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German Pages 354 [367] Year 2023
Bernadette Krejs (Hg.) Instagram-Wohnen
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 10 Bernadette Krejs http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen
Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen
Förderung durch die ÖFG Österreichische Forschungsgemeinschaft Förderung durch den Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen/TU Wien Dissertation Dieses Buch basiert auf der im Juni 2022 mit Auszeichnung abgeschlossenen Dissertation „Architektur als Bild – Das Bild des Wohnens. Über die (Re-)Produktion digitaler Wohnbildwelten auf Plattformen wie Instagram und die Suche nach gegenhegemonialen Bildern des Wohnens“ unter der Leitung von Univ.Prof. Dipl.-Ing. Mag.phil. Dr.phil. Peter Mörtenböck, Forschungsbereich für Visuelle Kultur, Institut für Kunst und Gestaltung, TU Wien. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Deutsches Lektorat und Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839468999 Print-ISBN: 978-3-8376-6899-5 PDF-ISBN: 978-3-8394-6899-9 Buchreihen-ISSN: 2747-3716 Buchreihen-eISSN: 2747-3724 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Bernadette Krejs
INSTAGRAM
WOHNEN Architektur als Bild und die Suche nach gegenhegemonialen Wohnbildwelten
wohnen +/− ausstellen
Dank Besonderer Dank gilt Irene Nierhaus und Kathrin Heinz, die als Leiterinnen des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender an der Universität Bremen diese Publikation ermöglicht haben. Speziell bei Irene Nierhaus möchte ich mich bedanken für die großzügige Einladung in das Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen und die Aufnahme meiner Untersuchung in die gleichnamige Buchreihe sowie für die Vernetzung mit großartigen Forscher*innen wie Kathrin Heinz, Rosanna Umbach und Amelie Ochs. Danke, Irene, für die wunderbaren Gespräche, Diskussionen und klugen Überlegungen sowie dein Vertrauen in meine Forschungsarbeit. Ein besonderer Dank gilt auch Peter Mörtenböck, dem Betreuer meiner Dissertation, für die fachliche und inspirierende Unterstützung. Jedes Gespräch und jede Diskussion mit dir eröffnete mir neue Perspektiven und verknüpfte kritisches Wissen mit großer Freiheit in meiner Forschung. Ich danke dir für dieses andere Denkenlernen sowie deine Großzügigkeit. Für die unendliche Geduld mit mir, das niemals endende Vertrauen und die viele Liebe bedanke ich mich bei meinen Kindern Frida und Romi und bei meinem Partner Matthias. Genauso bei Christiane, Wolfgang und Dominika Krejs, die mich in allen Bereichen unterstützt haben. Für das großartige Lektorat bedanke ich mich vielmals bei Ulf Heidel, bei Christian Heinz für die grafische Gestaltung des Buches.
Inhalt
Einführung
How I fell for (or in love with) digital image worlds Methodische Fragen Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln
12 13 22 29
1. Architektur als Bild 1.1
Bild und Gesellschaft
1.1.1 Was ist ein Bild? 1.1.2 Pictorial turn 1.1.3 Kulturen von Evidenz 1.1.4 Bilder von Gemeinschaft und Wissen
41 47 53 58
1.2
Bild und Architektur
65
68 81
1.2.1 Das Bild in der Architektur – Status quo 1.2.2 Bild und Architektur: von Relationen, Abhängigkeiten und Verbindungen 1.2.3 Mehr als ein Werkzeug
1.3
Agency of the image
1.3.1 Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente 1.3.2 Agency – die Handlungsfähigkeit des Bildes 1.3.3 Architektur – Bild – agency
40
92 107 108 112 116
2. Das Bild des Wohnens Über die (Re-)Produktion von digitalen Wohnbildwelten auf Plattformen 2.1
Schauplatz Wohnen
121
2.1.1 Über das Bewohnen 2.1.2 Der private Schauplatz 2.1.3 Wohnen als Repräsentationsform 2.1.4 Wohnwissen und Wohnideale
122 127 137 143
2.2 Plattformen
150
151 153 158 161
2.2.1 Plattformtechnologien 2.2.2 Zirkulation und Aktivität 2.2.3 Plattform-Ökonomie 2.2.4 Die Verschränkung mit der bestehenden Stadt
2.3 Understanding Instagram
168
169
2.3.1 Von digitalen Bildern und Handykameras 2.3.2 How Instagram works 2.3.3 Instagram aesthetics und Instagramism 2.3.4 Shop my post
173 181 186
2.4 Instagram-Wohnen
2.4.1 Looking at home & interior accounts on Instagram 2.4.2 @studiomcgee 3,2m/ Syd & Shea McGee/Utah 2.4.3 @em_henderson 964k/ Emily Henderson/Kalifornien 2.4.4 @mytexashouse 7553k/ Erin Vogelpohl/Texas 2.4.5 @renovationhusbands 116k/ Stephen & David/Massachusetts 2.4.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
190 194 198 204 209 214 220
2.5 Ideale mit Folgen
228
230 235
2.5.1 Wohnen als ästhetischer Konsum 2.5.2 Community experience und optimierte Individuen 2.5.3 Fokussierte (Wohn-)Limitierungen 2.5.4 This is so instagramable : AirSpaces und Airbnb
241 244
3. D rawing Housing Otherwise Auf der Suche nach gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens
3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie
259
3.1.1 Hegemonie 3.1.2 Things could always be otherwise! 3.1.3 Drawing otherwise 3.1.4 Gegenhegemoniale Bildpraktiken (des Wohnens)
260 263 265 268
3.2 Das politisch-aktivistische Bild
273
275 278
3.2.1 Ästhetik des Politischen 3.2.2 Das ästhetische Regime und die Aufteilung des Sinnlichen 3.2.3 Handlung und Agitation: (ab)Normal 3.2.4 Konflikt und Wahrheit: EDIT 3.2.5 Auflösen und öffnen: Mona Mahall & Asli Serbest 3.2.6 Kollektivität und Organisation
282 285 290 293
3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit
298
300
3.3.1 Über die Unsichtbarkeit gegenhegemonialer Bilder 3.3.2 Sichtbarkeit für ein diverses (Wohn-)Raumverständnis 3.3.3 Wohnbildwelten: a site of resistance
310 314
Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens
322
Bibliografie
338
Abbildungsverzeichnis
348
How I fell for (or in love with) digital image worlds Instagram-Wohnen versus Wohnen otherwise. Während der Forschung für dieses Buch, in der ich mich intensiv mit den Themen Bild, Wohnen und Plattformtechnologien auseinandersetzte, tauchte 2019 das Coronavirus SARS-CoV-2 auf. Die Covid-19-Pandemie führte zu Maßnahmen wie Lockdowns, Social Distancing oder dem Schließen von Bildungseinrichtungen, Geschäften und Produktionsstätten – tiefgreifende Einschnitte ins gesellschaftliche Leben, die enorme ökonomische und soziale Herausforderungen mit sich brachten. Zwei wesentliche Aspekte, die auch Kernthemen der vorliegenden Untersuchung sind, traten zunehmend in den Vordergrund: einerseits die voranschreitende Integration und Verschmelzung unterschiedlichster Lebensbereiche mit Plattformtechnologien und andererseits die Neubewertung des Wohnens als Lebensmittelpunkt in Zeiten von Lockdowns und Social Distancing. Wie in einem neuen Biedermeier war die eigene Wohnung der einzige sichere Rückzugsort vor dem unsichtbaren Virus. Die Baubranche boomte, Möbelhäuser richteten Versand- und Pick-up-Services ein und die Gartencenter wurden leer gekauft. Gleichzeitig tauchten unendlich viele Wohnräume als scheinbar zufällige, jedoch meist bewusst kuratierte Hintergründe – als Share Screen Architecture1 – in Onlinemeetings auf, das Wohnen wurde allgegenwärtig und sichtbar. Das Organisieren und Einrichten, das Verwalten und Optimieren des Wohnens rückte verstärkt in den Lebensmittelpunkt. Giorgio Agamben spricht daher vom Haus-oikos, das sich aus der oikonomia, der Verwaltung und Ordnung des Hauses zusammensetzt2 und die administrativen, organisatorischen Aspekte des Häuslichen hervorhebt. Die verwaltenden Aspekte von oikos dominieren und verhäuslichen auch den politischen Körper der polis. Der damit einhergehenden Entpolitisierung des Wohnens durch endloses Organisieren, Inszenieren und Dekorieren stand aber durch die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse
1 Vgl. Savio, Luigi/Inselvini, Mattia (ab)Normal : Share Screen Architecture, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021. 2 Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2010, S. 32.
13
Einführung die sichtbar gewordene Bedeutung von Care- und Reproduktionsarbeit gegenüber. Die fehlende Anerkennung reproduktiver Arbeit im Wohnen produzierte einen care gap, wie Elke Krasny es nennt.3 Einen durch die Pandemie noch tieferen Graben zwischen Männern und Frauen, Wohlhabenden und Nichtvermögenden oder schlicht Privilegierten und Nicht-Privilegierten. Auch der Vorteil, über ausreichend bezahlbaren Wohnraum zu verfügen, wurde durch Homeschooling, Homeoffice und Ausgangssperren sichtbar. Wohnen meldete sich in der Pandemie als Ort des Politischen, des Konflikts und der Verantwortung und somit zugleich als dringliche Notwendigkeit zurück. Die intensive Nutzung von Plattformservices sollte die Unannehmlichkeiten der Pandemie und die daraus folgenden Einschränkungen ausgleichen. Waren Plattformen auch zuvor schon Bestandteil des alltäglichen Lebens, so intensivierte die Covid-19-Pandemie die Nutzung dieser Services radikal und etablierte eine gelebte Präsenz digitaler Realität. Plattformen wie Amazon erzielten Rekordumsätze, Zoom wurde zum Ort digitaler Versammlungen und in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram und TikTok wurde die Pandemie kollektiv durch nicht enden wollende Memes aufgearbeitet. Es ist unschwer zu erkennen, dass Plattformtechnologien in unterschiedlichste Lebensbereiche unseres Alltags eingedrungen sind und damit radikal die Art und Weise verändert haben, wie wir zueinander und zu unserer Umwelt in Beziehung treten. Wir essen über Mjam, arbeiten über Zoom, bewegen uns mit Uber und Lime-E-Scootern durch die Stadt, verabreden uns zum Sex über Tinder und Grindr, kaufen bei Amazon, spielen live auf Twitch, streamen über Netflix und präsentieren und inszenieren uns auf Instagram. Wir benutzen und spüren die Auswirkungen von Plattformen, doch sie selbst bleiben stets vage und in ihren Organisationsformen und alle Dimensionen sprengenden Aktivitäten schwer fassbar. Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer bringen die Ambiguität von Plattformen auf den Punkt, wenn sie „their capacity to appear everywhere and reside nowhere, to always be in contact but never in touch“ hervorheben.4
3 Elke Krasny verwendet den Begriff care gap in ihrem Beitrag: Krasny, Elke: Die Wohnfrage. Von den Maßstäben der Sorge, in: ARCH+244 Wien. Das Ende des Wohnbaus (als Typologie), 2021, S. 52–55, hier S. 53. 4 Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 29.
