 1958/59 reichenden Phase nenne ich für das folgende Stadium bei Pierre Boulez die Schriften Nécéssité d’une orientation esthétique13, dann

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Pierre Boulez: Poésie pour pouvoir für drei Orchestergruppen, Tonband und Sprecher, Universal Edition Wien 1958; vgl. zur frühen Raum-Konzeption von Boulez in den späten 1950er Jahren im Vergleich mit den Gruppen für drei Orchester (1955-1958) von Karlheinz Stockhausen die grundlegende Arbeit von Gisela Nauck: Musik im Raum – Raum in der Musik. Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik (=Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. XXXVIII), Stuttgart 1997, S. 81-129 und S. 205-244. 9 Karlheinz Stockhausen: Musik im Raum (1958), zuerst erschienen in ‚die Reihe‘ 5, Wien 1959, dann in den Schriften von Karlheinz Stockhausen: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, Köln 1963, S. 160. 10 Ebd., S. 158. 11 Vgl. die entsprechenden Abbildungen, bzw. Rekonstruktionen der Aufstellung der drei Orchestergruppen in Poésie pour pouvoir von Pierre Boulez bei Gisela Nauck, a.a.O., S. 96 u. S. 106. 12 Vgl. die Abb. 22 mit der Disposition der drei Orchestergruppen in Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ bei Gisela Nauck, a.a.O., S. 206. 13 Pierre Boulez: Nécéssité dune orientation esthétique, deutsche Fassung unter: Über die Notwendigkeit einer ästhetischen Orientierung, in ders.: Musikdenken heute 2, Darmstadt 1985, S. 7-56; insbesondere auf S. 42 spricht Boulez von der Einheit von „horizontaler und vertikaler Dimension“, die durch das „Gelenk der Dichte und durch das Zusammenfallen in der Zeit zu umkehrbaren Kategorien wurden“.

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Der Raum wird hier zur Zeit14 und Chemins vers Parsifal15 (Wege zu Parsifal16; dort wird die Umkehrung der Wagnerschen Formel aus dem Parsifal ‚Zum Raum wird hier die Zeit‘ verhandelt), weiter die zentralen Stellen aus den Vorlesungen über „Jalons“ am Collège de France, dann die für den musikalischen Raum der Konzerte und Opernhäuser entscheidenden Orte („lieu“17) beim Dirigieren und schließlich die Werk-Kommentare, vor allem zur Technologie der Verräumlichung durch den „Spatialisateur“ auf der Grundlage der von Andrew Gerzso18 erfundenen Software Matrix 32. Was mich im Folgenden denn doch dazu ermutigt, das nicht ausführlich stattgefundene Gespräch zwischen Foucault und Boulez auf einer imaginären Ebene fortzusetzen, sind nicht nur die genannten und dokumentierten Gespräche zwischen beiden, sondern vor allem ein Nachruf von Pierre Boulez auf den frühen Tod von Michel Foucault19, in dem Boulez die verlorene Möglichkeit einer gerade begonnenen Konversation beklagt, weil Foucault im Gegensatz zu den anderen Intellektuellen in Paris von Musik sehr viel verstand, obwohl sie mit Ausnahme einer Veröffentlichung über Wagners ‚Ring‘ in seinen Schriften keine prominente Rolle spielt. (Im früher zitierten Artikel über die ‚aufgerissene Wand‘ hat Foucault20 selbst darauf hingewiesen, dass die Neue Musik nach 1950 im Gegensatz zur Malerei der Klassischen Moderne und des ‚Informel‘ und der Neuen Literatur des nouveau roman in der französischen Philosophie nicht den Stellenwert erlangt hat, den sie verdient hätte.) Da aber ein Dialog zwischen Foucault und Boulez über den „Raum“ nicht zustande kam, aber in einem fiktiven Dialog gleichsam nachgeholt werden kann, werde ich nun einige Grundlinien ziehen, an denen sich die jeweiligen

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Pierre Boulez: Der Raum wird hier zur Zeit. Nachruf auf Wieland Wagner, in: Melos. Zeitschrift für Neue Musik, Melosverlag Mainz, Dezember 1966; hier zit. n. Pierre Boulez, Anhaltspunkte. Essays. Deutsch von Josef Häusler, Kassel 1979, S. 384-390. Wieder abgedruckt, in: Pierre Boulez: Richard Wagner in Bayreuth. 1966-68, 1970, 1976-1980, 2004-2005. Essays, Gespräche, Dokumente, hg. v. Karl-Ulrich Majer und Hella Preimesberger, Bayreuth 2005, S. 105-109. 15 Pierre Boulez: Chemins vers Parsifal, in: Contrepoint (1973), No. 9, S. 155-172, hier insbesondere zu Gurnemanz Aussage „Du siehst, mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit“, S. 160. 16 Pierre Boulez: Wege zu Parsifal, in: Pierre Boulez, Richard Wagner in Bayreuth, a.a.O., S. 30. 17 Das entsprechende Buch von Pierre Boulez gehört neben dem Lehrbuch des Dirigierens von Hermann Scherchen zu den ganz wenigen Veröffentlichungen zu diesem Thema: Conversations de Piere Boulez sur la Direction d’orchestre avec Jean Vermeil, Paris 1989, insbesondere zu den „lieux“, den räumlichen Bedingungen der Orte im Konzertsaal und in der Oper, S. 138-142. 18 Vgl. Andrew Gerzso: Real Time Transformations in ‚Répons‘, in: Proceedings of the International Computer Music Conference, MIT Press 1982. 19 Pierre Boulez: Quelques souvenirs de Pierre Boulez, in: Michel Foucault: du monde entier, numéro special de Critique, août-sept. 1986, No. 471-472, S. 745-747. Erneut gedruckt in den Schriften von Pierre Boulez: Regards sur autrui. Points de Repère, Vol. II. Textes réunis et présentés par Jean-Jacques Nattiez et Sophie Galaise, Paris 2006. Christian Bourgois Editeur, S. 671-674. 20 Michel Foucault: Pierre Boulez oder die aufgerissene Wand, a.a.O., S. 3.

DER GEGEN-RAUM/DIE HETEROTOPIE

Raum-Konzeptionen schneiden können. Zunächst ist es allgemein die Grundthese von Foucault, dass das 19. Jahrhundert eine Epoche der „Zeit“, das 20. Jahrhundert hingegen ein „Zeitalter des Raums“21 gewesen sei und noch ist. Genauer ist Foucault der Auffassung, dass das 19. Jahrhundert primär auf eine teleologisch, progessivfinal orientierte Zeitkonzeption des Fortschritts ausgerichtet gewesen sei, während das 20. Jahrhundert durch die digitalen Technologien einen Raum erzeugen würde, in dem alle globalen Ereignisse zu einer Echtzeit simultaneisiert werden könnten. Auch wenn dieser These nicht unwiderrufen gefolgt werden muss, findet sie bei Boulez insofern eine wenn auch eingeschränkte Entsprechung, als mit der seriellen Musik der 1950er Jahre eine Überdetermination der kompositorischen Zeitstruktur erreicht wird, die in Indetermination und Nivellierung so umschlägt, dass die Musik schließlich als eine verräumlichte Kunst verstanden werden konnte, weil die Überbestimmung der Zeitpunkte zur Aufhebung zeitlicher Distinktionen und damit zu einer statischen Raumerfahrung führt. So ist es denn auch nur konsequent, dass Pierre Boulez über die raum-akustische Erfahrung seines Orchesterwerks Poésie pour pouvoir (1958) und mit dem Dirigat der „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen zusammen mit den Dirigenten Bruno Maderna und Stockhausen bereits Ende der 1960er Jahre zu einer neuen Raum-Konzeption gelangt, die dann in den effektiven, weil auch technologisch neu entworfenen musikalischen Räumen der Répons und des Dialogue de l’ombre double ihre definitive Realisierung findet. Wollte man also die These von Foucault mit Blick und Ohr auf die Musik differenzieren, so ergäbe sich unter der Prämisse der historischen Verschiebung der Musik als der spätesten aller Künste im Sinne Nietzsches der Sachverhalt, dass jener von Foucault beschriebene Vorgang der effektiven Vergleichzeitigung durch die digitalen Medien bei gleichzeitiger Verräumlichung sich in der Musik erst seit den 1950er Jahren vollzieht und bis heute anhält. Ein weiterer Gesprächspunkt zwischen Boulez und Foucault könnte in einer Differenzierung der Vorstellung vom 19. Jahrhundert als einer Epoche der dynamisierten Auffassung von Zeit liegen. Bereits Gurnemanz Formulierung aus Wagners Parsifal „Hier aber wird die Zeit zum Raume“ kehrt die progressiv gerichtete Teleologie der Zeit um in einen mythischen Raum, in dem die historischen Zeiten vollkommen ineinander laufen und sich überlagern. Bekanntlich hat Boulez nach den

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Vgl. dazu exemplarisch Michel Foucault: Des espaces autres, in: M. F., Dits et Écrits I (2001), Paris 1994, S. 752 (vgl. die Übersetzung in der deutschen Ausgabe der Dits et Écrits, Bd. 4, 2005, S. 931, und im Reader Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. v. Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2006, S. 317. Vgl. zur Darstellung und Kritik dieser Position Foucaults: Martin Zenck: Passagen zwischen Wissensformen und Wissensräumen, a.a.O., unter Fußnote 7.

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Ausführungen über Zeit und Raum im „Parsifal“ dem zitierten Satz von Gurnemanz große Aufmerksamkeit geschenkt und es ist nicht ganz klar, warum er im Gedächtnistext über Wieland Wagner im Jahre 1963 diesen Satz von Gurnemanz in sein Gegenteil verkehrte, in dem er das Memorial unter dem Titel Der Raum wird hier zur Zeit. Über Wieland Wagner fasste. Hieß dies zunächst und vordergründig nichts anderes, als dass der gemeinsam mit Wieland Wagner durch die Inszenierung und durch das Dirigat konzeptionell einmütig begangene Wagnersche Raum im Parsifal nun nicht mehr durch den frühen Tod Wielands zusammen begehbar war, oder liegen die Gründe einer solchen Umkehrung von einem statisch-mythischen Raum, in dem die Zeit aufgehoben ist, in einen zeitlichen Verlauf, in dem sich die Erzählung des Mythos doch dramaturgisch und musikalisch differenziert und aufklärt, nicht viel tiefer? Ein Schlüssel für die Antwort liegt vielleicht im Umfeld des GrunemanzZitats, das Boulez zunächst im Sinne der oben auch thematisierten Einheit von horizontaler und vertikaler Bewegung versteht: als eine ‚Vereinigung der beiden fundamentalen Kategorien von Zeit und Raum‘, die für „verblüffend“ gehalten wird, um sie dann zu kritisieren, weil Wagner sie konzeptionell nicht wirklich durchgehalten habe. Man könnte mit Boulez ergänzen, dass die Durchdringung dieser beiden Kategorien akzidentiell gelingt, wie in der „Erzählung von Parsifals Irrgarten“22, wo Ort und Zeit ineinander fließen, dass die konzeptionelle Schwäche aber darin liegt, dass der mythische Raum doch immer nach einer Entfaltung im Nacheinander verlangt, wo er doch in die absolute Gleichzeitigkeit gebannt sein müsste, womit unschwer ein kritisches Theorem des Serialismus gegenüber der Strukturierung der Zeit in der Schönberg-Schule – mit der Ausnahme vor allem von Anton Weberns op. 24 und op. 30 – aufgerufen wird, das etwa in den Structures Ia von Pierre Boulez aus dem Jahre 1952 gelöst schien. (Man sieht hier, wie eng die aktuelle Kompositionskritik um 1952 in die spätere Wagner-Interpretation Eingang findet.) Weiter und nicht zuletzt hebt Wagners Poetik einer „Kunst des Übergangs“ das Prinzip einer diskret konzipierten musikalischen Zeit auf, wie sie durch die Übertragung der Prosodie und sprachlichen Syntax auf die Musik gebildet wurde, wodurch nicht zuletzt ihre „Sprachähnlichkeit“ begründet wurde. An die Stelle des Paradigmas der Sprache tritt in Wagners Musik unverkennbar der Raum, und zwar der mythische, in dem nicht mehr konkrete geschichtliche Prozesse verhandelt werden, sondern die zwanghafte Einheit von Vor- und Endzeit, von Vor- und Nachgeschichte. Ein letztes vorläufiges Argument gegen die These Foucaults vom das 19. Jahrhundert dominierenden Paradigma der „Zeit“ könnte von Boulez von Mahlers Sinfonik aus aufgerufen werden. Gerade die 9. Sinfonie und die Vokalsinfonie vom Lied der Erde unterlaufen eine finale Dynamisierung des zeitlichen Prozesses, indem die Schlusssätze eben 22

P. Boulez: Wege zum Parsifal, a.a.O., S. 30.

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keine alles überbietenden Steigerungen, sondern zunehmende Entropien darstellen. (Zunächst scheinen die von Mahler angeführten Werke gerade für Foucaults These zu sprechen, sie gehen aber in ihrer Entwicklung auf eine Entropie hin, auf Entwicklungen im 19. Jh. zurück; vgl. dazu meine Ausführungen in der unter Fußnote 7 angegebenen Quelle). An dieser Stelle breche ich das durchaus weiter durchführbare und imaginäre Gespräch zwischen Boulez und Foucault ab und wende mich einem für die Konzeption des musikalischen Raums zentralen Werk zu: dem Dialogue de l’ombre double aus dem Jahre 1985, das aus neuen Raumtechnologien hervorgegangen ist und neue szenographische Räume hervorgebracht hat.

2. Die Raum-Konzeption im „Dialogue de l’ombre double“

Im Folgenden geht es nicht um den auch selbstverständlichen, wenn nicht trivialen Sachverhalt23, dass jede improvisierte oder schriftlich fixierte Musik durch den jeweiligen Raum, in dem sie erklingt, neu komponiert, d.h. neu im Raum zusammengesetzt, verteilt, aufgefächert und verdichtet wird; es geht auch nicht um die naheliegende Konsequenz, dass die Komponisten seit der venezianischen Doppelchörigkeit des 17. Jahrhunderts bis hin zu Gustav Mahler im späten 19. Jahrhundert auf diese räumlichen Bedingungen nicht entsprechend kompositorisch oder dirigierend reagiert hätten, sondern wichtig für den Vorgang der Verräumlichung von Musik werden: erstens eine spezifische Aufstellung des Orchesters oder von Instrumentalgruppen in einem mit verschieden hohen Podesten ausgestatteten Raum; zweitens der Bau entsprechender Architekturen wie dem Schiff in San Marco in Venedig für Luigi Nonos Prometeo und der Errichtung eines mobilen Raums im Ircam in Paris für Boulez’ Repons und den Dialogue de l’ombre double; drittens um live-elektronische Verfahrensweisen, die in real time das soeben Gespielte und Aufgenommene im aufgefächerten und gestaffelten Raum aussenden und hörbar machen; viertens ein spezifischer ‚Spatialisateur‘, der nicht nur vorher auf Zuspielbänder aufgenommene Klänge durch den Raum in unterschiedlichen Tempi und Registerlagen bewegt, sondern ebenso die Live-Klänge mit denen der Zuspielbänder kombiniert und fünftens kann zu diesen technologisch manipulierten Klangprozessen im Raum der reale, elektroakustisch unbearbeitete Ton oder Klang eines Instruments oder mehrerer

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In diesem Sinne hat sich auch Karlheinz Stockhausen im zitierten frühen Aufsatz über „Musik im Raum“ von 1958 geäußert, dass die Tradition der auch den musikalischen Raum beeinflussenden venezianischen Doppelchörigkeit bis hin zu spezifischen Aufstellungen des Orchesters etwa bei Hector Berlioz und Gustav Mahler nicht das Geringste mit dem für die serielle Musik grundlegenden neuen fünften Parameter des „Tonorts (Topik)“ zu tun habe (vgl. Karlheinz Stockhausen, a.a.O., unter Fußnote 9, S. 152).

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Instrumentalgruppen hinzutreten, und zwar in der Vermischung oder in der Trennung solcher Klanggruppen. In einem Schlusspunkt (VI.) greife ich dann das hier begonnene fiktive Gespräch zwischen Foucault und Boulez wider auf und führe es unter neuen Prämissen weiter. Um hier einen ersten optischen Eindruck von der räumlichen Klangdisposition wiederzugeben, sei hier exemplarisch eine Graphik für eine doppelt mögliche räumliche Szenographie des Dialogue de l’ombre double wiedergegeben (Abb. 1 u. 2):

Abb. 1 Aufstellung: Figure 1 a aus Pierre Boulez, Dialogue de l’ombre double

Abb. 2 Aufstellung: Figure 2 a aus Pierre Boulez, Dialogue de l’ombre double

Während die zweite Raumdisposition einigermaßen konventionell beschaffen ist, weil sie die Raumakustik des Konzertsaals abbildet, in dem der Klang trotz der im Raum verteilten Lautsprecher zentralperspektivisch und frontal vom Bühnenpodest auf die Zuhörer/Zuschauer zukommt, bezeugt die erste figürliche Darstellung die Möglichkeit eines in sich vielfach bewegten und rotierenden Raums. Die auch durch einfachen oder über den Konzertflügel vermittelten Hall verstärkte Solo-Klarinette, die sich in einem ersten Innenkreis befindet, wird von einem zweiten Kreis umgeben, in dem die Zuschauer/Zuhörer sitzen. Innerhalb eines dritten Kreises hängen an den Wänden sechs Lautsprecher, von denen aus vorher vom Solo-Klarinettisten aufgenommene Klänge auf Zuspielbändern in den Saal in unterschiedlicher Dichte und in jeweils unterschiedlichen Tempi bewegt werden. Dadurch entsteht ein

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Reaktionsverhältnis zwischen dem Live-Spiel der Solo-Klarinette und dem zugespielten Klarinettenpart, worauf der Werktitel Dialogue de l’ombre double, ‚Dialog des doppelten Schatten‘ anspielt, ein äußerst komplexer Werktitel, wie wir später noch sehen werden, weil er auf szenographische und theatrale Beziehungen im akustischen und optischen Raum hinweist. Obwohl es zunächst so scheint, als würde einem originalen Live-Klang ein synthetischer Zuspielklang im Sinne von Gestalt/Original und Double gegenüber gestellt, ist der kompositorische wie akustische Vorgang jedoch viel komplexer, selbst wenn die 13-teilige Grundform dieses Werks einen einfachen Wechsel zwischen diesen beiden Klangtypen annehmen lässt. Synopsis der Gliederung von Pierre Boulez’ Dialogue de l’ombre double (1985): I Sigle initial: Clarinette double, vom Zuspielband über 6 Lautsprecher und verschieden schwach oder stark, schnell oder langsam mit den sechs Potentiometern ausgesteuert II Strophe I: Clarinette première, live vom Podium mit Hall, auch verstärkt und verfremdet über den Hall des unsichtbaren Konzertflügels (mit eige ner Aussteuerung über einen Pontentiometer) III Transition I à II: Clarinette double, vom Zuspielband IV Strophe II: Clarinette première, live von der Podiumsmitte mit Hall V Transition II à III: Clarinette double, vom Zuspielband VI Strophe III: Clarinette première, live vom Podium mit Hall VII Transition III à IV: clarinette double, vom Zuspielband VIII Strophe IV: Clarinette première, live vom Podium IX Transition IV à V: Clarinette double, vom Zuspielband X Strophe V: Clarinette première, live vom Podium, Mitte mit Hall XI Transition V à VI: Clarinette double, vom Zuspielband XII Strophe VI: Clarinette première, live vom Podium mit Hall XIII Sigle final: Clarinette double, vom Zuspielband Die gesamte Komposition, die dem Gesetz von Struktur, Chiffrierung der Struktur und der doppelten Dechiffrierung durch den Klarinettisten und die Technik und durch den Hörer folgt, ist eingerahmt in ein eröffnendes und abschließendes Signal. Dazwischen liegen sechs Originale „Strophes“ und als Kommentare und Schatten der Originale sechs „Transitions“ (‚Übergänge‘), wie sie Boulez im Sinne der figuralen Mnemotechnik und Rhetorik von „Tropus“ und „Sequenz“, Strophe und Kommentar, bereits in der dritten Klaviersonate und im „Marteau sans maître“ verwendet hatte. Damit ist bereits mit der Bezeichnung auf die Differenz von Kontur und Verschattung des Einzeltons und des Klangs hingewiesen. Die „Strophes“ werden von der Solo-Klarinette auf der Szene/Bühne live gespielt, die zuvor auf Zuspiel-

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Abb. 3 Regelsystem der dynamischen Aussteuerung der sechs Lautsprecher durch das Zuspielband, das über sechs verschiedene Potentiometer bestimmt wird

bänder (Abb. 3) aufgenommenen „Transitions“ werden über die sechs, zirkulär an den Wänden angebrachten Lautsprecher übertragen. Damit der Gegensatz von LiveKlang und synthetischem Klang nicht in dieser Weise unverbunden bleibt, wird der

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Live-Klang entweder direkt mit Hall belegt oder mit einem auch verfremdeten Nachhall versehen, wie er von einem Potentiometer erzeugt wird, der die von der Klarinette über den Klangraum des offenen Konzertflügels zugespielten Känge direkt aufnimmt und als auch fernes Echo der Klarinette in den gesamten Klangraum des Konzertsaals fluten lässt. Diese auch insgesamt resonierenden Live-Klänge mischen

Abb. 4 Beginn der Partitur von Pierre Boulez

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sich an den Schnittstellen mit den Klang-Passagen der „Transitions“ (der „Übergänge“). Sie münden vorerst nach einem Prozess der Klang-Divergenz von Live- und Zuspiel-Klang in einen Unisono-Ton, der obwohl von der Tonhöhe identisch, vom Timbre aber der „Klarinetten“ als mikrotonaler Differenzton zu hören ist. (Abb. 4) Danach bleibt nur noch ein Einzelton übrig, den man so verstehen kann, dass nach der Inkongruenz von Original und Double zunächst mit dem Unisono eine Kongruenz beider Instrumentalsphären erreicht ist und mit dem übrig bleibenden Einzelton die vollkommene Identität von Original und Double erreicht wird.

3. Szenographie und Choreographie des „Dialogue de l’ombre double“

Szenographie heißt ‚sich in die Szene einschreiben‘, Klangspuren im akustischen Raum setzen und hinterlassen. Im Sinne einer solchen Einschreibung hat Roland Barthes eine dreifache „écriture“24 beim japanischen Theater des Banraku festgehalten: eine Schrift, die das Verhältnis der Figuren auf der Bühne untereinander regelt, ihre Interaktion; eine zweite durch eine schwarz gekleidete alte Figur, die insgeheim die Fäden für dieses Spiel zieht, und schließlich eine dritte Einschreibung durch die vor der Bühne postierten Sprecher und Instrumentalisten, die den sich bewegenden Figuren auf der Bühne eine Stimme geben, während diese doch auf der Bühne stumm bleiben. Wesentlich ist also die Trennung von Stimme, Bewegung, die im wie im Marionettentheater gleichsam gesteuert wird, und Figur, wobei sich nach Barthes die drei Formen der „écriture“ auf diese drei voneinander isolierten Bewegungsund Ausdrucksformen beziehen. Damit ist ein Theater der Schrift aufgerufen, das die Einschreibung eben auf die Szenographie bezieht und nicht, wie sonst üblich, auf den Schauspieltext. Im umfassenden Sinn wurde diese Thematik 2004 auf dem internationalen Heiner-Müller-Kongress unter der Leitung von Günther Heeg25 verhandelt. Dort wurde gerade die Gestaltung des Raums durch Licht und Schatten, die Führung der Figuren unter das Prinzip der Theatrographie gestellt (dort u.a. von mir eine Beitrag über den Zusammenhang zwischen einem Theater der Schrift und Michel Foucaults Theatrum philosophicum. Auch könnte der Satz, der für Heiner Müller so sehr gilt, auch für den Satz von Georges Tabori gelten, dass das „Inszenieren die Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln, eben mit Licht und Schatten, Hell und Dunkel sei und sich die Schrift ebenso der Szene einschreibe“). 24 Roland Barthes: Lecon d’écriture, in ders.: Oeurvres completes. Vol. III. Livres, Textes, Entretiens. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris 2002, S. 33-39, hier insbesondere S. 37. 25 Günter Heeg, Theo Girshausen: Theatrographie. Heiner Müllers Theater der Schrift, Berlin Vorwerk 8, 2009, S. 154

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Verkürzt formuliert gibt es dabei eine Schrift, die vom Theatertext gelenkt wird und im artikulierten Sprechakt ihren ersten oder ihren als eben solchen angenommenen Niederschlag findet. Proxemie, Bühnenbild, Licht- und Klang-Raum-Regie der Bühne wären dann aber nicht etwas Hinzutretendes oder nur Sekundäres, sondern entweder im Sinne von Erika Fischer-Lichte ein eigener theatraler Text der Inszenierung oder dem Schauspiel- und Sprechakt-Text vorgelagert, so dass in ein alle Parameter der Bühne umfassendes Theater der Schrift dann – als eine weitere Möglichkeit – das Sprechen einer Schrift angesehen werden könnte. In diesem Sinne hätten wir in Pierre Boulez’ Dialogue de l’ombre double einen szenographischen Raum, in dem die beiden realen und imaginären Figuren des Klarinettisten zwar nicht unerheblich für die Konstitution der Szene sind, aber eigentlich sind es die durcheinander wirbelnden und rotierenden Klang-Figuren, die im akustischen Raum auf die Zuschauer/Zuhörer treffen, die inmitten des Klanggeschehens sitzen, von den dichten, zerfaserten, zugespitzten Klängen also taktil berührt oder vom Klang durchflutet werden. Dass der Raum-Komposition des Dialogue de l’ombre double von Pierre Boulez ein Theatertext oder besser ein Theaterstück zugrunde liegt, und zwar genauer, wie ich es später ausführen werde, die 13. mit „L’ombre double“ („Der doppelte Schatten“) überschriebene Szene aus Paul Claudels Le soulier de satin (Der seidene Schuh), muss hier nicht bereits angeführt werden, um szenographische und theatrographische Überlegungen anzustellen oder zu rechtfertigen. Vielmehr scheint es mir an dieser Stelle bezeichnend zu sein, dass das Tanztheater und die Choregraphie intensiv auf die bewegungsmäßig szenischen Implikationen dieses „Solo pour deux“ des „Dialogue pour l’ombre double“ von Pierre Boulez reagiert haben, und zwar von Seiten des erst kürzlich verstorbenen Tanzmeisters Maurice Béjart und der spanischen Ballettformation und Theatertruppe „Bartabas“.

4. Paul Claudel’s Urszene des „L’ombre double“ im Theaterstück „Le soulier de satin“ („Der Seidene Schuh“) und Jean-Louis Barrault’s Inszenierung des „Soulier de satin“

Der Zusammenhang zwischen Boulez’ imaginärem Musiktheater des Dialogue de l’ombre double mit Paul Claudels Theaterstück Le soulier de satin ist alles andere als zufällig. Mit dem Dichter Paul Claudel war Boulez26 über seine Zusammenarbeit 26

Vgl. zum Verhältnis zwischen Pierre Boulez und dem Dichter Paul Claudel, Pierre Boulez: Sur Scène. Paul Claudel, Intolérant et Révolté, in: Six musiciens en quête d’auteur, Isle-lès-Villenooy, Pro Musica, 1991, S. 13-24. Wieder abgedruckt in: Pierre Boulez: Regards sur autrui Ponts de Repère, Vol. II., a.a.O., S. 675-682.

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mit der Compagnie Renaud-Barrault eng verbunden, der Theatertruppe, dessen musikalischer Leiter Boulez von 1946-1955 war und die dies berühmte, weil unaufführbare Stück von Claudel 1958 in einer Inszenierung von Jean-Louis Barrault im Odéon von Paris dennoch zur Aufführung brachte. Wie für diese Theatergruppe allgemein üblich, brachte diese jeweils zu den Aufführungen exemplarische Aufsätze heraus, die in den eigenen Cahiers Renaud-Barrault veröffentlicht wurden. So erschien im 25. Heft vom Dezember 1958 bis zum Oktober 1963 eine Paul Claudel gewidmete Sondernummer, welche sowohl den beiden aufgeführten Theaterstücken Le Tête d’or und dem Le soulier de satin galt, als auch der Frage nachgehen sollte, was Claudel, heute um 1958, für die Theaterpoetik und Theaterpraxis nicht nur in Frankreich für eine Bedeutung haben könnte. Es ist hier wichtig darauf hinzuweisen, dass Boulez über diese Zusammenarbeit mit der „Compagnie Renaud-Barrault“ schon einmal frühzeitig mit Claudel zusammen kam, als er die Bühnenmusik seines Kollegen Arthur Honegger für eine Aufführung des Tête d’or einrichtete und dirigierte. Insofern ist die Begegnung zwischen dem imaginären Musiktheater des Dialogue de l’ombre double mit der Szene des „doppelten Schatten“ aus Paul Claudels Theaterstück Der seidene Schuh alles andere als zufällig, sondern stellt eine ausdrückliche Übersetzung einer dramatischen Szene in eine rein musikalische Szene dar, die intensiv mit der szenographischen Räumlichkeit der Musik spielt. Die 13. Szene des zweiten Bildes in Claudels Drama handelt insofern nicht vom gängigen Verhältnis von Original und Double, wobei das Double der Schatten einer ursprünglichen Figur wäre, als hier zwei Figuren, die eines Mannes und die einer Frau, in einem Schatten zusammenfallen. Dieser Schatten, obwohl ein doppelter, aber doch kongruenter, klagt diese beiden Figuren an, sie hätten ihm, anders als im Schattenland üblich, nicht nur einen zweifachen Schatten statt nur eines Schattens gegeben, sondern vor allem hätten sie seiner Effigie den Urheber, der für den verbindlichen Schattenriss sorgt, genommen. Dadurch sei statt nur eines Schatten, der auf einen eindeutigen Charakter zurückgeht und ihm einen entsprechenden Umriss verleiht, ein „neues Wesen aus formloser Schwärze“ geworden (II, 13, S. 151). Ambivalent bleibt dabei das Verhältnis von Urbild und Abbild, von Modell und Schattenbild, weil der Dialog oder besser die Anklage zwischen demjenigen, der vor der Leinwand steht und einen Schatten auf sie wirft, eben nicht mit diesem Schatten identisch ist, weil dort ein aus dem Mann und einer Frau zusammenfallender Schatten zu sehen ist, die im erotischen Akt ineinander zu einem Schatten versanken, der aber einem anderen gehört. Es handelt sich also zum einen um Differenzbestimmung von Urbild und Schattenbild, zum anderen um einen ganz anderen Schatten, der eben nicht mit seinem Verursacher zusammenhängt, sondern um eine Projektion, die wiederum außerhalb des Verhältnisses von Ursache und Wirkung stünde, weil

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der vor der Leinwand Stehende nicht mit seinem Schatten auf ihr übereinstimmt. Für die Komposition des Dialogue de l’ombre double von Piere Boulez und die beiden Choreographien von Maurice Béjart und der Gruppe Bartabas mag das soviel bedeuten, dass es nicht nur um zwei sich spiegelnde Figuren handelt, sondern um drei imaginäre, wobei eben eine die beiden anderen entweder äußerst direkt aufeinander zubewegt oder auseinander treibt: ein Spiel von gelenkter Identifizierung und Differenz, um am Schluss beides in einer Figur, in einem Ton, keinem Unisono, zu vereinigen.

5. Der „Spatialisateur“ für „Répons“

In diesem Punkt werden keine explizit kompositorischen Prozesse beschrieben und interpretiert, sondern die spezifischen Dispositionen des Raumes und die entsprechenden elektroakustischen Transformationen der Orchesterkomposition Répons benannt. Zunächst haben wir wie beim Dialogue de l’ombre double eine kreisförmige Aufstellung im musikalischen Raum. Um das Live-Ensemble in der Mitte des Raums sitzt das Publikum, das wiederum von sechs Solisten des Instrumentalensembles umgeben wird, dessen gespielte Klänge live-elektronisch transformiert und im äußeren Kreis des Raums über die Lautsprecher an den Wänden in den Saal übertragen werden. Entscheidend für die Produktion und Uraufführung von Répons im Jahre 1981 im Ircam im Centre Pompidou und bei den Donaueschinger Musiktagen27 war die Erfindung des so genannten ‚Spatialisateur‘, eines computergesteuerten Geräts, das die aufgenommenen Klänge in Echtzeit/real time transformiert in den musikalischen Raum schickte. Dieser wurde also nicht nur durch eine spezifische, spatial ausdifferenzierte und zirkulär/spiralförmige Aufstellung der Instrumente, Solisten, des Publikums und der Lautsprecher definiert, sondern vor allem durch einen Raumverteiler, der die entsprechenden Klänge in unterschiedlichen Tempi (Accelerandi und auch Delays), Dichtegraden, Registerlagen durch den Raum bewegt und somit die „ursprünglichen“ Klänge grundlegend verändert hat. So können durch die Delays28 (Verzögerungen) oder durch die Accelerandi (Beschleunigungen) bestimmte Raumeindrücke sowie spezifisch spatiale Effekte erzielt werden. Wenn zum Beispiel ein Stereosignal auf einer Seite um wenige Millisekunden verzögert oder rascher ausgelöst wird, dann vernimmt das Ohr die räumliche Distanz 27

Pierre Boulez: Zu ‚Répons‘, in: Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1981, S. 30-32. Vgl. dazu die wertvollen Hinweise von Frank Maier, Musikwissenschaftliches Institut der Universität Würzburg.

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entweder als weiter oder als weniger weit entfernt, womit ein jeweils unterschiedlicher Eindruck einer Richtung entsteht. So lassen sich beispielsweise auch unabhängig von Boulez’ komplexem kompositorischem Verfahren aus unspektakulären Klängen räumlich sehr weit aufgefächerte Klänge im Raum erzeugen. Obwohl heute die Raumreproduktionen durch neuere Verfahren viel weiter ausgereift sind, so dass mit Hilfe des Impulse-Response-Systems jeder beliebige Raum gesampelt und perfekt wiedergegeben werden kann, so können die Möglichkeiten des für die Aufführung von Boulez’ Répons verantworlichen Spatialisateurs29 doch eindeutig beschrieben werden. So kann ein Raum mit seinem Nachhall auf mehrere Lautsprecher aufgeteilt werden, um dadurch einen oder mehrere virtuelle Räume in einem bestimmten Raum hervorzubringen. Dabei simuliert der Spatialisateur nicht nur die Aufteilung des Raumklangs durch mehrere Lautsprecher, sondern er generiert auch noch einen eigenen Raumklang, d.h. er ist ein Halleffektgerät mit modularem Ausgangskonzept, dessen Differenzierung in der Qualität der jeweiligen Software begründet liegt. Unterscheidet man mit Pierre Boulez folgende Stadien der Komposition und der Aufführung: „Struktur“ – „Chiffrierung der Struktur“ – „Dechiffrierung durch den/die musikalischen Interpreten und den Hörer“, dann betrifft das Komponieren mit einem Klangverteiler bereits den Akt des Komponierens und nicht erst seine Chiffrierung oder Dechiffrierung, also genauer mit dem ersten Bereich der „Strukturierung“ das Abstecken des Feldes von Möglichkeiten, innerhalb derer sich die Veränderung der „Struktur“, der Klangfarbe und der Raumwanderung des Klanges vollzieht. Für unsere Diskussion des Raumes bedeutet dies soviel, dass erstens die Möglichkeiten einer mehrfachen realen und virtuellen Verräumlichung vom fünften Parameter der Topik noch innerhalb des kompositorischen Verfahrens weitgehend festgelegt werden und dass zweitens mit dem „Spatialisateur“ aus dem realen Aufführungsraum ein mehrfacher virtueller Raum mit unterschiedlichen Richtungsenergien der Klänge erzeugt wird, in dem source (Klangquelle) und effect (Klangresultat) vollkommen differieren können. In einer äußersten Spannung verbleiben dabei die live-gespielten Klänge, deren Ordnungen in Parameter und damit im euklidischen Raum, d.h. im realen Raum gewahrt bleiben, und die über den Spatialisateur transformierten Klänge, die die Ordnung, Gleichheit und Hierarchie der ursprünglich festgelegten Dimensionen von Tonhöhe, Tondauer, Dynamik, Klangfarbe (Anschlagsart) und Topik (Tonort im Raum) vollkommen dekonstruieren können. 29

Vgl. ausführlich zum Spatialisateur Andrew Gerzso: Real Time Transformations in ‚Répons‘, in: Proceedings of the International Computer Music Conference, MIT Press, 1982; vgl. auch entsprechende vereinfachende Hinweise in Komposition und Musikwissenschaft im Dialog V, Köln 2004, und die Kurzfassung des Beitrags von Andrew Gerzso „Le Spatialisateur“, in: Booklet zur CD: Pierre Boulez, Dialogue de l’ombre double. Répons, Ircam Centre Georges Pompidou, auf DGG 1998, S. 33. Vgl. schließlich grundlegend: Pierre Boulez: Über ‚Répons‘ – ein Interview mit Josef Häusler, in: Teilton 4. Veröffentlichungen der Heinrich-Strobel-Stiftung e.V., Kassel 1985, S. 7-14.

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Während noch in der Musik der Tradition und in der seriellen Musik die Dauer, die Dynamik, das Register und die Klangfarbe/Anschlagsart eine Funktion der Tonhöhe war, werden nun diese genannten Parametern ausschließlich zu Funktionen des musikalischen Raums.

6. Raum-Konzepte von Foucault und Boulez: ein zweites fiktives Gespräch: Gegen-Räume/Heterotopien und szenographische und mobile Klangräume

Seit der Erbauung und technologischen Nutzung des Ircam in den 1970er Jahren haben sich die Möglichkeiten einer „spatialisation de la musique“, einer Verräumlichung der Musik, grundlegend verändert. Während der frühere Raum strikt euklidisch war mit einem ausgezeichneten Oben und Unten, einer Bewegungsmöglichkeit von links nach rechts und umgekehrt mit jeweils fixierten Raumpunkten, mit der Fokussierung auf eine zentralperspektivische Mitte (auch auf das Konzertpodium), von der/dem aus die Musik erklang und sich von einem fixierbaren Ort auf dem Podium auf den Zuhörer im Publikum zubewegte, sind nun im Dialogue de l’ombre double und in Répons diese präzisen Zuordnungen von fixierten Orten im musikalischen Raum zugunsten eines offenen und mobilen Raums aufgegeben worden. Obwohl in ihm auch spontan und vorübergehend Orte als Ausgangspunkte für bestimmte Klangereignisse festgelegt sind, sind die Orte im Raum doch wesentlich von einer Ortlosigkeit bestimmt, weil die Klänge, die früher in einem Orchesterkonzert etwa von links kamen, identisch mit ihren Orten waren, an denen entsprechende Instrumente platziert waren, nun durch eine digitale und computergestützte Transformation und einer daraus sich ergebenden Wanderung des Klangs nicht mehr mit der ursprünglichen Klangquelle identifiziert werden können. Jedes Klangereignis kann prinzipiell von jeder Stelle des musikalischen Raums herkommen, obwohl das Instrument oder der Lautsprecher, der an dieser Stelle steht, nicht die Klangquelle für dieses Klangereignis zu sein braucht. Mit der Unortbarkeit der Klänge auf Grund der Unterscheidung von Klang und Klangquelle bewegen sich die Klänge in einem multidirektionalen und multivektorialen Raum. Dieser ist zumindest in dem ihn umgebenden Ort im Ganzen beweglich und, obwohl streng in sich geschlossen, Teil einer Gesamtarchitektur, so dass die mobile geschlossene Klangerfahrung auch im äußeren Klangraum einer Großstadt vernommen werden kann. Es ist zwar ein Gegenraum, abgetrennt vom Wirklichkeitsraum, aber zugleich auf ihn hin geöffnet auf Grund einer Übertragung der Hörerfahrung und vor allem auf Grund der Vorstellung der Architektur als Klang und des Klangs, in dem sich die räumlichen Bedingungen der Architektur einschrieben haben.

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Der unter Tage befindliche Konzertsaal im Ircam (Abb. 5 u. 6), links mit glatten Reflexions- und Absorptionsplatten, die die Klänge unmittelbar, glatt und gerade zurückstrahlen und für den Nachhall zurückwerfen; rechts die verschieden gerichteten Absorptionsplatten, die die Klänge nicht nur schräg nach rechts und links reflektieren, sondern auch so gestellt werden können, dass sie ineinander gebrochen werden, d.h. sich mischen, verdichten, sich gegenseitig verzerren und zerstören können. Dieser Konzertsaal ist also im Gegensatz zum traditionellen mit der dort sonst üblicherweise aufgeführten Musik ein Ort, der sich der traditionellen Topik, d.h. der Lehre von den festen Orten entzieht. In ihm gibt es kein fixiertes Oben und

Abb. 5 Konzertsaal des Ircam mit geschlossenen Reflexionswänden

Unten, kein links und rechts, kein Draußen und Drinnen, sondern die „Orte“ sind auch unordentlich ohne strikten Bezug zu einem zentrierenden Fokus im jeweiligen Raum, auch marginal an dessen Rändern verteilt. Die ‚Orte‘ im Raum und dieser selbst werden also nicht durch ein Zentrum bestimmt, in dem sich alle Orte fokussierend spiegeln oder aus ihm hervorgehen, sondern sie bestimmen sich jeweils akzidentiell und transitorisch im jeweiligen Augenblick ihrer Beziehung, ihrer Interdependenz, auch ihrer momentanen Abhängigkeit. Damit sind wir mit den GegenOrten und Gegen-Räumen bei Michel Foucaults Konzept der Heterotopie oder der Heterotopologie angelangt, die er sowohl von der Lehre der Nicht-Orte in der Utopie als auch von der Lehre der fixierbaren Orte in der metaphysisch verfassten Topik absetzt, bei der das Oben auf Transzendenz, das Unten auf Immanenz verweist.

DER GEGEN-RAUM/DIE HETEROTOPIE

Ich habe im Einleitungsteil gesagt, dass es für Boulez und Foucault, obwohl beide durch die Institution des Collège de France und durch die Problematik des „Raumes“ so miteinander verbunden waren, nahe gelegen hätte, dass sie über unseren Gegenstand der Szenographie oder eines szenographischen Raums ins Gespräch hätten kommen müssen. Dort in der Einleitung habe ich bereits eine der Grundthesen von Foucault mit Boulez in Zweifel gezogen, dass das 20. Jahrhundert ein Zeitalter des Raums sei und noch ist im Gegensatz zum 19. Jahr-

Abb. 6 Konzertsaal des Ircam mit aufgestellten/aufgeklappten Reflexionswänden

hundert, welches Foucault unter der Signatur der Zeit, einer teleologisch und auf Zukunft und Erfüllung hin ausgerichteten, gesehen hat. Diesen Aspekt werde ich hier nicht weiter vertiefen, sondern nun abschließend versuchen, einige der tragenden Überlegungen zum Gegen-Ort von Foucault mit dem musikalischen Gegenraum von Boulez in Verbindung zu bringen und damit auf einer zweiten Stufe das Gespräch hier fiktiv nachzuholen, dass diese beiden Köpfe nicht geführt haben.

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MARTIN ZENCK

An anderer Stelle, im Zusammenhang eines Forschungsprojekts über „Wissensräume“, habe ich bei Foucault die Übergänge von „Wissensform“ zum „Wissensraum“ dargestellt, d.h., dass zweidimensionale Wissensformen als dreidimensional räumliche Wissensräume lesbar und erfahrbar sind. In diesem Sinne ist denn auch zunächst das Ircam mit seinem mobilen Projektionsraum von Musik zu verstehen, dem im Centre Pompidou das elektronische Studio, ein echoloser Raum und die vielen klangexperimentellen Räume angeschlossen sind, in denen u.a. die Spektralfarben von Tönen/Klängen der französischen Spektralisten um Gérard Grisey, Hugues Dufourt, Michael Levinas und Tristan Murail erforscht wurden. Mit Fug und Recht kann hier behauptet werden, dass es sich um akustisch experimentelle Wissensräume handelt, die über das Ausbuchstabieren von entsprechenden Wissensformen (Tabellen, Diagrammen, Seismogrammen, Obertonspektren und deren Analyse) zu neuen konkreten musikalischen Räumen gelangen, die in dieser Weise dann, wie in Répons von Pierre Boulez, zwingend in neue kompositorische Prozesse zurückgeführt werden. Ob dabei die Verwissenschaftlichung von Kunst zu einem Verlust des phantastischen Potentials der ästhetischen Produktivkraft führt oder im Gegenteil die streng analysierten Verlaufsmechanismen der Klanganalyse zur Freisetzung neuer Klangmöglichkeiten führen, möchte ich hier nicht eigens erörtern. Nur und ausschließlich sei hier die Frage weiter diskutiert, was die musikalischen Erfindungs- und Gegenräume des Ircam mit den Heterotopien, mit den anderen Räumen der „autres espaces“ von Michel Foucault zu tun haben. Bereits oben hatte ich als Parallele zwischen Boulez und Foucault festgehalten, dass sich ihre Raum-Konzeptionen prinzipiell von einer Lehre von den zentrierten und fixierten Orten verabschiedet haben. Dagegengesetzt wurde ein offenes System von Bezugspunkten, die sich je nach der jeweiligen Konstellation bewegen und dadurch ihrerseits die früheren Bezugspunkte im Raum verlagern. Mit dem Foucault-Forscher und Übersetzer seiner Schriften der Dits et Écrits Daniel Defert können gegenüber der traditionell und metaphysisch verfassten Topik mit der Utopie und der Heteterotopie „zwei Diskursmodalitäten“ unterschieden werden, „die der gewöhnlichen Erfahrung widersprechen. Die Utopie entfaltet sich an einem Nichtort des Raumes, die Heterotopie an einem Nichtort der Sprache.“ Um dies über Defert30 hinaus zu erklären, würde dies bedeuten, dass die Utopie, der Unort, der Platz, der noch keinen Ort in der Realität gefunden hat, nur durch die Sprache imaginiert und beschrieben werden kann, während die Heterotopie nur einer spatialen, architekturalen und akustischen Erfahrung zugänglich ist, die keinen Ort in der Sprache hat. Deswegen ist es kein Zufall, dass der frühe Text von Foucault über 30

Michel Foucault: Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Frankfurt am Main 2005, S. 75.

DER GEGEN-RAUM/DIE HETEROTOPIE

die Heterotopien von 1966 zuerst so intensiv auf die Architekturdiskussion gewirkt hat und dann, nach meiner Auffassung, mit dem doppelt nachgeholten und fiktiven Diskurs zwischen Boulez und Foucault, im musikalischen Raum-Konzept des Ircam und den beiden szenographischen und architekuralen Raum-Konzeptionen des Dialogue de l’ombre double und den Répons entsprechende Konsequenzen gezeitigt hat, und zwar mit der Betonung darauf, dass diese Heterotopien als Gegenräume nicht nur solche des technologischen Wissens, sondern vor allem solche von Macht sind. Pierre Boulez hatte in seinem Nachruf auf Michel Foucault, seinen Kollegen am Collège de France, auf die tiefe Affinität im Denken beider hingewiesen und es beklagt, dass diese nicht mehr zu entsprechenden expliziten Formen der Zusammenarbeit geführt habe. Der Raum, der musikalische und virtuell technologische nicht weniger als der theoretische der „Heterotopie“, wäre und ist nach meinen Darlegungen ein solches Thema gewesen, das die beiden zutiefst verbunden hat.

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Joseph Imorde DAS EPHEMERE. (WOLKEN, DÜNSTE, NEBEL)

Wer über künstlerische Ereignisse der Vergangenheit sprechen möchte, über Ereignisse, die als vergängliche geplant waren, wer also über das Ephemere im Allgemeinen und über ephemere Kunst und Architektur im Besonderen sprechen will, muss – ganz selbstverständlich und auch ganz unvermeidlich – damit beginnen, das ehemals zeitgebundene Vorkommnis, eben jene real vergangene, längst hinfällig situative ‚Verfransung‘ von Zeit und Raum, von äußerer Handlung und innerem Erleben, in neue Sphären hineinzustellen, das heißt, in neue Räume und andere Zeiten, in gewandelte gesellschaftliche Zusammenhänge und auch in geänderte Gefühls- und Bewußtseinszustände. Das Problem einer auf Vergänglichkeit angelegten, situativen Kunst liegt auf der Hand, sie entzieht sich, weil kurzlebig und kontextsensibel, der Wiederhol- und Wiederherstellbarkeit. Was vom historischen Ereignis bleibt, ist immer schon Dokument oder Repräsentation – und was Kunstwissenschaft und Architekturtheorie an ephemerer Kunst und Architektur bearbeiten, deshalb geradezu ausnahmslos erliehen und aus zweiter Hand. Das Flüchtige des Augenblicks wird allein kraft eines oft intendierten Medienwechsels in die relative Ewigkeit des Diskurses gerettet – Gegenwart muss zur Vergegenwärtigung werden, das situative Ereignis sich in eine Erzählung, einen Text, ein Schema oder Bild verfestigen, um einem aktiven Erinnern weiterhin zur Verfügung zu stehen und gegebenenfalls auf zukünftige Ereignisse selbst wieder sich auszuwirken.1 Diese dokumentierenden ‚Feststellungen‘ ehemals situativer Gegebenheiten verfolgen natürlich eigene, durchaus bestimmbare Absichten, so etwa – um hier ein Beispiel repräsentativer Druckgraphik der frühen Neuzeit zu zeigen – die schematische Wiedergabe performativer Akte in einem zeremoniell genutzen Raum. Der Stich Étienne Dupéracs erschien 1578 als Teil eines größeren Werkes, nämlich Antoine Lafrérys Speculum romanae magnificentiae, dem Spiegel römischer Pracht, und allein deshalb ist die Graphik sowohl als Propagandablatt anzusehen wie auch

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Walter Benjamin: GS VI. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1985, S. 126-127 [fr 96], hier S. 126: „Das Medium, durch welches Kunstwerke auf spätere Zeiten wirken, ist immer ein anderes als das, durch das sie in ihrer Zeit wirkten, es wechselt auch in jenen spätern Zeiten den alten Werken gegenüber immer wieder. Immer aber ist dieses Medium verhältnismäßig dünner als dasjenige, auf das diese Werke zur Entstehungszeit auf ihre Zeitgenossen wirkten.“

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als Symptom des europaweiten Interesses an päpstlicher Liturgie und kurialem Zeremoniell. Der Stich Dupéracs gibt eine Papstmesse in der Sixtinischen Kapelle zur Zeit Gregors XIII. (Buoncompagni) wieder (Abb. 1) und konzentriert sich dabei auf die Verortung potentieller Teilnehmer zu Beginn einer solchen Messfeier. Anhand der Legenden läßt sich detailliert nachvollziehen, welcher Amts- und Würdenträger wo in der Kapelle Platz nehmen sollte. Das Blatt muss unter anderem im Rahmen der reformatorischen Bemühungen Gregors XIII. gesehen werden, die Riten und Zeremonien am päpstlichen Hof neu zu ordnen. Dieses Vorhaben führte 1574 zur Gründung der Congregatio pro sacris ritibus et caeremoniis, der heute noch bestehenden Ritenkongregation, deren Aufgabe es war, die einzelnen Rituale auf verbürgte Gebräuche zurückzuführen und sie aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter neu zu begründen. Dabei ging es insbesondere darum, die pontifikale Präzedenzordnung zu rechtfertigen, aber nicht weniger auch darum, die nicht seltenen Verstöße gegen das hierarchische Decorum vor allem von Seiten weltlicher Würdenträger zu unterbinden.

Abb. 1 Étienne Dupéracs, Capella Sistina, 1578

In Dupéracs Bild der liturgisch-politischen Inszenierung wird eine Projektion schöner Ordnung ins Dauerhafte gerettet. Die Idealität des hierarchischen Weltund Gesellschaftsmodells macht der Künstler dadurch besonders sinnfällig, dass er

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gleichsam eine perspektivisch in den Raum gekippte Sozialpyramide wiedergibt, als deren Spitze und Fluchtpunkt der aus den Wolken herab richtende Christus in Michelangelos Jüngstem Gericht figuriert und als deren Basis die vielen, von den Chorschranken ausgeschlossenen Zuschauer gelten dürfen – unter die natürlich auch wir uns einzureihen hätten.2 Es ließe sich mit Georg Braungart von einer „Semiotisierung des Raumes“, in diesem Falle von einer Semiotisierung des dargestellten Raumes, sprechen, in der die soziale Differenz und Dependenz der einzelnen Personen sich an ihrer jeweiligen Verortung oder Plazierung bemißt, sich definiert durch Nähe oder Ferne, durch Einschluss oder Exklusion, aber auch durch die jeweils beengten oder eben offenen Handlungsspielräume. In diesen relationalen Mischungs- und Entmischungsvorgängen spielen Architektur und Kunst eine organisierende, anleitende und verweisende, das heißt eine durchaus dienende Rolle. Durch die künstlerische Ausstattung – also etwa durch jene, im Stich Dupéracs angedeutete Tapisseriefolge Raffaels – werden die religiösen und historisch-politischen Implikationen des kurialen Zeremoniells und der pontifikalen Liturgie entfaltet und in die reflektierende Anschauung gehoben, durch Musik und Choreografie, durch Kleidungswahl und Kostümaufwand, durch Textil-, Licht- und Blumenschmuck, die soziale Disziplinierung mit der Darreichung sinnlicher Sensationen gesteigert und in phänomenaler Weise bekräftigt. Erst der Vollzug der als heilig angenommenen Handlungen gibt dem architektonischen Raum seine besondere Dignität, erst die geordnete Außerordentlichkeit der feierlichen inszenierten Handlungen holt die Kunst ins Leben und offenbart das Potential der in ihr niedergelegten Bedeutungsinhalte. Artefakte sind in diesem Sinne aktivierungsabhängig, benötigen immer wieder neue situative und performative Zurichtungen. Und natürlich ist klar, dass die Hintergründe und Motivationen dieser Verlebendigungen wechseln, weil auch die Protagonisten der performativen Handlungs- und Betrachtungsakte immer wieder andere, immer wieder neue sind. Das Problem des Ephemeren und der ephemeren Kunst wird eingedenk dieses Umstandes zu einem des miterlebenden, des ‚ästhetisch handelnden‘ Subjekts, das in Abhängigkeit davon, woher es kommt und wohin es geht, wo es sich gesellschaftlich verortet und wie es sich zur Kunst stellt, das Ereignis erst produziert und damit die künstlerischen Gegenstände, wenn es sich denn um solche handelt, in die eigene Wirklichkeit hineinzieht. Das wesentliche eines Raumeindrucks kann da rein sekundären, eben flüchtigen Aspekten entspringen, einem Amalgam von Eindrücken, das nicht nur der zweifelsfreien Analyse Widerstand entgegensetzt, sondern auch keine Entsprechung an anderen Orten und in anderen Zeiten findet. 2 Vgl. dazu Tristan Weddigen: Raffaels Papageienzimmer. Ritual, Raumfunktion und Dekoration im

Vatikanpalast der Renaissance, Emsdetten/Berlin: Edition Imorde 2006.

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Diese prägende Einmaligkeit setzt dennoch einen Maßstab, auch wenn er nie vom Unwägbaren und Kontingenten des Erlebnisses abstrahiert werden kann. Vielleicht rühren die offenen Fragen und widersprüchlichen Antworten um ‚Raum‘ und ‚räumliche Qualitäten‘ gerade daher, daß in jedem Fall eine Inkongruenz im Spiel ist, eine Diskrepanz zwischen dem, was festgemacht und vermessen werden kann und dem, was sich nur in der Beschreibung eines Erlebnisses niederschlägt.3

In diesem umfassenden Sinne könnte fast alle ‚Kunst‘ situativ und damit ephemer genannt werden, geht es doch auf der individuellen Ebene immer um die nachwirkende Relevanz der Begegnung mit einem Werk, also um Erinnerung, Interpretation und Kommentar, womöglich später um Zitat, Adaption oder Parodie4, zuerst also um einen Vorgang der aufmerksamen Aneignung und dann um einen der nachwirkenden Verarbeitung eines zeit- und raumgebundenen Ereignisses.5 Heute steht die Sixtinische Kapelle vor allem einem ritualisierten Tourismus offen, der sich in der digitalisierten Archivierung der dort zu betrachtenden Attraktionen gefällt. Dabei sind die Erlebnisse und deren Dokumente nicht weniger aussagekräftig für eine hierarchisch organisierte Gesellschaftsordnung. Auch die da massenhaft produzierten Bilder verweisen auf ihre Entstehungsbedingungen, auch bei ihnen steht die Kunst zuerst in der dienenden Aufgabe, die Außerordentlichkeit des eigenen Erlebens in die relative Ewigkeit des privaten Archivs zu retten. Die Kunstwissenschaft – so scheint mir – steht trotz Bildwissenschaft und Visual Studies erst am Anfang, wenn es darum geht, die Bedingungen zur Wahrnehmung situativer Kunst in ihrer komplexen Kontextualität zu studieren, das heißt auch 3

Kurt W. Forster: Schwellen und Schleusen, in: Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Im Auftrag der Akademie der Künste herausgegeben von Angela Lammert, Michael Diers, Robert Kudielka und Gert Mattenklott. Zusammengestellt von Mechthild Cramer von Laue. Berlin: Akademie der Künste, Nürnberg 2005, S. 352-362, hier S. 354. 4 Gottfried Boehm: Kunstgeschichte ohne Kunst, Anmerkungen zum Funkkolleg ‚Kunstgeschichte‘, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 38 (1984), S. 959-963, hier S. 962, S. 962: „Wenn z.B. Hans Robert Jauß von ästhetischer Erfahrung spricht, meint er nicht nur eine historische Funktion von Kunst, sondern auch ihre aktuelle Geltung.“ Zur Problematik und den Auswüchsen dieser Praxis Schwartz’: Déjà vu, S. 320-336 [Harter Stoff ], hier S. 323: „Wissenschaftler werden nur noch danach beurteilt, wie oft andere sich auf ihre Arbeiten beziehen. So kann der Bezug wie das name dropping einfach zu einem Mittel werden, einen Freund zu belohnen, einen Mentor zu ehren, sich in den Mainstream einzuordnen, Zweifel gegenüber einem Fremden zum Ausdruck zu bringen, die Verantwortung für eine riskante Idee von sich zu weisen, Fairneß zu zeigen oder Bildung anstelle von Brillanz zu demonstrieren.“ Und: Schwartz, Hillel: déjà vu. Die Welt im zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit. Aus dem Amerikanischen von helmit Ettlinger. Berlin 2000, S.323 5 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt am Main 1997, S. 261-262: „Einführung und Modifikation von Motiven, Abstraktion und Ausarbeitung von Mustern, Differenzierung und InBeziehung-Setzen von Transformationsmodi, sie alle sind Prozesse konstruktiver Suche; und die auf sie anwendbaren Maßstäbe sind nicht die des passiven Vergnügens, sondern die der kognitiven Effizienz: Feinheit der Unterscheidung, Integrationskraft und proportionale Ausgewogenheit zwischen Wiedererkennen und Entdecken. Ja, eine der typischen Weisen, unser Wissen zu vermehren, liegt in der fortschreitenden Variation eines Themas.“

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flüchtige und ephemere Aspekte als bedingend für die Kunst- und Raumerfahrung zu akzeptieren und zu bearbeiten. Wer von Rezeptionsästhetik spricht oder in allgemeiner Weise vom Betrachter redet, überschreibt das komplexe Zusammen von inneren Prädispositionen und äußeren Handlungsanweisungen noch immer mit der Konstruktion eines überindividuellen, womöglich interesselosen Subjekts. Der Begriff des Betrachters, der traditionellerweise eine visuelle, räumlich distanzierte Wahrnehmung voraussetzt, wird zusehends von Begriffen wie Mitspieler, Teilnehmer, Benutzer oder Besucher abgelöst, der Begriff Rezeption durch Worte wie Immersion, Teilhabe, Empathie und auch Konsumption.6 Eintreten und Eintauchen, statt Gegenübertreten und Davorbleiben, sind die Spielregeln von Environment und Installation.7 Die in heutiger situativer Kunst inkludierten Zeit-, Wahrnehmungs- und Handlungsräume erfordern auch neue heuristische Perspektiven und Ansätze, neue Versuche dazu, mitgebrachte Prädispositionen oder auch propriorezeptive Vorgänge zu bearbeiten, das heißt individuelle Gefühls- und Empfindungslagen als Bedingungen von Architektureindruck und Kunsterlebnis ernstzunehmen und analysieren zu wollen. Nicht umsonst sind szenografische Begriffe wie Stimmung, Atmosphäre oder Ambiente in der Architektur-, Kunst- und Medientheorie gerade von hoher diskursiver Relevanz, weil es in ihnen um die dynamische Interdependenz von äußerer Wahrnehmung und imaginativer Zurichtung des Raumes geht. Der italienische Architekt Aldo Rossi hat 1981, zu Beginn seiner wissenschaftlichen Autobiographie, einen Besuch in der Kirche Sant’Andrea in Mantua beschrieben und dieser kurze programmatische Bericht kann hier dazu dienen, das bisher Gesagte illustrierend zusammenzufassen und auf die im Folgenden behandelten Beispiele – Beispiele überwiegend nebulöser Art – vorauszuweisen: Meine bloße Anwesenheit in Sant’Andrea in Mantua – so Rossi – erzeugte in mir den ersten Eindruck jener Verschränkung zwischen Zeit [tempo], im atmosphärischen und chronologischen Sinne, und Architektur; denn ich sah, wie ein Nebel langsam in die Basilika eindrang, so wie ich ihn gerne beobachtete, wenn er in die Galleria in Mailand hineinwallte: Dieser Dunst war das unerwartete Element, das alles verändert […].8

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Philip Ursprung: Diller + Scofidios Blur Building, in: Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Im Auftrag der Akademie der Künste herausgegeben von Angela Lammert, Michael Diers, Robert Kudielka und Gert Mattenklott. Zusammengestellt von Mechthild Cramer von Laue. Berlin: Akademie der Künste, Nürnberg 2005, S. 99-107. 7 Robert Kudielka, Gegenstände der Betrachtung – Orte der Erfahrung, in: Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Im Auftrag der Akademie der Künste herausgegeben von Angela Lammert, Michael Diers, Robert Kudielka und Gert Mattenklott. Zusammengestellt von Mechthild Cramer von Laue. Berlin: Akademie der Künste, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2005, S. 44-57, hier S. 53. 8 K. W. Forster: Schwellen und Schleusen, a.a.O., S. 356. Forster zitiert und übersetzt aus Aldo Rossi, A Scientific Autobiography. Cambridge (Mass.): Oppositions Books 1982, S. 2.

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Die Architektur Leone Battista Albertis verliert durch das ephemer-atmosphärische Ereignis – das heißt im Moment der Betrachtung – alle kalendarischen und topographischen, das heißt alle bestimm- und messbaren Determinatoren und tritt in gänzlich veränderter Form als Raum in Erscheinung und löst bei Rossi Erinnerungen an die eigene Kindheit in Mailand aus. Es sind zweifelsohne Anmutungen dieser Art, die der amerikanische Künstler Lee Boroson in seinen immer ortsspezifischen Arbeiten für eine relativ kurze Zeit ‚festzustellen‘ versucht, so etwa in der Installation Lucky Storm von 2004, die er schon für verschiedene Orte je neu arrangiert hat. (Abb. 2 u. 3) Aus einer scheinbar geschlossenen Wolkendecke fallen Strahlenbündel auf den Boden des Galerieraums und materialisieren dort übergroße Talismane und Glücksbringer. Das Zusammen aus hinterleuchteten farbigen Fallschirmstoffen, aus Nylonschnüren für Angler und läsergeschnittenen Stahlplatten simuliert im ‚white cube‘ des Galerieraums ein ‚atmosphärisches‘, das heißt ein phantastisch-stürmisches Naturvorkommnis, dessen Attraktion sich aus den paradoxen Verknüpfungen von Außen und Innen, von natürlicher Referenz und künstlicher Materialität entwickelt.

Abb. 2 Lee Boroson, Lucky Storm, 2004

Was Boroson dabei nach eigener Aussage interessiert, ist das fließende Verbinden von Architektur und Installation, ein ‚atmosphärisches‘ Dazwischen, das nicht die architektonischen Volumina adressiert, sondern eben den Raum, der zwischen Handlungen, Personen und Ereignissen liegt, eine ätherisch-fluide Sphäre, in der sich – wie Boroson sagt – erst die Dinge formen und ins Leben kommen.

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Abb. 3 Lee Boroson, Lucky Storm, 2004

Was der ‚Bildhauer‘ beabsichtigt, ist, die Welt als das wiederzugeben, was sie ist, als „eine ephemere Verwicklung miteinander wetteifernder Zustände“.9 Trotz dieser eher abstrakten Zielvorgabe sind die Installationen nicht frei von kunsthistorischen Anleihen. Boroson, der an der Rhode Island School for Design Skulptur lehrt, nennt als Einfluß die Hudson River School und besonders Gemälde von Thomas Cole, aber auch barocke Kunstwerke wie etwa Gianlorenzo Berninis Cornaro Kapelle in Santa Maria della Vittoria in Rom, in der nicht nur überweltliche Wolken und Lichtstrahlen von oben her das Gebäude durchdringen, sondern auch die Figurengruppe sich scheinbar aus einem immateriell-imaginativen Vapor formt und als sockelloses Bildwerk in einer hochartifiziellen Architektur aus Buntmarmoren gen’ Himmel schwebt. (Abb. 4 u. 5) Mit ‚atmosphärischen‘ Wirkungen in einem nicht nur verweisenden, sondern in einem ausgesprochen buchstäblichen Sinne – ähnlich vielleicht wie bei Aldo Rossi beschrieben – arbeitet bekanntermaßen der dänische Künstler Olafur Eliasson. Eines der Beispiele, das sich mit Dünsten auseinandersetzte, war die Installation The mediated Motion, die in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Landschaftsarchitekten Günther Vogt 2001 im Kunsthaus Bregenz realisiert wurde. Der Parcours durch das Haus von Peter Zumthor stapelte gleichsam Raumdispositive übereinander, elementare Vergegenwärtigungen, die die Wahrnehmung der Besucher wortwörtlich in selbstreflexive Bewegung setzen sollte, in jene beschworene ‚mediated 9 Lee Boroson: „We rely on the stability of principles that govern in our perception of reality. When this notion (of stability) deteriorates, we become aware of opportunities to make strange the familiar, and reveal our world as the ephemeral snarl of competing conditions that it is.“

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motion‘. (Abb. 6) Der vielleicht beeindruckendste Raum war jener, den der Künstler mit Nebel gefüllt hatte und der auf einer Hängebrücke durchschritten, besser wohl schwankend durchfühlt werden mußte. Diese gleichsam irreale Realität zwang Wirklichkeit und Repräsentation in ein räumlich-phänomenales Erlebnis zusammen, und damit in eine wohl intendierte Gleichzeitigkeit, mit der Eliasson und Vogt

Abb. 4 View from Mount Holyoke, Northhamptom, Massachusetts, after a Thunderstorm (The Oxbow), 1836

Abb. 5 Gianlorenzo Bernini, Capella Corsaro, Santa Maria della Vittoria, Rom (Foto: Fabio Barry)

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Abb. 6 Olafur Eliasson, The Mediated Motion, 2001

offenbar beabsichtigten, die Übertragung des ephemeren Ereignisses ins künstlerische Medium als permanentes Hin und Her, als ein unentschiedenes Schweben zwischen repräsentativer Wirklichkeit und wirklicher Repräsentation zu thematisieren. Eine noch stärkere immersive Wirkung, eine, die bis unter die Haut ging, löste das Blur-Building von Elizabeth Diller + Ricardo Scofidio aus, das auf der Schweizer Landesausstellung 2002 in Yverdon-les-Bain zu sehen war. Der Besuch dieses immateriellen Ausstellungspavillions im Neuenburger See hatte insofern etwas sublim Verstörendes, als das Ereignis, ich meine das Begehen der Wolke, die theoretischen Vorüberlegungen zur dekonstruktiver Architektur oder zu den Folgen globaler Erwärmung schlicht zum Verschwinden brachte, denn plötzlich sprangen im nebligen Nass dieses außenräumlichen Interieurs Erinnerungsschubladen auf, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, daß sie existierten. Das von den Architekten beabsichtige „white out“ in der ‚Wolke‘ ließ in der Tat die Konstruktion und Inszenierung verschwinden, brachte aber etwas anderes zutage, nämlich klarste Erinnerungensbilder an Nebelerlebnisse meiner frühsten Kindheit. (Abb. 7) Die sich im ‚Blur‘ einstellenden Erinnerungen hatten für sich weiter nichts Spektakuläres, doch zogen sie meine Aufmerksamkeit für eine verstörend

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angenehme Ewigkeit von der ‚Nothingness‘ der Architektur ab und in eine absonderliche ‚Selfawarness‘ hinein, die die Situation – gleichsam in Rückkopplung –, das heißt aus dem Gedächtnis heraus aktivierte und den Raum in meinem ganz individuellen Sinne ‚her- und zurichtete‘. Das gab dem scheinbar Sinnlosen plötzlich Sinn und eröffnete die Möglichkeit, das Ereignis auch als persönliches zu historisieren. Ähnliches – soviel darf man annehmen –, hatte wohl Aldo Rossi 1981 in Sant’Andrea erlebt, als die ‚padanen‘ Nebelschleier in die Kirche Leon Battista Albertis hineinkrochen. Was mir einige Zeit später durch den Kopf ging, als ich die ‚Wolke‘ wieder vom Strand aus sah, aus einigem Abstand und damit wieder als Kunsthistoriker, war der Umstand, dass Leonardo da Vinci in seinem Malereitraktat angehenden Künstlern

Abb. 7 Diller + Scofidio, Blur Building, 2002

hatte raten können, Wolken zu betrachten, denn das fördere die Imaginationskraft. Zudem zeichne die Fähigkeit, ephemere Erscheinungen, wie Wolken, Dünste und Nebel darzustellen, die Malerei vor allen anderen Künsten aus, weshalb ihr im Rangstreit der Künste auch der erste Platz gebühre.10 Dieser Rangstreit der Künste wurde für mich im und durch das Blur-Building letztgültig eingedampft. (Abb. 8) Doch hatten Diller + Scofidio mit dieser Erlebnismaschine auch einen Diskursbeitrag in den Neuenburger See gestellt. Sie nahmen damit Stellung zu Debatten um Raum 10 Leonardo: Trattato della pittura. Introduzione e apparati a cura di Ettore Camesasca. Milano: TEA – Tascabii dehli Editori Associati 1995, S. 58 [S. 63. Modo d’aumentare e destare l’ingegno a varie invenzioni].

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und Atmosphäre, um das Verhältnis von Kunst und Spektakel, und ironisierten, zumindest für mich, eine damals in der Schweiz und besonders an der ETH-Zürich lebhaft geführte Diskussion um Nachhaltigkeit und Regionalismus in der Architektur. Die Arbeit hatte in diesem diskursiven Sinne etwas ‚Modernes‘, denn sie reihte sich ein in die lange ‚Tradition des Antitraditionalismus‘, wollte mit dem inszenierten und gedankenschweren ‚Nichts‘ durchaus ‚Viel‘ und ‚Neues‘ bieten, ohne dabei aber beim Publikum die sonst typischen Allergiereaktionen gegen das ‚Sinnlose‘ und ‚Nichtmehrschöne‘ auszulösen. Bemerkenswerterweise stand das Blur-Building auch entwerferisch und konzeptuell in einer spezifisch modernen Tradition, folgte nicht zufällig Vorbildern wie dem Pepsi-Cola-Pavillon auf der Weltausstellung in Osaka 1970. Dieses Gebäude, das von

Abb. 8 Diller + Scofidio, Blur Building, 2002 (Foto: Michel Jeandupeux)

der 1967 gegründeten Gruppe E. A. T. – Experiments in Art and Technology realisiert wurde (gegründet von dem Ingenieur Bill Klüver und dem Künstler Robert Rauschenberg), enthielt damals allerlei Einbauten, so zum Beispiel eine interaktive Spiegeldecke, und zusätzlich eine der ersten Lasershows, die von dem Komponisten elektronischer Musik, David Tudor, und einem Physiker der University of California in Berkeley namens Carson Jeffries entwickelt worden war und dann von Osaka aus eine noch zu schreibende Erfolgsgeschichte durch die Clubs der Welt antrat. (Abb. 9 u. 10) Die sphärisch gebrochene Hülle des Außenbaus umgab die 1933 in Sapporo geborene japanische Künstlerin Fujiko Nakaya mit einem künstlichen Nebel, dessen technische Umsetzung dank der engen Zusammenarbeit mit Ingenieuren und

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Physikern nicht nur gelang, sondern dann auch erfolgreich in der industriellen Landwirtschaft einer gewerblichen Nutzung zugeführt werden konnte. Die seit der Zeit mit Wolken, Dünsten und Nebeln arbeitende Fujiko Nakaya – Tochter eines frühen Klimaforschers – wurde auch beim Blur-Building beratend hinzugezogen und gab – nach Auskunft der amerikanischen Architekten – die entscheidenden Hinweise zur Platzierung und Justierung der Vernebelungsdüsen. Ohne sie hätte es die Wolke im Neuenburger See so nicht gegeben.

Abb. 9 Pepsi-Cola-Pavillon, Weltausstellung Osaka, 1970

Abb. 10 Pepsi-Cola-Pavillon, Weltausstellung Osaka, 1970

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In einem Essay zu Diller + Scofidio hat Aaron Betsky das Blur-Building ein „display“ genannt und die Architekten „Display Engineers“. Die Arbeit dieser „Ausstellungsingenieure“ oder Szenografen – so Betsky – bestehe vor allem darin, das ubiquitäre Ausstellen und Ausgestelltsein selbst wieder auszustellen und damit die Kultur des Displays einer kritischen Analyse zu unterziehen: „In short this artists display display.“11 Eine kuratorische Dimension dieser selbstreflexiven Technik, das Ausstellen selbst wieder auszustellen, ließ sich vor einiger Zeit auf der vierten Berlin Biennale On Mice and Men bewundern, wo entlang der Auguststrasse in Berlin Mitte verschiedenste Gebäude und Wohnungen zugänglich gemacht wurden, um zwischen den Dingen des Alltags Kunst auszustellen. Darunter wurden auch Gebäude genutzt, die bis dahin nicht besichtigt werden konnten, wie die 1930 errichtete Jüdische Mädchenschule des Architekten Alexander Beer, in der mich – an sich schon aussagekräftig – die Arbeit des Dokumentar-Filmers Bruce Connor am stärksten beeindruckte. Den Film Crossroads, den ich bis dahin nicht kannte, hatten die Kuratoren und Kuratorinnen offenbar mit einigem Bedacht in der Mädchenschule platziert. Der 1976 entstandene Film zeigt ‚found footage‘ aus den National Archives in Washington und wiederholt aus 27 Kameraperspektiven und in verschiedenen Geschwindigkeiten den ersten Unterwasseratombombenversuch, der am 25. Juli 1946 im Bikini-Atoll durchgeführt wurde. (Abb. 11 u. 12) Die Montage des dokumentarischen Materials, das im ersten Teil durch Musik von Terry Riley, im zweiten durch eine von Patrick Gleeson begleitet wird, zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Bilder zusehends ihren Schrecken verlieren und in der Repetition und der zum Schluß sehr starken Verlangsamung an imaginativer Attraktivität gewinnen. Mir kam irgendwann der Gedanke, dass die Ausstellung des Films vielleicht so etwas wie eine Halbwertszeit des Medialen thematisiere, denn die geloopte Kopie kam natürlich von der DVD, so daß eine technisch-mediale Abfolge entstand: 1946 wurde das Filmaterial belichtet, 1976 auf 16 mm übertragen und 2006 in digitaler Form zur Ausstellung gebracht. Dieser Generationsabstand schien mir so bemerkenswert, dass ich dazu einige Recherchen betrieb, bei denen ich herausfand, daß die Halbwertszeit des Isotops Caesium 137, also die Halbwertszeit jenes radioaktiven Spaltprodukts, das nach den Atombombentests der späten 40er, der 50er und 60er Jahre (aber auch nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl) für die Belastung der Böden in aller Welt verantwortlich war und natürlich weiter verantwortlich ist, eben genau diese 30 Jahre beträgt. Was das räumlich-situative Zusammen von Film und Jüdischer Mädchenschule zu Bewußtsein brachte, war die von den Kuratoren und Kuratorinnen formulierte Zielsetzung der Ausstellung: nämlich der „Abstieg in die zerklüfteten Spiralen der

11 Aaron Betsky: „Display Engineers“, in: Scanning: The Aberrant Architectures of Diller + Scofidio, New York, Whitney Museum of Art 2003, S. 23-36.

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Abb. 11 u. 12 Bruce Connor, Crossroads, 1976 (Stills)

Zeit“. Diesen Vorsatz könnte man nun ohne weiteres auch als Motto für das Fach Kunstwissenschaft verwenden, denn in ihm geht es nach meiner Auffassung um nichts anderes, als die verschlungenen Kontextualitäten ephemer-situativer Ereignisse wieder in dokumentierende ‚Feststellungen‘ hineinzuretten, eine Aufgabe, in der das schwebende Verhältnis von Gegenwart und Vergegenwärtigung immer wieder neu und immer wieder anders zu bestimmen ist, in einer Heuristik theoretischer Verlebendigung und Selbsterzählung.

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Brigitte Marschall ÖFFENTLICHER RAUM ALS THEATRALER RAUM. PRAKTIKEN DES GEHENS UND STRATEGIEN DER STADTNUTZUNG

„Die Gesellschaft, die die geographische Entfernung abschafft, nimmt im Inneren die Entfremdung als spektakuläre Trennung wieder auf“, schreibt Guy Debord 1967 in La Société du Spectacle.1 Von Entgegensetzungen und Grenzziehungen ist unser gesamtes Leben begleitet, die wir als Gegebenheiten akzeptieren: Innen- und Außenraum, privater und öffentlicher Raum. Niemals leben wir aber in einem leeren, homogenen Raum, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der unsere Träume, Leidenschaften und unsere Wahrnehmungen clusterartig umspannt. Der mathematisch-physikalische Raum geht auf die Antike zurück. Über die Zentralperspektive und Descartes’ Koordinatensystem findet der geometrischphysikalische Raum bei Newton seine eigentliche Definition. Die Raumtheorien des 20. Jahrhunderts relativieren die physikalische Auffassung von Raum als ein messbares System, das unabhängig von den Bewusstseinsleistungen des Menschen existiert, und fragen nach dem spezifischen Verhältnis von physikalischem Raum und Erfahrungsraum. Die Expansion des öffentlichen Raumes am Ende des 19. Jahrhunderts hat die Raumtheorien wesentlich beeinflusst. Raum wird auf ein leibliches Subjekt bezogen, durch dessen Bewegungen Wahrnehmungen, räumliche Erfahrungen und damit Raum entsteht. Subjektive Erlebnisse, verbunden mit kulturellem Gedächtnis, prägen die Erfahrungen von Raum- und Zeitgrenzen. „Der menschliche Körper deckt ein ganzes Kaleidoskop von Lebensaltern, Geschlechtern und Rassen ab, und alle diese Körper besitzen einen eigenen, besonderen Raum in den Städten der Vergangenheit und der Gegenwart“, schreibt Richard Sennett in Fleisch und Stein.2 Sennett untersucht unterschiedliche Körperauffassungen, die er als prägende Dispositive für das Bild von Städten beschreibt. So waren etwa im 18. Jahrhundert Städte nach dem Modell eines im damaligen Sinne gesunden Körperverständnisses angelegt. Leitbilder vom Körper repräsentieren die soziale Ordnung der Städte, andererseits

1

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakel, Hamburg 1978, S. 146. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt am Main 1997, S. 32.

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beeinflussen wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Technologien sowohl das Bild der Städte als auch das jeweilige Körperverständnis. Das rasante Anwachsen von Großstädten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat nicht nur architektonische Veränderungen zur Folge, sondern beeinflusst auch die Bewusstseinsstrukturen, die Wahrnehmungsstrategien des modernen Menschen. Die Ordnungssysteme von Raum und Zeit manifestieren sich nicht länger über Begrenzung und Entfernung, über spezifische Zeiten und Orte, sondern in deren Fragmentierung und Auflösung. Die Geschwindigkeit der Durchquerung erschließt den Raum, erfasst ihn in seiner zeitlichen Dimension. Technische Errungenschaften produzieren visuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen; Zeitraffer und Zeitlupe konstruieren Zeitdimensionen, greifen in die empirischen Zeitverhältnisse ein, stellen neue Ordnungssysteme für den Raum auf. Maschinenkult, Geschwindigkeitsrausch und utopische Raumvorstellungen korrespondieren mit den Bedingungen und geforderten Leistungen des Alltags. Die Großstadt wird zum Bezugspunkt des Erlebens und der Reizüberflutung. Die Architekturen der Fragmentierung von Zeit, Ort und Raum sind „poetische Skelette des aristotelischen Raumes, anschauliche Labyrinthe des Denkens, Universen der Zertrümmerung von Kontinuität und Stetigkeit (auch im mathematischen Sinn). Mit Mitteln der (architektonischen) Realität wird die prinzipielle Bezweifelbarkeit, eben dieser Realität ausgedrückt“.3 Der politische Gebrauch von Raum, in dem neue soziale Macht-Gefüge entstehen können, soll über Walter Benjamins Beschäftigung mit dem Flaneur, der in den Pariser Passagen unterwegs ist, über die französische Avantgardebewegung Situationistische Internationale um Guy Debord bis Wolf Vostell und den Happenisten in den 1960ern verfolgt und nach zeitgenössischen Tendenzen befragt werden. Debords psychogeographische Karte der Stadt Paris scheint direkt an Walter Benjamins biosgraphische (Land)Karte, seine Suche nach der zum Raum gewordenen Kindheit in Berlin anzuknüpfen. Assoziative Bezüge der Themenbereiche führen aber auch zu den Praktiken des Umherschweifens in der Stadt, zu den Strategien des Protestes und zu Formen von politischem Widerstand in der Öffentlichkeit, dem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft in unterschiedlichen politischen Systemen. Gegen Formen der sozialen Aneignung der Stadt als Aktionsraum von (primär) Jugendlichen entfalten sich seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend Repressionsprogramme. Risikolos und völlig kontrolliert soll die Erlebnis- und Freizeitlandschaft öffentlicher Raum ablaufen. War Walter Benjamin als „Jäger“ nach einer zum Raum gewordenen Kindheit in der Warenwelt der Großstadt Berlin und in den Pariser

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Brigitte Marschall: Die Droge und ihr Double, Weimar 2000, S. 67. Vgl. Volker Fischer: Daniel Libeskind, in: Vision und Moderne, Das Prinzip der Konstruktion. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im deutschen Architekturmuseum, Heinrich Klotz (Hg.), Frankfurt am Main 1986, S. 376.