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How I fell for (or in love with) digital image worlds Mit zwei Billionen aktiven Nutzer*innen5 ist die Photo-Sharing-Plattform Instagram, die Teil des Meta-Konzerns ist (vormals Facebook), eine stark wachsende Plattform, die vor allem bei jungen Erwachsenen populär ist.6 Das offizielle Gesicht von Instagram ist geprägt von erfolgreichen Influencer*innen, die das Leben zwar geplant inszenieren, jedoch als spontanes visuelles Erlebnis präsentieren und in ästhetisierten, um Aufmerksamkeit ringenden Bildern mit ihren Communitys teilen. So beschreibt Lev Manovich Instagram als eine Plattform für ästhetische visuelle Kommunikation: „The creation of beauty – rather than information – is what successful Instagram accounts aim at“.7 Angetrieben von einer optimierten Instagram-Ästhetik hat sich die Plattform in einen homogenen Warenmarkt transformiert. Mein Interesse als Architektin und Forscherin liegt primär im Themenfeld des Wohnens und der daraus abgeleiteten Frage, wie Wohnen auf Instagram bildlich dargestellt, ausgestellt und durch die Plattform reproduziert wird. Denn das (Be-) Wohnen als eine performative Alltagshandlung ist auch ein System der Repräsentation, es ist die „Inszenierung des Menschen bei seinem Auftritt im Leben“, wie es Lucius Burckhard beschreibt.8 Zudem bietet die Warenförmigkeit des Wohnens, mit all seinen Dekor- und Ausstattungsobjekten, ideale Voraussetzungen für die Selbstinszenierung perfekter Wohnmomente auf der Plattform Instagram. Die dort präsentierten ästhetisierten Wohnbildwelten produzieren visuelle Ideale, die sich vor allem über eine Fülle an Wohnobjekten und darin navigierenden optimierten Subjekten auszeichnen. Die so evozierten (Wohn-)Begehren zeigen gleichzeitig auch (Wohn-)Normen und -standards vor, wie geliebt, was geshoppt und wo gewohnt werden soll. Irene und Andreas Nierhaus erfassen diese Prozesse des Sehens und Zeigens
5 Statista 2023: Number of monthly active Instagram users from January 2013 to December 202, https://www.statista.com/statistics/253577/number-ofmonthly-active-instagram-users/ (20.02.2022). 6 70 Prozent der Instagram -User*innen sind unter 34 Jahre, Statista 2023: Distribution of Instagram users worldwide as of January 2023, by age group, https://www.statista.com/statistics/325587/instagram-global-age-group/ (20.02.2022). 7 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Data Publics. Public Plurality in an Era of Data Determinacy, London 2020, S. 192–210, hier S. 194. 8 Burckhard, Lucius: Wohn-Bedürfnisse (1970), in: Fezer, Jesko/Schmitz, Martin (Hg.): Wer plant die Planung? Politik und Mensch, Berlin 2004, S. 260–269, hier 260.
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Einführung im Wohnen daher als ein Zeigesystem des Sozialen.9 Durch die Reichweite der Plattform Instagram und die alltägliche Präsenz der zirkulierenden ästhetisierten (Wohn-)Bilder formt sich somit eine globale visuelle Sprache, die sich über Displays bis in unsere Wohnzimmer ausbreitet. Auffallend dabei ist die Gleichheit und Uniformität der gezeigten Wohnräume und Handlungen. Selbst wenn sie in unterschiedlichen Stilen variieren (farmhouse, french country etc.), sind die Wohnerfahrungen und -möglichkeiten, die sie zeigen, limitiert und produzieren die immer gleichen Schablonen von Räumen, in denen bekannte stereotype (Wohn-)Handlungen vollzogen werden. Wechselt man die Plattform und navigiert durch das Kurzzeit-Mietservice von Airbnb, dann sind die vom Algorithmus vorgeschlagenen Wohnräume der Kategorie plus wie eine Materialisierung der digitalen, idealisierten Wohnbildwelten, die uns von Instagram, Pinterest oder Netflix vertraut sind. Atmosphärische, perfekt ausgeleuchtete, weiße, homogenisierte Apartments, die in Wien, Hongkong oder Mumbai existieren und es ermöglichen, sich überall zu Hause zu fühlen, aber gleichzeitig nirgendwo zu sein. Das weltweit größte Wohnbildarchiv Airbnb zeigt das Ideal einer globalisierten Ästhetik, die sich als International Airbnb Style10 wie ein Muster über das Wohnen ausdehnt und eine universalisierte Werte- und Ästhetikgemeinschaft eines transnationalen Kapitalismus widerspiegelt. Existieren neben diesen dominanten ästhetisierten Bildstereotypen auch andere Bilder des Wohnens? Im Feld der Architektur tauchen immer wieder neue, noch unbekannte, nicht kategorisierbare Bilder, Collagen und Zeichnungen auf, die Raum, Architektur und unsere Umwelt anders sehen und darstellen möchten. Beispiele hierfür sind die technopositivistischen Zeichnungen der paper architects – von Superstudio, Archizoom oder Archigram – aus den 1960er Jahren, die „andere“ visuelle Momente maskulin geprägter utopischer Erneuerung skizzierten. Ebenso zeigen die ersten Zeichnungen von Zaha Hadid (The Peak, 1983)
9 Vgl. Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bd. 1, Bielefeld 2014, S. 9-38, hier S. 21. 10 Chayka, Kyle: The Subway That Sunk. How Silicon Valley Helps Spread the Same Sterile Aesthetic across the World, in: The Verge, 2016, https://www. theverge.com/2016/8/3/12325104/airbnb-aesthetic-global-minimalism-start up-gentrification (19.02.2022).
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How I fell for (or in love with) digital image worlds oder Madelon Vriesendorps (Flagrant Délit, 1975) und Zoe Zenghellis (The City of The Captive Globe, 1972) frühe OMA-Zeichnungen aus den 1980er Jahren eine visuelle Suche nach alternativen Szenarien für neue Gesellschaftsmodelle, andere Städte und visionäres Wohnen. Das Bild spielt in der Architektur eine weitreichende Rolle, nehmen wir doch Räume und Gebäude, die sich nicht in unserer unmittelbaren Umgebung befinden, hauptsächlich über Bilder war. Und das, obwohl sich Architektur vor allem über ihre physische Präsenz, ihre materiellen Eigenschaften und ihre räumlich erfahrbaren Gegebenheiten definiert. Die gesamte Architekturausbildung und -vermittlung ist geprägt von einer Fülle an Bildern von Bauwerken, die in den seltensten Fällen von ihren Betrachter*innen räumlich erlebt und physisch erfahren werden. Das Zeigen von Architektur mittels Bildern ist tief in unsere Wahrnehmung von Raum eingedrungen und hat dazu geführt, dass wir historische wie zeitgenössische Gebäude, die Millionen Mal in unterschiedlichen Medien reproduziert wurden, als Architektur wahrnehmen. Es sind keine Abbildungen mehr, die stellvertretend eine nicht anwesende Architektur ausstellen, sondern sie werden selbst zu Architektur und nehmen einen fixen Platz im Kanon ein – „not merely a picture of architecture, but architecture itself“, wie auch Kester Rattenbury schreibt.11 Dabei ist das Bild aber immer klarer, schärfer, makelloser und zeigt keine Spuren des Verbrauchs, der Abnutzung oder missglückter Details und unzufriedener Bewohner*innen. „Architecture has a troubled relationship with images“,12 und das, obwohl die beiden in enger Verbindung zueinander stehen. So wird das Bild als Hilfsmittel und Werkzeug beschrieben, das den scheinbar unüberwindbaren Graben zwischen Gedachtem und materieller Realität überbrücken soll. Und das, obwohl wir längst in einer Realität leben, in der gebaute Welt (Architektur) und das Bild nur differenzierte Versionen voneinander sind, wie Hito Steyerl schreibt: „The major and quite overlooked consequence is that reality now widely consists of images.“13 Im Feld der Architektur wird das Bild jedoch oft nur als reiner Informationsträger gesehen, der darüber berichtet, was in der Wirklichkeit ist 11 Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 57. 12 Young, Michael: Fear of the mediated image, in: Cornell Journal of Architecture, 2020, S. 146–161, hier S. 146. 13 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
17
Einführung oder kommen wird. Vor allem den Verführungstechniken digitaler Bilder wird großes Misstrauen entgegengebracht. Die grüngewaschenen, von weißen und jungen Menschen bevölkerten fotorealistischen Idealbilder spielen aber in wirtschaftlichen Prozessen, wie etwa beim Kauf einer Immobilie oder beim Gewinn eines Wettbewerbs, keine unwesentliche Rolle. Dabei sind nicht digitale Bilder an sich fragwürdig, sondern die immer gleichen, homogenisierten, dominanten Stereotypen von Bildern, die die Architektur- und Renderbüros hervorbringen. Denn Pixel können auf ganz unterschiedliche Arten zusammengesetzt werden. Wo sind also die „anderen“ Bilder des Wohnens heute zu finden und worin unterscheiden sie sich von den Visionen der paper architects der 1970er Jahre? Heute leben wir in einer ständigen Gegenwart, die unsere Zukunft ist. Aber der Wunsch nach einer differenzierten Sicht auf Umwelt, Stadt und Architektur ist nicht verschwunden. Dieses „Andere“ im Bild zu fassen und zu bestimmen war zu Beginn dieser Forschung kein einfaches Unterfangen. Unter den vielen und immer mehr Bildern – „we seem to have more data than we need“, wie Mario Carpo schreibt14 – war das neue oder spektakuläre visuelle Erscheinungsbild kein ausreichendes Kriterium, um dieses „Andere“ zu erfassen. Heute nenne ich diese Bilder gegenhegemoniale Bilder, die in der Praxis eines drawing otherwise entstanden sind und somit primär politisch-aktivistische Bilder sind. Dabei schließe ich an Chantal Mouffe an, die diese künstlerischen Praktiken im Dienste des politischen Aktivismus sieht: „They [artistic & activist practices] can be seen as counter-hegemonic moves against the capitalist appropriation of aesthetics and its goal of securing and expanding the valorization process.“15 Das Politische beschreibt hier nach Susanne Lummerding einen „Moment der Offenheit“,16 ein kritisches Erkennen und Sichtbarmachen von Herrschafts- und Machtstrukturen, das die Potentiale für die Neuerfindung und Veränderung von Realität in sich trägt. Es sind Bilder, die Fragen und Möglichkeiten freilegen und dabei eine differenzierte visuelle Sprache produzieren, die auch unsere Sehgewohnheiten herausfordern 14 Vgl. Carpo, Mario: The Post-Digital Will Be Even More Digital, Says Mario Carpo, in: Metropolis Magazin, 05.06.2018, https://metropolismag.com/viewpoints/ post-digital-will-be-more-digital (28.01.2022). 15 Mouffe, Chantal: Agonistics. Thinking the World Politically, London 2013, S. 99. 16 Vgl. Lummerding, Susanne: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Köln/Weimar 2005, S. 10.
18
How I fell for (or in love with) digital image worlds wird. Denn hegemoniale Systeme haben uns fest im Griff, sie bestimmen, wie wir die Welt sehen, einteilen, begreifen und bewerten. Es sind keine technologischen Entwicklungen, schillernde Oberflächen oder die Flachheit der post-digitalen17 Zeichnungen, die das „Andere“ ausmachen, sondern das politisch Verändernde, die Handlungsfähigkeit des Bildes. Im Februar 2022, kurz vor Fertigstellung diese Forschungsarbeit, überfiel der russische Präsident Wladimir Putin mit der Ukraine einen freien demokratischen Staat, und mitten in Europa entfaltete sich ein Krieg, der Menschleben zerstört und Kultur bedroht. Plötzlich mischten sich auf bekannten Plattformen Kriegsbilder in die Feeds aus perfekten Lifestyle-Momenten. Vor allem auf der Plattform TikTok posteten Ukrainer*innen die ersten Live-Videos des Krieges als unmittelbares, eindringliches Erlebnis. „Watching the World’s ‚First TikTok War‘“, so ist ein Artikel von Kyle Chayka im New Yorker aus dem März 2022 betitelt.18 Soziale Medien wie Facebook und Twitter spielten bereits bei den Aufständen des Arabischen Frühlings und dem Krieg in Syrien eine wesentliche Rolle für die Organisation der Protestbewegungen. 2022 ist (fast) jede*r mit einem Smartphone ausgestattet, vom Krieg wird daher in multimedialen Formaten und in Echtzeit berichtet. Dabei tauchen die Bilder und Videos der Kriegsschauplätze im vertrauten Interface der Plattformen auf. Die digitalen Fragmente des Krieges passen sich den ästhetischen Normierungen der Plattform an und lassen die fernen Opfer des Krieges als vertraute Mitbewohner*innen des Internets19 erscheinen, die die gleichen Referenzen kennen, dieselbe Musik hören und eben auch bekannte und vertraute Plattformen nutzen. Die Omnipräsenz von digitalen Plattformen mit all ihren Möglichkeiten und Limitierungen ist längst fixer Bestandteil aller Lebenssituation menschlichen Handelns geworden. Egal, ob die reproduzierten Medieninhalte einen Krieg in Europa, niedliche Katzen oder den perfekten Moment im neuen Wohnzimmer zeigen. So ist auch das Wohnen durchdrungen von den Werten und Idealen seiner medialen Reproduzierbarkeit durch Plattformen und bestimmt von der Logik der Plattformöko-
17 Jacob, Sam: Rendering: The Cave of the Digital, in: e-flux Architecture, Februar 2018, https://www.e-flux.com/architecture/representation/167503/ rendering-the-cave-of-the-digital/ (02.10.2021). 18 Chayka, Kyle: Watching the World’s „First TikTok war“, in: The New Yorker, März 2022, https://www.newyorker.com/culture/infinite-scroll/watchingthe-worlds-first-tiktok-war (20.03.2022). 19 Vgl. ebd.
19
Einführung
Abb. 0_1: TikTok-Account von @valerisssh, Video: Putin, I wait u in Chernihiv (21,4 Millionen Views [29.03.2022]).
nomie. Dabei verschleiert die Neuartigkeit der Situation im Umgang mit Plattformtechnologien, wie diese digitalen Räume eigentlich funktionieren. Nick Srnicek weist in Platform Capitalism (2016) ausdrücklich darauf hin, dass wir lernen müssen, Plattformen, ihre Spielregeln und Prozesse zu verstehen, da wir nur dann die aus digitalen und physischen Realitäten bestehende Welt gestalten bzw. entscheiden könnten.20 Denn Plattformen sind keine neutralen Räume, in denen sich das Individuum
20
20
Vgl. Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 127.
How I fell for (or in love with) digital image worlds oder die Gemeinschaft frei entfalten kann, es sind privatisierte Räume monopolistischer Unternehmen, in denen oftmals unklare Regeln der Teilnahme, des Ausschlusses und der Optimierung herrschen. Diese Untersuchung geht der großen Frage nach, welche Auswirkungen Plattformen auf unser Verständnis von Architektur und Raum, aber vor allem auf das Wohnen haben. Dabei konzentriert sie sich auf die mediale Repräsentation des Wohnens mit seinen Wohnräumen, -objekten und -handlungen. Die visuellen Inszenierungen in ästhetisierten Bildern und Videos auf Instagram stellen dabei nicht nur Wohnen aus, sondern reproduzieren diese Ideale auch außerhalb der Plattform weiter und konstruieren folglich das Wohnen mit. Doch was passiert, wenn Wohnen auf einen ästhetischen Konsum reduziert wird und alles andere, das nicht dieser Verwertungslogik folgt, unsichtbar wird? Welchen Gesellschaftskörper produzieren die homogenisierten, universalisierten Bilder des Wohnens? Und wie verändert eine optimierte (Instagram-)Community aus Subjekten, die sich in permanenten Selbstkorrekturschleifen bewegen, die Idee von Gemeinschaft für das Wohnen? Die normativen, limitierten und ästhetisierten Bildwelten des Wohnens finden auch Anschlussstellen in gebauter Wirklichkeit; von den immer gleichen Airbnb-Apartments bis zu den ikonischen instagramablen Fassadenarchitekturen sind diese physisch erfahrbaren Auswirkungen zu erleben. So macht sich die vorliegende Studie abschließend in der Menge von immer mehr Medien auf die Suche nach gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens, die als Chance und Notwendigkeit für dringliche globale oder alltägliche Fragen einen Möglichkeitsraum für Multiplizität, Widerstand und Beziehung eröffnen können. Wien, März 2022
21
Einführung
Methodische Fragen Im Folgenden möchte ich die Situiertheit meines Wissens transparent machen und die Konzepte und Methoden erläutern, die dieser Studie zugrunde liegen. Wissen ist nach Donna Haraway immer verkörpert, positioniert und beruht auf einer partiellen Perspektive, also einem ausgewählten Blickwinkel.21 Subjektivität ist der Forschung demnach immanent und kann nicht komplett „ausgelagert“ werden, die eigene kontextuelle Verortung soll jedoch offengelegt werden. Dies ermöglicht es auch, den eigenen Standort und Blick auf das Vorgefundene zu reflektieren. So ist zu konstatieren, dass ich in dieser Untersuchung aus der Position einer ausgebildeten Architektin zwischen dem Beobachten von Phänomenen, theoretischen Überlegungen und dem Streben nach mitgestaltenden Veränderungsmöglichkeiten vermittle. Neuen, unbekannten Narrativen und Beziehungen soll Sichtbarkeit verschafft werden – ein Prozess, der mit Audre Lorde als „transformation of silence into language and action“ beschrieben werden kann.22 Die Untersuchung ist im Feld der visuellen Kultur sowie der Architekturkritik angesiedelt, zudem ist sie beeinflusst von der feministischen Geschlechterforschung. Die visuelle Kultur als transdisziplinäre Forschungsperspektive, die mehr als Grenzen befragendes Forschungsfeld verstanden werden kann, als eine erklärende Theorie mit definierten Methoden, ist hierfür ein hilfreiches Denkmodell. Der phänomenologische Zugang ermöglicht ein Zusammenfügen von Populärkultur, neuen Medien und kritischen Theorien, er soll Erfahrungen sichtbar machen sowie Relationen zu anderen Orten und Denkrichtungen öffnen. Der akademische Feminismus, etwa in Gestalt der Gender Studies, war immer schon eine treibende Kraft, die bestehende Strukturen und Machtverhältnisse kritisch hinterfragt hat. Diese gegenhegemoniale Praxis, die das Gewohnte und Etablierte zur Diskussion stellt und dabei neue Blickwinkel eröffnet, durchzieht meine Untersuchung. Ein Überwinden von Grenzen unterschiedlicher Disziplinen ist unabdingbar in einer Zeit komplexer Fragen, neuer Technologien und der Produktion vielfältiger Wissensbestände. Am Beispiel des Bildes, das als me21 Vgl. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, New York 1995, S. 273. 22 Lorde, Audre: Sister Outsider. Essays and Speeches, New York 1984, S. 29.
22
Methodische Fragen diales Repräsentationsobjekt in dieser Arbeit untersucht wird, kann die Auseinandersetzung um disziplinäre Vormachtstellung skizziert werden: So versuchten unterschiedliche Fächer das Bild zu fassen, zu definieren und zu beschreiben. War das Bild lange Zeit vor allem Gegenstandsfeld der Kunstgeschichte, so wuchs das Interesse ab den 1980er Jahren auch in anderen Bereichen. Sowohl die Medien- und Literaturwissenschaften als auch die Politik-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften setzten sich nun mit dem Bild auseinander. Um das Feld der Bildkompetenz abzustecken, propagierte die Kunstgeschichte eine eigene Bildwissenschaft, die die Bildanalyse durch methodische Lernprozesse und Regeln definierte. Auch die visuelle Soziologie, eine Erweiterung der qualitativen Sozialforschung, versucht Bilder durch datenproduzierende Methoden richtig auszuwerten und somit das Wesen des Bildes zu bestimmen. Keller Easterling weist jedoch darauf hin, dass die Suche nach der einen richtigen Wahrheit in der Falle eines geschlossenen Loops23 enden kann. In einem Loop können demnach nur kompatible Informationen und sich ablösende Praktiken zirkulieren, koexistierende Gedanken oder gar Widersprüchen wird hier kein (Denk)Raum zugestanden.24 Daher versuche ich in meiner Untersuchung nicht, Theorien auf beobachtete Phänomene zu übertragen oder festgelegte Methoden als vermeintlich neutrale Analyseinstrumente einzusetzen, die „Vor-Gewusstes“ bestätigen oder absichern. Denn fischen wir im Ozean des Wissens an den immer gleichen Stellen mit denselben etablierten, wissenschaftlich anerkannten Fanghaken, ist es nicht verwunderlich, wenn wir stets dieselben Fische fangen, denn dafür sind diese Instrumente auch gedacht. Um neue Wissensbestände, Zusammenhänge, Vernetzungen und Unbekanntes zu erforschen, bedarf es auch Bewegungen hin zu anderen, unbekannten, (noch) nicht erforschten Orten des Wissens. Diese anderen Positionen müssen benannt und beschrieben werden. Denn genauso, wie man sich allmählich unbekannten und neuen Wissensformen annähert, wird man auch die Untersuchungsmethoden entwerfen und entwickeln müssen, um das Entdeckte begreifend verstehen zu lernen. Sigrid Schade und Silke Wenk sprechen daher von „Konzepten statt Methoden“,25
23 Vgl. Easterling, Keller: Medium Design, in: ARCH+ 234 Datatopia, 2019, S. 148–157, hier S. 149. 24 Ebd., S. 155. 25 Schade, Sigrid/Wenk, Silke (Hg.): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 65.
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Einführung können sich Konzepte doch einer Situation anpassen, indem sie reagieren und reflektieren. Das ist notwendig, da in einer zirkulierenden Welt auch Begrifflichkeiten wandern und ihre Bedeutungen verändern, wie in Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, am Terminus der Privatheit im Wohnen gezeigt wird. Der Forschungsprozess wurde nicht in ein einengendes Methodengerüst gezwängt, sondern es wurde ein interdisziplinäreres, netzwerkartiges Denken praktiziert, das ein experimentelles, offenes Erkunden ermöglichte. Die Untersuchung verfolgt demnach einen phänomenorientierten Forschungszugang, der mit experimentellen Erkundungen operiert, und untersucht Prozesse der Produktion, der Rezeption und der Wahrnehmung von Bild und Wohnen durch digitale Plattformtechnologien. Dabei sucht sie nicht nach einer allumfassenden Lösung für auftretende Probleme, sie thematisiert vielmehr Probleme und forscht nach einer „besseren Darstellung der Welt“.26 Denn „es reicht nicht aus, auf die grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist“,27 sondern Wissen muss partiell übersetzt und in netzwerkartige Verbindungen eingefügt werden, um so neue Erkenntnisse aufzuspüren. Gerade das Fragenstellen außerhalb etablierter Kategorien von Wissensproduktion zu Entstehungsgeschichten, Produktionsprozessen oder Wahrnehmungsbedingungen kann neues Wissen freilegen. „Vielleicht ist die Betonung von Problemen hilfreicher als deren Lösung. Unordnung smarter als Neuheit. Gegenseitige Verpflichtung stärker als Freiheit.“28 Ausgangspunkt für das Erforschen bestimmter Phänomene, Räume und Praktiken kann dabei ein Moment der Neugierde, der Lust oder des Ahnens eines bedeutenden, sich aber auch verändernden Zustands sein. Dabei muss das Interesse nicht sofort entschlüsselt werden, ein prozessuales Denken entwickelt Analysen von Bildern, Räumen und Theorien und zeigt dabei Zusammenhänge und Möglichkeiten auf. In diesen Prozessen spielt auch das Narrativ eine wesentliche Rolle und ist Teil der Wissensproduktion. Die Fähigkeit, Narrative zu erkennen und in der Folge von ihrem Dispositiv zu trennen, ermöglicht es auch, Strategien von bestehenden Machtstrukturen freizulegen. Gleichzeitig ist das Narrativ auch ein Konzept, um in der Übersetzung von Wissen die Wirklichkeit
26 Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur, S. 78. 27 Ebd. 28 Easterling, Keller: Medium Design, S. 155.
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Methodische Fragen der Gegenwart beschreiben zu können und kritische Spekulationen zu vermitteln. Das Denken mit und durch (bildliche) Narrative muss erlernt werden, um es zerlegen und neu zusammensetzen zu können.