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Passagen unterwegs und ließ sich in den Orten des Müßiggangs treiben, verwandeln sich die Städte nunmehr in reine Konsumlandschaften. Für den Soziologen Klaus Ronneberger sind die Städte bereits vom Kapital und Konsum erlegt worden, die Stadt ist zur Beute der Einkaufszentren und Konzerne geworden. Die Theatralisierung und der Eventcharakter des öffentlichen Lebens basieren auf Produktionsstrategien, die den städtischen Raum als exklusives Dienstleistungsangebot bewerben. „Für das ‚Gesamterlebnis Stadt‘ spielen seit den neunziger Jahren neben Städtebau und Architektur zunehmend Themenparks, Musical-Theater und Multiplexkinos eine wichtige Rolle.“4 Die räumlichen Strukturen der Stadt reproduzieren gesellschaftliche und soziale Machtverhältnisse in Form der Städteplanung, der Architektur und des Designs. „Bei der Herrschaft um den Raum handelt es sich zweifellos um eine der privilegiertesten Formen der Machtausübung, da die Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen sich als Instrument der Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst durchsetzen lässt.“5 Entsprechen die sozialen Strukturen nicht denen der Macht, besitzen sie die Möglichkeit, Momente des Chaos, der Unregelmäßigkeit, in die Ordnung des Raumes zu bringen und eignen sich ihrerseits Machtstrukturen an. Der urbane, öffentliche Raum wird durch seine geographische Situierung, durch die Architekturen der Gebäude, Straßen, Grünflächen und ihrer Positionierung im Stadtbild und der darin lebenden Gesellschaften bestimmt. Sowohl geographische als auch gesellschaftliche Milieus stehen in einem Wechselverhältnis zu einander und bestimmen die Raumfunktionen und das Antlitz einer Stadt. Ein öffentlicher Platz erhält seine Funktion und Bedeutung erst durch das Zusammentreffen von Menschen. Der französische Soziologe Henri Lefèbvre unterscheidet politische, ökonomische und kulturelle Raumfunktionen und Raumnutzungen, die in Relation zur Gesellschaft stehen. Raum ist für Lefèbvre Produktionsmittel, Rohstofflieferant und Produkt sozialer Alltagspraxis. Die Strukturen und Funktionen verweisen auf einander, stehen in einem permanenten Prozess des wechselseitigen Austausches. Die Stadt schafft urbane Situationen, „in de[nen] unterschiedliche Dinge zueinander finden und nicht länger getrennt existieren“.6 In vorgegebenen Räumen vollziehen sich soziale Wirklichkeiten, andererseits werden durch die Handlungspraktiken des Körpers neue Räume konstituiert. Die Herstellung von Räumen ist für Lefèbvre ein Prozess, 4

Klaus Ronneberger u.a.: Die Stadt als Beute, Bonn 1999, S. 69. Ebd., S. 198. 6 Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte, Frankfurt am Main 1990, S. 127. 5

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ist „production de l’espace“. Handlungsaspekte bedingen die Entstehung von Räumen, verwandeln statische Räume in dynamische Materialisierungspunkte. Alltägliche Handlungen produzieren den Raum, der durch Strukturen, die das alltägliche Handeln lenken, bestimmt ist. Der städtische Raum „[…] ist in feste, abgestufte, hierarchisierte Strukturen eingezwängt, Gebäude in der Gesamtheit der Stadt, die von den sichtbaren oder unsichtbaren Grenzen der Erlässe und Verwaltungsverordnungen umschlossen ist.“7 Prozesse und Praktiken des Gehens konstituieren und strukturieren den gesellschaftlich Raum, der nach Lefèbvre nicht festgeschrieben ist, sondern im Akt des Gehens, des Verweilens erst produziert wird. Die Konstruktion der Räume wird so abhängig von den körperlich vollzogenen Handlungen. Die Prozesse des Gehens, die Schritte der Fußgänger, weben die räumlichen Grundstrukturen der Städte. Der öffentliche (städtische) Raum besteht aus sich überlagernden räumlichen und zeitlichen Teilräumen mit verschiedenen Funktionen und Bedeutungen, abhängig von ihrer gesellschaftsbedingten Geschichtlichkeit. Gesellschaften legen jeweils Orte fest, die in den jeweiligen Lebenszusammenhang integriert sind, zugleich aber in einer Art und Weise gebraucht werden, die sie aus dem alltäglichen Kontext herausheben und einer spezifischen Form des Verhaltens und der Wahrnehmung bedürfen. An diesen Orten können andere Räume entstehen, „in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“, schreibt Foucault.8 Diese Orte bezeichnet Foucault in Anlehnung an die nicht wirklichen Orte der Utopien als Heterotopien und zählt u.a. Theater, Friedhöfe und Bordelle hinzu, Schwellen- und Übergangsorte, an denen Zeiterfahrungen bewusst erlebt und Zeitvorstellungen für bestimmte Momente verändert werden können. Foucault gebraucht Raum für seine Machtanalysen und beschreibt Formen eines gesellschaftlichen Ausgeschlossenseins in (ein)geschlossenen Räumen. Die extremste Form der einschließenden Ausschließung ist das Lager. Michel de Certeau untersucht diese Handlungspraktiken und unterscheidet zwischen Ort und Raum. „Ein Ort ist die Ordnung (egal welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […] Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.“9 Certeau bezeichnet das System geographischer Elemente als Orteraum. Aus der Aktualisierung des Orteraums geht für ihn der Raum hervor. Erst im Akt des Gehens,

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Ebd., S. 140. Michel Foucault: Andere Räume, in: Aisthesis, hrsg. von K. Barck u.a., Leipzig 1990, S. 34-46, hier S. 39. 9 Michel de Certeau; Kunst des Handelns,/L’invention du quotidieu, Berlin 1988, S. 218. 8

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des Auswählens der Handlungsmöglichkeiten, wird aus dem Ort (lieu) ein Raum (espace). Der Raumbegriff wird als Handlungsvollzug gedacht, der in einer konkreten Situation stattfindet, dynamisch zwischen Agierenden verläuft, die zugleich auch wieder Beobachtende sind. „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.“10 Wahrnehmung hängt auch von der Art der Fortbewegung, vom Rhythmus der Bewegung ab. Die Figur, in der sich das Gehen als Inszenierung verkörpert, ist der Flaneur. Der Flaneur betritt die Straße wie eine Bühne, um sich selbst zur Schau zu stellen und die Anderen zu beobachten, am gesellschaftlichen Rollenspiel teilzunehmen. Für Walter Benjamin ist der Flaneur der Inbegriff der leiblichen Aneignung von Räumen. Ausgehend von der Architektur der Pariser Passagen entwirft Benjamin im und mit dem Bild des Flaneurs eine Gegenwelt, die mit der Zivilisation abrechnen soll. Benjamin bezeichnet die Stadt (Paris) als „Jagdgrund“.11 „Der Text ist ein Wald, in dem der Leser der Jäger ist. Knistern im Unterholz – der Gedanke, das scheue Wild, das Zitat – ein Stück aus dem Tableau. (Nicht jeder Leser stößt auf den Gedanken).“12 Wie der Leser ist auch der Spaziergänger – Benjamin nennt ihn den Flaneur – derjenige, der eine Stadt magisch zu lesen versteht. Zum Bild des Text-Jägers in der Gestalt des Lesers assoziiert Benjamin den Stadt-Jäger in der Gestalt des Flaneurs. Dieser vereinigt sowohl den Gegenstand (Text/Stadt) als auch die Person (Leser/Flaneur) zu einem Gefüge seiner Wahrnehmung. Der Flaneur, selbst der bürgerlichen Schicht angehörend, frönt in deren Augen dem dekadenten Müßiggang. „Doch schlägt im Flaneur auch ein längst verschollenes Geschöpf den träumerischen, den Dichter bis ins Herz treffenden Blick auf. Es ist der ‚Sohn der Wildnis‘, der Mensch, der von einer gütigen Natur einst der Muße anverlobt worden ist“,13 reflektiert Benjamin über Charles Baudelaire. Benjamin erkennt das anarchische Element und das subversive Potential, die im rauschtrunkenen Flanieren enthalten sind. Benjamin gestaltet mit der Figur des Flaneurs die Stadt als Interieur. Unter bewusstseinsschärfenden Augen-Blicken verwandelt sie sich zu markanten, topographischen Orten, deren Ausstattung und Inventar zu „inszenierter“ Erinnerung werden. Die aufgesuchten Binnenräume und Schauplätze skizzieren Bilder eines Rebus, deren

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Ebd., S. 218. Walter Benjamin: Passagen-Werk (GS V/1), Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt am Main 1982, S. 530. 12 Ebd., S. 963f. 13 W. Benjamin: Passagen-Werk (GS V/2), S. 969. 11

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Rätselcharakter aufgelöst werden möchte. Ein bisher vergessener Spielraum des Lebens bricht auf und zeigt, „wie die Materie dem Menschen mitspielt.“14 Als Repräsentant des neuen Großstadtmenschen wird Baudelaire im Abschnitt Baudelaire oder die Straßen von Paris im Passagen-Werk beschrieben.15 Benjamin interpretiert Baudelaire als Flaneur, der den Inbegriff jenes müßiggängerisch herumtreibenden Bourgeois darstelle, der seine Welt in Augenschein nimmt und sie wie in einem „Panorama“16 betrachtet. Charles Baudelaire nimmt drogenbedingt seine Umwelt verändert wahr und ist zugleich derjenige, der mit den ökonomischen und soziokulturellen Prozessen im Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts konfrontiert wird. Baudelaires drogeninfizierte Innen-Welten kommunizieren mit jenen fortschrittsgläubigen Außen-Welten der Großstadt Paris, die für ihn den Inbegriff des modernen Babylon darstellte. Benjamin versteht den Dichter der Fleurs du Mal als den ersten Lyriker, dessen Werk vom Großstadtleben geprägt wurde, und sieht in ihm den typischen Vertreter einer kapitalistischen Bourgeoisie: der Müßiggänger und Flaneur, der in den Pariser Passagen, jenen nach außen offenen Innenräumen, spazieren geht und im Schutz der Menschenmengen Konsumgüter in Augenschein nimmt und mit Hilfe von „chocs“ zu einer entfesselten Warenästhetik aufgestachelt wird. Benjamin interpretiert Baudelaires müßiggängerische Haltung, die sich gegen das unmenschliche Tempo der Industrialisierung und gegen den Fortschrittswahn richtete, als radikales Aufbegehren. Baudelaire konnte nur schwer seine Beobachterperspektive verlassen, da ihn das Haschisch, im Endstadium seiner Syphilis-Infektion auch der Alkoholgenuss, permanent in einen tranceartigen Schwebezustand versetzte. Gleich den Schildkröten protestierte er gegen Hast und Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es nämlich „zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen.“17 Das für die Wahrnehmungswelt des Flaneurs charakteristische Phänomen der Durchdringung kannte Benjamin aus seinen eigenen Drogenversuchen. Die innere Identifikation wird schließlich auch zu einer räumlichen erhoben. „Das Raumproblem (Haschisch, 14 Walter

Benjamin: GS I/2, a.a.O., S. 490. Benjamin plante, den Essay über Baudelaire aus dem Passagen-Werk herauszunehmen und ein dreiteiliges Buch mit dem Titel Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus zu schreiben. Von diesem Buch stellte er nur den Mittelteil fertig: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. 16 Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: W. B.: Abhandlungen, 2, Frankfurt am Main 1991 (GS, I/2), S. 509-604, hier S. 537. 17 W. Benjamin: Abhandlungen (GS I/2), a.a.O., S. 556f. 15

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Myriorama) abgehandelt unter dem Stichwort ‚flanieren‘“, notiert Benjamin.18 Aufgrund seines Drogenkonsums beginnen die Objekte seiner Umgebung sich diesem Spaziergeher anzuverwandeln. Die Droge zwingt ihn zur Einsicht in die Warenwelt, die in den Pariser Passagen präsentiert wird. Nur unter der Perspektive des Haschisch ist die von Benjamin konstatierte „Warenseele“19 des Flaneurs zu verstehen. „[Die] erstarrte Unruhe ist übrigens die Formel für Baudelaires Lebensbild, das keine Entwicklung kennt.“20 Diese Erstarrung, die auch für den Gefühlszustand des grübelnden Allegorikers charakteristisch ist, trägt im Fall Baudelaires eine drogenstimulierte Signatur. „Baudelaire ist kein philosophischer Kopf; dagegen stellt er in ungemein eindringlicher Weise die Verfassung des Grüblers dar. Seine Melancholie ist von der Art, die die Renaissance als die heroische gekennzeichnet hat. Sie polarisiert sich nach Idee und Bild. […] Diese Veranlagung hat Baudelaire durch den Gebrauch von Rauschgiften in eigentümlicher Weise in Funktion gesetzt.“21 Die Zuschreibung von Namen an Orte und das Erinnern von Geschichten an diesen Orten geben die Möglichkeit, den Alltag zu verorten. Das gehende Ich setzt sich in Verhältnis zu den Anderen, zur Vergangenheit. Kindheitserinnerungen und Metaphern von Orten gliedern den Raum des Lebens – bios – graphisch in eine (Land)Karte. Der Raum gewordenen Kindheit gilt Benjamins Spurensuche. „Lange, jahrelang eigentlich, spiele ich schon mit der Vorstellung, den Raum des Lebens – Bios – graphisch in einer Karte zu gliedern“.22 Die Verortung von Lebensgeschichten und ihre räumlichen Markierungen löst Benjamin in der Berliner Chronik ein, in der die Kindheit zu anthropologischen Orten der Erfahrungen und Erinnerungen wird. Vergessene Vergangenheit wird als Wahrnehmung von Lebens-Räumen zur Erinnerung gebracht. Mnemotechnisch werden die Gegenstände und Fundstücke des Bewusstseins und der Erinnerung, die wie in einem Magazin lagern, im Augenblick der Vergegenwärtigung geistig sehend abgeschritten. Die topographische Organisation einer Stadt läßt psychosoziale und soziometrische Strukturen (wieder-)erkennen. Diese Verortung und Übersetzung in räumliche Cluster illustriert die Raumgebundenheit von Erinnerungen, relevanten Konfigurationen und Initiationspersonen. Ihre wechselseitigen Beziehungen und ihr Aktionsradius lassen den Prozess der Sozialisierung nachzeichnen. Die Stadt (Berlin und

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Ebd., S. 1028. Benjamin: Das Passagen-Werk (GS V/1), a.a.O., S. 466. 20 Ebd., S. 414. 21 W. Benjamin: GS I/3, a.a.O., S. 1151. 22 W. Benjamin: GS VI, a.a.O., S. 466. 19 W.

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Paris) erscheint Benjamin als Leben und das erinnerte Leben als topographischer Ort dieser Suche. „Magische“ Schauplätze führen in den Innenraum der Erfahrungen. Vergessene Vergangenheit wird als Wahrnehmung von Lebens-Räumen zur Erinnerung gebracht. „Ich habe mir ein Zeichensystem ausgedacht und auf dem grauen Grund solcher Karten ginge es bunt zu, wenn die Wohnungen meiner Freunde und Freundinnen, die Versammlungsräume, […] die Hotel- und die Hurenzimmer, die ich für eine Nacht kannte, die entscheidenden Tiergartenbänke, die Schulwege und die Gräber [...], wenn all das dort deutlich unterscheidbar eingetragen würde.“23 Die imaginierten Stätten der Kindheit beschreiben so über den Weg der topographischen Erinnerungen zugleich immer auch zeitlich fixiertes Geschehen. Die Fundorte reihen sich, über ihre räumliche Zuordnung hinaus, ein in die Zeit-Dimension der jeweiligen Lebensabschnitte. Die Fundstücke und erinnerten Gegenstände werden assoziativ imaginiert und in Raum-Chiffren übertragen. Dieser Vorgang, räumliche Entsprechungen für erinnerte, imaginierte Ereignisse und Bilder zu suchen, sie als optische Bild-Szenen zu vergegenwärtigen und diese Raum-Bilder als Schrift-Bild darzustellen, korrespondiert mit den Bewusstseinsvorgängen und erlebten Situationen. Aber auch der Mnemotechnik scheinen sie verwandt, die das Gedächtnis als Raum denkt, in dem die Gegenstände und Fundstücke des Bewusstseins und der Erinnerung wie in einem Magazin lagern und im Augenblick der Vergegenwärtigung geistig abgeschritten werden können. Auf dies Vorstellung, dass architekturale Orte im Gedächtnis erinnert werden können, basiert Giulio Camillos Modell eines begehbaren Theaters nach antikem Vorbild. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwarf er sein Theatro della memoria als Modell eines „universalen Gedächtnisses“: Der Zuschauer ist auf der Bühne lokalisiert, von wo aus er auf den Zuschauerraum blickt, der als ein System von aufeinander bezogenen Gedächtnisorten gestaltet ist.24 Der Flaneur und der Spaziergänger mit ihrer Motorik des Vorübergehens, des planlosen Herumstreifens, des Bummelns, korrespondieren auch mit der Figur des Gammlers, der in der Hippie-Bewegung den gewaltfreien Protest gegen das Establishment lebt und sich diesen gehend auch räumlich aneignet. Gehen ist der Raum der Äußerung, der Reflexion, der Wahrnehmung, und wird zur Quelle der Inspiration und der Transformation.25 Das Flanieren des Individuums steht im Gegensatz zur Entwicklung, die Ronneberger als „Warenkorb Stadt“26 beschreibt. Das bedächtige Gehen 24 Vgl. Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 3. Aufl., Berlin 1994. 25 Sämtliche Entwicklungsromane thematisieren die fortschreitende geistige Entwicklung durch Bewegung, durch das Gehen, durch das Zurücklegen großer Wegstrecken; vgl. auch Thomas Bernhard: Gehen. 26 K. Ronneberger u.a.: Die Stadt als Beute, a.a.O., S. 67.

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scheint nunmehr vom hastigen Konsumieren abgelöst zu sein. Dennoch formieren sich Protestformen, die die Alltagspraktiken des Gehens und Verweilens im urbanen Raum der wachsenden Bedeutung des Konsums entgegensetzen. Das Alltagsleben bietet für Lefèbvre die Dimension des Widerstands; Die alltäglichen Handlungen sind von Bedeutung, um den Zerfall der Stadt, ihre „Leere“, das „Aktions-Nichts“, aufzuhalten.27 Der Spaziergang durch die Stadt subversiert den Umgang, die Nutzung der Stadt. Guy Debord und die Situationistische Internationale wollen eine Rückeroberung des öffentlichen Raumes; 1957 gegründet, verstand sich der Künstlerkreis um Debord und der Splittergruppe COBRA um Asger Jorn als internationale Bewegung, die die Kunst aus den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft befreien und in die alltägliche Lebenspraxis integrieren wollte. Die Befreiung beinhaltet konsequenterweise aber auch die Überwindung der Kunst, denn in der klassenlosen Gesellschaft wird Kunst nicht länger ein spezialisiertes Phänomen sein. Intervention, die permanente Konstruktion von Situationen, bedeutet für die Situationisten gesellschaftliche Veränderung, Revolution. Spezifische Praktiken werden außerhalb des Kunstraumes eingesetzt, um die Herrschaft des Warenkonsums zu zerstören. Die Stadt, der urbane öffentliche Raum, wird zum geeigneten Aktionsfeld der Eingriffe. Die experimentellen Verhaltensweisen und Praktiken im Raum, das dérive, das Umherschweifen und die Psychogeographie sollen den Raum aus seiner Funktion eines bloßen Durchgangs heben und zur Erfahrung bringen. „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung“28, notiert Walter Benjamin. Auch das dérive kann in diesem Sinne verstanden werden: die Umherschweifexperimente als ein permanentes, systematisches Sich-Verirren im Stadtraum, das auf Erkenntnisse drängt. Debords Fortbewegung ohne Ziel widerspricht dem kapitalistischen Hasten durch die Metropolen. Das détournement, das Verfremden der Räume durch die Konstruktion von Situationen wird zum dynamischen Prozess unaufhaltsamer Störungen. Die Stadtbegehungen reflektieren die alltägliche Umgebung und fragen nach den politischen Dispositiven. Das ziellose Umherschweifen und die Zweckentfremdung erschließen neue Sichtweisen und Zusammenhänge, die zweckentfremdet werden, bestehende Zeichen und Symbole werden neu zusammengesetzt. Mit der Praktik des détournement wird das passive Konsumverhalten reflektiert. „[…] die riesigen supermarkets, die in ödem Gelände, auf einem Parkplatz-Sockel, errichtet werden; und diese Tempel des überstürzten Konsums fliehen selbst in der zentrifu-

27

H. Lefèvbre: Die Revolution der Städte, a.a.O., S. 140. Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 23.

28 Walter

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galen Bewegung, die sie wieder abstößt […]. Aber die technische Organisation des Konsums steht lediglich im Vordergrund der allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise dahin gehend gebracht hat, dass sie sich selbst konsumiert.“29 Das détournement muss als Angriff auf das Antlitz einer Stadt verstanden werden, wenn auch ihre Auswirkungen, ihre praktischen Umsetzungen in der damaligen Zeit eher bescheiden blieben. Weit wirksamere Sabotage- und Interventionsformen entstehen in den 1990er Jahren mit dem Culture jamming: das System zerstört sich selbst von innen. Im öffentlichen Raum wird jede Art von Werbung als Angriffsfläche gegen Konzerne, Industrie und Ausbeutung verwendet. Durch Umkodierung werden neue, kritische Reflexionen und Perspektiven auf bestehende Strukturen und Praktiken der Werbemechanismen der Konzerne eröffnet. Die situationistischen Praktiken im Raum sollen den öffentlichen Raum wieder beleben, sollen ihn erfahrbar machen; sie kämpfen gegen den Raum als Durchgangsort, in dem betrachtet und hastig konsumiert wird. Die Konstruktion von Situationen und das Umherschweifen, das dérive sollen den Alltag neu gestalten. Das Leben soll frei in spielerischer Schöpfung konstruiert werden. Das ziellose Durchstreifen der Straßen widerstrebt den Handlungsmotivationen, den Arbeits- und Freizeitbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Das Umherschweifen wird als Art Spiel, als oppositionelle Verhaltensweise verstanden und entzieht sich zweckgerichteten Handlungen. Mit der Kunst des Flanierens, dem Umherschweifen, ist immer auch ein Ortswechsels verbunden, somit werden starre, feste Formen, das Statische und Monumentale, abgelehnt.30 Die Praktik des dérive dient der Auslotung von Raumerfahrungen und emotionalem Verhalten. Das Umherschweifen in urbanen Milieus zeigt unmittelbare Wirkung auf das Gefühlsleben: der Psychogeographie gelten Debords Forschungen. Der Gang durch die Stadt konfrontiert den Menschen mit seinen psychogeographischen Stimmungen und Gefühlslagen, fördert durch die unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen Bruchstücke, Widersprüche und Leerstellen zutage. Debord erforscht die unmittelbare Wirkung geographischer Milieus auf das emotionale Verhalten der Individuen. Die Fragmentierung des öffentlichen Raumes wird durch Bewegung, eben durch das dérive erfahren, die als Vorstufe der Veränderung betrachtet wird. 1953/1954 begegnet Debord Ivan Chtcheglov, der maßgeblich an den Experimenten des Umherschweifens und der Psychogeographie beteiligt war. Chtcheglov entwickelt Umherschweifexperimente und verzeichnet in psychogeographischen Karten Gefühlslagen, die den jeweiligen Stadtvierteln zugeordnet sind. Die Psychogeographie sollte als Wissenschaft ver29

G. Debord: Gesellschaft des Spektakels, These 174, a.a.O., S. 149f. Kaufmann: Guy Debord. La révolution au service de la poésie. Paris 2001.

30 Vgl. Vincent

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standen werden, die sich der Erforschung des Unbewussten der Städte widmete. Durch neue Architekturmodelle träumten die Situationisten davon, die Grundlagen für eine neue Zivilisation des Spiels und der Leidenschaften zu bilden. In einem Brief an Chtcheglov schreibt Debord 1953 über die „Psychogeographie. […] Um die psychischen Drehscheiben der Städte zu erkunden, entregelte man die Sinne mit Alkohol und schweifte von Bar zu Bar. Mit den Plänen der Psychogeographie sollte ein Instrument geschaffen werden, um die Städte an den geeigneten Punkten aus den Angeln zu heben.“31 1953 erscheint Chtcheglovs Manifest Formular für einen neuen Urbanismus, das die Wirklichkeit neu gestaltet, dynamische Lebensformen und Szenerien erfindet. Seine Träume von ständigen Überraschungen im städtischen Milieu sind von Baudelaires künstlichen Paradiesen beeinflusst. Der Entfremdung der modernen Städte soll die Psychogeographie entgegen wirken. Ihr Ziel ist politisch, dient der Veränderung des Alltagslebens und dem Aufsuchen der Stadtteile. In endlosen Spaziergängen des Abtriftens erkundeten Debord und seine Flaneure den Einfluss der Umgebung auf die Phantasie. Man träumte von Häusern und Wohnungen mit begehbaren Promenaden und ständigen Veränderungen, um die Bewohner in einen permanenten Sinnesrausch zu stürzen; die Friedhöfe sollten gänzlich abgeschafft werden, um die Gegenwart nicht länger an die Vergangenheit zu binden; Bilder sollten aus den Museen in Bars transportiert werden; Metroschächte für nächtliche Events geöffnet werden; Bahnhöfe sollten durch falsche Abfahrtszeiten der Züge permanente Bewegungen und Begegnungen herbeiführen. Der Stadtraum wurde ihnen zur Droge, nächtliche Orgien sollten den begehrenswerten Körper der Stadt in Schwingungen versetzen. Sehr wohl erkannten sie bei ihren Streifzügen durch die Banlieues von Paris den Alptraum dieser Städte, unglückliche Menschen in schlechter Lebensweise in den Wohnsilos, in denen Kriminalität und Verwahrlosung herrschten, und setzen mit ihren Aktionen zu einer Kritik und Neugestaltung der Städte an. Die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnet Debord in psychogeographischen Karten ein. Die Karten zeigen fragmentarische Perspektiven auf die Stadt, zeichnen die Veränderungen der Wahrnehmung und die der Handlungsweisen in einem Beziehungsnetz ein. Die beiden Karten Naked City und Discours sur les Passions de l’amour verbinden collageartig mit roten Pfeilen die ausgeschnittenen Teile von Stadtplänen. Der nackte Körper der Stadt soll leidenschaftlich vor Liebe in Bewegung, beinahe in einen erotischen Zustand, geraten. In den Karten bildet Debord die Bewegungen in der Stadt, die Praktiken des dérive ab. Das statische Bild der Stadt und die geographische Anordnung im Stadtplan werden von Debords 31

In girum imus nocte et consumimur igni. Die Situationistische Internationale. Hrsg. von Stefan Zweifel u.a., Bern Museum Tinguely, Bern 2007, o.S.

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dynamischen, Bewegung simulierenden Karten abgelöst. Wird der flüchtige Moment der Bewegung festgehalten, erstarrt Bewegung in Stillstand. „Sicher, die Prozesse des Gehens können in Stadtplänen eingetragen werden, indem man die […] Spuren und die Wegbahnen […] überträgt. Aber diese dicken und dünnen Linien verweisen wie Wörter lediglich auf die Abwesenheit dessen, was geschehen ist. Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist. Der eigentliche Akt des Vorübergehens.“32 Certeau erkennt die Unmöglichkeit, Momente des Geschehens, die Lebendigkeit des Alltags, in Landkarten zu übertragen. Für Debord hingegen bilden die psychogeographischen Karten ein dynamisches Konstellationsgefüge mit mehreren Bewegungsvariationen und setzen dem statischen kapitalistischen Raum die Dimension beweglicher Räume gegenüber. Der Soziologe Richard Sennett kommt in seiner 1974 erschienenen Untersuchung The Decline of Public Man über das private und öffentliche Leben in der Großstadt im Zeitalter des Industriekapitalismus zu ähnlichen Ergebnissen; Sennett sieht eine Vermischung beider Sphären, die zu einer wahren „Tyrannei der Intimität“ geführt habe. Die Selbstdarstellung im gesellschaftlichen Leben zeigt ihre Folgen für den öffentlichen Raum, der nicht zum Verweilen einlädt, sondern zum hastigen Durchqueren. „[…] der zu einer Funktion gewordene öffentliche Raum“ verliert „seine unabhängige Erfahrungsqualität.“33 Sennett differenziert Bewegung in Fort-Bewegung und vermisst die Lust der Menschen, im öffentlichen Raum gemeinsam zu handeln. Nicht die Praktik des dérive soll den öffentlichen Raum zurückerobern und letztendlich subversieren, sondern Sennett zielt in seiner Analyse auf Erfahrungsaustausch, auf Begegnung und kommunizierendes Handeln, das sich von der egomanischen Selbstdarstellung lösen soll. „Das öffentliche Leben wurde zu einer Sache des Beobachtens, der passiven Teilnahme, zu einer Art Voyeurismus […]. Angesichts dieses Rechts auf eine unsichtbare Mauer des Schweigens gerät Erfahrung in der Öffentlichkeit zur bloßen Beobachtung, […]Erfahrung ist nicht länger Produkt von gesellschaftlichem Austausch.“34 Im Februar 1957 wird im Taptoe Center in Brüssel die Ausstellung Première exposition de psychogéographie eröffnet. Auf der Einladungskarte finden sich u.a. die Namen Asger Jorn, Guy Debord, Ralph Rumney und Yves Klein. Die Beschäftigung mit dem Raum und seiner Auswirkung auf die Konstruktion und Repräsentation architektonischer und urbaner Räume beschäftigte nicht nur die Lettristen und

32 M. de Certeau: Kunst des Handelns, a.a.O., S. 88. 33 Richard Sennett: The Fall of Public Man, dt. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 2001, S. 29. 34 Ebd., S. 46.

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Situationisten, sondern auch Yves Klein. Die Kunst wollte Klein mit räumlichen Mitteln überwinden. Die Produktion von Kunstobjekten führt ihn zu räumlichen Environments, zu einem Ausloten der Grenzen von Gegenstand und Raum, von Objekt und leiblicher Subjektbezogenheit. Kleins Sprung in den kosmischen Raum illustriert diese Vereinnahmung atmosphärischer Einheiten, die sich über die physischen Grenzen hinaus erstreckt. Obgleich für Debord und Klein der Raum Inhalt und Material, Subjekt und Objekt darstellt, ist eine Blickverlagerung notwendig. Debord erzeugt mit seiner Psychogeographie eine soziale Geographie, die Raum als gesellschaftliches Produkt erkennt. Klein hingegen fügt das Subjekt in eine immaterielle Räumlichkeit ein, die Raum als spirituelle Transzendenz auffasst. Kleins Raumdenken ist von der Weltanschauung der Rosenkreuzer beeinflusst, die keinen leeren Raum kennt, für sie ist Raum Geist in aufgelöster Form, die Materie ist kristallisierter Raum oder Geist. Für die Materialisierung immaterieller Ambiente plant Klein, eine Luftarchitektur zu entwickeln mit Wänden und einem Dach, die aus pulsierender Luft bestehen. In seiner Aktion Le Vide (Die Leere) wird der leere Innenraum zum Raum der malerischen Sensibilität; der nur scheinbar leere Raum wird aktiviert und erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Die Kontrolle und Bewachung der Zutritte und Abgänge der Besucher organisiert, ordnet und strukturiert den Raum, der als spezifischer Handlungs- und Interaktionsraum zum Event wird. Die Forderungen der SI nach einer totalen gesellschaftlichen Revolution führten im Mai 1968 in Nanterre und Paris während der Studentenunruhen und Generalstreiks zu einem temporären Ausnahmezustand. Im Mai 1968 wurde der öffentliche Raum erobert, benutzt und in seiner Veränderung erfahrbar gemacht. Der Raum der Strasse wird von einer alternativen Bewegung vereinnahmt, er wird besetzt und soll die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen, aufklärende Kommunikation und Reflexion leisten. Die Straße wird damit zur Bühne, schafft einen Ort des Diskurses der Gegenöffentlichkeit. Verstärkt wird auf neue Aktionsformen gesetzt, mit denen politische Inhalte über das ästhetische Medium vermittelt werden. Kennzeichnend sind parodistische und satirische Elemente dieser Aktionen, die an surrealistische Provokations- und Schocktechniken erinnern. Den Aktivisten werden die Möglichkeiten des Handelns – des politischen wie des theatralischen – zurückgegeben. Diese funktionalisierten, Zweckgerichteten Aktionen sind soziologisch (politisch) und nicht ästhetisch zu verstehen. Die Grenzen zwischen theatralen Aktionen mit politischem Charakter und politischen Demonstrationen mit theatralem Charakter sind fließend. Polit-Happenings und die Theatralisierung der politischen Aktion richten ihre reflexive Kritik an herrschende Verhältnisse. Rudi Dutschke prägte im deutschen Sprachraum den Begriff „Stadtguerilla“ in Adaption der Focus-Theorie von Che Guevara und setzte der ruralen Guerilla in der Drit-

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ten Welt die urbane Guerilla in den Metropolen gegenüber. Die Anhänger sollten sich als Sabotage- und Verweigerungsguerilla betätigen, partisanenartig Widerstand leisten. Terrain ist der urbane Raum, die Stadt ist Schauplatz und Kampfplatz der Aktionen, die sich den Praktiken des „détournement“ und des „dérives“ widmen. Fritz Teufel variiert den Begriff Stadtguerilla, ersetzt ihn durch den Begriff Spaßguerilla.35 „Jede Veranstaltung oder Demonstration solle […] so erfinderisch geplant sein, dass sie für die Studenten im ganz gewöhnlichen Sinne spannend ist und Spaß macht.“36 Die Spaßguerilla betrieb die Destruktivität als gesellschaftliche Demonstrationsform. Spaß und karnevaleskes Treiben wurden als revolutionäre Waffe eingesetzt, um die sozialen Verhältnisse zu verrücken. Als Vorbild der Studentenproteste galt die Bewegung der Situationistischen Internationale, die Ende der 50er Jahre die Bedeutung des Spiels, subversive Taktiken der Aktionen als wesentliches Element kulturrevolutionären Agierens postuliert. Vor dem Hintergrund marxistischer Theorien von Herbert Marcuse kann der Protest auch als kulturelle Praxis verstanden werden. In Auseinandersetzung mit den Theorien von Henri Lefèbvre und Guy Debord sollte ein Konzept der totalen Umwälzung des Alltagslebens, der Kultur, wie auch der Identität des Individuums entwickelt werden. Die Wut gegen die Kultur, die Werke zur Ware macht, leitete den Protest und verwandelte die Aktivisten zu Kulturrevolutionären, die durch Aktionen auf sich aufmerksam machten. Seit den 1960er Jahren hat sich der Werkbegriff der Kunst entscheidend verändert: Das Verhältnis von Künstler, Kunstwerk, Öffentlichkeit und Nicht-Kunst stellt Unterscheidungen und Merkmale in Frage, verschwindet in einem Netzwerk verschiedenster Faktoren. Künstler beteiligen sich in und über Kunst an der Wirklichkeit, die Versuchung durch das Reale ist Herausforderung und Begehren für ästhetische Rahmenbrüche und Grenzüberschreitungen. Die Strategien der abstrakten, nicht mehr realistischen Künste, ihre Verweigerungs- und Ausblendungshaltungen werden in Frage gestellt. Der Autonomiebegriff der Kunst beansprucht wieder seinen Gebrauchswert, seine Funktion. Die beabsichtigte Annäherung von Kunst und Leben und der Einsatz destruktiver Handlungen für den künstlerischen Produktionsprozess attackieren Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen, wenden sich gegen militärisch-atomare Aufrüstung und die Auswüchse der Technologie. Die Akte der Zerstörung, die in unserer Gesellschaft täglich geschehen, werden in ästhetische Metaphern transformiert, werden als Ausdruck für allgemeine destruktive Tendenzen im sozialen System verwendet. 35 Vgl. 36

Fritz Teufel: Märchen aus der Spaßgerilja, Hamburg 1980. Studenten in Opposition, Bielefeld 1968, S. 178.

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In den 1960er Jahren konnten Go-ins, Sit-ins und politische Demonstrationsformen von aktionistischen Happenings nur schwer unterschieden werden. Der zunächst unbeteiligte Fußgeher wird unmittelbar in Situationen im öffentlichen Raum involviert. Nach der Devise Majakowskys „Die Straßen sind unsere Pinsel, unsere Palette die Plätze“, initiiert Wolf Vostell seine Happenings. „Ereignisse sind“ für Vostell „Waffen zur Politisierung der Kunst.“37 „Ich begann“ – schreibt Vostell – „mit Situationen und Veränderungen einiger Stellen in der Stadt. Bekannte Umgebungen sollten während der Nacht in andere verändert werden, sodaß die Leute am nächsten Morgen ihr bekanntes Image von den Dingen verändert sahen.“38 Vostells Zweckentfremdungen von Straßen und Plätzen, mit denen er die Passanten konfrontiert, erfordern Reaktionen, die sich beim Gang durch die Stadt erschließen und neue Sichtweisen eröffnen. Aufmerksam wird die Stadt mit einem neuen Blick wahrgenommen. Prozesse der Bewusstmachung, die Steigerung der Wahrnehmungskraft und Kritikfähigkeit durch gezielte sozialkritische und provokative Aktionen hervorzurufen, stehen im Mittelpunkt seiner Arbeiten. In Vostells Happening Cityrama 1, zu dem er am 15.9.1961 in Köln mittels einer Einladungskarte, die dem Publikum zugleich Anweisung und Wegkarte sein wird, auffordert, werden 26 Punkte im Stadtgebiet erkundet: Trümmerstücke, Mauern, Ecken, Plätze, Zerstörtes, Abgerissenes. Der 7. Station, Domstraße 21 war folgende Anweisung beigeordnet: „Urinieren Sie im Trümmergrundstück und denken Sie an ihre besten Freunde. Mann oder Frau“ (für die ist es nur umständlicher) „müssen sich nicht genieren.“39 Urinieren ist ein durchaus menschenfreundlicher Akt, weil lebensnotwenig und Erleichterung verschaffend. Also warum sollte man dabei nicht an seine Freunde denken. Mit dieser Anweisung Nr. 7 erinnert Vostell auch an Marcel Duchamp, den Ur- und Übervater der Moderne. Marcel Duchamp, im Studentenrevoltejahr 1968 gestorben und einundneunzig Jahre zuvor im französischen Blainville bei Rouen geboren, rebellierte mit seinem Readymades gegen bürgerliche Kunst(begriffe) und ihre Vermarktung. In einer weiteren Aktion fordert Vostell auf, einen bestimmten Autobus einer Pariser Linie zu besteigen und die jedermann alltäglich begegnenden, aber nur unbewusst wahrgenommenen Randerscheinungen einer Fahrt aufmerksam zu registrieren. „Fahren Sie um Paris herum – achten Sie auf die gleichzeitigen akustischen und optischen Umstände – Lärm, Schreie, Stimmen – Wände mit abgeris-

37 Wolf Vostell:

Happening und Leben, Berlin 1970, o.S . Happenings, Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme, S. 399. 39 Wolf Vostell: Leben = Kunst = Leben, hg. von der Kunstgalerie Gera, 1993, S. 21. 38

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senen Plakaten, Trümmer-Ruinen.“40 Vostells Happenings sind ein Unterwegs-Sein, wie auch das Leben Unterwegs-Sein, Gehen bedeutet. Vostell studiert an Bildern von Hieronymus Bosch, Francisco Goya, Bruegel, Fernand Léger die Simultanität und die ikonografische Darstellung von bewegten Ereignissen. Vostell verwendet den Begriff Décollage für die offene Form mobiler Realitätsfragmente, für Ereignisse: „inszenierte oder improvisierte Geschehnisse mit Einbeziehung auch vorhandener Ereignisse, Phasen und Schocks aus deren Umgebung von heute. Der zunächst unbeteiligte Passant wird aktiv oder auch alogisch ins Geschehen, das nicht geprobt wird, mit einbezogen.“41 In der Pariser Straßenaktion Das Theater ist auf der Straße fordert er Passanten auf, den Inhalt der unversehrt gebliebenen Plakatfragmente laut vorzulesen, bis sich eine Menschenmenge gebildet hat, die auf die decollagierten Papierstücke reagiert und weiter an der Zerstörung der Plakate arbeitet. Vostells Abrissaktionen sind prozessuale Ereignisse. Ziel der Aktion waren nicht primär die Lesenden, sondern die vorbeigehenden Passanten, die zufällig am Ort des Geschehens waren und deren Neugierde durch die Aktion geweckt werden sollte. Der Betrachter wird zum Akteur in den Environments, in den begehbaren Skulpturen und hyperrealen Erlebnisräumen der 1970er Jahre, etwa bei Ed Kienholz und Allan Kaprow. Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff und George Bures Miller stattet bei ihrem Dérive „Walk Münster“ 1997 die Teilnehmer mit Walkmans aus und leitet sie durch die Münsteraner Innenstadt. Die Stadterkundung ist aber keine stadtgeschichtliche Führung, sondern zwischen den eingespielten Anweisungen über Wege und Raumpositionen manövrieren die Gehenden zwischen Vogelgezwitscher und Straßenlärm und werden sensibilisiert für die collageartig einander überlagernden Realitäts- und Wahrnehmungsebenen. Politisch-geographische Räume überlappen ästhetische Räume, das nomadische Gehen zwingt die Stadt, Störungen, Verzerrungen und Interferenzen freizulegen. Die Protagonisten der Spaß-Guerilla der deutschen Theaterlandschaft Schlingensief, Pollesch, die Formation Rimini Protokoll und Matthias von Hartz kleiden in Zeiten von Internet, Globalisierung und dot-com-Boom postmoderne Wahrnehmungstheorien und politische Analysen in neue szenische und nicht-szenische Formate. Der Container hat der neuen Behausung im Raum der Stadt, dem Wohnmobil, Platz gemacht, bevorzugtes Quartier von Schlingensief und Jonathan Meese. Lecture Performance, Workshop, Installation, Themenabend, Stadtexpedition, revolutio40 Jürgen 41

Schilling: Aktionskunst, Luzern 1978, S. 125. Ebd., S. 125.

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närer Einkaufsbummel bieten ein stetig wachsendes Reservoir für interdisziplinär arbeitende Aktionskünstler. Die turbulente, interventionistische Ästhetik präsentiert sich als politisches Projekt, das den Kunstraum verlassen hat, um völlig unterschiedliche Personengruppen im öffentlichen Raum durch Aktionskunst unvorbereitet mit politischen Fragestellungen zu konfrontieren und mit ihnen verschiedene Protesttechniken praxisnah einzuüben. Als Abwehrreflex werden Städte in mobile Strände und Eislaufplätze verwandelt: urbane Diskursräume, die durch die Vereinnahmung des städtischen Raums die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Alltag gezielt verwischen.

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Wolfgang Pircher DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN. ZUR THEATRALITÄT DES GELDES

Die wahrscheinlich kürzeste Lösung des sozialen Rätsels, warum im Normalfall das Geld so gut funktioniert, ist: Vertrauen. Menschen, die Geld gebrauchen, und das sind in zivilisierten Ländern faktisch alle, vertrauen darauf, für ihr Geld die gewünschten Waren zu bekommen, Geldbesitzer vertrauen darauf, dass das Geld in einem überschaubaren Zeitraum seinen Wert behält, und sie vertrauen darauf, es wiederzubekommen, falls sie es hergeliehen oder irgendeiner Institution anvertraut haben. Man kann hier von einem Vertrauen in das System Geld sprechen. Es erlaubt, einem völlig Fremden zu vertrauen, mit dem man weiter nicht vertraut ist. In beiden Fällen kann man allerdings enttäuscht werden, das Vertrauen in das Geldsystem einer Währung kann in einer Inflation zusammenbrechen, der Fremde kann ein Betrüger sein. Die Soziologen, allen voran Niklas Luhmann, sind schon seit einiger Zeit intensiver mit dem Begriff des Vertrauens beschäftigt.1 Eine Auseinandersetzung mit dieser für den sozialen Zusammenhalt so wichtigen Kategorie lässt sich bis auf Georg Simmel zurückverfolgen, der ja nicht zufällig auch ein großer Geldtheoretiker war. Gesellschaft erscheint hier als ein „riesiger, kollektiver Vertrauen-und-Versprechen Mechanismus“2, der den individuellen Entscheidungen eine gewisse Sicherheit

1

Niklas Luhmann: Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt/ New York 2001, S. 143-160. In diesem Text findet sich die oft zitierte Unterscheidung zwischen Zuversicht (confidence) und Vertrauen (trust) (S. 147). „Wenn man keine Alternativen in Betracht zieht (jeden Morgen verlassen fast alle von uns das Haus ohne Waffe!), ist man in einer Situation der Zuversicht. Wenn man die eine Handlungsweise der anderen vorzieht, obwohl die Möglichkeit besteht, durch die Handlungsweise anderer Menschen enttäuscht zu werden, definiert man die Situation als eine des Vertrauens.“ (S. 148) Wir werden sehen, wie im Fall des Confidence Man diese Unterscheidung durchlässig wird und sich noch dazu einer alten Wortbedeutung öffnet, wie sie Dorothea Weltecke: Gab es ‚Vertrauen‘ im Mittelalter? Methodische Überlegungen, in: Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 67-89, S. 80 anführt: ‚con-fidentia‘ wird noch in der Scholastik für ‚Freiheit‘, ‚Mut‘, ‚Frechheit‘ und ‚Übermut‘ gebraucht. 2 Bruno Accarino: Vertrauen und Versprechen. Kredit, Öffentlichkeit und individuelle Entscheidung bei Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme und Ottheim Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt am Main 1984, S. 116-146, hier S. 127.

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verleiht. Daraus ergibt sich eine Versachlichung des Verhaltens, so dass sich Vertrauen von unmittelbarer personaler Kenntnis löst. Vertrauen kann sich nunmehr auf soziale Rollen beziehen, so wird man darauf vertrauen – bis man allenfalls eines Besseren belehrt wird – dass der Richter, den man persönlich nicht kennt, nicht bestechlich ist, dass der Bankbeamte das erhaltene Geld nicht unterschlägt. Aber es braucht auch eine Inszenierung, wir vertrauen keinem Richter, der im Kaffeehaus Recht spricht, oder einem Bankbeamten, der das Geld im Hinterzimmer einer Spelunke einsammelt. Auch erwarten wir einen bestimmten Habitus, der sogar bis zu einer gewissen Uniformierung reichen kann. Es ist nun offensichtlich, dass dergleichen auch vorgetäuscht werden kann, man kann sich leicht einen falschen Richter im wahren Gerichtssaal vorstellen, der alle Handlungen eines ‚richtigen‘ Richters vollzieht, trotzdem aber nur ‚falsche‘ Urteile produziert, die wieder aufgehoben werden, wenn sich seine Vortäuschung entdeckt. Aber es ist nicht die Inszenierung, die den Unterschied ausmacht, diese ist der Träger von Vertrauen in beiden Fällen. Solche betrügerischen Inszenierungen im Alltag unterscheiden sich von theatralen darin, dass sie von den Opfern nicht als solche bemerkt werden. Damit rücken diese von der Zuschauerposition in eine des Mitwirkens ein, sie werden Teil der Inszenierung, wie allenfalls in avantgardistischen Theaterstücken oder in jenen kleinen Clips, die mit versteckter Kamera gefilmt werden und den Flugpassagieren helfen sollen, die langweilige Reisezeit zu überbrücken. In der Regel aber sind wir zuversichtlich, nicht Teil einer solchen Inszenierung zu sein.3 Man wird nicht viel fehlgehen, wenn man eine Verschärfung der Frage des sozialen Vertrauens für anonyme städtische Gesellschaften gegenüber ländlichen Gemeinschaften annimmt. Im städtischen Raum ist das notwendige Zusammentreffen mit fremden Personen vertraut, damit verändert sich neben anderem auch das ökonomische Verhältnis zu den anderen. Georg Simmel kommt wohl nicht zufällig im Zusammenhang unserer modernen Existenz, die eine Wirtschaft voraussetzt, „die immer mehr Kreditwirtschaft wird“, auf das Vertrauen zu sprechen.4 Eingebettet ist diese Aussage in Erwägungen über den unterschiedlichen Stellenwert der Lüge in einfachen und in komplexen sozialen Verhältnissen, mit dem Ergebnis, dass „die Lüge in modernen Verhältnissen zu etwas viel verheerenderem, die Grundlagen des Lebens viel mehr in Frage stellendem [wird], als es früher der Fall war“5. Diesen Hinweisen nun möchte ich nachgehen.

3

Luhmanns Unterscheidung von Zuversicht und Vertrauen – es wird sich zeigen, dass die Grenzen schwer zu ziehen sind. 4 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt am Main 1992, S. 389. 5 Ebd.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

Kreditkulturen

Jene Zeitspanne, die in England der sog. ‚financial revolution‘ vorangeht, läßt sich als eine von einer Kreditkultur geprägte bezeichnen. Eine sich ausprägende Marktgesellschaft hatte es mit einer für die zunehmenden Tauschhandlungen zu geringen Edelmetallmenge zu tun und wich daher auf die Form des Kredits aus. Die gleichzeitigen permanenten Münzverschlechterungen ließen noch dazu den Glauben in den beständigen Geldwert der Münzen schwinden, wie sie ebenso die vollwertigen Münzen der Zirkulation entzogen, weil diese in der Regel gehortet wurden. In einer solchen Situation, wo viele Tauschhandlungen auf Treu und Glauben getätigt wurden, wurde die Inszenierung des Vertrauens zu einer täglichen Übung, denn sie diente buchstäblich dem Überleben. Hier ging es nicht allein um das zeitgerechte Abtragen einer erworbenen Schuld, sondern man musste darüber hinaus seinen ‚Ruf‘ wahren, den auch allerlei böse Gerüchte schädigen konnten. Und Gerüchte können der Tod der Kreditwürdigkeit sein und das soziale Überleben gefährden. Craig Muldrew prägte den Begriff ‚Währung des Ansehens‘ (currency of reputation)6, der die Kreditwürdigkeit von Haushalten bezeichnet, die in Gesellschaften, welche zunehmend von marktförmigen Beziehungen durchdrungen sind, sowohl kooperieren wie auch konkurrieren. Für das Leben dieser Haushalte, die auf das ihnen entgegengebrachte Vertrauen angewiesen waren, war es wahrscheinlich wichtiger das Ansehen der Kreditwürdigkeit zu wahren, als tatsächlich immer rückzahlungsfähig zu sein. Der Ursprung der Kreditkultur in England liegt in der Mitte des 16. Jahrhunderts und war eine Folge raschen wirtschaftlichen Wandels. Nach 1530 dehnte sich das Volumen der Konsumtion aus und in dem Maße, wie Verkaufs- und Kaufakte sich vermehrten, wuchs die Komplexität der Marktstrukturen. Verursacht durch die begrenzten Mengen an Gold und Silber in der Zirkulation, war diese wirtschaftliche Entwicklung auf die wachsende Nutzung des Kredits gegründet, der oft informell gegeben wurde, wie man es in einer Gesellschaft mit hoher Illiteralität erwarten kann. Muldrew analysiert eine Periode, die von 1550 bis 1720 reicht und durch das Wachstum und Verebben der entsprechenden Rechtstreitigkeiten gekennzeichnet ist. In dieser Zeit der wachsenden Marktaktivitäten wurde die Strukturänderung in den Kreditnetzwerken groß genug, um den Begriff des Vertrauens (trust) zu verändern. Somit läßt sich sagen, dass die Kreditkultur auf einer Kommunikation der zwei wichtigsten Institutionen beruhte: den Gerichtshöfen, bei denen die Erfüllung von Schuldversprechen eingeklagt werden konnte, und die Haushalte, welche die wirtschaftliche Einheit in den frühneuzeitlichen Gesellschaften darstellten. 6 Craig Muldrew: The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early

Modern England, London (Muldrew) 1998, S. 3.

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Seit der Kredit ein Schlüssel zum Wohlstand war, wurde die öffentliche Reputation der Haushaltsmitglieder enorm wichtig. Sie standen nicht allein für sich, sondern für die Gesamtheit der im Haushalt Lebenden. Die wirtschaftliche Kommunikation war noch weitgehend einer Kalkülisierung entzogen, zumal die technischen Mittel dazu höchst ungenügend waren. Die Buchführung war so schlecht, dass keine wirkliche Kostenkalkulation möglich war, dementsprechend auch keine Preisfestlegung. Preise wurden in der Regel ausgehandelt. Viele kleinere Händler notierten Abmachungen nur informell, viele davon waren überhaupt nur dem Gedächtnis anvertraut. Die rechtsverbindliche Schrift wurde durch das kollektive Gedächtnis ersetzt, Zeugen waren eher als Rechnungsbücher die wichtigste Sicherheit bei Schuldkontrakten und anderen geschäftlichen Abmachungen. Als Zeuge zur Verfügung zu stehen, scheint ein ganz normaler Teil des täglichen Lebens gewesen zu sein und eine der üblichen Verpflichtungen der nachbarlichen Gemeinschaft. Nur wenige Transaktionen wurden nur mit den unmittelbar Beteiligten abgewickelt, den wenn es zu Unstimmigkeiten über die getroffenen Abmachungen kam, waren Zeugen das vertrauenswürdigste Mittel, um den tatsächlichen Inhalt der ursprünglichen Vereinbarung festzustellen.7 Der Kredit war ein gut integrierter Teil der alltäglichen Käufe auf den Märkten. Alle Haushalte, die der Armen wie auch der königliche, waren in einem gewissen Grad in das wachsend komplizierter werdende Netz von Kredit und Verpflichtung verstrickt. Natürlich wickelten die Kaufleute ihr Geschäft auf Kreditbasis ab, ebenso wie Händler und Handwerker, viele von ihnen waren zudem bei den Armen wegen noch nicht bezahlter Löhne oder kleiner Verkäufe verschuldet.8 Informeller Kredit, Geld und Kreditverträge existierten gleichzeitig und nahmen je spezifische Rollen im komplexer werdenden Tauschsystem ein. Von Charles Davenant stammt die treffende Formulierung: „Money and Credit must mutually help one another.“ 9 Das Geld diente vor allem als Wertmaßstab, weniger als Tauschmittel. Münzgeld aus Edelmetall war auf Grund der enorm gestiegenen Nachfrage als Tauschmittel rar geworden, zumal die guten Münzen für wichtige Transaktionen gehortet wurden. Dies war der Fall, wenn man mit Fremden handelte. Renten und Steuern wurden damit bezahlt und es wurde gegen Zinsen an Personen verliehen, deren Reputation so gesunken war, dass sie nur mehr gegen Bargeld kaufen konnten.10 Da der Kredit so weit verbreitet war, wurde es möglich, wechselseitige Schuldverpflichtungen gegeneinander aufzurechnen, „abrechnen“ (to reckon), wie das 7

Ebd., S. 64. Ebd., S. 95. 9 Charles Davenant: A Memorial Concerning credit and the Means and Methods by which it may be Restored, (1696), zit. nach Muldrew, S. 98. 10 Ebd., S. 101. 8

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

entsprechende Verb lautete. In diesem Fall wurden keine Zinsen berechnet. Es war dies auch eine Methode sich von Zeit zu Zeit die wechselseitigen Verpflichtungen in Erinnerung zu rufen, was bei mündlichen Abmachungen durchaus von Wichtigkeit ist. Solches kann naturgemäß nur in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften funktionieren, wo das Vertrauen auf personale Vertrautheit aufbaut. Davenant diskutiert typischerweise wirtschaftliche Beziehungen nicht in Begriffen einer kalkulierenden Rationalität, sondern er verbindet Handel ausdrücklich mit Nachbarschaft, wenn er ausführt: „Trust and confidence in each other, are as necessary to link and hold a people together, as obedience, love, friendship, or the intercourse of speech. And when experience has taught each man how weak he is, depending only upon himself, he will be willing to help others […]“11 Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass zu dieser Zeit sich auch das kulturelle Leben deutlich verändert: der Buchhandel floriert, die Theater als Beispiel einer Kommerzialisierung der Kultur blühen auf, die Luxusimporte steigen an. Auch im Theater wurde vom Kredit gesprochen, Shakespeare verwendet das Wort über fünfzigmal. Aber es wurde nicht im modernen Sinn der Geldleihe verwendet, dies kam nicht vor dem späten 17. Jahrhundert in Gebrauch und auch da nur in bestimmten Bereichen des Bankgeschäftes. Im 16. und 17. Jahrhundert steht das Wort Kredit allgemein für das persönliche Attribut der Vertrauenswürdigkeit. Die Frage, ob Vertrauen, speziell in Geldsachen, ‚geschenkt‘ wird ob eines inszenatorischen Aufwandes dessen, der diese ‚Gabe‘ empfängt, wird wahrscheinlich schon bei den intimen Verhältnissen der Kreditkultur positiv zu beantworten sein. Auch in einer solchen persönlichen Nähe kann sich die Fakultät der Überredungskunst durchaus auszahlen. Sprechen ist für das „Versprechen“ offensichtlich essentiell, weil es im Gegenüber den Glauben an das Versprochene hervorrufen muss. Das Versprechen zielt in den Bereich zwischen Vertrauen und Zuversicht auf künftige Handlungen und Möglichkeiten. Als soziale Praxis erhält sich dieser Komplex auch in der „financial revolution“ Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts, allerdings nicht ohne tiefgreifende Veränderungen. Diese setzten im Holland des 17. Jahrhunderts ein, bekanntlich das goldene Zeitalter des Landes. Bei der 1602 gegründeten Vereinigten Ostindischen Companie (VOC) konnte jeder Bürger, ob arm oder reich, Aktionär12 werden. Da die Kompanie die ersten acht Jahre ihres Bestehens keine Dividenden ausschüttete und es auch untersagt war, das eingesetzte Kapital vor Ablauf von zehn Jahren abzuziehen, waren viele Kleinanleger gezwungen, ihre Anteile in Form von Anrechtsscheinen zu

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Charles Davenant: Discourses on the Public Revenues and on the Trade of England, London 1698, zit. n. Muldrew S. 125. 12 Der Begriff „Aktie“ wurde allerdings erst 1606 eingeführt.

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verkaufen.13 Aus dem Handel mit Anteilen entsteht eine eigene Institution. Käufe und Verkäufe finden seit 1613 in einem eigenen Gebäude statt, der Amsterdamer Börse. Die Vorgänge hier schildert ein portugiesischer Jude namens José Penso de la Vega im ersten Buch, das je über die Börse veröffentlicht wurde, unter dem bezeichnenden Titel Confusion des Confusiones (1688)14 und er bespricht vorzugsweise den Handel mit Papieren der VOC. Während diese Handelsgesellschaft wirklich existierte und mit wirklichen Schiffen wirkliche Gewürze aus Ostasien nach Holland brachte, die hier mit großem Gewinn umgesetzt werden konnten, bürgerte sich in den 1630er Jahren ein Handel mit Tulpen ein, der zunehmend den Kontakt mit den wirklichen Blumen verlor. Zunächst ein Liebhaberobjekt, das zu bisweilen respektablen Preisen gehandelt wurde, wobei der Käufer aber über die Qualität der von ihm gekauften Zwiebeln Bescheid wusste, begann Anfang der 1630er Jahre eine neue Käuferschicht, die sich „Floristen“ nannten, aus dem einzigen Interesse, damit Geld zu verdienen, den Tulpen zuzuwenden.15 Sie zogen nun keine Gartenliebhaber an, sondern ebenso bloß an Geld interessierte Kleinanleger, wie z.B. Weber, die ihre Webstühle verpfänden oder belehnen lassen konnten, um so das Grundkapital für den Einstieg in den Tulpenhandel zu erwerben. „Wer nur irgendwie konnte, investierte in Tulpenzwiebeln, und viele machten mangelndes Startkapital durch die Bereitschaft wett, ihren Besitz zu riskieren.“16 Die steigende Nachfrage nach Tulpenzwiebeln führte ab Ende 1634 zu einem immer schnelleren Preisanstieg, der schließlich im Dezember 1636 und Jänner 1637 „inflationär“ wurde. Ab Herbst 1635 handelte man nicht mehr mit wirklichen Blumen, sondern mit Schuldscheinen auf künftige. Damit war alle Sicherheit dahin, die über die Qualität der Blumen, aber auch die Besitzverhältnisse verunklärten sich. „Die Holländer nannte diese Phase des Tulpenfiebers den windhandel, einen Blankohandel […].“17 Mit den Schuldscheinen wurde der ganzjährige Handel möglich und das verwandelte diesen in ein Spekulationsgeschäft, wobei es sich einbürgerte, „dass Floristen Tulpen verkauften, die sie gar nicht liefern konnten, und zwar an Käufer, die über kein Bargeld verfügten, sie zu bezahlen, geschweige

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Henty Méchoulan: Das Geld und die Freiheit. Amsterdam im 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt von Annette Holoch, Stuttgart 1992, S. 94f. 14 Die (schlampig gemachte, aber trotzdem teure) deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Die Verwirrung der Verwirrungen. Vier Dialoge über die Börse in Amsterdam, Kulmbach: Börsenmedien AG 1994/2000. 15 Mike Dash: Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte. Aus dem Englischen von Elfriede Peschel, München 1999, S. 129. 16 Ebd., S. 131. 17 Ebd., S. 144.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

denn die Absicht hatten, sie jemals einzupflanzen.“18 Spekulationstechnisch gesehen wurden hier Termingeschäfte abgewickelt, die dem Käufer eines Schuldscheines die Möglichkeit gaben, diesen Schuldschein teurer zu verkaufen, noch bevor er ihn gegen die Zwiebeln einzutauschen und zu bezahlen hatte. Das geht solange gut, als immer neue Nachfrager bereit sind, einen ständig steigenden Preis für derlei Scheine zu bezahlen. Nachdem im Dezember 1636 und Jänner 1637 der größte Zustrom an Neueinsteigern zu verzeichnen war, erreichten die Preise für Tulpenzwiebeln bzw. die Schuldscheine dafür solche Höhen, dass die Nachfrage abrupt abriss, was im Februar 1637 der Fall war. Damit war die erste „Spekulationsblase“ geplatzt, wenn man auch diesen Begriff erst 1720 in England prägte. Aber der holländische „Tulpenschwindel“ hat ein erstes Zeichen gesetzt, auf welchen Pfaden man nunmehr dem Reichtum (oder dem Ruin) nahe kommen kann. Als 1720 in Frankreich das „Law’sche“ System zusammenbricht und in England der South-Sea-Bubble platzt, stellt das eine neue Art von Vertrauenskrise dar. In allen diesen Fällen konnte man Reichtum erwerben, aus keinem anderen Grund, weil auch viele andere daran glaubten, aus den steigenden Aktienkursen von (fiktiven) Handelsgesellschaften Gewinne ziehen zu können. Man wettet im Grunde, zu jedem Zeitpunkt, wo man Aktien kauft, dass es künftig noch andere Kaufwillige geben wird, trotz steigender Preise. Es ist evident, dass bald ein Kulminationspunkt erreicht wird, wo die Nachfrage abreißt und damit die Besitzer von Aktien zum Verkaufen stimuliert, was den Preis wiederum in die Tiefe reißen kann. Aktien sind Kredite an Gesellschaften, die gar nicht wirklich existieren müssen. Wir treten damit ein in den Bereich, der sich zwischen Vertrauen (trust) und Zuversicht (confidence) aufspannen läßt, wobei die begriffliche Grenzziehung hier schwierig und problematisch ist. Aber, soviel sei vorweggenommen, in diesem Bereich wird ein hoher inszenatorischer Aufwand getrieben, um Vertrauen und Zuversicht zu erzeugen. Dies hat nicht zuletzt darin seinen Grund, als bei beiden Ereignissen der jeweilige Staat im Spiel war, um dessen Schulden es im Kern ging. Die Gründung der Bank of England 1694 erfolgte wegen der Staatsschuld, die aus dem Krieg des nach dem Sturz der Stuarts 1688 eingesetzten Königs Wilhelm III. gegen den abgesetzten Stuart Jakob II. und dessen verbündeten Ludwig XIV. entstand. Es wurden langfristige Staatsanleihen aufgelegt, „deren regelmäßige Zinszahlungen das Parlament garantierte“.19 Diese Bank, eine private Institution, erhielt auch das Recht der Notenausgabe.

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Ebd., S. 145. Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1994, S. 115.

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P. G. M. Dickson hatte 1967 den Begriff der „financial revolution“ geprägt, um jene Veränderung der englischen Regierung und Gesellschaft zu charakterisieren, die in dem halben Jahrhundert nach 1688 stattfand.20 Die allegorische Figur für das Zentrum dieser Veränderung, den „public credit“ schuf Daniel Defoe mit seiner „Lady Credit“.21 Er reagierte damit „auf das Misstrauen der Engländer gegen die neue Anonymität des Kreditwesens. Von der Bank of England war bekannt, dass ihre umfangreichen, in Banknoten ausgegebenen Kredite die realen Einlagen bei weitem überstiegen, dafür war sie eingerichtet worden“.22 Aus dem verstorbenen Herrn Kredit des 17. Jahrhunderts wird nun die lebendige Lady Credit, die allerdings den literarischen Gewohnheiten Defoes entsprechend zweifelhaften Rufes ist, sie sei „notwendigerweise eine Prostituierte“23, weil sie nur auf Zeit und gegen Zinsen zu haben sei. Was sie allerdings mit Hinblick auf den kommenden Confidence Man interessant macht, ist eine andere Gewohnheit, die sie mit anderen Defoe’schen Geschöpfen teilt. „Defoe erfand für seine weiblichen Protagonistinnen Lady Credit, Moll Flanders und Roxana – sämtlich Heroinen des Marktes, der Geldzirkulation unterworfen und letztlich von der Anonymität des Geldverkehrs profitierend – die Strategie der Maskerade, eine Strategie, die er selbst als Agent, Propagandist und als Geschäftsmann angewandt hatte.“24

Confidence Man Es waren die Kriminellen, nicht die Philosophen, die eine Expertise für die verschiedenen Formen des Vertrauens entwickelt haben.25

Die New York Herald Tribune meldete am 8. Juli 1849 die Verhaftung eines „Confidence Man“, wobei dieser Begriff für den berichteten Fall gerade erfunden worden war. Es handelte sich um einen Mann von angenehmen Äußerem, der in den Straßen von New York ihm völlig fremde Personen anspricht und in ein Gespräch verwickelt. Nach einer kleinen Weile fragt er sein Gegenüber: „Have you confidence in 20

P. G. M. Dickson: The Financial Revolution: A Study in the Development of Public Credit, 1688-1756, London 1967. 21 Mit Dank für diesen Hinweis an Anna Maigler (Dortmund). 22 Birgit Althans: Der Klatsch, die Frauen und das Sprechen bei der Arbeit, Frankfurt/New York 2000, S. 177f. 23 Ebd., S. 182. 24 Ebd., S. 195. 25 Annette Baier: Vertrauen und seine Grenzen, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt/New York 2001, S. 37-84, hier S. 42.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

me to trust me with your watch until tomorrow?“26 Der Fremde, der glauben mag, einen alten Bekannten vor sich zu haben, an den er sich jetzt gerade peinlicherweise nicht erinnern kann, übergibt die Uhr, worauf sich der Confidence Man lachend entfernt. Im Herald finden sich Charakteristika dieser Figur, die auch seinen Erfolg erklären sollen; er sei ein Genie der Überzeugung, der die Gabe der Rede in solch einem Ausmaß beherrscht, dass er damit verständige und ernste Männer, Geschäftsmänner, von ihren Uhren und auch von Geld befreite.27 Sein übliches Spiel war die Einfachheit selbst. Er spricht gut gekleidete Herren in leicht nochalanter Weise an und bringt dann seine Frage nebenbei und wie selbstverständlich vor: „Are you really disposed to put any confidence in me?“28 Diese Vertrauensfrage ist der Kern jedes neuen Tricks und Geld ist die übliche Probe auf das Vertrauen. Aber dies sind „petty crimes“, wie der Herald schließt, der wahre Confidence Man handelt mit Aktien an der Wall Street.29 Dieses Spiel mit dem Vertrauen ist der grundlegende Operationsmodus in Herman Melville’s Roman The Confidence Man. His Masquerade (1857), in welchem in immer neuen Wendungen und Masken neue Züge gespielt werden.30 Die Bühne, auf welcher dieser letzte Roman von Melville zur Gänze spielt, ist ein MississippiDampfer.31 An einem 1. April kommt ein Fremder, in einen seltsamen Anzug gekleidet, an das Flussufer in St. Louis, „ein Fremder in des Wortes tiefstem Sinne“. Er besteigt das beliebte Dampfschiff „Fidèle“ und betrachtet auf ihm umgehend „einen Anschlag […] der eine Prämie für die Ergreifung eines vermutlich letzthin aus dem Osten herübergekommenen ominösen Betrügers verhieß – ein durchaus origineller Kopf in seinem Metier, wie es schien, obschon nicht klar gesagt war, worin die Originalität des Kerls bestand […]“32 Angesichts dieser undeutlichen Warnung beschreibt der Fremde eine kleine Schiefertafel mit Sprüchen aus der Bibel und zeigt sie der um den Anschlag versammelten Menge. In „seinem Äußeren lag etwas so bodenlos

26 Zitiert nach Michael S. Reynolds: The Prototype for Melville’s Confidence-Man, PMLA, Vol. 86,

No. 5 (1971), S. 1009-1013, hier S. 1009. Ein Opfer, von dem er fünf Dollar borgte, sagte aus: „[…] he talked to me so that he fascinated me, and as soon as he was gone the charm left me.“ (Ebd.) 28 Ebd., S. 1010. 29 Ebd., S. 1012. Herman Melville wird diese beiden Arten des Confidence Man zusammenführen. 30 Herman Melville: Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christa Schwenke, München 2001. 31 Bernhard Siegert: Flottierende Signifikanten auf dem Mississippi. Herman Melvilles Confidence Man, unveröffentlichtes Manuskript, stellt die Analogie von Schiff und Stadt (Babel) her, womit wir uns wieder im Simmel’schen Universum befinden, das von Fremden in städtischer Umgebung bewohnt wird, von denen die Bedrohung der Lüge ausgeht. 32 H. Melville: Maskeraden, a.a.O., S. 9/10. 27

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Unschuldiges“, wie auf seiner Tafel Unzeitgemäßes geschrieben stand, nämlich Sprüche, die allesamt mit „Liebe“ begannen.33 Währenddessen öffnet der Schiffsbarbier seinen Laden, wobei er ein „überaus kunstvolles Pappschild“ aufhängt, auf dem die Worte „Kein Treu und Glauben!“ (No Trust)34 gemalt sind, die nun eine den Liebes-Sprüchen des Fremden entgegengesetzte Reaktion des Publikums hervorrufen. „Eine Aufschrift, die, obzwar in gewissem Sinne nicht minder zudringlich als die gegenteiligen Sprüche des Fremden, keineswegs ein ebensolches Maß an Spottlust oder Überraschung oder gar Empörung hervorzurufen schien, geschweige denn zur Folge hatte, dass man ihren Urheber etwa für einen Einfaltspinsel hielt.“35 Damit sind die grundlegenden Rollen verteilt: die meisten Passagiere neigen dem Motto „No Trust“ zu, während einige wenige versuchen, in immer neuen Unterhaltungen gerade das Gegenteil, das Vertrauen, als Prinzip der Menschlichkeit stark zu machen. Es ist klar, dass dies die Betrüger sind, die Masken, in denen der Confidence Man auftritt. Ohne Vertrauen kein Betrug. Vertrauen heißt auch Glauben, aber schon die Bibel zeigt, dass man Vertrauen schaffen muß, es stellt sich nicht von allein her. Misstrauen, „No Trust“, scheint die ursprünglichere Haltung zu sein. Das Medium des Geldes aber überwindet diese Schranke wahrscheinlich noch zuverlässiger als alle moralische Anrufung. Das ist auch die Zuversicht des Confidence Man selbst, er vertraut auf das stets wache Begehren nach Geld bei seinen Opfern. „Die Passagiere, die aufgeregt auf ihren Decks herumschwirren, gleichen Kaufleuten an der Börse […]“36 Sie sind allezeit auf der Jagd nach Geld. Und da gibt es „Jäger, deren Beutegier die all der anderen noch übertraf und die Jagd machten auf all jene anderen Jäger.“37

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Dieser Fremde, die erste auftretende Figur des Romans, „obviously evokes the image of the lamb whose sacrifice is essential to the economy of salvation“ (Mark C. Taylor: Discrediting God, Journal of the American Academy of Religion, Vol. 62, No. 2 (1994), S. 603-623, hier S. 605.) Taylor setzt allerdings fort: „the actions of the christlike figure leave the unavoidable impression that he himself might be the confidence-man“. Dies reflektiert auf die Diskussion, ob der Fremde Christus oder der Confidence-Man sei, was vielleicht gar nicht zu entscheiden ist. 34 Diese Aufschrift gibt Mark C. Taylor Gelegenheit, über die Verwendung der Zeichen bei Melville zu sprechen. „The sign that Melville names a sign is no ordinary sign, for it calls into question the very meaning and significance of signs. Were we to follow the counsel of the sign by refusing to trust, we could not have confidence in any sign. If, however, signs are not to be trusted, then we cannot even have confidence in the sign that reads ‚NO TRUST.‘ The challenge of the sign creates a double bind. The barber’s sign bends back on itself to create a dis-trust of distrust. The sign, in other words, discredits itself by encouraging an attitude that is precisely the opposite of what it seems to promote. When we distrust distrust, it once again becomes possible to credit signs.“ (Ebd., S. 606). 35 H. Melville: Maskeraden, a.a.O., S. 9/10. 36 Ebd., S. 18. 37 Ebd., S. 20.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

Melville stellt uns nicht die einfache Konstellation eines Betrügers und des arglosen Betrogenen vor, sondern der Betrug setzt sich in Szene, indem er den grundlegenden Zwiespalt der anderen nutzt, moralisch zum Vertrauen aufgerufen zu sein, aus Erfahrung aber misstrauisch geworden zu sein. Diesen Zwiespalt führt Melville an dem schönen Gegensatzpaar Gabe und Aktie vor. Christenmenschen, wie man weiß, sind zur mildtätigen Gabe an den Elenden verpflichtet, um ihr Seelenheil zu retten, aber andererseits lieben sie den Gewinn, und so bedenken sie das eine mit Misstrauen hinsichtlich der Würdigkeit des Bettlers, das andere aber mit einem von Gewinnsucht verklärten Blick des Vertrauens. Es ist scheinbar leicht, der Gabe zu entkommen, nicht so leicht ist es, dem Gewinn zu entsagen. Ein verkrüppelter Neger bettelt an Deck und löst zunächst ein „Wettspiel der Nächstenliebe“38 aus. Auf die skeptische Frage, ob er irgendein Dokument, ein amtliches Papier bei sich habe, das seine Lauterkeit beweise, antwortet er: „Ach nein, die arme olle Swazzhaut nix haben solche Wertpapiere.“39 Aber er könne doch gewiß Bürgen nennen? O doch, gewiß doch, sein sehr nette, brave Herr hier an Bord mit eine Trauerflor und eine Herr mit eine graue Rock und eine weiße Binde um die Hals, wo alles von mir wissen, und auch noch eine Herr mit eine dicke Buch und ein Doktor von die Kräuters und eine Herr mit eine gelbe Weste und eine Herr mit eine Schild von Messing und eine Herr mit eine lange lila Kittel und eine Herr, wo aussehn tut wie eine Soldat, und sein an die Bord noch mehr so gute, nette und ehrbarliche Herren, wo mir tun kennen und sich auch für mich verbürgen. Gott senge sie […]40

Was da aufgezählt wurde als vermeintliche Zeugenliste für die Lauterkeit eines Bettlers, das sind die Maskeraden des Confidental Man.41 Der Herr mit Trauerflor wird seine persönliche missliche Geschichte gegen ein freundliches Darlehen eines Kaufmannes tauschen, der Mann im grauen Rock wird erfolgreich Geld für ein obskurantes Asyl sammeln, der Herr mit dem dicken Buch schließlich ist Aktienverkäufer einer Black Rapids Coal Company. Der Kräuterdoktor verkauft die Medizin, die gegen alles hilft, während der Mann mit dem Messingschild ein Philosophical Intelligence Office vertritt, eine philosophische Gesindevermittlungsagentur. Alle diese Darsteller haben eines gemeinsam: sie nehmen das Geld ihrer Opfer nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sie ihnen Vertrauen entgegenbringen, die Zahlung des Geldes ist sodann lediglich das sichtbare Symbol dafür. 38

Ebd., S. 26. Ebd., S. 29. 40 Ebd., S. 29f. 41 John W. Shroeder: Sources and Symbols for Melville’s Confidence-Man, PMLA, Vol. 66, No. 4 (1951), S. 363-380, bemerkt zu dieser Aufzählung des Negers mit Namen Black Guinea: „This is a reasonable complete listing of the confidence-man’s masks.“ (S. 368) 39

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Wie John W. Shroeder bemerkte, geht die Geschichte hier in eine theologische Dimension über, denn der Name des armen Negers, Black Guinea, vereint die Farbe des Teufels mit einer Münzeinheit, die offensichtlich von Prinz Beelzebub geprägt wurde.42 Das führt zur Frage von Mark Taylor: „When the economy is theological – and what economy is not overtly or covertly theological? – does the credit system credit or discredit the currency of belief?“43 Wenn das Geld diabolischen Charakter hat, dann erweist es in der Gabe seine symbolische Gegenseite. Die Unsicherheit der Zeichen, worum es sich eigentlich handelt, führt zum beständigen Changieren zwischen Göttlichem und Teuflischem. Von dem Netzwerk des Betrugs, das sich über das Schiff gespannt hat, bekommen wir eine erste Ahnung, als der bettelnde Neger die Versammelten mit den Worten: „Nix Vertrauen zu die arme olle Swazzhaut“ anjammert, ihm darauf ein Kaufmann vom Land antwortet: „Doch, du Armer, ich habe Vertrauen zu dir“, und ihm einen Dollar gibt, dabei aber seine Visitenkarte verliert, auf die der Neger wie von ungefähr einen seiner ledernen Beinstümpfe setzt. In der Folge wird er prompt von dem Mann mit Trauerflor angesprochen, der ihn zu kennen vorgibt, wobei sich die Kenntnis auf die verlorene Visitenkarte beschränkt. Das aber reicht als Anknüpfungspunkt vollends aus, um dem Mann mit dem Trauerflor zu gestatten eine Geschichte loszuwerden, die die Anteilnahme des Kaufmanns so weit weckt, dass er aus seiner Brieftasche eine Banknote zieht, „die er indes wenig später gegen eine andere, vermutlich von etwas höherem Wert auswechselte, um sie, als der Bericht zu Ende war, mit der angelegentlichen Selbstverleugnung des Almosenspenders dem Fremden in die Hand gleiten zu lassen, der sie seinerseits mit der angelegentlichen Selbstverleugnung des Almosenempfängers in seine Rocktasche gleiten ließ“.44 Die obligate Gegengabe, wie sie nach dem Gesetz des Gabentausches nötig ist, wird in der Form einer Aktie angeboten. Der Mann mit dem Trauerflor eröffnet dem Kaufmann, dass sich zufällig der Präsident und Aktienagent der Kohlegesellschaft Black Rapids45 an Bord befinde und sein Transferbuch mit sich führe. Es wären gerade sehr günstig Aktien dieser Gesellschaft zu kaufen, weil deren Kurs durch Panikmache gefallen sei, aber das Vertrauen in den Wert des Papiers werde sich bald wieder einstellen und die Preise erneut in die Höhe treiben. Der Kaufmann antwortet, dass er zwar kein

42 Ebd.,

S. 371. C. Taylor: Discrediting God, a.a.O., S. 603. 44 H. Melville, Maskeraden, a.a.O., S. 48f. 45 Scott Donaldson: Damned Dollars and a Blessed Company: Financial Imagery in Moby-Dick, The New England Quarterly, Vol. 46, No. 2 (1973), S. 279-283, hat darauf mit einer gewissen Verwunderung hingewiesen, dass bei Melville die joint-stock company durchaus nicht nur ein Schwindelunternehmen ist, wie eben die Black Rapids Coal Company. Im Moby-Dick verwendet Melville diesen Ausdruck mehrfach „to represent the commodity of mankind“ (S. 283). 43 M.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

Spekulant sei und bislang jeglichen Umgang mit Aktien vermieden habe, aber sich „im gegenwärtigen Falle in der Tat ein wenig versucht“ fühle. Die Versuchung, das ist der vermeintlich leichte Gewinn, und der Schluss liegt nahe, warum denn der Mann mit dem Trauerflor diese Gelegenheit nicht nütze. Dieser antwortet auf zweifache Weise, einmal habe er die Aufmerksamkeit auf jene Aktie gelenkt, weil er sich für die Güte des Kaufmanns erkenntlich zeigen wollte – die Gegengabe –, zum andern weist er auf seine Mittellosigkeit hin, die ihm nicht gestatte, Aktien zu kaufen, was wiederum den Kaufmann beschämt, „der nicht umhin konnte, sich vorzuwerfen, dass er einen Augenblick lang schlecht von einem Menschen gedacht hatte, dem seine Selbstachtung ganz offenbar verbot, seinerseits ähnlichen Erwägungen nachzugeben“.46 Damit erweist sich das Schiff, das gelegentlich einmal als „Narrenschiff“ bezeichnet wird, als Allegorie einer Gesellschaft, in welcher der Appell an die Mitmenschlichkeit (Vertrauen, Gabe) nicht verklungen ist, aber zusammentrifft mit dem Impuls der Bereicherung. Melville verbindet beides in äußerst direkter Weise über das Medium des Confidence Man, der gleichsam an der Schwelle dieser beiden Welten steht.

Confidence Woman

Ein Jahr vor dem Erscheinen von Melville’s Confidence Man wird im französischen Languedoc Thérèse Daurignac geboren, die man später La Grande Thérèse nennen wird und die das brillante weibliche Gegenstück zu den zahlreichen Confidence Men darstellt, die die Wirklichkeit wie die Fiktionen bevölkern.47 Hilary Spurling hat im Zuge der Arbeiten an ihrer Matisse-Biographie die Spur der großen Thérèse entdeckt und ihre bemerkenswerte Lebensgeschichte zu einem kleinen Buch verarbeitet.48 Ihre Zusammenfassung: Als Thérèse klein war, erfand sie Paläste für sich und ihre Geschwister; als sie erwachsen war, wurden ihre Luftschlösser Wirklichkeit. Auf dem Höhepunkt ihres Lebens bewohnte sie mit ihrer ganzen Familie ein prächtiges Stadtpalais mit Marmorsälen voll schöner Gemälde und vergoldeter Möbel im vornehmsten Quartier von Paris. Den Sommer pflegten sie auf einem ihrer Landsitze zu verbringen, die alle von Parks, Jagdrevieren oder Weinbergen umgeben

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H. Melville: Maskeraden, a.a.O., S. 53. Obwohl es Trickbetrüger wahrscheinlich überall gibt, ist diese Figur in der amerikanischen Literatur und im amerikanischen Film besonders beliebt. 48 Hilary Spurling: La Grande Thérèse. Die Geschichte eines Jahrhundertschwindels. Aus dem Englischen von Mathias Wolf, Berlin 2006. Es gibt auch eine vierteilige TV Fassung von 1983 mit Simone Signoret in der Rolle der Thérèse. 47

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waren. La Grande Thérèse, wie sie genannt wurde, stand zwanzig Jahre lang als eine der bekanntesten und einflussreichsten Frauen Frankreichs im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die Pariser Hautevolee wetteiferte um ihre Gunst. Es war der geradezu märchenhafte Ausgang der Geschichte eines ungebildeten Dorfmädchens von einfachster Herkunft, das als Kapital nichts weiter besaß als seine Phantasie.49

Sie verklärte ihre dörfliche Armut mit eingebildeten Erbschaften, eine Manie, die sie von ihrem Vater übernahm, der auch gelegentlich eine aristokratische Abstammung phantasierte, die mit Dokumenten verwahrt in geheimnisvollen Kisten belegbar sei. Die junge Thérèse nutzte die gewerbliche Kreditkultur von Toulouse, indem sie Schulden bei Schneidern, Schuh- und Hutmachern anhäufte und mit lispelnder Stimme, die Spurling „zauberhaft“ nennt und der angeblich niemand widerstehen konnte, sagte: „Ich werde Sie bezahlen, sobald ich meine Erbschaft bekommen.“ Damit wäre sie zwar früher oder später in Schuldhaft genommen worden, aber nicht in die Geschichte Frankreichs eingegangen. Erst als eine ihrer Tanten den jungen Rechtslehrer Gustave Humbert ehelichte, drehte sich die Sache ins Große, indem ihr Spiel nunmehr auf der politischen Bühne seine Fortsetzung und glanzvolle Erweiterung fand. Besagter Gustave, ein „Ehrgeizling mit politischen Ambitionen“50, machte als gefinkelter Jurist eine steile politische Karriere und wurde zu einem der Verfassungsväter der Dritten Republik nach dem Krieg von 1870/71. Thérèse heiratete 1878 seinen Sohn Frédéric. Die überaus festliche Hochzeit wurde natürlich gänzlich auf Pump gefeiert, keine Rechnung dafür wurde je bezahlt. Es wird wohl kaum dieses Geschick von Thérèse gewesen sein, das den inzwischen berühmten Politiker Humbert zur Einwilligung zu dieser Hochzeit bewogen hat. Da Geld auch auf der politischen Bühne keine kleine Rolle spielt, wird eher wohl ein Zeichen von Reichtum nötig gewesen sein, um den Vater zu überzeugen. Dieses Zeichen „materialisierte“ sich, so vermutet Spurling, in einem Schloss, Château de Marcotte, ein von Thérèse erfundenes Anwesen, ihr von ebenso erfundenen Erblasserinnen übermacht. Ihre Einbildungskraft war immerhin so stark, dass sie ihren jungen Ehemann mit Gemüse und Obst aus dem Schlossgarten verwöhnte. Noch wichtiger war, dass sie einen engen Vertrauten von Vater Humbert, Armand Parayre, zum notariell beglaubigten Verwalter dieses Schlosses machte, dass er natürlich nie zu Gesicht bekam. Aber das juristische Zeichen der notariellen Vollmacht überzeugte Parayre offensichtlich von der Realität des Schlosses, worauf dieser über jeden Verdacht erhabene und in hohem Ansehen stehende Parayre gleichsam selbst zum Beglaubigungszeichen für die Existenz von Marcotte wurde. Zu Gustave 49 50

Ebd., S. 8. Ebd., S. 20f.

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

Humbert stand Parayre in einem Loyalitätsverhältnis, das von diesem wiederum gegenüber dem jungen Radikalen mit Vertrauen beantwortet wurde. Auch der inzwischen zum Senator aufgestiegene Gustave Humbert besaß einen untadeligen Ruf. Sein Vater hatte an der Französischen Revolution, er selbst an jener von 1848 teilgenommen. Er war der unbestrittene Kopf einer Gruppe von Sozialisten, Freidenkern und Freimaurern in Toulouse, die sich zur Verteidigung der republikanischen Ideale gegen die erstarkende Rechte zusammentaten. Gustave Humbert besaß allerdings kein Vermögen, und so vermutet Spurling, dass ihm die vermeintliche Erbschaft seiner Schwiegertochter höchst willkommen war. Ob sie ihn erfolgreich in die Irre führte und wie lange er darin verharrte, bleibt ein Familiengeheimnis. Tatsächlich versuchte er Geld auf das eingebildete Schloss aufzunehmen. Thérèse hatte inzwischen eine weitere Erbschaft erfunden, eine Korkeichenplantage in Portugal, und auch um dieses Anwesen kümmerte sich Vater Humbert. Als er im Januar 1882 zum Justizminister ernannt wurde, gelang es ihm, auf diesen Besitz ein privates Darlehen von 60 000 Francs (umgerechnet ca. 170 000 Euro) aufzunehmen. Vater Humbert sah nun die Zeit gekommen, nachdem seine Ministerschaft nur kurz währte, ein Textbuch zu verfassen, das aus den „absurden, unglaubwürdigen und hoffnungslos inkohärenten Erfindungen“ von Thérèse ein Stück schuf und gleichzeitig aus der Provinzposse ein Staatsdrama machte. Mit seinem Sohn zog er sich im Sommer 1883 auf einen Landsitz zurück, um diese Arbeit ungestört zu leisten. Thérèse fiel natürlich eine Hauptrolle zu, der Portugiese wurde in einen amerikanischen Millionär namens Crawford verwandelt, der 1877 Thérèse als seine Universalerbin eingesetzt hatte und ihr damit die Summe von 100 Millionen Francs (umgerechnet ca. 300 Millionen Euro) vermachte. Eine Erbschaft, die es nicht gibt, kann man auch nicht ausgeben, das ist der Unterschied zwischen eingebildetem und wirklichem Geld. Man kann diese eingebildeten Millionen zu einem Lockmittel für wirkliches Geld machen, denn wo Geld ist, oder vorgibt zu sein, da fliegt Geld zu. Die lockenden Papiere wurden in der modernen Schatztruhe versenkt, einem Safe, der nunmehr das Zentrum bildete, um das die Gläubiger kreisten und das sie nur in Ausnahmefällen zu sehen bekamen, genauer, was sie zu sehen bekamen, waren ein Safe und irgendwelche Papiere. Er enthielt, so sagte man, besagtes Testament und noch ein weiteres, das verfügte, „dass alles zu gleichen Teilen zwischen Maria Daurignac“, der Schwester von Thérèse, „und den beiden amerikanischen Neffen des im Sterben liegenden Millionärs, Robert und Henry Crawford, aufzuteilen sei“. Diese wiederum erklärten sich angeblich in einem weiteren Dokument dazu bereit, das gesamte Vermögen ihres Onkels der Obhut von Madame Humbert anzuvertrauen, unter der Bedingung, dass es bis zur Beilegung des Rechtsstreits unversehrt bleibe (bis dahin sollten die Humberts von dem jährlich anfallenden Zinsertrag aus den Schuldverschreibungen leben). Das Letzte war eine

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achtzehn Monate später aufgesetzte Urkunde, mit der die Crawfords gegen eine Barzahlung von sechs Millionen Francs sowie das Eheversprechen Marias an einen der beiden Brüder auf ihre Ansprüche verzichteten.51

Die erfundenen Neffen hinderten also Thérèse am Zugriff auf ihr nicht existierendes Vermögen, sie stellten aber die notwendige Plausibilität für den Kredithunger der Humberts dar. „Als die Crawfords schließlich den Preis für ihren Rückzug nannten, rissen sich die Geldgeber geradezu darum, der triumphierenden Erbin die sechs Millionen Francs zu äußerst vorteilhaften Zinssätzen zur Verfügung zu stellen.“52 Die heimtückischen Neffen aber, so sagte Thérèse, nahmen unter irgendeinem Vorwand das Geld nicht an, worauf ein Prozess gegen sie angestrengt wurde, der so real war, wie Rechtsstreitigkeiten eben sind. Es ging ja nur darum die Rechtmäßigkeit von Ansprüchen zu prüfen, keineswegs ob darum, ob die Neffen tatsächlich existierten, die von realen Anwälten vor realen Gerichten „vertreten“ wurden. Inzwischen flossen beträchtliche Summen „realen“ Geldes von Privaten, Banken und Unternehmen den Humbert’s zu, die dafür Schlösser kauften, so z.B. das Château de Celeyran, Stammsitz der Comtesse de Toulouse-Lautrec, und eine prachtvolle Residenz in der Avenue de la Grande Armée Nr. 65. Hier wurden prachtvolle Empfänge veranstaltet, bei der sich zuweilen der Präsident der Republik einfand, ebenso wie der Polizeichef von Paris, aber auch Schriftsteller wie etwa Emile Zola. Damals war Thérèse noch nicht einmal dreißig Jahre alt. „Ihre Naivität spielte für die reibungslose Durchführung des schwiegerväterlichen Plans eine ebenso entscheidende Rolle wie ihre Überzeugungskunst. Das Vertrauen von Investoren in diese spezielle Illusion ließ sich nur dadurch gewinnen, dass Thérèse all ihre Sehnsüchte voll auslebte, die durch ihre armselige Vergangenheit unterdrückt, aber keineswegs verdrängt waren. Sie inkarnierte nicht nur ihre eigenen Träume, sondern auch diejenigen anderer.“53 Bei der langjährigen Aufführung dieser Inszenierung kam dem Ehemann von Thérèse, Frédérik, die Verantwortung für die reibungslose Durchführung des väterlichen Planes zu, Catherine Parayre, die Vertraute und Hausverwalterin, war die Inspizientin, Thérèse der „unangefochtene Bühnenstar“ und ihr Bruder Romain operierte hinter den Kulissen, „wo unsichtbare Fäden gezogen, Hebel in Gang gesetzt und Fallen gestellt wurden“, gelegentlich auch unwillige Gläubiger umgebracht wurden. Das Ende kam rasch. Ein Gläubiger klagte auf Erstattung seines Darlehens, das er Thérèse zu dem stolzen Zinssatz von 64,14% gewährt hatte. Im Gegenzug

51 Ebd.,

S. 57. Ebd. 53 Ebd., S. 45. 52

DIE INSZENIERUNG VON VERTRAUEN

beschuldigte sie ihn der Wucherei. Auf die Frage des Berufungsrichters, wo denn in New York die Neffen Crawford wohnen, gab Thérèse als Adresse 1302 Broadway an, wo sich aber die Neffen nicht finden ließen. Daraufhin wurde die Öffnung des Safes für den 9. Mai 1902 angeordnet. Der versammelten Menge konnte nun endlich der Inhalt der Schatztruhe gezeigt werden: eine alte Zeitung, eine italienische Münze und ein Hosenknopf.54 Die zunächst spurlos verschwundenen Humberts wurden Ende des Jahres in Madrid verhaftet, 1903 wurde ihnen der Prozess gemacht. An einer Stelle nun ergibt sich auch in dieser Geschichte ein Übergang zur literarischen Verarbeitung. Ein Freund des Hauses und oftmaliger Gast an der festlichen Tafel, Emile Zola, publizierte 1890 seinen Roman Das Geld (L’argent). Thema des Romans ist Aufstieg und Fall der Bank Union Générale, die 1878 von Paul-Eugène Bontoux gegründet worden war und die 1882 bankrott ging. Bontoux, ein Ingenieur, vormals in Österreich im Dienste der Südbahn, die dem Rothschild-Empire zuzurechnen war, wurde hier gefeuert, weil er mit dem Kapital von Rothschild spekuliert hatte. Das brachte ihn dazu, mit Hilfe rechter katholischer Financiers Rothschild den Kampf anzusagen. Die Arena dafür war die Börse von Paris.55 „Bontoux organized a new financial network to channel French capital to Central and Southern Europe, aiming to challenge the position of the Rothschild-Creditanstalt group in Vienna.“56 Das passte ganz gut in die Pläne der Habsburgermonarchie, den Balkan via Eisenbahnlinien für eigene Zwecke zu erschließen. Der Zusammenbruch der Union Générale löste nicht nur bei der republikanischen Linken Freude aus, sie fiel auch punktgenau in die Ministerschaft von Gustave Humbert, der die Gunst der Stunde zu nutzen verstand und daraus das „Startkapital“ für das Unternehmen Grande Thérèse zog.57 Zola, der davon wahrscheinlich nichts wusste, konnte vielleicht doch andere Informationen nutzen, die ihm Gustave Humbert, der 1894 verstarb, gleichsam als literarisches Kapital überlassen mochte, denn schließlich war der Dichter eine Münze der „currency of reputation“ der Familie.