Bildquellen Für meine Untersuchung habe ich unterschiedliche Bildquellen herangezogen. In Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, werden vier Follower*innen-starke Instagram-Accounts und ihr gezeigtes Bildmaterial aus dem Bereich Home & Interieur ausführlich besprochen. Die Auswahl der Accounts erfolgte nach Kriterien der Reichweite (Follower*innen), des zugeordneten Themenfelds des Wohnens sowie der Personalisierung des Accounts, also der visuellen Präsenz der Accountbetreiber*innen in den bildlichen Narrativen. Das ausgewählte Material ist auf westliche, konkret auf US-amerikanische Accounts beschränkt. Die Materialauswahl kann als Versuch einer bestimmten Untersuchung verstanden werden, der auch auf weitere und andere Geschichten ausgeweitet werden kann. Folglich repräsentieren die Bildwelten des Wohnens dieser Accounts auch westlich hegemoniale Vorstellungen, Blicke und Repräsentationspraktiken. Dieser Forschungsblick ist dementsprechend kein zufälliger, der das Universelle oder den Normfall erfasst, sondern ein für diese Arbeit bewusst gewählter partieller Ausschnitt und ist daher eine von vielen möglichen Perspektiven. Die Foto-Sharing-Plattform Instagram erweist sich als ein umfangreiches Archiv zeitgenössischer Bildkultur. Bereits ein Jahr nach Veröffentlichung der Instagram-App im Jahr 2010 waren mehr als 100 Millionen Fotos dort aufzufinden, 2017 bereits 40 Milliarden Bilder und heute werden täglich geschätzt 95 Millionen Fotos und Videos auf Instagram gepostet.29 Die Bilddaten bilden aufgrund ihres gigantischen Umfangs und der gleichzeitig homogenen Sortierung durch technische Limitierungen, wie etwa das Quadratformat, eine umfassende Basis für Forschung und Wissenschaft. Musste bei der Bildanalyse von analogen Fotografien die Art der Kamera, des Films und der Fotopapiere berücksichtigt werden, genauso wie die selektive Auswahl in bestimmten Publikationen, Diskur29 Ahlgren, Matt: 40+ Instagram statistics, facts & trends for 2023, https://www. websiterating.com/research/instagram-statistics/ (15.03.2022).
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Einführung sen und Archiven, so stellt Instagram heute ein von User*innen generiertes Bildarchiv aus technologisch gleichwertigen Bildern zur Verfügung. Eine Auseinandersetzung mit diesem Bildmaterial auf Instagram kommt vor allem aus den Computer Sciences, die mit großen data samples arbeiten.30 Aber auch die Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit unterschiedlichen Bildphänomenen auf Instagram, von der Alltagsfotografie bis zum Selfie-Kult.31 Auch die vorliegende Untersuchung widmet sich den Potentialen dieser wachsenden Bildersammlung auf unterschiedlichen Maßstabsebenen. Erkenntnisleitende Fragen sind unter anderem: Wie wirken die Bildwelten auf Instagram in die Gesellschaft und die umgebende Umwelt hinein, welche Rolle spielt die Plattform als technisch-ökonomischer Optimierungsapparat und warum setzten sich bestimmte visuelle, ästhetische Repräsentationsformen durch? Die Arbeit verfolgt jedoch nie eine Theorie des Einzelbildes, sondern interessiert sich vor allem für die Vielzahl an Bildern, die miteinander in Relationen treten. Denn das einzelne Bild, isoliert betrachtet, bleibt ein Phänomen ohne Beziehungen, Abhängigkeiten und Möglichkeiten. Das Bild wird daher immer im medialen Verbund und in Kombination mit seinen technologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Begleitungen etrachtet. Die Arbeit erhebt dabei nicht den unmöglichen Anspruch, das Ausmaß digitaler Kultur in seiner Gesamtheit zu erfassen, vielmehr ist es ein Navigieren zwischen unterschiedlichen Maßstäben, das den Blick auf das einzelne Bild im Verbund mit anderen ermöglicht. Die Analyse des beforschten Bildmaterials ist dabei weniger als eine Fallstudie zu lesen, sondern vielmehr sind die gezeigten Bilder als Referenzpunkte zu verstehen, die die Argumentation begleiten und auch Flexibilität und Gleichzeitigkeit zulassen. In Kapitel 3, Drawing Housing Otherwise, werden Darstellungen und Bildserien gezeigt, die aus der Praxis eines drawing otherwise32 entstan-
30 Zum Beispiel: Manovich, Lev: Instagram and Contemporary Image, 2016, http://manovich.net/index.php/projects/instagram-and-contemporary-image (19.02.2022). 31 Zum Beispiel: Tiidenberg, Katrin: Selfies. Why We Love (and Hate) Them, Bingley 2018. 32 Der Begriff drawing otherwise wird in Kapitel 3.1, Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie, ausführlich hergeleitet und beschreibt die Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung einer gegenhegemonialen Bildproduktion.
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Methodische Fragen den sind und den Produktionskontext, die Bedeutung von kollektivem Wissen, aber auch die Handlungsfähigkeit gegenhegemonialer Bilder des Wohnens thematisieren. Dabei fordern diese Bilder auch etablierte visuelle Erfahrungen und Sehgewohnheiten sowie die damit verbundenen Praktiken heraus. Denn wie wir Bilder sehen, ist von unserem Standpunkt, dem Blickwinkel und einer begrenzten Reichweite definiert. Visuelle Kompetenz ist daher eine gelernte, aber zugleich gewählte spezifische Fähigkeit, auf jeden Fall keine gesetzte Bestimmung im Sinne eines natürlichen Blicks. Seh- und Blickformen sind historischen und sozial gewachsenen Modellierungen unterworfen und beruhen auf einem konstruierten und erlernten Wahrnehmen. Das Sehen bestimmt unsere Welt und wir gleichen unsere Handlungen, aber auch unseren Körper dem (Vor)Gezeigten an. Es geht also weniger darum, was wir auf Bildern sehen, als darum, wie wir Bilder betrachten, wahrnehmen und annehmen.
Relevanz Mainstream-Medien wie Instagram und die dort gezeigten populären Wohnbildwelten und ihre Rezeptionsnarrative dürfen im akademischen Feld des Architekturdiskurses nicht ausgeblendet und unbearbeitet zurückgelassen werden. Denn mit ihrer Reichweite und ihrem stetigen Wachstum greifen Plattformen und die auf ihnen präsentierten Wohnbilder, aber vor allem auch die gemeinschaftlichen Ersatzhandlungen des Liking, Linking und Tagging, tief in gesellschaftliche Prozesse ein. Genauso wie etablierte und dominante Wissensformen, die sich aus Archiven, Modellen und Zeichnungen von Architekturbüros speisen, müssen auch die Bildwelten des Wohnens auf Plattformen wie Instagram kritisch betrachtet und erforscht werden, denn sie sind Teil einer kulturellen Wissensproduktion. Die vorliegende Studie untersucht die Plattform Instagram, die sich als neutrales Freizeit- oder Unterhaltungsmedium präsentiert, und analysiert Kategorien von Repräsentation, Sichtbarkeitspolitiken und die Bedeutung von Ästhetik. Welche geschlossenen Entitäten, optimierten Subjekte oder kollektiven Praktiken stehen hinter den Prozessen der Bildproduktion auf Instagram? Um die Komplexität des Schauplatzes Wohnen zu erfassen, wird den Relationen und Beziehungen zwischen Plattform, Subjekt, Raum, Objekt und Gemeinschaft im Umfeld des
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Einführung Wohnens nachgegangen. Des Weiteren wird gefragt, welche sozialen, geschlechtlichen, politischen und didaktischen Dimensionen durch diese Relationen medial vermittelt werden. Und wie können aus diesen Erfahrungen gegenhegemoniale Positionen in Erscheinung treten und sichtbar werden? Das so aufgespannte breite Untersuchungsfeld ragt in unterschiedliche Forschungsbereiche. Um das kulturelle Phänomen der Instagram-Wohnbildwelten in seiner vollen Diversität beschreiben zu können, ist es jedoch wichtig und notwendig, sich diesem großen Feld zu öffnen. Die Verzahnungen und Beziehungen zwischen unterschiedlichen „Handlungsbereichen (activity spheres)“, wie David Harvey sie nennt,33 aber auch materielle wie digitale Realitäten oder Kunst und Kommerz, können nicht separiert werden und müssen in ihrer Komplexität betrachtet werden. Obwohl die Unteresuchung bewusst breit angelegt ist, wird ihre Konsistenz durch das Beharren darauf aufrechterhalten. Sie ist daher ein weiteres „Puzzleteil“ im Ozean des Wissens und fügt eine andere Perspektive auf die Welt hinzu, in der wir wohnen.
33 Vgl. Harvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden, Hamburg 2014, S. 122.
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Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln
Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln Die Untersuchung gliedert sich in drei große Kapitel: Kapitel 1, Architektur als Bild, betrachtet das Medium des Bildes im gesellschaftlichen Kontext sowie speziell im Feld der Architektur und entwickelt daraus einen Bildbegriff (the agency of the image), der zwar die Selbst- und Eigenständigkeit des Bildes einfordert, jedoch seine Handlungsfähigkeit und das Verändernd-Vermittelnde im Bild betont. Kapitel 2, Das Bild des Wohnens, beschreibt zunächst den Schauplatz des (Be-)Wohnens in all seiner Komplexität und verknüpft ihn dann mit Plattformtechnologien. Dem visuellen Dar- und Ausstellen des Wohnens auf der Plattform Instagram wird anhand ausgewählter Home- und Interior-Accounts nachgegangen. Das Kapitel schließt mit einer Problematisierung der weitreichenden Folgen, die die ästhetisierten Wohnideale nach sich ziehen. Kapitel 3, Drawing Housing Otherwise, will diesen dominanten visuellen Entwicklungen entgegentreten und macht sich daher auf die Suche nach gegenhegemonialen Wohnbildwelten und lotet aus, was diese für das Wohnen leisten können. Kapitel 1, Architektur als Bild, beginnt mit der Frage: Was ist ein Bild? Ausgehend von der verbreiteten Annahme, Bilder seien statische, absolute und natürliche Abbildungen der Wirklichkeit, die als Zeichnungen, Fotografien oder Gemälde in Rahmen, Publikationen oder auf Displays in Erscheinung treten, versucht Kapitel 1.1, Bild und Gesellschaft, diesen engen Bildbegriff zu öffnen. Roland Barthes wies bereits 1957 in Mythen des Alltags auf die Naturalisierung von Bedeutungen in der Botschaft von Zeichen als unhinterfragte Aussagen hin, die die Komplexität menschlicher Handlung abschafft und Widersprüche ausradiert.34 Für die kritische Wiederentdeckung des Bildes „als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität“ hat W.J.T. Mitchell den Begriff des pictorial turn geprägt.35 Denn in einer beschleunigten und globalisierten Bildproduktion werden Bilder zu Repräsentationsformen, die einer Sprache gleichen. „Wir sehen Bilder
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Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 131. Mitchell, William John Thomas: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2018, S. 108.
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Einführung nicht nur, sondern wir leben in ihnen.“36 Bilder sind somit Medien, durch die wir in Beziehung zu anderen und unserer Umwelt treten können, sie werden zu einer erlebbaren Realität, indem wir mit ihnen interagieren und handeln. Bilder sind Repräsentationsflächen, die Bedeutungen generieren. Unterschiedliche Kulturen der Evidenz verbildlichen Wissen und produzieren dabei Formen von Geschichtsschreibung. Bilder generieren daher ein gesellschaftliches Gedächtnis und sind Teil einer kollektiven Praxis, die einen Gesellschaftskörper formt. So ist der Bildraum untrennbar in das Soziale eingelassen, und beide bestimmen sich stets gegenseitig, wie Tom Holert schreibt.37 Das Medium Bild ist nicht neutral, es steht in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Gebrauchsformen, technologischen Erfindungen und politisch-ökonomischem Begehren. Bilder repräsentieren folglich unsere Wirklichkeit nicht nur, sondern sie konstruieren sie mit. Kapitel 1.2, Bild und Architektur, geht der Rolle des Bildes im Feld der Architektur nach und untersucht diese komplexe und schwierige Beziehung. Die massenmediale Verbreitung von Architektur lässt uns Räume und Gebäude vor allem durch Bilder erfahren, deren Wirkmacht und Bedeutungen weitreichend sind, denn, wie Beatriz Colomina schreibt, „die monumentale Kraft der Architektur beruht auf ihren immateriellsten Mitteln“.38 Da Realität heute weitgehend auch aus Bildern besteht, sind beide Formen – Bild und gebaute Architektur – Teil unserer Lebensrealität geworden. Etablierte Darstellungstechniken prägen dabei die Wahrnehmung und Produktion von Raum und repräsentieren gleichzeitig ein machtvolles Indexsystem, das zur Bewertung und Bestätigung von Architektur herangezogen wird. Bilder schreiben Architekturgeschichte mit und werden dabei selbst als Architektur wahrgenommen. Daraus ergeben sich unterschiedlichste Beziehungen, Verschränkungen und Abhängigkeiten zwischen Architektur und dem Medium Bild. Im abschließenden Kapitel 1.3, Agency of the Image, wird der Bildbegriff weiterentwickelt und dient als kritische Grundlage für Kapitel 3. Der Einfluss von Bildern als „unveränderlich mobilen Elemente[n]“, wie
36 Mörtenböck, Peter: Die virtuelle Dimension. Architektur, Subjektivität und Cyberspace, Wien 2001, S. 9. 37 Vgl. Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 17. 38 Colomina, Beatriz: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, in: ARCH+ 204 Krise der Repräsentation, 2011, S. 26–31, hier S. 31.
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Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln sie Bruno Latour nennt,39 wird hier im Sinne von agency weitergedacht und spricht Bildern die Fähigkeit zu, verändernd in Verhandlungen mit anderen zu treten. Agency geht mit einem kritischen Erkennen und Sichtbarmachen von Herrschafts- und Machtverhältnissen einher und legt gleichzeitig Potentiale zur Neuerfindung und Veränderung von Realitäten frei. Das noch nicht Denkbare oder zuvor als unmöglich Angesehene eröffnet dabei neue Möglichkeiten und Sichtweisen für die Produktion und das Verständnis von Architektur. Kapitel 2, Das Bild des Wohnens, untersucht, wie Wohnen in digitalen Bildwelten auf Plattformen wie Instagram medial aus- und dargestellt wird. Es geht der Frage nach, welche Wohnideale und -begehren durch diese globalen visuellen Repräsentationsformen evoziert werden. Zunächst wird in Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, das (Be-)Wohnen als eingeübte alltägliche Praxis untersucht. Dabei werden Wertvorstellungen, Machtstrukturen und Hierarchien, die in diesen (Wohn-)Handlungen verankert sind, durch Architekturen (Wände, Gänge, Zimmer) festgelegt. Die Beziehungen zwischen den bewohnenden Subjekten, den Wohnobjekten und den damit verknüpften Wohnhandlungen (Routinen, Rituale) schaffen ein Regelwerk aus Ordnungssystemen und Distinktionen. Das Wohnen wird zu einem Apparat aus Grenzziehungen zu anderen Personen, Kulturen oder Klassen, bei dem die Kleinfamilie als idealisierte Grundeinheit den Kern des privaten Warenkonsums bildet. Wohnen ist auch ein System der Repräsentation, ein Schauplatz, wie es Irene und Andreas Nierhaus nennen, in dem sich das Subjekt durch Objekte und Handlungen konstituiert und bestimmte Formen von Gemeinschaft ausgestellt werden.40 In diesem komplexen Feld des Wohnens, das von gesellschaftspolitischen, ökonomischen und politischen Interessen bestimmt ist, werden Wohnnormen und -ideale durch mediale Inszenierungen festgehalten, ausgestellt und vermittelt. In unterschiedlichen Modellen des Wohnens – vom Puppenhaus über die TV-Refurbishment-Show bis zu den ästhetisierten Wohnbildwelten auf
39 Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANTholgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307, hier S. 259. 40 Vgl. Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, S. 9.
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Einführung Social-Media-Plattformen – wird durch ein Vorzeigen und Ausstellen gesellschaftliches Wohnwissen41 miterzeugt. Das sichtbare und idealisierte Wohnen grenzt sich so klar von unsichtbaren, unerwünschten Wohnpraktiken ab und wird als gesellschaftliches, besseres Wohnideal immer wieder durch Bilder reproduziert. Wohnen ist daher keine politikfreie Sphäre des Privaten, vielmehr ist es eine komplexe Anordnung aus Handlungen, aber auch lebhafter Materie. Jane Bennett bezeichnet mit dem Begriff der lebhaften Materie die materielle Handlungsmacht, die auch Dingen innewohnt und Wohnobjekten, die oft als Requisiten missverstanden werden, abgesprochen wird.42 Wohnhandlungen und Wohnobjekte formen, durch Medien vermittelt, Kultur, Gesellschaft, Ökonomie und Politik mit. Das Kapitel 2.2, Plattformen, skizziert zunächst die Durchdringung unterschiedlichster Lebensbereiche unseres Alltags durch Plattformtechnologien und die damit einhergehenden Veränderungen sowohl in soziokultureller wie politisch-ökonomischer Hinsicht. Gerade die Foto-Sharing-Plattform Instagram, die sich durch ihre ästhetisierten Bildwelten, den Hang zur Selbstinszenierung ihrer User*innen sowie die rege Interaktion innerhalb der Community auszeichnet, bildet mit dem visuellen Ausstellen von Wohnen ein perfect match. Die Plattform selbst ist jedoch nicht als ein neutrales Medium zu verstehen, selbst wenn sich Plattform Unternehmen gerne als offene Orte der Gleichberechtigung und Diversität präsentieren. In der Logik der Plattform-Ökonomie muss alles in Bewegung gehalten werden, Handlungen, Waren oder der eigene Körper befinden sich in ständiger Zirkulation, um aus den daraus aufgezeichneten Daten Kapital zu generieren. Das Zirkulieren zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen wird auch durch das Versprechen auf Selbstverwirklichung vorangetrieben. Ein verräterischer Positivismus, der vieles verspricht und alles verlangt, oder, wie Ross Exo Adams schreibt, „unlimited circulation as a freedom tethered to technological innovation“.43 So steht das einzelne Bild auf Instagram, das eine ausgewählte Szene des Wohnens zeigt, gar nicht im Vordergrund. Vielmehr ist 41 Nierhaus, Irene: Seiten des Wohnens – Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, 2018, S. 18–28, hier S. 23. 42 Vgl. Bennett, Jane: Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge, Berlin 2020, S. 21. 43 Adams, Ross Exo: Circulation & Urbanization, London/Thousand Oaks, 2019, S. 13.
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Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln das Medium selbst – im Sinne Marshall McLuhans – von Bedeutung.44 Folglich sind die Wirkmacht sowie die Möglichkeiten und Limitierungen, die Plattformen in Bezug auf Gemeinschaft, Handlungsfähigkeit und Ordnungssysteme erzeugen, zu erforschen. In den Kapiteln 2.3 und 2.4 werden die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Plattform Instagram anhand ausgewählter Follower*innen-starker Home- und Interior-Accounts untersucht. 2 Milliarden User*innen zählt die 2010 gegründete und noch immer stark wachsende Plattform Instagram heute (2022).45 Das Hier und Jetzt, das Im-MomentSein sowie die inszenierte Atmosphäre eines einzigartigen Augenblicks sind die Rahmung populärer Instagram-Posts. Die eigene visuelle Sprache, die als Instagramism46 oder platform vernacular47 beschrieben werden kann, zeichnet sich durch den Einsatz von Helligkeit, Kontrast und Sättigung in Kombination mit persönlichen Gegenständen und dem eigenen Körper in einer räumlichen Inszenierung aus. Aesthetic workers48, die neuen Wissensarbeiter*innen, besitzen die Skills und Möglichkeiten für die Produktion dieser ästhetisierten Bildwelten und erzeugen kulturelles Kapital, das, gemessen an Follower*innen, auch in ökonomisches Kapital transferiert werden kann. Instagram ist heute ein durchkommerzialisiertes Kommunikationsmedium. Das abschließende Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, zieht ein Fazit aus der Analyse der Plattformen und der untersuchten Instagram-Accounts. So ist festzuhalten, dass sich in den bildlichen Inszenierungen Wohnen zu lifestyle experiences transformiert, die nur noch in tiefer Verschränkung mit Konsumhaltungen erlebt werden können. An vier Punkten werden die weitreichenden Folgen und Auswirkungen dieser Entwicklung diskutiert: (1) Die Ästhetisierung der Bildwelten des Wohnens mit all ihren Mas-
44 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, S. 17. 45 Statista 2023: Number of monthly active Instagram users from January 2013 to December 2021, https://www.statista.com/statistics/253577/number-ofmonthly-active-instagram-users/ (10.2.2022). 46 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 193. 47 Vgl. Gibbs, Martin/Meese, James/Arnold, Michael/Nansen, Bjørn/Carter, Marcus: # Funeral and Instagram: Death, Social Media, and Platform Vernacular, in: Information Communication and Society, März 2015, https://www.researchgate. net/publication/269998238_Funeral_and_Instagram_Death_Social_Media_and_ Platform_Vernacular (22.2.2022). 48 Vgl. Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 194f.
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Einführung
Abb. 0_2: Instagram selbst präsentiert sich als offene Plattform für Diversität, Screenshot der Instagram -Website, 2022.
keraden wird dabei als Instrument eingesetzt, um Formen des Politischen auszulöschen. Neil Leach schreibt daher auch von einer allumfassenden Ästhetisierung, die uns wie in einem Kokon gefangen hält und ästhetische Empfindungen gegenüber anderen Realitäten privilegiert: „Everything is transported into an aesthetic realm and valued for its appearance. The world has become aestheticized.“ 49 Wohnen wird zum ästhetischen Konsum, insofern das Bild selbst im Darstellen und Ausstellen zur Ware wird. (2) Die Plattformen selbst definieren, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eine gemeinsame Ästhetik zu repräsentieren oder eben nicht Teil dieser Räume und Werte zu sein. Dem gegenüber steht ein optimiertes Subjekt, das sich in einer freiwillig-unfreiwilligen Teilhabe, wie es Michaela Ott nennt,50
49 Leach, Neil: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge 2000. S. 5. 50 Ott, Michaela: Es lebe die Dividuation! Zur Notwendigkeit andere Denkkonzepte angesichts zeitgenössischer Teilhabepraktiken, http:// www.yeast-art-of-sha ring.de/2016/05/es-lebe-die-dividuation-interview-mit-prof-dr-michaela-ott/ (31.8.2020).
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Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln ständig selbst korrigieren muss. Auch Andrés Jaque beschreibt Plattformen als devices, die das Soziale aussortieren und Gemeinschaft mehr inszenieren, als sie wirklich greifbar zu machen, „self-editing and participation in others’ self-editing is what you do to be part of the app’s society“.51 (3) Durch den fokussierten und gerichteten Blick, im Sinne einer Instagram-Ästhetik, wird Wohnen auch auf einige wenige Zustände reduziert. Juhani Pallasmaa fasst diese fokussierte Sehweise als ein kontrollierendes Sehen, das alles lückenlos erfassen möchte und gleichzeitig Distanz schafft.52 Übrig bleiben die immer gleichen, als AirSpaces beschriebenen uniformen Räume mit der weltweit gleichen optischen Ausstattung. (4) Während John L. Austin danach fragte, was es heißt, „to do things with words“, 53 geht es hier darum, was es heißt, Dinge mit Bildern tun. Denn die neuen visuellen Bildideale finden auch materielle und gebaute Übersetzungen und Anschlussstellen in unserer Umwelt, wie ein Blick auf das Wohnangebot der Plattform Airbnb zeigt. Dem gegenüber stehen ikonische Architekturen54, die sich seit der Weltfinanzkrise 2007 vermehren und wie materielle Doppelgänger ihrer (Vor-)Bilder ein kapitalistisches System repräsentieren. Douglas Spencer spricht auch von Plattform-Architekturen, die explizit propagierte Eigenschaften von Plattformen – wie Offenheit, Freiheit, Kommunikation – widerspiegeln möchten und gleichzeitig die idealisierte Vision einer neoliberalen Gemeinschaft verkörpern.55 Instagramable Fassadenarchitekturen machen also sichtbar, dass Plattformen wie Instagram keine neutralen Orte sind, vielmehr sind sie normierende Systeme, die bestimmte Wissensformen und Kulturen immer wieder (re-)produzieren und andere Aspekte (des Wohnens) dadurch bewusst ausklammern.