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Ebd., S. 83. theatralischer Charakter drückt sich in den Bezeichnungen parquet für die amtliche Börse und coulisse für den freien Börsenverkehr aus. 56 Eugene N. White: The Krach of 1882 and the Bailout of the Paris Bourse [http://www.ata.boun. edu.tr/ehes/Istanbul%20Conference%20Papers-%20May/202005/White-Krach%20of%201882. pdf – Zugriff Mai 2008]. 57 Soweit jedenfalls die starke Vermutung von Spurling, denn „kurz nach dem Crash deponierte der neue Minister insgeheim große Summen (manche sprachen von zwei Millionen Francs) auf verschiedenen Privatkonten“ (S. 40). 55 Deren

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Heiner Wilharm EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT. BAUSTEINE DER SZENOLOGIK

Im szenografischen Kontext über Ereignisse nachzudenken, über die Räume und Zeiten, in und zu denen Ereignisse stattfinden, auch die Art und Weise, in der man darüber spricht, scheint auf der Hand zu liegen. Ist doch ein gängiges Bild szenografischen Gestaltens davon geprägt, dass es sich um „Event-Design“ handelt, Gestaltung von Geschehnissen und Erlebnissen. Ereignisse werden in dieser Sicht als außergewöhnliche Veranstaltungen verstanden, Veranstaltungen, auf denen es Außergewöhnliches, etwas, das nicht zur alltäglichen Erfahrung gehört, zu erleben gibt. Was „von ‚Praktikern‘ wie von ihren wissenschaftlichen Beobachtern ‚Events‘ genannt“ wird, sind „soziale Gebilde, die insbesondere wegen ihres dramatischen Ereignischarakters“ diese Charakterisierung erfahren.1 Die Frage ist, ob, was für „Events“ offenbar als verbindlich gilt – dass sie unter Zuhilfenahme theatraler und gestalterisch kreativer Kompetenzen und Fähigkeiten planbar, organisierbar und machbar seien2 –, ob dies zur Logik von Ereignissen schlechthin gehört. Und ob Ereignisse somit generell mittels inszenatorischer Praxis und szenografischen Tuns „hergestellt“ werden oder ob es sich dabei um besondere Ereignisse oder Typen von Ereignissen handelt. In einem weiteren Schritt wäre zu klären, wie es dazu kommt und was der Indikator dafür ist, dass von einem ‚gelungenen‘ Ereignis gesprochen werden kann, so wie man es von Events sagt, und was offenbar mit ihrem Erfolg zu tun hat.

Exposition: Ontologie ‚Ereignis‘

Zweifellos gibt es einen Gebrauch von ‚Ereignis‘, der nahe an dem ist, was ‚Event‘ meint. Die Bedeutung zielt dabei weniger auf Dramatik als auf Exklusivität. In dieser Sicht erscheinen Ereignisse generell exklusiv; je ‚bedeutender‘, um so exklusiver, um so seltener. Ein Ereignis von Jahrhundertbedeutung: die Krönungsfeierlichkeiten zur 1

Herbert Willem: Events: Kultur – Identität – Marketing. Zur Soziologie sozialer Anlässe: Struktur, Performativität und Identitätsrelevanz von Events, in: Performativität und Ereignis, hgg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn und Matthias Warstat, Tübingen und Basel 2003, S. 83. 2 Siehe ebd., S. 86ff.

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Inthronisierung Königin Elisabeth II. 1952. Ein anderes: der Untergang der Titanic 1912. Oder der Venustransit des Jahres 2004. – Die ersten beiden historische und soziale Ereignisse, Letzteres offenbar ein vergleichbar exklusives Naturereignis, das entsprechend als „astronomisches Ereignis“ gewertet wird. Aber auch das Dezemberhochwasser am Rhein des Jahres 1993 gilt als „Jahrhundertereignis“, so dass man annehmen muss, dass es Rangfolgen der Exklusivität gibt. Zudem muss man annehmen, dass Ereignisse offenbar keineswegs alle geplant und in diesem Sinne gestaltet sind; dass wir die Bezeichnung oft genug auch dort vergeben, wo lediglich etwas ‚passiert‘, geschieht oder geschehen ist. Jedenfalls wenn wir davon ausgehen, dass die Titanic nicht geplant versenkt wurde und die Venus von selbst an der Sonne vorbeizog. Und wenn wir weiter annehmen, das wir diese ‚Tatsachen‘ allein schon, ohne weiteres Zutun, als Ereignis charakterisieren dürften. Ob dies nun dazu führen muss, dass aus den beiden Zuschreibungen, dass etwas geschieht oder geschehen ist bzw. dass etwas geplant und in bestimmter Weise arrangiert geschehen ist, unterschiedliche Ereignistypen zu destillieren, wird zu diskutieren sein. Auch die Krönungsfeierlichkeiten ließen sich natürlich einfach als Begebenheit konstatieren, als historisches Datum. Doch würde man dann vielleicht eher den schlichten Eintrag ‚Krönung‘, ‚Krönung Elisabeth II., 1952‘ erwarten. Mit ‚Krönungsfeierlichkeiten‘ wiederum wird eher das Geschehen angesprochen, von dem wir vermuten oder wissen, dass es Verantwortliche für seine Gestaltung, dass es einen Handlungskontext differenzierter Ausprägung gegeben hat, von dem wir bestimmte Charakteristika schon kennen, allerdings nicht die mit dem Eigennamen ‚Elisabeth II.‘ und der Jahreszahl ‚1952‘ verbundenen. Ist ein derartiges ‚epistemisches Surplus‘, resultierend aus einem Wissen um den Gestaltungskontext und auch gewissen Vermutungen über die Art der Gestaltung, angesichts der beiden anderen Ereignisbeispiele ausgeschlossen? Keineswegs. Wir könnten eine Intention aufs Ganze des Tatsachengeschehens ausschließen, nichtsdestotrotz gewisse Verantwortlichkeiten für den Ausdruck, den das Ereignis findet oder fand, durchaus zuschreiben. Für den Untergang der Titanic ist dies schon dutzendfach geschehen, in Buch und Film gesagt und gezeigt worden. Für gewisse Naturereignisse im Einflussfeld menschlicher Aktivitäten, etwa ein Jahrhunderthochwasser, genauso. Für andere solcher Naturereignisse, den Durchzug der Venus vor der Sonne, scheint die Lage schwieriger. Was dort geschieht, scheint nach eigenen Gesetzen zu verlaufen. Doch macht uns diese Diagnose auf weitere Unterscheidungen aufmerksam. Dass sich der Planet (scheinbar) vor die Sonne setzt, gilt als ‚astronomisches Ereignis‘. Und tatsächlich heißt das gewöhnlich, dass, was dort am Himmel nach Gesetzen der Gestirne passiert, ohne menschliche Mitwirkung geschieht. Doch ist ein ‚astronomisches Ereignis‘ zweifellos auch ein Ereignis der Astronomie, ein wissenschaftliches Ereignis. Und die Überzeugungen der Astronomie lieferten zum Venustransit als wie auch immer geartetem eigengesetzlichen Geschehen ganz sicher

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

ein Mehr an Verständnis. Was für einem Verständnis gegenüber ‚mehr‘? Vielleicht einem sehr rudimentären, dem man gar nicht zubilligt, ‚Verständnis‘ zu heißen, und das lediglich eine Beobachtung mit einem Namen zusammenbringt. Die Astronomie dagegen gilt als Autorität, als die Instanz, die beurteilen kann, was die beteiligten ‚Objekte‘ für welche sind, und ob es sich tatsächlich um ein „Jahrhundertereignis“, einen sehr seltenen Vorgang und nicht etwa um eine, nach astronomischen Kriterien als Standardsituation zu bezeichnendes Geschehen ohne besondere Ereignisqualität im landläufigen Sinne handelt. Wieder die Frage, sind es ein, zwei oder mehrere Ereignisse, mit denen wir es zu tun haben? Dem puren Ereignis und dem Geschehen, das sich durch die darauf bezogenen epistemischen – oder sonstigen propositionalen – Einstellungen und Praktiken ausdrückt. Wenn wir nun Naturereignisse nicht nur in Fällen wie dem Venusdurchzug an ihrer Tatsächlichkeit messen, Tatsächlichkeit wiederum als ein derartiges physikalisches Geschehen in der realen Welt indiziert sehen, das auch mit ‚Krönungsfeierlichkeiten‘ einhergeht, müssten wir dann nicht Abhängigkeiten zwischen physikalischen und psychischen Ereignissen vermuten, kausale Wechselwirkung zum Beispiel? Schließlich ist es nicht abwegig anzunehmen, dass es eben diese seltene Bahnbewegung der Venus war, die eine entsprechende Überzeugung von ihrer Existenz verursachte. Vergleichbar aber dürfte man dann auch mit einigem Recht behaupten, dass die Inszenierung der Feierlichkeiten zur Krönung Elisabeths im Jahr 1952 (etwa der königlichen Parade als Teil dieses Ereignisses) nicht nur von etlichen Wahrnehmungen, Hoffnungen, Einschätzungen, Absichten, Entscheidungen begleitet wurde, sondern dass diese mentalen und praktischen Einstellungen der Akteure zu gewissen gemeinsamen Handlungen führten, die ihrerseits insgesamt am Ende darauf Einfluss nahmen, dass sich das Fest so abspielte, wie es sich abspielte. Wenn also ‚Kausalität‘, ‚Verursachung‘, ‚Wirkung‘ oder irgend eine vergleichbare Charakterisierung von Einflussnahme für die Beschreibung der Beziehungen von Handlungen und Ereignissen aufeinander eine Rolle spielen sollte, dann offensichtlich immer unter der Voraussetzung, dass entsprechende Zuschreibungen wechselseitige Abhängigkeiten oder Bestimmungen zulassen. Die Frage, ob es sich bei den ‚verursachenden‘ und davon ‚verursachten‘ „Begebenheiten“3, die Berechtigung dieser Terminologie einen 3

„Begebenheit“ benutzt Kant als Ausdruck eines „Sich-Ergebens“ und in diesem Sinne (siehe Immanuel Kant, Krakauer Fragment zum Streit der Fakultäten, in: Otto H. Gablentz (Hg.): Kant, Politische Schriften, Köln/Opladen 1965, S. 167-174) eines „Ereignisses“. Die Begebenheit hat für Kant hinweisenden Zeichencharakter, aber nicht beweisenden. Dafür ist sie zu unbestimmt in der Zeit. Es handelt sich also bei der Begebenheit bestenfalls um ein Indiz für einen Beweis. Und nur in diesem Sinne kann von Verursachung, gewisserweise einer unterbestimmten Verursachung gesprochen werden. Als „Geschichtszeichen“ ist die Begebenheit ein Zeichen, das erinnert, zeigt und vorhersagt. Siehe dazu Jean François Lyotard: Der Widerstreit, München 1989, S. 272/273 (Das Geschichtszeichen, Kant IV).

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Augenblick unterstellt, jeweils um mehrere (aber mindestens zwei) Einzelereignisse handelt oder um nur ein komplexes Ereignis, ist damit nicht geklärt. Fragt man im Beispiel nach dem Sinn der „geistigen Ereignisse“, die mit dem Krönungsevent verbunden waren, scheint es vernünftig, gewisse Zusammenhänge psychischphysischer Aktivität durchaus als ein Ereignis zu beschreiben.4 Jedenfalls wenn man in Hinsicht auf die Krönung der Königin spricht. Die Rede von der Hinsichtlichkeit erinnert daran, dass Handlungen „unter einer Beschreibung“ stehend verhandelt werden, wie es G.E.M. Anscombe und mit ihr die analytische Handlungstheorie vorschlagen haben. Wenn Handlungen „Spielarten“ von Ereignissen sein sollten, stehen Ereignisse ebenfalls unter Beschreibungen?5 Gilt dies auch für Naturereignisse oder physikalische Tatsachen? Und wenn es kausale oder vergleichbare Wirkungen von Handlungen und Ereignissen aufeinander gibt, welche Gesetze, wenn es denn Gesetze sind, regieren die Wirkungen und Abhängigkeiten? Versuche, solche Fragen genauer zu formulieren und zu beantworten, werden uns im Folgenden ins Zentrum unserer Überlegungen bewegen. Treiben wir die Exposition anhand der gegebenen Beispiele noch etwas weiter. Und sagen wir gleich, dass die Erwägungen dieses Aufsatzes im Wesentlichen mit semiotischen Analysen und Argumenten arbeiten, ohne gewisse metaphysische oder ontologische Problemstellungen aus dem Auge zu verlieren. Doch scheint es nicht abwegig, angesichts einer Vielzahl klärungsbedürftiger Phänomene, die offensichtlich mit ‚Darstellungen‘ zu tun haben, auf eine bewährte ‚Darstellungslogik‘ zurückzugreifen, wie sie zum Beispiel Peirce mit seinen logischen und semiotischen Arbeiten vorgelegt hat. Ein fernes ‚Naturereignis‘ sensibilisiert für die Möglichkeit, das Ereignis von den darauf bezogenen und sich artikulierenden Wissens-, Empfindungs-, Verhaltens- und Handlungsformen isoliert zu denken. Die Möglichkeit der Erfahrung damit – dass sich ‚etwas‘ ereignet – wäre dann allerdings daran gebunden, das ‚Etwas‘ weitgehend auszublenden. Nicht nur die Intentionen, irgendwelche propositionalen Einstellungen. Nein, auch die Propositionen und jede Form, das Etwas zu ‚fassen‘ – in sprachlich begrifflicher, emotionaler, praktischer Art. Es hieße, den Inhalt des Ereignisses samt der Instanzen, sich seiner zu versichern, ruhig zu stellen zugunsten eines sprachlosen Über-sich-Ergehen und Auf-sich-Wirken-Lassens. Wie aber sollte dann 4

„Wechselwirkung“ wird also nicht nur im Sinne physisch-psychischer und psycho-physischer, sondern auch physisch-physischer und psycho-psychischer Wirkung verstanden. Siehe: Donald Davidson: Geistige Ereignisse, in: Ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main 1985, S. 291-320. 5 „[…] haben wir uns daran gewöhnt, von Handlungen (die ja vermutlich eine Spielart von Ereignissen sind) ‚unter einer Beschreibung‘ zu reden.“ D. Davidson: Zur Individuation von Ereignissen, in: Handlung und Ereignis, a.a.O., S. 233; die Erinnerung geht auf den Vorschlag Anscombes in Intention (1957/21963) zurück. Siehe: G.E.M. Anscombe, Absicht, hgg. von J. M. Connolly/ Th. Keutner, Freiburg/München 1986.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

auch nur die Anwesenheit eines anderen vorstellbar sein? Was das ‚Etwas‘ betrifft, offenbar im Zustand eines gleichsam puren Daseins. Was sein Gegenüber betrifft, im Zustand purer körperlicher Präsenz, einer Präsenz der Sinne ganz ohne „Vermögen“.6 Es hieße Verzicht auf die Zeichen, bedeutete die zweifellos paradoxe Möglichkeit, ein ‚Sich-Ereignen‘ vor den Umdrehungen der Semiose zu denken. „Erstheit“ im Peirce’schen Sinne7, eine kategoriale Bemühung um diesen Status, müsste als transitorisches Stadium ignoriert und statt dessen material geltend gemacht werden, als Anfang, doch ohne Spur. Wobei ein Wie-auch-immer-geltend-machen von „Erstheit“ – einer „metaphysischen Illusion“ (Lyotard) – im Sinne einer „Situation“, die immerhin eine Eines und ein Anderes verlangt, schon auf „Zweitheit“, „Widerstreit“ verweist, nicht auf „Unmittelbarkeit“.8 Selbst wenn auf der Seite des Subjekts nichts mehr zustande gebracht würde als das Merken eines qua Empfindung anwesenden Sinneseindrucks. Nun liegt es nicht in unserer Absicht, diese Art der Ereignisontologie9 programmatisch zu wenden oder uns normativ der einen oder anderen Ereignisdeutung anzu6

Vgl. Michel Serres: Die fünf Sinne, Frankfurt am Main 1993.

7 „‚Erstheiten‘ oder positive interne Eigenschaften des Gegenstandes an sich“. Charles S. Peirce: Der

Kern des Pragmatismus – Drei Auszüge zu seiner Begründung (H) 1907; 2. Auszug, III. Fragment, Prag S.12 -47, in: Semiotische Schriften Bd. 3, hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1993, S. 278; „Die Seinsweise der Qualität ist die Erstheit. Das heißt, daß es sich um eine Möglichkeit handelt. Sie ist auf die Materie akzidentell bezogen; diese Relation verändert die Qualität in keiner Weise, außer daß sie ihr Existenz verleiht, d.h. genau diese Relation der Inhärenz. [erg. „einer Qualität zu der Materie“] Doch andererseits hat die Materie überhaupt kein Sein, außer dem Sein als Gegenstand von Qualität. Diese Relation des wirklichen Habens von Qualitäten konstituiert ihre Existenz. Doch wenn alle Qualitäten entfernt werden würden und nur qualitätslose Materie zurückbliebe, so existierte sie nicht nur nicht, sondern sie könnte noch nicht einmal eine positiv bestimmte Möglichkeit haben – wie eine nicht verkörperte Qualität sie aufweist. Sie wäre schlicht gar nichts.“ Ders., in: Semiotische Schriften. Bd. 2, C.S.P.’s Lowell-Lecture von 1903, Teil 2 des 3. Entwurfs der Dritten Vorlesung, II. Parallelversion, S. 157; Hervorh. C.S.P. 8 Lyotard spricht in seiner Analyse der Transzendentalen Ästhetik, in der Kant diese Momente des materialen Objekts, des „Gegenstands“ mit Namen „Erscheinung“ auf der einen, der „Anschauung“ auf der anderen Seite thematisiert (Kritik der reinen Vernunft, B §1), vom „bewegten Schweigen“ auf Seiten des Subjekts: „Aber es weiß, als sinnlich affizierter Empfänger, als Empfänglichkeit, dass sich etwas, eine Bedeutung, von der anderen Seite her in Sätze zu ‚setzen‘ sucht, und das im RaumZeit-Idiom nicht zustande bringt. Deshalb ist die Empfindung ein Modus des Gefühls, das heißt ein Satz, der auf seinen Ausdruck wartet, ein bewegtes Schweigen.“ Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, 21989, S. 114 (Die Darstellung Kant I) Ganz wie in Peircens Kantlektüre zeichnet sich die ‚situative Ausstattung‘ dieser ontologischen Szene aber durch die Anwesenheit zweier Partner aus, die dann für sich gegenseitig Sender und Empfänger darstellen. Sie eröffnen den Semioseprozess. Man kann sie abstrakt so definieren, dass ‚etwas A und etwas B, ein jedes so ist, dass A Bs Sosein (being at is it) und B As Sosein ist, unabhängig von etwas Drittem‘.“ „Eine Tatsache der Zweitheit muss hic et nunc sein“. Charles S. Peirce: Kategoriale Strukturen und graphische Logik (H): Logischer Traktat 2, MS 492, 1903, in: Semiotische Schriften 2, a.a.O. S. 109/110; Hervorh. C.S.P. 9 Vergleiche die ausgezeichnete Ausleuchtung der Problematik in den einschlägigen Beiträgen von Dieter Mersch. Unter anderem in: Ereignis und Aura. Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002. Einen Überblick auf weitere Arbeiten des Autors zum Thema findet man ebd., S. 308.

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schließen. Denn die Fragestellung nach dem Dass-es-geschieht ergibt sich durchaus empirisch, etwa angesichts der Frage nach der Identität und der Individualität eines Ereignisses, der Kriterien, die wir anlegen, um von einem Ereignis, von vielen zu sprechen oder vom selben. Und da werden wir zum einen nicht annehmen, dass ein ‚astronomisches Ereignis‘ wie das geschilderte ein Ereignis nur der Astronomie, paradox verstanden als Ereignis geradezu ohne Astronomie sein könnte. Denn das verbietet jeder vernünftige Begriff von Wissenschaft. Wir unterstellen mithin einen Eigenraum von Sternen, besonderen Gestirnkonstellationen und Himmelsbahnen als astronomische Ereignisse – sozusagen sich selbst10 und andere – veranlassend.11 Einerseits. Andererseits aber kann zum einen die Souveränität der Sinne oder der Reflexion versagen. Etwa in Folge einer Überwältigung durch das Ereignis. Zum anderen mag es angesichts der immer unternommenen Versuche zur Semiotisierung der Wahrnehmung – denn selbstverständlich glaubt keiner, dass sich ein ‚reines Geschehen‘ nicht als ‚Etwas‘ erwiese, zeigte oder gefasst würde –, zum anderen also mag es dazu kommen, dass die Versuche aufgrund von Irritationen und in der Folge von Urteilsschwäche abgebrochen werden und nichts bleibt als eine Art passiver Faszination vor dem Auftauchenden.12 Auch solchen Phänomenen nachzugehen13, wollen wir uns nicht vorderhand begeben. Folglich setzen wir an mit einem oszillierenden Ereignisbegriff. Mit ihm erschließen wir uns so etwas wie diskursive und dispositive Semiose-Ereignisse. Wobei uns die Peirce’sche Semiotik lehrt, dass die nicht im ursprünglichen Zeichenund Bedeutungsraum verbleiben, sondern sich aufmachen durch die Welt, dass sie qua Medium neue und unterschiedliche Szenen besetzen und in diesem Sinne die Materialitäten der Objekte und Ereignisse vorübergehend fixieren14, Wirkliches 10

Vgl. Whitehead über die Selbstveranlassung oder Selbstverursachung aller „wirklichen Einzelwesen“ und die darin liegende Möglichkeit, sich gegenseitig zu transzendieren. Alfred N. Whitehead: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt am Main 1984, S. 406-408. 11 Bei dem begleitenden „public viewing“ liegt die Sache möglicherweise schon etwas anders. Zwar wird man der Beobachtung eines solchen Ereignisses wohl entnehmen, dass es sich auch ereignet hätte, wenn niemand hingesehen hätte. (Die FAZ berichtete Mitte Juli 2008 darüber, dass den Astronomen der Zusammenbruch eines Roten Riesen zum weißen Zwerg vor Jahresfrist entgangen sei, obwohl der Stern rund 10 Mal heller am Himmel leuchtete als vordem. Nur durch automatische Himmels-Scans wurde dieses Ereignis aufgezeichnet und bei einer Routinesichtung entdeckt. Ein Datenereignis.) Aber eine Täuschung wäre, soweit die Mittel dazu nicht bereit stünden, prinzipiell nicht ausgeschlossen. Allerdings wäre dann auch die Frage, von welcher Ereignisdifferenz überhaupt die Rede sei. Es könnte sich um ein Zirkusereignis handeln. 12 Vgl. D. Mersch: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 43/44. 13 Wir bleiben also auf die Problematik von Erstheit und Zweitheit angesichts der gewöhnlichen Unternehmungen des Verstehens im Rahmen von Darstellungen und „Drittheit“ (s.u.) verwiesen. 14 „In der vom Zeichen unabhängigen, physischen Realität vollzieht sich eine durch das Zeichen beeinflusste Entwicklung in der Form einer nicht abbrechenden Folge von Veränderungen, die der Realität der materiellen Objekte eine symboloide Form gibt.“ Helmut Pape: Der mathematische

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bestimmen, welches „von seinem Wesen her Darstellung ist; […] ein Element der Drittheit“. Geht es um das repräsentierende Objekt, spricht die Semiotik mit Blick auf die Spiralen der Bedeutung und den Sinn gerne von „Repräsentamen“.15 Es ist Zeichenobjekt. Gleichwohl, wenn wir so tun, als könnten wir davon absehen, dass die Dinge uns nötigen, sie als Zeichen für etwas zu akzeptieren, sehen wir im ersten Signifikanten die Materialität von Körpern, „Zeichen-Körpern“, wie die Übersetzung zuweilen lautet, die sich der Wirkung von wirklichen Objekten verdanken.16 – Kein Verschwinden der Objekte also, kein Konstruktivismus oder Sozialkonstruktruktivismus im von Latour beanstandeten Verständnis!17 – Dann könnte man annehmen, dass die im Verständigungsgeschäft normalerweise aktive Medialität ihre Mittlerschaft in Absehung vom einzelnen Vermittlungsvorhaben überhaupt als Evidenz des Stoffs erwiese. Da und soweit unspezifisch, über alle denkbaren einzelnen Bedeutungsräume und -wege hinweg, um dann aber diese noch identitätslose Qualität, die nicht mehr, aber auch nicht weniger gilt, als zu existieren, immer wieder aufzuheben und der Gewalt der Semiose zu überlassen oder zu übergeben. Die Gewalt geht vom Stoff aus. „Was das Zeichen18 tatsächlich zu tun hat, um sein [!] Objekt zu indizieren – und um es zu dem seinen zu machen – und alles was es zu tun hat, besteht nur darin, sich der Augen seiner Interpreten zu bemächtigen, und sie zwangsweise auf das gemeinte Objekt zu richten: dies ist, was ein Klopfen an der Tür bewirkt oder ein Klingeln oder ein Glocke, ein Pfeifen, ein Kanonenschuß usw. Es handelt sich um einen rein physiologischen Zwang, nichts sonst.“19 Da die semiotisch medientheoretische Perspektive, derart aufgezogen, erlaubt, Affären von und zwischen Körpern und Geschichten auszudenken, gehen wir noch

Begriff des Kontinuums als Modell einer Metaphysik der Semiotik, in: C. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 1, a.a.O., S. 31. 15 Siehe Charles S. Peirce, C.S.P.’s Lowell-Lecture von 1903, a.a.O., S. 163f. 16 Eine Wirkliches nämlich, das von seinem Wesen her eine Darstellung ist – oder „Element der Drittheit“ – ist es deshalb, „weil ein Repräsentamen (oder repräsentierendes Objekt) als etwas definiert werden kann, dessen Sein darin besteht, dass es eine Relation zu einem Zweiten besitzt, sein dargestelltes Objekt, so es ein Drittes bestimmt, seine Interpretanten-Darstellung, in derselben Relation zu jenem Zweiten zu stehen.“ Ch. S. Peirce, Kategoriale Strukturen und graphische Logik, a.a.O., S. 112; Hervorh. C.S.P. Vgl. auch die Objektbindung jeder indexikalischen Funktion. 17 Z.B. in: Bruno Latour: Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Mischsäurebad, wiederabgedruckt in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, zuerst Berlin 1996, S. 272-296. 18 Peirce spricht im hier zitierten Zusammenhang vom Beispiel eines Fotos seines Hauses und fragt, was „das Haus zum Objekt dieses Bildes“ macht. 19 Charles S. Peirce: Die Grundlagen des Pragmatizismus. Drei Entwürfe zu einem Aufsatz. MS 282-284, 1905, 2. Entwurf MS 283; in: Semiotische Schriften Bd. 2, a.a.O., S. 321f.

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einen Schritt weiter in der Exposition – ohne der Idee des puren, sozusagen unbekleideten Geschehens an dieser Stelle weiter auf der Spur bleiben zu wollen. Tatsächlich geht die Materialität der Körper über dem Verkehr im Zeichenraum leicht verloren.20 Zwar sprechen wir von ‚Ereignissen‘, die von Texten oder Bildern generiert werden, doch sind wir schnell bereit, der auf diese Weise erworbenen Erfahrung eine andere Qualität zuzuschreiben als jener von sinnlich wahrnehmenden Körpern durchgemachten. Denn evidenterweise scheint es eines, beim Untergang der Titanic dabei gewesen zu sein, und ein anderes, den Bericht der Rederei über die Katastrophe zu lesen oder das Drama in einem der vielen Titanic-Filme mitzuerleben. Doch was heißt schon ‚dabei gewesen‘? Nur wenige konnten davon berichten, und so sie es konnten, handelte es sich um eine Darstellung und nicht das Erleben dieses Ereignen selbst. So verweist das Beispiel darauf, was am Grunde eines puren Es-Geschieht, hinter der Grenze des Erlebens wartet. Keine Szene, kein Event, keine Szenografie.21 So finden sich viele, alle Ereignisse überhaupt nur in ihrer Darstellung? Durchaus, wenn man die Symmetrie der Darstellung, die Darstellung von den Objekten, den Dingen, den Relationen her, die sie definieren, ebenso ernst nimmt wie die aus der Perspektive unserer Geschichten. Differenzen und Differenzierungen wird die Semiose mithin nicht bezweifeln. Im Gegenteil. Sie treibt sie weiter. Denn wo es sich einmal um ‚wirkliche Ereignisse‘ in der vierdimensionalen Raumzeit handeln soll, ein anderes Mal um ‚imaginäre Ereignisse‘ in besonderen Darstellungsräumen und -zeiten, unterscheidet sie nicht etwa deshalb, weil derartige ‚Wiederholungen‘ dies als eigene Repräsentationsform erforderten. Beispielsweise im Lebens- und Vorstellungsraum von Lesern und Kinogängern im Unterschied zum ‚Originalerleben‘. Existenz allein ist, wie erläutert, kein Prädikat. „Vorgestellte hundert Taler sind vorgestellte existierende hundert Taler.“ Aber sie müssen etwas, zum Beispiel in meiner Tasche sein; ‚etwas‘ ist nicht anwendbar auf nicht wirkliche Objekte.22 Die Unterscheidungen laufen darauf hinaus, aus der Unendlichkeit, Unbestimmtheit und Dunkelheit potenzieller Ereignisse einige

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Siehe: Michel Serres: Hermes II, Interferenz, Berlin 1992, Bruno Latour, Haben auch Objekte eine Geschichte?, a.a.O.; Heiner Wilharm: Seltsame Objekte. Die Rückkehr der Körper, Dortmund 1994; (www.designradio.net Aufsätze_online). 21 Siehe Michel Foucault: Theatrum philosophicum, in: Dits et Écrits, Schriften in vier Bänden. Band II, 1970 – 1975, Daniel Defert und François Èwald (Hg.), Frankfurt am Main 2002, S. 102. 22 Charles S. Peirce, Das Gewissen der Vernunft: eine praktische Untersuchung der Theorie der Entdeckung, in welcher die Logik als Semiotik aufgefasst wird. MS 693, 1904, Kap. II, Die Wissenschaften, in: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S. 215 – natürlich mit Bezug auf Kant, KrV, A 598-600/ B 626-628.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

ans Licht zu ziehen.23 Dazu bedarf es der Realitäts-Maschinen, die es ermöglichen, dass sie sich in einem eigenen Raum zeigen, sprechen, Wirkung entfalten. Realitätsmaschinen, an denen wir zusammen mit nicht menschlichen Akteuren beteiligt sind. Was dahinter oder darunter, abseits liegt, verfällt der Unsichtbarkeit, dem Schweigen und der Untätigkeit. Im Prozess der Semiose eröffnen sich immer Zeichen-, Sinnund Handlungsräume. Wir müssen annehmen, dass es real verursachte Transformationen sind.24 Und unter dieser quasi transzendentalen Bedingung stoßen wir nach Art der spezifisch medialen Vermittlung auf die Eigenräume der jeweiligen Zeichen und Zeichenklassen, der von dort ausgreifenden Bedeutungen, Diskurse und Dispositive. An der Materialität der zugelassenen Zeichenkörper, die Körper der Dinge sind, an der Materialität der abwesend anwesenden Medien, die deren Zurichtung besorgen, zeigt sich, dass solche Zeichen- und Sinnräume, wie auch immer als Medienräume eingerichtet25, doch auch Körperräume sind. Als solche bieten sie Spiel- und möglichen Evidenzraum für den Auftritt von Körpern, Objekten, Ereignissen nach Art und Ausdruck ihrer jeweiligen Existenz, Varianz und Performanz. Der erste Befund scheint demnach die anfänglichen Vermutungen zu bestätigen: ‚Ereignisse‘ sind exklusiv und vergleichsweise unwahrscheinlich. Gewiss, ‚geschieht es‘, scheinen wir solcher Präsenz zuallererst mit unseren Sinnen ausgesetzt. Und auf sie scheint unser Vermögen, überhaupt ein Ereignen zu realisieren, dann bezogen. Aber vielleicht reicht unsere Sym-Pathie ja viel weiter, ohne dass wir dem Geschehen ‚ausgesetzt‘ und entsprechend gefordert sind. Alles weitere jedenfalls gehört zu den Variationen des Semiosespiels. Soweit so gut. Doch dürften sich Ereignisse nicht deswegen nur diesseits oder jenseits einer ontologischen Grenzziehung zwischen physischen und psychischen oder materiellen und ideellen, realen oder fiktiven Objekt- und Ereignisräumen (ein)finden. Medienereignisse spezifisch zu unterscheiden macht Sinn; aber was soll uns hindern, sie alle miteinander ins Spiel zu bringen, sowohl auf ihr ‚Dass‘ als auch auf ihr ‚Was‘ hin befragt? Von der Dingseite her nicht weniger untersucht als von der unserer Geschichte(n). Man wird sehr unterschiedliche Ereignis-Diskurse und -Dispositive beschreiben können, ohne die ‚Ereignislogik‘ zu verletzen. 23

Wobei „potenziell“ keineswegs einen eigenen Intentions- oder Ideenraum unterstellt, sondern durchaus so etwas wie ein Ereignis der Art wie in Anm. 11 beschrieben. 24 Wobei die Frage der kausale Wirkung erzeugenden Gesetze auf der einen Seite, der „Anomalien“ im Bereich der Handlungen (bzw. der Freiheit) für die Fälle dieser Verursachung auf der anderen Seite genauer zu untersuchen wäre. Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Dritter Abschnitt, Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie, Berlin (Akademieausgabe, Bd. IV) 1968, S. 455-463. Zum Kontext siehe auch die Diskussion bei Davidson, Geistige Ereignisse, a.a.O. 25 „Darum öffnen Medien nicht schlechthin, sondern sie kommunizieren, und strukturieren das Unbestimmtes, Offene; sie konfigurieren Szenen“, D. Mersch: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 58.

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Der präsentische Charakter, den wir gerne zuschreiben – konzentrieren wir uns einen Moment noch auf die Auszeichnung der Gegenwart als Ereigniszeit –, wird dabei nicht im Weg stehen. Wirkliche Ereignisse sind exklusiv und selten, unwahrscheinlich im Wahrscheinlichkeitsraum. Im Alltagsverständnis gilt ohnehin nicht jedes Geschehen von exklusiver Bedeutung schon per se als Ereignis. Das hat mit der Dimension der Zeit zu tun, soweit sie Zeit ist nach Maßgabe menschlicher Lebensspannen, Erlebniszeit. So gelten historische Begebenheiten als ‚Ereignis‘ etwa im Sinne des Kant’schen „Geschichtszeichens“, womit auf eine besondere Wirkung als ‚Ereignis‘ eines Ereignisses verwiesen wird. Im Fall der Französischen Revolution beispielsweise auf deren enthusiastische Wirkung auf die „Zuschauer“, die die Revolution ihrerseits dadurch zum Ereignis befördern, dass sie sie als Demonstration eigener moralischer Anlagen feiern, Anlagen, die sich derart zugleich auf der Bühne der Geschichte äußern. Doch wissen die ‚Zuschauer‘ von solchem Ereignis erst Jahre später oder gar nicht. ‚Ereignis‘ impliziert Exklusivität und Seltenheitswert, aber auch Konzentration des Erlebens, Zeitraffung, weswegen das Geschehen eines ‚Top-Events‘ gewöhnlich in der Darstellung seiner spektakulären Effekte zusammengefasst erscheint. „Das unerwartete Hören einer großen Nitroglyzerinexplosion“ (Peirce), das ist ein Ereignis. Das Charakteristikum der Zeitraffung verbindet die alltagssprachliche Verwendung des Wortes mit der philosophischen Auszeichnung des ‚Augenblicks‘ als ereignisspezifisch, aktual und instantan. Nun erscheinen uns Vergangenheit und Gegenwart zweifellos unter unterschiedlichen Aspekten. Doch selbst um Anwesenheit und Gleichzeitigkeit eines ‚Jetzt‘ im Ereignen, um ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwärtigkeit‘ eines Ereignisses zu indizieren, braucht es mehr als die überwältigte Haltung rein ästhetischer Aufnahme des Augenblicks.26 Betrachtet man nämlich ein gelingendes Unterfangen, ‚Gegenwart‘ zu realisieren, Tatbestände der Gegenwart zu diagnostizieren und miteinander zu verbinden, stellt sich heraus, dass statt der Gegenwart stets ein allerletztes Stück Vergangenheit gefasst wurde. Zeit, insgesamt, ‚veranschaulicht Erstheit‘, sagt uns also nichts. Dagegen liegt in der Natur der Sache, dass Tatsachen, Fakten, „Gemachtes“ sind. Perfekt, Vergangenheit. Tatsächlichkeit, actuality, ist, was Peirce kategorial insgesamt als „Zweitheit“, ein Eines und ein Anderes fordernd, charakterisiert. Überwiegend dominieren Dichotomien, herrschen Unterscheidungen zwischen zwei Arten vor.

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Zu den Schwierigkeiten, die bekommt, wer zum Nutzen der Humanities unmittelbar an „präsentische Erfahrungen“ – insbesondere der Kunst – anschließen möchte, siehe: Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004; besonders Kap. 3: Epiphanie, Präsentifikation, Deixis. Zukünfte der Geisteswissenschaften, S. 111-154, Zitat S. 153/54.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Also ist in dem, was die Form von Tatsachen hat, die Zweitheit das vorherrschende Element; und entsprechend finden wir zwei Arten dessen, was die Form von Tatsachen hat, reale Tatsachen und Fiktionen. Reale Tatsachen unterteilen sich […] nicht lediglich materiell oder gemäß der Materie, auf die sie sich beziehen, sondern formal oder nach ihrer Natur als Tataschen in harte [d.i. physikalische – HW] Tatsachen, die nicht direkt kontrollierbar sind, und Tatsachen des Wollens, die das sind, was wir ‚frei‘ nennen, womit gemeint ist, dass sie durch die Kraft der Selbstkontrolle direkt kontrollierbar sind. Harte Tatsachen sind wiederum teilbar in externe, reale Dinge sowie Tatsachen der Wahrnehmungen.27

„Fiktionen“ haben nicht nur die Form von Tatsachen, insofern sie wie sie unter einer Beschreibung stehen, sondern sind auch nahe an den Tatsachen der Wahrnehmung und denen des Wollens, so dass die Unterscheidung zwischen Tatsache und Fiktion im Allgemeinen lediglich „der von mehr oder weniger“ entspricht. Allerdings ist auch das eine Frage der Metaphysik, die „nicht auf hastige Antwort, sondern auf fleißige und solide Untersuchung“ drängt.28 Insgesamt erhalten wir eine Bestätigung unserer ersten Diagnosen. „Eine Tatsache ist, was vom Rest der Wirklichkeit abgetrennt ist, da es soviel ist, wie sich durch eine Aussage ausdrücken lässt.“29 Eine spezifische Aussage. Das Ereignis ist nun aber eben nicht unmittelbar an das ‚andere Jetzt‘, eine Tatsache etwa, angeschlossen. Vielmehr ist das Ereignis Begebenheit schon im Jetzt, verstanden als immer das Nämliche oder das, was jedes Mal ist. Das aber heißt, das Ereignis ist „Satz-Ereignis“. Wenn wir Lyotard hierin folgen, bedeutet das zunächst: „Es gibt Es gibt, einen Satz als Vorkommnis verstanden, als Was, das eigentlich nicht Jetzt, sondern jetzt ist.“ Folglich ist zu realisieren, dass es, „um die in einem Satz mitgeführte Darstellung zu fassen, […] eines anderen Satzes [bedarf ], in dem diese Darstellung dargestellt wird.“ … „Die ‚aktuelle‘ Darstellung ist nicht darstellbar, das Ereignis als solches vergisst sich, sofern es sich aufbewahrt (das Nachher), sich vorweg-nimmt (das Vorher) oder sich ‚erhält‘ (das Jetzt).“30 Um jetzt „jetzt“ zu sagen, ist es folglich nicht nur zu spät, sondern auch zu früh. „Was zukünftig war, ist jetzt vergangen, das heißt die Zeit eines Satzes.“31 Das stimmt mit den Analysen Peircens, die wir in unserer Exposition 27

Siehe C. S. Peirce: Lowell-Lecture 1903, a.a.O., S. 151-154. Charles S. Peirce: Skizze der Cenoskopie (1905), in: Semiotische Schriften Bd. 2, S. 313; Siehe aber auch: Ders., Essays über Bedeutung (H). Entwürfe zu einem Logikbuch der Jahre 1909-10, in: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S. 371f. 29 C. S. Peirce: Kategoriale Strukturen und graphische Logik 1903, in: Semiotische Schriften 2, a.a.O., S. 100. 30 Siehe Aristoteles, Physik, 210b bis 220a. Zur Diskussion der Problematik bei Aristoteles wie auch im Rahmen der hier angebotenen semiotischen Überlegungen siehe: J.-F. Lyotard: Der Widerstreit, a.a.O., S. 128-134. Zitate S. 132. Die Lyotard’sche Kritik an einer semiotisch metaphysikkritischen Lesart (wobei er Derrida im Auge hat) folgt gleich im Anschluss an die Aristoteles-Lektüre unter „Einige Beobachtungen“ (ebd. S. 133ff.) mit Bezugnahme auf Heidegger. 31 Ebd., S. 131. 28

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vorausschicken, überein. Die Gestaltung, die tätige Einflussnahme auf Ereignisse, über die wir reden können, um zu sehen, wie sie funktioniert, gilt zukünftigen Handlungen. Um der Zukunft willen betreiben wir Geschichte der Gegenwart. In der Poetik, einem semiotischen Grundlagentext aus der Feder des Aristoteles finden wir die unausdrückliche Empfehlung an den Historiker, sich einiges beim Dichter abzuschauen. Denn Dichter sei er schließlich auch im Hinblick auf die Nachahmung; und das, was er nachahme, seien Handlungen. Wenn er nun auch wirklich Geschehenes behandele, sei er um nichts weniger Dichter, habe deshalb auch noch dieselben Aufgaben. „Denn nichts hindert, dass von dem wirklichen Geschehen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könne. Und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er der Dichter derartiger Geschehnisse.“ Was für den Dichter gilt, gilt für den Anspruch seiner Dichtung. Denn sie teilt mehr das Allgemeine. Es besteht darin, „dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Dinge sagt oder tut. Eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt.“32 Was Aristoteles erläutert, weist auf ein ursprünglich gemeinsames Terrain von Handlungen, ein Terrain, das für uns heute von Demarkationslinien unterschiedlichen Wissens und Agierens, getrennten Bereichen von Handeln und Darstellen, geprägt ist. Literatur und Geschichte, Wissenschaft, Kunst. Doch sollten wir alle dem ‚Dichter‘ zugängigen Ereignisbereiche aufführen, um zu überblicken, welche mehr, welche weniger mit ihrer Inszenierung zu tun haben als andere. Als vorzügliche Kandidaten dürften die gelten, an denen besondere Techniken der Gestaltung und der Steuerung solcher Inszenierung zu studieren wären. Was man „Ereignisbereiche“ nennen könnte, sind natürlich nicht wirklich kartographierte Gebiete, sondern Beschreibungsvarianten, in denen wir gewöhnlich, ‚auf den ersten Blick‘, Ereignisse fassen. Am Boden des Sich-Ergebens zeichnen wir entsprechende ‚Erscheinungen‘ oder ‚Phänomene‘ aus – Phänomene eines Etwas und zugleich Phänomene eines Auftretens oder Sich-Zeigens dieses Etwas in Natur oder Menschenwelt. Auch wenn das als ‚autoostensiv‘ apostrophierbare Geschehen am ehesten ein choreografiertes Ereignis, eine Inszenierung vermuten lässt – vorzüglich zählt das ‚ursprüngliche Ereignis‘, eines, dem man als Zeuge unmittelbar beiwohnt, dazu –, ist gerade ein solches Sich-Zeigen, wenn auch als Ereignis registrierbar, oft genug vom Zufall diktiert. Die Szenografie zur Szene wird man umsonst suchen, denn es gibt keine Szene. Bleiben mithin die bewusst als Demonstrationen angelegten Vorstellungs-, Ausstellungs- und Aufführungs-, die Argumentations- und Erzählzusammenhänge, als vorzügliche Kandidaten, Inszenierungspraktiken und szenografische Gestaltung zu studieren. Kein Kontext dieser Art ist vorderhand auszuschließen. Nehmen wir die Dichtung als literarische Fiktion, 32

Aristoteles, Poetik 151b.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

dürfte lediglich die Veranlassung von Entdeckung und Erfindung etwas anders liegen als bei Politik oder Ökonomie, Geschichte oder Wissenschaft. Doch was hier die Rolle von tatsächlichen Handlungs- und Funktionsgefügen spielt, von Struktur, Verhalten und Geschehen, um als solches Eingang zu finden in Diskurs und Praxis, tut dies genau so auch in Literatur und Poesie. Lediglich was man unter ‚Tatsächlichkeit‘ versteht, läuft auf die Fixierung eines anderen Referenzraums der Ereignisse hinaus. Aber es ist, wie Aristoteles sagt: nichts hindert, dass von dem wirklichen Geschehen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könne. Da aber im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit des Wirklichen, vorzüglich auch des Tatsächlichen also, ohnehin ‚der Dichter derartiger Geschehnisse‘ zu entscheiden hat, ist alles in bester Ordnung, wenn wir Literatur und Poesie, Geschichte und Wissenschaft nicht vorderhand gegeneinander ausspielen. Wir schließen die Exposition hiermit ab, hoffen wir doch, in verschiedener Hinsicht eine erste Rechtfertigung dafür dargelegt zu haben, warum die Fragen nach dem Ereignis, nach Ereignisräumen und Ereigniszeiten, nach Inszenierung, Szene, Szenografie, wie auch die teils selbstbezügliche Frage nach den Ereignis-Diskursen und -Dispositiven, an Texte gerichtet werden können, die über ‚Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit‘ von Begebenheiten wie ihrer Darstellung Auskunft geben. Es sind Texte, logischerweise, der Vergangenheit, und ebenso logischerweise solche, die sich mit Vergangenheiten beschäftigen, freilich als Geschichten der Gegenwart. Die Eule der Minerva fliegt zwar erst in der Dämmerung. Aber das tut sie jeden Abend. Wir werden uns nun zunächst drei Beispielkontexten zuwenden, um unsere ersten Erwägungen auf einem Boden ausgesuchter Inhalte weiter entwickeln zu können. Im Sinne der gerade gegebenen Begründung wählen wir unsere Beispiele nicht aus den anscheinend am nächsten liegenden Gebieten der performativen Künste, des Theaters, der Installation, des Films, der Musik, sondern schauen uns bei den Dichtern um und solchen Historikern und Wissenschaftlern, die den Rat des Philosophen beherzigen. Sodann kümmern wir uns um die Wissenschaften. Insgesamt begeben wir uns über die Exponierung des Ereignisbegriffs, der mit dem Ereignis verbundenen Räume und des mit den Darstellungen von Ereignissen auch szenisch in den Vordergrund tretenden Geschehens auf eine szenologische Spurensuche. Ihr Interesse gilt der Logik gewisser Darstellungen als einer Inszenierung von Ereignissen in spezifischen gesellschaftlichen Sphären. Als Unternehmen, in verschiedenen, gewöhnlich durchaus begrenzten Diskursen Strategien, Techniken und Praktiken des Inszenierens und der Szenografierens aufzuspüren, zu beschreiben und zu reflektieren, verstehen sich die folgenden Einlassungen als szenologische Erkundung eines praktischen Wissens vom Darstellen, Vorstellen und Ausstellen, eines Interesses, das seinerseits handlungstheoretischer Natur ist. In diesem Sinne wird es im zweiten Teil des Artikels einige szenologische Schlussfolgerungen aus dem Beispielteil geben.

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1. Dichtung und Ereignis. Vergil inszeniert Vergil

Drei Szenen in der Bucolica Vergils. In der ersten tritt Tityrus, ein Hirte auf. Er lagert unter einer schattigen Buche und bläst ein Lied auf der Rohrflöte, als Meliboes, ein Hirte und Bauer wie er, zu ihm stößt. Meliboes ist erstaunt, den Freund zu sehen, denn er war schon vor einer Weile in die Hauptstadt gegangen. Später erfährt man, dass er als Sklave hingereist, aber als Freigelassener zurückgekommen war. Der Landsmann, der geblieben ist, klagt dem Freund sein Leid. Der zuhause gehört zu denen, die zwischenzeitlich vom Land vertrieben wurden, die „wandern, fliehen der Heimat holde Gebreite, fliehen das Heimatland“. Ganz Fremden würde nun der einstige Fleiß der Bauern hier zuteil.33 In der dritten Ekloge der Bucolica begegnen wir einem Menalcas. Wieder hören wir ein Gespräch unter Landleuten, Bauern, Hirten. Es scheint auf die Ereignisse der ersten Ekloge Bezug zu nehmen. Jemand fragt nach dem Vieh auf der Weide, ob es noch dem Meliboes gehöre. Nein, nicht mehr dem Meliboes, sondern einem andern. Wir vermuten warum. Der Fragende hier ist der Hirte Menalcas – auch er nicht ganz im Bilde, was im Land passiert ist. Offenbar war auch er länger fort. In der neunten Bucolica schließlich präsentiert uns Vergil noch einmal einen Bauern, der sich beklagt, dass den Landleuten in seiner Gegend von den Mächtigen übel mitgespielt worden sei. Moeris heißt er jetzt. Fortuna habe alles verkehrt; Fremde seien nun Herren der Äcker und Wälder. Viele der alten Bauern und Pächter hätten gehen müssen. Lycidas, der Zuhörer, scheint so wenig wie zuvor Meliboes und Menalcas informiert. Wieso alles in fremder Hand? Und welches Gelände? Meine Moeris – Lycidas zeigt in die Landschaft – das dort hinten? Moeris muss dem Freund erklären, was vorgefallen ist. Habe er, Lycidas, denn nicht gehört – und Moeris grenzt mit seiner Geste ein bestimmtes Stück Landschaft ab, das bis heute Literaturwissenschaftler wie Historiker beschäftigt – , dass „von da, wo die Hügel beginnen, sachter zu werden und sanft vom Joch sich nieder zu senken, bis an den Fluss und die greisen schon halb entwipfelten Buchen“ Menalcas alles gerettet habe? Gerettet, bewahrt, wie man im Anschluss hört, ohne sofort zu begreifen, mit seinen Versen, seinen Liedern. Was man sonst noch erfährt von einer offenbar tatsächlichen Begebenheit, auf die die Akteure sich beziehen, ist, dass es bewaffnete Auseinandersetzungen gegeben habe. Und dass die da reden, samt dem erwähnten Menalcas, fast selbst umgekommen wären bei dem Krieg um die Ländereien. Ansonsten sind die Verhältnisse nicht leicht zu klären, was genau das Ereignis oder die Ereignisse waren, auf die in den bucolischen Szenen angespielt wird. War vielleicht Menalcas der, dem die Güter

33 Vergil:

Bucolica, Ecloga I.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

gehört hatten?34 Allerdings erfahren wir noch ein für wirkliche Ereignisse wichtiges und bestätigendes Detail, nämlich wo das Land liegt, von dem die Rede ist.35 Gerade noch auf dem Gebiet Mantuas, auf der Grenze zu Cremona. Und, heißt es, wenn wahr würde, was Menalcas – offenbar ein Dichter – dem Varus – offenbar jemand, dem man eine Dichtung, ein Gedicht widmet – sang, dass Mantua „bliebe“, will heißen, unberührt bliebe, dann würde man Grund haben, seinen Namen bis zu den Sternen zu erheben. Seinen Namen? Den Namen des Varus so gut wie den Namen des Menalcas. Das wars. Die Hirten ergehen sich in dem, was man von einem „Hirtengedicht“ erwartet. In bucolischer Stimmung. Sie „singen […], wenn Menalcas wiedergekommen“. In Versen von Hirten und Herden, von der Feldsaat und den Früchten, von Weinbergen und purpurnen Trauben, von den Mädchen und von

Abb. 1 Treffen am Micino; Meliboes, Tityrus – Vergil, Bucolica

34

Vergil: Bucolica, Ecloga IX. Und war Menalcas nach der Vertreibung dann fort gegangen? Und wenn, wohin? Hatte man denn nicht auf ihn gehofft, von ihm eine Rettung erwartet? Den „Frevel“ doch „verschont, der schreckliche, keinen, o wehe, fast schon entschwand uns allen der Trost mit dir, Menalcas.“ 35 Ebd., Vers 20ff.

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trauriger Liebschaft. Mehr erfahren wir nicht. Weder von der Geschichte der Begegnung der Tityrus und Meliboes, Lycidas, Moeris, Menalcas, noch von den Ereignissen, die in ihren Gesprächen angedeutet werden. Wie gelangt man von solchen Szenen zu Ereignissen? Was haben sie miteinander zu tun? Und was daran ist darstellungs- und inszenierungsrelativ? In den geschilderten Szenen lässt uns Vergil teilhaben an den Treffen der Bauern und Hirten, an ihren Gesprächen, an gemeinsamem Spiel, gemeinsamem Tanz, den Leidenschaften der Leute aus dem Hügelland bei Mantua kurz vor der Zeitenwende. (Abb. 1) In der Sprache der Poesie. Zwar sind die Szenen bewusst gestaltet, und viele Details erzählen von Ausstattung und Anmutung des szenischen Raums. Bühnenanweisungen, szenografische Hinweise für eine mögliche Aufführung der Eklogen finden wir freilich keine. Die Bühne ist das Buch, der Text. Dass der Dichter „nachahmt“, sich also mit seinen Vorstellungen an der Wirklichkeit orientiert und zwar an deren Wahrscheinlichkeit, wozu die Unwahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit gehört, wie Aristoteles sagt, ist das eine und trifft die Charaktere wie die Ereignisse, die uns die Dichtung eröffnet.36 Das andere hat mit der Zeichenhaftigkeit dieser Welt zu tun und betrifft die notwendige Übertragung von einem Satz auf den anderen, von der wir hörten. Deshalb traut Platon dem Dichter weit weniger als sein Schüler. Nicht – um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – , weil das, was die Dichter erdichten, nicht glaubhaft, nicht vertrauenswürdig wäre. Sondern, wie es in den Gesetzen heißt, weil wir selbst es sind, die die Dichter der Dichtung sind. So dass wir durchaus Grund haben, solche „Nachbildung“ für „die echteste Tragödie“ zu erklären.37 Aber eben deshalb. Wir selbst gehören ins Spiel. Und deshalb besteht offenbar Anlass zur Skepsis: es könnte sein, dass wir uns selbst nicht trauen können. Was wiederum realisiert, dass die Täuschung nicht per se in der isoliert gedachten Darstellung steckt. Der philologische Disput um Vergil und die Bucolica geht nicht zuletzt darum, wer er war, und von welchen Gedanken beherrscht er war, während er die Bucolica niederschrieb.38 Dabei ist es leicht, die Vitae Vergilianae in den Eklogen zu finden.39 So oder so: ob nun Vergil selbst gleich zu Beginn schon „unter der Maske“ des 36

Siehe Aristoteles: Poetik, 160 a/b und 161 b, 15f. „So seid also ihr die Dichter“, heißt es, „und auch wir selbst die Dichter desselben Dichtwerks; Kunstgenossen und Mitkämpfer bei der Hervorbringung des schönsten Dramas, zu dessen Vollendung ihrer Natur nach allein die richtige Gesetzgebung geeignet ist. Hoffen wir.“ Platon: Gesetze, zitiert in: Früchtl/Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main 2001, S. 106. 38 Von dem Gedanken nämlich, seine Domäne zu behalten oder wiederzuerlangen. So dass alles, was er schrieb, Bittgesuch gewesen wäre. 39 Paul Veyne: Die Agrargeschichte und die Biografie Vergils in den Bucolica I und IX, in: ders., Die Römische Gesellschaft, München 1995, S. 208. Zur Sache auch ebd.: Anm. 1 und 2. 37

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Tityrus auftritt – und folglich von seinem, dem Gut seiner Familie spricht, das ihm die Triumvirn in Rom, die die Enteignungskampagne, auf die angespielt wird, in den Auseinandersetzungen des Bürgerkrieges ein halbes Jahrhundert vor der Zeitenwende durchführen ließen, gelassen haben40, oder ob – was durchaus auch Konsens von Philologie und Historie ist –, Menalcas das Alter Ego Vergils ist, Vergils, der sich in dieser Gestalt als Dichter feiert und feiern lässt, als Beschützer mehr denn als Opfer, als Patrioten, der mittels seines literarischen Einflusses versucht, den von der Enteignung auf Mantuaer Gebiet Bedrohten die Ländereien zu erhalten.41 So jedenfalls scheint jenseits der Typologisierung möglicher Darstellungsmodi der Gedanke, die Arbeit eines Schriftstellers oder Dichters als Inszenierungsunterfangen zu beschreiben, Inszenierung eines ‚dramatisierten‘ Stoffs für den Leser oder besser eines für den Leser dramatisierten Stoffs, nicht abwegig.42 Und die Einordnung der Literatur, der Poesie in die Welt der Phantasie, der „Fiktion“, ist kein Kriterium, die Inszenierung zu verneinen und mit ihr den Raum des Geschehens und die Mittel der Realisierung auf der Bühne. Ein Buch ist keine Bühne wie ein Theater, sondern seine eigene Bühne. Die ‚szenografischen Mittel‘ des Dichters liegen in den Möglichkeiten seiner Sprachgestaltung und die ‚Ereignisse‘ sind allererst literarische, Ereignisse der Sprache und der Lektüre. Genitivus objectivus wie subjectivus. Wer mehr Erlebnis will, muss sich an die Re-Inszenierungen durch die Regisseure und Dramaturgen halten, die uns über die Zeit mit Tityrus und Meliboes, Lycidas und Moeris, Menalcas und den anderen in eigener Art vertraut gemacht haben, durch Bilder und Aufführungen des Geschehens. So sind es vor allem ‚sprachliche Szenen‘, die hier zählen; und für deren Gestaltung wurde Vergil gerühmt. Hat er nun hiermit ‚Ereignisse‘ kreiert, inszeniert? Wohl kaum, und wenn, dann höchstens in der Art möglicher poetischer Ereignisse für die Liebhaber seiner Dichtung, Lese- und Hörereignisse. Die erfüllen aber die eingangs genannten Kriterien der Einmaligkeit wohl nur im individuellen Erlebnissinn. 40

Was unwahrscheinlich scheint, da es sich bei der Charakterisierung des Tityrus wohl eher um einen ehemaligen Sklaven handelt, der, im Alter von seinem Herrn freigelassen, nach Rom reisen musste, um diesen Akt offiziell rechtskräftig zu machen, und dann nach Mantua zurückkehrte, um als Freigelassener seine Arbeit weiter zu tun. Eine Geschichte der römischen Geschichtsschreibung mehr als der Bucolica. 41 Vergil gehörte zwar zu den beraubten Besitzern, was aber nicht bedeutet, dass es einen „Beweis“ für die Echtheit der Tradition gäbe, dass Vergils Ländereien im Mantuaer Gebiet von den Konfiskationen, welche die den Triumvirn feindlichen Cremoneser erdulden mussten, ebenfalls betroffen waren. Die Tradition bezieht sich auf die Bucolica. Siehe P. Veyne: Agrargeschichte, a.a.O., S. 214/15, Anm. 2. Aber gerade das provoziert die Fabula des Historikers, der sich mit ihr auseinandersetzt. 42 Vergleiche zum Beispiel Andreas Erb: Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählungen als Inszenierung „freier Autorenschaft“, Wiesbaden 1996, oder Doris Kolesch: Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Subjektivität bei Baudelaire, Barthes und Adorno, Wien 1996. Siehe dazu in: J. Früchtl/J. Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, a.a.O., den gleichnamigen programmatischen Aufsatz der Herausgeber, S. 39.

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Weil die Zeichen die möglichen Instanzen eines Interpretanten indes nicht determinieren können, konnte es nicht ausgeschlossen sein, dass ein aufmerksamer Historiker in dieser Dichtung, eingekleidet in die szenische Umgebung des bucolischen Sujets, zugleich die andeutungsweise Beschreibung eines ‚historischen Ereignisses‘ fand. Trotzdem, ein Ereignis zu identifizieren wie das, von dem wir in diesem Fall glauben mögen, Episoden berichtet, Szenen zu sehen bekommen zu haben, ist nicht leicht. Selbst wenn es sich um ein geschichtliches Ereignis und in diesem Sinne Aufsehen erregende ‚Tatsachen‘ handelt, die zu entschlüsseln sind, gelingt dies einer schlichten ‚Quellenlektüre‘ in den seltensten Fällen. Sie käme zu ihrem Recht und könnte zufrieden sein, wenn die beabsichtigte Funktionalisierung des vorliegenden Materials Quelle und hinreichende Auskunft am selben Ort fände. Aber das ist hier nicht der Fall und überhaupt selten genug. Sehen wir davon ab, dass die unambitionierte Lesung eines Hirtengedichts – Lesung eher als Lektüre – normalerweise überhaupt nicht als Quellenlektüre für ein historisches Ereignisses angelegt ist. Sollte jemand mehr wollen, als die Verse der Bucolica auf sich wirken zu lassen, dann braucht es offenbar einen ‚Dichter der Dichtung‘, der nicht mehr identisch ist mit einem einzelnen Leser. Der größere, bedeutendere Ereignishorizont braucht zu seiner Beglaubigung wiederkehrende Lektüre und wiederkehrende Beschreibung, die uns neuen Text beschert, der uns weiteren Ereignisraum eröffnen kann. Schon dem Philologen gilt das Hirtengedicht mehr als das, wovon es vordergründig und meistens handelt, von friedlicher Natur und amourösen Begegnungen. Er nimmt sie vor allem als Dokument für die Besonderheiten der sprachlichen Form, der Überlieferungen und der Befindlichkeiten der Person des Dichters. Und wenn es besonders gut geht, findet der Philologe beides: Dokument und Geschichte des Autors.43 Das ist teils dichtungsintrinsisch, wie beispielsweise die Darstellung der Begegnung der Hirten im Tal des Micinos, teils, wenn der Text Andeutungen auf die Rolle Vergils, auf die Reise eines gewissen Tityrus oder Menalcas nach Rom oder die Landvertreibung in der Zeit des Triumvirats in der Gegend von Mantua macht, inhaltlich weiter verweisend. Dennoch könnte man dem gesamten Text gegenüber die angesprochene Gewohnheit anführen und bei der Rede von der literarischen Fiktion bleiben, der die handfesten und verlässlichen Ereignisse, Tatsachen der wirklichen Welt gegenübergestellt werden müssten. Aber es reicht ein Blick auf die verlässlichste aller verlässlichen Gewissheiten, den unbeweglich festen Boden unter unseren Füßen und zugleich auf die physikalisch astronomische Wahrheit über denselben, dass er mit

43

„Von daher das dauerhafte Prestige einer Erklärung der Bucolica, durch die Beschlagnahmung des Patrimoniums ihres Autors und einer Erklärung der lateinischen Elegiker durch ihr (imaginäres) Gefühlsleben.“ P. Veyne: Die Agrargesellschaft, a.a.O., S. 208.

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großer Geschwindigkeit durchs Universum rotiert, um zur Frage der Realität der Fiktion bzw. der Fiktion der Realität eine weniger dezidierte Haltung einzunehmen. Da genügt es, fürs Erste zuzugestehen, dass sich beide Realitäten offenbar nicht im selben Raum befinden. Und dass Fiktionen auch Tatsachen sein können. Also müsste man auch nicht mehr tun, als – was leicht sein dürfte – zuzugeben, dass einiges, von dem Vergil erzählt, nicht allein im Raum seiner Dichtung zu Hause ist. Vergil inszeniert die bukolische Begegnung der agricolae als Künstler, als Dichter. Insofern erwarten wir die Aufführung seiner Stücke als Ereignisse und Erlebnisse unserer Lektüre, die allerdings auch geschichtliche Ereignisse kennt. Ästhetisch vermehrt um Darstellungen anderer Künstler und Künste im Laufe der Jahrhunderte, vermehrt auch um die Erkundungen der Literaturwissenschaftler und Historiker, die ihr eigenes Stück geben, Neuaufführungen in historisch politischer Szenerie, löst sich die Vergillektüre aus dem ursprünglichen Inszenierungsraum. Dabei nehmen wir bestimmten Darstellungen gegenüber, ähnlich wie bei einem Stück dokumentarischer Fotografie, die Haltung ein, dass das Bild nicht alles ist, dass ihm ein wirkliches Dasein, Geschehen, vorausgegangen ist, ihm zugrunde liegt und vielerlei Wirkung ausübte. Die Geschichte zeichnet sich durch solches Herangehen aus. Historischen Darstellungen unterstellen wir (zumindest in bestimmten Fällen), ähnlich wie naturwissenschaftlichen, eine Verursachung durch das Dagewesene, durch das, was sich ereignet hat. Umgekehrt verursachen die Darstellungen die dagewesenen Ereignisse. Die Beeinflussungen sind wechselseitig. Aber kann es sich anders verhalten als mit dem Untergang einer Supernova, den niemand bemerkt? Offenbar aufgrund der Ansprüche an bestimmte methodische Standards, zum Beispiel den Bericht von Zeugen.

2. Historiografie und Ereignis. Paul Veyne inszeniert die römische Agrargeschichte

Der Historiker Paul Veyne hat es unternommen, Vergil zum Zeugen zu nehmen, mit seiner Unterstützung den Raum der Dichtung zu verlassen, um einen dort in Aussicht gestellten Raum geschichtlicher Ereignisse zu betreten. Veyne hat Stücke der Bucolica (auch anderer Vergil’scher Werke) als Auskunft über tatsächliches Geschehen verstanden, das er in die Zeit der Herrschaft des ersten Triumvirats um 50 vor Christus datiert und entsprechend im historischen Diskurs platziert.44 Paul Veyne ist nicht der Einzige und nicht der Erste, der das getan hat, aber er hat es auf dem Hintergrund einer historiografischen Wissenschaftsauffassung getan, einer Reflexion 44 Siehe

P. Veyne: Die Agrargeschichte, a.a.O.

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seiner Arbeit als Historiker. Im Rahmen unseres Themas ist Veynes Neuinszenierung nicht nur gut begründet, sondern aufschlussreich, hat er doch für sein Tun eine passende Analogie zur Hand. Sofort rückt die Frage der literarischen Gattung als Kriterium der Wertung von Ereignissen in die zweite Reihe. Was ein Historiker nach Veynes, an Foucault geschulter Auffassung, tut45, ist, nach Art von Dramaturgen und Regisseuren ein Theaterstück zur Aufführung zu bringen. „Wie im Theater kann man auch in der Geschichte nicht alles zeigen, nicht weil zu viele Buchseiten erforderlich wären, sondern weil es keine elementaren historischen Tatsachen, kein Ereignis-Atom gibt.“46 Denn ein Ereignis ist keine Wesenheit, keine Substanz, sondern eine „Kreuzung möglicher Wegerouten“.47 Was an der Kreuzung passiert, zeigt sich, wenn mindestens zwei der möglichen Wege tatsächlich ausprobiert werden, Differenz erscheint. Und nicht nur zeigt sich, was geschieht, sondern ebenso, wo es passiert, an welcher Stelle genau die Wege aufeinander treffen. Außerhalb dieser Differenz existiert das Ereignis nicht. Foucault charakterisiert dieses Aufeinandertreffen als körperlosen Kampf an der Grenze zwischen Dingen und Worten. „Körperlos“ mag überraschen nach dem einleitend Gesagten. Doch verweist das Epitheton lediglich auf die Differenz zwischen Sich-Ereignen und Ereignis. „Verwundung, Sieg oder Niederlage, Tod – ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusammenstoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch diese Wirkung ist selbst niemals etwas Körperliches, sie ist eine ungreifbare, unzugängliche Schlacht, die unzählige Male um Fabricius tobt und über den verletzten Prinzen Andreas hinwegrast.“48 Neben dem Theater ist folglich die Schlacht zu denken und folglich ein Raum, der Theaterraum und Schlachtenraum zugleich ist. Die Zeit, heißt es bei Veyne in diesem Sinne, sei „nur das Medium, in dem sich die historischen Fabeln frei entfalten können.“ Entscheidend sei der Raum, in dem die interagierenden Größen, die die Bühne bevölkern, „Wirkungen hervorbringen und erleiden“.49 Offenbar nicht nur gespielte Wirkungen.

45 Vgl. u.a. P. Veyne: Geschichtsschreibung, a.a.O.; ders., Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt am Main 1983; ders., Aus der Geschichte, Berlin 1986; ders., Die Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1988; ders., Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt am Main 1988. 46 Paul Veyne: Geschichtsschreibung. Und was sie nicht ist, Frankfurt am Main 1970, S. 38. 47 Latour bemerkt, dass das sich Ereignisse, wie jede Entität, nur durch ihren Relationen definieren ließen. Vgl. B. Latour: Haben auch Objekte eine Geschichte?, a.a.O., S. 284-288. 48 M. Foucault: Theatrum philosophicum, a.a.O., S. 101/102. 49 P. Veyne: Geschichtsschreibung, a.a.O., S. 57.

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Historische Ereignisse haben demnach keine „natürliche Einheit“ und fußen auch nicht auf „natürlichen Gegenständen.50 – Es spricht ein Historiker. – Die Frage der Kausalität kann hier also nicht wie vielleicht vermutet beantwortet werden. Die Ereignisse, die die Wirkung darstellen, gehören nicht mehr zu der sie verursachenden Physik. Und was die Quellen, die Zeugen, die dabei waren, betrifft, von denen man vielleicht annehmen könnte, dass sie kausale Wirkung erzeugen könnten, ist das Problem nicht, dass man eben nur tief zurück gehen müsste, um endlich auf sie zu stoßen und sie in Dienst zu nehmen. Nein, möglicherweise ist da gar nichts, auf das man stoßen könnte. Will heißen, dass die Inanspruchnahme misslingt, da man nicht auf ‚Ursachen‘ im Sinne harter Fakten und Gesetzlichkeiten, notwendiger Folgen stößt, sondern oft genug – und bestenfalls – zu einem ‚Grund‘ geführt wird, der ein Handeln zu beschreiben, eventuell zu erklären erlaubt. Was nicht bei den Zeugen und Quellen liegt, sondern bei denen, die Quellen und Zeugen anrufen. Wittgenstein, aber auch Adorno hat darauf hingewiesen: Eine „Quelle“ trägt wenig bei zur Lösung eines Rätsels, mehr zu seiner Formulierung.52 Weniger scheint das Problem bei mangelhaften Lösungsversuchen zu liegen als in der Kompliziertheit, ein überzeugendes Stück zu schreiben. Bei historischen Inszenierungen stehen dem Autor die Anknüpfung, das Herausgreifen frei wie in der Poesie, die weitere Gestaltung, sofern sie dem Konsistenzgebot historischer (oder anderer Darstellungs-) Objektivität genügen muss, nicht. Das klingt einschränkender als es ist. Denn da es sich schon gemäß der Prämissen stets um partielle Wahrheiten handelt, ist solche Geltung leicht erreichbar. „Da wir nicht wissen“, schreibt Platon in der Politeia, „wie sich die alten Begebenheiten in Wahrheit verhalten, bilden wir die Unwahrheit der Wahrheit so genau wie möglich ab.“53 Dem entspricht die aristotelische Logik der Darstellung durch den Dichter gemäß Mimesis. Zur Kenntnis der Wahrscheinlichkeit gehört die der Unwahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit. „Die Unwahrheit“, das ist das, was wir wissen können und herausgreifen, um zu unseren Hypothesen zu gelangen. Sie sind der Stoff, über den verfügen kann, wer einen weiteren Satz bilden möchte. Veyne ist der Überzeugung, dass die Geschichte niemals eine Wissenschaft sein wird, sondern bestenfalls in Ausschnitten wissenschaftlich, auf Gesetze bezogen, argumentiert, in der Hauptsache aber mit theatralen Inszenierungen von Ereignissen zu tun hat.54 So auch im Beispiel. In jedem Fall, selbst im Fall der wissenschaftlichen 50

Ebd., S. 39/40 – zum Folgenden ebd. und passim. M. Foucault: Theatrum philosophicum, a.a.O., ebd. 52 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47, in: Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 1991, S. 554; Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hgg. von G. Adorno und R. Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 185. 53 Platon: Politeia, 382d. 54 P. Veyne: Geschichtsschreibung, a.a.O., 1970, S. 126ff. 51

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Abstraktion, ist es illusorisch anzunehmen, der Abstand zu Szene und Szenografie ließe sich beliebig vergrößern, ohne dass den Ereignissen am Ende die Individualität verloren ginge. ‚Individualität‘ nicht im Sinne individueller Einzigartigkeit gefordert, sondern im Sinne von Spezifität, die gleichzeitig Allgemeines und Besonderes zeigt. Das gilt nicht nur für historische Szenerien. Der Vorhang wird weiter aufgezogen und bisher unsichtbare Verhakungen treten hervor. Im Großen der historischen Betrachtung der römischen Agrargesellschaft geht es der Veyne’schen Vergillektüre um die Frage der Sklaverei auf dem Land. Am Beispiel macht der Historiker verständlich, dass und warum Vieles dafür spricht, dass Vergils Tityrus ein freigelassener Sklave des Octavius war (Octavius, ein Vornehmer der römischen Gesellschaft, wenn nicht Octavian, den Vergil ausdrücklich preist), dass dieser Tityrus tatsächlich im Anschluss an die Prozedur der Freilassung in der Hauptstadt von seinem Herrn wieder in die Heimat nach Mantua geschickt wurde. Dort sollte er tun, was er zuvor getan hatte, die Geschäfte seines Herren besorgen. Als Freigelassener durfte er nun sogar ein eigenes Stück Land zur Eigennutzung bewirtschaften. Natürlich hält sich Veyne nicht nur an das Zeugnis des römischen Dichters. Er sucht sich weitere ‚Zeugen‘, Geschichten, stellt sich selbst in eine Tradition bestimmter Leser und Erfinder solcher Narrationen, die alle eine gewisse Ähnlichkeit mit den seinen haben. Schließlich geht es um seine Aufführung. So macht er Tityrus’ Freilassung in Rom plausibel und akzeptabel, genauso die Enteignungen auf Mantuaer Gebiet im Rahmen der Strafaktionen gegen Cremona zur selben Zeit oder kurz darauf, und schließlich den glücklichen Erhalt einer „Insel des Friedens“ „inmitten dieser aufgewühlten Region, den Erhalt der Ländereien des Tityrus-Patrons Octavius“.55 In dieser Perspektive der Distanz zeigt sich dann das Drama dieses Tityrus und das ‚seines‘ Gutes in Mantua in allen seinen Akten. Zeigt sich, dass der Verwalter und vielleicht Pächter nicht nur um seine Freilassung aus der Sklaverei zu betreiben in Rom war, sondern auch, um bei seinem Herren darauf zu drängen, dass er sich um die Verschonung seiner Ländereien kümmere. Veynes Fazit für dieses Stück: „Tityrus ist dem Sturm aus dem einfachen Grunde entkommen, weil Octavius sein Patron ist“ und der ein Freund Cäsars. Und ein Freund Cäsars brauchte nicht bestraft zu werden, denn wenn er ein Freund war, hatte er im Bürgerkrieg sicher nicht die falsche Partei ergriffen. Die Geschichte der Selbstinszenierung Vergils ist verständlicherweise näher am Geschehen der Bucolica – in der schon die, in der Tityrus Vergil ist, einigermaßen im Dunkeln bleibt. Und so kann der Historiker tun, was Vergil nur halbherzig tut, dem Dichter eine Rolle in der geschilderten Szene der Begegnung zweiter Landleute im Tal zwischen Mantua und Cremona zuweisen. Veyne zeigt, wie Vergil als 55

Ebd., S. 228.

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selbstbewusster Autor der berühmten Bucolica auftritt, als heimatverbundener Fürsprecher des Vaterlandes und kluger Parteigänger des mächtigen Octavius, dem der Dichterfürst zu schmeicheln weiß. Ein Ereignis mittlerer Reichweite, könnte man sagen, zwischen den Versen von Hirten und Herden, Feldsaat und Früchten, Mädchen und Liebschaft, und der exemplarischen Aufführung der Sklaverei im agrarischen Rom zur Zeit des Bürgerkrieges. Eine Ereignis, eine Beschreibung, die verhakt. Weiter ausgreifend gelingt es Paul Veyne sogar, „die Szene dieses ländlichen Dramas […] auf der Karte [zu] lokalisieren“, womit sich weitere Ereignisse und Szenen auftun. In einer erkennt man die beiden berühmten Verse aus Vergils Georgica wieder, in der ebenfalls auf die Begebenheit der Landnahme angespielt wird und worin es heißt, dass Mantua einer vom Micino bewässerten Wiese beraubt worden sei. Denn was die Landleute der Bucolica beschrieben, die Ebene mit Fluss und ansteigenden Hügeln zwischen Mantua und Cremona, sind Hang und Niederungen am Micino in der Gegend zwischen Vallegio und Volta. Geografische und topologische – und auch anderweitig nachgewiesene historische Tatsachen. Denn dort lagen tatsächlich die Felder des Vaters Vergils. Und so war der Sohn durchaus auch historisch (biografisch) in seine eigenen Geschichten involviert. Er hatte sein väterliches Erbe verloren, das dort gelegen war. Doch zur Zeit der Abfassung der Eklogen, die erste sagt es ausdrücklich, war tatsächlich noch nicht klar, was geschehen würde. Der Historiker hält es für möglich – ein wohl nicht gefälschtes Epigramm lässt daran denken –, dass das Gut auf einen Epikuräer namens Siro kam, der dann ein Meister des Vergils wurde und wie viele Philosophen, die ihren Schülern Schenkungen machten, dem Vergil das Land seiner Väter zurückvermachte.

Abb. 2 Treffen am Micino: Bildungstourismus, strada vergiliana

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Und schließlich aktiviert der Historiker ein letztes Ereignisdispositiv56, am selben Platz, doch für die Gegenwart. Nun sind es Events im Sinne der Anpreisung von Höhepunkten im Programm betuchter Kulturtouristen, die Oberitalien auf den Spuren antiker Dichter bereisen und tatsächlich auf der vergilschen Straße spazieren gehen und sich Hügel, Senke und Fluss ansehen können, genau die Stelle, an der die beiden Hirten der Bucolica einst standen. (Abb. 2) Der Handlungsraum, auf den wir stoßen, ist nicht diskret gegliedert, wie ein Descartes’sches Plenum, in dem die Dinge unmittelbar aneinanderstoßen. Praktiken und Diskurse überlagern sich, haben selbst keine fest umrissenen Grenzen, so dass der Wunsch nach eindeutigen Begrenzungen befriedigt werden könnte. Viel eher liegen ihre wirkenden Momente zum großen Teil im Verborgenen, in nicht vermuteten, also nicht ohne weiteres verfügbaren Räumen, die vordergründig anderen Diskursen und Praktiken angehören mögen. Veyne spricht vom „Eisberg der Geschichte“. „Es gibt“, schreibt er in seinem Buch über die Revolutionierung der Geschichte durch Michel Foucault, „unter dem bewussten Diskurs eine Grammatik, die von den angrenzenden Praktiken und Grammatiken bestimmt wird und bei aufmerksamer Betrachtung des Diskurses sichtbar wird, sobald man bereit ist, die großzügig bemessenen Drapierungen mit Namen Wissenschaft, Philosophie etc. zu lüpfen.“57 Womit sich das Missverständnis erledigt, das darin zum Ausdruck käme, dass man dem Diskurs die Bedeutung, den Praktiken die Präsenz anzudienen sucht. Denkt man zugleich an das Moment des Geschehens selbst, wird seine Instantaneität durch diese Art der Performanz des Erinnerns, Zeigens oder Vorhersagens erfüllt. „So kann man das Ereignis definieren als das, was unablässig in der Wiederholung seiner Beschreibung und zugleich außerhalb dieser Beschreibung statt hat, der es eben nie gelingt, das Ereignis zu erfassen. Das Ereignis wird dann zur Wiederholung seiner eigenen Abwesenheit, zu dem was gerade nie geschieht. Das wirkliche Ereignis im Ereignis ist dann gerade in der Erwartung des Ereignisses und im Angedenken an es enthalten.“58

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Zum Dispositivbegriff Foucaults, einer Neufassung des Macht-Wissen-Körper-Gefüges, das mit „Diskurs“ und „Praktik“ im Rahmen der Archäologie in den Fokus der Analytik gerät, siehe Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1983, S. 150. 57 Paul Veyne: Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt am Main 1992, zuerst Paris 1978, S. 28. 58 J. Villeneuve: Abwesenheit und Widerholung. Die Erwartung des Ereignisses und das Beispiel der Sowjetunion, in: F. Balke, E. Méchoulan und B. Wagner (Hg.), Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte, München 1992, S. 185 – Hervorh. des Autors; zit. in: Ursula Rao und Klaus Peter Köpping: Gescheiterte Performanzen als Ereignis, in: Performativität und Ereignis, a.a.O., S. 120.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Zu Verhaltensweisen und Handlungsgewohnheiten gehören durchaus auch passende Mentalitäten. Doch erscheinen sie vereinnahmt. Zusammen verbinden sie sich zu einer Praktik, die sich mehr oder weniger von selbst versteht, jedenfalls nicht erst den versichernden Blick auf einen externen Referenten benötigt, um sich zu verobjektivieren. Die Performativität der Handlungen, die Ereignisse machen, teilt dieses Schicksal. Was, im Übrigen, ‚Ereignisse‘ und ‚Events‘ schnell auseinander treibt. Denn während es sein kann, dass die Performanz eines geplanten Ereignisses im Sinne seines Entwurfs völlig scheitert – der Himmel ist von Wolken verhangen; die Parade fällt ins Wasser – und somit die Performativität der Ereignisse der Darstellung genau dieser aktualen Besonderheit obliegt59, wird der Event mit dem Scheitern seiner intendierten Performanz untergehen. Meistens. Gerade um das zu verhindern, braucht es Szenografie. Fragt sich mit Blick auf das geschichtliche Ereignis, wie es dazu kommt, dass überhaupt ‚etwas‘ identifiziert wird. „Das Ans-Licht-bringen ist das Ergebnis einer Anstrengung des Schauens und eine originale und sogar verlockende Erfahrung“, sagt der Historiker, „die man zum Spaß ‚rar machen‘ oder ‚Verknappung‘ nennen könnte.“60 Statt massiger Selbstverständlichkeiten „taucht nun ein seltsamer kleiner Gegenstand“ auf, „rar bizarr und nie gesehen“, hervorgebracht durch eine Praktik im Gefecht anderer Praktiken, die ihn verobjektiviert. Er existiert nicht zuvor. Dass der bizarre Gegenstand schwächeln muss, ist nicht zu befürchten: seine „gute Gestalt“ ist „mittendrin“ in der Geschichte „und breitet sich schnell bis zu den Rändern des Bildes aus“. Die zentrale These ist, erklärt Veyne Foucault (und sich), dass das Machen, die Praktik, sich nicht vom Gemachten her versteht.