51 Jaque, Andrés: Grindr Archiurbanism, in: Log. Observations on architecture and the contemporary city, 2017, https://officeforpoliticalinnovation.com/article/ grindr-archiurbanism (25.10.2021). 52 Vgl. Pallasmaa, Juhani: Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne, Los Angeles 2013, S. 17. 53 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Oxford 1975. 54 Brott, Simone im Gespräch mit Stefan Fuchs und Anh-Linh Ngo: Die Entwirklichung der Realität, Interview, in: ARCH+245 Fassadenmanifest, 2021, S. 162–169, hier S. 162. 55 Spencer, Douglas: The Architecture of Neoliberalism. How contemporary architecture became an instrument of control and compliance, London/New York 2016, S. 111.
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Einführung Kapitel 3, Drawing Housing Otherwise, macht sich auf die Suche nach gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens. Diese Bilder treten aus einer Dringlichkeit und Notwendigkeit in Opposition zu bestehenden Systemen, indem sie Hegemonien (des Wohnens) neu zur Verhandlung stellen und daraus alternative Möglichkeiten produzieren. Durch die Praxis eines drawing otherwise, das Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung der vielen erlaubt, ist ein Denken, Entwerfen und Produzieren von gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens möglich. Allein am visuellen Auftritt lässt sich diese andere Bildpraxis nicht festmachen, denn erst das politisch-aktivistische Bild kann die Aufteilung des Sinnlichen (la partage du sensible), wie Jacques Rancière es nennt,56 durch eine Neuordnung des Horizonts ermöglichen. In diesem Sein und Tun rekonfigurieren sich bestehende Grenzen und die damit verbundenen Begriffe des Konflikts57, der Agitation, der Kollektivität, aber auch die Öffnung und Auflösung des Bestehenden und Bekannten ermöglichen die Produktion und Darstellung gegenhegemonialer Bildwelten. Einige ausgewählte Beispiele in Kapitel 3.2, Das politisch-aktivistische Bild, zeigen diese andere Bildpraxis auf. Welche Möglichkeiten sich durch gegenhegemoniale Bildwelten, die in der Praxis eines drawing otherwise entstanden sind, entfalten können, diskutiert Kapitel 3.3, Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit. So können diese Bilder Doreen Massey zufolge eine Rekonzeptualisierung des Raumbegriffs erzeugen, gemäß dem sich Raum durch unterschiedliche Beziehungen und Multiplizität auszeichnet sowie durch ein permanentes Gemacht-Werden, kein statisches Fixiert-Sein.58 Ebenso legen gegenhegemoniale Wohnbildwelten andere Sichtbarkeiten frei, denn das Wohnen ist nicht nur ein Ort des Konsums, sondern – in bell hooks’ Worten – auch „a site of resistance“.59 Betrachten wir Bilder (des Wohnens) als Orte des Widerstands und der Möglichkeiten, so treten diese in klare Opposition zu einer Verwertungslogik, in der Bilder als NFTs (Non-Fungible Token) gleich einer Währung gehandelt werden. Abschließend wird die Frage diskutiert, welche Rolle Plattformen als Orte der Reproduktion, aber auch 56 Vgl. Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, London 2013, S. 7. 57 Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, London 2019, S. 31. 58 Vgl. Massey, Doreen: For space, London 2005, S. 9. 59 Vgl. hooks, bell: homeplace. a site of resistance, in: Yearning: Race, Gender and Cultural Politics, New York 2015, S. 41–49, hier S. 41.
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Einführende Betrachtungen zu den Einzelkapiteln des öffentlichen Austauschs, des Streits und des Konflikts der vielen, im Zusammenhang mit gegenhegemonialen Bildern einnehmen können. Denn, wie Chantal Mouffe schreibt: „Things could always be otherwise!“60
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Mouffe, Chantal: Artistic Activism and Agonistic Spaces, in: Art & Research. A Journal of Ideas, Contexts and Methods, 2007, http://www.artandresearch. org.uk/v1n2/mouffe.html (04.10.2021).
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Kapitel 1, Architektur als Bild, geht der Frage nach: Was ist ein Bild überhaupt? Ausgehend von der verbreiteten Annahme, Bilder seien statische und absolute Abbildungen der Wirklichkeit, die als Zeichnungen, Fotografien und Illustrationen in Publikationen oder auf Displays in Erscheinung treten, versucht Kapitel 1.1, Bild und Gesellschaft, diesen engen Bildbegriff zu öffnen. Bilder sind Medien, durch die wir in Beziehungen zu anderen und unserer Umwelt treten können, sie werden zu einer erlebbaren Realität, indem wir mit ihnen interagieren und handeln und somit Repräsentationsflächen und Bedeutungen produzieren. Bilder generieren somit ein gesellschaftliches Gedächtnis und sind Teil einer kollektiven Praxis, die einen Gesellschaftskörper formt, sie repräsentieren nicht nur unsere Wirklichkeit, sondern sie konstruieren sie auch mit. Kapitel 1.2, Bild und Architektur, geht der Rolle des Bildes im Feld der Architektur nach und untersucht die komplexe und komplizierte Beziehung zwischen beiden. Da Realität heute weitgehend auch aus Bildern besteht, sind beide Formen – Bild und gebaute Architektur – Teil unserer Lebensrealität geworden. Etablierte Darstellungstechniken prägen dabei die Wahrnehmung und Produktion von Raum und repräsentieren gleichzeitig ein machtvolles Indexsystem, das zur Bewertung und Bestätigung von Architektur herangezogen wird. Bilder schreiben also Architekturgeschichte mit und werden dabei selbst als Architektur wahrgenommen. Im abschließenden Kapitel 1.3, Agency of the Image, wird der Bildbegriff weiterentwickelt. Der Einfluss von Bildern als „unveränderlich mobilen Elemente[n]“1 wird hier im Sinne von agency als Handlungsfähigkeit und Wirkmacht weitergedacht und spricht Bildern die Fähigkeit zu, verändernd in Verhandlungen mit anderen zu treten. Agency geht mit einem kritischen Erkennen und Sichtbarmachen von Herrschafts- und Machtverhältnissen einher und eröffnet dabei neue Möglichkeiten und Sichtweisen für die Produktion und das Verständnis von Architektur.
1 Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANTholgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307, hier S. 259.
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1.1 Bild und Gesellschaft
1.1.1 Was ist ein Bild? Was macht ein Bild aus? Worin unterscheidet es sich von Worten? Was erzählen Bilder? Wie ist Bildlichkeit in sozialen und kulturellen Praktiken verankert? Oder um mit Sigrid Schade und Silke Wenk zu fragen: „Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie sichtbar gemacht?“2 Um mögliche Antworten auf diese Fragen zu finden, werden im Folgenden Argumente und Überlegungen unterschiedlicher Disziplinen und Denkrichtungen diskutiert. Die Forschungsarbeit macht sich jedoch nicht auf die Suche nach einer Definition für einen Bildbegriff, sondern versucht vielmehr, die Vielschichtigkeit und Komplexität von Bildern in einer globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu erfassen. Auch soll kein Überblick über die Geschichte des Bildes von der Antike bis ins digitale Zeitalter gegeben werden, im Vordergrund stehen vielmehr spezifische Aspekte und Phänomene der Produktion und Wahrnehmung von Bildern sowie ihr Einfluss und ihre Bedeutung im alltäglichen Zusammenleben. Denn die alleinige Reduktion des Bildes darauf, was wir sehen, wird der Dichte und Komplexität von Bildern nicht gerecht. So schreibt etwa Tom Holert in Regieren im Bildraum (2008): „Ein auf den Sehsinn und kognitive Verstehensprozesse reduzierter Bildbegriff erfasst hier nur einen Bruchteil dessen, was für eine dichte und innovative Beschreibung der Prozesse und Netzwerke, in denen Bilder zirkulieren und Bild-Ereignisse entstehen, notwendig wäre.“3 Wichtig festzuhalten ist weiters, dass das Bild nie losgelöst von seinem Kontext (dem Medium) und den Beteiligten – also Produzent*innen und Betrachter*innen – analysiert werden kann. Da Bilder immer in sichtbare und unsichtbare Verweissysteme eingebunden sind, sind sie nur durch einen erweiterten Blick, der über das Gezeigte hinausgeht, zu verstehen. Das bedeutet, dass der alltägliche Gebrauch von Bildern ebenso wie die technischen Möglichkeiten der Bildproduktion und die Wahrnehmungsund Darstellungskonventionen in die Analyse von Bildern miteinbezogen werden müssen. Die hier in Kapitel 1.1 dargelegten Argumente bilden somit eine Grundlage für die weitere Untersuchung digitaler Bildwelten auf Plattformen in Kapitel 2.
2 3
chade, Sigrid/Wenk, Silke (Hg.): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein S transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 53. Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 16.
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1. Architektur als Bild Stellt man die einfach erscheinende, aber komplexe Frage: Was ist ein Bild?, so wird mit dem Begriff des Bildes häufig eine Abbildung, ein physisches Objekt assoziiert, etwa ein gerahmtes Gemälde an der Wand. Die Vorstellung eines absoluten, statischen Bildes ist vorherrschend. Genauso auch die Annahme, dass das Bild ein Abbild oder eine Version des „echten“ und „realen“ Lebens wiedergibt. Und obwohl Bilder in ganz unterschiedlichen Formen und Formaten auftreten – als Zeichnungen, Fotografien, Gemälde – und in unterschiedlichen Verfahren – digital oder analog – erstellt wurden, erkennen wir ein Bild als Bild. Unterschiedliche Disziplinen und Denkrichtungen, allen voran die Kunstgeschichte, haben sich darangemacht, Bilder zu bestimmen, zu interpretieren und in einen Kanon einzuordnen. Kein leichtes Unterfangen, denn wie Ludger Schwarte schreibt: „Es gibt viele optisch informative Oberflächen, die keine Bilder sind, und umgekehrt viele hervorragende Bilder, die uns optisch wenig zu sagen haben.“4 Daher schlägt Schwarte vor, doch eher der Frage nachzugehen, ob Bilder etwas können, was andere Dinge nicht können.5 Um diese Frage zu beantworten, ist es jedoch unumgänglich, die Kategorien und Zuschreibungen einzelner Disziplinen zu überwinden, um sich so auch disziplinübergreifenden Fragestellungen oder Alltagsphänomen wie der Populärkultur annähern zu können. Denn nur so kann auf die komplexen Fragen, was Bilder eigentlich können, wem was zu sehen gegeben wird oder was wie sichtbar ist, eingegangen werden.
Typen von Bildlichkeiten Um sich der Komplexität von Bildern anzunähern, lohnt sich ein Blick in W.J.T. Mitchells Bildtheorie von 1986. Mitchell unterscheidet mehrere Typen von Bildlichkeiten, die er eine Familie der Bilder nennt. So spricht er von grafischen Bildern wie Gemälden, Zeichnungen oder Plänen, optischen Bildern wie Spiegeln oder Projektionen, perzeptuellen Bildern wie Sinnesdaten oder Erscheinungen, geistigen Bildern wie Träumen, Erinnerungen oder Ideen und sprachlichen Bildern wie Metaphern und
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chwarte, Ludger: Pikturale Evidenz. Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn S 2015, S. 14. Ebd.
1.1 Bild und Gesellschaft Beschreibungen.6 Diese Bildtypen sind nicht als festgesetzte Kategorien zu verstehen, sondern zeigen vielmehr die Vielfalt an Bildlichkeiten auf. Der Begriff des Bildes umfasst also materielle Bilder ebenso wie mentale Bildlichkeit: Illustrationen, optische Illusionen, Karten, Diagramme, Muster, oder Ideen sind ebenso Bestandteile von Mitchells umfassender Bildfamilie. In seiner Breite und Mehrdeutigkeit beschränkt sich dieser Bildbegriff also nicht auf Dinge, die wir üblicherweise als Bild bezeichnen, sondern umfasst auch imaginierte, mentale Bilder, die multisensorisch begriffen und interpretiert werden können. Das Bild bleibt paradox, es kann konkret und gleichzeitig abstrakt, spezifisch und verallgemeinernd, mental und real sein. Die englische Sprache stellt für das Wort Bild zwei Begriffe bereit, image und picture. Während image vor allem eine bildhafte Vorstellung oder Idee bezeichnet, benennt picture die bildliche Darstellung – eine Unterscheidung, die im Deutschen sprachlich nicht gegeben ist. Der Begriff des Bildes vereint vielmehr beides, die Darstellung und gleichzeitig die Vorstellung von etwas. Um die Breite und gleichzeitige Enge des Bildbegriffs zu konkretisieren, ist Mitchells Bildbeschreibung aus seinem Aufsatz What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images (2005) für die weiteren Überlegungen hilfreich: „Unter einem ‚Bild‘ verstehe ich jedes Abbild, jede Darstellung, jedes Motiv und jegliche Gestalt, die in bzw. auf irgendeinem Medium erscheint.“7 Mit diesem Gedanken soll keinesfalls die Komplexität des Bildes reduziert werden, im Gegenteil, die vielschichtigen Verbindungen virtueller, materieller oder symbolischer Eigenschaften von Bildern sollen im Folgenden immer wieder in die Diskussion einbezogen werden. Festzuhalten ist hier jedoch, dass Mitchell das Medium ins Spiel bringt und das Bild nicht isoliert als Einzelbild betrachtet. Denn wie Marshall McLuhan bereits 1964 vorweggenommen hat, gilt die Aufmerksamkeit bei der Betrachtung von Bildern „nicht […] speziellen Teilaspekten, sondern wendet sich der Gesamtwirklichkeit zu“.8 So macht es Sinn, das Bild in seinem Medienverband wahrzunehmen und dabei auch zu betrachten, wie es durch Medien in Erscheinung
6 Vgl. Mitchell, William John Thomas: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2018, S. 20. 7 Mitchell, William John Thomas: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 11. 8 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, S. 23f.
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1. Architektur als Bild tritt. Bilder sind spezielle Formen des visuellen Erscheinens, „die durch spezifische medientechnische und medienkulturelle Bedingungen hervorgebracht werden“.9
Semiotik, die Theorie der Zeichen Die Erkenntnis, dass das Bild nur in seinem Kontext bzw. Medienverband zu verstehen ist, führt direkt zu der eingangs aufgestellten Forderung, dass das Bild nicht isoliert betrachtet werden soll. Die Semiotik oder auch Semiologie genannte Theorie der Zeichen betrachtet daher nicht das Bild an sich, sondern das, wofür es steht, und bietet einige für meine Analyse hilfreiche Ideen und Gedankenmodelle. „Das Konzept einer ‚Semiologie‘ überschreitet die Linguistik in Hinsicht auf eine Erforschung von vielfältigen Zeichensystemen und fragt danach, wie Zeichen innerhalb dieser Systeme Bedeutung erzeugen“, so Schade und Wenk.10 Dabei können Objekte, Wörter, Gesten, Gedanken, aber auch Bilder als Zeichen gelten. Werden Bilder als Zeichen verstanden und gelesen, eröffnen sich neue Blickwinkel. Denn das Zeichen steht für etwas anderes als sich selbst, es ist mit Sinn aufgeladen und somit eine Botschaft. Diese Erkenntnis beschrieb Ferdinand de Saussure im frühen 20. Jahrhundert in seinen zeichen- und sprachtheoretischen Konzepten, die sich gegen die Vorstellung richteten, dass Begriffe sich unmittelbar auf konkrete Dinge beziehen. Saussure ging von zwei Bestandteilen sprachlicher Zeichen aus, einer bildlichen Vorstellung (Signifikat) und einem bezeichnenden Lautbild (Signifikant).11 Diese Differenzierung ging in die Erkenntnis ein, dass das Zeichen für sich genommen nichts bedeutet, sondern erst durch das Erzeugen einer „Sprachgemeinschaft eines oder mehrerer Vorstellungsbilder“ Bedeutung erlangt.12 Dieser Prozess der Verknüpfung mehrerer Zeichen – also auch Bilder –, der in unserem Denken normalerweise unbewusst und automatisch abläuft, soll hier bewusst gemacht werden.
9 Holert: Regieren im Bildraum, S. 27. 10 Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 91. 11 Vgl. Saussure, Ferdinand de: Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 77. 12 Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 85.
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1.1 Bild und Gesellschaft Der Semiotik verdanken wir die Einsicht, dass historisch gewordene Vorstellungsbilder oft als natürlich und gesetzt angenommen werden. Roland Barthes griff Saussures Überlegungen auf und ergänzte sie um ein sekundäres semiologisches System, um diese Naturalisierung von Bedeutungen offenzulegen, und nannte sie Mythos. In seinem Werk Mythologies (1957) beschrieb er den Mythos als eine Aussage, ein Mitteilungssystem oder die Botschaft eines Zeichens.13 Der Mythos kann sowohl mündlich als auch textlich oder bildlich in Erscheinung treten und findet sich in allen gesellschaftlichen Bereichen vom Film über Wirtschaft bis zum Sport wieder. Man könnte den Mythos auch als eine politische Botschaft lesen, die aber nicht als solche wahrgenommen wird, da sie zur Natur wurde. Gleichzeitig handelt es sich nicht um eine versteckte Botschaft, sondern einfach um eine unhinterfragte Aussage. Dieser Mythos, den auch Bilder in sich tragen, was auch sie wiederum natürlich wirken lässt, produziert eine Bedeutung im kollektiven Unbewussten, die meist unausgesprochen und so unhinterfragt bleibt. Durch die im Mythos suggerierte Klarheit wird laut Barthes „die Komplexität menschlicher Handlung abgeschafft“ und Widersprüche werden getilgt.14 Barthes’ Kritik an der Naturalisierung von historisch Gewordenem ist für die Betrachtung massenmedialer Bildwelten des Alltags ausgesprochen wichtig. Denn der Mythos, der ihnen innewohnt, ist eben nicht natürlich gegeben, sondern gesellschaftlich mit Bildern und durch Bilder produziert. Man kann also zusammenfassen, dass Bilder nicht nur Informationen vermitteln, sondern auch Bedeutungen schaffen, die oft unhinterfragt als natürlich angenommen werden. Bilder sind jedoch keine natürlich gegebenen Zeichen, sondern historisch gewachsene und damit konstruierte Zeichen. In unserem Alltagsverständnis hat sich die Vorstellung tief verankert, dass das, was historisch geworden ist, natürlich gegeben sei. Diese unmittelbare, universale, „natürliche“ Verständlichkeit von Bildern ist jedoch zu hinterfragen. Gehen wir doch meist von „dominierenden, subjektzentrierten, meist männlich, euro- oder westzentrierten Projektionen von imaginierter universeller Verständlichkeit“ aus, wie Schade und Wenk betonen.15 Die bildgewordene Vorstel-
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Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 85. Ebd., S. 131. Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 34.
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1. Architektur als Bild lung von Objektivität, wie es das Beispiel der Plaketten der Raumsonden Pioneer 10 und 11 von 1972 zeigen, existiert nicht. Vielmehr entspringt die Darstellung von Mann und Frau auf der Plakette, die in den 1970er Jahren als objektive visuelle Wahrheit ins All geschickt wurde, einem gesellschaftlich und historisch gewachsenen Naturalisierungsprozess. Vor dem Hintergrund dieser ersten Überlegungen können wir zu dem Schluss kommen, dass Bilder mehr als physische Objekte sind und sie nicht ausschließlich visuellen Charakter haben müssen, denn was sie zeigen, geht weit über das bloße Abbilden einer (Pseudo-)Wirklichkeit hinaus und schafft daher Bedeutung.
Abb. 1_1: Plakette der Raumsonde Pioneer 11 und 12, 1972.
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1.1 Bild und Gesellschaft
1.1.2 Pictorial turn Durch die stetige Zunahme der Bildproduktion in den letzten Jahrzehnten sind Bilder zum omnipräsenten Bestandteil unseres Alltags geworden und spielen eine zentrale Rolle dafür, wie wir unsere Welt wahrnehmen und uns in ihr verhalten. Die massenhaft zirkulierenden Bilder im Alltag begegnen uns auf Websites, in Magazinen, in der Werbung, im Fernsehen, überall. Auf den Displays unserer Smartphones tragen wir sie immer mit uns, sie sind jederzeit abrufbar und verfügbar. Sie informieren, erziehen, verführen, berühren oder abstoßen ab. Sie vermitteln auf intuitive Weise Wissen, wecken Interesse oder evozieren Begehren. Bilder durchdringen unser alltägliches Leben in unterschiedlichsten Formaten, Medien und Erscheinungsformen. Wir leben in einer visuell geprägten Kultur, die durch Massenmedien globalisiert wurde. Die (Wieder-)Entdeckung und Erforschung des Bildes ist relevant, da Bildtechniken und Bildmedien unsere Aufmerksamkeit absorbieren, ohne dass wir uns immer ihrer Tragweite, ihres Einflusses oder ihrer möglichen „Macht“ bewusst sind. Betreten wir eine kuratierte Ausstellung in einem Museum oder blättern durch ein redaktionell gestaltetes Magazin, begegnen wir Bildern meist bewusst und vorbereitet. Wir lassen uns auf eine visuelle Auseinandersetzung mit ihnen ein und sind uns (zum Teil) ihrer Bedeutung oder Aufgabe im (institutionellen) Kontext eines Museums oder einer Publikation bewusst. Doch was ist mit der als beliebig oder belanglos geltenden Fülle an Bildern, die uns im Alltag begleiten und umspülen? Sie erscheinen als nebensächliche Werbung in Massenmedien, als zufällige Alltagsbilder auf Social-Media-Plattformen, als endloser Bilderreigen auf Websites oder auf Displays im öffentlichen Raum. Relevant ist hier zunächst weniger, ob es sich nun um Fotos, Illustrationen, statische oder bewegte Bilder handelt und selbst der gezeigte Bildinhalt ist zweitrangig. An dieser Stelle soll es vielmehr um die schiere Menge an unterschiedlichsten Bildern gehen, mit denen wir ständig und überall konfrontiert sind und die weder zufällig noch unbedeutend sind. Die Dominanz von Bildern in kommunikativen und kulturellen Prozessen wird durch ihre allgegenwärtige Präsenz und durch ihre Zirkulation und rasche Vervielfältigung mittels (Online-)Medien vorangetrieben. Die Beschleunigung der Bildproduktion und -reproduktion kann als Paradigmenwechsel betrachtet werden. So hat W.J.T Mitchell 1992 mit Bezug auf den von Richard Rorty 1969 eingeführten Begriff des
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_2: SUR-FAKE, Antoine Geiger, 2015. Abb. 1_3: SUR-FAKE, Antoine Geiger, 2015.