3. Physik und Ereignis – Galilei–Inszenierungen bei Isabelle Stengers

Gehen wir von einem Beispiel aus der Inszenierungsgeschichte der ‚weichen‘ zu einem der ‚harten‘ Wissenschaften über, zum ‚Fall Galilei‘. Wir wechseln damit in das Forschungsprogramm Michel Serres’. Die Rolle Paul Veynes übernimmt Isabelle Stengers. Schon der Titel, den sie ihrer Darstellung gibt und an die wir uns halten – Galilei-Affären –, deutet eine methodische Verwandtschaft mit dem Veyne’-Foucault’schen Unternehmen an.61 Und wie im ‚Quelltext Vergil‘ gibt es 59 Vgl.

den o.a. Beitrag von U. Rao und K. P. Köpping: Gescheiterte Performanzen als Ereignis. P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 33, zum Zusammenhang siehe ebd. und passim. 61 Isabelle Stengers: Die Galilei-Affären, in: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hgg. von Michel Serres, Frankfurt am Main 1994, S. 395-443. 60

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auch im ‚Quelltext Galilei‘ zunächst ein vergleichbares Stück der Selbstinszenierung – wobei klar geworden sein dürfte, dass mit solcher Zuschreibung nicht die Ursprungsgeschichte einer Inszenierung oder die Ursprungsinszenierung einer Geschichte gemeint sein kann.62 Es handelt sich lediglich um eine Variation der Formgebung, die freilich den Charme besitzt, sich so zu geben, als ob sie einen exklusiven Zugang zur Authentizität des Geschehens ihr Eigen nennen dürfte. Doch der Autor ist, obwohl es so scheinen mag, nicht privilegierter als in anderen Variationen. Egal. Wieder ist es nicht ein Historiker, der den ersten Schritt tut. Kardinal Belarmi erteilt 1616 das Verbot, öffentlich die Wahrheit der heliozentrischen Doktrin zu behaupten. Galilei unterwirft sich, verzichtet aber keineswegs darauf, diejenigen, denen er sich unterwirft, zu düpieren. Er verfolgt damit – und zwar bis unmittelbar in die Zeit vor dem schließlich unvermeidlichen Prozess im Jahr 1633 – eine Strategie, deren erste Züge schon zwanzig Jahre zuvor nachweisbar sind. In einem Dokument, bekannt unter dem Namen Brief an Castelli, aus dem Jahr 1613 fordert er seine Gegner auf, dass doch sie freundlicherweise die Tatsachen sammeln mögen, die beweisen, dass er unrecht hat. Galilei sieht sich selbst keineswegs in der Pflicht, auch nur einige der „Tausenden von Experimenten“ vorzuweisen, die derjenige, der auf der Seite der Wahrheit steht, verständlicherweise vorweisen könne. Nein, er erwartet, dass ihm die Zweifler für die Berechtigung ihrer Ablehnung der heliozentrischen These „natürliche Tatsachen“ und nicht Zitate aus der Heiligen Schrift entgegenhalten. Im Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme aus dem Jahr 1632 hat sich an dieser Haltung nichts geändert. Die bornierteste Rolle muss in dieser Schrift bekanntlich ein gewisser Simplicio spielen. Ihm legt Galilei die Argumente seiner Gegner in den Mund, unter anderem ein bekanntes Argument Papst Urbans VIII. über die unabweisbare Autorität der Heiligen Schrift auch im Fall von Gesetzen, die den Lauf der Planeten bestimmen. Ein Jahr nach der Veröffentlichung dieses Dialogs wird Galilei vom Heiligen Offizium verurteilt. Soweit die klassische Variante der Galilei-Affäre. Galilei inszeniert sich als Gewährsmann der Tatsachen, als Hüter wissenschaftlicher Methode, Verteidiger ihrer Beweiskraft und daraus rührender Wahrheiten und somit entschiedenen Gegner kirchlicher Ignoranz und Obskuranz.63 Diese Geschichte spielt in einem zeitlichen Rahmen von rund fünfundzwanzig Jahren; einzelne Ereignisse lassen sich an bestimmte Orte platzieren und gesondert inszenieren – historisch, literarisch, philosophisch, theologisch, und das mit je spezifischer Personage und Handlung. Alles

62

Siehe: Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Foucault: Dits et Ecrits. Bd. II, a.a.O., S. 166-190. 63 „Eine Version, die der Selbstinszenierung Galileis entspricht“. I. Stengers: Die Galilei-Affären, a.a.O., S. 402.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

in allem aber koinzidiert diese Geschichte historisch und dramaturgisch im Ereignis des Prozesses vor dem Heiligen Offizium im Frühling 1633, wie es ein bekanntes gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert in Szene setzt. Literarisch theatral hat sie dann über fast vierhundert Jahre zu zahllosen Aufführungen geführt, basierend auf immer wieder neuen Versuchen der Verlebendigung des zentralen Ereignisses und des anlässlich ausgetragenen Konfliktes zwischen Kirche und Wissenschaft. Die Wissenschaftshistorikerin, die in der Folge eine ganze Palette von Einzelaffären der Wissenschaftsgeschichte um die Entdeckungen Galileis ans Licht zieht, schildert sie hinreichend detailliert. Am Ende, „nachdem sämtliche Personen die Bühne verlassen haben und nur noch ein Problem im Vordergrund steht“64, steht immerhin ein Problem „im Vordergrund der Bühne“. Und das Problem ist eines gewisser Protagonisten und Verhältnisse, nach wie vor. Dinge, Körper, Verhaltensweisen, Beobachter, Zuschauer, sehen wir, eine Geschichte, ihre Exposition, ihren Verlauf, ihre Dramatik, ihr Ergebnis. Und so verwundert es auch nicht, dass wir weiterhin mit Szenen und Szenenbildern der verschiedensten Begebenheiten konfrontiert werden, arrangiert und eingefangen von einer bestimmten Choreografie der Problematisierung. Derart erhalten wir weitere Auskünfte zu den Differenzen zwischen historisch praktischen und wissenschaftlichen Inszenierungen, Inszenierungen von Wissenschaft. Galilei, so schon Alexandre Koyré 65, gewisserweise Duhem folgend, suchte in den experimentellen Daten seiner Versuche keineswegs die Wahrheit universell geltender physikalischer Gesetze. Er habe gewusst, dass seine Anordnungen überhaupt nicht geeignet waren, solche Ergebnisse zu zeitigen. Der abstrakte Fall, von dem er ausging, war ein gedachter Fall. Die Erfahrung soll – und kann – nur in den Grenzen der Mittel unsere Annahmen bestätigen. Das ist das eine Argument; andere resultieren auch hier aus verschiedenen Versuchen der historischen Kontextualisierung mit entsprechender Variabilität, aber auch aus naturwissenschaftlicher und mathematischer Problematisierung. Stengers bringt, ihre Untersuchung abschließend, eine eigene Galilei-Affäre zur Geltung. Sie inszeniert den Galilei des Dialogo und der Discorsi um ein dünnes Bündel von „gekritzelten Aufzeichnungen“, niedergeschrieben zwischen 1604 bis 1609. Das neue Stück heißt: Die Eigenheit der rationalen Mechanik gegenüber der mathematischen Physik.66 Stengers erneutes Quellenstudium setzt sich selbstredend nicht nur mit den Primärquellen, sondern ebenso mit der relevanten historischen und wis-

64

Ebd., S. 413. Siehe Alexandre Koyré: Ètudes galiléenne, Paris 1966, Kap. La physique de Galilée. 66 I. Stengers: Galilei-Affären 1994, S. 418. 65

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senschaftshistorischen Literatur auseinander, aber eben auch und besonders intensiv mit solcher, die ihrerseits Wert legt auf die Untersuchung der praktisch experimentellen und instrumentell basierten Sets, in deren Umgebung Galileis schriftlich niedergelegte Aufzeichnungen wuchsen. So macht Stengers Stillman Drakes Kritik an Koyrés Auffassung geltend, dass Experimente für Galilei so gut wie „irrelevant“ gewesen seien. Mit Drakes Hilfe (Galilei at work ist der Titel seiner einschlägigen Arbeit) rekonstruiert Stengers für die angegebene Zeit verschiedene Einzelsituationen, die Galilei als Forscher zeigen, der Schritt für Schritt ein bestimmtes Problem angeht und dabei notwendigerweise auch auf Experimente setzt. Allerdings in einem anderen Sinn, als man nach klassischer Lesart vermuten könnte. Um das Jahr 1604, paraphrasiert Stengers zunächst ihren Gewährsmann, habe Galilei „noch gar nicht versucht, beobachtbare Folgerungen aus einer mathematischen Definition a priori zu deduzieren“. Denn Deduzieren setze einen homogenen Bedeutungsraum voraus, in dem die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Termini der Definition festliegt. Dafür jedoch seien noch keine Voraussetzungen geschaffen gewesen. Die Verknüpfung, so Stengers, habe Galilei zu dieser Zeit erst „zu konstruieren“67 versucht. Die Konsequenzen dieser Aufbereitung kann man sich vorstellen. Von einer Jahrhunderte alten Kontinuität des mathematischen Denkens, aufgespürt in den Notizen Galileis um das Jahr 1604 herum, wie frühere Interpreten mutmaßten, kann keine Rede mehr sein. Bewusst oder gar nicht angeknüpft. Denn eine uniformiter difforme Bewegung war für das mittelalterliche Denken, gut aristotelisch, ein Apriori, eine Setzung, während sie für Galilei ein physikalisches Problem tatsächlich fallender Körper darstellte, das zu lösen er 1604 eine lokale Messung des Geschwindigkeitsgrades in einem Punkt vorschlug. Ganz unterschiedliche Betrachtungen also. Einmal der Geschwindigkeit angesichts eines zurückgelegten Weges – schiefer Turm, zwei Körper fallen herunter –, ein anderes Mal des Geschwindigkeitsgrades, gemessen in einem Aufschlagspunkt – ein Hammer fällt auf ein Platte. Was fällt, in einem Punkt zur Ruhe kommend, ist „wie durch einen Stoß“ verursacht. Stengers rekurriert ausdrücklich auf die Notiz Galileis, in der er „für sich und nur für sich bemerkt ..., daß bei Hammerwerken der Stoßeffekt von der Fallhöhe des Schlagbolzens abhängt“. (Abb. 3) Also keine Messung einer Bewegung über eine Strecke während einer Zeitdauer.68 Da es nun keine Regel a priori gibt, wie diese beiden Ansichten oder Begriffe zu verknüpfen sind, schlägt Galilei eine Definition vor. Sie lautet,

67 Ebd., S. 422 – Hervorh. die Autorin; Stillman Drake: Galilei at work. His scientific Biography, Chicago 1981, S. 88-90, S. 97-104, S. 116. 68 I. Stengers: Galilei-Affären, a.a.O., S. 424.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

dass sich die Geschwindigkeit, mit der ein frei fallender Körper eine Entfernung zurücklegt, aus der Akkumulation der Geschwindigkeitsgrade ergibt, die dieser Körper in den verschiedenen Punkten seines Falls ‚aufgenommen‘ hat.69 Eines der ersten Experimente beruft sich auf die Höhe, mit der ein Pendel aufschwingt, die, immer dieselbe, unabhängig ist vom Weg, den das Pendel in den unterschiedlichen Fällen nimmt, nicht aber von der Höhe, von der es in seinem Aufhängepunkt herabkommt.

Abb. 3 Forschungsemergenzen, Modell Hammerwerk

1604 haben wir in dieser Darstellung mithin keinen genialen Mathematiker, sondern einen ratlosen Physiker vor uns, der zu verstehen sucht, wie sich verschiedene Arten der Messung zusammen denken lassen. Dafür arbeit er sich an den verschiedensten Analogien ab, praktischen Funktionsbeispielen, die er experimentell zu elementarisieren und zu systematisieren sucht, um zu bündigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Galilei tut etwas, aber er weiß noch nicht, was er tut. Und nach außen hin „blufft“ er, wie Stengers und Drake feststellen.70 Die „Deduktion“ erfolgt erst viel später, wenn Galilei verstanden hat, was überhaupt jeweils gemessen wird. Die Deduktion ist eine Hypothese. Die Geschwindigkeit soll von ihrer Messung durch Weg und Zeit getrennt und nur an ihrem Ort realisiert werden. Was Galilei erwägt, ist, dass der Geschwindigkeitsgrad in einem gedachten Aufschlagspunkt überhaupt

69 70

Ebd., S. 424/25. I. Stengers: Galilei-Affären, a.a.O., S. 424.

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gar keiner Geschwindigkeit, die gemessen werden könne, entspricht, also auch keine wirkliche Bewegung darstellt. Denn es handelt sich um eine Geschwindigkeitsmoment den ein Körper über keinerlei Weg in keinerlei Zeit zurücklegt. Wieder kommt das Bild des Hammers ins Spiel, der in seinem Aufschlagpunkt zur Ruhe kommt. In diesem Sinne rechtfertigt sich, von einer theoretischen oder „Momentangeschwindigkeit“ zu sprechen. In den Texten nach 1604 – und das nun ist die Dramatisierung, in der unsere Autorin die Geschichte Drakes neu inszeniert –, geht es Galilei um die Konzeptualisierung einer neuartigen „kausalen Messung“. So genannt, weil es um die Eigenschaft eines Körpers geht, „die er durch die Wirkung gewonnen hat, zu der sie ihn befähigt; weil sie das, dessen Größe zu bestimmen ist, in die Ursache einer Wirkung verwandelt, die sie zu bestimmen erlaubt“. Etwa dreißig Jahre nach diesendurchaus heterogenen Forschungsaktivitäten Galileis konnten die Zeitgenossen die rationalisierten Ergebnisse der frühen Bemühungen in den Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due muove scienze entsprechend geglättet nachlesen.

4. Objekte, Ereignisse, Wissen und Macht – Inszenierungspraktiken in Wissenschaft und Alltag

Genug vorerst der Beispiele. Die moderne Wissenschaftsgeschichte und -soziologie sieht skeptisch auf idealistische Großlösungen zur Beschreibung geistesgeschichtlicher teleologischer Entwicklung oder auch bestimmter ‚Fortschritte‘ in der Konzeptualisierung einzelner Wissenschaften. Es hat sich nicht nur herum gesprochen, sondern wird mehr und mehr auch im Einzelnen dargetan, unter welchen, nicht nur experimentellen, sondern auch kontingenten, emergenten Widerständen ausgesetzten Bedingungen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungstätigkeit zustande gebracht werden. In Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften. Der Autorität historischer Institutionen und überkommener Begrifflichkeit, ihrer quasi natürlichen Selbstverständlichkeit gegenüber wird ‚das Labor‘ in Stellung gebracht71, die Dialektik von Widerstand und Anpassung, in deren forschungsprak71

Eine Auswahl der mittlerweile vielfältig anzutreffenden Referenzadressen soll genügen. Allesamt, wenn man so will, in der wissenschaftstheoretisch, wissenschaftshistorischen Tradition einer Programmlinie, in der die Trennung von Natur und Kultur, Natur- und Geisteswissenschaften mit ihren Dichotomien aufgegeben ist, in der der Mythos vom Gegebenen zurückgewiesen wird. Für diese Linie stehen Namen wie Ludwik Fleck, Gaston Bachelard, Georges Canguilhelm, Michel Foucault, Michel Serres. Die Philosophin und Epistemologin Isabelle Stengers, deren Forschungen wir unser Beispiel entliehen haben, gehört ebenso wie z.B. ihr Kollege, der Physiker und Wissenschaftshistoriker Ilya Prigogine, zu denen, die diesem Programm schon vor dreißig Jahren Richtung und Dynamik verliehen haben. Siehe: Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: La nouvelle alliance, Paris 1979. Siehe des Weiteren: Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000 (darin: S. 36-95) exemplarisch: Peter Geimer (Hg.): Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald Amazonas. Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt am Main 2002; Hagner, Michael (Hg.): Ansichten der Wissenschafts-

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

tischem Verlauf rückblickende Beschreibungen und Erklärungen der Widerstände mit daraus gewonnenen Einsichten wie mit prospektiven Anpassungsstrategien zusammengehen. Auch wird ersichtlich, dass die darin erscheinende Diskursverbundenheit der Einflussnahme der Dinge, dem, was Andrew Pickering72 im Unterschied zu menschlicher „materielle Wirkungsmacht“ („not human agency“73) nennt, keinen Riegel vorschiebt.74 Nirgends geht es allein um textliche Referenten. Aber die Dinge sind auch nicht das, was sie zu sein scheinen. Die Intervention geht dahin, dass Institutionen und Begriffe mit Diskursen, Praktiken und Techniken einhergehen; Diskursen, Praktiken und Techniken einer immer wieder neuen Konstruktion und Problematisierung der Gegenstände wie ihrer selbst, ihrer Einbeziehung in veränderliche Kräfteverhältnisse zwischen handelnden Personen, Körpern, Dingen. Dies war nicht immer so. Nicht nur ist dies eine Betrachtung, die „in der Perspektive der klassischen traditionellen Erkenntnistheorie gar keinen Platz hatte. Wissenschaftskritisch gewendet kann man sagen, dass es auch nicht im Zentrum der Vorstellungen steht, die sich die Wissenschaften von sich selbst machen.“ Auch im Selbstverständnis der Wissenschaften droht die Vermittlung von „Experimental-Perspektive“ und „Reflexion auf die technologische Verfasstheit von solchen Spuren erzeugenden experimentellen ‚Umgebungen‘ in ihren Ergebnissen zu verschwinden“. „Es ist hier geschichte, Frankfurt am Main 2001; Hans-Jörg Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt am Main 2006 (hier exemplarisch etwa die Studien zur Entwicklung der Genetik, aber auch zur Interaktion von Erkenntnisinstrumenten, Experimentalsets, Objektzubereitung, Methoden und epistemischen Resultaten); Ders.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt am Main 2006 (exemplarisch, über die Titelthematik hinaus, zur konkreten Ausgestaltung der Räume der Darstellung). Zu den Arbeiten Andrew Pickerings, den ich in diesem Kontext auch nennen möchte, siehe in der nächsten Anmerkung! 72 Siehe beispielsweise die Aufsätze in: Andrew Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin 2007, insbesondere den hier auf Deutsch vorliegenden Aufsatz: Agency and Emergency in the Sociology of Science, 1993 bzw. 1999: Die Mangel der Praxis, ebd. S. 17-61; zum Kontext z.B. S. 49-52 und passim. Weiterführend siehe Andrew Pickering (Ed.): Science as Practice and Culture, Chicago 1992; Ders.: The Mangle of Practice: Time, Agency and Practice, Chicago 1995. – Pickering weist im angegebenen Abschnitt von Agency and Emergency in the Sociology of Science darauf hin, dass die Trajektorie der Emergenz materieller Wirkungsmacht auch umgekehrt „keine eigene und reine Dynamik“ besitzt, es sich also nicht um die Auffassung eines technologischen Determinismus handelt, der sich über die materiellen Wirkungsmächte den Wissenschaften aufzwinge. Und in diesem Zusammenhang verweist er ausdrücklich auf den „engen Sinn zeitlicher Emergenz“, worin man eine Verbindung zur „pragmatistischen Philosophie“ Peircens sehen könne. A. Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien, a.a.O., S. 48, Anm. 14. 73 Vgl. den instruktiven Überblick zum Agency-Begriff von Gustav Roßler: Nachwort zu Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, a.a.O., S. 177-184. 74 Die Berücksichtigung nicht menschlicher Akteure in den Dispositiven der Wissenschaften und des gesellschaftlichen Handelns findet mittlerweile eine breitere Anerkennung als noch zu Zeiten der ersten diesbezüglichen Serres-Veröffentlichungen zur Wissenschaftsgeschichte (siehe auch: Michel Serres: Hermes II; Interferenz, Berlin 1992). Vergleiche die Diskussion bei Bruno Latour in: Die Hoffnung der Pandora, a.a.O., z.B. Kapitel 5 und 6; auch in ders.: Das Parlament der Dinge, Kapitel 2: Das Kollektiv versammeln, Frankfurt am Main 2001.

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also eine Anstrengung des Begriffs vonnöten, und zwar in beide der angedeuteten Richtungen.“75 An den notwendig exakteren Bedingungen für die Bestimmung der ‚Einflusskomponenten‘, der verschiedenen agencies der Naturwissenschaften – begrifflich exakter in der Regel jedenfalls als im gewöhnlichen Kontext von Literatur und Geschichte – lässt sich, paradoxerweise, der Status anhaltender Bastelei beim Herstellen von Objekten, Ereignissen und Darstellungen besonders gut nachvollziehen, insbesondere wenn sich diese Epistemologie größeren Abschnitten der Forschung widmet, also ihrerseits historisch arbeitet. Wir finden keine diskreten Elemente, die, in Beziehung gesetzt, wiederum diskrete Prozesse, Ereignisse, Resultate zeitigen. Statt dessen sehen wir „fluktuierende Objekte und unscharfe Begriffe“.76 Eine Überführung aus der Realität in die Fiktion ist damit nicht verbunden, und auch die Anwesenheit von Körpern steht nicht in Frage. Denn der Substanzbegriff des ‚Gegebenen‘ wird keineswegs zugunsten eines Objektbegriffs kritisiert, der grundsätzlich die Möglichkeit ihrer unabhängigen Existenz leugnet und nur noch theoretische Konstrukte kennt. „Substanzen“ müssen nicht aus dem Wortschatz gestrichen, sondern lediglich historisiert und ‚entstabilisiert‘ verstanden, mit Instabilität statt mit Stabilität zusammengedacht werden.77 Die Projekte zur vorübergehenden Inszenierung von Ereignissen sind andere in der Naturwissenschaft, in der Literatur oder Historie oder in der Kunst. Aber wenn wir die Verwendung von ‚Szenografie‘ einen Augenblick auf die Komplexität ‚szenografischer‘ Kompetenz im Lichte einer beispielhaften naturwissenschaftlichen Inszenierung anwenden, einer Inszenierung zur Darstellung eines Objektes im Raum eines für dieses Objekt erzählenswerten Ereignisses, dann erhellen die szenologischen Kategorien in einer zunächst vielleicht ungewohnten, nichtsdestotrotz die Szene insgesamt erfassenden Beleuchtung. Insbesondere erhellt ein vergleichbares Interesse am Erfolg. Wenden wir uns dem Foucault’schen Forschungsprogramm zu, sehen wir das Augenmerk auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gelenkt, die genannten Manipulationen eingebettet in „Machtverhältnisse“. Bekanntlich aber kennen die Machtverhältnisse Freiheitsgrade, Freiheiten der Bewegung und Entscheidung, die Bedingung kreativer Leistung.78 Was für die Wissenschaften, konkrete Dispositive einzelner 75 Hans-Jörg

Rheinberger: Wie werden aus Spuren Daten und wie verhalten sich Daten zu Fakten? In: Nach Feierabend, Züricher Jb. für Wissensgeschichte 3, Daten, Zürich/Berlin 2007, S. 118; Hervorh. des Autors. 76 Hans-Jörg Rheinberger: Die Evolution des Genbegriffs – Perspektiven der Molekularbiologie, in: Epistemologie des Konkreten, a.a.O., S. 222. 77 Vgl. z.B. Bruno Latour: Die Geschichtlichkeit der Dinge, d.i. Kap. 5 in: Die Hoffnung der Pandora, a.a.O., S. 175-210. 78 Vgl. Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, Nachwort in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, S. 241-261. „Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkungen auf die Handlungen anderer definiert,

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Naturwissenschaften am Beispiel mikroskopischer Analyse nachgezeichnet werden kann, erscheint hier, in der historischen Perspektive der Genealogie, als demonstrierende, erinnernde wie prognostische Beschreibung der Geschichte der Gegenwart. Die Methode, die dazu befähigt, könnte man in Anlehnung an Dreyfus’ und Rabinows Blick auf Foucaults Werk als „interpretative Analytik“ oder einfach als positive Analytik bezeichnen.79 „Geschichte der Gegenwart“ heißt es, insofern die Grammatik des Ereignisses bei solcher Darstellung nicht aufs Attribut gerichtet ist, sondern aufs Verb, auf den Infinitiv und das Präsenz, wie Foucault in Theatrum philosophicum80 entwickelt. Damit gilt die Ereignishaftigkeit trotz des Nachtrabs der Erzählung nicht mehr nur für diese oder jene historische Rekonstruktion oder schlicht für die Vergangenheit. Die Intervention gibt Dingen, Objekten, Institutionen und Problemen qua Darstellung die Ereignishaftigkeit als Zustand zurück, stellt neue in Aussicht.81 Schauen wir auf die einleitenden Überlegungen zu möglichen Gemeinsamkeiten von Event und Ereignis, scheint die Pointe des Gesagten nun nicht darin zu liegen, am Ereignis die Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit des Erlebens festzuhalten. Wichtiger erscheint die Vorläufigkeit im Zusammenhang von strategischen Absichten einerseits, der Nichtbeherrschbarkeit des Praxisfeldes aufgrund vielfältiger Aktanten und Einflüsse andererseits.82 Weniger mithin wäre das Ereignis zu feiern als in den Möglichkeiten seiner Effekte hinzunehmen respektive in einem neuen Anlauf zu überwinden. ‚Szenografische‘ Praktiken kämen dann in den Blick, wären erst dann gefragt, wenn es hieße, sich auf besonderen Handlungsfeldern um die Steuerung solcher Effekte zu kümmern, wobei die Szenografik sich weniger die Einzeleffekte qua inhaltlicher Überzeugungsarbeit zu eigen macht – sie arbeitet natürlich mit diesem wenn man sie durch das ‚Regiment‘ – im weitesten Sinne dieses Wortes – der Menschen untereinander kennzeichnet, nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der Freiheit. Macht wird nur auf ‚freie Subjekte‘ ausgeübt und nur insofern diese ‚frei‘ sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere Führungen, mehrere Reaktionen und verschiedenen Verhaltensweisen statthaben können.“ Ebd. S. 255. 79 H. L. Dreyfus/P. Rabinow: Michel Foucault, a.a.O., S. 23. 80 M. Foucault: Theatrum philosophicum, a.a.O., S. 102. 81 Rheinberger stellt in diesem Zusammenhang zu Recht fest, dass die Dialektik von Fakt und Artefakt insofern keineswegs nur als Übel oder Dilemma zu bewerten sei, sondern viel eher als „Motor einer charakteristischen Forschungsdynamik“. „Dadurch dass sich der Gegenstand dauernd an der Grenze zum Artifiziellen bewegt, kann man ihn auch immer wieder hinter sich lassen. Epistemische Objekte sind grundsätzlich von dieser überholenden Art.“ H.-J. Rheinberger: Schnittstellen, a.a.O., S. 319. 82 Vgl. Philip Sarasins Überlegungen zur Radikalisierung des Ereignisbegriffs beim Foucault der 70er und 80er Jahre im Unterschied zu früheren Vorstellungen im Rahmen der Diskursanalyse im Programm der Archäologie. Philipp Sarasin: Krieg und Wahrheit: Michel Foucault als Sprengmeister, in: Nach Feierabend, Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1: Bilder der Natur – Sprachen der Technik, Zürich 2005, S. 205-219.

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Material – , als diejenigen Effekte, die eine insgesamt positive Aufnahme der gesamten Aufführung fördern. Es gehört zum Ergebnis der Analytik, den epistemischen Einstellungen des eigenen Tuns und den sich daraus ergebenden Transformationen zwischen Fakt und Artefakt gegenüber zu konstatieren, dass Überzeugungsinhalte darin weder überwiegen müssen – sondern mit Anwendungsbereichen und situativ strategischen Überlegungen und Entscheidungen einhergehen – noch in dieser oder jener Weise kausal oder gar geschichtsontologisch determiniert sind. Insofern stehen Beschreibung oder Erklärung nicht dem Ereignis gegenüber, sondern teilen seinen ontologischen Status. ‚Unter eine Beschreibung‘ zu nehmen wie zu fallen, ist mithin durchaus praktisch und in diesem Sinne ereignisstiftend. Zugleich aber heißt es auch, ‚Ereignis‘ als Summe aller unter seinem Namen gefassten bzw. fassbaren Erscheinungs- und Erlebnisformen auszuschließen. Denn das Ereignis ist nicht nur produktionsrelativ, sondern auch zustimmungsrelativ83 und an den jeweiligen Tauschakt der Inszenierung gebunden. Es ist wichtig, an Handlung und Ereignis die unterschiedlichen Bruchlinien zu realisieren. Macht und Freiheit, Kontinuität und Emergenz, Menschen und Dinge, Widerstand und Anpassung, Geschehen und Verstehen. Die ‚Wirkmächtigkeit‘ der beteiligten Agenzien bezieht sich nicht nur auf menschliche Akteure, sondern ebenso auf nicht menschliche, die wiederum ‚Handlungen‘ vermitteln können. Den Mächten der Wirkung, der Wirkung der Mächte steht die Freiheit der Bewegung gegenüber, die Handlungsgründe von Determinierung durch kausale Ursachen unterscheiden lässt. Wie Davidson sagt, wird man mit Kant den Widerspruch von Gesetz und Autonomie „wegerklären“ müssen.84 Kausalität und Freiheit schließen sich nicht aus. Damit verbunden ist die Zurkenntnisnahme des Entstehens von Neuem in den Verwicklungen der Praktiken im Einflussfeld der verschiedenen Agenzien. Wir sehen Emergenz auch bei all denjenigen Unternehmungen, die das primäre Ziel haben, Überzeugungen zustimmungsfähig zu machen. Begriffs- und Modellbildung sind ergebnisoffene Prozesse. Selbst „ein gegebenes Modell schreibt nicht die Form seiner eigenen Ausweitung vor.“85 Die Gegenstände nehmen Einfluss in der wechselnden Form ihrer Inszenierung,

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Siehe C. S. Peirce: Neunte Lowell Vorlesung. MS 357, 1866, in: Semiotische Schriften 3, a.a.O., S. 111-118. Peirce stellt heraus, dass der letzte Grund für die immer nur vorübergehende Einigung der ist, dass der Interpretant jeweils der Notwendigkeit zur Vereinheitlichung verschiedener Sinneseindrücke zu einem Begriff unterliegt. Aber natürlich nicht aller. „Er [der Interpretant] wird durch das ermöglicht und gerechtfertigt, was auch den Vergleich ermöglicht und rechtfertigt. Aber das ist offensichtlich die Verschiedenartigkeit der Sinneseindrücke.“ Vgl. C. S. Peirce: Eine neue Liste der Kategorien. Vortrag 14.05.1867, a.a.O., S. 153. 84 Siehe D. Davidson: Handeln, a.a.O.. S. 73-98. Der englische Titel des Aufsatzes heißt bezeichnenderweise „Agency“. 85 A. Pickering: Die Mangel der Praxis, a.a.O., S. 54.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

deren Wiederholungen – im wissenschaftlichen Geschäft vielleicht strukturierter als in anderen Praktiken – mehr der Anpassung an das Erreichbare und zugleich Mögliche im Rahmen des Sich-Ergebens dienen als dem planvollen Folgen ursprünglicher Erkenntnisziele. Verstehen koinzidiert mit Geschehen. Zu beider Lasten, zu beider Vorteil. Zugleich erleben wir Inszenierungen des Wissens und des Lebens. Die Aufführung der Vergilschen Bucolica, die Probleme der Agrargeschichte oder der Physik und Mathematik Galileis beginnen von vorne. Ein „Ereignis in letzter Instanz“ ist eine contradictio in adjecto.86 Jedes Ereignis mag als nur vorübergehendes Provisorium erkämpft werden, in einem „anhaltenden Sturm“87, in dem Künste, Künstler und Kunstwerke, Forscher, Methoden und Wissenschaften, Produzenten, Praktiken und Regisseure, Drehbücher und Aufführungen ihren Platz und ihre Rolle haben. Keine Privilegierung eines Wissens, keine Privilegierung eines Erlebens. Zudem gilt die epistemische Einschränkung, dass Diskurse und Praktiken, die zu Ereignissen verdichtet werden, weder in der Form eines begleitenden Kommentars zum Alltagsleben noch in Art einer Tiefenexegese verdeckter Praktiken als Beschreibungen von ‚Wirklichkeit‘ zu nehmen sind. Derart hermeneutische und fundamentalhermeneutische Hoffnungen sind auf Sand gebaut. Hier sieht man die Interpretation als Fundament des Wirklichen und verstrickt sich damit notgedrungen in die Konflikte konkurrierender Deutung von Bedeutsamem, mehr oder weniger, marginal und höchst Bedeutsamem. Im Unterschied dazu bleibt der fröhliche Positivismus dessen, was Foucault ziemlich trocken „philosophisch historische“ Forschung nennt88, der Distanz – und der Kritik – verpflichtet. Auch Foucault spricht diesbezüglich vom „Kant’schen Kanal“.89 Nicht die Legitimitätsprüfung ist jedenfalls Sinn dieser Forschung, sondern, wie Foucault in Was ist Kritik?, einem Vortrag vor der Société française de Philosophie im Jahr 1978, ausführt, die „Ereignishaftigkeitsprüfung“ oder „Ereignishaftmachung [! – HW]“.90 Soweit es dabei um „Wissen“ und „Macht“ geht – Theorie und Praxis, sozusagen –, sind dies zunächst nur Begriffe, um das Terrain abzustrecken. „Wissen“ wird gebraucht, „um Erkenntnisverfahren und -wirkungen zu bezeichnen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet

86

P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 73. Martin Stingelin: Das Netzwerk von Deleuze, Berlin 2007, S. 92ff. Stingelin charakterisiert und vergleicht hier die Gesten von Deleuze und Foucault, die er gleicherweise als interventionistisch beschreibt. 88 Michel Foucault: Was ist Kritik, Berlin 1992, zuerst veröffentlicht im Bulletin de la Société française de Philosophie, Paris 1990. Es handelt sich um den Vortrag vor der Société française de Philosophie vom 27. Mai 1978. 89 Ebd., Diskussion, S. 43. 90 Ebd., S. 30/31. 87

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akzeptabel sind“. „Macht“ wird gebraucht, um damit „viele einzelne definierbare und definierte Mechanismen“ abzudecken, „die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“. Die Begriffe haben „nur eine methodologische Funktion“. Mit ihnen „sollen nicht allgemeine Wirklichkeitsprinzipien ausfindig gemacht“, sondern so etwas wie die „Analysefront“ bestimmt werden. Mithin macht es keinen Sinn, abstrakt über Ereignisse, Räume, Diskurse zu sprechen. Ein jedes Wissenselement und ein jeder Machtmechanismus müssen „in jedem Moment der Analyse einen bestimmten Inhalt […] präzise beschreiben können.“91 Auch leuchtet ein, dass immer ein Wissens-Macht-Nexus gedacht werden muss. Denn es handelt sich nicht um einander fremde Kategorien. Wissenselemente gehen stets zusammen „mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge – etwa mit dem System eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche“. Und derartig bestimmende Diskurse und dominierende Dispositive sind bestimmend und dominierend, „zu Nötigungen oder Anreizungen fähig“, weil sie entsprechende Effekte haben, beispielsweise als wissenschaftlich rational oder auch einfach plausibel gelten. Beginnend mit der Versicherung empirischer Beobachtbarkeit (Wahrnehmbarkeit), erreicht die Archäologie mit ihrer Analyse bestimmte akzeptierte Formen, Ausdrücke, Gestalten historischer, das heißt epochenspezifischer Konfiguration eines Macht-WissensGefüges. Wobei die Analyse dieses Gefüges dann verständlich macht, was es, genau dort, wo es akzeptiert wird, erfolgreich, akzeptabel macht. Was resultiert, ist eine begründete Darstellung des jeweiligen Systems der Akzeptabilität und darin anerkannter Ereignisse. In der Analyse solcher Positivitäten (wir haben versucht, dies an Beispielen zu erläutern) sind „gewissermaßen reine Singularitäten zu erfassen“. Das sind alles in allem keine Erklärungsverfahren, die auf letzte Kausalitäten aus sind. Wenn überhaupt, sind sie auf ‚banale‘ Kausalitäten aus, Kausalitäten im Sinne mehr oder weniger kontingenter Akzeptabilitätsbedingungen. Noch einmal: „Es geht um die Schaffung eines Netzes, welches diese Singularität da als einen Effekt verständlich macht.“ Das ist die Genealogie, welche die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältig bestimmenden Elementen ausfindig macht und nicht als deren Produkt, sondern als deren Effekt erscheinen lässt.

5. Darstellungen, Inszenierungen, Effekte

Versteht man Inszenierungen als angelegt auf das, was Foucault „Effekt“ nennt, oder gar selbst als „Effekt“ (wie beispielsweise ein Film nach seinem Haupteffekt benannt

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Ebd., S. 32/33; zum Folgenden siehe ebd., S. 34-39.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

wird92), wird deutlich, dass Darstellung und Inszenierung nicht per se gleichzusetzen sind. Die Inszenierung betrifft wesentlich die wirkmächtigen Darstellungsagenzien. Der Transfer der Verwendung erscheint verständlich, wenn man an „Effekte“ etwa bei einem gelungenen Feuerwerk, bei einer Opern- oder Theateraufführung oder, nehmen wir das Filmbeispiel, im Kino denkt – wo der Spezialeffekt, jedenfalls soweit er ein „spektakulärer“93 ist, nur hervorhebt, dass er über das zum Film gehörige normale Maß an Inszenierung, über die normale Wirkung der Bilder, hinausgeht. – Aber die Berechtigung reicht weiter. Das Kriterium der Güte des Effekts ist formal. Es heißt, dass der Effekt einer aus vielfältig bestimmenden Elementen zusammengesetzten Singularität darin besteht, dass die in der Darstellung erscheinende Konstellation – das Netz von Beziehungen, Verkettungen, Interaktionen, die konkrete Form, die das Ereignis angenommen hat mithin – zeigt, dass das Ereignis zugleich als akzeptiert oder in bestimmten Maßen akzeptabel erscheint. Dass es sich um ein überzeugendes Ereignis, überzeugend ein Ereignis handelt. Die Idee reicht weit zurück und ist angesiedelt in den Alltäglichkeiten unserer Praxis – sozusagen im Schatten der Wahrheit. Die aristotelische Poetik und Rhetorik handeln davon, was besonders erhellt, wenn man ihre gemeinsamen Ambitionen betrachtet.94 Die theatral performative Darbietung eines Geschehens, wie sie die Bühne beispielhaft vor Augen führt, auf der einen Seite (die Kombination von Inszenierung und Szenografie ist genau das: opsis 95, die Ordnung der Sichtbarkeit, die dazu beiträgt, Evidenz zu erzeugen), die geordnete Struktur von thematisch gebundenen Geschichten (prothesis) und deren, die Teilnehmer der Veranstaltung überzeugende und Vertrauen erweckende Wirkung (pistis) auf der anderen Seite.96 Opsis und Pistis machen mit Hilfe und aufgrund der passenden Darstellungs- und Überzeugungsmittel (enthymemata) den Effekt.97 Der wiederum wird in der Hauptsache 92

Letzte Beispiele: Titanic oder King Kong. Es gibt neben den spektakulären auch die sogenannten diskreten oder verschwindenden, eigentlich verschwinden machenden Effekte. Wenn man in der Analogie zu diesen VFXen bleiben wollte, wäre von daher das Problem der „scheiternden Ereignisse“ gut thematisierbar. 94 „Jene Disziplin [die Rhetorik – HW] wird, wenn sie sich entwickelt, dasselbe vermögen wie die Schauspielkunst.“ Aristoteles, Rhetorik, Drittes Buch, 1404a, 13. 95 ... wobei sie von Aristoles etwas stiefmütterlich behandelt wird, soweit er darunter eigentlich nur die Tätigkeit der Dekorateure und Bühnenbildner fasst. Siehe Poetik. 96 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, Drittes Buch, 1414a, 30-35. 97 Im Rahmen der Rhetorik mit den „Überzeugungsmitteln“ (siehe 1355a 3 /4) der Enthymeme vor allem. (enthymema – das Erwogene, das Beherzigte, und schließlich in diesem Sinne: das Argument. Der Begriff oszilliert bezeichnenderweise zwischen dem Mittel und seiner Wirkung.) Freilich sind damit auch hier nicht einfach nur sprachliche Mittel gemeint. „Von den Überzeugungsmitteln sind die einen redetechnisch, die anderen nicht. Mit nicht redetechnisch bezeichne ich alles, was nicht durch uns selbst geschaffen ist, sondern bereits vorlag.“ Ersteres muß „auf Grund einer Methode“ organisiert werden, während man „das andere jedoch finden muß.“ (Ebd., Erstes Buch, 1355b, 35f.) 93

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zurückgenommen in die Dispositive der experimentellen Praxis selbst, verbraucht und (oder) zu neuen Unternehmungen genutzt.98 So liegt der Effekt einer Analyse wie beispielsweise der, die Paul Veyne das Ereignis der Strafaktion des Triumvirats ungefähr um das Jahr 55 v. Chr. gegen Mantua und Cremona rekonstruieren lässt, wie in allen vergleichbaren Darstellungen, im Überzeugungsgrad, den sie in genau dieser Version bei ihrem Publikum erreicht. Das aber ist nichts anderes als das, was die Qualität jedweder Inszenierung ausmacht, auch dort, wo wir die Vokabel als eher unpassend empfinden. Als Inszenierung anerkannt zu werden, heißt, anerkannt zu werden in genau der Form, die das Ereignis in der aktuellen Vorstellung angenommen hat. Selbst ‚zufällige Ereignisse‘ sind demnach nicht per se aus der Ereignisontologie ausgeschieden. Denn dass ein zufälliges Ereignis im Mittelpunkt einer Inszenierung stehen kann – was in Darstellungen naturwissenschaftlicher Entdeckungen beispielsweise durchaus nicht selten geschieht –, ist nicht erstaunlicher, als dass Ereignisse überhaupt im Mittelpunkt von Darstellungen stehen. Die Inszenierung eines zufälligen Ereignisses, etwa eines Elektronenzerfalls, soll schließlich nicht zu einer Darbietung führen, in der das zentrale Ereignis zufällig auftritt, sondern möglichst zwingend. Die Inszenierung kann allerdings scheitern, wie die Galileis, mit der er, wie erzählt wird, des Öfteren versuchte, eine Handvoll seiner notablen Gegner mittels eines Blicks durchs Fernglas von der Bewegung der Jupitermonde zu überzeugen. Zwar war deren Bahnbewegung nicht mit einem zufälligen Erscheinen verbunden, aber die Bewölkung, die schlechten Augen der gelehrten Herren und die mangelnde Übung bei der Beobachtung durch ein Fernglas machten sie dazu.99 (Abb. 4) Dass eine Produzenten- oder Autorenleistung zu einer derart Effekte machenden Vorstellung nicht hinreicht, wurde schon unter verschiedenen Gesichtspunkten dis-

98 Was auch erklärt, dass die Ambitionen von Poetik und vor allem Rhetorik insgesamt in das Leben

der Polis, das Ensemble des gesellschaftlichen Handelns gehören: Die Rhetorik ist „gewissermaßen ein Schößling der Dialektik und der Beschäftigung mit Ethik [...], die die Bezeichnung ‚Politik‘ verdient.“ (Aristoteles: Rhetorik, Erstes Buch, 1356a, 25) „Da unter den Prämissen für rhetorische Schlüsse wenige sind, die zwingend diese ergeben (denn das meiste, worüber Urteile getroffen und Überlegungen angestellt werden, kann sich ja auch anders verhalten. Denn man berät und denkt nach über die eigenen Handlungen, Handlungen sind aber alle von solcher Art, und keine davon ergibt sich sozusagen aus einer unbedingten Notwendigkeit), und da das, was in den meisten Fällen zutrifft und möglich ist, nur wiederum aus anderen ebensolchen Prämissen gefolgert werden kann, Notwendigkeiten aber aus zwingenden Prämissen [...], so ist klarerweise das, woraus Enthymeme gebildet sind, zum einen zwingende Notwendigkeit, zum anderen in den meisten Fällen zutreffend, denn Enthymeme werden aus Wahrscheinlichkeiten und Indizien gebildet, so daß jedes davon jedem Vorhergehenden entspricht.“ (Aristoteles: Rhetorik, ebd., 1357b, 22-34). 99 „Ein Zeuge schrieb: Galilei ‚hat gar nichts erreicht, denn mehr als zwanzig gelehrte Männer waren anwesend, aber niemand hat die neuen [Monde] deutlich gesehen […] Nur einige mit sehr guten Augen ließen sich in gewissem Maße überzeugen.‘“ Zit. bei: Steven Shapin: Woher stammt das Wissen in der wissenschaftlichen Revolution?, in: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, a.a.O., S. 52.

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kutiert. Anerkannt werden muss die harmonische Präsenz all derjenigen Elemente, die ihre Akzeptanz und die Akzeptanz des Ganzen der Tatsache verdanken, dass, wie sie als Ereignis arrangiert erscheinen, nicht als selbstverständlich gelten durfte und darf.100 In der Inszenierung der galileischen Revolution als Revolution der rationalen Mechanik und der mathematischen Physik ist der Auftritt der Notizen des Gelehrten aus den Jahren 1604 bis 1608 alles andere als selbstverständlich. Gerade mit ihnen

Abb. 4 Gescheitere Inszenierung; Galilei, Finanziers

aber macht Isabelle Stengers sichtbar, dass Galilei sehr wohl zunächst experimentell arbeitete – und das mit Hilfe eines durchaus originellen Modells –, und dass er der Zeit im Gegensatz zum Ort in diesem experimentellen Setting eine ganz besondere Bedeutung bei der Exposition des Problems zukommen ließ. Eine derartige 100

Auch dies für Aristoteles schon selbstverständlich. Vgl. Rhetorik.

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Aufbereitung vermag die Konturen dessen zu schärfen, was „Ereignis“ in diesem Zusammenhang, dem Zusammenhang der Stengers’schen Darstellung, meint: am konkreten Beispiel der Forschungstätigkeit Galileis zu einem bestimmten Zeitpunkt den Begriff der „Messung“ im Kontext der rationalen Mechanik zu einem spektakulären Auftritt verholfen zu haben. Das lenkt die Akzeptabilität der Darstellung und formt die bestimmte Art, in der sie akzeptiert wird. Die Inszenierung konzentriert auf genau dieses Ereignis, das sie vergegenwärtigt. Zugleich gründet sie den Bestand dieser Gegenwart als Wiederholbarkeit im Sinne einer neuen Inszenierung mit denselben – und evtl. neuen – Akteuren. Und zugleich gründet sie den Bestand dieser Gegenwart als Wiederholbarkeit im Sinne neuer Inszenierungen. Außerhalb dessen gibt es nur andere Ereignisse. Bei Deleuze heißt die Aktualisierung desir, Begehren. ‚Begehren‘ zu verwenden, um die Tatsache zu kennzeichnen, dass sich die in den Praktiken Handelnden für die virtuellen Verkettungen interessieren und einmischen, macht ebenso Sinn, wie die von Peirce herausgestellte Nötigung durch die Dinge zur Kenntnis zu nehmen101, weil, wie Veyne es mit Blick auf Deleuze ausdrückt, „die Affektivität das Kennzeichen unseres Interesses an den Dingen ist“.102 Was hervorhebt, dass die Aktualisierung nicht nur auf die „gefüllte Leere“, die vollzogenen praktischen Aktualisierungen, die gelungenen Inszenierungen bezogen werden kann und insofern Effekt ist, sondern durchaus auch auf die ästhetische und Handlungsstruktur, für die seit Platon das Begehren steht.103 „Begehren“, indes – noch einmal –, nicht verstanden als exklusiver Bewohner im separaten Raum „mentaler Ereignisse“, sondern als Moment immer schon existenter Praktiken. Als solchem ist ihm der Wille, bestimmte Ziele zu erreichen, einbeschrieben, indes infiziert in praxi von den Verwicklungen der propositional unterschiedlich registrierten Strategeme zur Durchsetzung, von den Widerständen alternativer Unternehmungen und materieller Wirkungsmächte wie von ihren faktischen Anpassungsleistungen.104 Das gilt auch für Absichten und Entwürfe. „Die einzigen Virtualitäten, die ein Individuum realisieren kann, sind solche, die schon in der Umgebung vorgezeichnet sind und die es aktualisiert, indem es sich

101 Siehe oben: C. S. Peirce: Lowell-Lecture von 1903, a.a.O.; eine Figur, die die Nötigung durch die Dinge und unsere Hinwendung wiederum in den Dingen zusammenbringt, findet sich in der Formulierung von François Julien, der von der „Neigung der Dinge“ spricht, der wir uns im Prozess der Bedeutungsfindung zu überlassen haben. Diskussion siehe bei B. Latour: Haben auch Objekte eine Geschichte?, a.a.O., S. 277ff. 102 P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 79/80, Anm. 4. 103 Warum Augustinus, wie Veyne erwähnt, von „Liebe“ spricht. Veyne, ebd. S. 41. 104 Auch hierzu siehe die Diskussion in der aristotelischen Rhetorik a.a.O., 1363a/b.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

für sie interessiert.“105 Deleuze selbst sagt, dass das Begehren „gebildet und zum Ausdruck gebracht wird […] von der Verkettung dadurch, dass sie [! – HW] den Plan konstruiert, der es möglich macht“107, die eine weitere, neue Handlung bestimmter Form und bestimmten Ausdrucks anbietet, die es erlaubt, zu bisher nicht bekannten Ergebnissen zu gelangen.108 Womit ausdrücklich die Körper im Spiel sind.109 Sie, allerdings, erfreuen sich indes nicht nur an neuen Ufern; sie tragen auch die Verluste dessen, was auf der Strecke bleibt. Sie sind, gewisserweise, auch von der Art überholter, alternder Objekte. Doch sind sie auf allen Ebenen der Verkettung präsent, auf der vergleichsweise offenen, aber durchaus markierten Seite der sinnlichen Dispositionen, der Affekte und Emotionen, Interessen und Absichten, wie auf der der Dispositive, welche die Verhakungen und Freiheiten zu Erleben, Handlung und Ereignis vorgeben und realisieren, wie auch auf der Ebene der Relikte der Praxis. Rechnen wir die Körper der Dinge hinzu, denen dasselbe Schicksal beschert ist, verdoppeln sich die Achsen um die der Dynamik der sogenannten materiellen Agenzien, die sich in unseren Verkehr einmischen wie wir uns in ihren.110 Für die Analytik wichtig daran ist, dass bestimmte Inszenierungsleistungen, die sich nicht erst „in der Schlacht“ zeigen, bewähren oder scheitern, sondern noch auf dem Weg dahin sind – im Status von Entwürfen, Planungen und Ideen, worum aber durchaus gestritten wird –, dass die nicht unter den Tisch fallen oder nur als aus der Perspektive von Sieg oder Niederlage entschiedener Schlachten beurteilt werden, von denen man sagt, dass sie gesellschaftlich relevant waren. Versteht man die Analytik eines Macht-Wissen-Körper-Nexus als Geltendmachen eines spezifisch praktischen Wissens, eines Wissens „das kein Licht ist“, wie es bei Augustinus heißt111, könnte man das darin erscheinende Wissen, anschließend an die Genealogie, als Ausgestaltung szenologischer Dimensionen von Inszenierungen und Szenarien der Praxis verstehen. Auf diese Weise konturiert sich ihrerseits eine besondere Art der Theorieinszenierung. Einer Theorieinszenierung mit

105

Ebd. P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 79/80, Anm. 4. 107 Gilles Deleuze/Claire Parnet: Dialoge, Frankfurt am Main 1980, S. 104; siehe P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 42. 108 Nicht von ungefähr spricht Foucault in der Diskussion, am Ende seines 1978er Vortrags zur Frage der Kritik, davon, dass man nun das „Problem des Willens aufzuwerfen“ habe (M. Foucault: Was ist Kritik?, a.a.O., S. 54). 109 „Die Affektivität, der Körper, weiß mehr als das Bewusstsein.“ – P. Veyne: Foucault, a.a.O., S. 79/80, Anm. 4. 110 Vgl. M. Serres: Hermes II, a.a.O. 111 J. M. Connolly/Th. Keutner: Ein Wissen, das kein Licht ist – Absicht und die Autonomie des Praktischen, in: G.E.M. Anscombe: Absicht, a.a.O., S. XVI. 106

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Tradition, wie angedeutet.112 Wie alles andere Wirkliche wird Wahrheit geltend gemacht, indem sie verständlich gemacht wird. „Sagen wir einfach, dass das, was es erlaubt, das Wirkliche verständlich zu machen, einfach in dem Nachweis besteht, dass es möglich war.“113 Die Akzeptabilitätsbedingungen werden in den analysierten Praktiken und Diskursen selbst verhandelt. Auch die für das, was als Wissenschaft gilt oder gelten soll. Die Inszenierungen, die zu diesem Zweck entworfen werden, setzen die Bedingungen für ihre Wahrnehmbarkeit, ihrer Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit, für ihre Schönheit und ihre Überzeugungskraft im Raum der gegebenen Darstellung. Und dies sowohl in der praktischen Richtung tatsächlicher Aus- und Aufführung als auch in Richtung der Begründbarkeit und tatsächlichen Begründung. Mit Blick auf die zugelassenen Mittel – Darsteller, Ausstattungen, Medien, szenischen Instrumentarien.

6. Register der Effekterzeugung

Nun scheinen sich von Alters her bestimmte Prozeduren der Effekterzeugung und bestimmte Effekte als maßgeblich für bestimmte Effektgattungen, aber auch Effekte überhaupt verstanden zu haben. Die Inszenierungen der Politik, die Inszenierungen der Wissenschaften und die der Kunst. In der Realität erscheinen sie als Gemischtes; wie die Effekte religiöser Kulte oder die Inszenierungen der Gerechtigkeit. Das weist darauf hin, dass eher mediale und operative, auch technische Entscheidungen der Inszenierung Hinweise darauf geben, auf welchem Gebiet der gesellschaftlichen Diskurse, der Akzeptanz, ihre Effekte verhandelt werden sollen. Der Politiker kann sich als Unterhaltungskünstler profilieren, wenn es ihm abgenommen wird, der Wissenschaftler als Wohltäter der Menschheit, wenn er den dazu nötigen Über112 Die sich, wie gesagt, auf Aristoteles bezieht. Auch hier. Die aristotelische Rhetorik nämlich zeigt sich in Wahrheitsfragen ebenfalls weniger rigide als die Analytik oder die Logik, die den Wissenschaften die Verfahren der Wahrheitsbildung vorgeben. Nicht nur wird in den praktischen Kontexten inszenatorischer Darstellung die Wahrheit nicht weit weg von der Wahrscheinlichkeit platziert („Denn zu sehen, was wahr ist und was der Wahrscheinlichkeit nahekommt, entspringt derselben Fähigkeit. Gleichzeitig sind die Menschen von Natur aus hinlänglich zur Wahrheit bestimmt und treffen sie meistens auch. Daher bedeutet das Wahrscheinliche zu treffen, in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen.“ (1355a,14-17)). Die Rhetorik ist ebenso auf die Wahrheit aus; es ist ihre Aufgabe, „zu erkennen, was, wie in allen übrigen Wissenschaften, jeder Sache an Überzeugendem zugrunde liegt.“ (1355b, 9/10) Sodann verpflichtet in diesem Kontext die Wahrheit nicht die Wissenschaft, sondern die Wissenschaft die Wahrheit: „denn wie sich die Wissenschaft verhält, so verhält sich auch die Wahrheit“ (364b, 9). 113 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main 2004, S. 58; siehe auch ebd. S.16; siehe des Weiteren: Wahrheit und Macht, in: Dispositive der Macht. Michel Foucault. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 21-54, bes. S. 51/53. Die Rhetorik-Referenz zu dieser Stelle siehe bei Aristoteles, Rhetorik, Erstes Buch, 1359a, 11.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

zeugungsdiskurs beherrscht, der Theologe als Naturwissenschaftler mit glaubhafter antidarwinistischer Einstellung, der Künstler als Künder universeller Wahrheiten, soweit sie ohnehin nirgends anders zu finden wären. Da aber der Zweck der Inszenierungen in allen Fällen darin besteht, einen Effekt zu erzeugen, der damit einhergeht, dass das inszenierte ‚Ereignis‘ als Handlung, mithin als gewollt erscheint – und nicht nur als gleichgültiges Geschehen oder Sich-Ergeben – und deshalb auf eine Reaktion im praktischen Feld zwischen Zustimmung und Ablehnung aus ist, sind die propositionalen Einstellungen, welche die jeweilige Inszenierung leiten oder zumindest interessiert begleiten, ummittelbar mit der objekt- wie handlungslogischen Qualität der Effekte verbunden. Allgemein könnte man diese Einstellungen mit Aristoteles als „Streben nach einem Gut“ unter Bedingungen des Strebens nach einem Sinn subsumieren.114 Nimmt man das Streben nach Wahrheit mit zu den Zwecken von Inszenierungen und realisiert man den Wunsch, dass die Erkenntnis des Wahren nicht weniger adäquat, passend, glänzend und elegant erscheinen möge wie die Handhabung des Angemessenen und Gerechten im gesellschaftlichen Verkehr, hat dies den Vorteil, dass eine relevante Bandbreite von Zwecken im Blick erscheint, die Effekte machen kann. Dabei stellt sich heraus, dass Überzeugungen, die aufgrund der Arbeit daran, die in den Darstellungen tatsächlich geleistet wird, mit diesen einhergehen, keineswegs Besonderheiten wissenschaftlicher Ambition und Veranstaltung sind. Entsprechend sind solche Vorstellungen, die je nach Sachlage mit unterschiedlichen Überzeugungsmitteln – Wahrscheinlichkeiten, Beispielen, Beweisen, Indizien115 –, operieren und in der Darstellung zum Ausdruck gebracht werden, auf einen entsprechenden nicht exklusiven Wahrheits-Effekt beim Adressaten aus. Inszeniert im Sinne von effektorientiert zu sein, bedeutet immer Glaubhaftmachen; ein Ausdruck der Akzeptanz der Performance insgesamt. Dabei wird ‚Wahrheit‘ keineswegs a priori und ausschließlich als Urteilsqualität von Tatsachenbehauptungen zugeschrieben. Es reicht, ähnlich wie auch im Anwendungsfeld der platonischen doxa, dass die mit einer Darstellung oder Inszenierung einhergehende Überzeugung von der Adäquatheit derselben vermittelt wird, von der Berechtigung, das auszudrücken, was sie ausdrückt, und aus diesem Grund akzeptabel zu sein. Der Wahrheits-Effekt geht mit der Spezifik, dem Nachweis der Berechtigung einher und voran, baut so auf die Evidenz dessen, was sich im Sinne der Argumentation oder Erzählung geradezu von selbst versteht oder einfach erweist. Auf diese Weise werden dann aber alle, gleicherweise inszenierungs- wie 114

Wobei Letzteres zweifellos für die meisten dem Begriff der „Wahrheit“ adäquat wäre. Siehe Aristoteles, Rhetorik, Erstes Buch, 1359 a, 1-4: “Es gilt aber auch das Wollen als ein Streben nach einem Gut (keiner will ja etwas, wenn er es nicht für gut hält)“. 115 Das ist die Terminologie von vor rund zweieinhalbtausend Jahren! Aristoteles, Rhetorik, Zweites Buch, 1402b, 13/14.

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adressatenspezifischen Akzeptabilitäts- und Geltungsmodalitäten, die hilfreich sind, mobilisiert und zugleich integriert. Nicht nur die Überzeugungseinstellungen, sondern auch alle anderen Empfindungsqualitäten. Auch dass das Publikum weint, kann für die Überzeugungskraft von Titanic und Leonardo DiCaprio gelten. Um die Maschine solcher komplexen Darstellungen, in deren Mittelpunkt Ereignisse stehen, geht es der Szenologik, die die Darstellung mit Blick auf ihre Gestaltung als Effekt und ‚Inszenierung‘ fasst. Als solche hat sie, ähnlich der aristotelischen Dialektik und Rhetorik, mit den konkreten Inhalten der Ereignisse zunächst wenig zu tun.116 Der spezifische Tausch, wie er in derartigen Inszenierungen mit wissenschaftlichem Anspruch angeboten wird, ist an vergleichsweise strenge und umfassende Bedingungen der Darstellung, der Akzeptanz und Akzeptabilität gebunden. Dies liegt zweifellos am Einsatz, wird doch hier gegen eine Unterwerfung unter die entsprechende Darstellung ein je nachdem gut verwertbares Wissen um die Existenz und das Wirken von Funktionalitäten mit unter Umständen langen Halbwertzeiten geboten, ein Wissen um Muster, Regeln und Gesetze, denen im Zweifelsfall selbst die großen Zusammenhänge, die Geheimnisse der Natur folgen. – Wobei ‚Unterwerfung‘ nichtsdestotrotz zwischen uninteressierter Hinnahme und enthusiastischer Zustimmung variieren darf. – Im Einzelfall muss beurteilt werden, welche „Ersetzungen, Versetzungen und Verstellungen, Eroberungen und Umwälzungen“117 vorgenommen, inwieweit Anschlüsse und Verschiebungen als sinnvolle, möglichst notwendige Maßnahmen dargelegt wurden, um einen überzeugenden Eindruck von Sinn zu hinterlassen. Doch zweifellos zeigen selbst die Inszenierungen der Wissenschaften bei genauerer Untersuchung, wie kontingent, der Form der Darstellung wie dem praktischen Austausch und der Einflussnahme der beteiligten Kräfte ausgesetzt die Effekterzeugung ist. Trotz der weitreichenden Ansprüche – und ganz abgesehen von den ehernen Vorstellungen korrespondenztheoretischer Wahrheitsauffassungen. Die Szenologik, die sich auf diese Analyse stützt, folgert daraus, dass sich Effekte von Inszenierungen auf unterschiedlichen Anwendungsgebieten nicht nur thematisch und performativ unterscheiden, sondern auch darin, dass sie formal wie inhaltlich unterschiedliche Akzeptabilitätskriterien mitführen und anzuerkennen auffordern. Vor allem unterschiedliche Ansprüche an die Vorstellungskraft und eine von daher positive Stimmung – im Sinne des Überzeugungseffekts, aber genauso anderer rationaler und emotionaler Urteils- bzw. Akzeptabilitätsinstanzen. Neben den, konkreten Inhalten und Vermittlungsinteressen geschuldeten epistemischen,

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Aristoteles: „Jede Wissenschaft bestimmt ihre [eigenen – HW] Inhalte.“ Rhetorik, Erstes Buch, 1364b, 9. 117 Siehe M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, a.a.O., S. 166-199.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

praktischen und ästhetischen Effekten gibt es mithin so etwas wie die ‚Effekte des Ganzen‘. Für eine dahingehende interessierte und bewusste Inszenierung der Darstellung darf man deshalb eine weitergehende dramaturgische Überarbeitung, ein Tuning unterstellen, das alle speziellen Effektgrundlagen noch einmal daraufhin überprüft, ob sie hinreichend auf das Ziel positiver Aufnahme orientiert sind, das gegebenenfalls glättet und einrichtet, was eventuell störend sein könnte. Das alles aber immer – deshalb die notwendige Referenz von Beispielen – immer an die der Darstellung zugehörigen Inhalte gebunden, selbst wenn sie Variationen der Gestaltung und des Arrangements ausgesetzt sind. Die Bestimmtheit der Effekte ist mithin vom vorgestellten Inhalt, ebenso aber vom Interesse und der Erwartung, auch den Gewohnheiten derer abhängig, für die sie erzeugt wurden. Dies vorausgesetzt, kommt der Handhabung dessen, was bei Aristoteles in der Rhetorik die „Überzeugungsmittel“ (enthymemata) sind, besondere Bedeutung zu und, in Anbetracht der ästhetischen Beschaffenheit der Überzeugungsarbeit, dem Ausdruck des Ganzen und dem Eindruck, den es erweckt und hinterlässt. Geltend gemacht werden die Überzeugungsmittel verständlicherweise nicht ausschließlich in der Form sprechenden respektive schreibenden Behauptens, sondern, je nachdem, ebenso in Formen und Auftritten einer sich inszenierenden, körperlich repräsentativen Präsenz, die wiederum auch durch andere Medien vermittelt werden kann als durch den physischen Auftritt. Alles steht im Dienste der beabsichtigten positiven Beurteilung durch das Publikum. Schon für die rhetorischen Mittel heißt es bei Aristoteles: „Da aber die Rhetorik auf ein Urteil abzielt (denn auch Ratschläge beurteilt man […]), ist es notwendig, das Augenmerk nicht nur auf die Aussage zu richten, sondern auch auf das eigene Auftreten und darauf, den Urteilenden [auf noch andere Weise – HW] zu beeinflussen.“ Wichtig ist, für einen gewissen Eindruck zu sorgen und bei den Zuhörern und Zuschauern Leidenschaften zu mobilisieren. Ganz wie im Theater.118 Je nach Auftritt und Zweck der Veranstaltung dürften die Überzeugungs- bzw. Akzeptabilitätskriterien, soweit sie im engeren Sinne der Kreditierung mittels Vertrauen und dem Für-wahr-Halten dienen, strenger oder weniger streng gehandhabt werden. Von den Ansprüchen an die Künste im Allgemeinen bis hin zu solchen an „die Wissenschaften“ im engeren Sinn, die Naturwissenschaften also, und hin zu den genormten Kriterien, die an die „Geometrie“, wie es bei Aristoteles heißt119, angelegt 118

Ebd., 1377b, 21-30. Ebd., Drittes Buch 1404a, 11. Aber noch im 19. Jrh. aktuell: Das Wesentliche der „mathematischen Auffassung“, so eine einschlägige Studie Soraya de Chadarevians zu den Methoden der Physiologie im 19. Jahrhundert, ist für diese die „graphische Methode“. Wenn der Physiologe und Mediziner Adolf Fick 1866 fordert, „organische Vorgänge einer mathematischen Behandlung zu unterziehen“, bedeutete das keineswegs, „daß nur noch in Formeln gesprochen werden dürfe“. 119

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werden, an mathematische oder logische Darstellungen. Finden sich hier, je nach Rechtfertigungsspezifik, unterschiedliche epistemische Kopfnoten mit je eigenen ästhetischen, auch praktischen und moralischen Angeboten, die vom Inhalt abhängig sind, unterschiedliche Ansprüche an Wahrheit und Glauben und die Art, sie zu vermitteln, so wird der Anspruch an die Gesamtinszenierung, die von den alle Bereiche überlagernden formalen Überzeugungsmitteln, szenografischen Mitteln, wenn man will, zusammengehalten wird, nie relativiert. In allen Inszenierungskontexten gilt er gleich. Aufgrund der analytischen Trennung von inhaltlich interessierten Anwendungsgebieten und derart auf Überzeugungsmittel und Inszenierung spezialisiertem Methodenwissen scheint es naheliegend, das Programm von Szenologie und Szenografie in der Tradition des aristotelischen Programms von Rhetorik und Poetik zu verorten. In seiner Konsequenz werden schon bei Aristoteles Wissenschaft, Politik und Kunst als paradigmatische Anwendungsfelder solcher Methodik ausgezeichnet, die Politik verständlicherweise mit einem besonderen Akzent und gewisserweise übergreifend.120 Mit Blick auf die Kriterien unterschiedlicher Praktiken der Effektbewertung dürfte diese Differenzierung für Szenografie und Szenologie ebenso Sinn machen. Unterstellen wir szenografische Kenntnisse und Fähigkeiten insgesamt als Gestaltungs- und Managementkompetenzen zur Inszenierung komplexer Objektverhaltensarrangements, zur Erzeugung von ‚Ereignissen‘121, und verstehen wir ‚Objektverhalten‘ nicht eigensinnig nur im wissenschaftlichen Kontext, dürfte man von einer solchen kriterialen Differenzierung erwarten, dass sie hilft, an unterschiedlichen Stellen unterschiedliche Typen ‚szenografischer Praktiken‘ zu destillieren, die je eigene inszenierungsspezifische Strategien, Medien und Techniken der Effektsteuerung erscheinen lassen.

7. Spur, Bild, Text – Repräsentationsprobleme

Wissenschaftliche Darstellungen geben Anlass, eine zunächst bedeutsam scheinende Alternative der Medienwahl bei der Effektsteuerung genauer anzusehen. Denkt man Die „‚Behandlung […] in mathematischem Geiste‘“ gebiete vielmehr eine „‚Behandlung, die eine Korrelation veränderlicher Größen zu ermitteln suche‘“. Dieses Vorgehen impliziert eine „Reduktion physiologischer Funktionen auf die Frequenz, Amplitude und Dauer graphischer Aufzeichnungen“. Soraya de Chadarevian: Die Methode der Kurven in der Physiologie zwischen 1850 und 1900, in: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, a.a.O., S. 176. Vgl. auch die Belege bei Lorraine Daston, Peter Gallison: Objektivität, Frankfurt am Main 2007. 120 Die Szenologik im Übrigen, unter „Wissenschaft“ betroffen, müsste dort, unter den strengeren epistemischen Kriterien, ihre eigene ‚Wissenschaftstheorie‘ miterarbeiten. 121 Und dies der Deutlichkeit halber eben auch auf dem Gebiet der harten Wissenschaften, auf dem solche Kenntnisse und Fähigkeiten durchaus den Kompetenzen nicht unähnlich sind, die man sich vorstellen muss, damit beispielsweise das Auftreten eines subatomaren Teilchens in der Nebelkammer zum Ereignis wird.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

an Aristoteles’ Diktum der in jeder Darstellung vorgenommenen „Nachahmung“ – Nachahmung oder Nachbildung, zumindest insofern nicht ganz abwegig, als, wie diskutiert, das Darstellungs-Ereignis darin besteht, die Darstellung darzustellen122 –, ist die (Re-)Inszenierung einesteils satz-, andernteils bildbezogen vorstellbar, ganz wie das Zeichensystem für die Darstellung sowohl über symbolische Codierungen wie über Ähnlichkeiten arbeitet, je nachdem wie die Verwertung einer indexikalischen „Spur“123 gelenkt wird. Gerade in den Naturwissenschaften scheint nun das Bild, im Zweifelsfall nicht nur als Darstellung, sondern als Selbstdarstellung des „natürlichen Objektes“, gerade deshalb eine privilegierte Repräsentationsform. (Abb. 5)

Abb. 5 Die Natur enthüllt sich vor der Wissenschaft (La Nature se dévoilant devant la Science, Ernest Barrias 1899), Paris, Musée d‘Orsay © photo RMN, René-Gabriel Ojeda

Dabei ist nicht einmal nur das momentan eingefrorene Bild gemeint, wie es sich zum Beispiel dem Blick des Zeichners, der den reisenden Forscher begleitet, bietet oder dem Blick durch das Mikroskop, dem eine adäquate Aufzeichnung folgt, sondern durchaus auch das Zeitbild, wie es sich mit Hilfe von „Mikroskopen der Zeit“ oder, wie man solche Instrumente im 19. Jahrhundert allgemein nennt, mit „Chronographen“ festhalten lässt. Beispielsweise in der Art der Helmholtz’schen „Froschzeichen122

Siehe oben Teil 1 zu Aristoteles und dem Kommentar Lyotards. Siehe Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main 1974. Zur Diskussion siehe: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, von Sybille Krämer, Werner Kogge, Gernot Grube (Hg.), Frankfurt am Main 2007 123

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maschine“, die es ermöglichte, muskuläre Bewegungen als myographische Kurven aufs Papier zu bringen. Mit Hilfe eines verbesserten Myographions gelang es dem Forscher Mitte des Jahrhunderts, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung zu bestimmen. Abgesehen davon, dass diese Geräte zur Aufzeichnung eines „authentischen Ausdrucks der Phänomene“ (Marey124) auch Kurven lieferten, die von ganz anderen als den interessierenden Phänomenen stammten, lieferten die „Bilder“, deren Erzeugung als „einfach, effektiv und ökonomisch“ und in besonderer Weise „anschaulich“ galten, zwar keine „sprachlichen Beschreibungen“, waren aber auch nicht einfach Zeichnungen oder Fotografien, sondern komplexe Aufschreibsysteme zur Erzeugung von Grafismen. Sphygmographen, Kymographen, Myographen, Kardiographen, Hämodromographen, Pneumographen, Thermographen125, selbstregistrierende Waagen, Manometer und – sozusagen emblematisch – „Polygraphen“ zur Aufzeichnung der unterschiedlichsten angeschlossenen Selbstäußerungen.126 Von daher scheint die Natur fürs Erste zwar keine Texte zu schreiben, aber durchaus auch auf Grafismen zu setzen, die nicht mit Mitteln der Ähnlichkeit operieren. (Abb. 6) Der Zusammenhang muss nicht repräsentationstheoretisch erklärt werden. Denn es besteht keine Notwendigkeit, die Selbstreferenz als ‚Repräsentation‘ zu mystifizieren. Dennoch könnte man überlegen, ob Inszenierungen nicht generell unter das Regime der Bilder gehörten. Man könnte anführen, dass die Effekte, im Begehren geboren, selbst ursprünglich Bilder, Perzepte eines zukünftigen Zustandes sind, so dass tatsächlich nur Mimesis sein kann, was sie schließlich praktisch werden lässt. Doch mediale Eindeutigkeit resultiert daraus nicht. Denn Bilder des Beabsichtigten oder Bezweckten als determinierende mentale Daten zu unterstellen, bedeutete, die Grammatik zu nötigen. Für die Inhalte stehen die Propositionen, auch wenn die Notation nicht auf symbolische Kodierung rekurrieren würde (was im Übrigen im Zweifelsfall nicht leicht zu entscheiden ist). Propositionen sind in der Tat mit mentalen Zuständen des Dafürhaltens gekoppelt. Dass die Strategie der Wahl im Umgang mit der Text-Bild-Problematik aber deshalb entweder einen medialen Monismus – „Symbol, nicht Bild!“ – verteidigen sollte oder doch besser einen vergleichbar dogmatischen Dualismus – „Symbol und Bild!“ –, kann nicht überzeugen. Durch die Verlagerung der Ursprünglichkeitsfrage ins Mentale ist nichts erreicht als die Verdopplung und Wiederbelebung der Repräsentationsproblematik. Denn die 124

Etiénne-Jules Marey, einflussreicher Physiologe am College de France. Geräte zur Aufzeichnung des Blutdrucks, des Arteriendrucks, von Muskelkontraktionen aus Nervenreizungen, von Kardiogrammen, des arteriellen Blutstroms, der Lungen- bzw. Atemtätigkeit, der Temperatur ... 126 Siehe S. de Chadarevian: Die Methode der Kurven, a.a.O., S. 161-188, alle Zitate ebd., Zit. Marey S. 180; zu Helmholtz ebd., S. 164-175, Zit. Fick S. 176. 125

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Abb. 6 Notation von Selbstdarstellungen; In: Polygraph MaxPlanckForschung. Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft, 1/2007

Frage nach Bild oder Text ist nur eine Variante, um erneut auf die Repräsentation zu sprechen zu kommen, was, wie gesagt, entbehrlich ist. Darstellungen mögen mehr demonstrativen Interessen folgen oder eher doch den Kontexten explorativer Arbeit verbunden sein, sie mögen zu szenisch narrativ verfassten Geschichten neigen oder mehr zu Formen der Interpolation experimenteller Evidenzen respektive Daten auf Basis diverser alternativer Darstellungen, nichts privilegiert daran Satz oder Bild als die situativ passend erscheinende Auflösung im Diskurs. Die Frage, ob Satz, ob Bild, ist keine, die mit dem Hinweis auf ursprüngliche Originale oder Substanzen bzw. deren Selbstäußerung oder -demonstration, die solche Privilegierung verantworteten, beantwortet werden kann. Nur die Rechtfertigung der gewählten Praktiken und Methoden und die Ergebnisse der Erzeugung von Präsenz qua Effekt kann die Medienwahl legitimieren. Nun wird man vielleicht einwenden wollen, das die faktische Akzeptanz einer Inszenierung – die Hinsichtlichkeit der Kriterien als gegeben unterstellt – nichtsdestotrotz von der Evidenz dessen abhängt, ‚was sich zeigt‘. Fassen wir das, was sich zeigt, insgesamt als ‚Bild‘, wie wir es oft tun, haben wir es, trotz der bisherigen Einwände, tatsächlich mit einem außerordentlich weitreichenden Regime der Bilder zu tun. Doch müssen die Bilder offenbar nicht gemalt oder gezeichnet sein oder in vergleichbarer Weise auf ‚Nachbildung‘ qua Ähnlichkeit beruhen. Selbstverständlich finden wir in vielen Praktiken, etwa den beispielhaften naturwissenschaftlicher Exponierung neuer Objekte und Funktionskontexte, komplexe Strategien der Sichtbarmachung. Und was im Resultat zu sehen ist, werden wir in vielen Fällen und

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‚auf den ersten Blick‘ naiv als ‚Bild‘ charakterisieren und Ähnlichkeit unterstellen. Doch wem soll das Artefakt eines unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gemachten ‚Objekts‘ ähnlich sein, außer sich selbst und vielleicht Variationen seiner selbst? Wobei im Zweifelsfall nicht einmal mehr der Vergleich mit dem dargestellten Artefakt, dem ‚Präparat‘, gezogen werden kann, weil es im Verfahren (etwa dem, den Elektronenverfall zu konstatieren) zerstört wird.127 Dem gegenüber ist es indes keine Pointe, darauf hinzuweisen, dass ‚Bilder‘ von Objekten und Ereignissen gewöhnlich darin bestehen, in Texten, in Sätzen beschrieben, vorzukommen. Denn jeder weiß, dass was hier in Sätzen präsentiert, dort mittels bildlicher Darstellung vorgestellt wird: Zeichnung, Diagramm, Fotografie etc. Bildliche Darstellungen, Metaphern, aber kennt der Text auch selbst. Und oft genug ist es diese Art der ‚Illustration‘, die überhaupt den Medientransfer ins Bild legitimieret. Aber zum einen darf man unterschiedliche Restriktionen beim Zugang zur Bedeutung nicht mit ontologischen Optionen im Umgang mit den Repräsentationswerkzeugen verwechseln; zum anderen sollte man eine Darstellung nicht über den Semioseprozess hinaus strapazieren. Ob etwas als eine Metapher zu verstehen ist oder nicht, ist – wie ‚Satz‘ oder ‚Bild‘ – abhängig von der Akzeptanz des Effekts, der erzeugt wurde. Die Pointe mithin heißt, dass nicht nur Texte Bilder, freilich sprachlich vermittelte Bilder benutzen, um Sinn zu erzeugen, sondern auch Bilder Texte, bildlich vermittelte Texte, die wiederum nicht einfach Grafismen sein müssen wie Ideogramme oder Diagramme, sondern Texte durchaus im Sinne linguistischer Beschreibungen, die als solche verstanden werden wollen. Um das Gesagte an einem Beispiel zu erläutern – Hans-Jörg Rheinberger hat in einer Studie zum Wandel der molekulargenetischen Konzepte in den Arbeiten des Nobelpreisträgers François Jacobs128 beschrieben, wie im Rahmen bestimmter Forschungsprogramme (zunächst ganz unterschiedlicher disziplinärer Provenienz, die sich aber allesamt mit Transformationsvorhaben für bestimmte organische und anorganische Stoffe befassten) vormals natürliche Objekte zunächst zu Fragezeichen, zu „leeren Stellen“ mutierten, und wie sich die Begriffsarbeit sodann in einem bestimmten Kontext – auf den sich die Aufmerksamkeit der historischen Darstellung ebenso richtete wie die zugrundeliegenden Forschungen und die Berichte darüber – auf einen neu entdeckten funktionalen Mechanismus konzentrierte. Fragen nach der Substanz der Funktionsträger bzw. der „Bedeutung“ der nach wie vor als Namen benutzten Ausdrücke für die Ausgangsobjekte („Gen“, „Protein“) standen zu diesem

127 Siehe H.-J. Rheinberger: Schnittstellen, a.a.O., S. 328f. zur Darstellungen mit Hilfe von Elektronenmikroskopen. 128 Hans-Jörg Rheinberger: Regulation, Information, Sprache – Molekulargenetische Konzepte in den François Jacobs Schriften, in: Epistemologie des Konkreten, a.a.O., S. 293-309.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Zeitpunkt schon nicht mehr im Vordergrund. Im Verlauf der weiteren Forschungen gewann dann, so Rheinberger, eine bis dahin als „rein experimentaltechnischer Indikator interpretiert[e]“ Entität „neue Bedeutung“, die indes zunächst in Übereinstimmung mit unspezifischen allgemeinen Termini als „‚instabiles Zwischenprodukt‘“ gefasst wurde, als „Template“ oder „strukturelle Entität“. Rheinberger reportiert als Wissenschaftshistoriker, der einen bestimmten Prozess der Entwicklung überblicken kann und gemäß rationaler Darstellungen der am Forschungsprozess selbst Beteiligten einen vergleichbar teleologischen oder, wie Jacob sagen würde, „logischen“ Prozess vorstellt: einen Prozess, in dessen Verlauf eine „Entität“ zu einer „allmählich Gestalt annehmenden, neuen intermediären Einheit“ wird. Rheinberger kann darüber hinaus zeigen, dass dies durchaus den (ausgewählten) Darstellungen seines Protagonisten entspricht, die sein Thema sind. Im Fortschritt der Geschichte findet sich in einer weiteren Veröffentlichung des Genetikers die nun aktuelle Gestalt der Entität. Vorübergehend wird sie unter der „mehrdeutigen Formulierung ‚zytoplasmatische Replika‘ des ‚genetischen Materials‘“ gefasst; wieder später im Forschungsprozess – Rheinberger stellt „erneut subtile Bedeutungsverschiebungen“ in den Darstellungen Jacobs fest – gilt das molekulare Objekt dann einerseits als „‚eine simple Kopie des Gens‘“, andererseits als „Molekül, das direkt an der Herstellung eines Proteins mitwirkt“, das aber nicht als „diskrete Einheit dargestellt“ werden kann. Jacob selbst sagt von den begrifflichen Verschiebungen, die er großenteils persönlich mit vorangetrieben hat, dass sie in einer „logischen Ordnung“ anders dargestellt erscheinen als in „der realen Ordnung der Ereignisse und Entdeckungen“. – Logische Ordnung nennt er die Ordnung, „der man hätte folgen müssen, wenn man das Ergebnis von vornherein gekannt hätte“; eine Darstellung des Forschungsprozesses, wie sie in den inszenierten Fassungen der großen Publikationen des Genetikers vorliegt. „Im Ergebnis“ – einem wiederum vorübergehenden selbstredend – finden sich die dem beschriebenen Prozess (historisch!) zugrunde liegenden organischen und anorganischen ‚Substanzen‘ („Gene“, „Moleküle“, „Aminosäuren“, „Genome“, „Zellbausteine“, „Nukleotide“) zur Beschreibung der im Kontext schließlich relevanten Funktionsweise zusammen. Jetzt werden sie „in Begriffen der ‚Kommunikation‘ und Signalgebung beschrieben“. Und die „Mechanismen der zur Gewährleistung des genetischen Informationstransfers im engeren Sinne“ notwendigen Funktionen und Verhaltensweisen werden „in Begriffen der Sprache und der Schrift gefaßt“, als „écriture de l´hérédité“. „Schrift“ wird ausdrücklich nicht im Sinne eines Ideogramms wie z.B. im Chinesischen verstanden, sondern wie im Morse-Code oder in den mit Alphabeten operierenden Sprachen, z.B. dem Französischen. „Gen“ gilt nun als ein „chemischer Text“, der in eine Messenger-RNS „transkribiert“ und anschließend in ein Protein „übersetzt“ werden kann. Diese letzte Übersetzung wird von einem

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Abb. 7 Die Natur schreibt; übereinstimmende Basen bei Kaninchen und Mensch

„Translationsapparat“ mit Hilfe einer bestimmten Klasse von Molekülen („Adaptoren“) ausgeführt, die „‚beide Alphabete zu lesen‘“ in der Lage sind, dasjenige der Nukleotide und dasjenige der Aminosäuren. (Abb. 7) Der Wissenschaftshistoriker hebt hervor, dass diese Beschreibung in Bildern der Kommunikation und Information für Jacob „mehr war als eine Behelfsanalogie oder eine publikumswirksame Metapher“, zumindest zum Zeitpunkt Jacobs Berufung ans Collège des France 1965. In der Logik des Lebenden relativierte der Genetiker dieses Mehr-als-eine-Metapher, wenn man Rheinberger folgt. Man könnte annehmen, dass der Biologe nun einer empirischen Ontologie folgt und die kommunikations- und informationstheoretische Einbindung wie das linguistische Modell des molekulargenetischen Diskurses, von denen er spricht, als zeitgemäße Entitäten auf diesem Feld der Wissenschaft betrachtet: die Welt bestand eben nun aus „Botschaften, Informationen, Codes“.129 Ob Jacob nun Metaphern benutzt hat oder nicht, Rheinberger selbst wiederum scheint sich nicht so sicher. In seinem 1999 erstmals erschienenen Aufsatz über die Perspektiven der Molekularbiologie stimmt er zu, dass der Gegenstand der Molekularbiologie nur noch ein entfernter Verwandter des Organismus sei, mit dem die Embryologen früherer Generationen zu tun gehabt hätten. Doch stellt er gleichzeitig fest, dass dieser neue Körper nun einer sei, „der von einem ganzen Bündel linguistischer Metaphern durchdrungen ist, allen voran: Information, Code, Nachrichtenübermittlung, Signaltransduktion und Kommunikation“. Etwas später heißt es dann: „Und wirklich können Organismen als symbolische Maschinen betrachtet werden.“130 – Ganz recht, können sie. Und mit der rhetorischen Frage Rheinbergers kann man es auch erledigt sein lassen: „Warum sollten Historiker und Epistemolo129

François Jacob: Die Logik des Lebenden, Frankfurt am Main 1972, S. 9. Hans-Jörg Rheinberger: Perspektiven des Genbegriffs – Perspektiven der Molekularbiologie, in: Epistemologie des Konkreten, a.a.O., S. 240/241. 130

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gen weniger ungenau, weniger operationaler und weniger opportunistisch arbeiten als Wissenschaftler?“131 Ob Metapher oder ontologische Option, was die Sache im Beispiel angeht, ist „die Relativierung des Gens […] in vollem Gang“, wie der Epistemologe im selben Aufsatz darstellt. Damit aber auch die Art der Inszenierung der Objekte und Ereignisse, der Projekte selbst und mit ihr die medialen und medientechnischen Varianten der Darstellungen. Der Molekularbiologe François Gros ist der Meinung, dass „Gen“, wenn überhaupt, nur durch die „Produkte, die aus seiner Aktivität resultieren“, definiert werden kann.132 Neuere Forschungen erwägen, den Genbegriff ganz aufzugeben und, statt mit dem Alphabet der Genome nach sinnvollen Sätzen zu fahnden, auf evidenterweise einzelne sinntragende Einheiten, sozusagen sinntragende Buchstaben, zuzugehen. Die Metapher – sofern die Rede von Signal, Code, Kommunikation usw. metaphorisch ist – müßte nach ihren Vorstellungen nicht im Sinne eines durch einen sprachlich „übertragenen“, in einem Bild dargestellten Sachverhalts aufgelöst werden („so wie in der Informationstechnologie“), sondern im Sinne einer Beschreibung, der ein ‚Bild-Objekt‘, ein ganzheitliches Präparat sozusagen, das unmittelbar Träger von Sinn ist, zugeordnet wäre. Freilich ist ein solches „Segment der DNS“, „das eine erkennbare [!] Struktur und/oder Funktion hat (wie ein codierendes Segment, ein repetitives Segment, ein regulatives Segment)“ und deshalb „Nuon“ genannt wird133, ohne Zweifel synthetisch, ein Text. Abgesehen von der Molekularbiologie, in deren Forschungskontext mit der Kategorie der Informationsübertragung beachtliches Verständnis von den funktionalen Zusammenhängen der Vererbung und der Entwicklung des Organismus erbracht wurde, abgesehen auch von anderen vergleichbar produktiven Kontexten, findet sich die Rede von der ‚Information‘ zuweilen, wo über die Repräsentation der Repräsentation spekuliert wird und ‚Information‘ als quasi neutrale Bezeichnung zwischen oder besser vor Bild und Text verwendet wird. In bestimmten medialen Kontexten (der sog. Neuen Medien etwa) mag es Grund geben, mit dieser Formulierung über den virtuellen Raum der Organisation von Darstellungsressourcen und Darstellungsmitteln zu sprechen. Doch sollte diese Rede vom Zeichen noch vor der Formierung einer „Spur“ nicht dazu dienen, Verstehen zu kompensieren oder gar zu verweigern. In Ermangelung eines möglichen Blicks zu Zeiten, da die Zurichtung

131 Ebd., S. 244. Und auch dem Zusatz wird man beipflichten: „Andererseits dürfen sie ihre Geschichten nicht inkohärenter erzählen, als deren Protagonisten die ihren gestaltet haben.“ 132 François Gros: Les secrets du gène, Paris 1986/1991, S. 297, zit. in: H.-J. Rheinberger: Perspektiven des Genbegriffs, a.a.O., S. 236. 133 H.-J. Rheinberger: Perspektiven des Genbegriffs, a.a.O., S. 238/239.

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der erwarteten Darstellung oder Protodarstellung von Objekten (des „Präparats“) in den black boxes ihrer technischen Erzeugung als Bild oder Datum unter Bedingungen medialer, technischer Autonomie vonstattengeht. Womöglich gewollt von statten geht. Das Beispiel sollte endgültig dargelegt haben, dass der Mythos vom Gegebenen in keiner Variante den Darstellungspraktiken entspricht. Auch die Idee einer medialen Privilegierung der Darstellung, die der Selbstäußerung der Objekte und Ereignisse geschuldet wäre, kann nicht überzeugen. Was für die Kunst und die Dichtung selbstverständlich erscheint, da die Objekte und Ereignisse mit denjenigen der Darstellung ohnehin übereinstimmen und klar ist, dass sie der Stoff für Tatsachen und Ereignisse der Aufführung sind, gilt auch für andere ‚Dichtungen‘. Und es leuchtet ein, dass wir die Fragen nach den Ansprüchen der Rechtfertigung, soweit sie im weitesten Sinne auf der Darstellung von Wahrscheinlichkeiten beruhen – Schlüssen, Beweisen, Zeugen, Indizien, Symptomen134, auch Stimmungen, Befindlichkeiten, Emotionen, Affekten … –, auch auf die Bilder lenken.135 Auch bei ihnen fragen wir nach der Herkunft und nach dem Arrangement ihrer Wirkungsmacht wie nach den sie begleitenden ästhetischen und emotionalen Befindlichkeiten. Und wenn wir nicht ausdrücklich fragen wollen, dann werden wir das, was insgesamt erscheint, irgendwie zur Kenntnis nehmen – freilich, wenn es mehr sein soll als „pures Erleben“, indem wir es beurteilen.136 Dass wir angesichts der Komplexität szenischer Überzeugungskraft nicht zuerst und ausschließlich nach der Wahrheit fragen, sondern die Echtheit des Ganzen auf uns wirken lassen, das, was der Szene Evidenz verleiht, ist dadurch, dass wir die erscheinende Evidenz insgesamt als ihr ‚Bild‘ ansprechen, also nicht desavouiert. In der Selbstanwendung der historischen Semiose auf den Begriff erscheint sein proteischer Charakter. Und soweit dieses ‚Bild‘, das szenisch eingerichtetes Gesamt der Darbietung, in der Konfrontation mit der Inszenierung für den Rezipienten (Konsumenten, Besucher, Zuschauer, Mitspieler …) ein Erstes ist, was ihm gegenübertritt, drängen sich die epistemischen, moralischen, auch ästhetischen Überzeugungen (soweit sie theoretisch sind) erst von hier aus auf und erweisen erst von hier aus ihre partikulare Legitimation im Rahmen der gesamten Akzeptabilität des Stücks. Die Analyse mit einem holistischen Begriff zu beginnen, macht angesichts dessen, was eine Inszenierung ausmacht, durchaus Sinn. Auch die Möglichkeiten zur kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten, sollte daran Interesse bestehen, eröffnen sich von hier aus. Schließlich motiviert sich auch die Auseinandersetzung mit der Frage 134

... dem ganzen Rhetorik-Arsenal. Wie übrigens auch auf die Spuren, die Indizes. Siehe dazu: S. Krämer u.a., Spur, a.a.O., insbesondere die beiträge in Teil I. 136 Siehe Dieter Mersch: Das Ereignis der Setzung, in: Performativität und Ereignis, a.a.O., S. 54. 135

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nach der Bestimmung der Bilder im inszenatorisch ideologischen137 Sinn von diesem Ganzen her. Nach den ‚obszenografischen‘ Momenten realer und möglicher Gestaltung. Auf welche Weise und zu welchen Zwecken werden die Bilder instrumentalisiert? Auf welche Weise und zu welchen Zwecken werden sie, neben dem szenisch Sich-Bietenden und individuell Erlebbaren an Ort und Stelle, anderswo noch gebraucht? In diesem ‚gesellschaftlichen‘ Diskurs wird man neben Rhetorik und Theater die diskutierten Hinsichten finden. Bestimmte Bilder, Metaphern, in der Verwendung zur Verständigung über das Tun im Rahmen der Beschreibung, Problematisierung und Erklärung von Phänomenen, welche die Auseinandersetzung mit der Natur und den Verhältnissen zwischen Dingen und Menschen und Fragen nach der Wahrheit betreffen. Andere zur Positionierung individueller und kollektiver Kräfte in den Praktiken des gesellschaftlichen Lebens und den Konflikten um ihr Ethos. Wieder andere, um dem Auftritt im Zusammenhang scheinbar oder tatsächlich ‚zweckfreier‘ Diskurse und Praktiken, Kenntnisse und Fertigkeiten, passenden Hintergrund und Umgebung zuzuteilen, Diskurse und Praktiken, Kenntnisse und Fertigkeiten, wie wir sie heute emphatisch der ‚Kunst‘ oder den Künsten bereit sind zuzuerkennen. Jeweils und insgesamt, um die Wirkung einzelner Effekte zu effektivieren wie die der gesamten Vorstellung: dass es überzeugen, keinen Widerspruch erregen muss, weil es schließlich so aussieht und Einblicke eröffnet, wie man es von einer unverbrüchlichen Tatsache erwartet; dass es in Ordnung geht, weil es den Sinn für Gerechtigkeit ohne Rest befriedigt; dass es im Detail und in Ganzen passt, weil Wahrnehmung und Empfindung keine Nuance zusätzlicher Komplettierung verlangen. Wenn, um all dies zu erreichen, die Bildproduktion zu allen inhaltlich gebotenen noch weitere theatralisierende oder dramatisierende Demonstrationseffekte, vor allem auch Phantasieeffekte beibringt, heißt dies, das wir ganz besonders aufgrund ihrer Tätigkeit an die medientechnischen Register der szenischen Gestaltung, an die Mittel der Szenografen verwiesen werden. Wenn nun auch in entsprechenden Erlebnissen mit dem, was sich zeigt, die Evidenz seiner Geltung als Handlung und Ereignis beschlossen sein mag, wird dennoch niemand leugnen wollen, dass die Evidenz des Erscheinens wie des Erscheinenden ihre Grenzen hat. Individuelle Grenzen des Erlebens wie auch Grenzen der

137 Die Charakterisierung ist problematisch. Ähnlich ergeht es Aristoteles in der Rhetorik, der insgesamt ein vollständig seriöses Unternehmen beschreibt und auch seine Wissenschaftsfähigkeit unterstreicht, um dann an irgendeiner Stelle wie ganz nebenbei doch einen (platonischen?) Vorbehalt zu äußern, welcher der ganzen Rhetorik zu gelten scheint, in Wahrheit aber nur den Missbrauch der Überzeugungsmittel im Blick hat. Die „gesamte Beschäftigung mit der Rhetorik [läuft auf ] den Schein hinaus“; aber „jede Disziplin wird, wenn sie sich erst entwickelt hat, dasselbe vermögen wie die Schauspielkunst“. Warum sollte sich jede Disziplin in ihrem Fortschritt mit diesen Mitteln befassen – „freilich nicht allzuviel“ –, wenn es nichts mehr wäre als „äußerer Schein und an die Adresse des Zuhörers gerichtet“? Aristoteles, Rhetorik, 1404 a, 5-15.

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Darstellbarkeit bzw. der medialen Mittel dazu. Sichtbarkeit, ob Spur, ob Text, ob Bild, ist kein Garant, zu verstehen. Zwar geht es, wie Aristoteles sagt, bei der Dichtung, derer Dichter, seinem Lehrer zufolge, wir sind, insgesamt um Wahrscheinlichkeiten, die so gut seien wie die Wahrheit. Doch sagt er auch, dass dies in nicht wenigen Fällen die Wahrscheinlichkeit von Unwahrscheinlichkeiten meint. Das gilt auch für die Wahrscheinlichkeit der Sichtbarkeit und ihre Grenzen. Das Gesetz als solches ist in der Regel nicht zu sehen, auch wenn es sein Wirken zeigen mag, worauf aber nicht zu bauen ist. Die Gerechtigkeit ist eher zu sehen – vielleicht –, wenn es stimmt, dass sie nirgends als in ihrem Wirken in der Polis lebt. Doch beruht nicht auch sie auf Gesetzen? Am ehesten vielleicht müßte sich das Kunstwerk zeigen, ist es doch das, von dem man sagt, das es vollständig erscheint oder so gut wie nichts ist. Zur Kunst und der Frage der Sichtbarkeit deshalb am Ende einige Gedanken, die es erlauben, an anderer Stelle daran anschließend, zum Thema der szenografischen Systematik überzugehen.

8. Die deplatzierte Form der Sichtbarkeit – Probleme der Szenografie

Bekanntlich will Platon die Künstler und die Künste aus der Polis fernhalten. In seiner Verteilung der Gewichte im Gefüge von Macht, Wissen und Körpern geht er von der Annahme und vielleicht auch der Erfahrung aus, dass die Dopplung der Repräsentation, soweit sie im Werk der Künstler erscheint, eine unnötige Weise der Präsenz fiktionaler Welten darstellt, die in einer Ordnung, in der jeder Stand zweckdienlich fürs Ganze der ihm zugewiesenen Arbeit nachgeht, keinen Platz haben sollte. Dabei steht die Frage nach Wahrheit oder Täuschung des künstlerischen Ausdrucks oder des schädlichen Charakters der Bilder nicht im Vordergrund. Es geht um die Aufteilung des Handlungsraums, der ja nicht einfach von einem universellen Ethos regiert, sondern von ganz unterschiedlichen, konfliktreichen und -trächtigen Praktiken bestimmt wird, aus denen heraus das Ethos selbst Effekt ist. Angesichts solcher Erfahrungen stellt sich die Frage der Verteilung zwischen den normalen Beschäftigungen und den besonderen, die aufgrund der Arbeitsteilung vom Gemeinschaftlichen freigestellt oder ausgeschlossen sind. Schon den Handwerker trifft dieses Argument im dritten Buch der Politeia; ist doch auch er dazu verurteilt, nicht etwa ein Eigenes zu tun, wie das den Rittern und adeligen ‚Bürgern‘ gelingt, etwas, was jedem eigentlich von Natur aus zukommt, sondern einer bestimmten Arbeit nachzugehen. Doch ist er entschuldigt. Es geschieht aus „Zeitmangel“, da die Polis faktischen Herausforderungen genügen muss. So kann der Handwerker als Handwerker durchaus

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

ein Künstler sein; in der Privatheit seines Tuns bleibt er zweckgebunden, eingebunden ins Polisleben. Der nicht unmittelbar zweckorientierte Künstler, Künstler im modernen Verständnis, genauso. Auch er ist ein Doppelwesen, verleiht seiner privaten Kreativität und Leistung indes eine öffentliche Bühne. Das stellt für Platon eine Art der Usurpation dar, „weil er“, der Künstler, wie Rancière überzeugend liest, „einen Schauplatz des Gemeinsamen mittels dessen her[stellt], was eigentlich die Verbannung eines jeden auf seinen Platz hätte herbeiführen sollen“.138 Folglich ist es nicht die Besonderheit einer Oberfläche der Arbeit, die, verselbständigt wie ein Abziehbild, die besondere Kreativität zur Erscheinung bringt, sondern vor allem die „‚deplatzierte‘ Form der Sichtbarkeit“, die bei Platon Anstoß erregt. Sie bringt eine Neuaufteilung des Sinnlichen mit sich, die der Philosoph für gefährlich hält. Ausdruck einer derartigen Deplatzierung des Sinnlichen und der Kreativität (poeisis) ist die mimetische Dopplung (mimesis) und Konzentration von Kunst in besonderen Räumen des praktischen Feldes, im Raum des Theaters etwa, wo ansonsten die Arbeit ihren Platz hat. Theatrale, künstlerische Formen von Effekten oder Inszenierungen folgen also, so sie derart „deplatziert“ auftauchen. Oder umgekehrt, die Deplatzierung gehört hier schon zur Effektproduktion. Das ist zunächst weder in den Wissenschaften noch in der Politik der Fall, es sei denn, sie würden sich dieser deplatzierten Effekte – der Übertreibung von Ostension, Demonstration, Sichtbarkeit – bedienen, wie wir es heute von den Medien gewohnt sind. Wie wir sahen, weicht die Platon’sche Skepsis alsbald der durch Aristoteles sanktionierten pragmatisch positivistischen Akzeptanz. Foucault finden wir in dieser Tradition. Die durch spezifische Poiesis und Mimesis charakterisierte Dopplung der Effekte kann überall auftauchen, und, wie Poetik und Rhetorik lehren, tun sie das im Kontext der Kunst ausdrücklich, tun es aber auch so gut wie sofort in der Politik, denn dahin gehören die in der Rhetorik verhandelten Anwendungsbereiche des öffentlichen Redens, die bei Platon noch den Einwänden des Sokrates ausgesetzt werden. Allein die Wissenschaften bleiben vorerst noch vergleichsweise uninfiziert, wenn sie auch im rhetorischen Diskurs nicht außen vor bleiben, sondern ebenfalls schon gemeint sind. Das repräsentative Regime bestimmt nun die Inszenierungsweise der Künste und stabilisiert die Ausnahme zum herrschenden Typus nach dem Prinzip ästhetischer Fiktion. Intern gelten dann besondere Vorgaben, „nach denen die Nachahmungen als rechtens zu einer Kunst zugehörig anerkannt und innerhalb des jeweiligen Rahmens dann als gut oder schlecht, passend oder unpassend bewertet werden

138 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 65-67. Zu Platon siehe auch ebd., S. 36/37, und M. Foucault: Theatrum philosophicum, a.a.O., S. 96ff., seine eigene und die Meinung Deleuzes zu Platon betreffend.

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können“. Usw.139 Die spezielle, zunächst unbegründet erscheinende Orientiertheit des Ästhetischen auf das Kunstwerk, unbegründet auch noch im Fall der Autonomie zweckfreier Tätigkeitsweisen, versteht sich erst, wenn die Künste dadurch ausgezeichnet werden, dass die Dinge, die ihr zugehören, völlig dem Regime der Sinnlichkeit unterstellt werden. „Die Idee eines sich selbst fremd gewordenen Sinnlichen als Sitz eines sich ebenso fremd gewordenen Denkens bildet den unveränderlichen Kern all jener Identifizierungen von Kunst, die das ästhetische Denken ursprünglich ausmachten“.140 Die pragmatischen – und handlungstheoretischen – Kriterien der Besonderheit sind damit getilgt, was erklärbar macht, dass angesichts einer so autonomisierten und im Blick auf die Sinnlichkeit ästhetisch universalisierten Gestalt der Künste jede spontane Zuwendung zu den Praktiken der Inszenierung genau hierauf gelenkt wird, um nicht zu sagen abfährt, um an dieser Autonomie, auch entsprechender Lebensweise, teilzuhaben. Es geht also in Fragen der Inszenierungsarten und Szenografien der Künste nicht darum, dass sie besonders sind oder nicht (sie sind besonders wie alle anderen auch), sondern um die Frage der Platziertheit oder Deplatziertheit der Sichtbarkeit, die sie erzeugen. Und Sichtbarkeit meint hier zunächst den Raum, nicht das Medium. Es geht um die Sichtbarkeit der Sinnlichkeit, die nun gerade als körperlich leiblich eher als in den Szenografien in den Obszenografien erscheint, den Paradoxien der Gestaltung und Widerständen der Differenz. Doch schillert die Obszene. Dass die Frage nach der Platziertheit der Sichtbarkeit mehr Szene denn Obszönität zu Tage fördert, dürfte heutzutage, medienspezifisch betrachtet, soweit die Kunst ohnehin mehr als Technik denn als blendende Verführung gilt, schon sehr in Zweifel gezogen werden können. Weil es, abgesehen davon, kaum irgendeinen anderen gewichtigen Grund gibt, die Künste den sonstigen gesellschaftlichen Verkettungen entgegen zu setzen, wird man immerhin die den Einzelkünsten eigenen Hierarchien und Ausschlussprozeduren zur Kenntnis nehmen und bedenken, soweit sie für die empirisch szenologische und szenografische Analyse hilfreich sind. Denn dort, innerhalb der Künste, treten ja solche unterschiedlichen Apparate auf wie „die freien Künste“ hier, die „technisch reproduzierbaren“ dort. Auch gehört die Fiktion, wie wir sahen, als solche nicht zu den „natürlichen Gegenständen“, die den Gegenstand Kunst qualifizierten. Auch sie ist eine Praktik. Zu fingieren heißt nicht, per se außerhalb der Wahrheit zu platzieren. Es gibt immer die Möglichkeit, dass etwas fabriziert wird, von dessen schöpferischer Wirklichkeit her sich erst eröffnet, was noch nicht ist, vorerst aber sein kann. Mit anderen

139 Vgl. 140

ebd., S. 38. Ebd., S. 39.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

Worten: dass fingiert wird, dass sich etwas ereignet, das die Fiktion wahr macht.141 In jedem Fall bleibt die Methode mikroanalytisch, ob sie die mimetische Dopplung infrage stellt, d.h. deren besondere, dem Medium nahestehenden Akzeptabilitätsbedingungen aufdeckt und einsichtig macht, oder aber den vermeintlich neutralen Status der Technik, dessen Effekt es ist, als Prägung einer leblosen Materie durch eine gedankliche Form zu erscheinen. Und wenn es denn die Vorabendserie sein soll. Was die Illusion betrifft, die ja seit Zeiten den künstlerischen Dispositiven besonders verbunden erachtet wird, ist auch sie nicht als Kriterium zur Abgrenzung eines Gegenstandsbereiches szenografisch szenologischer Betrachtung geeignet. Auch hier gibt es zwei wichtige Gesichtspunkte. Das Interesse an der Aktualisierung, Affekt und Begehren sind ganz selbstverständlich mit der Illusion verbunden, da die Entscheidung zu dieser oder jener Inszenierung die Herausforderung zur Realisierung braucht, und die geht aus von der verführenden Vorstellung. Mit den Worten Baudrillards: Damit es eine Szene gibt, „ist eine Illusion nötig, ein Minimum an Illusion, das heißt an Einsatz, an imaginärer Bewegung, an Herausforderung ans Reale, die einen hineinreißt, einen verführt, einen aufbringt, einen aufreibt; ohne diese eigentlich ästhetische, mythische spielerische illusionäre Dimension gibt es keine politische Szene, keine Szene des Politischen, gibt es überhaupt keinen Raum, in den ein Ereignis eintreten könnte“, also auch keinen wissenschaftlichen oder Kunstraum. Aber dann kommt das dicke Ende. „Und diese Szene“, fährt Baudrillard in Die Szene und das Obszöne fort, „diese minimale Illusion sind uns entschwunden.“ Warum? „Durch die Massenmedien verfügen wir von alledem [allen denkbaren Ereignissen – HW] über eine Überrepräsentation, aber keine mögliche Repräsentation, keine Vorstellung mehr, keine Szene, keinen Affekt, keine Phantasmen – und also weder Leidenschaft noch Verantwortung. All dies ist für uns schlichtweg obszön, denn durch die Medien ist es gemacht, um gesehen und einfach nur gesehen zu werden, bis zum ‚Geht-nicht-mehr‘ gesehen zu werden und doch nicht gesehen zu werden. Weder Zuschauer noch Akteure: wir sind bloß noch Voyeure ohne Illusion.“142 Das klingt, als ob der flächendeckende und raumfüllende Ersatz der Szene durch das Obszöne der Massenmedien allen produktiven szenologischen Ambitionen ein Ende machte müsste.143 Tatsächlich handelt es sich bei der Baudrillard’schen Opposition ‚lediglich‘ um ein (im Einzelnen herauszuarbeitendes) Kriterium der Akzeptabilität und Variation

141

Siehe auch oben zu Peirce, Lowell-Lecture von 1903. Jean Baudrillard: Die Szene und das Obszöne, in: Das Schwinden der Sinne, hg. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt am Main 1983, S. 282/83. 143 Übrigens gilt das genauso gut fürs zeitgenössische Theater der 80er Jahre, wie Baudrillard im zitierten Aufsatz klar legt; „Antitheater in allen Spielarten“. 142

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KAPITELTITEL HEINER WILHARM

von Effekten. Die Familienähnlichkeit der Begriffe zeigt es an. In positivistisch Foucault´scher Perspektive hieße es, dass die Darstellung dessen, wie es möglich wurde, um verständlich zu machen, dass es deshalb wirklich und als so Wirkliches akzeptabel wurde, dass diese Darstellung notwendig das Ereignis machende, also entropisch Unwahrscheinliche zusammenbindet. Das ist nun aber nicht ein das Plenum füllendes massenmediales Obszönes – auch das kann sich, zwar paradox, aber nur so in konkreten Macht-Wissen-Körper-Apparaten oder Dispositiven entfalten –, sondern bildet die Szenerie des Sozialen und des Politischen im Detail, in den Details der rechtlichen, religiösen, wissenschaftlichen Affären. Auch wenn man erkennen kann, dass sich angesichts der „theatralischen Praxis in der Politik“144, allgemein gesprochen der Praktiken des Kräftemessens, die Erregung der Verführung in Grenzen hält, die Handlungsstrukturen als solche sich zwar verlagern und variieren, aber als Figuren des Intentionalen stabil bleiben. Jenseits dessen bleibt das Obszöne ereignislos, was allerdings dem Zustand „obszöner Transparenz“ oft genug entsprechen dürfte. Einerseits also das (obszenologisch verständliche) Paradox, dass gerade das illusionslose Theater alle möglichen zerstreuten Formen der Unterhaltung hervorbringt, Formen von „Kreativität und Ausdruck, von Happening und Acting out“ und „die Szene überall ist“, wie Baudrillard selbst feststellt.145 Andererseits die Verlagerung auf Dispositive der Unsichtbarkeit, in denen sich Szenisch-Illusionäres ereignet, auf „die anderen Szenen“, die „des Phantasmas“ oder „der Verdrängung des Unbewussten“, die uns vielleicht wirklich nicht „über den Verlust der fundamentalen, der Szene der Illusion hinwegtäuschen“146, aber doch auch Bedingungen ihrer eigenen Akzeptanz offenbaren können. Platons Intervention gegen das positivistische Programm der Platzierung der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum macht sensibel dafür, dass der massenmedialen szenografischen Effektivität durchaus eine ‚obszenografische‘ Intervention entgegengesetzt werden kann. Sie wertete die zunehmende Überbelichtung nicht als endgültige Katastrophe, sondern als Chance, Szenografie, soziale Performanz und inhaltliche Anliegen beieinanderzuhalten ohne auf Effektivität von vornherein verzichten zu wollen. Dass gewisse szenologische Einsichten nichtsdestotrotz die Sichtbarkeit ihrer szenografischen Veranlassung – so sie mehr beinhaltet als ein ansprechendes Layout – übersteigen, widerspricht dem nicht. Genauso wenig aber die Tatsache, dass auch

144 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt am Main 2004, S. 383f. 145 J. Baudrillard: Die Szene und das Obszöne, a.a.O., S. 287. 146 Ebd., S. 285.

EREIGNIS, INSZENIERUNG, EFFEKT

das bloß Gedachte, soll es wirken, einen schönen Auftritt braucht. „Philosophie, nicht als Denken, sondern als Theater: wo auf vielen Bühnen viele kurzlebige Szenen gespielt werden“.147

147

M. Foucault: Theatrum philosophicum, a.a.O., S. 122.

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Sandra Schramke/Wolfgang Bock STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE BEI EAMES UND TATI 1. RAUM UND INSZENIERUNG IN DER KYBERNETISCHEN SZENOGRAPHIE VON RAY UND CHARLES EAMES

Ausstellungsarchitekturen 1959-1965

Mit ihren Ausstellungsarchitekturen setzten Charles und Ray Eames 1959-65 Architektur gezielt als ein szenographisches Mittel zur Gestaltung von Raum, Zeit und Kommunikation ein. Dabei bedienten sie sich verschiedener Modelle von kybernetischem Informationstransport, um Raumproduktion und Rezipientensituation zu steuern. Zu diesem Zweck verwandten sie einerseits spezifische Medientechniken und berücksichtigten andererseits ausgewählte Erkenntnisse aus der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie sowie den Kognitionswissenschaften. Im Folgenden betrachten wir die Amerikanische Nationalausstellung in Moskau 1959, den amerikanischen Pavillon für die Weltausstellung in Seattle 1962 und den IBM-Pavillon der Weltausstellung in New York 1964/65 – Projekte, die von den Eames gestaltet wurden. Sie werden medienübergreifend aus architektonischer und medialer Sicht analysiert – hinsichtlich ihrer konstitutiven Typologien und Raumorganisationen, der semiotischen Ebene von Architektur als Bedeutungsträger ebenso wie im Hinblick auf den besonderen Medieneinsatz des bewegten Bildes.

Physiologie der Aufmerksamkeit

Wie bereits angedeutet, beruht Eames’ Ansatz eines szenographischen Architektureinsatzes wesentlich auf Erkenntnissen aus der Kybernetik, die sich als Steuerungswissenschaft mit der Automation von Apparatetechnik und übergreifend auch sogenannten „natürlichen Systemen“, also Wahrnehmungsformen befasst. Dazu machten Charles und Ray Eames von einer Physiologie Gebrauch, die es ermöglichte, bestimmte Funktionsweisen des Menschen zu bestimmen. Das Sehen wird danach zu einer berechenbaren Größe, die nicht mehr unmittelbar an den Körper

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gebunden ist und auf diese Weise insbesondere eine Neubetrachtung der Rezeption von Bildern erlaubt. Gegenstände der physiologischen Untersuchung sind unter anderem Aspekte wie Aufmerksamkeitsspannen, Reaktionszeiten, Reizschwellen und Ermüdungsintervalle.

Abb. 1 Richard Buckminster Fuller

Im Anschluss an psycho-physiologische Untersuchungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise Jonathan Crary beschreibt, entwickelt sich die Gestalttheorie, die die Bilderkennung klassifiziert.1 Dazu zählt die Unterscheidung des Wahrnehmungsfeldes in Figur und Grund, das Gesetz der Nähe und der Ähnlichkeit der Elemente in Bezug auf Form, Farbe und Größe. Auf dieser Grundlage verändern sich die zuvor von Descartes und Kant bestimmten Raumvorstellungen. Das neue Wissen eröffnet eine Engführung von Hirn- und Gedankentätigkeiten und realen Raumobjekten. Einer der Hauptsätze einer physiologisch basierten Erkenntnis besagt, dass äußere Reize in Form von elektrischen Feldern auf das Gehirn einwirken, um anschließend als Bilder wahrgenommen zu werden. Eine Nachricht kann systematisch so aufgearbeitet und gesendet werden, dass sie die Aufmerksamkeit des Empfängers, in diesem Fall des Betrachters, bindet. Die Informationstheorie deckt die Parameter

1

Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002; siehe auch ders., Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996, S. 87, und Wolfgang Metzger: Gestaltpsychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950 bis 1988, Frankfurt am Main, 1999.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

dieses Nachrichtentransports auf. Dazu zählen Redundanzen, Entropien und Prägnanzen. Diese werden vom Rezipienten als Gestalten von Formen, Farben und Größen wahrgenommen.2 Demzufolge bildet die Gestalterkennung die Voraussetzung für das Erkennen von Informationen. Die technologische Basis der zu besprechenden Ausstellungskonzepte liegt in der Steuerungswissenschaft, die zu Beginn des 20. Jh. aufkommt und im Zweiten Weltkrieg in der Kybernetik kulminiert. Hier wird Information berechenbar. Die Kybernetik beschreibt Steuerungsvorgänge, die Norbert Wiener in seiner Schrift „Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“ auf die Ingenieurs- und Humanwissenschaften anwendet.3 Nach Wiener erweist sich „Berechenbarkeit […] als Schreibbarkeit durch eine Maschine“. Ihre Voraussetzung bildet eine Formalisierung. Durch Anwendung des kybernetischen Modells werden unterschiedliche Parameter der Informationstheorie in elektronischen Schaltkreisen identifiziert. Diese können auf die physiologischen Funktionsmechanismen des Menschen übertragen und angewandt werden. Claude Shannon transformiert dieses Modell 1948 in die Nachrichtentechnik. Die Digitalisierung ermöglicht die Kalkulation und Verrechnung von Informationen. Die informationspraktische Berechenbarkeit zeichnet sich durch diskrete, diskontinuierliche Verfasstheiten der Elemente eines Systems aus. Im Gegensatz dazu bilden analoge Techniken kontinuierliche Einheiten eines Gegenstandes ab.

Film als Information

Aus informationstheoretischer Sicht scheinen die Schnitt- und Montagetechniken des Films für die Zerlegung von Informationen in diskrete Einheiten und die Neukombination prädestiniert zu sein. Charles und Ray Eames definieren daher für ihre Ausstellungsarchitekturen die drei Informationstypen: Sprache, Bilder und Zahlen bzw. Symbole.4 Indem sie insbesondere den Bildeinsatz fragmentieren, stellen die Bilder und Standbilder digitale verrechenbare Informationseinheiten dar. In einer Rezeptionssituation instrumentalisiert der Einsatz von Gegenständen in Binärform die Strukturbildung und Lesbarkeit dieser Informationen. Charles und 2 Vgl. Abraham A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, Köln 1971, S. 15ff. 3 Vgl. Nobert Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine,

MIT Press Paperback Edition 1965, (Copyright 1948 and 1961 by the Massachusetts Institute of Technology). 4 Vgl. Charles Eames: Eamesnachlass, Box 152, Folder 13, Invention and Innovation, Manuscript Division, Library of Congress.

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Ray Eames wenden diese Methoden in Form von Simultanpräsentationen und der Präsentation von Multiperspektiven an. Obwohl sich Eames’ Filme der analogen Form der Abbildung von Realität bedienen, gewinnt die Präsentationsform in ihren Projekten durch die fragmentierte Darstellung der Bildprojektionen die Qualität diskreter Einheiten: die nicht kontinuierlichen Bildwechsel präsentieren Bewegungsbilder und Standbilder, die durch Schnitt und Montage in neue Funktions- und Sinnzusammenhänge gebracht werden können. So dekonstruieren beispielsweise gleichzeitig projizierte Einzelbilder den Wahrnehmungsraum und verwischen die Grenze zwischen Vorder- und Hintergrund. Die Folge davon ist eine Destabilisierung der bekannten Raumgrößen.

Abb. 2 Ausstellung Moskau 1959

Flüchtige Blicke. Die Amerikanische Nationalausstellung in Moskau 1959

Zusammen mit Jack Masey, dem Leiter des USIA (United States Information Agency), entwickelten Charles und Ray Eames 1959, also zu Zeiten des Kalten Krieges, eine Mehrbildpräsentation für die amerikanische Nationalausstellung in Moskau. Folgt man Niklas Luhmanns Klassifikation von Informationen in Nachrichten, Unterhaltung und Werbung, dann stand die Ausstellung im Werbedienst der USA.5 Bereits die Gestaltung des Gebäudes war nach diesen Zwecken ausgerichtet. Unmittelbar nach dem 1957 erfolgten Sputnik-Schock bestand die Herausforde5 Vgl.

Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 51.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

rung für die Ausstellungsdesigner darin, dennoch eine Produkt- und Informationsüberlegenheit der Amerikaner zur Schau zu stellen. Dazu machten Charles und Ray Eames von den technischen Möglichkeiten der visuellen Medien Gebrauch. Ihre Bildvorführung verband Ansichten von technischem Know-how mit Alltagsszenen glücklicher Amerikaner: Der Film Glimpses of the USA (zu deutsch etwa: Flüchtige Blicke auf die USA) wurde auf sieben 6 x 9 m grossen Leinwänden, die in der vom Architekten Buckminster Fuller entworfenen Ausstellungsfläche von 7.400 qm in einer Kuppel von 76 m Durchmesser aufgehängt waren, simultan projiziert. Die Form der Leinwände erinnerte dabei an frühe Fernseher.6 Gemäß den Aussagen George A. Millers, der 1956 die Zahl Sieben als die maximale Wahrnehmungskapazität gleichzeitiger Informationen feststellte, installierten Charles und Ray Eames nun sieben Leinwände.7 Die Bildfragmentierung war optimal auf das Gesichtsfeld der Betrachter ausgerichtet und kam einer besonderen Rezeptionsweise entgegen. Beispielsweise fand der Bildwechsel bei allen Projektoren gleichzeitig statt, um einen illusionären Gesamtraum zu gestalten und eine zu starke Hinwendung der Betrachteraufmerksamkeit auf einzelne Bilder zu verhindern.8

Abb. 3 Ausstellung New York 1964/65

6

Vgl. Eames Office: Eamesnachlass, Box 202, Folder 3, Films, Glimpses of the USA, Manuscript Division, Library of Congress. 7 Vgl. George A. Miller: The Magical Number Seven, Plus or Minus Two, The Psychological Review 1956, vol. 63, S. 81ff. 8 Vgl. Owen Gingerich: A Conversation with Charles Eames, American Scholar, vol. 46, no. 3, 1977, S. 334.

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Durch den Zwischenraum der Leinwände wurde das Wahrnehmungsgesetz der Gestalt wirksam, das zwischen Vorder- und Hintergrund unterscheidet.9 Die Bilder waren so inhaltsabhängig als geschlossene Figuren, als sogenannte Superbilder, lesbar, die sich vom Raumstabwerk der Kuppel absetzten oder aus anderer Perspektive betrachtet als atomisierte Einzelbilder den Raum in Einheiten gliederten. Glimpses of the USA begann mit simultanen Projektionen von Weltraumaufnahmen, zeigte dann Nachtaufnahmen einer aus der Luft photographierten amerikanischen Stadt und zoomte sich dann an die Stadt heran. Landschaften der USA bei Tagesanbruch wurden gezeigt, dann Alltagsszenen – zuerst Gegenstände des täglichen Lebens, dann Menschen bei ihren gewöhnlichen Verrichtungen. Den Schlussteil bildeten drei Minuten lang Bilder aus Freizeit und Wochenende vor grandiosen Naturkulissen oder vom geschäftigen Leben in den Städten. Diese Bildmotivwahl, gepaart mit dem Gleichmaß des Szenenwechsels von zwei Sekunden, war auf eine Imaginationssteigerung der Zuschauer angelegt. Die Struktur von Bewegt- und herausgestellten Einzelbildern spricht im Betrachter die Tendenz an, aus ungerichtet vorliegenden Fragmenten selbst ein sinnvolles Ganzes zu erstellen.10 Eames verbinden auf diese Weise Charakteristiken von sogenannten heißen und kalten Medien. Nach Marshall McLuhan lässt ein heißes Medium wie der Film dem Zuschauer wenig Interaktionsraum, während es von ihm bei einem kalten wie dem Telefon oder hier der Einzelphotographie einen stärkeren Einsatz fordert.11 Die Eames nun präsentieren den heißen Film als kaltes Medium: Die Einzelbilder binden Assoziationskräfte und zerlegen diese durch die Geschwindigkeit der Bildfolge wiederum so sehr, dass sie dem Betrachter als Form selbst nicht ins Bewusstsein kommen, da er auf das nächste Bild reagieren muss. Der Zusammenschluss der einzelnen zu großen Superbildern wiederum ruft Serialität und Erhabenheit auf den Plan, ebenfalls ohne dass die Zuschauer die Rahmung bewusst durchschauten.12 Diese Form führt zu einer emphatischen Adaption des Inhalts. Insbesondere das Herausheben von zwei Einzelbildern – eines von Marilyn Monroe und die letzte Einstellung eines Vergissmeinnicht-Blumenstraußes – folgten deutlich dem Ziel einer Emotionalisierung der Zuschauer. Diese Rechnung ging auf: Verschiedene Zeugen berichteten von Tränen in den Augen der ergriffenen russischen Zuschauer.

9 Vgl. W.

Metzger: Gestaltpsychologie, a.a.O., S. 239. Sigmund Freud nennt diesen Zusammenhang eine Tendenz zur Systembildung, vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu, in: Ders., Studienausgabe, hrsg. v. A. Mitscherlich et al., 10 Bände u. Ergänzungsband, 4. Aufl. 1970, Frankfurt am Main 1970, Band IX, S. 287-444, hier S. 382-383. 11 Vgl. Marchall McLuhan: Die magischen Kanäle, Understanding Media (1964), Basel 1995, S. 44-61. 12 Bis heute arbeiten Mainstream-Filme mit solcher Bannung der Reflexion der Zuschauer durch Identifikation und Spannung. 10

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

WELTAUSSTELLUNGSARCHITEKTUREN HAUS DER WISSENSCHAFT, SEATTLE 1962

Dieses erfolgreiche Konzept wurde für die drei Jahre später stattfindende Weltausstellung von Seattle 1962 weiterentwickelt. Charles und Ray Eames setzten nun eine panoramische Leinwand ein, auf die eine Multibild-Präsentation von ein bis maximal sechs Bilder projiziert wurde.13 Die Bildmotive variierten erneut zwischen Einzelbildern und zusammengeschlossen Superbildern. Der dort gezeigte neue Film House of Science diente ebenfalls der Massenverbreitung der wirtschaftlichen und technologischen Erfolge der Amerikaner im beginnenden Raumfahrtzeitalter, er war aber nun stärker auch für ein Publikum im eigenen Lande konzipiert. Das Filmthema präsentierte technische Errungenschaften aus der Zivilisationsgeschichte. Dazu gehörten vor allem die Mathematik und die Computertechnologie, durch Bücher repräsentierte Aufschreibsysteme und die Darstellung moderner Städte. Gemäß ihrer Thesen zum automatischen Informationstransport mittels Puzzles und Zufallsgenerierung folgte auch dieser Film wiederum einer losen Aneinanderreihung von Szenerien. Er präsentierte eine Serie polarer Gegenüberstellungen, wie diejenigen von Erde und Weltall, Stadt und Natur, Wasser und Land, lebenden und präparierten Organismen, mittels alternierender Wechsel zwischen Nah- und Fernaufnahmen. Die Vorführung beginnt mit der Darstellung abstrakter Wissenschaftsmodelle und endet mit Bildern von Raketenstarts der NASA.

Abb. 4 Ausstellung New York 1964/65

13

San Francisco Chronicle, 1965, in: Eamesnachlass, Box 202, Folder 8, Films, The House of Science, Manuscript Division, Library of Congress.

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Abb. 5 Ausstellung New York 1964/65

Neues Denken. New York 1964/65

Das komplexeste Projekt dieser Reihe aber stellt der Weltausstellungspavillon 1964/65 in New York dar. In Zusammenarbeit mit dem Architekten Eero Saarinen und der Großrechnerfirma IBM entwarfen Charles und Ray Eames einen Ausstellungsraum in Form eines sphärischen Ovoids mit den Abmessungen von 22 x 32 x 13 m.14 In dessen Innern präsentierten sie den Film Think. Der Filmtitel schloss an eine frühere Werbekampagne von IBM an. „Think” wurde auf 22 Leinwände in Form geometrischer Grundformen von Kreisen, Rechtecken und Dreiecken projiziert, die während der Präsentation syntaktisch zu Gruppen von jeweils sieben zusammengeschlossen wurden. In Fortführung der Konzepte der beiden vorausgegangenen Projekte folgte auch diese Zusammensetzung der Bildmotivwahl wiederum den Gestaltregeln der Superpositionen und einer atomisierten Präsentation aus Einzelbildern. Die durch prägnante Gestalten der Projektionsflächen in Dreiecks-, Rechtecks- und Kreisformen aufgelöste Wand verstärkte die Wahrnehmungsgesetze des Sehens von Gestalten und Fragmenten zugleich. Der Informationsgehalt bewegter Bilder soll eine berechenbare psychische Beeinflussung des Zuschauers erlauben. Aus behavioristischer Perspektive lösen die Bil-

14

Eames Office, Eamesnachlass, Set up in Ovoid Theater, IBM Museum and Exhibition Center Armonk, New York, Conceptual Planning, Notes, General, 1966-69, OV I, Manuscript Division, Library of Congress.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

der äußere Reize auf die Betrachter aus, auf die diese reagieren. Dabei repräsentiert die Bildmotivwahl Symbole, die ein bestimmtes Vorwissen und eine Tätigkeit der Subjekte voraussetzen, die die erwünschte Reiz-Reaktion erst ermöglichen. Die Montagetechnik des Eame’schen Films zeichnen unterschiedliche Kameraperspektiven, Maßstäbe und die gewählte Anzahl der Bilder pro Zeiteinheit aus.15 Zusammen mit der Bildmotivwahl ermöglichen sie Neukombinationen von Einzelbildern, die neue Bedeutungskontexte konstruieren können. Diese Montagetechniken sind also per se auf Zuschauerbeeinflussung angelegt. Schon früh machten Regisseure davon in der Filmgeschichte Gebrauch.16

Abb. 6 Ausstellung Seattle 1964/65

Ein Raumschiff

Der New Yorker IBM-Pavillon von 1964/65 setzt das Raumschiff als ein Wahrzeichen der 1960er Jahre selbst in Szene. Die NASA hatte zuvor die zivile Raumfahrt institutionalisiert.17 Allerdings sind die Anleihen dieser Architektursprache älter und 15

Vgl. Michel Frizot: Geschwindigkeit der Fotografie. Bewegung und Dauer, in: Neue Geschichte der Fotografie, Michel Frizot (Hg.), Köln 1998, S. 242-257. 16 Vgl. z.B. Béla Balázs: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931, Berlin 1984 [original 1930], Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Berlin 2002 [original 1932]. 17 Vgl. Michael Esser: Der Griff nach den Sternen. Eine Geschichte der Raumfahrt, Basel/Boston/ Berlin 1999.

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tauchen in Form von Comics und Filmen in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts auf.18 Die Geschichte der Science-Fiction geht mit der Vorstellung von Robotern einher, die in den 1940er Jahren mit der Kybernetik Verbreitung fanden. Mit der Zerlegung und Serialisierung der Arbeitsprozesse, die durch die Entwicklung der Automation möglich gemacht wurde, stellten Roboter Extensionen des Körpers dar.19

Abb. 7 Ausstellung New York 1964/65

Bei den Eames wird nun der gesamte Pavillon zu einem solchen Automaten. Nachdem sie auf einer Tribüne Platz genommen hatten, wurden die Besucher ins Innere des Ovoids transportiert, um sich dort in die Installation einzupassen. Der Ausstellungsraum wurde zu einem kinetischen Objekt. So bildete die Tribüne des IBM-Pavillons eine Prothese des menschlichen Körpers, aber ebenso einen Ersatz für den klassischen Treppenaufgang. Der Besucher wurde als Teil der Inszenierung

18 Vgl. Georg Seeßlen, Fernand Jung: Science Fiction. Grundlagen des populären Films, Marburg 2003, 2 Bände, Bd. 1, S. 1-80. Zum SF-Film siehe auch Phil Hardy (Hg.), Die Science-Fiction Filmenzyklopädie, Wintermühlenhof 1998, S. 86. 19 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, a.a.O., S. 73-83.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

Abb. 8 Kommunikationsmodell des Nachrichtentransports

in die Maschine integriert. Die Automation des menschlichen Bewegungsablaufs wurde nicht, wie in den ersten universellen Automaten, durch die Maschine imitiert. Stattdessen wich die natürliche Bewegung einer neuen Bewegungsform, die durch die Austauschbarkeit natürlicher und künstlicher Systeme möglich gemacht wurde.20 Zugleich unterschied sich dieser Transport auch von einem simplen Fahrstuhl, indem er die Umgebung ebenso in die Inszenierung mit einschloss.

Ein Mann im Frack

Die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenraum bildete ein Mann im Frack, der von der Plattform aus die Zuschauer begrüßte, bevor sie vertikal ins Ovoid gehoben wurden. Die Rolle eines Instrukteurs einnehmend, besetzte er in klassischer Weise die Bühne, die einen typologischen Teil der Gesamtbildfläche ausmachte und der Tribüne gegenüber lag. Außerdem übernahm er eine Vermittlerrolle zwischen Sender und Empfänger, Datenraum und Publikum. Nach den Lehrsätzen der Kognitionstheorie wie Shannons Kommunikationsmodell funktioniert das Gehirn analog zu technischen Systemen.21 Es verarbei20 Vgl.

N. Wiener: Cybernetics or Control, a.a.O. Vgl. Claude E. Shannon, Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, 1963, [Copyright 1949 by the Board of Trustees of the University of Illinois].

21

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tet Eingaben und generiert Ausgaben, bevor vor dem Hintergrund gespeicherten Wissens Informationen weiterverarbeitet werden können. In diesem Kontext kommt dem Instrukteur die besondere Steuerungsaufgabe der Informationsaufnahme zu. Er stellt einen Aufmerksamkeitsfokus dar, wenn der Bildwechsel ihn im Scheinwerferlicht präsentiert. Die Weltausstellungsbesucher befinden sich in einer – im Wortsinn – Black Box, in der entweder der Sender, d.h. die Simultanbildprojektion als Lichtfläche – und/oder der Transmitter im Scheinwerferlicht erscheinen. Das abstrakte Kommunikationsmodell des Nachrichtentransports als Hauptsatz von Claude Shannons Definition des Nachrichtentransports setzten Eames im IBM-Pavillon in ästhetische Raumkategorie um. Ebenso lenken die Lichtbilder die Aufmerksamkeit, wenn sie zwischen beleuchteten und unbeleuchteten Flächen wechseln. So ermöglichen sie die gezielte Steuerung und Reizweiterleitung von Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Diese Strategien oder Kontrollprozesse stellen die Steuerung der Informationsweiterleitung im Kognitionssystem sicher. Die syntaktische und mechanische Gebundenheit des Mediums kann auf diese Weise den Informationsinhalt um neue Sinn- und Bedeutungsebenen aufladen. Ist bei Kant das Schöne und das Erhabene kein phänomenaler, sondern ein an die Sinne gebundener Zustand, so wird das Überwältigende der Kybernetik in Eames’ Ausstellungsarchitekturen zur phänomenalen Voraussetzung der Wahrnehmung. Das gestalttheoretische Gesetz der Raumwahrnehmung verkehrt sich zu einem zerleg- und berechenbaren System aus Energie, Materie und Information.

Ein mechanisch erzeugter Bilderfluss

Neben der Berechnung und der Präsentation der Bilder spielt auch ihr Charakter als bewegte eine besondere Rolle. Zur Charakterisierung dieser Wirkungen entwickelt Gilles Deleuze Mitte der 1980er Jahre seine Filmtheorie mit den Bänden Das Bewegungs-Bild. Kino 1 und Das Zeit-Bild. Kino 2.22 Deleuze unternimmt darin den Versuch der Klassifizierung bewegter Bilder als Elemente eines Systems und verweist unter anderem auf die semiotischen Entwürfe von Charles Sander Peirce.23 Der Stellenwert dieser Theorie bei Deleuze ist umstritten; in der Regel wird

22 Vgl.

Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1997 [original 1983] und ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1997 [original 1985]. 23 G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 103ff.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

dieser Zusammenhang nur als ein sekündärer beschrieben, da für ihn die besondere Interpretation der Lebensphilosophie von Henri Bergson eine wichtigere Rolle spielt, die von Qualitäten ausgeht und sich gerade gegen eine kybernetische Sichtweise richtet.24 Im Kontext der Eames’schen Aneignung von Darstellungsstrategien aus Semiotik, Kybernetik und Signaltheorie aber gewinnen diese Motive in Deleuzes Theorie nun eine neue Gewichtung. Für Henri Bergson erscheint die wahrgenomene Welt für die Subjekte als stetiger und bewegter Bilderfluss, den dieser aber vom mechanisch erzeugten Fluss des Films unterscheiden will. Deleuze nun kehrt Bergsons Argument um und weist dem Film prototypische Elemente einer generellen Rezeption zu. Für Deleuze stellt das Einzelbild eine Informationseinheit ohne Berücksichtigung ihrer Inhalte dar und ist zunächst dem Fluss untergeordnet.25 Montagetechnik, Fragmentierung und Diskontinuität bilden die Voraussetzungen verschiedener Informationssendungen und ihrer Rezeptionsbedingungen. Aufgrund der Automation des bewegten Bildes, das die Lücke ein- und gleichzeitig das an die Sensomotorik sukzessiver Bilder gebundene Off ausschließt, stellt Deleuze zugleich eine Tendenz zur besonderen Autonomisierung des einzelnen Bildes fest. Diese ziehe die Destabilisierung und Fragmentierung als Charakteristik des nachmodernen Wahrnehmungsraums nach sich.26 Der Raum büßt daraufhin seine Kontinuität ein. An seine Stelle tritt der instabile Informationsraum. Im Rahmen ihrer Ausstellungskonzepte beschränkten sich Eames mit diesen Möglichkeiten ebenfalls nicht auf eine auf den Medienzusammenhang eingeschränkte Film- und Bildpräsentation, sondern integrierten diese in die umfassenden Entwurfsstrategien ihrer Architekturen. Während die Gestaltpsychologen in der Meinung einer kollektiven, universalen Ästhetikrezeption von der sogenannten „guten Gestalt“ ausgingen, setzen Charles und Ray Eames mit ihrer Informationsarchitektur einen neuen Maßstab für kalkulierbare Informationsstrukturen.

24

Vgl. zur ersten Tendenz André Vandenbunder: Die Begegnung Deleuze und Peirce, in: Oliver Fahle, Lorenz Engell (Hg.): Der Film bei Deleuze (Le cinéma selon Deleuze), Weimar/Paris 1999, S. 497-515, und zur zweiten Gilles Deleuze: Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft, Neue Rundschau 3/1990, Frankfurt am Main, S. 5-13. 25 C. E. Shannon, W. Weaver: The Mathematical, a.a.O., S. 8. 26 G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 27f.

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2. MIMETISCHE SZENOGRAPHIE. KRITIK UND AFFIRMATION US-AMERIKANISCHER WOCHENSCHAUEN IN JACQUES TATIS „SCHÜTZENFEST“ Eine kleine Revue von Schnittstellen-Figurinen

Der Mann auf der Bühne im IBM-Pavillon ist eine als Person auftretende Allegorie der Schnittstelle von Mensch und Maschine. Sein Frack ist keineswegs zufällig gewählt, denn er verändert das Design der vorherigen Mensch-Maschinen-Verbindungen. Diese lassen sich als eine Revue von repräsentativen Figurinen denken, die jeweils archetypisch für eine Dekade stehen: Den 1930er Jahren entspricht ein halbnackter Vorarbeiter, wie ihn Chaplins Film Modern Times von 1936 zeigt; den 1940ern ein uniformierter Postbeamter wie in Tatis Schützenfest von 1947, während die 1950er von einem Ingenieur oder Wissenschaftler mit weißem Kittel etwa wie in Die Fliege von 1958 dargestellt werden.

Abb. 9 u. 10 Apple-Computer

Im Anzug eines Buttlers und Conférenciers erscheint die Maschine-MenschVerbindung in den 1960er Jahren dann als Utopie des dienenden Assistenten ihres Benutzers. Das gehört zum Konzept des demokratischen Konsums der Great Society und nimmt die Entwicklung der Software in den 1980er Jahren vorweg, die sich ihrem Benutzer anpasst und ihm entgegenkommt.27 Apple-Computer nimmt diesen Mann im Frack Ende der 1990er Jahre als virtuelle Figur wieder auf, wenn die Firma in dem digital produzierten Werbefilm Knowledge Navigator einen Office-Assisten-

27 Vgl.

Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 1998, S. 159-186.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

ten mit Fliege auftreten lässt, der einem zerstreuten Geographieprofessor die lästige Arbeit der Terminkoordination abnimmt.28 So wird der Computer selbst bis heute gern als ein Diener dargestellt, der nun mit einem digitalen ästhetischen Schein ausgestattet ist, um auf diese Weise die Vorteile des feudalen Dieners mit der ideologiefreien Technik einer demokratischen Gesellschaft zu verbinden. Auf diese Weise wird das Bild einer schönen neuen Maschinenwelt hergestellt, die der Menschheit hilft. In diesen Phantasmagorien bleibt die komplementäre Seite der Anpassung des Menschen an die Technik kontinuierlich ausgeblendet, denn die Angleichung ist in Wirklichkeit wechselseitig.29 Das hat viele verschiedene Ursachen. Ein Komplex hängt mit dem zusammen, was Herbert Marcuse etwa zur selben Zeit wie die Eames als den Schleier der Technik analysiert: Die Technik setzt insbesondere in der Filmtechnik ein bestimmtes Gesellschaftsverhältnis in ein bestimmtes Darstellungsverhältnis um. Das Utopische der Technik nimmt auf diese Weise Motive des gesellschaftlichen Fortschritts auf und bringt ihn zur Ausstellung. Die Kybernetik gestaltet dabei die neuen Maschinen nach ihren Gesetzen und sie beschreibt die Rezipientenseite ebenso in der gleichen Struktur dieser Regelung. Danach wird eine andere Position zunehmend ausgeblendet, das Resultat ist die Eindimensionalität einer Entwicklung, die ohne Alternative zu sein scheint.30

Ein Mann in Uniform

Zwei Dekaden zuvor war der Film auf ein anderes Modell der Rezeptionsweise angewiesen. Folgen wir der oben skizzierten Abfolge der Erscheinungsformen des allegorisch personifizierten Bereiches zwischen Mensch und Maschine, so entspricht nach dem Zweiten Weltkrieg die Figur des uniformierten Briefträgers François in Jacques Tatis Filmen Die Schule der Briefträger von 1946 und Das Schützenfest von 1947 diesem Verhältnis. 27 Vgl.

Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 1998, S. 159-186. Vgl. http://video.google.com/videoplay?docid=-5144094928842683632 und Wolfgang Bock: Jean Luc Picard oder Locutus von Borg? Zur Anthropologie der neuen Technologien, in: Gerhard Schweppenhäuser und Gerd Zimmermann (Hg.): Kritische Ästhetik und humane Gestaltung, Weimar 2005, S. 30-41. 29 „In einer vorindustriellen Welt wurde von einem Fechter, einem Reiter oder einem Tierzüchter angenommen, daß er einige Charaktermerkmale übernimmt, die mit seiner Tätigkeit verbunden sind. Aber wieviel mehr ist das bei den großen Menschenmassen der Fall, die ihre ganzen erwachenden Energien in die Benutzung und Verbesserung von Maschinen stecken, die über Kräfte verfügen, die viel größer sind als ihre eigenen.“ Marschall McLuhan: Die mechanische Braut. Volkskultur des mechanischen Menschen [1951], Amsterdam 1996, S. 135. 30 Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Schriften, Band 7, S. 195-183. 28

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Abb. 11 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

In diesen beiden Filmen, zu deren Zusammenhang noch weitere kleinere zählen, drückt sich das Verhalten der Zuschauer noch deutlich mimetisch aus. Das Kernstück des Schützenfestes bildet die Vorführung eines Propagandafilmes aus den 1940er Jahren über die Methoden der amerikanischen Post. Dieser Film kann damit auch als ein Vorläufer der Filme angesehen werden, die die Eames später mit wissenschaftlichen Mitteln verfeinern werden. Beide Male geht es um szenographische Fragestellungen: Gestaltung des Raumes, der Zeit und der Rezeptionsbedingungen. Wechseln wir also zunächst die historische Epoche, aber auch die geographische Zuordnung. Während die Eames 1959 zunächst die russischen Zuschauer und immer auch die eigenen Landsleute im Blick hatten, so geht es in Tatis Film um ein französisches Publikum, das nach dem Krieg auch als Abnehmer der Produkte der Alliierten im Blick war. Der Wochenschaubeitrag über die amerikanische Post appelliert denn auch an das erniedrigte Selbstwertgefühl der Franzosen: Im Krieg von den Deutschen zunächst besiegt, wurde das Land dann durch die Amerikaner und ihre Technik befreit. Die Figur, der hier die Vermittlerrolle zukommt, ist der uniformierte Postbote François. Er stellt einerseits einen respektablen Repräsentanten des französischen Staates da, andererseits besitzt er aber auch etwas von einem Dorftrottel. Man muss sich diese Figur nun entpersonalisiert denken, als die historische Ausformung eines bestimmten Entwicklungs- und Anpassungsprozesses. Mit Hilfe eines Humors, der praktisch an Max Lindner und theoretisch an Henri Bergson anknüpft, gelingt Tati in seiner Darstellung und Inszenierung eine Mischung aus Kritik und Affirmation. Kurz gesagt geht es in dem Film mit komischen Mitteln um eine

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

durchaus ernste Angelegenheit: die Vermittlungsleistung, in der Person des Briefträgers beide Pole miteinander zu verbinden. François wird zunächst durch die Vorführung der überlegenen Postkollegen aus Amerika gekränkt, arbeitet sich aber mithilfe von mimetischen Mitteln durch die einzelnen apparatetechnischen Formen hindurch, indem er sie auf körperlicher Ebene nachahmt. Er macht in Ermangelung anderer Möglichkeiten äußerer Naturbeherrschung nun sich selbst und seinen Körper zu einer Maschine. Tati zeigt damit, dass Frankreich zwar technisch unterlegen sein mag, inszenatorisch aber auf der Höhe der Zeit ist. Damit steht Tati als Regisseur und Darsteller in einer großen Tradition der frühen Stummfilmclowns wie Chaplin oder Keaton, die noch Ganzkörperartisten waren und von der Bühne des Vaudeville- und des Varieté-Theaters kamen. Das Lachen auf Seiten der Zuschauer erleichtert diese Anpassung. Nach einer Definition von Bergson entsteht der sozialisierende Lacheffekt dort, wo sich die Erwartung des Zuschauers, auf etwas Lebendiges zu stoßen, dadurch verändert, dass stattdessen ein Mechanismus gezeigt wird.31 Indem François sich selbst zur Maschine macht, wird er für die Zuschauer zum Objekt, auf das diese ihren eigenen Anteile unbewusst projizieren können. So vermögen sie über seine Anpassungsleistung zu lachen, antizipieren aber zugleich damit ihre eigene, ohne es zu registrieren. Der Film setzt, ganz ähnlich wie später die Eames mit dem Bedingungen der Superbilder verfahren werden, einen Rahmen als Bildfluss, der die Aufmerksamkeit offiziell auf die Einzelszenen richtet, selbst aber nicht reflektiert wird. Der Film weist als allgemeine Form zudem aufgrund des sogenannten apparatefreien Aspekts seiner Darstellungsweise nur rudimentäre Spuren der Vermittlung auf; mit anderen Worten, seine Bilder sehen wie solche aus, die die Zuschauer selbst im täglichen Leben herstellen. Er arbeitet damit einer bewussten Reflexion ebenso entgegen, wie man den Witzeffekt am besten nicht erklärt, sondern mit einem weiteren Witz beantwortet.32 Mit anderen Worten, Witz und Film bilden einer bewussten Reflexion gegenüber gleichsam zwei zusammenwirkende Stoppdispositive.33 Sie wirken auf ihre Weise ähnlich wie das Verhältnis von Superbildern, Rahmen und Einzelbildern in den kybernetisch ausgerichteten Filmen der Eames.

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„Komisch sind die Haltungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers genau in dem Maße, wie uns dieser Körper an einen gewöhnlichen Mechanismus erinnert.“ (Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt u. Neuwied 1988, S. 28.) Das Lachen besitzt für Bergson den sozialisierenden Effekt einer notwendigen Anpassung. 32 Vgl. Wolfgang Bock: Das Lachen über Monsieur Hulot (Tati, Bergson). Zum Verhältnis von Witz, Humor und Erkenntnis, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Lüneburg 2003, Heft 16, S. 80-113, hier S. 80. 33 „Bewusste Reflexion“ klingt nach einer Tautologie; im Kontext von Bergson aber lässt sich auch eine unbewusste Reflexion denken.

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Tatis „Schützenfest“

Zunächst fällt auf, dass Tati, indem er François’ Reaktion zeigt, in seinem Film gleichsam die Gegenseite der amerikanischen Propagandafilme zeigt: das, was sie beim Zuschauer erreichen wollen, wird dargestellt. Allerdings ist seine Position 1947 nicht einfach zu bestimmen: Zwar sind Amerikaner und Franzosen im Krieg Alliierte, aber ökonomisch auch Konkurrenten. Anders aber als die Russen, die zuvor auch Alliierte waren, oder die Deutschen, die nun Besiegte sind, bilden die Franzosen kein vollständiges oppositionelles politisches System. Die Konfrontation erfolgt auf dem Markt und betrifft sowohl Industrie- und Konsumgüter als auch die Filmindustrie. François tritt hier nicht als antikapitalistischer Oppositioneller auf. Er kultiviert vielmehr eine Figur des affirmativen Widerstands, der körperlich und zufällig agiert und damit unterhalb einer politischen Meinungsäußerung bleibt. Er handelt auf einer gestischen Ebene gleichsam bereits unter Bedingungen der Eindimensionalität, die ihm andere Reaktionsformen aufnötigt, deren Subversivität von Affirmation nicht getrennt werden kann.34 Diese seltsame Mittlerrolle seiner Figuren behält Tati auch in seinen späteren Filmen bei. In Die Ferien des Monsieur Hulot von 1952 spielt er einen wildgewordenen Feriengast, der getreu der Bergsonschen Lachdefinition automatische Ferien macht, aber selbst unbewusst agiert. In Mein Onkel (1957) gibt es zwar eine formale Trennung der zwei Welten des Modernismus mit Haus, Fabrik, Auto auf der einen und der alten Welt mit sozialem Leben, Tatis Haus als Kinderhaus, attraktiven Frauen usw. auf der anderen; dazwischen ist eine neutrale Zone des Spiels, der Mimesis, der Hunde und Kinder angesiedelt. Aber Hulot ist auch diesmal kein politischer Revolutionär, sondern will sich gern auch anpassen; je mehr er dabei als Figur scheitert, umso einfacher fällt dem Zuschauer dieselbe Anpassung. Statt um offene Kritik an den Zuständen geht es Tati vielmehr um rhizomatische Affirmation, Übergänge und subtile Versuche einer Umwidmung. In den späteren Filmen Playtime (1967) und Trafic (1971) verschwindet dann konsequenterweise die Figur des M. Hulot selbst und gibt die letzten Reste seiner ohnehin schon dünnen Subjektivität

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In diesem Text werden zwei Begriffe von Affirmation verwendet: der frühere von Marcuse, der damit eine Form der Anpassung und Unterwerfung beschreibt, sowie derjenige von Lyotard, Deleuze oder Foucault, die versuchen, damit aus der Relation von Autorität und Anti-Autorität herauszutreten. Das Verhältnis beider Bedeutungen wird nicht explizit untersucht; vgl. zur inhaltlichen Annäherung von Poststrukturalismus und kritischer Theorie: Wolfgang Bock: Marcuse Reloaded. Subjektivität als objektiver Faktor, in: Rodrigo Duarte, Virginia Figueire-do, Imaculada Kangussu (Organizadores): Dimensão Estética. Cinquenta anos de Eros e Civilização. Belo Horizonte, Brasilien 2006.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

wie den Trenchcoat, Hut und Schirm preis. Das soll nicht drüber hinwegtäuschen, dass sowohl Hulot als auch der Briefträger François keine wirklichen persönlichen Figuren sind, sondern Personen als Masken im Sinne des antiken Theaters und damit Allegorien von abstrakten Prinzipien.

Abb. 12 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

Ein Film im Film

Im Schützenfest geht es um die Rezeption des Postfilms, um die herum der übrige Film gebaut erscheint. Wir werden später sehen, dass Tati in einer früheren Version dieses Stoffes ganz ohne einen Film im Film auskommt; Jour de Fête jedoch besteht aus den drei Elementen: einer Einleitung, dem Zeigen des Postfilms und der Reaktion François’ darauf. In der Einleitung werden die beiden Antipoden: die amerikanisierenden Schausteller und der französische Briefträger vorgestellt. Das Ganze spielt sich vor dem Hintergrund des Dorffestes ab. Die Schausteller fahren mit ihren Traktoren und Wagen auf den Dorfplatz und bauen ihre Buden und Karusselle auf; die eigentliche Attraktion aber bildet ein Zeltkino, in dem ein amerikanischer Cowboyfilm im Stile von Tom Mix gezeigt wird. Auf dem Plakat dazu steht zu lesen: „Heldenmut mit dem berühmten und tapferen Jim Parker und seinem Pferd Dixie. Der amerikanische Abenteurer und waghalsige Retter mit den Reitern des Wilden Westen“. Schausteller Roger posiert

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Abb. 13 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

dazu während einer Tonprobe mit Cowboyhosen und Westernhut. Als Repräsentanten von Amerika hält er seinen Schraubenschlüssel als Colt und flirtet zum Unwillen seiner eigenen Frau mit dem Mädchen von gegenüber. Amerikanisch sein macht sexy. Dagegen erscheint der Briefträger als ländliches Faktotum. Er lässt sich auf seinem Rad von einer Wespe verfolgen und bei seinen Touren von Haustieren, Kindern und Bauern ärgern. Zugleich entwickelt er auf seinem Fahrrad auch eine gewisse animalische Eleganz, wenn er geschickt Schweine- und Ziegenherden umkurvt. Zuweilen aber frisst auch schon einmal eine Ziege ein Telegramm oder er scherzt mit einem Leichnam, den er noch für lebendig hält. Bei dem ersten Aufeinandertreffen von Schaustellern und Briefträger auf dem Dorfplatz geben diese ihm dann bereits eine tayloristische Stunde, um seine Technik des Auf- und Absteigens auf das Rad besser einzustellen.35 Der zweite Teil des Films, in welchem der Postfilm gezeigt wird, gliedert sich wiederum in die drei Abschnitte der Vorbereitung, des Films im Film und der demütigenden Verhöhnung François’. Als das Fest beginnt, wird François zunächst in der Kneipe betrunken gemacht. Er gerät verstärkt in jenen Zustand von Rausch und Eleganz, in dem er wie wild tanzt und nebenbei mit einem Fausthieb das mechani-

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Ähnlich wie in Giovanni Guareschis Roman Don Camillo und Peppone von 1946, in dem es standardmäßig heißt: „Smilzo bremste amerikanisch.“ Darin schlägt sich auch die Realität der amerikanischen Präsenz nach dem Kriege in Italien nieder.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

sche Klavier repariert. Vom Tanz weg holt ihn ein Postkollege mit den Worten: „Ein Film für dich! Über die Post in Amerika!“ François folgt einem rosa Luftballon und landet schließlich vor dem Zelt. Zusammen mit dem Berufsgenossen lugt er durch ein Loch im Vorhang. Gespannt verfolgen sie den Wochenschaufilm über die amerikanische Post, der zu rasanten Jazzrhythmen vorgeführt wird.

Abb. 14 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

Die Heimlichkeit des Betrachtens verstärkt die Intensität der Reize: Beide Briefträger zappeln beim Zuschauen und halten es vor Aufregung kaum aus. Sie erscheinen mit ihrer körperlichen Mimesis wie die Zuschauer der ersten Filme von Auguste Lumière, die vor der einfahrenden Lokomotive davonlaufen – jeder einzelne Film enthält nach Alexander Kluges monadischer Ansicht die gesamte Filmgeschichte in sich.36 Der Film selbst trägt dick auf und verbindet artistische Auto- und Motorradstunts aus offenkundig anderen Zusammenhängen mit heldenhaften Postmännern. 36

Vgl. Alexander Kluge: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Das Drehbuch zum Film, Frankfurt am Main 1985, S. 64. „In meiner Jugend gab es in unserem Dorf einen älteren Fußballzuschauer, der seine mimetischen Kräfte ebenfalls kaum zügeln konnte. Nicht nur trat er dort schon einmal zu, wo der Akteur selbst am Ball versagte oder rief, als sei er ebenfalls einer der Spieler; der Höhepunkt wurde regelmäßig dann erreicht, wenn er, immer diesseits der Barriere, unvermittelt zum Spurt in den freien Raum ansetzte, um virtuell angespielt zu werden. Als Jugendliche pflegten wir darüber zu lachen, aber in der Rückschau und aus einer mimetischen Perspektive handelte es sich um ein große und seltene Begabung.“

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Amerika wird als ein Postland der Superlative dargestellt, das 350 Millionen Postsendungen täglich zu transportieren habe. Angesichts dieser Aufgabe ginge es um die Minimierung der Zeit und man könne sich keine veralteten Methoden der Postzustellung leisten. Daher setze man Helikopter ein: „Schnelligkeit und absolute Zuverlässigkeit sind die Forderungen der Zeit“. Das erhöhe die Anforderungen an den Einzelnen: „Jeder Briefträger muss täglich eine Stunde trainieren, wie er die Post zuteilt“. Bilder von sich aus dem Hubschrauber abseilenden Männern werden gezeigt. Dazu heißt es: „Einwandfreies technisches Gerät ist für den Spezialisten

Abb. 15 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

unerlässlich!“ Auf die Frage: „Keine Straße?“ „Zustellung aus der Luft! Der Zusteller wird selbst zur Postsendung!“ – Ein Flugzeug holt einen in einer Vorrichtung auf der Piste wartenden Postboten im Fluge ab und nimmt ihn als Fracht mit, die, unter dem Rumpf schaukelnd, langsam mit der Maschine in der Ferne verschwindet. Der Kommentar fasst dann die inhaltliche Botschaft des Films bündig zusammen: „In den USA werden Briefträger zu Akrobaten, die jede Hürde überwinden. Ihr Motto lautet: Schnelligkeit und Regelmäßigkeit gleich Leistungsfähigkeit: Time is Money. Die amerikanischen Postboten sind gern bereit, die Kenntnisse an ausländische Kollegen zu vermitteln. Verschiedene Länder, darunter Frankreich, machen Gebrauch von dem Angebot. Landet ein Postbote nun schon bald auf dem Balkon, um Rechnungen, Liebesbriefe und Todesanzeigen zu verteilen? Möglich ist alles.“ Dazu werden dann Sequenzen von Motorradstunts gezeigt, auf denen durch Feuerringe

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

Abb. 16 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

gesprungen wird. Den krönenden Abschluss bilden Aufnahmen von einer BodyBuilding-Konkurrenz von Muskelmännern in Badehose, zu der es heißt: „Aber das ist noch nicht alles. In vielen Fällen zeigt sich der Postbote als Held. Er wird trainiert, jedes Hindernis zu überwinden. Meine Damen, wie würde es Ihnen gefallen, wenn so ein Briefträger demnächst in dieser legeren Kleidung bei Ihnen klingeln würde?“ Es bleibt unklar, ob es sich tatsächlich um einen Werbefilm handelt oder ob Tati sich korrespondierendes Material für seinen Film zurechtgeschnitten hat. Wir sehen aber, dass dieser Film mit gröberen und direkteren Mitteln die gleiche Botschaft der Großartigkeit der amerikanischen Technik verbreitet, wie die späteren subtileren und auf die innere Seite der Wahrnehmungsphysiologie gerichteten Versuche der Eames. Tati zeigt im Anschluss die zunächst niederschmetternde Wirkung, die dieser Film auf den französischen Postboten hat. Nicht nur, dass er selbst ins Grübeln gerät, er wird auch noch von den anderen Zuschauern verhöhnt, die beim Verlassen des Zeltes nach diesen heroischen Bildern den Anblick ihres lokalen Postboten kaum noch ertragen können: „Dabei war der Film nicht mal neu!“ Die Schausteller Roger und Marcel sprechen, immer an ihn gewandt: „Ah, in Amerika, da bringen sie die Post schon, bevor man sie abgeschickt hat! Ich frage mich, wie sie wohl die Briefe in Hochhäusern zustellen?“, und schwärzen ihm dabei das rechte Auge, ohne dass er es bemerkte. Er grummelt nur ein: „Hubschrauber! Amerika, Amerika. Zum Teufel mit all den Hubschraubern und der Technik. Go home, Yankee“, vor sich hin, bevor er noch wackelig, aber pflichtbewusst den Rest unerledigter Briefe ausfährt, um anschließend in einem leeren Viehwagon auf dem Bahnhof die Nacht zu verbringen.

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Furor und Katharsis. Eine körperliche Umsetzung

Im letzten Teil des Schützenfestes wird dann seine tolle Anpassung und schließlich die zurücknehmende Katharsis gezeigt. Nachdem François am nächsten Morgen von höhnenden Eisenbahnern geweckt wird: „Seht mal, François im Pullmann: Das ist kein Ferry Boat. Der fährt nicht nach Amerika!“, findet er sich auf dem Dorfplatz ein.

Abb. 17 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

Die amerikanisierten Schausteller besorgen ihm auf dem Karussell eine zweite tayloristische Stunde, die nun neben Fahrradkunststücken auch neue Formen der Zustelltechnik erproben soll. Wie RAFA-Ingenieure bringen sie ihn im drehenden Karussell in Schwung, alles gerät in innere Bewegung. Danach ist er fit für die Welt: „Er kann jetzt jeden Amerikaner schlagen, ohne sich groß anzustrengen!“ Dieses Urteil seiner Instrukteure quittiert er mit dem Schlachtruf: „Es kann losgehen, ihr Amerikaner! Jetzt werde ich’s euch zeigen! Ab geht die Post!“ Musikalisch unterstrichen vom gleichen Saxophon des Films im Film ist er nun in den Modus eines modernistischen Furors geraten. Er hüpft aufs Rad, übt nochmals auf freier Strecke das Schwingen der Tasche, um dann die technischen Möglichkeiten, die im Film Flugzeuge, Helikopter und Motorräder übernehmen, auf sein Fahrrad, seinen Körper und die ländliche Umgebung zu übertragen. So radelt er statt durch Feuerreifen nun durch einen brennenden Heuhaufen, telefoniert über das Spielzeugtelefon auf seinem Rad vorgeblich mit Paris und New York und schickt damit zwei erstaunte US-Militärpolizisten mit einem „Na, ihr Amerikaner, alles ok?

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

Läuft’s?“ in den Straßengraben oder stellt einer Dame in der Kirche einer Brief zu, der er dabei in Ermangelung eines Hubschraubers den Glockenstrang in die Hand drückt, der sie auch gleich in die Luft befördert.

Abb. 18 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

Als er dann das Postbüro erreicht, hat er schon längst den gemächlichen Landbriefträger, der er einmal war, vergessen, sondern sieht sich nur noch als den Protagonisten der Geschwindigkeit und des technischen Fortschritts. Bei dem Anblick seiner trägen Kollegen ruft er aus: „Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss dir schon sagen, bei den Amerikanern zählt nur eins: Schnelligkeit (Rapidité). Die Amerikaner haben recht!“ Im Geschwindigkeitsrausch eröffnet er anschließend sein eigenes Postbüro auf der Klappe eines fahrenden Lastwagens, stellt dann auf rasche Weise Briefe zu, um schließlich am Ende einer weiteren Serie von Adaptionen im Fluss zu landen. Damit hat dann sein Rausch, in dem er zuweilen Züge eines „apokalyptischen Radfahrers“ (Max Frisch) angenommen hatte, ein Ende. Nass holt ihn eine alte Frau aus dem Wasser, er hängt sein Rad an ihren Eselkarren, während sie ihn tröstet: „Ach, lass die Amerikaner. Das heißt doch noch lange nicht, dass sie besser sind als wir. Und was die Neuigkeiten angeht, die du bringst, die kommen immer noch rechtzeitig genug an.“ Tati setzt in dieser Schlussszene eine Reihe von Zeitallegorien ein, die die Geschwindigkeit als Fehlentwicklung der zyklischen Zeit interpretieren lassen.

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Abb. 19 Jacques Tati: Das Schützenfest, 1947

Neben das Karussell als falsche Unendlichkeit tritt der Lethefluss des Vergessens. Am Ende steht damit die Rückkehr François’ in die ländliche Zeit: Er hilft bei der Heuernte, während der Junge Gaston die Mütze und Tasche überreicht bekommt und als Sinnbild der frischen Zeit nun hüpfend die paar Briefe austrägt. Der Film ist auf diese Weise zyklisch angelegt: Im Abspann tanzt wie zu Anfang der Knabe Gaston, vor ihnen, nun hinter den abmontierten grinsenden Holzpferdchen jenes Karussells her, das für Paul Scheerbart die Tiere im Tierkreis der Sterne nachahmen soll.37 Allerdings bleibt unklar, welches Motiv hier letztlich stärker wirkt: das der Zyklizität oder das des technischen Fortschritts. Denn immerhin fahren die Holzpferde abmontiert und ihrer Ordnung entledigt zum nächsten Fest.

Kap Film. Jenseits von Bewegungs- und Zeitbild

Wir haben den Film deswegen so ausführlich geschildert, weil wir hier eine Doppelperspektive vor uns haben. Nicht allein ein Film aus dem Repertoire der US-Propaganda wird hier gezeigt, sondern zugleich auch die Rezeptionsseite mitinszeniert. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche „ganzheitliche“ Perspektive – wie jede andere mit diesem Namen auch – gestellt und im täuschenden Sinne scheinhaft ist. Sie ahmt die Rezeptionsseite nur nach und inszeniert diese Nachahmung. 37

Vgl. Paul Scheerbart: Das Karussell. Baylonische Geschichte, in: Ders., Der alte Orient. Kulturnovelletten aus Assyrien, Palmyra und Babylon, Frankfurt am Main 1999, S. 60-65.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

Auf ähnliche Weise wollen auch die Eames mit ihrer kybernetischen Beschreibung eine Reaktion evozieren; aber ob diese gelingt, wissen sie nicht. Das weiß auch Tati nicht, aber er macht dazu immerhin einen interessanten Vorschlag. Der Film wurde von Mai bis September 1947 in St. Sévère-dans-L‘Indre gedreht, einem Örtchen, in dem Tati während des Krieges als Soldat stationiert war.38 Dass es um die Nachkriegszeit in Frankreich geht, lässt sich unter anderem an dem Jeep der US-Militärpolizei ablesen. Es gibt zudem einen weiteren Kurzfilm Tatis aus dieser Zeit, in dem es ein französscher Bauer mit einem auf seinem Hof einquartierten Boxer aufnimmt und diesen letztlich schlägt. Schließlich existiert mit Die Schule der Briefträger eine frühe Fassung des Schützenfestes, die noch vollständig ohne Amerikaner auskommt; das weist auf einen eigenständigen französischen Zugang zur Motivgruppe der Anpassung an die mechanische Technik hin. In der realisierten Fassung des Langfilms aber erscheint das Thema des Konfliktes zwischen amerikanischer und die französischer Kultur zentral. Es umfasst auch das Feld der Filmindustrie selbst. André Bazin und Gilles Deleuze berichten von der Adaption des Erfolgsmodells Hollywood durch französischen und italienischen Filmemacher der Nachkriegszeit. Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino Visconti, Federico Fellini, Vittorio Da Sica, aber auch Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Eric Rohmer, François Truffaut und andere übernehmen amerikanische Formen für ihre avantgardistischen Filme.39 Da aber Tati sich nicht gradlinig in die Entwicklung des französischen Kinos einordnen lässt, tritt das Motiv nicht direkt zutage. Denn nach der Analyse Gilles Deleuzes verfolgt der französische Nachkriegsfilm das Konzept des Zeit-Bildes, der Kommunikation der Bilder untereinander und in den Film hinein. Tati dagegen bleibt in Anknüpfung an die Verfolgungsjagden Mack Sennetts beim Bewegungs-Bild und der direkten Übertragung der Spannung auf den Körper.40 Anders gesagt, er fällt auf diese Weise aus einer Aufteilung in Bewegungs- und Zeitbilder heraus und beharrt auf der Mimesis als Bedingung jeder szenographischen Inszenierung, wenn man darunter die Übertragung auf die Leiber der Zuschauer versteht. In diesem Sinne knüpft auch das Jahrmarktskino und die Wochenschau,

38 Vgl.

Marc Dondey: Tati, Paris: Ramsey Cinéma, 2002. G. Deleuze: Das Zeit-Bild, a.a.O., S. 21-22. 40 Deleuze will die Filmgeschichte in zwei Hälften aufteilen, jedem Abschnitt ist ein Band seiner Kinotheorie gewidmet. Das Bewegungs-Bild, das primär Bewegung nachahmen soll, umfasst für ihn die Zeit bis zum 2. Weltkrieg, das Zeit-Bild, in dem die Kinobilder frei unter sich kommunizieren, die Zeit danach. An dieser Aufteilung sind einige Zweifel angebracht. Vielleicht findet sich bei Tati ein Hinweis auf die Adaption der Technik als Mittel des Übergangs zwischen Bewegungsbild und Zeitbild. Sie wirkt dann möglicherweise als ein Vermittlungsglied zwischen beiden Formen (vgl. dazu Wolfgang Bock: Medienpassagen, Bielefeld 2006, S. 202, Anm. 2). 39 Vgl.

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die uns im Schützenfest und gegenüber den Eames’schen Filmen so altertümlich erscheint, doch auch an die damals neuesten technischen Apparate an. Wer heute ein modernes 3D-Kino betritt, sieht sich in den gezeigten Filmen immer noch von spitzen Gegenständen oder gefährlichen Bestien bedroht. Noch immer, nach 100 Jahren Kino und dem Siegeszug des digitalen Film, handelt es sich bei der Filmform um taktile Angriffe auf die Augen des Betrachters. Man könnte mit Paul Valéry von einem Kap Film reden, indem der Film als das ästhetische Leitmedium der Epoche angesprochen ist.41 Inzwischen hat die digitale Technik bekanntlich diese Funktion übernommen, die Filme der Eames bilden auf diesem Weg einen wichtigen Zwischenschritt. Dennoch zählt die Figur des Briefträgers François zur selben Figurenfamilie wie der befrackte Conférencier und sein virtueller Kollege von Apple. Er arbeitet für die staatliche Post, jenen Nachrichtenkonzern, der in Europa in den 1990er Jahren unter dem Druck der digitalen Technik und der neuen Ökonomie seine Privilegien verliert und privatisiert wird. Als auf den Körper einwirkende Kraft aber bleibt die mimetische Wirkung des Films auch im Zeitalter des Zeitbildes erhalten.

Moderne mimetische Reaktionen

François’ akrobatische Mimesis zeigt in der Reaktion auf die US-Propagandafilme der 1940er und 50er Jahre die Zuschauer als Opfer und imaginäre neue Helden. Er verfolgt selbst ein organologisches Konzept der Übersetzung der äußerlichen in eine innerliche Technik. Tati reagiert stärker gestisch auf die Kränkung der französischen Soldaten und Uniformierten allgemein. Diese zielt als Deterritorialisierung auf ihren imaginären Körper und stellt ihn als Reterritorialisierung wieder her, indem er den Briefträger organisch die mechanische Technik überwinden lässt. Viele Interpreten wollen bei Tati eine allgemein-menschliche Motivation erkennen. So macht Marc Dondey als vorherrschendes Thema des Tati’schen Kinos „den Menschen als Kreateur und Opfer seiner technischen Phantasien aus.“42 Gegen solche Lesart spricht, dass Tati, obwohl er die Apparatetechnik vorgeblich kritisiert, nicht nur als Pantomime und Darsteller ein Meister der Körpertechnik ist, sondern auch filmtechnisch versiert mit den neuesten Möglichkeiten des Kinos umgeht und als Perfektionist gilt. So experimentiert er für das Schützenfest mit dem neuen Tomson-Color-Verfahren und lässt den Film von zwei Kamerateams drehen. Die Farbfassung ist erst vor

41 Valéry spricht bekanntlich vom weit vorgeschobenen Kap Europa, wenn er die ästhetischen Such-

bewegungen der Avantgarden beschreibt (vgl. Paul Valéry: Oevres II, Paris 1960, S. 931). Siehe auch Jacques Derrida, Das andere Kap, Frankfurt am Main 1992, S. 14. 42 M. Dondey: Tati, a.a.O., S. 43, und Brent Maddock: Die Filme von Jacques Tati, München 1984.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

kurzem wieder aufgefunden und restauriert worden.43 Darin platziert Tati auch Motive aus dem Zeichentrick, wenn er in einer anderen Fassung einen jungen Maler einführt, der in dem Film mit dem Pinsel Collagierungen vornimmt. Tati übernimmt aus dem Vaudeville die pantomimische Mimesis und kreiert mit dem Briefträger François einen Helden, der gerade die allgemeine Aufmerksamkeit auf ein besonderes Ziel richtet. Eifrig wie Donald Duck geht er an jede Arbeit heran und verrichtet sie im Rausch – sowohl unter den alten wie unter den neuen Bedingungen verlässt er sich auf sein Gespür. Dabei verfügt er über kein wirkliches Gedächtnis und fängt immer wieder von vorn an. Das Ende findet er durch Übertreibung und Schock. Bei der Heuernte gibt er zu: „Ich war durchgedreht.“ Mit diesem Motiv des Furors und des Durchgedreht-Seins aber beschreibt Tati präzise den Schleier der Technik als Rausch, in den nicht allein der Briefträger gerät, sondern 50 Jahre später auch immer noch die Sucher nach den letzten digitalen Hypes wie iPhone und Minilaptop. Diese Art von technischem Schein beschreibt Ignatio Ramonet nicht unrichtig als Medienmessianismus – eine Heilserwartung, die sich auf eine Rettung aller Probleme durch die Maschinenengel der Technik richtet.44 Und indem Tati die körperliche mimetische Reaktion seines Protagonisten darstellt, beschreibt er auch darin die auch in der Epoche des Zeit-Bildes noch aktuelle physiologische Reaktion der sogenannten Nutzer auf die Technik. Sie kombiniert Innen- und Außenwelten. Als Bedienung und Körperlichkeit bildet sie wiederum eine mimetische Orientierung als Rahmen des Designs, in dem die Gegenstände als anorganische Diener erscheinen.45 François bildet in diesem Zusammenhang also eine bestimmte allegorische Figur der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ab. Er ist das Medium zwischen Apparat und Kunde, das in diesem Fall zwischen den Ansprüchen der weiten Welt, deren Phantasmagorien die Wochenschau des Jahrmarktkinos zeigt, und der kleinen Welt der Provinz vermittelt. Die Spannung des Propagandafilms über die vermeintliche und tatsächliche Effizienz des US-Postsystems entsteht aus der Übertragung der gezeigten Bilder auf den jeweils Einzelnen. Es ist eine Wirkungsanalyse im freilich inszenierten, aber vielleicht gerade deswegen exemplarischen Einzelfall.46 43

Tatis technische Besessenheit ist keineswegs marginal. Bei der Produktion von Playtime übernimmt er sich aus Gründen der Perfektion derart, dass er sich finanziell ruiniert und sich bis zu seinem Tode davon nicht mehr erholen wird. 44 Ignacio Ramonet: Die Kommunikationsfalle, Zürich 1999, S. 85-86. 45 Immerhin steckt noch in der Bedienung der Diener. Franz Kafka gestaltet in seiner Geschichte Die Sorge des Hausvaters die Figur des Odradek als ein solches Wesen zwischen Haustier, Apparat und Engel. Vgl. Wolfgang Bock: Bild, Schrift, Cyberspace, Bielefeld 2000, S. 235-239. 46 Dass es sich bei dem Film um ein Phänomen der Massenrezeption handelt, widerspricht demnicht. Auch die digitale Technik ist Massentechnik, gibt dem jeweiligen Benutzer aber die Illusion,

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Aber Tatis Impuls erschöpft sich auch in der mimetischen Nachahmung der Technik. Man weiß nicht, was er wirklich will: Favorisiert er die alte oder die neue Ordnung? Er entzieht sich mit einem vagen Hinweis auf die Darstellung der Zeit als Kreis. Wie in Nietzsches Wiederkehr des Immergleichen verweist er am Ende des Films auf einen Zyklus – aber welchen? So hält er seinen Film in der Schwebe zwischen Kritik und Affirmation.

Utopische Technik und ihre Darstellung: Die Schule der Briefträger

Nun deutet einiges darauf hin, das in Tatis Film die Motive der Auseinandersetzung zwischen amerikanischer Technik und französischer Lebensart nur aufgesetzt sind. Damit bestätigt sich Michel Foucaults spätere Analyse, wonach es einen eigenen französischen Zugang zum Fordismus, Taylorismus und zur Technisierung gibt: Die Disziplinen, die Körpertechnik mit äußerer Apparatetechnik verbinden, sind wesentlich älter.47 Tati trägt diesem Sachverhalt in einer früheren filmischen Version

Abb. 20 Jacques Tati: Die Schule der Briefträger, 1947

mit dem Computer allein allein und im Netz anonym zu sein; auch wenn er weiß, das dies nicht der Fall ist, bleibt die Illusion dennoch dominierend. Dieses Phänomen, das Joseph Weizenbaum schon für die frühen Computer beschreibt, ist auch von anderen Medien her bekannt. Darauf macht der Jingle der Radio-Bremen-Sendung Radi-O-La die ironische Probe, in dem es heißt: „It’s true that other radios than yours receive me, but this emission is especially for you!“. Eine ältere Theorie spricht hier von Pseudo-Individualisierung. 47 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976, S. 172-296.

STRATEGIEN UND FIGUREN DER SZENOGRAFIE

des Briefträgerthemas Rechnung, die fast vollständig ohne Amerikaner auskommt. In seiner Schule der Briefträger (L’École des Facteurs) von 1946 wird zu Beginn das Training der Postboten auf Standrädern in der Post durch einen Oberst mit Fistelstimme gezeigt: „Aufsteigen, Absteigen, Brief herausnehmen, Tasche schwingen“ ruft er, während sie treten. Anschließend aber geht es von der Theorie hinaus in die Praxis und hier finden sich dann fast alle Szenen bereits abgedreht, die François in der späteren Version des Films so oder etwas anders auch abfährt: von der LKW-Postklappe, durch die Kühe und den Glockenturm bis hin zu einem Gläschen Wein in der Dorfkneipe, in der – einziges Zugeständnis an „die Amerikaner“ – Rock ’n Roll getanzt wird. Allein der Schluss des früheren Films unterscheidet sich prägnant von demjenigen des Schützenfests, indem er auf eine französische Technik verweist. Am Ende seiner Fahrradfahrt nämlich sichtet François in der Schule der Briefträger ein Flugzeug – es ist eine französische Postmaschine mit entsprechenden Hoheitszeichen am Heck. Er versucht es zu verfolgen, stürzt aber zunächst bei dem Versuch. Er kann dabei beobachten, wie ein Motorradfahrer der französischen Post dem Piloten einen Sack mit Briefen übergibt. François hat sich wieder aufgerappelt, erreicht das Rollfeld und fährt dem startenden Flugzeug hinterher.

Abb. 21 Jacques Tati: Die Schule der Briefträger, 1947

Im letzten Moment gelingt es ihm, seine eigene Posttasche am Heck zu platzieren. Deutlich baumelt sie am aufsteigenden Aeroplan in der Luft hin und her, bis sie sich in einer letzten Trickszene in das Emblem der Filmgesellschaft „Cady-Film“ verwandelt und als Signet das ganze Bild ausfüllt. Diese geträumte Schlussapotheose verweist auf zweierlei: Zunächst, dass es der amerikanischen Technik nicht bedarf. Das nationalistische Motiv erscheint

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aufgesetzt; darüber hinaus deutet es mit der Trickfilmsequenz auf den Traum von einer organischen Sphäre, die die Differenz von innerer und äußerer Technik aufzulösen in der Lage ist. Tati schließt damit an die entsprechenden Versuche von Walt Disney und Pat Sullivan an, mit Mickey Mouse und Felix the Cat Traumgestalten zu zeigen, die die Technik organisch und physiologisch transzendieren. Felix besitzt eine Zaubertasche, aus der er alle Dinge heraus und auch wieder hinein zu zaubern vermag. Diese Technikdarstellung kommt trotz des phantastischen Effekts ihrer Wirklichkeit näher. Denn sie zeigt offen, dass die Technik immer eine magische und witzige Seite besitzt, so rational sie sich auch geben will.48 Sie enthält ein metaphysisches Konzept, das allerdings auf die Form der Darstellung übergeht. Auch die Eames appellieren in ihren Filmen an die Möglichkeit eines besseren Lebens, das in den Figuren der Technik steckt. Diese Möglichkeit wäre nicht zu verschleiern, sondern zu zeigen. In diesem Sinne spricht bereits Aristoteles von Mimesis nicht als passiver Nachahmung, sondern als aktiver Konstruktion. Technik wirkt nie isoliert und für sich; sie ist als Rationalität oder Inszenierung von der Darstellung nicht zu trennen.

Abb. 22 Jacques Tati: Die Schule der Briefträger, 1947

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Vgl. Gernot Böhme: Technical Gadgetry. Technikentwicklung in der ästhetischen Ökonomie, Zeitschrift für kritische Theorie, Springer 2005, 11. Jg, Nr. 20-21, S. 52-67.

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Pamela C. Scorzin METASZENOGRAFIE. ‚THE PARADISE INSTITUTE‘ VON JANET CARDIFF & GEORGE BURES MILLER ALS INSZENATORISCHER HYPERRAUM DER POST-ÄSTHETIZISTISCHEN SZENOGRAFIE

Die Aufgabe der Szenografen ist Bilder und Räume zu zeigen, aber auch Bilder in den Köpfen auszulösen, so dass Menschen sich dem Ereignis oder der Inszenierung hingeben, die Fantasie anregen, da der wahre Media Space in den Köpfen der Betrachter stattfindet. Die besten Bilder sind die in den Köpfen des Publikums. Es ist eine Waage zu halten zwischen definieren und offen halten. Hier ist vielleicht der wirkliche Stil eines Gestalters zu finden. Johannes Milla1

Für die Konstituierung eines disziplinübergreifenden Fachgebietes ‚Szenologie‘ als zugleich grundlegenden Baustein einer neuen Designtheorie, wie Heiner Wilharm anregt, könnte vielleicht die Betrachtung und Analyse eines Schlüsselwerkes zeitgenössischer künstlerisch-gestalterischer Praxis hilfreich sein. Die ausgezeichnete MixedMedia-Installation ‚The Paradise Institute‘ von Janet Cardiff und George Bures Miller2 dient hier als ein, wenn auch nicht ganz hinreichender, so aber doch wohl ganz dienlicher, Modellfall. Insbesondere ihr exzeptioneller Status als einer Art überwältigende MetaSzenografie, d.h. ihre dem Werk inhärente Selbstthematisierung, Selbstreflexion, Selbstreferentialität und Selbstkritik, auf die ich im Folgenden noch näher und detaillierter eingehen werde, ermöglicht insgesamt gesehen erste Schritte zu einer allgemeinen Diskussion der Theorie und Praxis der Szenografie der Gegenwart.

1. ‚The Paradise Institute‘

Im Spätsommer 2001 erhielt das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff (*1957) und George Bures Miller (*1960) für seinen Länderbeitrag ‚The Paradise Institute‘ auf der Biennale in Venedig den Sonderpreis der Jury.3 Danach schien auch in der 1

Johannes Milla: Media-Spaces: Bilder im Raum contra Bilder im Kopf, in: Szenografie in Ausstellungen und Museen, hg. von Gerhard Kilger/DASA (Essen 2004), Bd. 1, S. 150-155, S. 152. 2 Siehe Homepage des Künstlerpaares im Internet unter www.cardiffmiller.com und Pamela C. Scorzin: Mit den Ohren sehen. Zu Janet Cardiff & George Bures Miller’s spektakulärem ‚Sonic Turn‘, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 80, Heft 24, 4. Quartal 2007 (18 Seiten). 3 Siehe Kat. Janet Cardiff. The Paradise Institute (Venedig: 49. Bienale di Venezia; Kanadischer

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Abb. 1 ‚The Paradise Institute‘, 2001, Mixed-Media-Installation, Videoprojektion mit Zweikanalton, 13 Minuten, Maße: 5,1 x 11,0 x 3,0 m Courtesy: the artistes

zeitgenössischen Kunstszene plötzlich alles nichts mehr wie zuvor: Der vielbeschworene ‚Iconic Turn‘, den die beiden Kunstwissenschaftler W.J.T. Mitchell und Gottfried Boehm doch erst Mitte der 90er Jahre unabhängig voneinander diesseits und jenseits des Atlantiks als ein neues entscheidendes Paradigma der Bildenden Künste innerhalb der Zweiten Moderne ausgemacht hatten, geriet nicht nur fachwissenschaftlich allmählich unter heftigen Beschuss, sondern wurde gerade auch durch eine Vielfalt neuer multi-medialer Installationen mit technisch ausgereiften und überwältigenden Soundbestandteilen mit einem Male fundamental erschüttert. Die Dominanz des Sehsinnes, des rein Visuellen und Optischen wurde von Künstlern aus allen Ländern, aus Zentren wie Peripherien der internationalen Kunstszene, auf einmal heftig kritisiert und attackiert. Die Mixed-Media-Installation ‚The Paradise Institute‘ von Cardiff und Miller ist hier nur ein herausragendes Schlüsselbeispiel dafür, wie Visualität heute eben nicht mehr nur über eine primär visuell-optische Gestaltung, also über ‚das Bild‘ schlechthin, erreicht wird, sondern durch den alternativen Einbezug der synergetischen Erfahrung aller Körpersinne, besonders aber gerade über das Hören von Geräuschen, Klängen, Tönen und Stimmen generiert wird. (Abb. 1) Durch eine besondere binaurale Aufnahme- und Wiedergabetechnik erzielen die beiden kanadischen Künstler, obgleich als Spezialisten für Sound effects reine Autodidakten, eine täuschend echte dreidimensionale Klangkulisse, einen frappierenden

Pavillon 2001) und Janet Cardiff & George Bures Miller. The Killing Machine und andere Geschichten 1995 - 2007, hg. von Ralf Beil und Bartomeu Mari, Ostfildern2007 – mit DVD. Siehe auch die Homepage der beiden Künstler unter www.cardiffmiller.com)

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Surround-Soundtrack für ihre multi-medialen Arbeiten, die den Realraum ihrer Bühnen, Environments, skulpturalen Anordnungen oder ausgewählten Situationen virtuell besetzen, transgressiv entgrenzen und illusionistisch mit akustisch-auditiven Elementen animieren. Die Besucher der 49. Biennale von Venedig näherten sich im kanadischen Ausstellungsraum zunächst einem vom Äußeren her gesehen recht kruden Gehäuse, schnöde aus unspektakulären Sperrholztafeln zusammengezimmert, an den Seiten lediglich mit kleinen Treppenaufgängen versehen. Die Aufsicht Führenden des Raumes entpuppten sich jedoch schnell auch als Türwärter und Platzanweiser: Wiesen doch die wenigen Treppenstufen die Ausstellungsbesucher unverhofft in ein altmodisch wirkendes, kleines opulentes Lichttheater hinein. (Abb. 2)

Abb. 2 ‚The Paradise Institute‘, 2001, Außenansicht, Courtesy: the artistes

Zwei prätentiös mit rotem Samt und Plüsch bezogene Sitzreihen luden unvermittelt in die perspektivisch stark verkürzte Miniaturreplik eines prachtvollen Kinoraums, dessen illusionistische Balustraden und gemütliche Sitzränge unweigerlich noch an seinen architekturgeschichtlichen Vorgänger, einen fürstlichen Theater- und Opernsaal, zurückerinnerten. Das kunstvoll ausstaffierte Interieur dieser minimalistischen Holzbox ließ somit keinen Zweifel, daß Cardiff und Miller hier explizit künstlerisch in die Tradition des barocken Illusionismus treten, nur daß die Strategien zur Täuschung und Überwältigung der Sinne ihres Publikums keine primär optischen und perspektivischen mehr sind, sondern hier nunmehr ein artifizielles Zusammenspiel räumlicher und akustischer Elemente entsteht.

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Trompe l‘oreille? Nicht daß sich das Ohr auch einfach so täuschen ließe. Aber im Gegensatz zum Sehsinn ist es für Reize um so direkter und schneller empfänglich – ‚gehöriger‘! Auch das internationale Publikum in Venedig ‚gehorchte‘ deshalb aufmerksam den nun folgenden Anweisungen der bereitstehenden Aufsicht, die nun in ihre nächste Rolle, in die Funktion einer Art Filmvorführer übergewechselt war. Man wurde sodann höflichst gebeten, die an den Sitzen bereit liegenden Stereokopfhörer aufzusetzen und doch bitte erst das Handy auszuschalten, damit die filmische Fahrt endlich beginnen könnte. Im Vorführungssaal dimmte sich sodann das Licht und auf der scheinbar weit entfernten, großen Leinwand startete nun ohne weiteren lästigen Werbevorspann ein titelloser Streifen. In diesem Moment kommt das große Spiel der Illusionen erst richtig voll in Gang, das von den beiden unsichtbaren Regisseuren Cardiff und Miller hier gleich im mehrfachen Sinne inszeniert wird. Denn die filmische Vorführung ähnelte eigentlich mehr und mehr einem schnell zusammengeschnittenen Trailer für einen Film, der sich erst im Kopf des jeweiligen Betrachters voll entwickeln sollte. Tatsächlich bildete das mit Ellipsen fragmentarisch und sequentiell wirkende wie auch mit wechselnden Erzählebenen und -perspektiven und mit Bildern in Bildern verschachtelte 13-minütige Filmmaterial ein Mixtum Compositum der hinlänglich bekannten Klischees und Motive verschiedener bekannter Filmgenres: So etwa aus den vielschichtigen und vertrackten Handlungen eines Film noir entlehnt, der seine Zuschauer lange im Dunklen tappen lässt und den Protagonisten in mysteriöse Verbrechen verstrickt, aus Suspense- und Surprise-Effekten eines Hitchcock-Thrillers oder absurd-phantastischen ScienceFiction-Plots inspiriert. Diese assoziative Montage des cineastischen Storytelling wurde zudem mit einer höchst suggestiven Collage für einen filmischen Soundtrack unterlegt, wobei sich die akustischen Ebenen des Films, des illusionistischen Kinosaals mit seiner eingespielten charakteristischen wie gewöhnlichen Klangkulisse und des physischen Realraums der Zuschauer allmählich immer stärker durch den Einsatz einer stark verräumlichten, 3-dimensionalen Akustik täuschend bis zu ihrer verwirrenden Ununterscheidbarkeit durchdringen, überlagern, simultanisieren und synchronisieren oder sich dabei auch kontrapunktisch gegeneinander verhaken und verknoten, so dass sich darin eindeutige Stellen der Mehrdeutigkeit, Instabilität und Unbestimmtheit bilden: Klingelt da zum Beispiel nicht das eigentlich kurz zuvor ausgeschaltete Mobiltelefon, während der Protagonist auf der Leinwand aus seinem fiebrigen Traumschlaf davon erwacht und suchend in den Filmsaal blickt, während im selben Moment eine nicht weiter identifizierbare Sitznachbarin hastig und aufdringlich dem Installationsbesucher direkt ins Ohr flüstert, sie könne den Anruf jetzt gerade leider nicht entgegennehmen, da sie ‚augenblicklich‘ im Kinosaal säße?! Man blickt sich überrascht und irritiert selbst vorsichtig um; glaubte man doch, diese Stimme dicht neben sich nicht eben noch im Film auf der Leinwand gehört zu haben? Und wie lautet noch

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einmal die Nummer von David Lynch?! Am Ende dieser verstörenden Filmvorführung beginnen jedenfalls Stimmen aus dem Off gemeinsam mit dem imaginären Filmpublikum im Installationsraum auf ein unsichtbares geheimes Kommando hin einen bedrohlich anschwellenden Countdown zu zählen: „[…] 268, 269, 270, […]“ Und hämmerten inzwischen da draußen außerhalb der zu Filmstart fest verschlossenen Rauminstallation nicht schon eine ganze Weile lang ungeduldig die nächsten bereits wartenden Zuschauer heftig an die Türen, um endlich Einlaß zu einem weiteren Film-Loop zu erhalten? Oder war es etwa nur unseren alten Urängsten entsprechend das Böse und Unheimliche aus dem Film, das uns jetzt in der Wirklichkeit wortwörtlich heimsuchte?! Die rätselhafte Filmvorführung endet jedenfalls unversehens sehr abrupt und entläßt das Publikum jäh in den hell erleuchteten Ausstellungsraum zurück, der nun selbst mit einem Mal recht unwirklich und künstlich erscheint! Eingetaucht in diese verschachtelte Situation hat das vermeintlich passiv anwesende Publikum in den Zuschauerrängen der Vorführung zudem sehr plötzlich seinen Status in den eines aktiven Partizipienten, eines Mitspielers und Performers eingetauscht. Wird durch die inszenierte Dramaturgie der beiden Installationskünstler mehr und mehr als ein weiterer Protagonist in die fiktiven Geschehnisse physisch und psychisch involviert, und genießt dabei, zu Beginn noch etwas verwirrt und irritiert, mehr und mehr das raffinierte Spiel aus Illusionen und davon evozierten Emotionen, aus miteinander subtil simultanisierten und synchronisierten unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen mit ihren irrig-absurden Verwechslungen. Denn wo hört das Reale auf und wo beginnt das Fiktive, wenn beide simultan oder synchron erscheinen? Was passiert, wenn das Fiktive in die Realität drängt (und nicht umgekehrt) – entsteht dann eine ‚real virtual reality‘, mächtiger, wirkungsvoller und emotional mitreißender noch als jeder virtuelle Cyberspace wie auch für die Vorstellungs- und Einbildungskraft weit aus immersiver als jene dreidimensionalen digitalen virtuellen Realitäten bsp. eines Jeffrey Shaw, zu dessen avancierten physischen Future-CinemaProjekten4 die Arbeiten von Cardiff und Miller durchaus enge konzeptuelle Ähnlichkeiten aufweisen, nur dass die beiden für die Realisation immer noch mehr auf Low Tech denn auf die Software von Rechnerwelten setzen. Was ist ferner beim Eintauchen in künstliche Welten wirklich noch real und objektiv und was lediglich spontan-subjektive Einbildung? Was ist im ‚Paradise Institute‘ nur ein geräuschvolles Zufallsphänomen und was schon eine kodierte Botschaft? Die konstruierte Fiktionalität der Medienrealität (Bild und vor allem Ton) schwappt hier in ‚The Paradise Institute‘ oder seinen kleineren Vorläufern ‚Playhouse‘ (1997) und ‚The Muriel Lake Incident‘ (1999) vehement über in den 4

Siehe Katalogbuch FUTURE CINEMA. The Cinematic Imaginary after Film, hg. von Jeffrey Shaw u. Peter Weibel (Karlsruhe/Cambridge, Mass. 2003).

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physischen und psychischen Realraum des Zuschauers, ergreift wie in etlichen paranoiden Alien-Fantasien Besitz von dessen Bewusstsein und destablisiert somit die ‚gesunden‘ Differenzierungen und Markierungen von real und imaginär, fiktiv und objektiv. Das Reale, das Mediale wie Fiktive und das Imaginäre fusionieren. Aus solchen Verknüpfungen und Verknotungen verschiedener Realitätsebenen und distinkter Wirklichkeiten entstehen aber immer erst alle subjektiven Empfindungen und Erfahrungen. Der amerikanische Architekturkritiker, Schriftsteller und Medientheoretiker Norman M. Klein5 nennt das Konzept einer derartig kondensierten, multisensorischen Wahrnehmungs- und Erfahrungssituation, wie sie uns Cardiff und Miller mit ausgesprochen elaborierten Sound effects und einem extrem hohen Immersionsgrad zu unserem Amüsement im Kunstraum anbieten, einen raffiniert ausgeklügelten ‚Scripted Space‘, der seine machtvolle Autorität und manipulativen Tendenzen, die totale Kontrollposition des Autors, mit Foucault gesprochen seine Gouvernementalität, hinter jenen Special effects, den optischen und akustischen oder anderen Täuschungen, recht heimtückisch verbirgt. D.h. um die Vorstellung der beiden Künstler gänzlich und unbeschränkt frei genießen zu können, muss der Rezipient einer Installation oder eines Walks von Cardiff und Miller zuerst einmal auch einen Großteil seiner Freiheit dafür freiwillig aufgeben, vielleicht auch etwas mehr als nur den Kontrollverlust dafür bezahlen, um nicht zu sagen, wie beim Antritt einer Geisterbahnfahrt auch seinen gesunden Menschenverstand erst einmal aufgeben, um sich Visionen, Emotionen und Illusionen vollkommen hingeben und ausliefern zu können, sich bewusst täuschen oder in eine fiktive Situation und emotional fesselnde Erzählung entführen zu lassen. So einfach funktioniert nämlich auch das große Hollywood-Kino. Im Gegensatz dazu bleibt das Spiel mit den großen Illusionen jedoch bei Cardiff und Miller immer auch doppeldeutig und gebrochen – das Gemachtsein der Konstruktion und der Struktur ihrer Installationen, das Modellhafte und Experimentelle, ihr Charakter als Montage oder Bricolage, bleiben deutlich erkennbar – ebenso wie der maßgebliche Einsatz medialer Prothesen (z.B. die Headphones) nicht versteckt oder verunklart wird. Oder die aufgebaute Illusion wieder gestört und destabilisiert wird, wie zum Beispiel durch die höchst irritierende strukturelle Entkopplung von Figuren und Stimmen, von Stimme und Körper im ‚Paradise Institute‘, wie wir sie auch aus den Filmklassikern von David Lynch kennen. Dinge, die erst einmal verwirren und verstören, die nicht sofort verstehbar und verbalisierbar sind, inkommensurabel bleiben, erzeugen aber nicht nur einen höheren Grad der Aufmerksamkeit, sondern bringen

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Siehe Norman M. Klein: The Vatican to Vegas. A History of Special Effects (New York/London 2004).

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Abb. 3 Skizze zu ‚The Paradise Institute‘, 2001, im Besitz der Künstler

auch wichtige schöpferische Eigenleistungen der Wahrnehmung, kreative kombinatorische Lösungsversuche wie auch subjektive kognitive Verständnisprozesse hervor. Dies wird zugleich als ein höchst individueller, selbsttätiger konstruktiver Prozess erfahrbar gemacht – Sinn und Bedeutung, die Interpretation des Wahrgenommenen ist etwas, das sich vollzieht und sich subjektiv im Individuum ereignet. Phantasie, Imagination, Einbildungskraft und Emotionalität sind an diesem Prozess maßgeblich beteiligt. Es geht also nicht darum, Interpretationen einfach unkritisch zu übernehmen oder alles verstehen zu wollen, sondern in der Auseinandersetzung mit dem der rationalen Erfassung Widerständigen bestimmte Erfahrungen zu machen. Was wie populäre Science-Fiction anmutet und heute noch keine noch so technisch ausgereifte ‚mixed oder augmented reality‘ vieler Fraunhofer Institute schafft, erreichen Cardiff und Miller virtuos mit raffiniertem 3D-Sound und Low Tech der Installationshardware. Reflexiv thematisieren ihre ‚Real virtual Reality‘-Konstrukte zugleich eine grundsätzlich philosophische Frage, die direkt aus der populären Kultfilm-Trilogie Matrix zitiert sein könnte: Was ist Realität? Was passiert mit unserer Wahrnehmung, wenn das Fiktive real wird und die Realität fiktiv wirkt? Wenn das physisch Abwesende durch Medien psychisch anwesend ist und real wirksam wird? Die kondensierte Mixed Reality des szenografischen Hyperraumes der künstlerischen Installation von Cardiff und Miller führt hier multisensorisch erlebbar vor und führt theatralisch mit effektvoll eingebauten Paradoxien und integrierten Anomalien auf, was aber auch als Gegenwart im Alltag bereits jedermann zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfahrbar ist, die zunehmende Überlagerung und Durchdringung realer und fiktiver, physikalischer und elektronischer Räume zu einem wirksamen

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erweiterten Kommunikationsraum. Die kommunikativen Handlungsfelder einer von der Techno-Sphäre dominierten Bio-Sphäre. Diese Erkenntnisprozesse werden bei Cardiff und Miller jedoch nicht über den Intellekt, sondern vielmehr über die Einbildungskraft und die Phantasie der Installationsbesucher initiiert, die im kunstvoll verschränkten multidimensionalen Raum eine jeweils singuläre Erlebnisformierung erfahren. Die Installationskünstler sind darin wohl stellvertretend für alle Szenografen originelle ‚Erfahrungsgestalter‘. Aus den spezifischen sinnlichen Erfahrungen, die die Besucher in der Interaktion mit der Rauminstallation ‚The Paradise Institute‘ gewinnen können, sofern sie sich auf das von den beiden Installationskünstlern angebotene Spiel hier nur freiwillig und vertrauensvoll einlassen, ergeben sich nun aber auch einige allgemeinere und systematischere Überlegungen zur Theorie der Szenografie, die sich kurz unter folgende ‚Passwörter‘ subsumieren lassen und die generellen Aufgaben von Szenografen anreißen: Shifting, Spacing, Staging, Condensing, Stimulating, Fusing, Crossing over und Delimiting.

2. Passwörter zum inszenatorischen Hyperraum

Ich beginne meine allgemeineren Überlegungen zum inszenatorischen Hyperraum zuerst mit dem Letzteren, dem Crossing over und Delimiting: Für ihren szenografischen Raum verschachteln und verschränken Cardiff und Miller verschiedenste Künste, Gattungen und Medien zu einem hybriden Wirklichkeitsraum, zu einem artifiziellen Hyperraum. Der Schau-Raum (theatron) und der Hör-Raum (auditorium) wie auch der Ritual-Raum (Ausstellung – exhibitio, Kino) werden mit einem Mal eins. Kunst, die traditionell ausgestellt wird, konvergiert hier produktiv mit Künsten, die aufgeführt werden. Raumkünste (Architektur, Installation) werden mit Zeitkünsten (Film als dem Gesamtkunstwerk schlechthin, Musik, Performance) effektvoll gekreuzt, wobei gleichzeitig auch erfahr- und erlebbar wird, dass es eindeutige Grenzen und essentielle Differenzen zwischen den einzelnen Künsten wohl nie wirklich gegeben hat und Intermedialität daher eigentlich schon immer ein Grundprinzip der Bildenden Künste in unserer Kultur gewesen ist.6

6 Vgl.

hierzu auch Martin Seel: Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik, Frankfurt am Main 2007, S. 64: „Schließlich ist das, was heute unter dem Stichwort einer ‚Entgrenzung der Künste‘ diskutiert wird, nur die Kehrseite einer nachhaltigen und seit jeher bestehenden Verschränkung, die in den entgrenzenden Operationen der modernen Kunst gleichsam beim Wort genommen und öffentlich gemacht wird. Was an diesen Operationen sichtbar wird, ist die Tatsache, dass es klare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt und nie gab. Immer schon kommen die einen in vielen anderen vor. Und diese Art dieses Ineinandervorkommens ist es, was die Identität einer Kunstart gegenüber den anderen ausmacht. Die Literatur unterhält andere Beziehungen zur Musik als beispielsweise das

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Die Hybridisierung betrifft in diesem Fall die strategische Positionierung und relationale Organisation verschiedener Realitätsebenen, die von den Autoren intentional ausgerichtete Strukturierung ihres Werkes, am gegebenen Beispiel von Cardiff und Miller die kunstvoll arrangierte Durchdringung, Überlagerung und Verknotung der verschiedenen distinkten Wirklichkeitssphären des Realen, des Medialen, des Fiktiven und des Imaginären. Jedoch nur durch die jeweils aktualisierende Gegenwart eines Publikums, durch die realisierende Präsenz eines jeweiligen Partizipienten, konkretisiert sich in dieser Konstellation auch ein wirksamer szenografischer Hyperraum. Eine wirkungsvolle Mixed Reality als Immersionsraum für die partizipierenden Teilnehmer, die umso vollkommener funktioniert, je mehr ihre Übergänge und Schnittstellen ambivalent erscheinen, dissimuliert werden oder sich gar letzten Endes vollends invisibilisieren. Die Rezipienten sind hier ein integraler Bestandteil der systemischen Gesamtszenografie. Alles und jedes noch nur so kleinste Detail ist wie in den ‚totalen‘ Installationsräumen von Ilya Kabakov 7 nur auf Wahrnehmung und Erfahrung hin strategisch ausgerichtet. Diese taktische ‚Appellstruktur‘ ist bei Cardiff und Miller überdies in der besonderen Konzentration auf den Hörsinn nochmals potenziert und wird selbstreflexiv inszeniert: die Augen vor einer Inszenierung oder Szenografie kann man schließlich leicht verschließen, die Ohren aber umso viel schwerer. Tatsächlich beginnen die Ohren nun auch zu sehen. Der hyperreale Raum der szenografischen Inszenierung wird somit als eine multisensuelle, verdichtete Situation erfahren (Condensing), in der die Rolle des Rezipienten als notwendigem Partizipienten eigentlich zum handelnden Akteur und schöpferisch selbsttätig werdenden Co-Produzenten erweitert wird. Der so adressierte Rezipient emanzipiert sich hierbei zu einem gleichberechtigten integralen Element im enthierarchisierten und entautonomisierten System des szenografischen Raums. Dieser erscheint und vollendet sich jeweils nur allein durch jeweilige Interdependenzen der Systemelemente. Er ist dabei generell von Emergenz und Kontingenz bestimmt. Vom Adressaten als dem eigentlichen Vollender des Werkes wird er daher auch jeweils als quasi wirklich erfahren. Damit wird die für unsere westlich-moderne Kultur vorherrschende Dialektik und der vermeintliche Dualismus von Sein, Wahrheit und Authentizität einerseits und Schein, Simulation und Täuschung andererseits fundamental erschüttert und subtil destabilisiert.

Theater, andere Beziehungen zum Kino als beispielsweise der Tanz, andere Beziehungen zum Bild als beispielsweise die Architektur und nur marginale Beziehungen zu räumlichen oder olfaktorischen Differenzen, die in anderen Künsten eine maßgeblichere Rolle spielen. Und so weiter für die anderen Künste.“ 7 Siehe Ilya Kabakov: Über die ‚totale‘ Installation, Ostfildern 1995.

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Im gleichen Maße verschwimmen und verschieben sich die Rollen- und Aufgabenverteilungen in diesem subtilen structangle (Byung-Chul Han8) des szenografischen Raums, was mich zu meinem nächsten Schlüssel-Passwort führt, dem Shifting. Emanzipiert sich, wie dargelegt, der Rezipient historisch weiter zum Partizipienten im Sinne eines Co-Autors und Co-Produzenten am Werk, und in der Zukunft in den Prognosen des Medientheoretikers Peter Weibel9 gar zum ‚Prosumer‘, einem mitarbeitenden Produzenten und maßgeblichen Konsumenten mit umfassendem Mitspracherecht, dann bedeutet diese Rollenerweiterung für den bisherigen Autor, den Gestalter oder Künstler, eine äquivalent veränderte Produzentenrolle. Er verliert seinen Status als autonomer, allein interpretierender Autor und anonymisiert sich vielmehr in schöpferisch-gestalterischen Netzwerkgemeinschaften. Der Szenograf von morgen wird sich mehr denn je auf temporäre Projektarbeit verstehen, die auf miteinander eng kommunizierenden Netzwerkgemeinschaften von Künstlern, Gestaltern, Wissenschaftlern, Kreativen und Konsumenten basiert, die als dynamische, von Projekt zu Projekt jeweils fluktuierende Schar wirkungsvoll operiert, dabei eine bewusst systemische und selbstorganisierende Konstellation anstrebt, die den sozialen und wissenschaftlichen Kontakt sowie die gemeinsamen fachlichen Interessen wie akademischen Ausbildungshorizonte und unterschiedlich gelagerten Kompetenzen und individuellen Fähigkeiten der Einzelnen immer wieder für gewisse Zeit strategisch nutzt, um wiederum mit anderen dynamischen Systemen der Gesellschaft, etwa dem adressierten Publikum, wirkungsvoll für ein jeweiliges temporäres Projekt zu kooperieren. Die dafür die heute mannigfaltig zur Verfügung stehenden Materialien, Formate und Methoden sowie die alten und neuen Medien gleichermaßen jeweils effizient nutzt und jeweils vorhandene Potentiale ausschöpft. Neues Network konvergiert schließlich mit klassischem Teamwork und praktiziert dabei neue multiple Autorenschaften. Bedenkt man nun all die gegenwärtig sich rasant verändernden Produktionsweisen auf künstlerischer Seite und neuen Definitionen schöpferisch-kreativer Akte bzw. kollektiver künstlerischer Autorschaften auf der anderen, auf die die aktuelle Theoriebildung sogar noch erst kritisch zu reagieren hat, so werden grundlegende Bausteine für eine Dachdisziplin Szenologie mehr denn je notwendig. Die allgegenwärtigen neuen Herausforderungen, die nicht nur erst mit einer vielgescholtenen Globalisierung daherkommen, erfordern mehr denn je eine enorme Kompetenzvielfalt für die Kreativen, die m.E. ganz entscheidend auf einer gründlichen Fach- und Methodenkompetenz und Literaturkritik als tragendem Fundament 8

Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005. Siehe Peter Weibel: „User Art _ Nutzerkunst“ in: YOU_ser. Das Jahrhundert des Konsumenten (Begleitheft zur Ausstellung in Karlsruhe: ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie 2007), S. 1-7.

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aufbaut. Insbesondere neben einer soliden historischen und methodischen Vorbildung bedeutet gerade eine geschulte visuelle respektive kulturelle Kompetenz, so schwierig greifbar der Begriff nun auch sein möge, im neuen Zeitalter des globalen Regimes der Neuen Medien und der transkulturellen Macht der Bildmedien einen neuen hohen Stellenwert. Kunst – und Designrelevantes theoretisches und breites historisches wie interkulturelles Wissen bzw. theoretisches Vorverständnis führen zu einem wissenschaftlich fundierten sicheren Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen, das die Hervorbringung von Kunst, Design und Gebrauchsgegenständen des Alltags mit einem nachhaltigeren ästhetischen Mehrwert im sozialen Teamwork nur befördern kann. Denn wir stehen heute offensichtlich in allen Lebensbereichen vor einer neuen gesellschaftlich revolutionären Synthese sowie einer Hybridisierung der unterschiedlichsten traditionellen Disziplinen, was auch die fachwissenschaftliche Arbeit tangiert, indem es den Praktiker wie Theoretiker selbst verstärkt zu einem neuen transdisziplinären und medienübergreifenden Schaffen geradezu zwingt, das er wohl am besten in der Rolle des universell gebildeten und kulturell kompetenten Generalisten souverän bewältigt, der durch seine akademische Ausbildung nicht nur fundierte Fachkenntnisse in Kunst-, Kultur- und Designgeschichte sowie Philosophie zusätzlich als theoretisches Rüstzeug mitbringt. Das spezielle Aufgabenfeld des Szenografen verlagert sich vermutlich mit den aktuellen medientechnologischen Entwicklungen selbst etwas weiter weg vom bisher visuell dominierenden Feld der (Aus-)Gestaltung des Ästhetischen hin zu einem hintergründig wirkenden, nichtsdestoweniger mitunter äußerst ‚autoritären‘ Programmierer, Provider, Content Manager und Mediator für das Ästhetische, was mich zu den nächsten Passwörtern Spacing und Staging bringt. Man könnte die oben angeführten Aufsichten und Platzanweiser im ‚Paradise Institute‘ von Cardiff und Miller in diesem Sinne auch als ihre heimlichen Stellvertreter verstehen, als ein signatorisches Kryptoporträt, denn genau diese Aufgabe und Funktion haben die beiden Künstler für die Konzeption und Realisation ihres szenografischen Raumes auch übernommen: Sie erzeugen einen Ort für subjektive Erfahrungen und unikate Erlebnisse, sie weisen darin ihrem Publikum einen Platz und eine bestimmte Rolle zu, lenken respektive bestimmen, kontrollieren, manipulieren und konditionieren ihn aus einer diskret versteckt, unbestimmt und unsichtbar gemachten Position heraus, die jedoch die Grundverantwortung für alle weiteren darin stattfindenden Interaktionen trägt. Schließlich planen und entwerfen sie die Konfigurationen, welche Partizipation und Interaktion erst später ermöglichen. Mit der Preisgabe der alleinigen Bestimmungsmacht über das Endprodukt und Ergebnis, das vom Publikum jeweils neu und vielleicht anders realisiert wird, sich in seiner vollen Variabilität und Virtualität zeigt und jeweils kurzfristig konkretisiert, verlagert sich die Kernkompetenz in die Sphäre der Planung, Konzeption und Organisation

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zurück, verabschiedet sich wieder vom Gedanken der künstlerisch-gestalterischen Meisterschaft und des schöpferischen Genies, heute des erfolgreichen Stars. Szenografen sind demnach Arrangeure, Anweiser wie Autoren im Hintergrund, im Back-Office der Szenerie. Überdies ist in der Übernahme auch von anderen Funktionsrollen wie dem Drehbuch-Schreiben, Skript-Liefern, Regie-Führen und Produzieren eines Szenarios eine weitere basale gestalterische Aufgabe ihre Funktion als Inspiratoren und Initiatoren eines szenografischen Raum als Fusionsraum. Das Fusing erscheint daher als zentrales und letztes Passwort meiner skizzenhaften Kurzliste: Durch die Überlagerung, Vermischung und Durchdringung unterschiedlicher Realitätsebenen und verschiedener Wirklichkeitssphären entsteht ein umfassender szenografischer Raum mit der Grundeigenschaft eines Fusionsraumes. Gleichsam ein Inkubations- und Initialraum für unikate Erfahrungen, intensive Erlebnisse und singuläre Ereignisse, der jeweils von der responsiven Wahrnehmung und individuellen Handlungsaktivität, von der Kognition und individuellen Kreativität seiner Rezipienten abhängig ist. Diese sind in das Geschehen eingetauchte Partizipienten (Immersing) und als interne Beobachter in das Geschehen physisch und psychisch involviert. Sie fungieren als Katalysatoren für einen Fusionsprozeß. Das Fusing-Prinzip nutzt dabei Synergie-Effekte für die Wirkungskraft der sich in Zeit und Raum entfaltenden Szenografie. Im idealen Fall trägt der virtuelle Fusionsraum die Züge eines noch unbestimmten Zwischenraumes, einer Art QuantenSzenografie, die dem inkludierten wie involvierten Beobachter erlaubt, sein Wissen, seinen Standort sowie seine individuelle Erfahrungs- und Erlebniswelt maßgeblich dabei mit ins Spiel zu bringen, darin etwas hervorzubringen und sich aktiv an einem Diskurs beteiligen zu können. Diese Quanten-Szenografie stimuliert viel mehr als dass sie bloß simulieren würde. (Stimulating) Sie bringt jeweils etwas zur (gestalthaften) Erscheinung, als daß sie selbst nur eine temporäre Erscheinung wäre – und dieser Prozeß der potentiellen Möglichkeit des Erscheinen-Lassens kann gerade in MetaSzenografien wie dem ‚Paradise Institute‘ selbst wiederum dem jeweiligen Partizipienten wahrnehmbar und erfahrbar gemacht werden. Selbstbewusst demonstrieren solche selbstreferentiellen Arbeiten der reflexiven Moderne den diffusen Übergang von einer vermeintlichen Wirklichkeitsvermittlung zu einer eigentlichen Wirklichkeitsgestaltung und -konstitution. Das Responsive, Prozessuale und temporär Konstrukthafte jeder Wahrnehmung und Kognition wird gleichzeitig mit vorgeführt. Die temporäre Konstruktivität wie auch Virtualität aller responsiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse selbst performt. Die Inklusion und Involvierung des Rezipienten zum maßgeblichen Vollender und wirkenden Zentrum des szenografischen Immersionsraums bereitet schließlich darin auch den Königsweg vor für den derzeit vielseits proklamierten ‚Prosumer‘, ein posthistorisches Mischwesen aus Konsument und Produzent. Vom Betrachter zum

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Gestalter10 hofiert, drückt sich in diesem aktuell veränderten Rollenstatus nicht nur eine völlig neue und maßgeblich erweiterte Rezipientenkultur aus, sondern auch ein historisch neuer Respekt vor der Macht des modernen Konsumenten und Kunden, der heute als kritischer, auswählender, reflektierender und individuell mitgestaltender Akteur verstanden wird, der bereits schon in seiner Antizipation wesentlich Einfluss auf die Konzeption, Gestaltung und Produktion nimmt. Mitnichten bedeutet dies aber den ‚Tod des Szenografen‘. Seine Kompetenz und Kreativität verlagert sich dafür in die noch mehr oder weniger sichtbare Strukturierung, Programmierung, Organisation und Steuerung einer effektiven Interaktionssituation, d.h. in die adressatengerichtete Konfiguration etwa eines Dispositivs, eines Setting oder einer Plattform, die eine gemeinschaftliche, demokratisierte Wissensproduktion, experimentelle Spielräume und innovative Kreativitätsprozesse befördert. Dies ist schließlich auch Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen ‚kreativen Imperativs‘ – denn Kreativität gilt heute längst nicht mehr allein als künstlerisch-gestalterischer Mythos, sondern wird vielmehr insgesamt zu einem wirtschaftlichen Imperativ und gesellschaftlichen Lifestyle der ‚unternehmerischen Wissensgesellschaft‘.11 Szenografie wäre demnach die Figuration einer neu konfigurierten communicatio.

3. Postulat für eine post-ästhetizistische Szenografie

Die Qualität dieser Szenografie zeigt sich dann nicht nur in der Effizienz ihrer ‚Appellstruktur‘ (addressability) und Benutzerfreundlichkeit (usability), sondern gerade auch darin, wie sie zur schöpferisch-mitgestaltenden Auseinandersetzung verführt, inspiriert, die Imagination und Phantasie animiert, und damit in Konkurrenz zum reinen Intellekt und rationalen Verstand letztlich ebenfalls Kognitionsprozesse aktiviert und Reflektionen ermöglicht. Diese post-ästhetizistische Szenografie sollte also daher Prozesse jeweils initiieren statt sie nur zu manifestieren, das Performative daran wie beispielsweise im ‚Paradise Institute‘ vorführen und herausstellen. Postästhetizistische Erfahrung hingegen entwickelt sich in Folge einer körperzentrierten Wahrnehmung und sinnlichen Erkenntnis sowie im Bewusstsein eines Subjekts in Folge individueller sensualer, emotionaler und rationaler Leistungen in Interaktionen und ist daher nicht mehr primär als eine Eigenschaft eines natürlichen, technisch oder künstlerisch-gestalterisch hergestellten Objekts allein zu verstehen. Design respektive Szenografie ist demnach in der Tat, wie Michael Erlhoff bereits konsta10

Siehe Michael Mangold (Hg.): Vom Betrachter zum Gestalter. Neue Medien in Museen – Strategien, Beispiel und Perspektiven für die Bildung, Baden-Baden 2007. 11 Siehe hierzu Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S. 8.

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tierte, „gegenwärtig beschreibbar als transitorische und transformatorische Kompetenz und Tätigkeit, die sich nur vordergründig in Produkten und Anschaulichkeiten artikuliert, tatsächlich jedoch soziale, ökologische, ökonomische, technische und kulturelle Ebenen zu vermitteln sucht, um daraus Konzepte, Bedingungen und auch Gegenstände zum Leben, Wirtschaften und Argumentieren zu entwickeln.“12 Elementare Aufgabe der post-ästhetizistischen Szenografie wäre demnach vorrangig, Relationen herzustellen, Regeln für die Kommunikationsbedingungen aufzustellen, Handlungsanweisungen zu geben, dabei Erfahrungen zu gestalten und Erlebnisse zu formieren – in dieser unsichtbaren Regie wie auch hinter dem Postulat der größtmöglichen Beteiligung des Publikums verbirgt sich freilich jedoch immer noch ein Rest-Potential an autoritärer Macht und gouvernementaler Kontrolle für den Szenografen, allein die Rezipienten zu manipulieren und zu konditionieren, ja zu reglementieren – insbesondere wenn die Szenografie ‚totale‘ Installationen wie zum Beispiel das ‚Paradise Institute‘ hervorbringt. Mit den erweiterten neuen Medientechnologien und dem neuen Medienverhalten in umfassend vernetzten Gesellschaften wird der Hyperraum der post-ästhetizistischen Szenografie in Zukunft wohl zu einem inszenatorisch vorstrukturierten, dennoch relativ liminalen Territorium, das von verantwortungsvollen Szenografen in der Funktion von Strategen, Arrangeuren und Mediatoren in Form gehalten wird, obgleich es seine Gestalt durch äußere Einwirkungen, Eingaben und Einflüsse permanent verändert, sich fortwährend in Interaktionen neu konkretisiert. Post-ästhetizistische Szenografie versteht sich damit als ein neues collaborative design, das zugleich das Variable und Virtuelle, das Flexible und Experimentelle, das Performative, Transformatorische, Transitorische und Ephemere sowie das Spielerische und grundsätzlich auch das Konsumistische in der zeitgenössischen Kultur akzeptiert und aufwertet. Post-ästhetizistische Szenografie mit ihren ereignis- und erlebnishaften13 Hyperräumen ist dabei als eine dezidiert diskurs- und dialogorientierte, post-mediale Gestaltungspraxis der „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ der Gegenwart zu verstehen, die an die Stelle einer objekt- und produktfixierten der alten Industriegesellschaften getreten ist.

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Siehe Artikel ‚Design‘ in: Ralf Schnell (Hg.): Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar 2000, S. 95. 13 Vgl. hierzu die Ausführung von Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, 6. Kap.: Die Aufführung als Ereignis, S. 281ff.

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Michael Wetzel ERWEITERTER RAUM. INFRAMEDIALE OSMOSEN ZWISCHEN KÜNSTLER UND BETRACHTER NACH MARCEL DUCHAMP

Der Raum, mit dem Kunst zunächst einmal umgeht, ist der Raum der Darstellung, der Darstellungsraum, der zugleich als Raum der Sichtbarkeit, als Dimension der Sichtbarkeit ins Spiel kommt: als Sehraum. Die Gabe des Sehens – als Gabe im Sinne eines Geschenks von Präsenz –, die seit der Renaissance Anlass zur Selbstermächtigungsformel eines in der Blickachse der Perspektive sich ansiedelnden Subjekts wurde, bekommt mit der kritischen, quasi-kopernikanischen Wende der Medientheorie einen neuen Sinn, eine neue ‚Richtung‘, die aus der Geschlossenheit einer subjektiven Konstitution von Sehpunkten in die Weite eines Raumes hinausverweist, der selbst in seiner Unverfügbarkeit die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens von etwas darstellt. Zufolge dieses topologischen Apriori ergäbe sich auch für den Blick, der als gegebener zwischen Sehendem und Gesehenem eine mediale Dimension der Sichtbarwerdung oder Evidenzerfahrung des Auftauchens aus dem Meer der Unsichtbarkeit einrückt, die Umkehrung der Blickrichtungen, die den Blick selbst als Objekt auftauchen lässt, als dasjenige, was dem Sehen stattgibt. Als solches hat schon Platon den Raum in seiner Besonderheit als Chora bestimmt, d.h. – übersetzt – als Platz, Stelle, Gegend, die als „triton genos“, als dritte Gattung zwischen Sein und Werden vermittelt; als Geschenk der Sichtbarkeit im Bild, als Präsent, das im Sinne Heideggers immer auch Präsens und Präsenz, aber auch das unverfügbare Ereignis – oder „Eräugnis“ – des Augen-Blicks als „im Blicken zu sich rufen“ beinhaltet.1 Mit einer solchen mediologisch genannten Auffassung des Bildes vollzieht sich also eine Wende vom passiven Objektcharakter ikonologischer Zeichensysteme hin zur Ereignishaftigkeit eines fortlaufenden und vielschichtigen Ausdrucksgeschehens. Das Bild als Medium lässt sich am besten mit dem vergleichen, was Heidegger unter dem Topos des „Zeit-Spiel-Raums“2 als aleatorisches Zugleich von Verzeitlichung und Verräumlichung der Signifikation angedacht hat und was zugleich den Appell an eine Lesbarkeit der Bilder im Sinne der Erschließung einer semantischen Tiefendimension einschließt. 1 2

Martin Heidegger: Der Satz von der Identität, Tübingen 1964, S. 24. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1965, S. 258.

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Es geht also um Bildräume, wobei allerdings der strenge Begriff des Tableaus hinsichtlich einer räumlichen und medialen Erweiterung zur plastischen Bildhauerei und zu Bildreproduktionen und -projektionen zu modifizieren ist. So wie dem Sehen als Funktion des Auges, Sehdaten zu sammeln, nicht von vornherein ein Erblicken eignet, so ist auch das Bild nicht per se mit Sichtbarkeit gleichzusetzen. Etymologisch leitet sich Sehen von der indogermanischen Wurzel sek* ab, deren eigentliche Bedeutung „folgen, verfolgen, spüren, wittern“ ist (vgl. lat. sequi): Mit Tomographie als einer durch Schnitte vermittelten Raumerfahrung haben wir es schließlich seit der Renaissance zu tun, die aber dennoch eigentlich den Raum voraussetzen muss, um Sichtbarkeit zu konstatieren.3 Das Wort Blick dagegen stammt von blic* gleich „Glanz, Lichtstrahl, Blitz“ ab, dem Moment der Erhellung oder auch Enthüllung, ganz im Sinne von Heideggers Exegese des griechischen Wortes für Wahrheit: alétheia als Unverborgenheit, die das Sehen zum Wahr-Nehmen werden lässt (vgl. französ.: re-garder). Philosophisch ist ja überhaupt die Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen der Perzeption und der Apperzeption aufschlussreich, wie die immer noch empfehlenswerte Arbeit von Albert Langen zur Rahmenschau als Anschauungsform des Rationalismus im 18. Jahrhundert eindrücklich in Erinnerung gerufen hat: Erst der Rahmen, den die Apperzeption als gewissermaßen Fokussierung des Sehens im Gesichtsfeld markiert, gewährt Anschauung (während, wie oft vergessen wird, Sehen ein passiver Vorgang der Sammlung/Scannen optischer Reize ist).4 Es geht also um die Dekonstruktion eines naiven Begriffs von Visualität zugunsten einer reflexiven Komplexität des Bildkonzeptes und in diesem Sinne um die Materialität des Bildes einschließlich nicht zuletzt der oft vergessenen Dimension des Bildträgers. Gerade im Kontext einer Mediendiskussion sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß neben den wichtigen Fragen der soft ware auch die Momente der hard ware ihr Recht bekunden. Dies gilt aber schon für das traditionelle Medium der Malerei, die lange bevor ein Maler wie Cézanne den Terminus der „réalisation“ geprägt hat und ungeachtet des Paragone zwischen pikturaler und plastischer Werkform sich immer auch als Produktion eines materiellen Bildträgers und damit der Erzeugung des Bildes als Gebilde in seiner ontologischen Eigenwertigkeit begriff. Rilke hat dies im Zusammenhang seiner Begegnung mit dem Werk Cézannes als das eigentlich „Überzeugende, die Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis ins Unzerstörbare hineingesteigerte Wirklichkeit“ des Bildes 3

In der anderen Bedeutung von „schneiden“ (lat. secare) lässt sich auch die Verbindung zur Renaissance-Bildtheorie eines Alberti herstellen, der als Erster das Bild als Schnitt durch die Sehpyramide definierte. 4 Vgl. August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Darmstadt 1968, S. 7ff.

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beschrieben.5 Aber es hat auch mit der zugrunde gelegten Formel von Arbeit im thermodynamischen Sinne der Physik des 19. Jahrhunderts zu tun, indem sich ein energetisches Potential von Sehweisen im Bild-Raum manifestiert. Dekonstruktion will dieses Potential aus der an der Oberfläche geronnenen Form wieder freisetzen und in diesem genealogischen Sinne, und zwar aus der Materialität des Bildes als Spur, die Vielzahl der Blickrichtungen und Sehweisen als Macht der Bildverräumlichung wieder spürbar werden lassen. Für den Bereich der Malerei hat Jacques Derrida seine Überlegungen ebenfalls an einer Formel Cézannes festgemacht, die sich in einem Brief an den Malerkollegen Bernard findet: „Je vous dois la vérité en peinture“, um den ganzen Polylog oder besser Widerstreit abendländischer Diskurse um eben diese Wahrheit der Malerei als Wahrheit des Malerischen und nur qua Malerei ausdrückbaren Wahrheit revue passieren zu lassen. Die Engführung dieser Problematik einer „Wahrheit in der Malerei“ bietet das gleichnamige Buch im Kapitel über die Restitutions en pointure, d.h. die Wiederherstellung der Wahrheit nach dem Maß von Schuhgrößen, das sich mit dem Streit zwischen Heidegger als Interpret eines Van-Gogh-Bildes von angeblichen Bauernschuhen und dem amerikanischen Kunsthistoriker und Van-Gogh-Kenner Meyer Shapiro beschäftigt. Schon der Argumentationsverlauf der Diskussion beider Positionen macht deutlich, dass – um es kantisch zu formulieren – rein intuitive Anschauungen nicht ohne diskursive Zusammenhänge funktionieren und daher das vom Fundamentalontologen bloß Geschaute bäuerlicher Erde unter den Sohlen der gemalten Schuhe vor dem Hintergrundwissen eines „catalogue raisonné“ über den Entstehungszusammenhang der einzelnen Bilder und Bildfassungen schnell sich auf Abwegen der Pariser Boulevards befindet, wo Van Gogh nämlich die Sohlen des von ihm gemalten Schuhpaars abgetreten haben soll.6 Derrida hat dabei schon früh Bezug genommen auf die Semiologie Charles Sanders Peirces bzw. auf dessen integrales Modell einer Dreidimensionalität kultureller Zeichenwerte: d.h. die im engeren Sinne ästhetische Seinssphäre des icon, die informative Verweisungsrelation des index und die sprachlich genauer ausdifferenzierte Struktur des symbol; eine viel zitierte Unterscheidung, die eigentlich nur verschiedene semiotische Bezüge von z.B. Bildern verdeutlicht, ohne diese etwa auf einen zu reduzieren. Die abendländischen Kulturgeschichten der Konkurrenz etwa von poesis und pictura (oder Dichter und Maler, Autor und Künstler) lassen zu schnell die ursprünglich implikative oder supplementäre Struktur eines Chiasmus von ‚stummer Dichtung‘ und ‚blinder Malerei‘

5 Vgl. Rainer Maria Rilke: Brief an Clara Rilke vom 9.10.1907, in: Briefe, Wiesbaden 1950, S. 177. 6

Jacques Derrida: Restitutionen. Von der Wahrheit nach Maß, in: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 301ff.; vgl. auch Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997, S. 140-168.

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vergessen. Schon in der antiken Legende von der Tochter des Butades als Erfinderin der Zeichnung geht es genau genommen um die Delimitation des bildlichen Darstellens in der dreifachen Bewegung des zeichnenden Stäbchens, mit dem die Umrisse des scheidenden Geliebten festgehalten werden als in der nach Außen gerichteten Berührung noch gewahrte und schon im für sich bestehenden und sprechenden Supplement verlassene objektive Referenz. Im Festhalten selbst stößt die Abtrennung an eine immanente Grenze, an der sich das Supplementieren im symbolischen Zeichen als Differenzieren restituiert, wie Derrida nicht zuletzt hinsichtlich seines eigenen Konzepts der aufschiebenden „différance“ diesen Mythos kommentiert: Im Unterschied zum gesprochenen oder geschriebenen Zeichen trennt sie sich nicht vom begehrten Körper dessen, der umreißt, oder vom unmittelbar wahrgenommenen Bild des anderen. Zweifellos ist auch das ein Bild, was da am Ende des Stäbchens sich abzeichnet; aber ein Bild, das sich selbst noch nicht ganz von dem, was es repräsentiert, getrennt hat; das von der Zeichnung Gezeichnete ist beinahe präsent, leibhaftig, in seinem Schatten, der Abstand des Schattens oder des Stäbchens ist beinahe nichts. Diejenige, die umreißt, das Stäbchen jetzt in den Händen hält, berührt beinahe, was beinahe der andere selbst ist, bis auf die winzige Differenz; diese kleine Differenz – die Sichtbarkeit, die Verräumlichung, der Tod – ist zweifellos der Ursprung des Zeichens, der Abbruch der Unmittelbarkeit; aber gerade in ihrer äußersten Reduzierung zeichnen sich die Konturen der Bedeutung ab. Man denkt dann das Zeichen von seiner Grenze her, die weder der Natur noch der Konvention zugehört.7

Diese Differenz zwischen dem Abdruck (als index-Schatten) und dem Zeichen (als icon-Gebilde) versucht eine dritte Position zur Entscheidbarkeit zu verhalten, die als Ort des Symbolischen im weiteren, über Peirce hinausgehenden Sinne auch an Benjamins berühmte Formulierung aus dem Trauerspielbuch von der zackigen Grenzlinie zwischen Physis und Bedeutung erinnert, die dort im Zeichen des Todes bzw. des Totenschädels als Emblem markiert wird bzw. die überhaupt neben der Verräumlichung der Distanz an die Zeitlichkeit von Dasein gemahnt. In dieser Hinsicht ist es lohnenswert, auch Lessings Diskussion des Konkurrenzverhältnisses von Bild und Text im Laokoon nicht als solches zu lesen, sondern aus der chiasmatischen Verschlingung der Darstellung durch räumlich nebeneinander geordnete Zeichen, also von Körperlichem durch Figuren und Farben, mit der Darstellung von linearen Verläufen durch zeitlich aufeinanderfolgende Zeichen, also von Handlungen durch artikulierte Töne in der Zeit zu verstehen. Die berühmte Formel vom „prägnanten“ also fruchtbaren „Augenblick“, der gewissermaßen im Bild einen furchtbaren Abgrund mittelbarer Mehrdeutigkeit oder Nachbildlichkeit aufreißt, gewinnt dann einen ganz anderen Sinn – durchaus auch in der Bedeutung des französischen „sens“ als Richtung: insofern nämlich durch die Erstarrung des Bildes hindurch sich der

7

Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main 1974, S. 403.

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Blick in einen anderen, erweiterten Raum des Abgebildeten als Bild und damit als Fortleben in der Zeitlichkeit der Bilderzählung öffnet Es ist aber eine andere Weise des Erzählens, die nicht mehr der Linearität der großen Erzählung folgt, sondern eher pointiert dem Modell des Tableaus folgt. Bereits Baudelaire hat mit seinen Tableaux Parisiens diesen neuen Erlebnisraum erkundet und Rilke lässt seinen Malte Laurids Brigge eine ähnliche Krise des Erzählens durchmachen, die in eine neue Kunst des Sehens mündet, eine mit anderen Worten Fähigkeit der visuellen Orientierung im unübersichtlich gewordenen Stadtraum der Moderne. Sie ist nicht mehr zentralperspektivisch organisiert, eher müsste man von einer polyperspektivischen Raumerfassung reden, aber sie ist vor allem durch ein Zerfallen in diskontinuierliche und fragmentarische Wahrnehmungssplitter gekennzeichnet, wie sie Rilke auch in seinen Neuen Gedichten (etwa am Modell des Torso im „Archaischen Apoll“) zum Ausdruck bringt und zu avantgardistischen Techniken der Montage nutzt. Die dabei konstitutive Bewegung des Entzugs von Präsenz stellt Rilke eher in die „Tradition des modernen Fragmentarismus“, die seit der Frühromantik mit der ästhetischen Aufwertung des Bruchstücks zur Allegorie des Ganzen eine neue Intensität des Kunsterlebens entdeckt, eine Intensität nicht nur des Raumes, sondern auch der Zeit als einer „zeitigenden Zeit“, deren Gegenwärtigkeit sich als Vergangenheit und Zukunft entzieht.8 Die damit ins Spiel kommende Figur einer Verflochtenheit von Erinnerung und Erwartung in dieser doppelten Intention, nämlich von – phänomenologisch gesprochen – Re- und Protention, beschreibt wiederum eine Torsion, die im Torso als „Epiphanie der Stärke im Licht“ buchstäblich in „unerhörter Verdichtung“9 zum Ausdruck kommt. Abwesenheit im Sinne einer Anwesenheit von Sichtbarkeit erweist sich vielmehr als Negativ im photographischen Sinne einer potentiellen oder virtuellen Bildermacht dank einer Inversion oder Torsion, die auch die Darstellungsräume der bildenden Kunst transformiert. Der Bildraum wird zu einem vielschichtigen semantischen Gebilde voller Verweisungen und Mehrdeutigkeiten, mit denen schon die Kubisten auf die epochale naturwissenschaftliche Überwindung des euklidschen Raummodells und die Eröffnung einer vierten Dimension reagierten. Vor allem aber Marcel Duchamp hat in seinem Werk immer wieder und in unterschiedlichsten Konfigurationen den Kampf gegen die retinalen Reize einer Ästhetik des Sichtbaren geführt, um im Konzeptuellen eines pikturalen Nominalismus der modernen Kunst 8

Vgl. Peter Horst Neumann: Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus, in: Fragment und Totalität, hg. v. L. Dällenbach u. C. L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main 1984, S. 258f.; die Argumentation zeigt Anklänge an diejenige einer chiasmatischen Umkehrung des Tropischen von Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, S. 76 (vgl. ders.: Blindness and Insight, Minneapolis 1983, S. 34). 9 P. H. Neumann: a.a.O., S. 263.

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ein neues Feld zu öffnen. Unter dem Oberbegriff des „inframince“ beschäftigte er sich mit den kaum wahrnehmbaren, mikrologischen Zwischenräumen oder -schichten innerhalb aber auch unterhalb der geläufigen Unterscheidungen. Gemeint sind damit Trennlinien, Spiegeloberflächen mit ihren Verdopplungen, Begriffsdifferenzierungen, aber auch die Konfrontation von Sehendem und Gesehenem oder Berührendem und Berührten, bei denen die jeweiligen Positionen oder Oppositionen in ihr Gegenteil umschlagen können und die Grenze oder Differenz „hauchdünn“ wird, d.h. gegen den infinitesimalen Wert einer Ununterscheidbarkeit tendiert. Der „Austausch der Blicke“ oder die „Reflexion des Spiegels – oder des Glases“, lässt den Punkt der Trennung („séparation“) auch zwischen Konkavem und Konvexem „inframince“, also winzig werden, wo das trennende und zugleich verbindende Medium im Sinne der „Transparenz“ inframedial, d.h. zugleich vermittelnd und unterscheidend wird.10 In diesem Sinne versteht Duchamp das berühmte Lächeln der Mona Lisa, das in klassischer Konnotation auch als Anzeichen der zukünftigen Schwangerschaft der jungfräulichen Madonna gedeutet wird, umgekehrt als Indiz ihrer sexuellen Erregung, die er im obszönen Lautspiel der Buchstaben L.H.O.O.Q. anspricht, und fügt ihm mit dem Schnurrbart zugleich ein männliches Zeichen hinzu, das sie zur androgynen Doppelfigur werden läßt. Inframedial wird so der Blick auf das Bild in den Abgrund einer Potentialität des Bildes als Blick aus vielfältig gebrochenen Perspektiven gestürzt, das eine Revision der Position des Betrachters fordert. Duchamp hat diese Revision in einem kleinen Vortrag von 1957 über den „kreativen Akt“ eingeleitet, in dem er das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum oder „Betrachter“ in das künstlerische Grundproblem der Verwirklichung der ursprünglichen schöpferischen Intention integriert. Die Dimension der Rezeption stellt somit den erweiterten Raum des Werkprozesses dar, an dem der Rezipient mitbeteiligt ist, und zwar durch seinen Wahrnehmungsprozess. Damit wird die kausale Kette von Autor, Werk und Rezipient ebenfalls reversibel bzw. das vermittelnde Werk zur inframedialen Instanz, in der sich der Schöpfungs- und der Wirkungsprozess berühren. Ganz im Sinne des „inframince“ als hauchdünne Trennung/Berührung beschreibt er dieses Phänomen als das einer „ästhetischen Osmose“11, d.h. eines wechselseitigen Austauschverhältnisses zwischen Produktion und Rezeption. In diesem Sinne erfährt der von Duchamp so genannte „persönliche ‚Kunst-Koeffizient‘“ als eine Art von arithmetischer Relation zwischen dem „Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten“ eine „Transsubstantiation“12, die das Kunst-

10 Vgl.

Marcel Duchamp: Notes, Paris 1999, S. 22.

11 Marcel Duchamp: Le processus créatif, in: Duchamp du signe, ed. Sanouillet, Paris 1975, S. 188. 12

Ebd., S. 189.

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werk überhaupt einem unentscheidbaren und unberechenbaren Werden überliefert. Damit kommt die zeitliche Dimension als Erweiterung des Raums ins Spiel, eine Erweiterung, die diesen als diskontinuierlichen, nicht-euklidschen Raum paradoxen topologischen Verhältnissen wie etwa dem Möbius-Band mit seiner Überwindung der Differenz von Ober- und Unterseite oder der Kleinschen Flasche als Umstülpung einer plastischen Oberfläche aussetzt und neue Potentiale eines Zeitspielraumes erschließt. Entscheidend am Konzept der Berührung ist aber, dass diese nicht statisch gedacht ist, sondern aus einer unaufhaltsamen Bewegung heraus. Der Kontakt der Osmose geschieht als kinetische Kommunikation aus einem motorischen Moment heraus, wie es für die psycho-physischen Modelle der Epoche Duchamps maßgebend war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt viel in Bewegung, buchstäblich und übertragen. Im letzteren Sinne ist es das Zeitalter der Avantgarden, die eine Umwertung der ästhetischen Werte betreiben und die festgefahrenen Strukturen der Tradition aufsprengen wollen. Aber auch ganz direkt geht es jetzt immer mehr um Bewegung in einem physikalischen Sinne, um Motion, Lokomotion, Kinetik, Kraft und folglich auch um Emotion. Was sich ändert, ist auch die Sprache der Raumempfindung. Sie wird eine technische, von Naturkräften bestimmt. Schon in der Romantik denkt man Sinnlichkeit in elektrischen Kategorien als elektromagnetischen Rapport, wie er im Mesmerismus bewusst als Heilkraft einer geladenen Gemeinschaft eingesetzt wird. Das 19. Jahrhundert ist dann das Jahrhundert der entfesselten Elektrizität, durch Drehkraft der Turbinen und Relais, der Zahnräder und Getriebe, der Frequenz. Anfang des Jahrhunderts starb der wohl berühmteste Psychopath der Romantik, der Student Nathanael aus Hoffmanns Der Sandmann mit den Worten: „Dreh dich, Holzpüppchen, dreh dich“. Er wird nicht gewusst haben, dass er damit das Motto für das Jahrhundert ausgegeben hatte, in dem es nicht nur um Rotation in aller physischen und psychischen Bedeutung ging, sondern auch um Püppchen und besonders um Maschinenfrauen und andere vergnügungsreiche Erfindungen männlicher Techné. Die technischen Fortschritte in der Analyse der Bewegung – man denke etwa an Faradays Untersuchungen des Stroboskop-Effekts – haben unmittelbare mediale Auswirkungen für die Mechanisierung von Bewegungen und Körperbewegungen, die jetzt statistisch erfassbar, reproduzierbar, speziell aber berechenbar werden. Am Ende einer langen und detailreichen Entwicklung steht dann das Medium der Zukunft: das Kino mit seiner technischen Reproduktion aber auch Simulation von Bewegung durch den Rhythmus der Drehbewegung des kinematographischen Apparates – wie schon zuvor die Reproduktion des Schalls und Tons durch die drehende Scheibe (Schallplatte, disc) des Grammophons.

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Schon zuvor hat die Faszination für die Kreisbewegung des Sich-Drehens, die die Linearität der Buchschrift kulturtechnisch ablöste, sich am Modell des Tanzes künstlerisch Bahn gebrochen. Dégas’ Bilder von Tänzerinnen sind nur ein populäres Beispiel, aber auch andere Künstler seiner Zeit wiederholen fast wie eine Litanei den Grundsatz: Alles ist Bewegung, so Rodin, der aus seiner Besessenheit dem tanzenden Körper gegenüber kein Hehl gemacht hat, aber auch Klee, für den Bewegung allem Werden auch der Bilder und ihrer Betrachtung zugrunde liegt. Das Modell macht jedoch selbst vor wissenschaftlicher Grundlagenforschung nicht Halt: Henri Poincaré beschreibt in seiner Studie zur „Methode“ das Werden neuer Ideen, d.h. den entscheidenden Prozess der Erfindung durch Bilder von durcheinander schwärmenden Elementen – „wie die Gasmoleküle in der kinetischen Gastheorie“: Nachdem aber diese Atome durch unseren Willen derart in Aufregung gebracht wurden, kehren sie nicht in ihren ursprünglichen Ruhezustand zurück; sondern sie setzen ihren Tanz eigenmächtig fort.13

Dieser Tanz der Moleküle setzt sich nun in vielen Dimensionen weiter fort und lässt die physikalischen und die physiologischen Körper in einen neuen Zustand der mechanischen Animation geraten (im kinematographischen speziell trickfilmartigen Sinne). Er liefert auch neue Modelle der Verkörperung von Gemeinschaft, die nun politisch nicht mehr am Modell des Körpers (wie Hobbes Leviathan oder Rousseaus corps social) gemessen werden, sondern eher nach Maßgabe eines zerstückelten Körpers der Massen, die wie wilde Elemente chaotisch durcheinander zu wirbeln scheinen, und doch – wie Vogelschwärme – den Regeln einer eigenwilligen Choreographie zu gehorchen scheinen. Auf der Bühne der Avantgarde entsprechen sich deformierte Massen-Tänze, individuelle Desartikulationen der Körper nach dem zeitgenössischen Leitmotiv der hysterischen „Innervation“ und die Animationen des mechanischen Balletts (Léger, Schlemmer), alles Beispiele, die, wie die einschlägigen Arbeiten Gabriele Brandstetters zu Körperbildern und Raumfiguren der Avantgarde gezeigt haben, entscheidende Auswirkungen auf die Körperentgrenzungen des neuen Tanzes (Duncan, Fuller) hatten und die in der Figur des Transformers als Modell der Metamorphose bei Duchamp ein inspirierendes Vorbild fanden.14 Er hat nicht nur die Mechanisierung der Körper als „ready mades“ beschrieben, sondern in seinem Hauptwerk Das große Glas im wahrsten Sinne des Wortes die Puppen tanzen lassen.

13 Henri

Poincaré: Wissenschaft und Methode, Leipzig 1927, S. 48.

14 Gabrielle Brandstetter: Defigurative Choreography: From Marcel Duchamp to William Forsythe,

in: TDR (The Dance Review), Cambridge MA, Winter 1998, Vol. 42, No. 4, S. 37-55; vgl. auch: TanzLektüren: Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main 1995.

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Nur sind es männliche Puppen, die um das goldene Kalb in Gestalt der Braut tanzen, die ständig Energien umwandeln (eindeutig sexuelle), ohne sie zu berühren, bzw. um den Körper der Braut nur in dieser Tranformatoren/Generatoren-Relation zu berühren. Der Schauplatz aus Glas ist ein Ort der „Indifferenz“, zwischen Bewegung und Stillstand, es geht um die Zeit als Zentralfaktor bzw. die Verwebung von Raum und Zeit in der Bewegung. Das Glas nimmt dabei die Rolle einer Visibilisierung (durch Transparent-Machen) eines in seinem flüchtigen Vorübergehen unsichtbaren Bewegungsprozesses, ein Schnitt durch den Zeitraum einer Bühne, auf der sich auf zwei Ebenen das alte Ritual des Begehrens abspielt: die im Begriffe befindliche Entblößung der Braut oben (Enthäutung, Entpuppung der Raupe (Nymphe) zum Schmetterling) als Metamorphose des Sexus, unten dagegen der abgetrennte, isolierte Tanz der männlichen Uniformen (moules malic), eine erotisch aufgeladene, aber zölibatär sterile Formation, die masturbatorische, homosexuelle Liebe macht mit den Energie transformierenden Maschinen (z.B. die Wassermühle, die wie ein Hamsterrad den ewigen Kreislauf des Begehrens verkörpert, oder die Schokoladenmühle, mit der sich die Junggesellen vieldeutig genug ihre Schokolade selber reiben können, um im ganzen Kreislauf und Leerdrehen der Mühlen nur onanistische Vergeudung/ Verspritzung von Energie zu produzieren, als Junggesellenmaschine also Liebe in Tod umwandeln – wie in anderen Beispielen von Junggesellenmaschinen von Carrouges analysiert, z.B. bei Kafka in der Strafkolonie oder der Verwandlung oder im Werk von Jarry und Roussel). Der besondere Faktor des Zeit-Räumlichen verweist nicht nur bei Duchamp, sondern auch bei anderen zeitgenössischen Kunstströmungen wie dem Futurismus auf die wichtigen Denkanstöße des französischen Philosophen Henri Bergson, der in radikaler Form die Unfähigkeit der Philosophen und Wissenschaftler angeklagt hat, die Zeit anders als Raum vorzustellen. Ihm geht es im Sinne seines Konzeptes der Intuition um eine Erfahrung der Zeit in ihrer Dauer, in ihrem Werden, ihrer intensiven Veränderung und damit um ein dem Zeitlichen oder Zeitigenden adäquates Bewegungsbild, das sich nicht nur dem Aneinanderreihen von still stehenden Einzelaufnahmen verdankt.15 Felicia McCarren hat in ihrem Buch über „Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction“ gezeigt, wie nicht nur der moderne Tanz vom Film revolutioniert wurde, sondern auch für Bergson hierin eine Herausforderung lag, der er zwar noch die Anerkennung verweigerte, da der Film mit Einzelaufnahmen operiert, aber in deren Modell einer unsichtbaren Bewegung des Films schon Kontinuität erreicht wird; denn für Bergson

15 Vgl.

vor allem Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1924.

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ist der Körper in Wirklichkeit ständig in Bewegung und gibt es eigentlich keine Form, da jede Form immobil ist und als solche immer nur den transitorischen Zustand eines Wechsels der Form erfasst. Deleuze nennt dies das Zeit-Bild, das für ihn in dem Effekt des Zwischen-Bildes zwischen zwei realen Kadern des Filmstreifen aufscheint. Für McCarren bedeutet dies, dass durch den Film zugleich eine neue Form von Zuschauerschaft erzeugt wird, die eine neue Umgangsweise mit Zeit ermöglicht: ein Anhalten, ein Verlangsamen, ein Beschleunigen, aber auch ein Umkehren, um Spannung/Suspens zu erzeugen.16 Der Kubismus nahm direkt die Anregungen Bergsons auf, um die Unbeweglichkeit des Bildes zu überwinden. Auch bei Duchamp geht es um die bildliche Inszenierung des Aktes, wie schon in „Akt eine Treppe heruntersteigend“, der als Aufnahme der Ideen der Chronophotographie gesehen werden kann. Aber die Nacheinanderfolge der einzelnen Positionen der sich bewegenden Puppe stellt nicht reale, durchschrittene Orte dar, sondern doppelt jede Geste, jede Mimik in ihrer vergangenen Passage durch mögliche andere Gesten. Insofern ist es im technischen Sinne keine Photographie, sondern photogenetische Malerei, ausgehend von der Erkenntnis, dass jede Sichtbarkeit nur die Oberfläche eine Fülle von verborgenen Möglichkeiten, Potentialen ist, es also die Aufgabe des Künstlers ist, die hauchdünne Trennungsschicht transparent zu machen. Duchamp spielt darauf auch in seinem Konzept des „infra-mince“ an, des Hauch-Dünnen, bei dem es gerade um eine verborgene Vieldeutigkeit des Möglichen geht, das wie in einer Hülle, einer Epidermis oder Chrysalide eingeschlossen ist. Es geht immer wieder um die Erweiterung des Raums in eine höhere vierte Dimension der Zeit, die gerade im „Großen Glas“ von Duchamp in der Abfolge von Übersetzungen des Punktes in die Linie, in die Fläche, in den Körper und schließlich in den Zeit-Raum durchgespielt wird. Der Umgang mit Bewegung, mit Zeit als Intensität und Aufschub klingt schon im Untertitel des Werks an: „Verspätung in Glas“. Duchamp nimmt damit auch Mallarmés Überlegungen zur Choreographie auf, die Schrift nicht als Vorschrift, als Programm der Bewegung im Sinne eines Erstarrens meint, sondern als Prozessor, als Matrix, als Chora, d.h. als Schauplatz des Stattfindens. Auch hier geht es um hauchdünne Umkehrungverhältnisse und nachträgliche Doppelungen, die Jacques Derrida in seiner Mallarmé-Studie La double séance als Struktur des Hymens beschreibt. Ausgang ist ein kleiner Text von Mallarmé, „Mimique“, in dem er die Pantomime Pierrot Mörder seiner Frau, von Paul Margueritte selbst geschrieben und allein aufgeführt, als Einrichtung einer

16

Felicia McCarren: Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction, London 2004, S. 58.

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hymenalen Unentscheidbarkeit zwischen Idee und Entscheidung beschreibt, als Einrichtung einer Mitte aus Fiktion, in der sich wie in einem durchlässigen Spiegel das Vorauseilen in die Zukunft und das Zurückkehren in die Vergangenheit wie in einer falschen Gegenwart verschränken und der Gegensatz von Wunsch und Vollendung bricht. Derrida erinnert an die Doppeldeutigkeit von Hymen als „Verzehrung des Unterschiedenen, Kontinuität und Vereinigung des Koitus, Heirat“ und als „Schutzschirm, Schmuckkästchen der Jungfräulichkeit, als vaginale Wand, als äußerst feiner und unsichtbarer Schleier“.17 Das eine spiegelt sich im anderen durch ein „infra-mince“ im Spiel des Mimen in einer Anspielung, wie Mallarmé schreibt, d.h. als Spiel im Zwischen der hauchdünnen Trennung. Das deutsche Wort Anspielung greift dabei wunderbar das hauchdünne Berühren wie durch einen leisen Hauch der vorübergleitenden Bewegung auf, die anrührt und nicht anfasst. Mallarmé greift das Bild auf in der etwas eigenwilligen aber notwendigen Formulierung eines „toucher au vers“, in dem sich Affirmation und Negation wie aufgehoben (en suspens), wie in einem Schwebezustand hält, der für ihn das Ideal des Tanzes ist: A savoir que la danseuse n’est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu’elle n’est pas une femme, mais une métaphore résument un des aspects élémentaire de notre forme, glaive, coupe fleur, etc., et qu’elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d’élans, avec une écriture corporelle ce qu’il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descriptive, pour exprimer, dans la rédaction: poème dégagé de tout appareil du scribe. […] La danse seule, du fait de ses évolutions, avec le mime me parait nécessiter un espace réel, ou la scène.18

Das „dégagé“ als Geste der Befreiung im Zwischenraum der Bewegungspassage zeigt sich in seiner Spielartigkeit auch in der Wiederholung, die keine ist, die sich im Wieder-Holen des Wiederholten zu neuer Version oder neuen Krisen des Verses entfaltet. Auch Derrida spricht hier von einem „kinematographischen Taumel“ einer Graphie des Hymens. Eine kinetische Obsession, die auch Duchamp teilte, der als erstes Ready-made einen Fahrradreifen auf einen Schemel schraubte. Das Rad und sein Spiel: Das ist die obsessive Idee der Rotation bei Duchamp: die in sich zurückkehrende Bewegung, die rekursiv aus sich ein Werden, eine neue Dimension, die 4. Dimension erzeugt/gebärt. Duchamp, der Léger gegenüber einmal die Schönheit der Propeller lobte, machte erste Experimente mit den Rotoreliefs, die, auf Plattenspieler gelegt, bei der Drehung ihre zweidimensionale Flächigkeit in eine dreidimensionale Plastizität umschlagen lassen. In dem mit Man Ray zusammen realisierten Film AnémicCinéma wird dieser Effekt mit dem kinematographischen Taumel der 17

Jacques Derrida: Die zweifache Séance, in: Dissemination, Wien 1995, S. 237. Stéphane Mallarmé: Crayonné au théatre, in: Oeuvres Complètes, Paris 1957, S. 306; vgl. auch Derrida, a.a.O., S. 271ff.

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Wörter gepaart. Es entsteht der Eindruck einer Verschlingung, des Sich-Öffnens eines Abgrundes der Zeit- und Raumschleife, der – was Wunder – vom Meister des Suspens, nämlich Alfred Hitchcock, sofort als Leitmotiv eingesetzt wurde: im Vorspann nämlich zu seinem berühmten und motivisch einschlägigen Film Vertigo.

Abb. 1 Marcel Duchamp, Das Große Glas (1915-1923) Ölfarbe, Lack, Bleifolie und Staub zwischen Glasplatten mit Stahlrahmen 277,5 x 175,8 cm

Das Konzept des „Großen Glases“ wurde dementsprechend auch choreographisch aufgegriffen, da es sich ja um eine Rauminstallation handelt und nicht um ein Bild, also etwas, das abgeschritten, umkreist, und zwar von allen Seiten und mit allem, was dahinter, darum herum ist, gesehen werden muss: Merce Cunningham nannte seine Tanzversion des „Großen Glases“: Walkaround Time (1968). Teile der Braut, die Junggesellen, die Maschinen wurden von Jasper Johns als durchsichtige Kunststoffkissen reproduziert. Die Elemente des Glases werden so nicht nur im Raum zerstreut (so wie ihr Glas splitterte), sondern auch immer wieder neu rekonfiguriert durch die sie umschreitenden, umtanzenden neun Tänzer und Tänzerinnen. Sie erscheinen wie in Aussichtkästen, wenn man sie durch das Glas sieht, sie scheinen die Gesten der Figuren im Glas (hinter Glas, im Glashaus, d.h. in der Photographie) nachzuahmen, und doch auch wieder nicht. Das Glas, die Zeit, die beiden trennen und verbinden als Berührung im Inframince. Aber gibt es überhaupt Berührung? Das Mit-Sein ist bloßer Augenblick des Zufalls, so wie bei Duchamp die auf einer nachträglichen Bearbeitung eines seiner

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frühen Bilder durch die „trois stoppages“ verbundenen Liebenden im Frühling, oder der Tanz der moules malics, die eigentlich völlig isoliert voneinander sind und wieder durch die als Maß karikierten Zufallskurven wie Marionetten synchronisiert werden: als ‚Übersetzung‘, aber nicht nur im philologischen Sinne, sondern auch im technischen: durch ein Übersetzungsgetriebe, eine raum-zeitliche Gangschaltung, die den Punkt in Linie, diese in Fläche, diese in Raum und diesen schließlich durch Rotation in Zeit – oder umgekehrt – transformiert. Verschwindend klein, jenseits der Schwelle eingeübter Wahr-Nehmung, spielt die Differenz der Wiederholung ihre Doppelszene unschuldiger Übertretung. Sie ist Fiktion, nur zu gewiß, aber ohne den Bildervorrat eines Imaginären, ist Mimesis, jedoch ohne Imitation, ist nicht zuletzt Schein, aber der eines Realen ohne die Hinterwelt eines korrigierenden Begriffs. Die „Anrufung der Grausamkeit und des Schreckens“19 in einem bis zur Obszönität erweiterten „Raum der Anschauung“ (wenn man an Duchamps letztes Werk: „Etant donné […]“ denkt, mit seiner hinter einer Holztür verborgenen Exposition des nackten weiblichen Torsos) ist die Evokation einer Authentizität, die sich in der Heiligkeit vollendeter Sündhaftigkeit erst bildet. Denn, wie das epische Supplement einer jeden „Keuschheitslegende“ weiß, gibt es immer die gewisse Spitze, die den Schleier des Hymens zerreißt, um sich zugleich in ihn einzusticken. Jungfrauen und Huren, Jünglinge und Libertins tanzen das Frühlingsopfer, das das „Heiligtum der Keuschheit“ im „Schlachtopfer der Unschuld“20 errichtet.

19

Artaud, Antonin: Das Theater und die Grausamkeit, in: Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1969, S. 91. 20 Hamann, Johann Georg: Versuch einer Sybille über die Ehe, Sämtliche Werke, Bd. III, Wien 1951, S. 202.

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Karl Stocker/Erika Thümmel DIE EXSTASE DER THEORIE. THEORETISCHE KONSTRUKTIONEN UND GESTALTERISCHE ENTSCHEIDUNGEN

1. Das Konstrukt der Intendanz Das Projekt ‚Berg der Erinnerungen‘ war ja zu Beginn in meinem Kopf ein Pyramidenprojekt – eine Pyramide, die man ein- statt ausräumt. Ein Labyrinth vollgeräumt mit privaten und offiziellen Erinnerungen von GrazerInnen an ihr Leben in dieser Stadt. Aus der Spitze hätte man, etwa so wie bei der Freiheitsstatue auf New York, auf das heutige Graz geschaut. Fand ich toll. Mein Arbeitskreis – ehrlich gesagt – nicht. Intendant Wolfgang Lorenz in: Hofgartner, Schurl, Stocker 2003, S. 7

Stocker: Im Kulturhauptstadtjahr 2003 wurden in Graz eine Reihe von Großausstellungen konzipiert und realisiert, die je nach Thema und Zugang verschiedene BesucherInnenschichten anziehen sollten. Das hier besprochene Projekt richtete sich konzeptionell in erster Linie an die BewohnerInnen von Graz und war als so genanntes Beteiligungsprojekt gedacht. Tatsächlich konstruierte und produzierte das Projekt Berg der Erinnerungen 2002/03 eine Version der Geschichte von Graz im 20. Jahrhundert, die auf zweierlei basierte: Einerseits auf einer intensiven Phase der

Abb. 1

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Produktion von zeithistorischen Quellen, indem im Büro der Erinnerungen zwischen 15. Mai und 15. Oktober 2002 insgesamt zirka 20.000 einzelne Erinnerungen (meist kurze Erzählungen) recherchiert bzw. abgegeben wurden. Andererseits begann Mitte Oktober 2002 das künstlerische Team unter der Leitung von Erika Thümmel in Kooperation mit dem wissenschaftlichen die Ausstellung „Berg der Erinnerungen“ zu konzipieren, eine Ausstellung, die verschiedene Aspekte der „kommunikativen“ Geschichte der Stadt zeigen sollte. An die 800 Erinnerungen veranschaulicht durch knapp 2.000 Exponate wurden von Wissenschaft (und auch Gestaltung) ausgewählt und im Stollensystem des Grazer Schlossbergs ‚in Szene gesetzt‘. Ziemlich genau 100.000 Menschen besuchten zwischen 21. März und 26. Oktober 2003 real die Ausstellung, über die virtuellen Zugriffe auf unsere Datenbank www.berg03.at ist bekannt, dass von Juni 2003 bis Ausstellungsende 261.888 virtuelle Zugriffe erfolgten. Als Ort der Ausstellung wurde anstelle der ursprünglich von Intendant Lorenz vorgesehenen Pyramide schließlich der Grazer Schlossberg als symbolträchtiger Ausstellungsort bestimmt.

Abb. 2 Schlossbergstiege zum Grazer Uhrturm

Thümmel: Aus gestalterischer Sicht handelt es sich hierbei um den hässlichen Rumpf eines ehemaligen Burgberges, beliebt bis 2003 vor allem, um BesucherInnen von außen ein wenig Fernsicht und Überblick über die Stadt zu gewähren. Für ihn sprach: Er befindet sich im Zentrum der Stadt. Auf einer seiner Flanken ist das wahrhaft lächerliche Wahrzeichen von Graz situiert, der Uhrturm. Und nachdem im Auftrag der 2003-Intendanz als provokative Geste der Erinnerung an die braune Vergangenheit der Stadt ein riesiger Schatten neben den Uhrturm gestellt wurde, sollte mit unserem Projekt die Bevölkerung befriedet werden.

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2. Das Konstrukt der Wissenschaft Trotz der erheblichen Unterschiede, die sich von Geschichtswerkstatt zu Geschichtswerkstatt, von Projektgruppe zu Projektgruppe feststellen lassen, gibt es einige Gemeinsamkeiten, die von den meisten Aktiven als gültig anerkannt werden dürften: 1. der kritische und reflektive gesellschaftliche Impetus der Beschäftigung mit Geschichte, 2. das regional oder lokal orientierte Vorgehen der Projekte, 3. das Überwiegen mikrohistorischer Ansätze, 4. die Auffassung von Geschichte als einer kommunikativen Wissenschaft, 5. die Einbeziehung von „Betroffenen“ in die Arbeit, 6. eine an der öffentlichen Nutzung der Arbeitsergebnisse orientierte Strategie, die Forschung und Vermittlung als voneinander und von vorneherein abhängig begreift.

Ludwig 1989, S. 11

Stocker: Zu Projektbeginn verstand unser Team von BISDATO Ausstellungs- und Museumsregie (Heimo Hofgartner, Katia Schurl; Leitung: Karl Stocker) als Erinnerungsstücke Fotografien, Dokumente und Gegenstände aller Art, die für ihre BesitzerInnen in ihrer Beziehung zur Stadt Graz von Bedeutung sind. Wir gaben dem Projekt eine inhaltliche Ausrichtung, indem wir Themen auswählten und Fragen aufwarfen. Bei diesen Fragestellungen handelte es sich einerseits um die eher klassischen Themen der Geschichtsforschung, d.h. jene Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die das Leben der Grazer Bevölkerung – ob sie es wollten oder nicht – entscheidend bestimmten. Diese Themen reichten vom 1. Weltkrieg über die ‚Klassenkämpfe‘ der 1. Republik zur NS-Zeit mit Krieg, Terror und Widerstand. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sind der Wiederaufbau und die ‚Besatzungszeit‘, die 68er-, die Frauen-, die Anti-AKW- und die Alternativbewegung zu nennen. Andererseits lässt sich vieles, was sich im Laufe der Zeit in unserem „Berg der Erinnerungen“ angesammelt hatte, unter den Begriff Alltagskultur subsumieren. Alltagskultur ist dabei zu verstehen als spezifische Gedächtnisleistung, mit deren Hilfe sich das Subsystem des lebensweltlichen kommunikativen Alltagshandelns selbst produziert und erhält, indem es die Grenze zwischen sich und seiner Umwelt aufrechterhält. Alltagskultur kann aber auch ganz banal die Besetzung profaner Arbeits- und Kommunikationsvorgänge mit Sinn und Bedeutung, mit Formen und Stilen, auch mit Genuß und Lust sein. Für die Recherche zu beiden Themenbereichen bedienten wir uns sogenannter History Scouts, 25 junge HistorikerInnen und KulturwissenschaftlerInnen, die Interviews mit ZeitzeugInnen durchführten, Materialien zu den jeweiligen Themen sammelten und für die Datenbank aufbereiteten.

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Am dritten Themenkomplex – Themen der jüngsten Zeitgeschichte – arbeiteten junge so genannte Action Scouts, die mit Hilfe audiovisueller Medien 3-minütige Reportagen produzierten. Dahinter stand die Idee, VertreterInnen dieser Generation, die gleichsam mit der Videokamera groß geworden ist, die Möglichkeit zu bieten, ihre subjektiven Erinnerungen in digitaler Form abgeben zu können. Zur Erhebung der Erinnerungen setzten wir einerseits auf die aktive Mitarbeit jener GrazerInnen, die von sich aus daran interessiert waren, dass ihre Geschichte dokumentiert und präsentiert wird. Doch obwohl das Büro der Erinnerungen medial massiv beworben wurde, war bald klar, dass wir nicht nur darauf warten konnten, dass uns die Erinnerungen gleichsam ins Büro geliefert würden. Daher sahen wir andererseits unsere Aufgabe als HistorikerInnen auch darin, von uns aus aktiv zu werden und ausgewählte Grazerinnen und Grazer in ihren Wohnungen aufzusuchen.

Abb. 3 Erinnerungsspenderinnen im Büro der Erinnerungen

Abb. 4 Am Dachboden einer Zeitzeugin

Thümmel: Um die Dinge klar auszusprechen: Unser Bekannten- und Verwandtenkreis wurde ‚geplündert‘! Die Dame auf dem Bild ist beispielsweise meine Mutter. Diese Tatsache wurde natürlich nicht besonders erwähnt, um das Konstrukt der Ausstellung als ‚Bürgerbeteiligungs-Projekt‘ aufrecht zu erhalten. Erst jetzt im Rahmen dieses Szenografie-Kongresses und im Kreis von KollegInnen schreiten wir zur Dekonstruktion. Stocker: Wir wissen, dass der Konstruktivismus auch vor denen nicht halt macht, die ihn strapazieren. Der Berg der Erinnerungen ist das Konstrukt einiger weniger AusstellungsmacherInnen, die ‚reale‘ Erinnerungen (so real man sich nur erinnern kann)

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von Menschen sammelten, Geschichten anhörten, teilweise wörtlich, teilweise referierend wiedergaben, thematisch gliederten und zu einem Konstrukt namens „100 Jahre Graz aus der Sicht seiner BewohnerInnen“ formierten. Die Tatsache, dass ein anderes Ausstellungsteam möglicherweise ein völlig anderes Bild gezeichnet hätte, ist unbestritten. Das Kollektiv, das den Berg der Erinnerungen mit Geschichten und Biografien füllt, bestand also aus einer Gedächtnisgemeinschaft. So differenziert diese in sich auch war, fühlte sie sich doch einer Sache verpflichtet: der Erinnerungskultur. Was wir nicht vergessen dürfen, muss kommuniziert werden. Im Büro der Erinnerungen hörten wir als Grund, warum so manches, an dem Erinnerungen hafteten, zu uns gebracht wurde, des Öfteren, dass die Menschen keine Nachkommen hätten und deswegen befürchteten, dass die Dinge sonst ‚verloren gingen‘.

3. Die Auswahl und die Kontextualisierung der Exponate Die Herstellung kontextueller Bezüge ist somit für die Präsentation des Objektes als einem geschichtlichen konstitutiv. Das Ausbleiben dieser Bezüge überantwortet das Objekt einer rezeptionellen Beliebigkeit in dem Maße, wie es bestenfalls an Imaginationskraft und Erfahrungswerte des Rezipienten richtet ohne objektivierendes Korrektiv im historisch abständigen und als solchen einsehbaren Zusammenhang. Eine reflektierende Distanzierung von auf bloßer Meinung gegründeten Urteilen, als quasi Übergang von der sinnlichen Anschauung zu historischer Erkenntnis, kommt damit gerade nicht in den Blick. Godau 1989, S. 200f.

Stocker: Im Sinne unserer konstruktivistischen Geschichtsauffassung war klar, dass wir im Berg der Erinnerungen nicht die Geschichte von Graz ausstellen werden. Ausgestellt werden sollte jener Ausschnitt der Geschichte von Graz im 20. Jahrhundert, der durch die persönlichen Erinnerungen der GrazerInnen konstituiert wird. Klar war von vorneherein auch, dass wir uns nicht in Geschichtsarchiven oder Museen behelfen würden, um thematische Mankos zu korrigieren oder ‚Lücken‘ in der Objekt-Akquise zu füllen. Dennoch mussten wir als HistorikerInnen mehrfach ordnend eingreifen: Erstens bei der Auswahl der Objekte bzw. Erinnerungen, die in die Ausstellung Eingang finden konnten. Von den 20.000 Einzelerinnerungen waren für die Ausstellung circa 2.000 Objekte auszuwählen. Zweitens sollte kein Exponat für sich allein stehen, denn relevant für die Geschichtskonstruktion wird es nur durch seine Kontextualisierung: erstens, indem jedes ausgestellte Exponat mit der konkreten Erinnerung der Person präsentiert wird, und zweitens durch die Einordnung in einen thematischen Zusammenhang. Unter den Menschen, die uns ihre Erinnerungen brachten, waren die Auffassungen darüber, was ‚historisch‘ oder ‚historisch bedeutend‘ sei, durchaus unterschied-

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Abb. 5 Vorbereitung für die Präsentation der Erinnerungsstücke

lich. Dennoch herrschte im Großen und Ganzen Konsens darüber, dass der 2. Weltkrieg und die Nachkriegsjahre die letzten ‚echten‘ historischen ‚Ereignisse‘ waren, an denen heute noch Lebende teilhatten. Auch wenn alle ErinnerungsspenderInnen ‚Lust an der Geschichte‘ bewiesen, scheinen die Menschen wenig Selbstbewusstsein dafür entwickelt zu haben, dass persönliche Erfahrungen für die Geschichtswissenschaften von ebenso großem Interesse sind wie ‚klassische‘ historische Quellen. Der konstruktivistische Ansatz, dem das Projekt Berg der Erinnerungen folgt und nach dem Geschichte per se gar nicht existiert, sondern nur in den Köpfen der Menschen entsteht, also ‚gemacht wird‘, scheint somit zwar leicht nachvollziehbar, aber nur

Abb. 6 Eines der unzähligen Privatphotos aus dem Bereich Freizeit

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schwer annehmbar zu sein. Interessant war weiters, dass Urkunden und Zeugnisse, Fotos oder Schulhefte, da sie Schnittstellen des Individuums zur Obrigkeit darstellen, als historische Dokumente interpretiert wurden; Objekte aus dem privaten Alltagsbereich wurden vorerst als nicht ausstellenswert beurteilt. Thümmel: Vermutlich auf Grund unserer weltanschaulichen Zuordnung und unserer spezifischen Netzwerke bildeten sich gewisse Bereiche der Grazer Geschichte sehr anschaulich ab, während andere kaum vertreten waren. Dem versuchten wir durch gezielten Einsatz der Scouts entgegenzuwirken. Bemerkenswert war auch, dass die ErinnerungsspenderInnen Bereiche wie das offizielle Kulturleben, Firmengeschichten und Politik aussparten. Zu diesen inhaltlichen Problemen gesellte sich ein fundamentales gestalterisches Problem. Als ich im September 2002, also sechs Monate vor der Eröffnung erstmals kontaktiert und zwei Monate später als Gestalterin beauftragt wurde, gab es außer eingescanntem Papier und Tonbandaufzeichnungen keine im Sinne der Gestaltung tragfähigen Exponate. Daher machte sich ab diesem Zeitpunkt das Gestaltungsteam gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Team bewusst auf die Suche nach Ausstellungsobjekten, die mit Erinnerungen verknüpft waren. Im Sinne einer anschaulichen Ausstellung lautete ab diesem Zeitpunkt die Arbeitsmaxime für Erinnerungsstücke: dreidimensional, bunt, nicht zu groß und nicht zu klein.

Abb. 7 Gesammelte Schnuller einer Punkerin

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4. Das gestalterische Konstrukt Für die Charakterisierung der dieser Kommunikation zugrunde liegenden Zeichenprozesse kann festgestellt werden, dass nicht allein die Ausstellungsobjekte und deren Kombinationen, sondern ebenso das Gebäude, die Ausstellungsräume, alle architektonischen und raumgestaltenden Einbauten, alle Präsentationsmittel, Bilder, Grafiken, AV-Medien, Texte usw. als Zeichen bzw. Träger von Bedeutungen fungieren. Entgegen einem statischen Zeichenbegriff müssen sie als aktiv Bedeutung generierend verstanden werden. Denn in den Kombinationen und Arrangements gehen sie Beziehungen ein, die nur bedingt als konventionelle Codierungen, sondern ebenso als für den speziellen Kontext konstruierte oder auf Grund aktueller, kultureller, gruppenspezifischer, politischer u.a. Bezüge definierte Codierungen verstanden werden können. Scholze 2004, S. 271

Thümmel: Im Fall dieser Ausstellung hatte ich es mit sieben Kilometer Stollen im Inneren eines mit Lehmfugen durchzogenen zerbröckelnden Berges aus Dolomitgestein zu tun. Umfangreiche geologische Gutachten und Sicherungsmaßnahmen zur Vermeidung von Felssturz waren notwendig. Das Raumklima im Berg entsprach dem von Höhlen: eine Luftfeuchtigkeit von knapp 100 Prozent, Kondensat an Vitrinen und Metallteilen. Noch fünf Monate vor dem geplanten Eröffnungstermin gab es im Großteil des Stollensystems weder Strom noch Licht, der Boden bestand aus Geröll und Felsbrocken. Gleichzeitig hatten wir Naturschutz (Fledermäuse) und denkmalpflegerische Auflagen einzuhalten, handelte es sich doch um Luftschutzstollen mit noch erkennbaren Sanitärbereichen etc. Und es mussten sehr rasch Entscheidungen getroffen werden, obwohl das gestalterische Konzept erst im Entstehen begriffen war.

Abb. 8 Das Stollensystem im Grazer Schlossberg bei der ersten Begehung

DIE EXSTASE DER THEORIE

Abb. 9 Fertig bestückte Vitrinen vor dem Einbringen in den Berg

Stocker: Während die Gestaltung ein tragfähiges Konzept suchte, ging die Objektrecherche unvermindert weiter. Die Wissenschaft bewertete den Berg als optimalen Ausstellungsraum, gibt es doch für ein Publikum kaum etwas Attraktiveres als unterirdische Stollen. Dazu kommt, dass der Schlossberg das Wahrzeichen dieser Stadt, dessen Zentrum und geografischer Bezugspunkt ist. Weiters fanden in seinem zum Großteil während des 2. Weltkrieges durch Zwangsarbeiter errichteten komplexen System von Stollen bis zu 50.000 Menschen Zuflucht während der Bombenangriffe. Daher verknüpfen viele GrazerInnen mit diesem Berg noch heute sehr persönliche Erinnerungen an diese Zeit. Manche Bereiche dieses Stollensystems wurden im Rahmen dieser Ausstellung erstmals seit 58 Jahren wieder zugänglich gemacht. Abb. 10 zeigt einen Teddy-Bären, der während des 2. Weltkriegs mit seiner Besitzerin, einer damals sehr jungen Grazerin, oft im Stollen war, 2003 kehrte er als Ausstellungsexponat wieder dorthin zurück.

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5. Die Präsentationsstrategien Ausstellen heißt für mich demnach inszenieren, unabhängig davon, ob es sich um eine Auftragsarbeit oder ein freies eigeninitiiertes Projekt handelt. Für mich war und bleibt es die größte Herausforderung, das nicht Ausstellbare erlebbar zu machen. Wir kann man das narrative Potential von Objekten, Biografien und Schicksalen an ein ungeduldiges, bildungsgesättigtes, unterhaltungsorientiertes Publikum vermitteln. Wie kann man abstrakte, komplizierte oder vermeintlich unattraktive Inhalte gustierbar machen, wie dafür begeistern. Die dafür zu entwickelnde Ästhetik kann nicht nur gestaltungsorientiert, sondern muss auch wirkungsorientiert sein – eine Ästhetik, die sich der Mittel der Kunst bedient im Spannungsfeld von Rezipient, Inhalt und Raum – oder wie Anish Kapoor sagt: ‚In order to make new art, you have to make new space.‘ Brückner 2006, S. 119

Thümmel: Gestalterisch wurden die authentischen Erinnerungsstücke als Kristallisationspunkte der Erinnerungen verstanden. Als Auslöser einer gedanklichen Assoziationskette schwebten sie frei im Zentrum der kristallinen Formen euklidscher Körper. Diese aus technischen Gründen in Plexiglas ausgeführten Kuben, Tetraeder und Oktaeder standen folgerichtig nicht auf statischen Podesten, sondern waren an gebogenen Eisenarmen frei vor den felsigen Wänden der Stollen befestigt. Durch die in den Vitrinen befindlichen kleinen Punktstrahler erstrahlten die Objekte quasi im Eigenlicht und wurden die sehr alltäglichen Gegenstände stark auratisiert. Da nach Ende der Ausstellung circa die Hälfte der Erinnerungsspender ihr Objekt in der

Abb. 10 Ein Teddybär, der 1942 während der Luftangriffe einem Kind im Stollensystem Trost spendete, kehrte 2003 als Ausstellungsstück in den Stollen zurück

DIE EXSTASE DER THEORIE

Vitrine schwebend zurückgestellt bekommen wollten, wurde die Ausstellung Berg der Erinnerungen ihrerseits wieder zu einem Erinnerungsstück der Grazer Bevölkerung. In der Praxis der gestalterischen Ideenfindung waren erst die Bilder da, wie etwas aussehen könnte, und erst in einem zweiten Schritt wurden diese Bilder dahingehend überprüft und mit dem wissenschaftlichen Team diskutiert, ob sie auch theoretisch argumentierbar wären und somit der Geschichtskonstruktion entsprechen. Stellte sich heraus, dass das Bild inhaltlich nicht stimmt, so wurde die gestalterische Idee verworfen. In diesem Fall wurde die Idee der Kristallisationspunkte der Erinnerungen als passende gestalterische Metapher empfunden und somit umgesetzt.

Abb. 11 Schwebende Objekte als Kristallisationspunkte der Erinnerung

Abb. 12 Durch Inszenierung auratisiertes Kuscheltier

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Abb. 13 Euklidische Körper verdichtet zu Erinnerungsclustern

6. Das In-Szene-Setzen Erst die Umgrenzung eines Denk- und Aktionsvolumens bewirkt einen reaktionsfähigen Raum. Durch die physische Präsenz der umgebenden Oberflächen definiert sich das bespielbare Volumen. Wand, Boden und Decke bilden durch ihr Material und ihre Oberflächen Orte mit großem Einfluss auf das Milieu, in dem die Inszenierungen stattfinden sollen; oder um mit Peter Zumthor zu sprechen: ‚The language of material itself is more important than its form‘. Brückner 2006, S. 113

Thümmel: Das labyrinthische Stollensystem im Inneren des Berges diente uns als Metapher für die verschlungenen Pfade des Gedächtnisses. Die BesucherInnen konnten sich – wie durch die Windungen des Gehirns – in jeder Richtung frei bewegen, um Bekanntem, fast Vergessenem und vielleicht Verdrängtem wieder zu begegnen, aber auch Seiten ihrer Stadt kennen zu lernen, die räumlich zwar nahe, aber doch vielleicht wenig vertraut sind. Die Wege, auf denen die BesucherInnen durch die Ausstellung wanderten, folgten somit eher den Pfaden der spontanen Assoziation, als denen einer rigiden Chronologie. Assoziativ nahe Erinnerungen wurden in so genannten „Erinnerungsclustern“, d.h. wolkenartigen Verdichtungen zusammengefasst. Inhaltlich platzierten wir die eher ‚unproblematischen‘ Themen wie Freizeit, Sport, Alltag, etc. in die Nähe des Eingangsbereichs, ‚belastete‘ Themen wie die NS-Vergangenheit füllten zwar einen großen Bereich aus (Graz war ja auch Hitlers „Stadt der Volkserhebung“), waren aber im tiefen Inneren des Berges situiert.

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Abb. 14 Labyrinthisches Wegenetz durch das verschlungene Stollensystem

Das Nicht-ganz-Konsumieren-Können der Ausstellung wegen ihrer Größe und das Gefühl, sich in diesem Labyrinth zu verirren, wurden als gestalterische Mittel eingesetzt. Der inneren Logik des Konzepts folgend, war der Eingangsstollen auch der Ausgangsstollen, das heißt die BesucherInnen verließen den Gedächtnisraum wieder an der Stelle, an der sie ihn betreten hatten, um wieder zurück in die Gegenwart einzutauchen.

7. Neukontextualisierung Museen leisten eine Neukontextualisierung, indem sie die objektbedingte unmittelbare Erfahrung um mittelbare Erkenntnisse erweitern. Dabei integrieren sie die archivierten Sachzeugnisse in sinnvolle, erkenntnisbringende Zusammenhänge. Museen konstruieren vermittelnde Bezugsrahmen, in denen sie ordnen und zuordnen. Drescher 1999, S. 50

Stocker: Die Themen der Ausstellung gruppierten sich um mit Graz verbundene persönliche Erfahrungen und Erinnerungen. Die Überschriften, welche auf den thematischen Schwerpunkt eines Abschnittes hinwiesen, wurden ausschließlich den Interviews mit den ErinnerungsspenderInnen entnommen. Auf einer Metaebene kommentierten wir als KulturwissenschaftlerInnen: Auf die einzelnen Themen bezogen sich ausgewählte Zitate aus Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaften,

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aber auch ein Liedtext von Abba; diese abstrahierten die subjektiven Erinnerungen und kommentierten sie zurückhaltend, ohne den einzelnen ErinnerungsspenderInnen nahe zu treten. Die einzelnen Themenbereichen wurden mit so genannten Zeitleisten versehen, die den BesucherInnen eine Rückkoppelung der biografischen mit der chronologischen Dimension der Geschichte ermöglichen sollte

8. Die Macht der Behörden Veranstaltungen dürfen nur in/auf Betriebsstätten abgehalten werden, die für Veranstaltungen geeignet und genehmigt sind. Die bescheidmäßige Genehmigung ortsfester Betriebsstätten wird nach einer Verhandlung, bei der alle von möglichem Veranstaltungslärm betroffenen Anrainer Parteien sind, unter Vorschreibung der notwendigen Auflagen und Bedingungen erteilt. Steiermärkisches Veranstaltungsgesetz 1969

Thümmel: Da es uns ein Anliegen war, den Charakter des Erinnerungsraumes ‚Stollensystem‘ als ein kulturhistorisches Denkmal möglichst unverfälscht zu erhalten, wurden alle Einbauten und Sicherungsmaßnahmen auf das absolut Notwendige beschränkt und auf jegliche Restaurierung oder Renovierung des Stollensystems verzichtet; abgestürzte Felsblöcke blieben liegen, gelöste Fliesen im Lazarettbereich wurden nicht entsorgt und die verrosteten Leitungen belassen. Dem Ausgleich von

Abb. 15 Raumtafel

DIE EXSTASE DER THEORIE

Bodenunebenheiten, aber auch dem Markieren der gesicherten Bereiche des Stollensystems diente ein gewundenes Netz von Wegen, durch welches die unterschiedlichen Bereiche dieses Gedächtnisraumes farblich unterscheidbar gemacht wurde. Dieses wurde damit gleichzeitig zu einem unauffälligen Leit- und Orientierungssystem. Bei einer mit öffentlichen Steuergeldern finanzierten Großausstellung müssen

Abb. 16 Zeitleiste

aber natürlich alle Sicherheits- und Brandschutzauflagen akribisch eingehalten werden. Auf Grund der wenigen und weiten Fluchtwege aus dem Berg wurde die Zahl gleichzeitig anwesender Besucher auf 220 Personen limitiert. Brandschutzabschnitte mit aufwändigen an den Fels angebundenen Glastüren mussten eingebaut werden, Notbeleuchtung, Zuluftsysteme und martialisch aussehende Feuerwehrmänner in der Ausstellung mussten in Kauf genommen werden. Im Sinne der Barrierefreiheit wurden Rampen errichtet, Steigungen von bis zu 12 Prozent waren aber nicht zu verhindern.

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Abb. 17 Historisches Filmmaterial aus privaten Beständen auf Leinwände projeziert

Stocker: Wir HistorikerInnen interpretierten diese aufwändigen Maßnahmen teilweise als überdimensioniert. Wir beobachteten misstrauisch die beauftragten Geologen, deren Tätigkeit darin bestand, mit Hilfe eines simplen Stocks festzustellen, wo im Stollen Sicherungen anzubringen wären. Das Wissen, dass sich dieses Eruieren von gefährlichen Stellen direkt proportional auf das Honorar der Geologen auswirkte, schürte naturgemäß unser Misstrauen in die wissenschaftliche Objektivität dieser Berufsgruppe.

8. Der Einsatz von Medien Bei sinnvollem Einsatz bieten die interaktiven Medien gegenüber allen klassischen Medien wie Bild/Text, Tafeln, Video und Audio die Möglichkeit eines Dialogs mit den Ausstellungsinhalten, Objekten und Artefakten. Durch die Interaktion mit den Inhalten erfahren die Besucher scheinbar selbst bestimmt die zu vermittelnden Inhalte. Peichl 2006, S. 188

Stocker: Im Sinne einer klaren Differenzierung der Medien wurde das vorhandene historische Filmmaterial auf Leinwände projiziert und die Videos der Grazer Bevölkerung sowie die von den ‚action scouts‘ neu gefertigten Videos auf Bildschirmen gezeigt. Zusätzlich bestand die Möglichkeit, zu einzelnen Erinnerungsstücken

DIE EXSTASE DER THEORIE

gehörige Audiofiles über Kopfhörer abzurufen. Vielen GrazerInnen wohlvertraute Musikbeispiele aus der hiesigen Lokalszene konnten als Hintergrundmusik wieder erkannt werden.

Abb. 18 Blick in den Themencluster Freizeit

Schließlich wurden noch die britischen VJs von Coldcut+Headspace eingeladen, sich mit der Geschichte von Graz künstlerisch auseinanderzusetzen: Die von den VJs ausgewählten Tondokumente, Filme, Videos und Fotos wurden in einer interaktiven Installation (GRIDIO) angesteuert und konnten vom Publikum aktiviert werden, indem durch Betreten der in die Bodenplatten eingelassen Sensoren die jeweiligen Projektionen ausgelöst werden. Durch diesen Re-Mix von Geschichte entstanden für die BesucherInnen völlig neue inhaltliche und ästhetische Zusammenhänge und Gegenüberstellungen, die eindrucksvoll die Relativität von Geschichtsdarstellungen zeigten. Thümmel: So spannend das Ansteuern der Projektionen durch Tanzen und Springen auf den Touchpads einer umzäunten Plattform sowohl in inhaltlicher wie auch in gestalterischer Hinsicht war – technisch hatten wir mit großen Herausforderungen zu kämpfen. Räumlich kam nur ein größerer Felsstollen in Betracht, dieser wies aber besonders gefährdete Zonen auf, so dass aus Sicherheitsgründen in den ohnehin nicht sehr hohen Stollen noch ein stabiles Schutzdach eingebracht werden musste,

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Abb. 19 Remixing of history durch Interaktion mit den BesucherInnen

was zu einer etwas drückenden Raumwahrnehmung führte. Gleichzeitig bewirkte massiv eindringendes Tropfwasser – bei Schlechtwetter fast Regen – zusätzlich zur allgemeinen Kondensatproblematik im Inneren des Berges, dass Computer und Technik immer wieder ausfielen. Die darauf folgenden umfangreichen Wartungsarbeiten machten einen finanziell kaum zu bewältigenden Input erforderlich, was noch dadurch verschärft wurde, dass sich einige der beteiligten Firmen als nicht sehr seriös herausstellten. Insgesamt führte dies immer wieder zur selbstkritischen

Abb. 20 Mark Scarratt (Headspace) bei der Installation von GRIDIO

DIE EXSTASE DER THEORIE

Hinterfragung, ob sich der ganze Aufwand für diese schöne Interaktionsmöglichkeit wirklich lohnte, eine Frage, die ich nun im Rückblick aber doch mit ja beantworten würde.

9. Die Macht des Faktischen Es sollte gerade bei den schwer messbaren Leistungen für Kultur immer punktgenau vorgegeben werden, welche Ziele zu verfolgen sind, und welche budgetären Mittel für nachhaltige Zwecke eingesetzt werden sollen. Stadtrechnungshof Stadt Graz 2005

Thümmel: Das für die Ausstellung zur Verfügung stehende Budget war durchaus akzeptabel, es lag im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld. Da wir aber eine umfassende, möglichst große und damit attraktive Ausstellung und ein komplexes Forschungsprojekt damit umsetzen wollten, stießen wir rasch an die Grenzen des Möglichen. Verschärft wurde diese Problematik durch die ‚wuchernden‘ Sicherheitsauflagen und die Notwendigkeit, eine nicht vorhandene Infrastruktur im Inneren des Berges herzustellen. Stocker: Die folgende Abbildung versinnbildlicht gleichzeitig den Spagat zwischen wissenschaftlich/gestalterischem Anspruch und ökonomischen Zwängen sowie die unterschiedlichen methodischen Problemlösungsansätze von wissenschaftlichem Leiter und Gestalterin. Der im Eingangsbereich der Ausstellung befindliche

Abb. 21 Spagat zwischen Wissenschaft, Gestaltung und ökonomischen Zwängen

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Teppich war im Aufbau durch unachtsame Handwerker erheblich verschmutzt worden. Unser Wunsch, diesen Teppich auszuwechseln, wurde vom Auftraggeber mit der Bemerkung, dass das Budget ausgeschöpft sei, abgelehnt. Die Lösung der Gestalterin: selbst Hand anlegen in verzweifelten Putzversuchen. Thümmel: Die Lösung des Wissenschaftlers bei der Eröffnung: einen Nebeneingang wählen und einen alternativen Weg durch die Ausstellung gehen.

Zitatnachweise: Uwe Brückner: Raum und Gesamtkunstwerk. Ästhetik des Erlebens, in: Gerhard Kilger, Wolfgang Müller-Kuhlmann, Szenografie in Ausstellungen und Museen II. Wissensräume: Kunst und Raum – Raum durch Kunst, Essen 2006, S. 112-121. Bettina Drescher: Objekte/Texte/Inszenierungen. Zur Theorie und Praxis musealer Wirklichkeitskonstruktionen. Ein Fallbeispiel, Graz Phil. Dipl. Arb. 1999. Heimo Hofgartner, Katia Schurl, Karl Stocker: Berg der Erinnerungen. Ausstellungskatalog, Graz 2003. Sigrid Godau: Inszenierung oder Rekonstruktion? Zur Darstellung von Geschichte im Museum, in: Michael Fehr, Stefan Grohe (Hg.): Geschichte, Bild, Museum: Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 199-211. Andreas Ludwig: Mit Geschichte umgehen. Zur Praxis der Berliner Geschichtswerkstatt am Beispiel des Ausstellungsprojekts „Lindenhof“, in: Michael Fehr, Stefan Grohe (Hg.): Geschichte, Bild, Museum: Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 11-19. Sebastian Peichl: Interaktive Medien im Ausstellungsraum am Beispiel der Installation „floating“, in: in: Michael Fehr, Stefan Grohe (Hg.): Geschichte, Bild, Museum: Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 188-195. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004. Stadtrechnungshof Stadt Graz, Pressemitteilung des Kontrollausschusses vom 17. Mai 2005 (Graz 2003 – 2. Prüfantrag) Steiermärkisches Veranstaltungsgesetz, LGB1. 192/1969, zuletzt geändert durch LGBl. Nr. 148/2006.

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Vorbemerkungen

Der Zweck dieser Vorlesung, die in einem interdisziplinären Spektrum von Theater, Skulptur, Film, Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte, Choreographie und nicht zu vergessen Philosophie angesiedelt ist, ist es, aus einer spezifisch philosophisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus mit dem Werk von Hassan Fathy bekannt zu machen. Obgleich dieses Kolloquium darauf abzielt, eine Breite von Formen kontextueller visueller Landschaften, Theaterlandschaften, Himmelsräume, eine Art kultureller Choreographie in experimenteller und theoretischer Weise, zu präsentieren, möchte ich Sie, ein zentraleuropäisches Publikum, mit einigen Aspekten eines der größten modernen Architekten, Sozialreformer und Intellektuellen Ägyptens, namens Hassan Fathy (1900-1989), vertraut machen. Was Naguib Mahfouz für die Weltliteratur bedeutet, ist Hassan Fathy für die Welt der Architektur. Die Architektur von Fathy bedeutet jedenfalls mehr als nur, Raum in einer spezifischen Art und Weise zu konstruieren. Sie war auch eine sozialpolitische Philosophie, obgleich nur einige wenige Publikationen auf diesen Aspekt in seinem Werk hinweisen. Es existiert bisher nur eine einzige ausführliche Abhandlung über Fathy in englischer Sprache, namentlich von dem kalifornischen Architekten James Steele. Sein umfassendes Werk An Architecture for People: The Complete Works of Hassan Fathy1 ist reichlich illustriert, so dass es auch für den nicht-spezialisierten Leser zu einer interessanten Erfahrung seiner architektonischen Entdeckung wird. Dennoch lässt eine philosophische Erörterung des Werkes von Fathy immer noch auf sich warten. Obwohl Michel Foucault und Edward Said als Bezugspunkte dienen, tragen sie nicht weiter zu einem tieferen intellektuellen und sozialpolitischen Verständnis von Fathys Unternehmungen bei. Genau dies habe ich für ein vielleicht philosophisch firmeres Publikum vor, indem ich die Vielfalt der Denkweisen, die die Bedeutung der sozialpolitischen Dimension, den kulturellen Kontext und nicht zuletzt die philosophischen Aspekte, die ein tieferes Verständnis des Werkes von Fathy betreffen und die Spannungen zwischen Raum, Natur und Menschheit ausdrücken, anspreche.

1

James Steele: An Architecture for People: The Complete Works of Hassan Fathy, London: Thames and Hudson 1997.

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Ich werde mich Fathys Werk auf einem analogen Weg nähern, indem ich als Referenzrahmen die grundsätzlichen Glaubenssätze der Bauhaus-Gründung und die Vorüberlegungen von Walter Gropius, des Begründers der berühmtesten Schule der Bildenden Künste im 20. Jahrhundert, verwende. Zusätzlich werde ich einige Hauptthesen der Vertreter der alten Frankfurter Schule, wie zum Beispiel Adorno und Horkheimer, aufgreifen. Tatsächlich dämmerte mir, nachdem ich das architektonische Werk von Fathy überblickt und sein bekanntes Buch Architecture for the Poor 2 gelesen hatte, dass Hassan Fathy aus westlicher Perspektive gesehen eine kuriose Mischung aus Bauhaus, Heidegger und Frankfurter Schule darstellt. Allerdings hat ihn noch niemand aus der für diese Abhandlung zitierten ausgewählten Literatur bislang in diesem Lichte gesehen. Meine Absicht, Fathy in dieser Weise einem bestimmten Publikum zu präsentieren, besteht darin, eine produktive Diskussion zu eröffnen, in der Hoffnung, dass ein ägyptischer Architekt den Kern eines Dialoges in einem größeren Zusammenhang bilden könnte. Foucault und Said werden es nicht können, denn ihre Sicht ist von einem ideologischen Programm her brauchbar; sie hilft aber nicht wirklich, den pragmatischen und kritischen Ansichten von Fathy gerecht zu werden. Überrascherweise wird jeder, der mit Heideggers berühmter Darmstädter Rede Bauen Wohnen Denken 3 vertraut ist, eine weitere Entdeckung machen können: eine Verwandtschaft zwischen Heideggers und Fathys Denkweise. Jene, die mit Adorno und Heidegger vertraut sind, mögen schockiert und verwundert darüber sein, dass man hier nicht die inneren Widersprüche sähe. Wenn wir jedoch einige Geschichtspunkte beider kontinentaler Denker durch das Prisma eines modernen ägyptischen Architekten betrachten, mit einem kulturellen Reichtum im Hintergrund wie dem Pharaonischen, dem Christlichen und islamischen Bestandteilen, verschwinden die offensichtlichen westlichen Widersprüche. So ist die neue Welt der Globalisierung. Wir müssen die Widersprüche unter den Bedingungen einer globalen Sicht aussortieren, was uns ermöglicht, subtilere Aspekte zu beleuchten, die bislang noch niemand bemerkt hat aufgrund der begrenzten nationalen, ethnischen und religiösen Sichtweisen. Um eins jedoch klar zu stellen: Ich schlage nicht vor, einfach logische Widersprüche los zu werden. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass formale logische Widersprüche in einem transnationalen kulturellen Zusammenhang diskutiert werden sollten. Ohne Zweifel wird die Arbeit eines Ernst Cassirer, oder von Susanne

2 Hassan Fathy: Architecure for the Poor. Cairo: The American University Press, 1989. 1969 im arabischen Original vom Ägyptischen Kulturministerium veröffentlicht, danach 1973 von der Universität Chicago. 3 Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken. (1951) Abgedruckt in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2000, S. 139-156

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Abb. 1 Hassan Fathy

K. Langer, in den folgenden Überlegungen zur symbolischen Natur und zum Entwurfsdenken von kulturellem Raum von höchster Wichtigkeit sein. Meine erste eigene Begegnung mit Hassan Fathy fand an der ägyptischen American University in Kairo statt. Die gesponserte Ausstellung Between Tradition and Modernity: On some aspects of Hassan Fathy’s work wurde vom 16. Februar bis 12. März 1992 gezeigt. Aus Neugier hielt ich ein Auge auf für kritische Kommentare und Artikel über Fathy, bis ich begann, das moderne Ägypten zu entdecken. Die 100-Jahre-Jubiläums-Ausstellung zu Ehren Hassan Fathys fand vom 23. März bis 31. Juli 2000 an der AUC’s Rare Books and Special Collection Library statt, die neben dem Creswell Archiv ein Hassan Fathy Archiv einrichtete. Das Fathy Archiv sollte in der Zukunft für Wissenschaftler, die die interdisziplinäre Ära der Bildenden Künste wie auch die sozialpolitische Philosophie des Mittleren Ostens erforschten, zur Goldmine werden. Etwas systematischer werde ich mich auf den Einsatz von Raum und Design innerhalb Fathys Auffassung von Natur fokussieren, wie sie sich in seinem berühmten Pilotprojekt, oder Experiment, für New Gourna, ein neu gegründetes Dorf gegenüber Luxor auf den westlichen Ufern des Nils, gezeigt hat. In seinem

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Hauptwerk Architecture for the Poor 4 gibt uns Fathy eine Zusammenfassung seiner Vorstellungen, was New Gourna hätte darstellen sollen. Tatsächlich darf behauptet werden, dass Fathys New Gourna der größte Fehlschlag in der Architekturgeschichte gewesen ist. Nicht unähnlich dem berühmten Chicagoer Michelson-MorleyExperiment, das die Existenz des ‚Äthers‘ widerlegte. Dennoch werde ich zeigen, dass es kein Misserfolg in Hinsicht auf eine höchst pragmatische und bevorzugte Weise war, sonnengetrocknete Lehmziegel als Basisstoff für das Baumaterial von einheimischen Häusern zu verwenden. Es war ein sozialpolitisches Scheitern (näher an Platos Sizilien-Experiment), denn die Menschen, die er von jahrhundertealten Bräuchen und Vorurteilen befreien wollte, wendeten sich, wie in Platos Höhle, gegen den Meister, weil er anscheinend die Basis ihres Lebensunterhaltes, die Grabräuberei, vergessen hatte. Unter den Behausungen des alten Gourna lagen genügend kostbare archäologische Artefakte, die für eine ganze Zeit lang ausreichten, die Familien derjenigen durchzufüttern, die Fathy mit einem besseren materiellen und spirituellen Leben beglücken wollte. In Fathys Welt finden wir eine enorme Inspirationsquelle für ein ökologisches Bewusstsein, das einige interessante Lösungen hinsichtlich traditioneller, natürlich nachwachsender Energiequellen bereithält; zusätzlich demonstriert sein Design Sinn für eine ökologische Ästhetik, in den 1940er und 1950er Jahren, bevor das Wort Ökologie überhaupt öffentlich benutzt wurde. Natürlich wurde Fathy von den europäischen Gelehrten übersehen, obgleich er in den USA aufgrund seiner Tätigkeiten in New Mexico während der 1980er Jahre bereits besser bekannt war. Nichtsdesto-trotz bleibt Fathy eine interessante Alternative zu den ideologisch bewegten Profiteuren der Postmoderne. Es scheint im Nachhinein ganz so, dass Fathy ein Postmoderner war, lange bevor die Moderne (post)modern werden sollte. Der Einsatz von sonnengetrockneten Lehmziegeln als ein Basismaterial für die Ärmsten, das ihnen ermöglicht, eine anständige Unterkunft im Sinne von Stolz und Würde zu erbauen, ohne sich in Sozialwohnungen aus Glas und Stahl erniedrigen zu müssen, ist eine sozialpolitische Unternehmung, die Fathy in seinem Heimatland Ägypten vereitelt wurde. Es sollte aber erwähnt werden, dass er in der ägyptischen Gesellschaft und den sozialen Eliten eine kontroverse Figur ist. Aus meiner, in Interviews mit einheimischen Studenten von Fathy gewonnenen Erfahrung, gab der Meister Ägypten mehr, als Ägypten ihm zurückgab. Allmählich jedoch beginnt die intellektuelle Öffentlichkeit in Ägypten, einen ihrer großen Söhne in den Bildenden Künsten zu ehren. Ich werde die Bedeutung und den Gebrauch von Fathys öffentlichen Einrichtungen in New Gourna aufzeigen, wie des Gerichtsgebäudes, der Mashrabiya (hölzerne Lattengitterwerke), der Moschee, des Marktplatzes, des Theaters, des Hamman oder 4

H. Fathy: Architecure for the Poor, a.a.O., S. 113-148.

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der Schule, die in ihrer Funktion, wie Menschen leben und arbeiten, Form und Bedeutung annehmen. Ein typischer Kommentar Fathys zum Schulgebäude ist, „der Schularchitekt hat die Welt durch die Augen eines Kindes zu sehen“5. In diesem Sinne war Fathy ein Zeitgenosse der Bauhaus-Philosophie: Funktion und Form folgen dem Gebrauch durch wirkliche Menschen.

Einleitung

Diese Lesung behandelt den Zusammenhang von Natur, Raum und Menschheit im Design und Architekturwerk des ägyptischen Architekten und Sozialreformers Hassan Fathy. Darüber hinaus möchte ich die Vorstellungen Fathys im Zusammenhang mit der Vielfalt untersuchen, die das europäische Denken im 20. Jahrhundert prägte, von der Architektur bis zur Philosophie. Es überrascht, dass nur wenige Arbeiten und Artikel sich auf die philosophischen Aspekte seiner Unternehmungen konzentriert haben. Hassan Fathy wurde im ägyptischen Alexandrien geboren und durchlebte fast das gesamte 20. Jahrhundert (1900-1989). Unter den Modernen, die durch die britischen Schriftsteller E.M. Forster und Lawrence Durrell während ihres Aufenthaltes in Alexandrien im Laufe des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht wurden, zählt er zu den ganz großen Berühmtheiten, wie der ägyptische Filmregisseur Youssef Chahine, der italienische Bildhauer Ungaretti, der britisch-österreichische Historiker Eric Hobsbawm und der griechische Poet C.P. Cavafy. Selbstverständlich finden wir unter den berühmten Zeitgenossen Gamal Abd-al Nasser; und es erfolgte die Unabhängigkeit Ägyptens vom Britischen Protektorat im Jahre 1952, und 1956 die Suez Krise. Als junger Mann war sich Fathy dieser revolutionären und vom Britischen Kolonialismus emanzipierenden Zeiten Ägyptens sehr bewusst. Er wurde Augenzeuge des Arabischen Nationalismus, Sozialismus und den Anfängen der Re-Islamisierung durch Mohammad Abdu und den Muslim Brüdern. Fathys Familie gehörte jedoch einer soliden Mittelschicht an, die die französische Kultur bewunderte. So war es für Ägyptens Elite und die sie nacheifernde Mittelschicht üblich, in Gegenwart ihrer arabisch sprechenden Dienerschaft Französisch zu sprechen. Es war für die Mitglieder von Fathys Schicht nicht unüblich, einen Satz in Französisch zu beginnen, ins Englische überzuwechseln und mit einem religiösen Spruch auf Arabisch zu beenden. Dies war auch die Welt, in der Edward Said ein paar Generationen später aufwuchs. Was im Sinne von linguistischen Moden und elitären Verhaltensweisen zutrifft, betrifft auch die Bildenden Künste. Europa wurde bewundert, dennoch 5

Ebd., S. 83.

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wurden auch in den 1920er und 1930er Jahren allmählich die pharaonischen und islamischen Wurzeln wiederentdeckt. Fathy war insbesondere am architektonischen Raum und Entwurf des alten Mameluckischen Kairo interessiert. Ein Zeitgenosse, C.K. Creswell (1879-1974), begann als Vorreiter die Grundlehre der Islamischen Kunst und Architektur und verfasste fast eigenhändig das erste Lehrbuch zur Islamischen Architektur. Fathy nahm davon Notiz und profitierte von Crewells Arbeit. Er unternahm auch die Anstrengung, eine genauere Kenntnis über die Geschichte der historischen Monumente zu gewinnen, die jedem Besucher des alten Kairo präsentiert wurden. Fathy war der einzige Sohn eines Sa’idi Vaters (eine Bezeichnung für die Menschen Oberägyptens) und einer türkischen Mutter. Seine Ausbildung war repräsentativ für die seiner Klasse: Besuch britischer Schulen, danach Studium der Agrarwissenschaften, Wechsel zur Architektur an die Kairoer Universität und Abschluss ebendort 1926. Zu dieser Zeit wurde die Kairoer Universität Fuad genannt, zu Ehren des ägyptischen Königs, und genoss international einen ausgezeichneten Ruf. Es könnte vielleicht interessant sein, dass so strahlende Geister wie Robert Graves, der britische Schriftsteller D.J. Enright, der britische Anthropologe Edward Evans-Prichard (der die Nuer des südlichen Sudans erforschte), der französische Arabist Louis Massignon oder der deutsche Arabist Enno Littmann und nicht zuletzt Taha Hussein zu Fathys Zeit an der Universität aktiv waren. Nicht notwendig weiter zu erwähnen, dass der Nobelpreis-Gewinner Naghib Mahfouz ebenfalls in Philosophie der Kairoer Universität graduierte, die nach dem französischen Ausbildungssystem ausgerichtet war. Wir sollten noch hinzufügen, während wir wichtige Ereignisse in der Lebensspanne von Fathy erwähnen, dass Ägypten 1922 teilweise von Großbritannien unabhängig wurde, im selben Jahr, in dem das Grab des Tutenchamun von Howard Carter entdeckt worden war. Dies katapultierte das Interesse für das Pharaonische Ägypten in die internationale Presse. Fathy jedoch war auch an den Wurzeln der mittelalterlichen islamischen Architektur und Entwurfsmotiven interessiert, wie sie sich in den historischen Vierteln der Fatimidischen und Mameluckischen Periode des alten Kairo fanden. Er war sich natürlich auch der christlichen Kirchen in der ägyptisch-koptischen christlichen Gemeinde bewusst. So begegnete Fathy einer multi-kulturellen Erfahrung, die die Zukunft multi-kultureller Gesellschaften vorwegnahm. Die Frage, die man im Kopf behalten muss, ist immer, wie Fathy diese kulturellen Einflüsse in sein spezifisches kulturelles Raumkonzept und umweltbezogene Behausungen transformierte, die er nicht nur in Ägypten, sondern auch im Mittleren Osten und New Mexico plante.

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Das islamische Kairo (fatimidisch, mameluckisch, osmanisch)

In einem Interview von 1974 hatte Fathy Folgendes über die Wiederentdeckung des arabisch-islamischen Raums und Entwurfs zu berichten: „Arab architecture begins with the interior and goes to the exterior. The function of the space is primary. The outer form must express the forces on the inside […] Islamic architecture is one of space […] We are in need of an era of non-functionalism. We are in need of quality with a human touch.“6 Das Stichwort war „human touch“. Wie könnten wir nur den menschlichen Maßstab und die Lebensqualität innerhalb des Rahmenwerkes unserer Gebäude und unseres Lebensraums erhalten? Dies wurde zu einem Leitmotiv in Fathys folgenden Unternehmungen. Er war sich natürlich des jüngst aufkommenden Funktionalismus aus Europa, wie er von Le Corbusier und dem Bauhaus vorgeführt wurde, bewusst. Er hatte seine Einwände gegen eine derartige Architekturphilosophie; dennoch scheint es, widersprachen die sozialen Ziele Le Corbusiers und des Bauhaus nicht Fathys eigenen Ansichten. Das größte Problem liegt in der Menschlichkeit des Lebensraumes und im gleichen Moment darin, das soziale Bewusstsein des Architekten, des Unternehmers und der Offiziellen zu wahren. Der Widerspruch, der jedem öffentlichen Wohnungsbauprojekt der Moderne immanent ist, war etwas, das auch Fathy nicht lösen konnte. Der Grund dafür, so scheint es, warum das Projekt in New Gourna scheiterte. Dies war nicht bloß ein Zusammenprall mit Max Webers berühmtem ‚Eisernen Käfig‘ in Form ägyptischer Bürokratie. Es bestand die inhärent widersprüchliche Situation, in einem menschlichen Maßstab mit humanitärem Anspruch zu bauen und im selben Moment die ökonomischen Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Dies waren jedoch Probleme, die erst aufkamen, nachdem Fathy versucht hatte, eine regionale Kultur wiederzubeleben, in diesem Fall für die Raumplanung für das nubische Erbe in New Gourna. Fathy entdeckte im historischen Kairo Raummodelle wieder, die er für Orte anwendete, die den Lebensraum auszudrücken suchten. Dies entsprach nicht dem klassischen europäischen Mechanismus des Raums. Es wurde vorgeschlagen, mit dem Raum als einem Teil der Lebenswelt zu leben. In diesem Sinne ist Fathy Heideggerianer, insofern dass der Mensch nicht dem Raum gegenüberstehend lebt, sondern ein besonderes lokales räumliches Wohnen verkörpert. Dies wurde mit dem Hof und dem Brunnenareal im Lebensraum symbolisiert. Ein ganz besonderer Umstand sind natürlich die spezifischen klimatischen Bedingungen in einem Land wie Ägypten: Sonne, Hitze, Trockenheit und sehr viel Sand. Wie setzt man seine Entwurfspraxis 6

J. Steele: An Architecture for People, a.a.O., S. 12.

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ein, um noch von den spezifischen klimatischen Verhältnissen zu profitieren? Dies war jedoch nicht die einzige wichtige technische Frage. Das besondere Problem war von soziologischer Natur, nämlich die Großfamilie. Es sollte nie vergessen werden, dass das Basisfundament in orientalischen Gesellschaften, insbesondere im Mittleren Osten, die Großfamilie darstellt. Obgleich die Familien in Apartmenthäusern wohnen, ist es nicht unüblich, dass mehrere Generationen einer Familienverwandtschaft in einer Apartmentanlage oder nah beieinander wohnen. Die arabische islamische Architektur benutzte die Großfamilie sowohl als Richtmaß als auch für den Verhaltenscode des sozialen Miteinander, die moralischen Seiten des Korans. Das ist der Grund dafür, dass Fathy und viele andere Architekten und Entwerfer mit einem arabisch-islamischen Hintergrund vom „inneren Kern“ eines jeden Designs oder einer Gebäudestruktur sprechen. Wie könnte man am besten die Privatsphäre der Familie schützen und dabei auch gleichzeitig die religiösen Vorschriften einhalten? Das ist die zentrale Frage, die den Grundstein der islamischen Architektur bildet. Fathy studierte gründlich die öffentlichen Gebäude aus Kairos fatimidischer, mameluckischer und osmanischer Periode. Er konzentrierte sich auf private Wohnhäuser, wie das berühmte Haus der Kretischen Dame (Bayt al-Kritliya), das der Tourist als das Gayer-Anderson Museum kennt, neben der historisch bedeutenden Moschee von Ibn Tulun (in Sichtweite des Kairoer Internationalen Flughafens). Es sind der innere Hofbereich, der nach Norden gerichtete Sitzraum (im Arabischen als maglad bekannt), die Empfangshalle (der qua’a), ein Windfänger (ein malgaf), unverglaste Fensterrahmen mit ornamentalem hölzernen Gitterwerk (mashrabiya) und

Abb. 2 Gourna

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die Brunnen und Quellen. Wasserkrüge aus Ton wurden zwischen die durchwehten Bretter der Fenster im mashrabiya Stil gestellt. Das ganze Arrangement diente dazu, die Wohnräume gut durchlüftet und kühl zu halten. Dies waren die Zeiten vor den elektrischen Klimaanlagen. In einem islamischen Haushalt mussten die soziale Ordnung der Großfamilie wie auch die regulären Etiketten der Begrüßung im Empfang der nächsten Verwandten beachtet werden. Nicht zu vergessen, mussten auch nicht mit der Familie verwandte Freunde in einem Empfangsraum angemessen begrüßt und unterhalten werden. Zugleich sollte die Trennung der Geschlechter eingehalten werden. Die männlichen Mitglieder der Familie benutzen bestimmte Gebäudeteile, während die weiblichen Mitglieder der Sicht der Besucher verborgen blieben. Das mashrabiya Fenster wurde durch arabische Erzählungen von 1001 Nacht und romantischen Haremsbilder der Europäer berühmt. Die Idee war, dass die Damen des Hauses die Geschehnisse der engen Straßen in ihrem Wohnquartier beobachten konnten. Die Fenster waren so hoch in der Wand, dass jemand, auf einem Kamelrücken sitzend, niemanden im Haus sehen konnte, während die Frauen sich mit dem „Straßeschauen“ unterhalten konnten, ohne selbst von außen gesehen zu werden. Der intensive Gebrauch von Bauholz in der islamischen Architektur für den mashrabiya Dekor kam aus dem Libanon. Die Holzgitter brachen nicht nur die Lichtstrahlen und die Hitze, sondern absorbierten auch die Feuchte der Brunnen und Quellen. Fathy konnte dieses benutzerfreundliche Architekturdesign studieren und zog daraus seine Schlüsse, was aus diesen historischen Wohnhäusern im alten Kairo gelernt werden könnte. Im späteren Leben würde er nahe der Ibn Tulun Moschee wohnen, umgeben von einer Dachlandschaft aus Minaretten. Die symbolische Signifikanz des Minaretts als Leuchtturm, von dem fünf Mal am Tag die Gebete gerufen werden, nahm zu dieser Periode verschiedene Formen an. Der Entwurf eines Minaretts erzählt dem Besucher des historischen Kairos, ob er eine von den Ayyubiden verwandte Form vor sich hat, eine mameluckische (in Bahri oder Circassion Form) oder eine der osmanischen Periode. Wiederum sehen wir eine Synthese des architektonischen Design, das die Erfordernisse des religiösen, sozialen und ökonomischen Lebens der Umma, der muslimischen Gemeinschaft, befriedigt. Natürlich studierte Fathy die großen Moscheen und madrasas (Koranschulen), wie auch die sabils (öffentliche Brunnenanlagen, die oftmals an eine koranische Jungenschule, genannt kuttab, angefügt waren). Die sabil-kuttab von Abd al-Rahman Kathkuda, 1744 während der osmanischen Periode erbaut, ist die berühmteste des alten Kairo und gut genug erhalten, um von Touristen bewundert zu werden. Einer der berühmtesten Basare der Welt, der Khan al-Khalili, bietet wiederum jedem Besucher ein farbenfrohes Spektakel. Der Basar war nicht nur ein

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kommerzielles Areal für das Kaufen und Verkaufen, sondern ein Feld für soziale Interaktionen, das wiederum so entworfen worden war, dass die soziale Ordnung gemäß dem religiösen Verhaltenskodex gewahrt wurde. Denn ein Basar ist nicht einfach nur eine uralte Shopping Mall, sondern ein wichtiges Areal, in dem öffentlich soziale Etikette innerhalb der Gemeinschaft praktiziert wird. Naguib Mahfouz beschreibt das Leben im Khan al-Khalili Viertel und der benachbarten Husayn Moschee gegenüber der berühmtesten Höheren Schule des Islam, der Al-Azhar, gegründet von den Fatimiden, einem nordafrikanischen Zweig des schiitischen Islam. Kairo wurde für Hassan Fathy zu einem wichtigen Paradigma innerhalb seiner Bestrebungen, eine humane Architektur in moderne Zeiten hinüberzuretten, um Natur, Raum und Menschheit gegeneinander auszubalancieren. In einer Vorlesung, 1970 an der Universität von Essex unter dem Titel The Arab House in the Urban Setting verkündet Fathy: The direction of every advance in technology has been towards the human mastery of the environment. However, until very recently human beings have always maintained a certain balance between his physical and spiritual being and the external world. Disruption of this balance may have a detrimental effect on us genetically, physiologically or psychologically and however fast technology advances, all change must be related to the rate of change in us as a species.7

Es ist klar, dass für diesen modernen ägyptischen Architekten historische Gebäude und Monumente nicht einfach nur aus einem ästhetischen Vergnügen heraus studiert wurden, sondern für das Potential, das sie in sich tragen, den modernen Menschen in seinem „Hausen“ (wohnen) unterzubringen. Hier liest der kontinentale Leser wieder die Botschaften Heideggers und Arnold Gehlens, des philosophischen Anthropologen. Der kalifornische Architekt James Steele kam in seiner maßgeblichen Studie zu Fathys Architektur zu folgender Schlussüberlegung: There may be said to be six principles which guided Hassan Fathy throughout his career: his belief in the primacy of human values in architecture; the importance of a universal rather than a limited approach; the use of appropriate technology; the need for socially oriented, co-operative construction techniques; the essential role of tradition; and the re-establishment of natural cultural pride through the act of building.8

Diese philosophischen Gesichtspunkte, die das architektonische Werk von Fathy begleiten, können als angewandt in seinem berühmtesten Pilotprojekt für New Gourna (Gourna a-Gadida) bei Luxor, Oberägypten, angesehen werden. 7 8

Ebd., S. 17. Ebd., S. 16.

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Abb. 3 New Gourna

New Gourna und Platos Höhle

Hassan Fathy wurde von der ägyptischen Regierung beauftragt, zwischen 1945 und 1947 für 7.000 Dorfbewohner von Gourna ein neues Siedlungsgebiet herzurichten. Dies sollte das New Gourna werden, das die ägyptischen Bauern in ein hygienischeres, sicheres und kostengünstiges Wohngebiet umsiedelte. Fathy erachtete diesen Planungsauftrag als Chance, einige seiner Prinzipien in die Realität umzusetzen. Die meisten der ägyptischen Bauern lebten unter unhygienischen Bedingungen, ohne ihre dürftigen Wohnverhältnisse zu erwähnen, die die öffentliche Gesundheit gefährdeten. Die Dorfgemeinschaft von Gourna sollte auf der anderen Seite, auf dem Westufer des Nils bei Luxor, mit dem Tal der Könige sichtbar im Hintergrund, wieder angesiedelt werden. Das grundsätzliche Problem lag aus der Sicht der Regierung darin, dass die Gourni sogar innerhalb ihrer Wohnquartiere Tunnel gruben, um die Gräber des pharaonischen Ägyptens zu plündern. Die Artefakte wurden privat an Touristen oder Mittelsmänner der internationalen Antiquitäten-Mafia verkauft. Die Regierung wollte dieses Handeln und Zerstören historischen Gutes unterbieten und entschied, das ganzes Dorf umzusiedeln. Das bedeutete eine enorme Anstrengung, dennoch sah Fathy darin eine Chance, seine philosophische Anthropologie und sein Design einer neuen Gesellschaft zu übertragen, die die traditionellen Formen ihrer Einwohnerschaft bewahren und zur gleichen Zeit moderne Erkenntnisse zur Verbesserung der Gemeinschaft der Dorfbewohner anwenden würde. Die traditionellen

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sozialen Zentren der Dorfbewohner wie die Moschee, der Basar, die Hofbereiche, sogar das Theater mussten so entworfen werden, dass sie die menschliche Würde mit der Effizienz und kostengünstigen Bauweise verbanden. Ägypten war in Hinblick auf seine Bevölkerungsexplosion mit einer Krise im modernen öffentlichen Wohnungsbau konfrontiert. Die Erfahrungen der Vertreter des Bauhauses, wie zum Beispiel aus dem von Mies van der Rohe verantworteten berühmten Experiment in der Weissenhof-Siedlung von 1922, waren Fathy geläufig. Das Problem war nur, wie man adäquate öffentliche Wohnungen zu einem vernünftigen Preis herstellen könnte. New Gourna sollte nicht zu einem sozialistischen Gemeinschaftsprojekt oder einem leblosen Gebäudekomplex werden, in dem formale Funktionalität die oberste Regel war. Diese neue ägyptische Siedlung sollte zu einer paradigmatischen Ausstellung werden, wie man Raum und Natur innerhalb eines menschlichen Maßstabes des Wohnens beibehalten könnte. Raum und Entwurf in New Gourna sollten ein integraler Bestandteil in der Lebenswelt der Dorfbewohner werden, der ihren alten Lebensstil bewahrte und im dienlichen Zwecke dennoch verbesserte. Auf die Ästhetik musste geachtet werden, wie Fathy aus seinen Studien zum alten Kairo und den Dorfmauern im Niltal wusste. Das Volk brauchte ein ästhetisches Element in seinem Leben. Das bedeutete nicht gleich hohe Kunst, aber eine Kunst und ein Design, mit denen sich die Dorfbewohner identifizieren konnten – wie zum Beispiel in der Darstellung einer Familie auf dem Weg zur Hadsch (hajj). Ein Hadschi (hajji) genannt zu werden, war ein wichtiges soziales Erkennungsmerkmal für die Dignität, Ehre und Religiosität einer Familie. In einer Vorlesung an der Al-Azhar Universität von 1967 unter dem Titel What is a City? wiederholte Fathy seine Anliegen: When planning a city one has to consider the man who is being planned for. Imagine him roving around the streets, squares and open spaces and try to create a harmony in the visual images he is going to look at, full of nice surprises without boring him or overwhelming him with details that make him uneasy. Speak to his feelings using all forms of planning that create strong impressions and changes of mood as well as feeling of expansion; an increasing generalization that begins when he goes from his house to the side street, and then to the main street, the square and finally to the centre of the town in a graduation of scales that is something like a crescendo in music. The opposite should happen when this man comes back home from the centre of town – decrescendo.9

Das Theater, das Fathy entwarf, so muss gesagt werden, hatte eine einzige Funktion, die Dorfbewohner zu bilden. Er schrieb sogar ein Stück für Kinder, in dem er

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Ebd., S. 67.

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diese auf die Gefahren des Bilharziose-Parasiten aufmerksam machte. Medizinische Aufklärung für die Dorfgemeinschaft wurde angestrengt, um eine saubere, hygienische und sichere Umwelt, insbesondere für die Kinder, zu erreichen, die natürlich weiterhin im Nil baden wollten, wo der Bilharzias auf sie lauerte. Das New Gourna Projekt scheiterte. Regierungsoffizielle und die Bürokraten begannen, Fathy nicht mehr zu unterstützen. Eine Kontroverse wurde in der Öffentlichkeit entfacht, und Diskussionen und Anschuldigungen kamen auf. Ironischerweise waren es die Dorfbewohner des alten Gourna selbst, die nicht umgesiedelt werden wollten und ein neues Gourna schufen, das zu seinen alten Sitten der Grabräuberei zurückkehrte. Dies war schließlich die Basis seines Lebensunterhaltes. Die meisten von ihnen hatten keine Fertigkeiten mehr in der Landwirtschaft und mussten in neue Beschäftigungen und Jobs eingewiesen werden. Tatsächlich war die gesamte Gemeinschaft am Ende in Aufruhr. Plato versagte in New Gourna, ganz so wie in Sizilien. Fathy wurde zum Opfer der Höhlenbewohner Platos. Die Vorbereitungen, sie ins Tageslicht zu führen, um neue Formen von Lebensweisen sehen zu können, waren nicht adäquat genug. Offensichtlich war sogar Fathy selbst von dieser enormen Anstrengung überrascht. Er begegnete seinem Scheitern anhand der Schatten in der Höhle und Webers ‚Eisernem Käfig‘. Dem Verständnis Ägyptens nach war er nicht fähig, traditionelle Architekturformen, angefüllt mit traditionellen Lebensformen, in ein modernes Wohnungsprojekt zu transferieren. Die Gournischen Höhlenbewohner würden gegen die emanzipatorischen Bestrebungen Fathys revoltieren, denn er hatte nicht die Basis ihres Lebensunterhaltes, das Stehlen von Artefakten und Gold aus den Gräbern der Pharaonen, in Bedacht genommen. Auch schien eine gewisse Feindseligkeit gegenüber dem neuen Design zu bestehen, an das sich die alten Dorfbewohner nicht gewöhnen konnten. Wenn du einen Baum verpflanzt, vergiss’ nicht den Boden, woraus die Bäume stammen! Dies war offensichtlich ganz vergessen worden. Es scheint, dass auch die uralte Erfahrung in New Gourna Gültigkeit besaß, dass man einen alten Baum einfach nicht mehr verpflanzen konnte. Aber Fathy bemerkte jedoch, wie schwierig es sei, den Menschen neue Vorstellungen zu unterbreiten, ihren Lebensstil an ihre Umwelt anzupassen, selbst wenn es nur zu ihrem Vorteil wäre. Architektur und Design als Ausdruck von Raum und Form sind in der Natur existentiell in die Psyche des Volkes verwoben, indem es diesen Ort und jenen Platz bewohnt. Ort und Platz sind Wohnen, wie Heidegger es formulierte, und nicht ein zusätzlicher Raum, der zufällig besetzt werden kann wie in Newtons Mechanik. Eine interessante Lehre, die New Gourna lieferte, war der Protest im Namen der Nützlichkeit.

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Protest im Namen der Nützlichkeit

Um das Scheitern von Fathy in New Gourna einzuschätzen und seine philosophische Anthropologie in Hinblick auf Raum, Entwurf und Natur bewerten zu können, müssen wir die historische Situation der Architektur in der Mitte des 20. Jahrhunderts allgemeiner bedenken. Wie bekannt ist, waren das Bauhaus und Modernisten wie Le Corbusier die Triebfeder für diese Bewegung. Fathy war sich sehr Le Corbusiers bewusst, der den Mittleren Osten, inklusive Kairo, mehrere Male besucht hatte. Dennoch schien das Problem der Modernisierung und öffentlicher Wohnungen für die Massenbevölkerung auf einer noch weitaus tieferen Stufe dringlich zu sein. Wie stellte man angemessene und würdevolle Unterkünfte für die Massen zur Verfügung? Europa, insbesondere Großbritannien und Deutschland begannen bereits den Druck der Nachfrage nach öffentlichen Wohnungen zu spüren. Die guten alten Tage von Schinkel und Gustav Klimt waren vorüber. Adolf Loos und Ludwig Wittgenstein begannen über die Bedingungen der geometrischen Funktionalität nachzudenken. Platos Menon löste das Symposion ab. Die Zeiten des Architekten, Ingenieurs, Facharbeiters und Angestellten10 waren angebrochen, wie auch öffentliche Wohnungsbauprojekte auf den Plan kamen. Fathy war gut genug informiert, um die Folgen der modernistischen Bewegung, insbesondere in Gestalt des Bauhaus und Le Corbusiers, zu verstehen. Obwohl er einige der modernen Verbesserungen, die die Wohnungsbauprojekte brachten, schätzte, vermisste er jedoch die anthropologischen Aspekte, die die Menschen in ihren Lebensumständen glücklich machten, schmerzlich. Dies bildete natürlich auch den Kern der Kontroverse, neben politischen Erwägungen, wenn wir die Debatten um das Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin verfolgen. Wie könnten avantgardistische öffentliche Wohnungsbauprojekte im Berlin der 20er Jahre in die (damals) sogenannte Drite Welt transferiert werden, oder in Länder, die die Industrialisierung zu spüren begannen, aber nicht die Mittel besaßen, sich um öffentliche Wohnungsbauprojekte für die Massenbevölkerung zu kümmern? Insbesondere Ägyptens Bevölkerungsexplosion hatte einen katastrophalen Effekt auf die Umwelt und die Lebensqualität der Massen. Kairo ist in dieser Hinsicht eine exemplarische Metropole für das Desaster und Nichtfunktionieren einer ehemals wohlgeordneten Stadt. Es ist interessant, dass der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem die Umwelt einbeziehenden Werk Respect in a World of Inequality 11 autobiographische Passagen anführt, in denen er davon berichtet, wie er in einem desolaten Chicagoer Wohnungsbauprojekt, dem Cabrini Green, aufgewachsen ist. Offensichtlich hatte 10 11

Siehe Siegfried Kracauer: Die Angestellten (1929). Richard Sennet: Respect in a World of Inequality, New York 2003.

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die Stadt Chicago armen Weißen die Möglichkeit auf ein würdevolles Wohnen offeriert, wenn sie sich in ein Viertel mit schwarzer Bevölkerung integrierten. Es stellte eine andere Version des kontroversen Phänomens dar, in Amerika Weiße in Schwarze zu integrieren. Wieder schienen die Schatten in Platos Höhle allmächtig. Cabrini Green in Chicago erwies sich als gescheitert. Die psychologische Verunsicherung der Menschen wird bei Richard Sennett, dem gefeierten Soziologen, offenkundig. Die Analogie zu Fathy ist offensichtlich; die gleichen anthropologischen Aspekte tauchen wieder auf und müssen von den Mitgliedern, die den ‚Eisernen Käfig‘ herstellen, und den selbsternannten Offiziellen, die für die Wohnungsprojekte zuständig sind, viel ernster genommen werden. Ironischerweise berichtet Sennett von seinen privaten Demütigungen und Erniedrigungen als Junge, der in einem öffentlichen Wohnungsprojekt für weiße Arme aufwächst, während zur gleichen Zeit, 1946, Fathy in New Gourna beschäftigt war. Sennett erinnert sich dabei an Folgendes: Everyone in Cabrini had a passive relationship to the project because of its architecture. None of the residents had a hand in designing where we lived. The plan itself was a rigid grid of low-rise houses; the lawns and open spaces outside admitted no gardening by the residents. Next to Cabrini there was added fifteen years later a group of high-rise buildings, called the Robert Taylor Homes. These new building were designed to be even more directive, their elevators guarded, their floor layout dictating where beds, tables, sofas could be placed. Given the horror the project later became, I want to emphasize the positive side of the controls; as in Viennese workers’ housing from the 1920s, these Chicago architectural severities symbolized something new and clean, a designer’s modernist flag.12

Cabrini öffnete 1942 und Sennett erinnert sich daran, wie er und seine Mutter dort 1945 einzogen, als er drei Jahre alt war; zu dieser Zeit war Fathy damit beschäftigt, den ‚Eisernen Käfig‘, Platos Schattenhöhle und seinen utopischen Traum zu bekämpfen. Es war diese modernistische Flagge, mit der sich Sennett als Junge in Chicago konfrontiert sah und die er ein halbes Jahrhundert später anklagt, während Fathy die erste Kritik am architektonischen und modernistischen Design in New Gourna erhebt. Sowohl Sennett als auch Fathy erheben ihren Protest im Namen der Nützlichkeit. Architektur und Design sollten menschlichen Bedürfnissen folgen, das heißt, der Mensch hat ein Recht darauf, in Würde zu leben. Eine angemessene Unterkunft, die den Bewohnern Würde verleiht, war bereits der beste Anspruch in den berühmten sechs Berliner Siedlungen gewesen, die in den 20er Jahren erbaut worden waren. Der Slogan hieß: „menschenwürdige Wohnung“. Das Wohnungsbauprojekt nahm die Form von sechs Varianten an, mit bemerkenswerten Architekten der Zeit an der Speerspitze, u.a. Bruno Ahrends, Otto Bartning, Walter Gropius, Hans Scharoun, Bruno Taut und Martin Wagner 12

Ebd., S. 10.

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(Bauhaus Archiv Berlin 2004). Ohne Zweifel sind Sennett und Fathy auf Konfrontation mit diesen Projekten, nicht nur aufgrund derer Intentionen, sondern auch aufgrund des Modus der Repräsentation. Vielleicht müssen im Nachhinein diese Vorreiter-Projekte im öffentlichen Wohnungsbau gemäß der Möglichkeiten der Zeit betrachtet werden. Um die neue Klasse der Angestellten und der modernen Arbeiter mit ihren blauen Kitteln zu beherbergen, hätte der Jugendstil nicht mehr ausgereicht. Im Mittelpunkt des frühen 20. Jahrhunderts standen Arbeit und Anstrengung und nicht mehr der Luxus einer Klasse von Müßiggängern. In den Vereinigten Staaten versuchten Architektur und Design während der 50er Jahre mit dem neuen modernen Angestellten, namentlich Amerikas weißer Mittelklasse oder der Angestellten mit weißem Kragen, wie sie von C. Wright Mills in seinem Klassiker White Collar13 beschrieben worden waren, zurechtzukommen. Dies waren die spezifischen Modernisierungsprobleme, mit denen Europa und Amerika zu Rande kommen mussten. Fathy hatte begriffen, dass der ägyptische Bauer etwas am Entwurf und Baumaterial brauchte, was seine Emotionen und sein Gemüte ansprach. Sonnengetrocknete, erden- und warmfarbige Lehmziegel wären so ein Material, mit dem man sich identifizieren konnte. Lange bevor multikulturelle Talk-Shows in Mode kamen, hatte Fathy bereits für das Dorf und das traditionelle Leben gestritten. Nicht dass er lehrte, dass das Dorfleben technisch der Stadt überlegen wäre, oder er romantische Vorstellungen über eine Rückkehr zum Landleben gehegt hätte, aber er argumentierte im Namen der Nützlichkeit. Architektur und Design können nicht die moralische Komponente vernachlässigen, die sie mutmaßlich verkörpern. Entsprechend streitet Sennett für eine moralisch motivierte Stadt- und Raumplanung. Es ist von Interesse, dass die neu gegründete Republik der Türkei unter Attatürk modernistische Architektur und Design benutzte, um ihren Modernismus in der neuen Hauptstadt Ankara auszudrücken. Eine kleine Stadt hatte sich bis zur ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in eine Großstadt von 3 Millionen Einwohnern gewandelt. Attatürks Türkei exemplifiziert die Tatsache, dass Architektur und Design nie wertfrei sind. Fathy bewies in seinem Hauptwerk Architecture for the Poor ein moralisches Bewusstsein in der Aktivität des Bauens: „When the architect is presented with a clear tradition to work in, as in a village built by peasants, then he has no right to break this tradition with his own personal whims. What may go in a cosmopolitan city like Paris, London, or Cairo, will kill a village.“14 Dies stellt eine indirekte Kritik an Le Corbusier dar, der – wie Fathy behauptet – sich vom Künstler in einen professionellen Architekten verwandelt hat. 13 14

C. Wright Mills: White Collar (1951). J. Steele: An Architecture for People, a.a.O., S. 26.

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Das Verhältnis zwischen Architekt und dem Kunden degenerierte zu dem eines bloßen Klienten, der nur zahlt. Wenn Architektur als Kunst sich aber nur noch als bloßes Bauen versteht, droht eine Verhässlichung der Stadt und des Landes. Natürlich hatte er da Kairo im Sinn. Es ist eine einzigartige Stadt, die trotz der Modernisierung der letzten 20 Jahre zwischen 1980 und 2000 immer noch ein enormes Reservoir an Architektur und Design mit genuin historischer Authentizität vorweisen kann. Neben den islamischen Bezirken von Kairo gibt es noch jene mit authentischer europäischer Architektur und Design, wie die Gartenstadt, die sich mit französischen und italienischen Villen der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert schmückt, versehen mit vereinzelten Gebäuden, die vom Bauhaus inspiriert waren. Außerdem gibt es noch Heliopolis, von den Belgiern im Stil großer Boulevards und einem einzigartigen Mixtum der orientalisch-okzidentalen Stile altmodischer Verkaufspassagen erbaut. Downtown Kairo, errichtet von Mohammad Ali und durch das Beispiel von Haussmanns Paris inspiriert, kann immer noch mit dem Talat Harb Square, dem Café Riche oder Groppi bewundert werden. Ferner Zamalek mit dem tulpenförmigen Kairo Turm, dem El Gezira Club, in dem britische Gentlemen unter dem Ausschluss der einheimischen Bevölkerung Höflichkeiten austauschten und Tee tranken; ferner nebenan das berühmte Marriott Hotel, das den ehemaligen Palast des Pascha Khedive Ismail birgt, der den Berliner Architekten Carl von Diebitsch (1819-1869) beauftragt hatte, den Palast für den einzigen Zweck der Unterbringung der Würdenträger und Gäste während der Einweihungsfeierlichkeiten des Suezkanals 1869 zu vollenden. Näher am Internationalen Flughafen von Kairo gelegen, Nasr City, die versucht, eine große Anzahl von Kairos schnell wachsender Bevölkerung in Art Bauhaus-Siedlungen unterzubringen. Daher kann man behaupten, dass es kaum einen Architekturstil der Weltgeschichte gibt, den man nicht in Kairo finden könnte. Der Protest im Namen der Nützlichkeit ist besonders für eine kosmopolitische Stadt wie Kairo von Relevanz, bedenkt man, dass es trotz seiner großen Anzahl an Einwohnern (man schätzt bis zu 15 Millionen und mehr) dennoch eine relativ sichere Stadt bei Nacht ist. In der Tat schläft Kairo nie. Die einheimische Bevölkerung genießt es, in den späten Abendstunden spazieren zu gehen, die Corniche entlang des Nils und die Spektakel der sogenannten Goldküste mit ihren zahlreichen 5-Sterne-Hotels im Grand Old Style bewundernd. Kairo ist eine Stadt, die viele Formstile der Zivilisation gesehen hat: arabisch-islamisch, koptisch-christlich, Bauhaus, Nouveau Art, Jugendstil, Viktorianisches, Pharaonisches, Römisches, Griechisches, und sogar Amerikanisches im Bezirk von Maadi. Zusammen mit der Architektur und dem Design kamen die respektiven Lebensstile derjenigen, die die Unterkünfte bewohnten. Abgesehen von der Kluft zwischen arm und reich, gebildet und analphabetisiert, existiert in Kairo ein kurioses Mixtum des Lebens und

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Leben-Lassens. Der einheimische Hausbesitzer kümmert sich nicht um das Morgen, Gott wird’s schon richten, irgendwie, und es besteht immer die Hoffnung auf eine Zukunft, denn das Volk hat auch schon all die Pharaonen überlebt. Allerdings ist das Hauptproblem von Kairos geplagten Massen der Raum und nicht die Zeit, wie mir ein einheimischer Diener klar machte.

Räumliche Metaphern und die Qualität der Behausung

Fathy war besonders an der sozialen und psychologischen Disposition der Menschen von Gourna interessiert. Er wollte für sie ein Design entwerfen, damit sie sich auf dieser Erde „zu Hause“ fühlen würden. Fathy denkt kosmologisch. Er denkt in der Kategorie der Gestaltpsychologie und eines historischen Kontextes. Ich habe einige Passagen gefunden, die dem Leser einen guten Eindruck davon vermitteln können, was Fathy erreichen wollte: I feel that the square and the courtyard are particularly important architectural elements in Egypt. Open spaces like this, within buildings, are part of the character of all Middle Eastern architecture – are found, in fact, from Morocco right through the desert Islands to Syria, Iraq and Persia, and reach perhaps their finest expression in the town houses of Old Cairo. In enclosed space, in a room or in a courtyard, there is a certain quality that can be distinctly felt, and that carries a local signature as clearly as does a particular curve. This felt space is in fact a fundamental component of architecture, and if a space has not the true feeling, no subsequent decoration will be able to naturalize it into the desired tradition. Let us look at the Arab house as an expression of Arab culture. In what ways have the environmental forces that have molded the Arab character affected domestic architecture? The Arab comes from the desert. The desert has formed his habits and outlook and shaped his culture. To the desert he owes his simplicity, his hospitality, his bent for mathematics and astronomy, to say nothing of his family structure. Because his experience of nature is so bitter, because the surface of the earth, the landscape, is for the Arab a cruel enemy, glaring, and barren, he does not find any comfort in opening his house to nature at ground level. The kindly aspect of nature for the Arab is the sky – pure, clean, promising coolness and life-giving water in its white clouds, dwarfing even the expanse of the desert sand with the starry infinite of the whole universe. It is no wonder that for the desert dweller the sky became the home of God.15

Wir können sofort erkennen, dass dieser Architekt weit über das Modell des öffentlichen Wohnungsbaus und der Kostenreduzierungen hinaus denkt. Im Raum als Entwurf, als Architektur liegt seine Bedeutung, und der Bewohner ist darin seine Natur. In Fathys Beschreibung der arabischen Anthropologie ist eine Konfrontation von Menschheit und Raum abwesend. Raum hat als ein besonderes Wohnen und als Religion Bedeutung. Eine weitere Version des Entwurfsverständnisses von Fathy in Hinblick auf architektonische Metaphern erlaubt folgende Passage: 15

H. Fathy: An Architecture for the Poor, a.a.O., S. 55.

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This instinctive and inevitable tendency to see the sky as the kindly aspect of nature gradually developed, as we have seen, into a definite theological proposition, in which the sky became the abode of the deity. Now with his adoption of a settled life the Arab began to apply architectural metaphors in his cosmology, so that the sky was regarded as a dome supported by four columns. Whether or not this description was taken literally, it certainly gave a symbolic value to the house, which was considered to be a model or microcosm of the universe. In fact, the metaphor was extended further to the eight sides of the octagon that supports, on squinches, a dome symbolizing the sky; these eight sides were held to represent the eight angels who support the throne of God.16

Wir können leicht sehen, wie hier räumliche Metaphern in das Reich des Theologischen wandern, und dass es für die Araber keinen Gegensatz zwischen dem Himmel und dem Schöpfer gibt. So ist es auch kein Zufall, dass die Darstellung des Göttlichen und des Propheten Mohammed im Islam untersagt ist. Die geometrischen Möglichkeiten des Materials werden in der islamischen Architektur und der Kalligraphie ausgeschöpft, denn die höchste Kunst im Islam offenbart uns die verborgene Kraft in einer Vielfalt von Mustern. Das Muster bezeichnet das versteckte Band zwischen der Gemeinschaft der Gläubigen (der Umma) und dem Schöpfer. Wiederum können wir sagen, dass in diesem Sinne die Islamische Kunst und Architektur eine Kunstform der Innerlichkeit ist, die versucht, mit den äußeren Kräften der Natur zurechtzukommen. Einer der Gründe, warum das Spirituelle im Islam vorherrschend ist, liegt im Gemeinschaftsbund zu einer Gottheit der Einheit. Es gibt keine Götter, außer dem einen Gott des Islam. Diese einzige Konzentration wird ausgedrückt in der räumlichen Orientierung einer jeden einzelnen Moschee und islamischen Behausung auf dem Globus, der Ausrichtung nach Mekka – so mit einem Zeichen in jedem Hotelraum der islamischen Welt angezeigt.

Hassan Fathy und die Folgen

Für unsere Schlussbetrachtung könnten wir fragen, was von den Ideen von Hassan Fathy übrig geblieben ist. Eine Sache ist sicher, dass die umweltbezogenen Aspekte seiner Architekturüberlegungen in der islamischen Welt an der vordersten Front der Diskussionen unter den Architekten, Ingenieuren und Designern angesiedelt sind. Es ist die Spiritualität der Ökologie, anstelle der rein technischen Behandlung, den Schaden der Erde zu minimieren. Europäische Länder mit Ressourcen und Know-how handeln umweltfreundlich. Aber das spirituelle Moment fehlt ihnen. Fathy hatte als ökologischer Erbauer einigermaßen Einfluss auf nachfolgende muslimische Architekten mit westlicher Technologieausbildung. Die Nachfolger

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Fathys, wie zum Beispiel James Steele, Abdel Wahed el-Wakil, Hasan-Uddin Khan und Simone Swan nahmen an einer Konferenz teil, die vom Fachbereich Architektur der Universität Texas 1999 in Austin zu Ehren Hassan Fathys gesponsert wurde. Die Teilnehmer kamen darin überein, dass das Fatimidische Kairo für Fathy als eine paradigmatische Vision diente, indem es traditionelle Methoden für das Verständnis natürlicher Kräfte verwendete. Dass der Hofbereich Basisform für das Wohnen im Mittleren Osten war, indem er die Privatheit der Familie beförderte, während grundsätzlich traditionelle Techniken im Gegensatz zu modernen Klimaanlagen angewendet wurden, um eine Klimatisierung zu erzielen. Steele hob hervor, dass Fathy „began to understand that traditionally the choice of building materials was based on the environmental forces in the building rather than the pursuit of a decorative effect“.17 Er wiederholte auch, dass Untersuchungen gezeigt hatten, dass die mashrabiya Gitter gut das grelle Sonnenlicht abhielten und hydrometrische Eigenschaften besaßen, indem das Holz die Feuchte aufzog. Zugleich fungierte das Gitter in sozialer Eigenschaft, indem es die strikte Trennung der Geschlechter innerhalb des Haushaltes und zwischen der privaten und öffentlichen Welt bestärkte – zum Beispiel im Harem oder dem Quartier der Frauen. Die Vorstellung von Nachhaltigkeit ist von größter Wichtigkeit in der Weltanschauung von Fathys Nachfolgern, die lokale Materialien – Holz, Stein, Lehmziegel – einsetzen, um eine Beziehung zwischen der Erde und den Menschen herzustellen. Der Nachdruck auf natürlichen Materialien, natürlicher Klimatisierung und natürliche Systemen reflektiert ein hohes Umweltbewusstsein. Hasan-Uddin Khan stellte heraus, dass Fathy mit dem Modernismus auf einen Kollisionskurs ging, nachdem er die Architekturformen der Entwicklungsländer vom Kolonialismus bis zur nationalen Unabhängigkeit studiert hatte. Während Beton und Stahl das Bauen bestimmte und die Menschen vom Land in die Städte strömten, suchte Fathy in Richtung Tradition und Geschichte. Er erkannte, dass seit den 1990er Jahren die Urlaubshotels von Tourismusgesellschaften Fathys Vorstellungen für betuchte Touristen aus Europa übernommen haben, die eine authentische Architektur und traditionelle Lebensstile erleben wollten. Abdel Wahed el-Wakil bemerkte, dass Fathys Architektur zur Lebenswelt gehört. Und dass seine Architekturen analog der Choreographie der Bewegungen, der Treppen, Fenster und Loggien gehalten sind. Die Teilnehmer fühlten, dass Fathys Werk nicht so erfolgreich gewesen ist, wie es eigentlich hätte sein sollen; aber dass die Welt hier mit ihm aufholte und es nun vielleicht an der Zeit ist, einen zweiten Blick auf seine Errungenschaften und Vorstellungen im Hinblick auf den Klimawandel und globale Belange zu werfen.

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J. Steele: An Architecture for People, a.a.O., S. 55.

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1981, in einem seiner letzten Interviews, das der jüngst verstorbene neuseeländische Filmemacher und Fotograf John Feeney (1922-2006) mit ihm geführt hatte, wiederholte Hassan Fathy, dass der Architekt eine moralische Verpflichtung gegenüber jenen an den Rändern der Gesellschaft habe. Fathy erklärte, dass ein Architekt stets fragen sollte, wenn er oder sie ein Projekt beginne, „Is it for man, or is it for something else?“18 Und er wiederholte nochmals, dass die islamische Kunst eine gemeinschaftliche Kunst mit einer Innerlichkeit und ästhetischen Sensibilität sei. Dass auch er sein Werk analog einer musikalischen Komposition, nach Rhythmus und Harmonie entwerfe. Architektur bedeutete für ihn eine „frozen music“.19 Es mag ironisch klingen, aber ein Teilnehmer kommentierte, das New-Gourna -Projekt wäre Fathys heroisches Scheitern. Vielleicht ist dies die größte Lehre, die wir aus der Arbeit von Hassan Fathy ziehen können, nämlich dass heroisches Scheitern nicht gleich bedeutet, dass es reine Zeitverschwendung gewesen wäre, denn Fathys Zeit sollte erst einmal noch kommen. Es gibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts Anzeichen dafür, dass nun Fathys Zeit endlich gekommen ist! (Aus dem Englischen übersetzt von Pamela C. Scorzin)

Weitere, ausgewählte Literatur zu Hassan Fathy und seinem Werk: Doreen Anwar: Nile Reflections. Cairo; The American University Press 1986. Andrew Beattie: Cairo: A Cultural History. Oxford University Press 2005. Doris Behrens-Abouseif: Beauty in Arabic Culture. Princeton, Markus Wiener Publishers 1999; Dies.: Schönheit in der Arabischen Kultur. München, Beck Verlag 1998. Sibel Bozdogan: Modernism and Nation Building. Turkish Architectural Culture in the Early Republic. Seattle, University of Washington Press 2001. K.A.C. Creswell: Early Muslim Architecture. Cairo, The American University Press 1989. John Feeney, Man River: The Photographs of John Feeney. Cairo, The American University Press 2007. Walter Gropius: Architektur, Wege zu einer optischen Kultur. Frankfurt am Main 1955. Michael Haag: Alexandria, City of Memory. Yale, University Press 2000. Karsten Harries: The Ethical Foundation of Architecture. MIT Press 1997. Robert Hillenbrand: Islamic Architecture. Edinburgh, University Press 2000. Hisham Mortada: Traditional Islamic Principles of Built Environment. London, Routledge Curzon 2003. Samir W. Raafat: Cairo. The Glory Years. Cairo, Harpocrates Publisher 2003.

18

John Feeney: „Interview with Hassan Fathy“ in: Aramco World, Juli/August 1999, Bd. 50, Nr. 4, S. 28-31, S. 28. 19 Ebd., S. 30.

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Andre Raymond: Cairo: City of History. Cairo, The American University Press 2001. Donald M. Reid: Cairo University and the Making of Modern Egypt. Cambridge, University Press 1990. Max Rodenbeck: Cairo. Cairo, The American University Press 1999. J.M. Rogers: Sinan. London, I.B. Tauris 2006. Saad el Din Mursi and John Cromer: Under Egypt’s Spell. London, Bellew Publisher 1991. Richard Sennett: Respect in a World of Inequality. New York, Norton 2003. Sylvia Stöbe: Chaos und Ordnung in der modernen Architektur. Potsdam, Strauss Verlag 1999.

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Frank den Oudsten SZENOGRAFIE.OBSZENOGRAFIE ÜBER DIE GRATWANDERUNG DER OFFENEN KÜNSTE Eine szenische Lesung in 3 Akten, 15 Szenen (ca.120-240’)

1. AKT

(ca.60’)

Musik: Mondscheinsonate ca. 6’ (Ludwig van Beethoven/Vladimir Ashkenazy)

Abb. 1 Frank den Oudsten, Szenografie.Obszenografie. Über die Gratwanderung der Künste. Eine Lesung in 3 Akten und 15 Szenen

1 Die szenische Lesung dauerte etwa dreieinhalb Stunden und wurde dann auf originelle Weise been-

det. Der Beitrag gibt die Transkription eines Videomitschnitts von ca. zweieinhalb Stunde Dauer wieder. Während dieser Zeit agiert Frank den Oudsten auf einer beinahe dunklen Bühne, die von zwei Beamern erhellt wird. Ein kleines Bild liefert ein dynamisches Begriffsnetzwerk aus einem PC, das andere projiziert wechselnde Abbildungen zu den Themenbereichen. Zwischendurch wird Musik eingespielt. Auf der Bühne steht links ein kleiner Tisch mit einigen Rechnern. Auf dem Boden der Bühne liegen in zwei Stapeln 50 weiße und 50 schwarze Dachlatten, die während der Aktion im Bühnenraum arrangiert werden. Die Latten wurden nachträglich ‚Memory-Sticks‘ getauft – was einen bezeichnenden Namen zum Bau der „Urhütte der Szenografie“ als „Beherbergung einer Idee“ abgibt. Abbildungen in diesem Beitrag sind Stills des Videomitschnitts.

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FRANK DEN OUDSTEN

Abb. 2 Bulldog (Foto: Frank den Oudsten)

1. EINFÜHRUNG (ca.15’) Zu den Thesen Die Magdeburger Halbkugeln als Metapher der Szenografie Als Leitbild für unser Kolloquium zur Theorie der Szenografie hat der Fachbereich Design der FH-Dortmund aus dem Werk Technica Curiosa einen Kupferstich des Mathematikers Caspar Schott gewählt, der das wissenschaftliche Experiment mit den vakuumgezogenen Halbkugeln ausführte und abbildete, mit dem Otto von Guericke, Wissenschaftler und Bürgermeister von Magdeburg, 1657 am Hof des Kurfürsten Friedrich Wilhelm die Existenz der Erdatmosphäre und die Effekte des Luftdrucks demonstrierte.2 Wer kennt nicht die Geschichte der Magdeburger Halbkugeln? Sie fasziniert jedes Kind, weil sie so ansprechend und anschaulich ist – ein Mythos über eine unsichtbare Kraft. Sechzehn Pferde waren nicht in der Lage, die zwei Halbkugeln zu trennen! Welch eine ungeheure Kraft hält die beiden Kugelhälften zusammen?

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In den unterschiedlichen Experimenten wurde eine wechselnde Menge von Pferde eingesetzt. In Regensburg 30, in Magdeburg 16, zunächst jedoch nur 12 schwere Kaltblüter. Das Werk Technica Curiosa von Professor Caspar Schott (1608-1666) wurde 1664 in Nürnberg veröffentlicht.

SZENOGRAFIE.OBSZENOGRAFIE

Der Kupferstich illustriert diese Kraft eindrücklich – Zentrum der Szene ist selbstverständlich die Schnittstelle der Halbkugeln. Die Kraft zweier Gespanne von je acht Pferden wird im Experiment physikalisch gleichgestellt mit der Dichtigkeit des eingefetteten Lederrings, der den Unterdruck im Kugelraum sicherstellen musste, um die unteilbare Einheit der zwei Halbkugelschalen glaubwürdig darzustellen. Welch eine imposante Szenerie: die überzeugende Inszenierung einer wissenschaftlichen Idee, deren Materialisierung und Ästhetik von Guericke bewusst gewählt hat. Er hätte mit dem gleichen Effekt auch die Hälfte der Pferde einsetzen können und eine der Kugelhälften mit einem Fels oder einem robusten Baum verbinden können. Aber nein, zwei Pferdegespanne, die einander mit voller Kraft entgegenwirken, ist im Sinne der Dramaturgie die bessere szenografische Lösung. Eine abstrakte Idee wird mit Fleisch und Blut, Schweiß und Geruch demonstriert. Die Form spricht und überzeugt. Das fanden auch Rektor Eberhard Menzel in seinem Grusswort und Ralf Bohn in seiner Vorrede zum Kolloquium, die beide auf die Allegorie der Magdeburger Halbkugeln hinwiesen. Menzel wünschte sich eine Wissenschaft, die sich ähnlich bildhaft und ansprechend am gesellschaftlichen Diskurs beteilig, und Bohn beschreibt von Guerickes Inszenierung als ein spatium imaginarium, ein Raum der Ideen, der belegt, dass „spekulative Wissenschaft keine Wahrheit (hat) ohne eine Rückführung des Abstrakten in das Sinnliche“. Das wäre grosso modo als Leitmotiv für die Szenografie zu betrachten, bloß damit ist die Geschichte der Magdeburger Halbkugeln nicht zu Ende. Das wissenschaftliche Experiment von Otto von Guericke enthält für die Szenografie noch eine andere Dimension. Sie trifft ins Herz der Szenografie und ist deswegen besonders relevant. Natürlich ist die Allegorie mit den sechzehn Pferden bildhaft, wird die Kraft der ‚pneuma‘ sinnlich demonstriert und wünschen wir uns ähnlich dramatische Inszenierungen für die Leitmotive unserer Zeit. Sie betrifft aber die äußere Form des Experiments, während doch eine Szenografie auch die Inhalte berühren sollte. Es stellt sich die zentrale Frage, ob Szenografie etwas ist, das an der Oberfläche der Dinge kratzt oder sich tief mit dem Kern der Inhalte beschäftigt? Der Wissenschaftler von Guericke hat mit Hilfe der von ihm erfundenen Luftpumpe die Auswirkung eines Vakuums demonstriert, wobei der Unterdruck im hohlen Kugelvolumen so viel geringer war als der äußere Atmosphärendruck ist, dass eben sechzehn Pferde die Kugelhälften nicht trennen können. Wie lange haben die Pferde eigentlich an den Halbkugeln gezogen? Zehn Sekunden? Eine Minute? Eine halbe Stunde? Wie perfekt war die Luftpumpe? Wie mathematisch exakt waren die kupfernen Halbkugeln? Wie genau war der äußere Luftdruck auf das Kugelvolumen bezogen? Wie ideal war die Abdichtung des eingefetteten Lederrings? Wie absolut war das Vakuum im luftleeren Kugelraum? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass

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es nicht so etwas wie ein absolutes, unendliches Vakuum geben kann. In der Quantenphysik erscheint das Vakuum sogar als dynamisches Medium mit kontingenten Fluktuationen und wir gehen sicher in der Annahme, dass auch das Vakuum der Magdeburger Halbkugeln instabil und endlich war, also eine Halbwertzeit hatte. Ohne Kenntnisse der Quantenphysik hatte auch von Guericke seine Erfahrungen gemacht. Das Experiment beschreibt den Zwischenfall nicht, aber nach einem bestimmten Intervall wären die sechzehn Pferde bestimmt in der Lage gewesen die Kugelhälften zu trennen. Gerade hier finden wir die adäquate Metapher für die Kondition der Szenografie. In der Szenografie sind Inhalte zentral, als wäre sie das luftleere Ideal in dem hohlen Halbkugelraum von Guerickes. So wie Raumerfahrung durch Vakuum erweitert wurde, eine unbekannte Zeit der Einheit gewährleistet wurde – so wie auf Grund von geometrischer oder materieller Ungenauigkeit oder externer Kontingenz die Kraft dieser Einheit zerfiel, so generiert in jeder Szenografie die zentrale Idee den Unterdruck, die der inszenierten Narration ‚für eine gewisse Zeit‘ ihre Kohärenz und Wirkung verleiht.

Das Problem der Szenografie ist ihr Erfolg Die Szenografie hat ein Problem: sie ist zu attraktiv. Das beste Beispiel für die totale Szenografie des Lebens sind die sogenannten Next-Top-Model-Shows 3 – richtige Knaller! In der Nachfolge von Amerika’s Next-Top-Model kommen jetzt in vielen Ländern alle möglichen attraktiven Frauen in derartigen Shows zusammen, um kompetent und unterhaltsam zum Top-Model gekürt zu werden. Das ist nicht allein ein Spiel: Es ist Ehrgeiz, Inszenierung und Big Business zugleich und deswegen so attraktiv. Ein mehrfaches Ideal wird inszeniert; das berauschende Ideal von Glanz und Glamour. Aber die Frage ist, was in diesen Shows in das Vakuum der Idealität gezogen wird? Was ist der Kern der Szenografie? Die Kürung eines Next-TopModels? Oder die Produktion von attraktiver Fernseh-Unterhaltung mit MillionenPublikum? Ich bin skeptisch. Die Idee, den Entwicklungsweg eines Kandidaten der Show in winzigen Facetten, in einen Kontext zu inszenieren, ist vielleicht eine charmante Erfindung, aber wie kann sich dieser Nukleus des Plots als eine hohle Fernseh-Illusion manifestieren? Top-Model zu sein ist ein Traum und eine NextTop-Model-Show ist traumhafte Arbeit für einen Szenografen. Gerade da steckt das Problem. Die Szenografie hat es zu leicht. Sie ist entdeckt worden von allen Sparten

3 America’s Next-Top-Model Reality-TV-Shows von Supermodel Tyra Banks, USA. Erste Sendung: 20. Mai 2003.

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in der Gesellschaft und sie ist ungeheuer erfolgreich. Sie ist so erfolgreich, weil sie so leicht anzuwenden ist. Alles ist szenografierbar. Alles wird szenografiert. Ist denn alles gleich relevant? Oder dringlich in der szenografischen Bearbeitung? Worauf richtet der Sog der Szenografie seine Energie? Kratzt die Szenografie an der Oberfläche der Dinge oder bohrt sie in den Kern der vorgegebenen oder erfundenen Inhalte? Diese Spanne zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe ist der zentrale Raum unserer Frage.

Obszenografie als stabilisierender Faktor Heiner Wilharm hat schon darauf hingewiesen: Das Ich, die Gesellschaft, die Sichtbarkeit der Dinge, die Authentizität der Ereignisse, sogar das Leben wird szenografiert.4 Aus merkantilen Gründen – so möchte ich hinzufügen. Die Werbung hat das längst vereinnahmt. An der Oberfläche der Dinge ist das Prinzip Szenografie einfach, attraktiv, leicht einsetzbar, in der Tiefe dagegen ungeheuer komplex. Merkantile Szenografie dekonstruiert die Sicht der Dinge zu einer mono-perspektivischen Botschaft, deren inhärente Leere mittels einer attraktiven szenografischen Verpackung kompensiert wird. Stimmiges Licht, berauschende Medien, erotisierende Musik und immer auch schöne Frauen. Das ist alles vollkommen in Ordnung, darf seinen Platz haben – nur, diskursive Szenografie – ‚ernsthafte Szenografie‘, Szenografie, die von einem tief erlebten, authentischen kulturellen Interesse angetrieben wird – kann davon nicht leben. Das brauchen wir gar nicht weiter zu erklären, weil es evident ist, aus einfachen, kommunikativen Gründen. Merkantile Szenografie spricht mit einer Stimme: ihre Botschaft ist monologisch. Diskursive Szenografie dagegen stellt Fragen, initiert das Gespräch, ist polyvalent und vielfältig interpretierbar und hat eine dialogische Natur, die jede Behauptung im Laufe ihrer Entfaltung sofort untergräbt mit eingebetteter Skepsis. Es geht mir um diese Qualität, um diese implizite Umbequemheit, die ich als obszenografischen Faktor definiere. Die obszenografische Dimension der Szenografie umfasst alles, was aus unseren Konzepten nicht wegdividiert oder herausgefiltert werden kann: der Dreck sozusagen, die ästhetische Differenz. Wir brauchen die Obszenografie – die in der Ferne mit dem Obszönen kokettiert – um dem Kern, der Qualität oder dem narrativen Potential, die im Nukleus der Szenografie sich bergen, Glanz zu verleihen. Obszenografie ist eine kritische Instanz, ein intelligenter, korrigierender Faktor, der je nach Kontext stabilisiert oder destabilisiert. Man braucht den Dreck, um die Mythologie des Schönen zu entlarven, und man braucht die Schönheit, um die Mythologie des Dreckigen zu aktivieren. Diskursive Szenografie braucht das

4 Siehe

den Beitrag von Heiner Wilharm.

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Rauschen als hintergründigen Faktor. Obszenografie ist der eingebettete advocatus diaboli der Szenografie, der die notwendige inhaltliche Instabilität und die parasitäre Dimension, d.h. Subversivität unserer Inszenierungen gewährleistet.

Die Halbwertzeit der Szenografie Jede Szenografie ist ephemer, flüchtig, instabil. Jedes Drama geht vorüber und wird im Vorübergehen erlebt. Jede manifeste Inszenierung basiert auf einer Idee, eine inventio. Jede inszenierte Idee manifestiert sich als fließendes Potential im Raum und in der Zeit. In jeder Szenografie materialisiert sich die Idee als inszenierter, narrativer Raum. Der erweiterte, von der Idee durchtränkte Raum ist die manifestatio der Szenografie. Die inventio ist der narrative Nukleus der Inszenierung, die manifestatio die Kondition für ihre Wirkung. Die inventio hat eine Halbwertzeit, sie zerfällt, hat ein grundsätzlich limitiertes Potential: die Narration entfaltet sich mit der Zeit. Jede manifestatio hat aus diesem Grund eine zeitlich beschränkte Wirkung, eine Art szenografische ‚Gamma-Strahlung‘. Der narrative Kern zerfällt und die Narration strahlt, fließt mit der Zeit und zerrinnt in einem Intervall, dessen Länge von der Kohärenz, der Bandbreite und dem Kontext der Szenografie bestimmt wird. Jede Szenografie hat eine Halbwertzeit. Jedes Drama lebt in einem Intervall. Was ist Szenografie? Studierende frage ich zu Beginn ihres Studiums „Scenographical Design“ immer: Wie habt ihr euren Eltern erzählt, was ihr hier in Zürich studieren werdet?5 Die Studenten und Studentinnen haben am Anfang durchaus keine Ahnung, keine Idee. Zuerst ist alles völlig offen. Stimmungen zu erzeugen, ist die maximale Vorstellung, die man von der Szenografie hat. Witzigerweise aber, wenn ich mich als Obszenograf bezeichne, dann fangen die Augen an zu zwinkern und man ahnt, was es sein könnte. Die Vermutungen gehen wahrscheinlich in die falsche Richtung, aber nicht 100 Prozent, weil eine konkrete szenografische Arbeit, die manifestatio, immer auf eine spannende Idee, einer inventio zurückgeht, die an sich konsistent sein mag, aber in der Umsetzung unvermeidlich immer auch ‚schwarze Löcher‘, unzugängliche Territorien, kontingente Mysterien, ungewünschte Positionen, ja Dreck vielleicht miteinschließt. Das wäre der obszenografische Akzent, die unbeherrschbare externe Komponente, der Parasit, wenn man so will, der im gesamten Kreislauf des Dramas eine wichtige Funktion erfüllt, nämlich dafür zu sor-

5 Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, Departement Design, Studienbereich Scenographical Design. Mit der Gründung der Züricher Hochschule der Künste im Jahr 2007 wechselte das Scenographical Design in Inhalt, Namen und Departement. Im Gegensatz zum stark transdisziplinären Ansatz des Scenographical Design fokussiert der neue Studienbereich Szenografie im Departement Darstellende Künste und Film vermehrt auf die Bühne.

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gen, dass das Werk seinen offenen und aktiven Charakter behält und den Besucher partizipieren lässt. Jedes szenografische Gesamtwerk konstituiert einen narrativen Raum, der instabil ist, der zerfällt, der mit der Zeit vergeht, der also eine gewisse Halbwertzeit hat. Entweder der Nukleus, die Idee des Werkes, die inventio zerfällt. Oder der kulturelle Kontext verliert seine gesellschaftliche und diskursive Relevanz. Szenografie bekommt erst dann fachspezifische Prägnanz und Glanz, wenn alle inund externen Parameter optimiert und wohltemperiert sind und die Inszenierung im richtigen kulturellen Intervall aktiviert wird. ‚A hell of a job!‘ Die Szenografie ist instabil und ihr Kontext ‚meteorologisch‘. Auch wenn der veritable Szenograf erfinderische Neugier mit gestalterischem Abenteuer vereint, kann nur die Kombination von messerscharfer Intuition und sensiblem Intellekt Orientierung bieten. Ich möchte heute Abend in einer freien Form meinen Weg finden, um eine Gegenposition zur merkantilen Szenografie zu entwickeln. Ich nenne mich gerne Obszenograf, um die augenscheinliche Stabilität der Eck- und Ankerpunkte der Szenografie zu provozieren und um das geschickte, salonfähige Programm der Szenografie zu destabilisieren. Natürlich ist Obszenografie dann ein provokantes Wortspiel. Nicht mehr als das? Doch! Die Paradoxie der Szenografie liegt in der dialektischen Abhängigkeit zur destabilisierenden Tendenz der Obszenografie. In diesem Spiel tritt die Szenografie stabil im angemessenen Intervall in Erscheinung, wie das Auge eines Orkans. Szenografie setzt traditionell an den griechischen Begriffen skene und graphein an. Skene bedeutet Hütte oder Zelt, suggeriert Raum und erinnert an Schutz und Behausung. Graphein bedeutet schreiben oder hineinschreiben, suggeriert Zeit, wobei die Syntax der fließenden Zeichen die Semantik der Botschaft trägt. Der im Begriff Szenografie eingeschlossene Gedanke eines n-dimensionalen, erweiterten Raums, der unseren Mythen Schutz bietet, gefällt mir sehr. Das gemeinsame Ziel oder die geteilte Aufgabe von Szenografie und Obszenografie erstreitet diese Erweiterung, die ich gerne als ‚Beherbergung einer Idee‘ definieren möchte. Das wären meine Thesen, die ich diesen Abend verfolgen möchte.

2. ENIGMA (ca.10’) Über das Enigmatische der Welt

Wir haben ein Musikstück gehört, das jeder kennt.6 Jeder, der einmal Klavierstunden gehabt, hat es irgendwann geübt. Ein Musikstück also mit einem extrem hohen Bekanntheitsgrad – zugleich aber ist dieses Stück ziemlich rätselhaft. Ich könnte es 6

Ludwig van Beethoven (1770-1827), Klavier-Sonate cis Moll op.27 Nr. 2; auch: „Mondscheinsonate“ genannt (1801). Vladimir Ashkenazy (1937): Aufnahme 1979, Herausgabe: Decca: 1987.

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nicht so spielen wie Vladimir Ashkenazy, der oftmals spöttisch „Breithoven“ genannt wird, weil er an den Noten, an der Zeit zieht. Es gibt in der Notation natürlich einen vorgegeben Takt, eine von Beethoven komponierte Struktur, seine inventio. Aber wenn man richtig zuhört, wird jede Note in der Ausführung gerade vor dem

Abb. 3 Die Mondscheinsonate wird eingespielt

Takt oder danach gespielt. Ashkenazys Ausführung atmet und hat eine rätselhafte Dimension, die den Zuhörer fesselt und ‚for the time being‘ in eine andere Welt versetzt. Das äußerst sich in der manifestatio. Transponiert nach unserem Feld, müsste die Szenografie immer ein derartiges Plädoyer für das Enigmatische sein. Nicht die Idee oder die Erfindung der Szenografie gewährleistet diese Kapazität. Das Enigma einer Installation oder Performanz ist ausschließlich der Umsetzung oder Ausführung zuzuordnen, die selbstverständlich von einer wohltemperierten Sensibilität und einem erfinderischen Geist angefeuert werden muss. Ralf Bohn hat heute über das Versteckspiel gesprochen.7 Das hat mich gefreut, denn die Frage, wie die Szenografie eine solche enigmatische Dimension bekommt, beschäftigt mich ständig. Ich glaube, wir müssen viel, viel mehr spielerische Elemente in unseren Szenografien verstecken. Elemente mit rätselhaften Qualitäten, die in der Lage sind, eine Vielfalt von assoziativen Ketten zu aktivieren, die die Fähigkeit besitzen, einen Kreislauf von Erinnerung und Imagination ins Oszillieren zu versetzen, sodass die Szenografie ‚brennen‘ kann und die Rezipienten in Feuer und Flamme geraten, mit einem Bein im Alltag und dem anderen in einer unbekannten

7

Siehe den Beitrag von Ralf Bohn.

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neuen Welt stehen, die es zu explorieren gilt. Das Enigma wäre das Ziel der Szenografie: Stets diesen produktiven Spagat herbeizuführen, diesen offenen Zustand von gesteigerter Intelligenz und erhöhter Sensibilität – vis-à-vis dem Rätselhaften. Weswegen Rätsel und nicht Mysterien? Es müssen Rätsel sein, weil Rätsel im Gegensatz zu Mysterien lösbar sind. Mysterien sind nicht lösbar, dafür sind sie Mysterien. Aber Rätsel sind lösbar und gerade diese Lösbarkeit des Rätsels ist seine Neugier weckende, sprich produktive Kapazität, die faktische Lösung zu einem Spiel. Mysterien gehören nicht zur Welt des Spiels. Mysterien fesseln, aber das Spiel befreit.8 Es ist ein Teil des Spiels, zu sehen, was sich lösen lässt oder unlösbar bleibt. Das Spiel konfrontiert den Spieler mit einer strukturierten Kette von Fragen. Das Mysterium stellt eine große, offene Frage in den Raum. Das Spiel hat eine Struktur, das Mysterium nicht. Das Spiel ist inszeniert, das Mysterium erscheint. Und die Inszenierung ist ein Spiel, nicht ein Mysterium. Wenn die Inszenierung ein Mysterium wäre, scheitert die Szenografie und mit ihr der Szenograf. Natürlich wird auch die Szenografie von Mysterien durchsetzt. Sie gehören aber ausschließlich zur Domäne des Szenografen, zur Entwurfsaufgabe, die sich nur teilweise strukturieren lässt und teilsweise Mysterium bleibt, weil der Intellekt von undurchdringbaren Sphären beherrscht ist, die den diskursiven Szenografen zu einem existentiellen ‚Despair‘ führen können, wenn er keine vernünftige Strategie findet, um jene ‚schwarze Löcher‘ der Aufgabe im Entwurfsprozess einzubinden. Wir alle kennen das Paradox, das in jeder Entwurfsaufgabe steckt. Der Entwurfs-prozess ist grundsätzlich konvergent, fängt mit einer These an. Am Anfang ist vieles noch düster, man sucht nach Klarheit. Man geht den Weg, der zur Kohärenz der Variablen führt. Divergente Elemente werden eliminiert. So wird die Konvergenz im Prozess erzwungen. Das sind die drei K’s des rationalen Szenografen, die sich als Formel vereinen lassen: Konsistenz + Konvergenz = Kohärenz. Ein solche primitive Mathematik kann nur aufrechterhalten bleiben, wenn alle fließenden und finsternen Faktoren der Thematik aus der Aufgabe entfernt, eliminiert werden, was durchaus auch der Fall ist. Der Prozess der Szenografie ist mehrheitlich reduktiv. Das reicht vielleicht für die merkantile Szenografie, aber wenn wir eine komplexe Thematik vielschichtig und ‚pluriform‘ inszenieren möchten, kann die Reduktion kein angemessenes Fundament schaffen. Es ist eine andere Strategie gefragt, die inkludierernder, kumulativer Natur ist, die die verschlossenen kognitiven Territorien nicht eleminiert, sondern mit einschliesst, sie höchstens mit Geduld umgeht und abwarten kann, bis die Sicht auf die Sache vielleicht weniger nebulös ist. Die inventio des Szenografen wird de facto von

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Johan Huizinga (1872-1945), Homo Ludens, Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlts Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1987. Originalausgabe 1938.

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Mysterien dominiert. Trotzdem darf die manifestatio einer wirkungsvollen Szenografie nur rätselhaft sein. Ich zeige gerne einige Bilder zu dieser Thematik.9

Abb. 4 Besucher vor dem Schwarzen Quadrat von Malewitsch

Wir sehen ein Bild in der Malewitsch-Austellung 1989 im Stedelijk-Museum, Amsterdam.10 Kasimir Malewitsch hat sich 1915 sein Schwarzes Quadrat als Verdichtung der Malerei der Welt vorgestellt. Als Gemälde trägt das sensibel und nervös gemalte schwarze Quadrat eine enorme konzeptuelle Last. Es ist die malerische Singularität. Wenn man sich alle Malerei der Welt überlagert vorstellt, addiert sich das zum schwarzen Quadrat. Ein schwarzes Loch mit einer Masse so groß, dass die pikturale Semantik nicht mehr lesbar ist. Wenn man das Gemälde so (aus der Ferne und vom Beamer projiziert) abbildet, sieht man die Nuancen nicht. Wenn man es aber von ganz Nahem liest, betrachtet man die Malerei anders. Wie bei dem Weiß von Mondrian ist die Haut des Schwarzen Quadrats von einer enormen Sensibilität: enigmatisch. Das Enigmatische hat also seine Konditionen. Distanz ist dabei ein wesentlicher Parameter. Mentale Distanz – Emotionale Distanz – Betrachtungsdistanz. Wie weit ist man von der Sache entfernt? Ist man nah? Ist man fern? Was sieht man eigentlich? Man kann eigentlich nicht über Szenografie sprechen, ohne die Qualität und die Orientierung des Blickes zu thematisieren. Das Foto von Wim Ruigrok, das eine Führung in der Malewitsch-Ausstellung abbildet, ist erstaunlich. Die Gruppe hört dem Führer zu. Einer nur hatte den Mut, 9

Die Bildersequenz der Enigma-Szene umfasste 10 Bilder. Hier werden nur die zum Thema des schwarzen Quadrats gezeigt. 10 Kasimir Malewitsch (1878-1935): Das Schwarze Quadrat, 1915. Foto Ausstellung: Wim Ruigrok, Amsterdam.

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sich mit dem Bild selber auseinander zu setzen. Und wenn man da steht, dann befindet man sich tatsächlich am Rande eines schwarzen Lochs, am Horizont des Ereignisses, in dem der Sog vom Gemälde einem in die optische Gefahrenzone des Quadrats zieht und man hautnah nur noch ‚Schwarz‘ sieht.

Abb. 5 Großprojektion eines schwarzen Photoshop-Quadrats

Als Kontrast zeige ich ein zweites Bild: ein schwarzes, glattes PhotoshopQuadrat. In der Projektion ganz ähnlich. Aber dieses Bild hat nichts mit dem Bild von Malewitsch zu tun, obwohl das optisch gleich aussieht. Hier ist alles verschwunden. Das Photoshop-Quadrat hat nicht den Nukleus, um ein Enigma zu tragen, weil an der manifestatio keine inventio zu Grunde liegt. Diskursive Szenografie verhält sich zur merkantilen Szenografie, wie das Schwarze Quadrat von Malewitsch zum Photoshop-Quadrat. Das Enigma bestimmt die Gravität der Ästhetik.

3. THE EYE OF PREY (ca.15’) Über die Condition Humaine und das Intervall der Szenografie

Die Szenografie lebt in einem Intervall, und in der Inszenierung geht nichts über dieses spezifische Intervall hinaus – nur Erinnerung und Imagination. Man könnte sich fragen, welches das kleinste und das grösste Intervall, also welches die Grenzen oder Grenzwerte der Szenografie sind? Der Schluss einer solchen Überlegung bleibt eine Aussage über die Bandbreite der Szenografie.

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Das Intervall ist ein Zeitfraktal. Wenn man Zeit manipuliert, Zeit komprimiert oder an der Zeit zieht, wie Askenazy in seiner Ausführung der Mondscheinsonate, verändern sich alle Elemente der Szenografie symbiotisch. Auf welcher Zeitachse manifestiert sich die Szenografie? Wie lange wandert der Besucher durchs Museum? Was sind Spannkraft oder Ausführung einer Inszenierung? Die Mondscheinsonate von Ashkenazy dauert 6 Minuten. Ein durchschnittlicher Kinofilm 90 Minuten. Warten auf Godot von Samuel Beckett 2 Stunden. Einstein on the Beach von Robert Wilson und Philip Glass 5 Stunden. Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner war „ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend“ und dauert insgesamt knapp 15 Stunden.11 Für heute Abend hatte ich eine Darstellung von 120 Minuten geplant. Das ist schon lang – Sie können gerne intervenieren. Über die Condition Humaine und das existentielle Intervall hat der irische Schriftsteller, Dramatiker und Nobelpreisträger Samuel Beckett zwei interessante Prosatexte geschrieben: Imagination Dead Imagine (Ausgeträumt träumen, 1965) und The Lost Ones (Der Verwaiser, 1966-1970). Die Texte skizzieren extreme meteorologische Verhältnisse einer Wirklichkeit, in der das Individuum (Text 1) oder das Individuum in einer Gesellschaft (Text 2) nur unter ganz bestimmten Umständen seine Individualität gestalten kann. Im Gegensatz zu der Auffassung, dass unsere Welt und Wirklichkeit nach einem Plan Gottes oder den Naturgesetzen funktionieren, hat die Beckett’sche Welt keine Bedeutung in diesem Sinne. Die Wirklichkeit ist für Beckett ein Perpetuum, ein von Zufall dominiertes Kontinuum von Ereignissen – ohne Plan und Ziel. Die Konfrontation mit einer bedeutungslosen Existenz führt das Individuum zu einer existentiellen Verzweiflung, die Beckett the suffering of being nennt. In dieser Situation gibt es für das Individuum nur eine Option: als ein Akt der Wahrnehmung selbst Form und Bedeutung auf diejenige Wirklichkeit zu projizieren, die uns entgegentritt. Tagein – Tagaus. Diese Wirklichkeit ist grau und hat kaum etwas zu bieten. Doch unsere Wahrnehmung ermöglicht es uns, die Welt als farbige, sinnvolle Erfahrung zu erleben. In Becketts Universum nehmen wir die Welt nicht objektiv wahr. Um zu überleben, sind wir gezwungen, eine völlig subjektive Wirklichkeit zu konstruieren, in einem Prozess, der bei Beckett the manufacture of meaning heisst. Die Qualität des Blicks steht dabei zentral. Beckett induziert den Begriff des „schneidenden Blicks“ (The eye of prey), oder „Raubauge“ in der deutschen Übersetzung. Für Beckett ist der „schneidende Blick“, ein Blick, ohne zu blinzeln, ein Blick, der sticht, ein letzter Bruchteil von Autonomie, der dem Individuum zur Verfügung steht in einer aussichts- und hoffnungslosen Welt. Der Raubaugenblick ist die Manifestierung einer Existenz, in der sehen und gesehen 11

Warten auf Godot, Samuel Beckett, Erstaufführung: Paris, 1953. Einstein on the Beach, Robert Wilson und Philip Glass, Erstaufführung: Avignon, 1976. Opernzyklus: Der Ring des Nibelungen, Richard Wagner, 1853-1874. Erstaufführungen: 1869-1876.

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werden zentral sind. Esse est percipi. Wie schaut man, wenn Sein gesehen worden ist und man nur einen Augenblick zum Schauen hat?12 In einer Zeitspanne von etwa 25 Jahren hat der japanisch-amerikanische Fotograf Hiroshi Sugimoto eine Reihe von Kinotheatern und Drive-in Movies während der Vorführung des Films fotografiert. Über dieses Projekt, das er „Theaters“ genannt hat, sagte Sugimoto: Ich führe gewöhnlich Selbstgespräche. Eines Abends, als ich Aufnahmen im American Museum of Natural History machte, hatte ich eine nahezu hallunizatorische Vision. Meine innere FrageAntwort-Sitzung, die zu dieser Vision führte, lautete ungefähr so: ‚Was geschieht, wenn du einen ganzen Film auf einem einzigen Bild aufnimmst?‘ Die Antwort: ‚Du wirst eine glänzende Leinwand bekommen.‘ Ich begann sofort zu experimentieren, um diese Vision realisieren zu können. Eines Nachmittags ging ich mit der Großbildkamera in ein billiges Kino im EastVillage. Sobald der Film begann, stellte ich den Verschluss auf eine weit offene Blende ein. Als der Film zwei Stunden später zu Ende ging, schloss ich die Blende wieder mit einem Klick. Am gleichen Abend entwickelte ich den Film, und meine Vision explodierte vor meinen Augen.13

Abb. 6 Sugimoto – Fotografie aus der Serie Theaters

Es ging ihm selbstverständlich um etwas anderes – doch welche Filme hat Sugimoto gesehen? Once upon a Time in the West von Sergio Leone? Clockwork Orange von Stanley Kubrick? Blow-Up von Antonioni? Paris-Texas von Wim Wenders? 12

The Complete Short Prose of Samuel Beckett, 1929-1989. Samuel Beckett, S.E. Gontarkski (Hg.) 1997. Imagination morte imaginez, 1965. Englischer Titel: Imagination Dead Imagine. Deutscher Titel: Ausgeträumt träumen, aus dem Französischen übersetzt von Elmar von Tophoven. Le Dépeupleur, 1966-1970. Englischer Titel: The Lost Ones. Deutscher Titel: Der Verwaiser. 13 Hiroshi Sugimoto (1948): Serie Theaters, 1975-2000, Hatje Cantz Verlag GmbH, 2007.

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Dead Man von Jim Jarmusch? Egal, am Ende sahen alle Filme gleich aus: weiß. Bei der Komprimierung aller 172.800 Frames eines 2-stündigen Films im Gefäß eines starren photografischen Intervalls sind die spezifischen, dramatischen Artikulierungen der Bilder aufgelöst. Nur das Licht, der Träger der filmischen Inhalte ist geblieben und hat sich addiert. Wenn das Intervall oder die Intervallstruktur nicht stimmt, besser: unbeweglich ist, findet der ephemere Inhalt keinen Anker, und so bleibt für Szenografie nur das Medium als Botschaft. Das Verrinnen der Zeit selber gehört zur ‚DNA‘ der Botschaft. Drama, Leben, fragt paradoxerweise nach einem meteorologischen, variablen Verhältnisse in Form einer atmenden, pulsierenden Intervallstruktur.

4. ALLES IST EXPERIMENT (ca. 15’) Über das Schauen und die Qualität des Blickes

Ich bin fasziniert von der Arbeit, der Inspiration und der Triebkraft des russischen Künstlers Alexander Rodtschenko, weil sie ein starkes, für uns wesentliches Statement enthalten: das über das Schauen und über die Qualität des Blicks. Ich zeige erst

Abb. 7 Alexander Rodtschenko: Warwara Stepanova, 1928

ein paar Bilder zu Rodtschenko und möchte anschließend ein Fragment aus einem autobiographischen Text lesen, den Rodtschenko 1939 geschrieben hat. 14

Alexander Rodtschenko (1891-1956). Aus: Alles ist Experiment. Der Künstler-Ingenieur. Hamburg 1993. S. 14/15.

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Ich wurde über einer Theaterbühne geboren. Es war im russischen Club von Sankt Petersburg auf dem Newski-Prospekt, wo mein Vater nach langem Mißgeschick als Requisiteur arbeitete. Das Theaterleben – das heißt, die Bühne, die Kulissen – war für mich das wirkliche Leben. Ich hatte keine Ahnung von dem, was anderswo vor sich ging. Unsere Wohnung, eine Dienstwohnung im vierten Stock, hatte eine Tür, die zur Bühne führte – es war eigentlich ganz einfach das Dachgeschoß. Man brauchte nur eine sehr steile Treppe hinab zu steigen und schon befand man sich auf der Bühne. Ich habe meine erste Landschaft auf der Bühne gesehen und meine ersten Blumen hat mein Vater gemacht. Mit einem Wort sah ich all das Alltägliche, Wirkliche im Leben unter dem Aspekt des Falschen und Künstlichen. Alles war ein Kunstprodukt – nur ich wußte es nicht und glaubte, es sei genau das Gegenteil. Ich wunderte mich dann außerordentlich, als ich erfuhr, daß es in einem Haus, wo wir zu Besuch gewesen waren, keine Bühne gab. Ich fand, dass die Schauspieler die besten Leute waren, da all das nur für sie gemacht wurde. Ich hatte den Eindruck, eine Stadt bestehe nur aus Theatern, und dasselbe Leben wie bei uns Zuhause finde überall statt. Ich vermutete nicht einmal, dass es wirkliche Wohnhäuser, Fabriken, Gefängnisse und Palaste geben konnte: all das gibt es auf der Theaterbühne. Kein Mensch hatte Zeit genug, mir das zu erklären; was mich betrifft, so stellte ich keine Fragen, da es für mich keine Probleme gab.14

5. PARALLAXE (ca. 15’) Über die Kurzsicht und die fernsicht

Wenn man die Qualität des Blicks hinterfragt, muss man über Tiefenschärfe reden und kommt dem Begriff der Parallaxe auf die Spur. Ich zeige eine Skizze von René Descartes, aus seiner posthumen Publikation De Homine, in welcher er das Prinzip der Triangulation, der Dreiecksmessung, als Hilfe für Blinde adaptiert.15 Auf Grund der Parallaxe von zwei geometrisch bekannten, meistens nahegelegenen, aber von einander distanzierten Punkte, lässt sich die Position eines dritten, fernliegenen unbekannten Punktes berechnen. Es geht mir hier um die Distanz zwischen zwei gegebenen Orientierungen, so wie sie in der Praxis der Szenografie vielfältig vorhanden sind: zwischen Inhalt und Form, zwischen Kurator und Gestalter, zwischen Intellekt und Intuition, zwischen bekannt und unbekannt, zwischen Mythos und Logos, zwischen Spielwelt und Alltag, zwischen Szenograf und Publikum. Parallaxe heißt für mich also geistige Parallaxe, die Achse der Bipolarität, auf der es nur eine denkbare, chancenreiche Position zum Ausgleich, zur Abstimmung, Übermittlung und zum Dialog gibt, nämlich die der Mitte. Damit ist aber nicht ein billiger Konsens gemeint. Gemeint ist die Basis zu einem Gespräch, in dem die Grenzwerte der Pole eingebettet sind. Die Szenografie ist transdisziplinär – Transdisziplinarität hat mit Rändern zu tun. Wenn die Disziplinen sich durchdringen, bewegt sich die Peripherie. Wenn transdisziplinäres Potential sich entfaltet, falten sich die Ränder. In der Szenografie 15

René Descartes (1596-1650). De Homine, Amsterdam, 1632.

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geht es immer um ein Verhältnis der Positionen von Zentren und Rändern, vom fest im Kern verankerten Eigensinn und einem von Neugier und Abenteuer vorangetriebenen ‚Anderssinn‘. Das Andere, das hinter dem Horizont des Eigenen zu entdecken ist, setzt immer eine genuine Repositionierung und eine zentrifugale Tendenz vom Zentrum zum Rand voraus. Die hartnäckige Bewegung in der Richtung vom Rand, wo die stabilen Eigenreferenzen im Nebel des Unbekannten ins Schwanken geraten, ist zentral für die Grundhaltung des Szenografen. Die Situation ist bipolar. Für jede an der Szenografie beteiligte Disziplin gibt es einen stabilen Ankerpunkt im Eigenen und einen schwebenden Ankerpunt im Anderen. Diese Bipolarität erzeugt eine bewegliche Parallaxe, die dem Blick Tiefenschärfe oder Relief, ja, eine sensible inkludierende Orientierung verleiht.

Abb. 8 Dreiecksmessung für Blinde, aus René Descartes, De Homine, Amsterdam, 1660

René Descartes hat 1632 in seinem erst posthum publizierten Werk De Homine das Prinzip der Parallaxe als trigonometrische Orientierungshilfe für Blinde skizziert. Das spricht uns an, weil es unsere Situation symbolisiert. In einem szenografischen Entwurfsprozess sind wir grundsätzlich teilweise blind und angewiesen auf ein Sensorium, das jenseits des Augenscheinlichen fokussiert. Wenn man Augen hat, heißt das noch nicht unmittelbar, dass man auch sehen kann. Bekanntlich sieht man die Zusammenhänge erst dann und da, wann und wo man sie vermutet und erst gedacht hat. Der inklusive Blick heißt, dass man – metaphorisch gesprochen – in jedem Universum außer den Fixsternen auch das Fließende und das Fluktuierende der ‚Wolken‘ in die Betrachtung einbezieht. Es ist die akute, dynamische und fließende Orientierung, die zwischen Scheitern oder Erfolg entscheidet, egal ob das Andere nah oder fern ist.

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In meiner ersten Szene über das Enigmatische der Welt habe ich ein Selbstporträt von Marina Abramovic mit Skorpion gezeigt.16 Das Andere – hier das Gefährliche – drängt sich hautnah auf und transformiert gemeinsam ihren und unseren Blick. Das Porträt mit Skorpion ist exemplarisch für die Risikobereitschaft von Abramovic und appelliert an unseren Mut und praktische Intelligenz. Ein Wagnis. Szenografische Prozesse vollziehen sich größtenteils im Unbekannten. Das Unbekannte kann nur teilweise erkannt werden. Das Unbekannte ist auch von ‚schwarzen Löchern‘ geprägt, die sich weder mit Intellekt noch mit Intuition durchdringen lassen. Wichtig wäre, mit diesen schwarzen Löchern zu rechnen. Inklusiv denken und entwerfen – das definiert Szenografie als beweglichen Prozess mit einem Ergebnis, in dem prinzipiell eine unbekannte, ephemere Restmasse übrig bleibt: das Enigma

Abb. 9 Marina Abramovic, Selbstporträt mit Skorpion, 2005

des Werkes. Das Enigma ist meteorologisch, bewegt sich zwischen einem Hoch und einem Tief, zwischen bekannt und unbekannt, zwischen Sicherheit und Gefahr, zwischen Logos und Mythos. Wie weit sind Hoch und Tief, Bekanntes und Unbekanntes, Sicherheit und Gefahr, Logos und Mythos voneinander entfernt? In London gab es Sommer 2007 bei der Wellcome Foundation die Ausstellung The Heart, die für mich den Weg zur Antwort auf dieser Frage bahnte.17 The Heart war eine Ausstellung über das Herz, mit anatomischen Präparaten von Mensch und Tier und spannenden Statistiken

16

Marina Abramovic (1946), Selbstportät mit Skorpion (Open Eyes), 2005. Foundation, London, Ausstellung The Heart, 21. Juni – 16. September 2007.

17 The Wellcome

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über das Potential dieses Organs. Mich hat dabei vor allem die Bandbreite der verschiedenen Herzkapazitäten von endothermen Organismen, wie Mensch und Tier, getroffen. Unabhängig von der Größe des Organismus schlägt das Tierherz etwa eine Milliarde Mal. Das ist die durchschnittliche Kapazität. Es wurde ein Präparat von einem Elefantenherz gezeigt. Herzfrequenz: 28 Schläge pro Minute. Das ist der Takt des Motors, der dieses 7 Tonnen schwere Säugetier durch die Savannen Afrikas treibt. Als Kontrast gab es auch das Präparat eines Kolibriherzens. Frequenz: 1.200 Schläge pro Minute im Flug. Ein Minimotor, der das 2 Gramm schwere Vöglein vor- und rückwärts fliegen lässt. Die Pumpe des Elefanten zieht sich jede zweite Sekunde zusammen. Der Puls gestaltet seine Motorik: Bam. Bam. Die Pumpe des Kolobris dagegen zieht sich im Flug zwanzig Mal pro Sekunde zusammen. Sein Motor brummt. Wenn man sein Ohr gegen den Körper des fliegenden Kolibris legen könnte, würde man einen tiefen Basston hören. Und der Mensch? Mit 70 Kilogramm und einer Herzfrequenz von 70 Schlägen pro Minute befindet der Mensch sich biologisch in der Mitte auf der Achse zwischen Elefanten und Kolibri. Mit etwas mehr als einem Puls pro Sekunde durchquert der Mensch die urbanen und szenografischen Welten, die von ihm selbst gedacht, inszeniert und gestaltet werden. Bei der Vorbereitung dieser szenischen Lesung habe ich erneut festgestellt, wie stark ich eigentlich von irischen Künstlern beeinflusst bin. Sie tauchen auf unterschiedliche Art und Weise in meiner Performance auf. Über Samuel Beckett haben wir schon gesprochen. James Joyce kommt bald. Mit Van Morrison werde ich abschließen, doch es gibt noch W. B. Yeats.18 Der irische Schrifsteller, Dramatiker, Freiheitskämpfer und Politiker William Butler Yeats hatte als junger Mann (etwa 1886) folgenden Aphorismus geschrieben: „Talent nimmt Differenzen wahr, Genie Einheit.“ In den nächsten Jahren hat dieses Statement ihn immer wieder beschäftigt, bis zu dem Punkt, an dem sich – wie in einem Halbschlaf – in seinem Kopf ein neuer Satz bildete: „Hammer your thoughts into a unity!“ Dieser Satz wurde für viele Jahre die ultime Referenz, sowohl für seine literarische, dramatische als auch politische Arbeit. Wie lässt sich das übersetzen? „Schmiede deine Gedanken zu einer Einheit.“ Ich finde, das ist wirklich ein Leitmotiv für den Szenografen. Yeats Biographie war für mich sehr anregend, denn sie enthält viel Nützliches für die Szenografie: Das literarische Äquivalent der Metapher der Magdeburger Halbkugeln. Wenn Rem Koolhaas 1995 in seinem Buch SMLXL das Konzept der Generic City vorstellt, verweist er auf die szenografische Überbelastung historischer Stadtkerne,

18 W.

B. Yeats (1865-1939), irischer Schriftsteller, Politiker und Nobelpreisträger.

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mit einem Zitat von W. B. Yeats, das den Verlust von Einheit thematisiert: „The center cannot hold, things fall apart“.19 Anfang des 20. Jahrhundert war Yeats direkt konfrontiert mit drei Kriegen: dem Irischen Freiheitskampf gegen England, dem Bouren-Krieg in Süd-Afrika und dem Ersten Weltkrieg. Für Yeats war nur die Kombination von Imagination und Intellekt in der Lage, jene „individuellen Mythologien“ zu generieren, in denen die Konstanten und Werte seiner Existenz in einer turbulenten Welt überleben konnten. In unserem Rahmen bietet Yeats hier implizit zwei Aussagen über die Kohärenz eines szenografischen Gesamtwerks und den damit zusammenhängenden Begriff Nukleus oder ‚kritische Ladung‘. Gute Inszenierungen sind ja kompakte individuelle Mythologien, die an der Schnittstelle von wahr und nicht wahr, von Realität und Fiktion, von Authentizität und Interpretation, von Transparenz und Mysterium operieren. Daraus folgt: Es ist keine Frage, ob die Szenografie etwas ist, das sich an der Oberfläche der Dinge manifestiert. Diskursive Szenografie greift tief ein in die Verhältnisse von Inhalt und Form und generiert einen Kern, der das Zentrum der Inszenierung ist und die Elemente zusammenhält. Entweder der Stoff ist brisant, oder die Interpretation prägnant. Oder beides. Die Welt brennt. Uns bleibt übrig, unsere Gedanken zu einer Einheit zu schmieden. Hoffentlich kommen wir heute Abend wieder einen Schritt weiter.

6. CAMERA LUCIDA (ca. 15’) Über die helle Kammer der Szenografie

Jede Inszenierung wird getragen von einer Idee, eine inventio. Jede gelungene Inszenierung erzählt auch eine Geschichte, einen Mythos, der sich ausdrückt in eine ansprechende, aussagekräftige Form – die manifestatio –, die den Zuschauer, den Besucher, den Betrachter, den Zuhörer berührt. Es ist gerade dieses Element des Betrachters, das ich jetzt in die Argumentation einbringen möchte. Der französische Philosoph und Semiologe Roland Barthes hat 1980 posthum ein integrierendes Werk über die Fotografie publiziert: La Chambre Claire (Die Helle Kammer).20 Die Helle Kammer stellt den Betrachter – Barthes selber – in den Mittelpunkt und versucht, den Charakter und die immanente Qualität eines Fotos aus der Betrachterperspektive heraus zu beschreiben. Barthes beschreibt nicht die Fotografie als technisches Medium, sondern die Wirkung eines Fotos in der Beziehung

19

Rem Koolhaas: SMLXL, Rotterdam, 1995. Roland Barthes: La Chambre Claire, Paris 1980; Deutsch: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie. Frankfurt am Main 1989.

20

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zu einem betroffenen Betrachter. Die Betroffenheit steht zentral und weil das so ist, könnte man Die Helle Kammer auch als eine Verhandlung über die Dramaturgie der Fotografie definieren. Wenn die Dramaturgie die Lehre der Wirkung der Dinge ist, involviert sie, wie von Aristoteles schon in seiner Ars Rhetorica festgestellt, immer drei Positionen, die sich zu einander verhalten, als bildeten sie gemeinsam ein Scharnier: ein Gelenk, das zwei Teile beweglich verbindet. Aristoteles illustriert diese Idee mit der dramatischen Einheit zwischen Redner, Geschichte und Zuhörer. Für die Wirkung der Erzählung sind alle drei beweglich verbundenen Teile des Gelenks vorausgesetzt. Im Rahmen der Fotografie induziert Barthes so den Fotograf als Operator, das Foto als Spektrum und den Betrachter als Spectator. Ohne Operator kein Foto. Ohne Foto kein Spektrum, das Operator und Spectator verbindet. Ohne Spectator nur ein Foto, dessen Spektrum sich nicht entfalten kann, nicht spricht und deshalb wirkungslos bleibt. Dieses wesentliche Moment der Betrachtung in der Vervollständigung des Fotos nennt Barthes die spectatio und es leuchtet ein, dass dieses Prinzip sich auch in die Szenografie transponieren lässt. Jede Inszenierung könnte sich so im Gelenk von drei maßgebenden Faktoren entfalten und vervollständigen: inventio, manifestatio und spectatio. Die inventio gehört dem Szenograf, dem Operator. Die in Material und Medien umgesetzte Idee ist die manifestatio und bildet das Spektrum. Die spectatio ist die Domäne des Betrachters, des Spektators, der mit seiner Schaulust, seinem Blick, seinen Sinnen, die Erzäh-

Abb. 10 Robert Mapplethorpe: Die Autoren Robert Wilson und Philip Glass vor der Aufführung der Oper Einstein on the Beach, 1976

lung, den Mythos, die Narration, den narrativen Raum in Bewegung setzt, so dass das Spektrum des Bühnenwerks oder der Ausstellung sich entfalten kann. Dieses Spektrum besteht bei Barthes aus zwei Aspekten, die sich mit Hilfe von dem hier gezeigten Bild beschreiben lassen. Das Bild, ein Foto des amerikanischen Fotografen

SZENOGRAFIE.OBSZENOGRAFIE

Robert Mapplethorpe, ist ein Doppelporträt des Musikers und Komponisten Philip Glass und des Szenografen und Regisseurs Robert Wilson. Der Anlass für das Foto war die Erstaufführung der Oper der beiden Autoren: Einstein on the Beach, 1976. Barthes zeigt dieses Foto in seinem Buch und definiert die Information, die ich soeben gegeben habe, als das Studium des Fotos: die Ansammlung von Fakten, die das Foto in jeder Hinsicht beschreiben. Über die spectatio sagt Barthes, dass sein Blick unwillkürlich zu Robert Wilson geht. Für ihn hat Wilson (auf dem Foto) einfach „eine Persönlichkeit, die sticht“. Dieses stechende Element eines Fotos nennt Barthes das punctum, ein schwer zu beschreibendes, kontingentes Detail, das trotzdem die Wirkung und in dem Sinne auch die Qualität des Bildes ausmacht. Auch Barthes hat es im Falle von Robert Wilson nicht definieren können, obwohl er angeblich gesagt hat, „vielleicht sind es Wilsons Turnschuhe?“. Auch für die Szenografie sind studium und punctum extrem produktive Begriffe. Interessant ist, dass das studium einer Inszenierung jene Sphäre des Spektrums ist, das dem Operator, dem Szenograf gehört, und dass das punctum – diese kontingente Sphäre des Spektrums – dem Spectator, dem Betrachter gehört – stärker, in der Persönlichkeit des Betrachters wurzelt. Es ist gerade die Empfänglichkeit oder die Offenheit des Spektators, die das latent im Spektrum eingebettete punctum stechen lässt. Das punctum ist der rätselhafte, enigmatische Faktor der Inszenierung, der Faktor, der fesselt, der F-Faktor, der im narrativen Raum die Zeit absorbiert.21

2. AKT

(ca.60’)

Musik: „regiment“ ~ 5’ (Brian Eno/David Byrne) 7. FINNEGANS WAKE (ca. 15’) Über das Labyrinth der Sprache der Nacht

Nach dem Ulysses (1922) hat James Joyce bei seinem großen ‚Work in Progress‘ (so wie das nächste literarische Werk während seiner 15-jährigen Genese von 1924-1939 hieß), von Anfang an eine klare Vorstellung davon, dass, wenn Ulysses die Geschichte eines Tages gewesen ist, Finnegans Wake die Geschichte einer Nacht sein wird. In Finnegans Wake stürzt Tim Finnegan (der Held einer Vaudeville-Ballade) am Ufer des Flusses Liffey in Dublin von einer Leiter und gerät in ein Koma. Das Buch sollte 21

Claude Lévi-Straus: La Pensée Sauvage, Paris, 1962; Deutsch: Das Wilde Denken, Frankfurt am Main 1968.

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nach dem Willen des Autors der Traum des eingeschlafenen Finn sein: in ihm sollte in traumhafter Form die ganze vergangene, gegenwartige und zukünftige Geschichte Irlands und in ihr der ganzen Menschheit abrollen. (So Umberto Eco über J. Joyce, 1967.) Joyce: „Mit Finnegans Wake habe ich die Sprache schlafen gelegt.“ Der Wake ist die literarische Singularität: Die Semantik ist nicht verschwunden, sondern rekombiniert. Der unerschöpfliche Strom von Assoziationen und Gedächtnispartikeln setzt eine völlig neue Lesart voraus. ‚Riverrun ………‘ Ich werde aus dem englischen Original eine Seite von Finnegans Wake lesen. riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodus vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. Sir Tristram, violer d’amores, fr’over the short sea, had passencore rearrived from North Armorica on this side the scraggy isthmus of Europe Minor to wielderfight his penisolate war: nor had topsawyer’s rocks by the stream Oconee exaggerated themselse to Lauren’s County’s gorgios while while they went doublin their mumper all the time: nor avoice from afire bellowsed mishe mishe to tauftauf thuartpeatrick; not yet, though venissoon after, had a kidscad buttended a blend old isaac: not yet, though all’s fair in vanessy, were sosie sesthers wroth with twone nathandjoe. Rot a peck of pa’s malt had Jhem or Shen brewed by arclight and rory end to the reggnbrow was to be seen ringsome on the aquaface. The fall (bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonn-thunntrovarrhoun awnskwantoohoohoordenenthurnuk!) of a once wallstrait oldparr is retaled early in bed and later on life down through all christian minstrelsy. The great fall of the offwall entailed at such short notice the pftjschute of Finnegan, erse solid man, that the humpty-hillhead of humself prumptly send an unquiring one well to the west in quest of his tumpty-tumtoes: and their upturnpikepointandplace is at the knock out in the park where oranges have been laid to rust upon the green since devlinsfirst loved livvy.22

8. MONADE-NOMADE (ca. 15’) Über materialisierte Ideen und inspirierte Materie

Sowohl James Joyce als auch Samuel Beckett waren von Giordano Bruno fasziniert.23 Von Beckett, der den fast blinden Joyce bei seiner Arbeit an The Wake unterstützte, wissen wir, dass Joyce auch das aleatorische Memory-Wheel aus Brunos Gedächtnissystem einsetzte, um seine Sprachverzerrungen zu generieren. Es wird in Finnegans Wake auch auf Bruno verwiesen. An verschiedenen Stellen taucht

22 James Joyce: Finnegans Wake, (1939) London. Zitierte Ausgabe: Atheneum – Polak & Van Gennep, Amsterdam, 2002. In der szenischen Lesung wurde Seite 466 gelesen. Hier ist Seite 1 wiedergegeben, weil sie neben dem Potential der joyceschen linguistischen Rekombination auch die finstere Mythe von Tim Finnegan in Dublin etabliert. Joyce gab zur Lektüre von The Wake den Rat, jeden Tag eine Seite zu lesen. Das heißt: laut zu lesen … 23 Giordano Bruno, Dominikaner, Denker, Dichter, Magier, 1548 geboren in Nola bei Neapel, 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen wegen Ketzerei und Magie verbrannt.

SZENOGRAFIE.OBSZENOGRAFIE

er als Nolanus auf, weil er in Nola bei Neapel geboren wurde. Giordano Bruno wurde 1600 von der Inquisition verurteilt und verbrannt, weil er davon überzeugt war, dass es ein Wirklichkeitspartikel gebe, das gleichermaßen aus Geist und Materie bestand, inspirierte Materie also, womit er sowohl die Kirche als das gängige Cartesianische Denken konfrontierte, die Inspiration, Geist als etwas ausschließlich Göttliches bzw. Menschliches betrachteten. Im Cartesischen Denken sind Geist und Materie ontologisch getrennt. Neben diesem Dualismus, der die westliche Orientierung der Wissenschaften seit Descartes24 dominiert hat, hat es immer auch Tendenzen eines Monismus gegeben, wobei die Wirklichkeit mit einem anderen, inklusiven Verständnis betrachtet wurde. Es gibt einen langen Entwicklungsweg, der etwa bei Giordano Bruno anfängt und über Gottfried Wilhelm Leibniz, der im 18. Jahrhundert dem Monadenkonzept mit seiner Infinitesimalrechnung eine mathematische Begründung verleiht, über August Comte, der in der Aufklärung als

Abb. 11 Giordano Bruno: Das „Memory-Wheel“ seiner Ars Memoriae, De Umbris Idearum, Paris, 1582

positives Dogma seine „Religion der Humanität“ als Religion ohne Gott vorstellt, über den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und Guy Debord und die Situationisten, die in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Werte der westlichen Gesellschaft mit einer permanenten Revolte neu formulieren möchten, bis hin zu unserer Zeit, wo das gesamte transdisziplinäre Denken der Szenografie im Prin-

24

René Descartes (Cartesius), Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, 1596 in La Haye/Touraine in Frankreich geboren, 1650 in Stockholm gestorben. Descartes lebte 20 Jahre in Amsterdam.

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KAPITELTITEL FRANK DEN OUDSTEN

zip auch verstanden werden kann als der Versuch, die Kluft zwischen den exakten Wissenschaften einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits zu überbrücken. Im Monismus von Giordano Bruno wurde die Monade als Wirklichkeitspartikel definiert, das gleichermaßen aus Geist und Materie bestand. Wo die Monade bei Bruno eine noch offene philosophische Idee trägt, beschreibt Leibniz mit Hilfe seiner Infinitesimalrechnung die Monade als Grenzwert, als elementaren Baustein unserer Wirklichkeit. Die Leibniz’sche Monade ist aber ein statisches und mathematisch geschlossenes Konzept.25 Nichts kann herein, nichts kommt heraus. Seine Monade ist ein „fensterloser Spiegel“, der das Universum umfasst. Eine Leibnizsche Monadenwolke würde komplexe Konstellationen ermöglichen, zu gleicher Zeit aber ein starres Gewebe darstellen, das als inspirierte Substanz zum Beispiel kaum in der Lage wäre, sich adäquat der Turbulenz und Tektonik eines schöpferischen Prozesses anzupassen. Die Monade an sich müsste dann mindestens transparent und dynamisch sein und eher als Membran gedacht werden, dominiert von Durchdringung und Osmose als Prinzip. In unserem Rahmen geht es aber nicht darum, ein neues Monadenkonzept aufzubereiten. Hier geht es um eine Gedankenübung, die die Elastizität der Monadenidee überprüft mit dem Ziel, die Funktionalität szenografischer Prozesse offenzulegen und ihre Konturen zu beschreiben, weil die gesamte Debatte über die Theorie der Szenografie die Möglichkeitsmodalität einer neuen Position braucht. Wie generieren wir eine maximale Bandbreite für den Diskurs? Ich habe mir (als Spiel) vorgestellt, das Konzept der Monade (Einheit) in einem Akt genetischer Manipulation zu radikalisieren und zu rekombinieren mit dem Konzept der Nomade (Beweglichkeit). Es würde geschrieben MONADE.NOMADE: zwölf Buchstaben, zweimal M.O.N.A.D.E. In einem imaginären aleatorischen Verfahren habe ich mir die zwölf Buchstaben als Würfel vorgestellt und die Würfel geworfen. Die Rekombinatorik hat als Umwertung aller Werte einen neuen Grenzwert generiert: die zwölf Buchstaben gruppierten sich mirakulöserweise als MADONA.DEMONE. Aus 1.088.391.168 Möglichkeiten hat das Anagramm einen radikal anderen Aggregatzustand gezeigt. Wenn MONADE.NOMADE die Rekombination von monadischem Denken und nomadischem Handeln ist, finden wir am anderen Ende des Spektrums offenbar MADONA.DEMONE als Rekombination von ergebenem Glauben und gestürzter Engelhaftigkeit. Wenn MONADE.NOMADE hinweist auf eine Strategie von inklusivem Denken und beweglichem Handeln, suggeriert MADONA.DEMONE eher eine exklusive und festgemauerte Glaubenssache. Das ist für unsere Problematik etwa die Bandbreite des Denkens. Wir werfen den Würfel.

25

Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph, Mathematiker, Wissenschaftler, 1646 geboren in Leipzig, 1716 in Hannover gestorben, mit Newton Begründer der Infinitesimalrechnung.

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Zurück zu Cartesius und seinem Gegenpart – für mich hier in unserem Kontext – Cellarius.26 Sowohl René Descartes aus Frankreich als Andreas Keller aus Deutschland lebten im frühen 17. Jahrhundert in Amsterdam, wo ihre Werke auch herausgegeben wurden. Ich möchte zwei Bilder aus dieser Zeit reflektieren. Das erste Bild ist eine Vorstellung vom All von René Descartes, publiziert in seinem Discours de la Méthode, und das zweite Bild ist eine illuminierte Kartografie von Andreas Keller aus seiner Harmonia Macrocosmica. Beide Werke wurden in der gleichen goldenen Epoche herausgegeben, zeigen aber – auch wenn Cellarius Kosmograf und wissenschaftlicher Illustrator war und nicht Philosoph oder Mathematiker – wie Cartesius eine komplett andere Sensibilität im Handeln und Denken an den Tag legt.

Abb. 12 Cartesius: Vorstellung vom All. Aus Discours de la Méthode, Amsterdam, 1652

Cartesius hat sich das Universum als einen Innenraum vorgestellt, als wäre es eine gotische Kathedrale göttlicher Proportion, gebaut mit einer Hilfskonstruktion von als Partikelstrukturen gedachten Spitzbogen, die in einer subtilen Mechanik von Druck und Gegendruck die Sterne im Firmament fixieren und die lichtdurchflutete kosmische Kathedrale stabilisieren. Cellarius hingegen, der selbst kein Astronom war und seine Himmelskarten auf Fakten von anderen aufbaute, illuminierte das Leere der Räume mit mythologischen Vorstellungen, die seinen Himmelsatlas narrativ aufladen und als suggestive Platzhalter für das Unbekannte funktionierten, etwa wie in frühen Topografien der Erde, die noch unbekannte Territorien den Drachen zugehörig machten. 26

Andreas Keller (Cellarius), Kosmologe und Kartograf, um 1595 in Neuhausen bei Worms geboren, 1665 in Hoorn gestorben. Sein Himmelsatlas Harmonia Macrocosmica wurde 1660 in Amsterdam herausgegeben.

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Beide Vorstellungen sind im praktischen Sinne obsolet. Konstellationen wie die Fliege oder der Kleine Krebs, die Cellarius noch sorgfältig notierte, gibt es nicht mehr, einfach weil die Astronomen des 19. Jahrhunderts den Himmel mit einem anderen Raster kartografierten. Und seit Einstein wissen wir, dass der augenscheinlich stabile interstellare Raum keine kausale Maschinerie ist. Interessant sind aber nicht die Parallelen, sondern die unterschiedlichen Positionierungen auf denen beide Illustrationen basieren. Bei Cellarius wird das Unbekannte in die Vorstellung

Abb. 13 Cellarius: Darstellung aus dem Atlas Harmonia macrocosmica, Amsterdam, 1661

integriert und eine mythologische Dimension in der Lesart der Karten induziert. Bei Cartesius hingegen wird die Vorstellung auf die Kausalität seines Konzepts reduziert und das Unbekannte als irrationale und nicht-logische Komponente eliminiert. Cellarius illustriert inklusiv und induziert, Cartesius philosophiert exklusiv und reduziert. Szenografie ist induktiv und basiert eindeutig auf inklusivem Denken.

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3. AKT

(ca.60’)

Musik: „among fields of crystal“ ~ 3’ (Harald Budd / Brian Eno) 9. GRENZWERTE (ca.20’)27 Über die Erinnerung und die Imagination

Ich werde jetzt eine kleine Geschichte aus meiner Jugendzeit lesen, über ein Ereignis, das ich nachträglich als eine erste Auseinandersetzung mit der Szenografie betrachte. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich einen Käfig mit 17 Minipapageien. Dieser Käfig war kein normaler Käfig, sondern ein Eckzimmer in einem ansonsten offenen Dachgeschoss. Dieses Dachgeschoss war Teil eines Hauses, das meinem Großvater gehörte. Mein Großvater hatte verschiedene Häuser, die zusammen seine Firma beherbergten. Die Firmenhäuser hatten alle einen Namen: das Lager, das Büro, der Bauernhof, die Bäckerei usw. Lagerhaus und Bürogebäude waren relativ neu. Bauernhof und Bäckerei sehr alt. Mein Dachgeschoss war Teil der Bäckerei. Die Bäckerei hatte praktisch keine Bedeutung mehr für das Funktionieren der Firma. Sie diente nur noch als Lagerhaus für Salz in 50 Kilogramm-Säcken und für das Aussortieren von Leergut-Flaschen unterschiedlichster Art – in Lattenkisten mit schönen Schriftzügen darauf: Oranjeboom Bier, Exota Gazeuse, usw. Die Firma meines Großvaters war die Lieferantin einer Lebensmittelladenkette, deren Filialen sich im Umkreis von etwa dreißig Kilometern um die Stadt Rotterdam herum befanden. Nicht weit östlich von Rotterdam lag in einem Dorf also die Bäckerei an einem Deich entlang des Rheins, der an jener Stelle den mysteriösen Namen „Lek“ trägt, bevor das Wasser als „Nieuwe Maas“ ins Meer fließt. Das Besondere an der Bäckerei war unter anderem die Lage am Deich. Der Haupteingang war auf Deichniveau angelegt, ein Stockwerk tiefer lag der Nebeneingang am Fuß des Deiches an der Flussseite. Diese räumlich-diagonale Orientierung hatte spannende Auswirkungen auf das Innere des Hauses. Die Bäckerei fungierte als Grenzgebiet zwischen der ernsten, funktionellen Welt meines Großvaters einerseits und meiner verträumten fiktionalen Spielwelt andererseits. Und diese Grenzzone in all ihren Facetten spielte eine wichtige Rolle in meinem Dasein. Die Bäckerei war in drei Schichten unterteilt. Ganz oben auf dem Dachgeschoss befand sich das ‚Museum‘, wo die Firma Den Oudsten seit 1867 obsolete Drucksachen, Werbematerial, Verpackungen, Mobiliar und ausgemusterte Maschinen lagerte. Dort befand sich auch mein Käfig mit den Minipapageien. Das Füttern der schwitzernden Vögel in dieser musealen Umgebung mutete wie eine fortlaufende Erzählung an, die intuitiv und ganz sinnlich die Dauerhaftigkeit von Gestern mit der dynamischen Flüchtigkeit von heute verknüpfte. Der Käfig mit den Vögeln zeigte sich als szenografisch prägnante Ergänzung, wobei sich die Idee ‚Vögel im Museum‘ als Metapher für die Erinnerung retroaktiv in mein Gedächtnis prägte.

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Szene 8 und 9 über die Unterrichtsprojekte Expedition Babylon (2006-2007) und Alphabet City (2007) von der 5. Semester- und 7. Semester-Klasse Scenographical Design der Zürcher Hochschule der Künste, waren in der szenischen Lesung Illustrationen der Argumentation und sind hier zu Gunsten einer kompakten Form weggelassen.

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Abb. 14 Frank den Oudsten liest die Geschichte aus der Jugendzeit

Am Fuß des Deichs hinter der Bäckerei lag ein hundert Meter langer Obstgarten mit Apfel-, Birn-, und Pflaumenbäumen, die nicht mehr gepflegt wurden und also ideell mir und meinen Freunden gehörten. Offiziell aber wurde die Ernte dem Firmenpersonal als Lohnergänzung angeboten, was in der Erntezeit regelmäßig zu Konflikten führte. Wir wurden dann vom Personal als Obsträuber bezeichnet und als Schmarotzer beschimpft, was wir wiederum sehr schätzten, weil es zur Dynamik unserer Fiktion beitrug. Der Obstgarten grenzte an einen Wassergraben mit braunem, stehendem Wasser, der den Namen „Kil“ trug. Jenseits von diesem sumpfig-stinkenden Wassergraben lag das Schilfland: rauschendes Röhricht, 300 Meter unbegehbares Gebiet, das am Rhein endete, den wir nicht sehen konnten. Diese Mikrowelt zwischen Deich und Rhein war ein Übergangsgebiet mit einer enormen biologischen – für uns narrativen erzählerischen – Vielfalt. Sie war eine Mischung aus Wasser und Land, Gerausch und Geruch, von Obst und Bäckerei, die wir erleben, aber nicht verwalten konnten, weil sie uns nicht gehörte. Ein Ort mit einem einprägenden Charakter, dessen Mysterium nicht draußen lag, sondern drinnen. Das Untergeschoss der Bäckerei war geheimnisvoll, dunkel, feucht und leer. Zwischen Gartenzimmer und Deichwand lag ein Keller ohne Licht, der nur mit Streichhölzern, Kerze oder Taschenlampe und einigem Mut begehbar war. In diesem Keller gab es ein großes Betonbecken, das etwa einen Meter hoch und mit trockenem Sand gefüllt war. Wozu diese Anlage diente, war uns ein Rätsel, und obwohl es nur ein Sandbecken war, traute sich keiner von uns hinein. Eines Tages war es aber soweit: Das Sandlager wurde gestürmt. Wir gruben Löcher in den jungfräulichen Sand und fanden einen Schatz: leere Granathülsen und ein verrostetes Maschinengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Schatz wurde am gleichen Tag wieder im Sand begraben. Das Geheimnis der Bäckerei brannte sich in unserem Gedächtnis ein und wurde zum Kern unserer Komplizenschaft. Zwischen ‚Museum‘ oben und ‚Geheimnis‘ unten lag die funktionelle Welt meines Großvaters. In einer Bäckerei, die längst keine Bäckerei mehr war, herrschten jetzt der Duft von Salz und der Klang des Leerguts, in unser Spiel verpackt wie in ein Sandwich. Eine neue Sinnlichkeit hatte die alte Sinnlichkeit von Brot und Backen ersetzt. Irgendwann – ich schätze, ich war zwölf Jahre alt – war ich mit der Teilung dieses Territoriums dann aber doch nicht mehr zufrieden. Die Bäckerei gehörte zwar meinem Großvater – der Ort als Schauplatz aber gehörte mir. Das Museum mit den Vögeln wurde immer wichtiger. Der geheimnisvolle Keller hatte größtenteils seinen Reiz verloren. Das ‚Museum‘ oben hatte einfach mehr zu bieten,

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war komplexer: eine faszinierende Welt, zu der inzwischen auch der Obstgarten gehörte. Im Käfig hatte ich einen toten Birnbaum platziert. Und ein toter Birnbaum mit farbigen Minipapageien war ein eindrückliches Bild. Das Museum war ein Ort geworden für eine bestimmte Art der Auseinandersetzung. Ihre poetische Dichte ermöglichte neue Perspektiven und kanalisierte und regte neue Interessen und Triebe an. Etwa in dieser Zeit veränderte sich etwas in meiner Beziehung zur Bäckerei und zum Dorf. Vielleicht wurde ganz intuitiv mein politisches Bewusstsein erweckt. Vielleicht fand ich wirklich, die Bäckerei gehöre mir. Denn eines Tages habe ich mich spontan dazu entschieden, die Seitenmauer der Bäckerei mit Zeichen zu versehen. Diese Mauer war gut sichtbar für den Verkehr auf dem Deich, der sich unserem Dorf von Westen her näherte. Ich bin mir noch immer nicht sicher, was der tiefere Grund dieser Aktion war. Es gab keine anderen ‚Graffiti‘ im Dorf. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich Entsprechendes den Zeitungen entnommen hätte. Was auch immer meine Motivation gewesen war – Werbung, Politik, Selbstdarstellung: Nach meiner Aktion war das Dorf nicht mehr dasselbe. Auf der Mauer der ansonsten unauffälligen Bäckerei prangten plötzlich Träger von drei meterhohen Buchstaben, handgemalt mit schwarzer Farbe: ein Anagramm, dessen Bedeutung mir entging – O A S. Nach meiner ‚Graffiti-Aktion‘ auf der roten Backsteinmauer der Bäckerei herrschte zwei Tage lang Funkstille. Niemand sagte etwas. Man reagierte nicht, obwohl die Organisation Amerikanischer Staaten jetzt prominent im Dorf vertreten war. Dann wurde ich von meinem Vater aufgefordert, die Sache mit ihm und meinem Großvater zu besprechen. Im Arbeitszimmer meines Großvaters fragten sie mich nach den Motiven. Klar wurde, dass der Impact des Verhörs gut vorbereitet und wohltemperiert war, die Rollen verteilt. Mein Vater kümmerte sich vor allem um mein Verhalten, mein Großvater um sein Ansehen und dasjenige der Firma. Die Strafe, die sie sich ausgedacht hatten, war ebenso genial wie absurd. Mit Hammer und Meißel sollte ich die Buchstaben O, A und S von der Backsteinmauer entfernen. Eine langwierige Arbeit, deren Aufwand hundertfach größer war als die spontane Pinselaktion. Doch die Wiedergutmachung barg ungewollte Ironie: Die schwarze Farbe wurde zwar entfernt, doch die Buchstaben ritzten sich in die Mauer ein. Noch lange war mein Relief im roten Backstein lesbar. Weicher, ausgeebneter, etwas entschärft, für mich aber noch immer auf prägnante Weise präsent. Die Bäckerei gibt es mittlerweile nicht mehr, den Obstgarten auch nicht. ‚OAS‘ aber lebt als typografischer Parasit in meinem Gedächtnis. Nicht so sehr, weil die Grafik so spannend oder die OAS für mich so relevant war, sondern weil die Handlung Auswirkungen auf die Umgebung der Bäckerei hatte und die Leute bewegte. Szenografie avant la lettre, wenn man es genau nimmt: ein minimaler physischer Akt mit einem maximalen psychischen Effekt. Im Dorf wurde nie wieder über den Zwischenfall gesprochen. Auch in Sachen Bäckerei gab es keine Diskussion mehr. Nach der Beschriftungsaktion gehörte sie mir. Und obwohl es die Bäckerei nicht mehr gibt, gehört sie noch immer mir.28

10. DAS PRINZIP DRAMATURGIE (ca.10’) Über die vierte Wand und die Wirkung der Dinge

Ich bringe jetzt nur noch eine Szene, um die doch sehr lange Darstellung zum Ende zu bringen. Diese Szene knüpft an das dramaturgische Gelenk zwischen Redner, Geschichte und Zuhörer, über das wir vorher gesprochen haben, an, das von Aristoteles 28 Das Dorf am Lek ist Groot-Ammers, 30 km östlich von Rotterdam und 40 km südwestlich von Utrecht. Die Bäckerei lag etwa an der westlichen Gemeindegrenze des Nachbardorfs Streefkerk, wo Frank den Oudsten 1949 geboren wurde.

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in der Rhetorik zum ersten Mal als Funktion in der Übermittlung erläutert wurde.29 Wir fokussieren also auf die Verbindung und die schöpferische Beziehung zwischen Redner und Zuhörer, zwischen Operator und Spektator, zwischen Szenograf und Publikum, und stellen uns die Frage, wie die Geschichte, das Spektrum oder die Inszenierung in übertragenem Sinne über die Bühne gehen.30 Zu dieser Problematik gibt es einen Text des englischen Theaterregisseurs Peter Brook, der aus meiner Sicht für jeden Szenografen oder Theoretiker der Szenografie ein Muss ist. Das Werk wurde 1968 geschrieben und heisst The Empty Space, auf Deutsch Der Leere Raum.31 Brook öffnet das erste Kapitel mit dem Satz: „I can take any empty space and call it a bare stage. A man walks across this empty space whilst someone else is watching him, and this is all that is needed for an act of theatre to be engaged.“

Abb. 15 Ein Bezugsnetz der Szenografie: Raum-Zeit-Narration

Für Brook hat das Theater (in den 60er Jahren!) viel an Kraft, Sinn und Bedeutung eingebüßt, und sowohl Brooks Arbeit als auch dieser Text sind als Versuch zu verstehen, das Theater von seinen Konventionen zu befreien, um neue Entwicklungen 29

Die konzentrierten Szenen 1-11, die Frank den Oudsten darstellte, erschöpften nach mehr als 3 Stunden merklich die Zuschauer, die dennoch gespannt der Performanz folgten. Szene 12: über die Kunst der Szenografie oder die Beherbergung einer Idee, Szene 13: über das Reisen in unbekannten Welten, Szene 14: über das Wilde Denken und 15: über die Gratwanderung der offenen Künste, wurden nach kurzer Abstimmung gestrichen. Es war 23.30 Uhr. Das Ende der Veranstaltung wurde improvisiert. 30 Aristoteles: The Art of Rhetoric, London, 1991. Aristoteles: Poetics, London, 1996. 31 Peter Brook: The Empty Space, Penguin Books, London, 1969.

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zu initiieren und das Theater mit einer rituellen Dimension aufzuladen. Die äußere Form des Theaters hat sich jahrhundertelang kaum entwickelt. Das ist für Brook auch in Ordnung so, denn die durchschnittlichen zwei Stunden, die eine Aufführung dauert, sind zwar eine kurze Zeit, doch dramaturgisch betrachtet auch eine Ewigkeit. Die Bespielung dieser relativen Ewigkeit ist für Brook eine große Kunst, die nur dann relevant ist, wenn das Drama eingebettet ist in „the problems and the pressures of the times“, also dem Zeitgeist entspricht. Die Synchronizität des Spektrums ist das Kriterium, nicht die Form der Hülle – skene – die ‚nur‘ der Beherbergung dieses Spektrums dient. Gerade da finden wir auch die tiefere Bedeutung von „empty“. Leer, nicht im Sinne von „voll“ oder im Sinne von ‚minimalistisch‘ in materieller oder medialer Hinsicht, sondern im Sinne von entleert, enträumt, von tabula rasa, von sinnlos gewordenen kulturellen Codes befreit, so dass Raum entsteht für neue prägnante Zeichen, die den theatralen Raum wieder mit Energie aufladen.

Abb. 16 Frank den Oudsten beginnt mit Hilfe der zuvor gestapelten Dachlatten mit dem Bau zweier ‚Nester‘ oder ‚Hütten‘ auf den zuvor auf der Bühne platzierten Podesten

Jede Inszenierung fängt in einem mehr oder wenig leeren Raum an. Die architektonische Dimension ist oft gegeben, bloß die neuen Codes, die Zeichen des Szenografen, die Erzählung oder das narrative Potential, wurden noch nicht in den Raum – graphein – hineingeschrieben, eingeritzt oder eingebettet, so dass ein Ort mit Identität entstehen konnte, ein gerichteter, semantischer Raum, wo Inhalt und Form im dramatischen Sinne vielschichtig miteinander verschmelzen konnten und die Inszenierung eine kritische Ladung bekommt. Von welcher Inszenierung ist überhaupt die Rede? Jene vom Szenografen oder jene vom Publikum? In unserem Passus über die spectatio haben wir gesehen, dass

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FRANK DEN OUDSTEN KAPITELTITEL

sich die Wirklichkeitssphären vom Szenograf und Publikum in einer Inszenierung in actio vermischen. Der Szenograf hat den Raum, das Publikum die Zeit. Es ist dieser ungeschriebene Vertrag zwischen beiden, der die Inszenierung als offenes Werk definiert. Offen im Sinne von zugänglich für jedes. Offen auch im Sinne von nicht vollständig. Die Inszenierung wird im Dialog ergänzt. Das betrifft sowohl die materiellen als auch die immateriellen Dimensionen des Gesamtwerks, die gemeinsam den erweiterten oder narrativen Raum konstituieren. Dann ist es nicht schwer einzusehen, dass offen auch open source bedeutet, und nach vorne und hinten offen in der Zeit. Spannende Inszenierungen fangen im Sinne von spectatio, schon lange vor dem Anfang an und dauern ebenso lange nach dem Ende fort.

Abb. 17 Schlusswort der szenischen Lesung

ABSCHLUSS Musik: „I put a spell on you 1“ ~ 3’ (Them/Van Morrison) Ich hatte die Urhütte der Szenografie bauen wollen, aber mir fehlt die Zeit. Vielen Dank! Musik: „I put a spell on you 2“ ~ 4’ (Roxy Music/Brian Ferry)

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DIE AUTOREN

Dr. Christoph Weismüller, Professor im Fach Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; lehrte an der FH Düsseldorf im FB Design; Lehrbeauftragter für Medienwissenschaft an der FH Dortmund, FB Design; Leiter des Instituts für philosophische Beratung und Pathognostik in Düsseldorf; Redaktionsleitung von Psychoanalyse und Philosophie. Pathognostica; Leiter des Peras Verlags; Dozent in den Fachbereichen Psychologie und Musik. Neuere Buchveröffentlichungen: Neurowissenschaften und Philosophie (Hg. zusammen mit Rudolf Heinz), (2008); Fragen nach der Mathematik (Hg.) (2007); Das Humane der Globalisierung (2004); Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks (2001).

Professor

Professor Dr. Ralf Bohn, Dr. phil. habil., Dipl.-Des., lehrte bis 2007

an der FH Düsseldorf Designtheorie und Medienwissenschaften, habilitierte an der Bergischen Universität Wuppertal in Ästhetik und Kulturwissenschaften. Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am Fachbereich Design der FH Dortmund. Zahlreiche Monographien über Ästhetik, einzelmediale Themen, medienphilosophische Grundlagen, u.a. zur Gestaltpsychologie und Technikphilosophie in psychoanalytisch-philosophischen Diskurszusammenhängen. Arbeitet als Grafiker, Texter und Konzeptioner. Professorin Dr. Petra Maria Meyer wurde 1992 in Philosophie mit einer kunstbezogenen Thematik promoviert und habilitierte im Jahr 2000 in Theaterwissenschaft mit medienwissenschaftlicher Ausrichtung. Frau Meyer hatte Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und der Kunstakademie Düsseldorf und nahm seit 2001 verschiedene Gastdozenturen und Vertretungsprofessuren wahr. Sie lehrt Kultur- und Medienwissenschaft an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel und war von 2004-2008 Intendantin des Center for Interdisciplinary studies (Forum)der Hochschule. Professor Dr. martin Zenck studierte Musikwissenschaft, Philosophie

und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Freiburg, Promotion 1975, Habilitation 1982, u.a. Produzent für Neue Musik beim WDR in Köln, Heisenberg-Fellow der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und Privatdozent an der Universität Bonn. Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bamberg.

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INSZENIERUNG UND EREIGNIS

Neben dieser Tätigkeit ist Martin Zenck Vize-Vorsitzender des Bereichs „Musik“ im Goethe-Institut München. 1996 war er Fellow der Rockefeller-Foundation in Bellagio am Comer See. Seit dem Wintersemester 2006/7 lehrt Martin Zenck gleichfalls an der Universität Würzburg. Professor Dr. Josef Imorde studierte Kunstgeschichte, Philosophie und

Musikwissenschaft in Bochum, Rom und Berlin. Nach der Magisterarbeit war er mehrere Jahre Redakteur der Architekturzeitschrift Daidalos. 1996 gründete er die Edition Imorde. Nach der Promotion zur römischen Festarchitektur des Barock wechselte er als Assistent an das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. 2001 ging er als Stipendiat der Forschungsgruppe Kultbild an die Universität Münster, danach an die RWTH Aachen, wo er den Lehrstuhl von Jan Pieper vertrat. Er war Stipendiat der Volkswagen- und der Thyssenstiftung und ab 2006 Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte Bibliotheca Hertziana. Seit August 2008 hat er den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Siegen inne. Buchveröffentlichungen: Präsenz und Repräsentanz. Oder: Die Kunst, den Leib Christi auszustellen (1997), Barocke Inszenierung (1999), Plätze des Lebens (2002), Affektübertragung (2004), Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne (2008), Michelangelo Deutsch! (im Druck), Die Tagebücher Ernst Steinmanns (in Vorbereitung). Professorin Dr. Brigitte Marschall studierte Theaterwissenschaft,

Germanistik und Medizin, 1985 Promotion, 1998 Habilitation. Lehrt am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: „Theater als kulturelles Modell in Geschichte und Theorie“. Frau Marschall hat die Studienprogrammleitung des Doktoratsprogramms Szenografie inne. Derzeitiges Forschungsfeld (u.a.): Ritualität und magische Katastrophenwahrnehmung in sozialen Krisenzeiten, theatrale Schwellenphänomene, Sub- und Gegenkulturen, Theatertheorien, Psychodrama; Aufbau und Betreuung der Datenbank THEADOK. Professor Dr. Wolfgang Pircher ist Ausstellungsmacher und Assis-

tenzprofessor für Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie sowie Wirtschafts- und Technikphilosophie an der Universität Wien. Kurator verschiedener Ausstellungen, u.a. „Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele“, Wien 1989; „Sozialmaschine Geld“, Linz 1999. Veröffentlichungen u.a. über Carl Schmitt, Kunst, Zeichen, Technik Medien und Philosophie.

DIE AUTOREN

Professor Dr. Heiner Wilharm, Philosoph, Sozial- und Kulturwissen-

schaftler. Seit 1990 Professor für Designtheorie, seit 2003 Professor für Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund. Zusammen mit Ralf Bohn Herausgeber der Reihe „Szenografie und Szenologie“. Mehr unter www.designradio.net. Diplom-Ingenieurin Sandra Schramke hat Architektur- und Städtebau

an der Universität Dortmund studiert und war Mitarbeiterin in Architekturbüros in Berlin, Dortmund, Essen und in Madrid. Seit 2002 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar mit Schwerpunkt Architekturtheorie. Privatdozent Dr. Wolfgang Fritz Bock wurde 1996 an der Universität

Bremen habilitiert, wo er von 1990 bis 2001 in den Fächern Germanistik, Kulturwissenschaft, Kunst und Pädagogik lehrte. Von 2001 bis 2007 war er Hochschuldozent für Theorie und Geschichte der Visuellen Kommunikation an der Fakultät Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar. Zur Zeit arbeitet er als DAAD-Gastprofessor an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro (UNIRIO). Forschungen und Veröffentlichungen über Neue Mythologie, Postmoderne, Rechtsradikalismus, Bildungstheorie und Neue Medien. Wolfgang Bock ist unter anderem Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie. Professor Dr. Pamela C. Scorzin M.A., Kunst- und Medientheoretikerin,

geb. 1965 in Vicenza (Italien), Studium der Kunstgeschichte, Geschichte, Anglistik, 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil an der Ruprecht-KarlsUniversität in Heidelberg, 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt, danach diverse Dozenturen und Professurvertretungen in Siegen, Frankfurt am Main und Stuttgart, seit 2008 Professor für Kunstwissenschaft und Visuelle Kultur am Fachbereich Design der FH Dortmund. Mitglied der deutschen Sektion von AICA seit 2006. Professor Dr. Michael Wetzel studierte Philosophie, Literaturwissen-

schaft, Linguistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Bochum und Düsseldorf. Promotion 1980, Habilitation 1996. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, u.a. in Mannheim, Essen, Innsbruck, Wien und Paris. Seit 2002 ist Michael Wetzel Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Filmwissenschaft am Institut für Germanistik, vergleichende Kultur- und Literaturwissenschaft der Universität Bonn. Seit 2005 ist Michael Wetzel zugleich Leiter des Forschungsprojektes „Von der Intermedialität zur Inframedialität“ im Rahmen des SFB „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universitäten Aachen, Bonn, Bochum und Köln.

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INSZENIERUNG UND EREIGNIS

Universitäts-Dozent Dr. Karl Stocker ist Ausstellungsmacher, Historiker und Ethnologe. Er lehrt an der FH Joanneum Graz und an der Universität Graz und ist Studiengangsleiter der FH Studiengänge „Informationsdesign“ und „Ausstellungs- und Museumsdesign“ ebendort. Herr Stocker ist Gründer und Leiter von „BISDATO Ausstellungs- und Museumsregie“; in diesem Kontext auch verantwortlich für die Konzeption und Realisation einiger kleinerer und größerer Ausstellungen. Professorin Erika Thümmel ist Diplom-Restauratorin und Ausstellungsgestalterin. Sie lehrt Szenografie in den Studiengängen Informationsdesign und Ausstellungs- und Museumsdesign an der FH Joanneum Graz sowie an der österreichischen Sommerakademie für Museologie. Professor Dr. Ernest Wolf-Gazo, Studium der Philosophie an der Georg Washington Universität (B.A. 1969) und der Universität Bonn (Dr. phil. 1974). Habilitation Universität Münster 1984. Postdoctoral Fellow an der Yale Universität. Gastprofessuren in Louvain, Ankara, Georgetown, Kuala Lumpur, Teheran. Professor der Philosophie und Ästhetik an der American University in Kairo, Ägypten seit 1991. Veröffentlichungen über A.N. Whitehead, Max Weber, Islamische Philosophie; ästhetische und transkulturelle Studien. Professor Frank den Oudsten studierte technische Physik, Fotografie

und Film und ist international renommierter Szenograf, Medienkünstler und Professor für Szenografie an der Züricher Hochschule der Künste. Seine berufliche Praxis umfasst neben performativen Experimenten auf und für die verschiedensten Bühnen vor allem Medieninstallationen im Ausstellungskontext. U.a. für das Niederländische Architektur Institut in Rotterdam, das Gemeentemuseum in Den Haag, das Rijksmuseum Kröller Müller in Otterlo, das Centraal Museum in Utrecht, das Walker Art Center in Minneapolis, das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main und das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Frank den Oudsten erarbeitet Gesamtkonzeptionen für narrative Räume und setzt sowohl traditionelle als auch avancierte Medientechnologien zur Darstellung von Objekten und Inhalten ein.