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1.1 Bild und Gesellschaft linguistic turn, der die Zeichenwelt der Sprache in den Mittelpunkt moderner Kultur stellte, den sogenannten pictorial turn ausgerufen. Dieser markiert kein historisches Ereignis, auch keine Trennung zwischen Lesen und Visualität, sondern eine Transformation hin zum Visuellen, wie Mitchell betont: „Er [der pictorial turn] ist eher eine postlinguistische, postsemiotische Wiederentdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität.“16 Das Aufmerksam-Machen auf eine Hinwendung zum Visuellen ist mit bestimmten Fragestellungen im Hinblick auf gegenwärtige Bildwelten verbunden, um kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische und politische Umbrüche im Bildlichen beschreiben zu können. Auch wenn der pictorial turn kein historisches Ereignis ist, nimmt er in unserer Gegenwart doch eine wichtige Rolle ein, da er die Präsenz von Visualität im 21. Jahrhundert thematisiert. „Die Fiktion eines Pictorial Turn, einer Kultur, die vollständig von Bildern beherrscht wird, ist nunmehr zu einer realen technischen Möglichkeit in globalem Ausmaß geworden. Marshall McLuhans ‚globales Dorf‘ ist heute ein Faktum.“17 Der Medientheoretiker McLuhan hat Anfang der 1960er Jahre mit dem Begriff des globalen Dorfs18 eine vernetzte Gesellschaft prognostiziert, die Bilder und Töne durch neue Medien wie den Fernseher, das Radio oder das Telefon erzeugt und so – dies zumindest hoffte McLuhan – eine neue ganzheitliche Kultur produziert. McLuhan kannte allerdings das Internet noch nicht, das erst in den 1990er Jahren entstand. Seine Vorstellung einer neuen Welt als globales Dorf ist so nicht eingetreten. Zwar verbindet das Internet eine globalisierte Welt, doch von einer ganzheitlichen Vernetzung aller Sinne kann keine Rede sein. Auch die duale Einteilung in kalte (Telefon, Fernsehen) und heiße Medien (Radio, Film)19 nach McLuhan kann in dieser Form heute nicht mehr weitergedacht werden. Doch die darin angesprochene Beteiligung unterschiedlicher menschlicher Sinneswahrnehmungen an medialen Prozessen ist durchaus von
16 Mitchell: Bildtheorie, S. 108. 17 Ebd., S. 107. 18 Vgl. McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy, London 1962. 19 Nach McLuhan stehen heiße Medien, die nur einen Sinn alleine erweitern und ein geringes Maß an persönlicher Beteiligung erfordern, kalten Medien gegenüber, die im Gegensatz dazu nach Ergänzung und Vervollständigung verlangen. Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, S. 35.
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1. Architektur als Bild Bedeutung. Denn historisch gesehen wurde mit dem Übergang von einer oralen zu einer Schriftkultur die Kommunikation mit allen Sinnen auf ein lineares Denken gerichtet, diese Entwicklung wurde auch durch die Digitalisierung im 21. Jahrhundert nicht wesentlich verändert. McLuhan wird hier dennoch erwähnt, da er die Bedeutung des Mediums in den Fokus kulturwissenschaftlicher Analysen gerückt hat. Gemeinsam mit dem Grafikdesigner Quentin Fiore veröffentlichte er 1967 das Buch The Medium is the Massage, in dem er die bekannte These aufstellte, dass Medien auf unsere Sinne einwirken und sie bearbeiten. Dabei sei der Inhalt (des Bildes) zweitrangig: „Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehungen zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs produziert.“20 Die Maschine ist für McLuhan das Medium, das auf unterschiedliche Weise menschliche Wahrnehmung und Formen menschlichen Zusammenlebens mitgestaltet und steuert. Übertragen auf das Medium Bild sind entsprechend auch nicht das einzelne Bild und sein Inhalt von Bedeutung, sondern das, was das Medium Bild selbst und seine Reproduzierbarkeit bewirken. Wenn es nun aber gleichgültig ist, ob die Maschine (das Bild) Cornflakes oder Cadillacs produziert, und gleichzeitig die Sinneswahrnehmungen auf ein lineares Sehen (Denken) reduziert werden, dann müssen das Bild und die Verantwortung, die es in sich trägt, sorgfältig neu durchdacht werden.
Das Bild als Repräsentation Bilder können als eine Art Sprache verstanden werden. Sie stellen Bedeutungen, Situationen, Ereignisse und Lebensstile her und konstruieren diese mit. Durch ihr Ausgestelltsein, in dem sie visuell wahrnehmbar sind, sind sie auch Repräsentationsformen, Zeugnisse, Dokumente, Programme oder Mittel der Identifikation.21 Hervorgehoben werden soll der Begriff der Repräsentation im Zusammenhang mit Bildern. Denn Bilder sind nicht bloß eine spezielle Art von Zeichen, sondern sie repräsentieren in ihrer Inszenierung etwas. Repräsentation bedeutet auch das Darstellen und Herstellen von etwas Abwesendem, nicht Sichtbarem, 20 21
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Ebd., S. 17. Vgl. Holert: Regieren im Bildraum, S. 26.
1.1 Bild und Gesellschaft das aber trotzdem durch das Bild anwesend ist. Repräsentation kann ein System von Machtstrukturen oder hierarchischen Relationen herstellen. Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies, sieht daher in der Repräsentation eine Praxis, die durch den Gebrauch von beispielsweise Bildern, Bedeutung produziert. „Representation connects meaning and language to culture. […] It does involve the use of language, of signs and images which stand for or represent things.“22 Die Bedeutung liegt dabei nicht im Bild als Objekt an sich, sondern sie wird dadurch, dass es etwas repräsentiert, konstruiert und produziert. Dieses Herstellen von Bedeutung über unterschiedliche Repräsentationsformen ist eine wesentliche Eigenschaft von Bildern. Gleichzeitig wird aber auch sichtbar, dass durch das aktive Produzieren von Bedeutungssystemen diese auch verändert werden können. Dies ist eine wesentliche Erkenntnis für die Suche nach gegenhegemonialen Bildstrategien, wie sie in Kapitel 3 unternommen wird. Formen der Repräsentation schließen jedoch nicht nur die sichtbaren Bestandteile mit ein, die das Bild als Artefakt offenlegen, sondern es müssen auch unsichtbare Bestandteile mitgedacht werden. Denn sowohl das Sichtbare als auch das Unsichtbare in Bildern produziert Bedeutung und formt somit unsere Wahrnehmung. Machtstrukturen, Ideale und Stereotype können Teil eines Bildes sein, ohne dass sie direkt sichtbar sind. Diese nicht sichtbaren, aber erfahrbaren Eigenschaften von Bildern müssen erkannt und diskutiert werden, ob es sich nun um Bilder der Werbung, Wirtschaft, Politik, Kunst oder Architektur handelt. Neben den erwähnten unsichtbaren, aber anwesenden Bestandteilen von Bildern spielt auch die totale Sichtbarkeit im Sinne von noch mehr Aufmerksamkeit in einer globalisierten, beschleunigten Welt eine wesentliche Rolle. Dabei ist Sichtbarkeit als ambivalent zu betrachten, denn welche Bedingungen bringt Sichtbarkeit mit sich? Der Drang nach Aufmerksamkeit geht auch mit einer normativen visuellen Zurichtung einher. Die voyeuristische Ausbeutung durch Bilder sowie die totale Kontrolle sind Bestandteile im Wettkampf um Aufmerksamkeit.23 Die Forderung kann also nicht totale Sichtbarkeit zugunsten uneingeschränkter Aufmerksamkeit lauten, sondern es muss vielmehr darum gehen, das
22 Hall, Stuart: The Work of Representation, in: ders. (Hg.): Representation. Cultural Representation and Signifying Practices, London u.a. 1997, S. 13–64, hier S. 15. 23 Vgl. Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 104f.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_4: Cover der Zeitschrift Revista Nacional de Arquitectura 126, Bild des Tuberkulose-Sanatoriums in Waukegan (Illinois) mit Röntgenbild als Hintergrund, 1952.
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1.1 Bild und Gesellschaft Wahrnehmen von sichtbaren und unsichtbaren Eigenschaften von Bildern zu ermöglichen, um diese zur Diskussion stellen zu können. Denn nur so werden Verbindungen und Bedeutungen im Sinne von Macht, Möglichkeiten, aber auch Einschränkungen offengelegt. Nur so können wir die Sichtbarkeitspolitiken von Bildern verstehen und die Ausschlusseffekte ansprechen, die sie produzieren.
1.1.3 Kulturen von Evidenz Eine Vorstellung, der in unserer Wahrnehmung von Bildern tief verankert ist, ist die Annahme, dass Bilder Wahrheit, Authentizität und Evidenz schaffen. So weisen Alice Pechriggl und Anna Schober auf die Bedeutung der Verbildlichung von Wissen hin; erst durch das Bild erhaltet eine Erkenntnis Evidenz: „Es gibt in ihnen [Bildern] eine ‚Gegenwärtigung‘, die eine Nähe zur Evidenz aufweist. Dem Bildlichen ist demzufolge nicht so sehr Wissen oder Erkenntnis wesentlich, sondern diese Kraft des Evidentmachens.“24 Vor allem in Wissenschaftsdiskursen spielt das Bild als Wahrheitsbeweis eine zentrale Rolle. Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren in Natur- und Technikwissenschaften liefern visuelle Beweise, indem sie das Nicht-Sichtbare durch Bilder sichtbar machen. In der Hirnforschung konnte die Computertomografie mittels Bildern visuelle Belege ür die Komplexität des Gehirns liefern. Auch die Erfindung der Röntgenstrahlung 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen ermöglichte nicht nur das Diagnostizieren von Tuberkulose, sondern durchleuchtete das bis dahin unsichtbare Innerste des Menschen und schuf somit erstmals Sichtbarkeit. Die Faszination der unsichtbaren Strahlen und ihrer Auswirkungen auf Bereiche außerhalb der Medizin beschreibt Beatriz Colomina in X-Ray Architecture (2019). Die neuen Röntgenbilder faszinierten und beeinflussten auch die Planung und Beschaffenheit von Räumen der Architektur des 20. Jahrhunderts. So findet man z.B. in Mies van der Rohes nicht realisiertem Entwurf für das Hochhaus Berlin Friedrichstraße (1921) die Idee der durchdringenden Sichtbarkeit in Form eines offenen Skelettbaus wieder, die – vergleichbar einem Röntgenbild – das Innerste des Gebäudes 24 Pechriggl, Alice/Schober, Anna (Hg.): Hegemonie und die Kraft der Bilder, Köln 2013 (Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 3), S. 22–23, hier S. 16.
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1.1 Bild und Gesellschaft Wahrnehmen von sichtbaren und unsichtbaren Eigenschaften von Bildern zu ermöglichen, um diese zur Diskussion stellen zu können. Denn nur so werden Verbindungen und Bedeutungen im Sinne von Macht, Möglichkeiten, aber auch Einschränkungen offengelegt. Nur so können wir die Sichtbarkeitspolitiken von Bildern verstehen und die Ausschlusseffekte ansprechen, die sie produzieren.
1.1.3 Kulturen von Evidenz Eine Vorstellung, der in unserer Wahrnehmung von Bildern tief verankert ist, ist die Annahme, dass Bilder Wahrheit, Authentizität und Evidenz schaffen. So weisen Alice Pechriggl und Anna Schober auf die Bedeutung der Verbildlichung von Wissen hin; erst durch das Bild erhaltet eine Erkenntnis Evidenz: „Es gibt in ihnen [Bildern] eine ‚Gegenwärtigung‘, die eine Nähe zur Evidenz aufweist. Dem Bildlichen ist demzufolge nicht so sehr Wissen oder Erkenntnis wesentlich, sondern diese Kraft des Evidentmachens.“24 Vor allem in Wissenschaftsdiskursen spielt das Bild als Wahrheitsbeweis eine zentrale Rolle. Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren in Natur- und Technikwissenschaften liefern visuelle Beweise, indem sie das Nicht-Sichtbare durch Bilder sichtbar machen. In der Hirnforschung konnte die Computertomografie mittels Bildern visuelle Belege ür die Komplexität des Gehirns liefern. Auch die Erfindung der Röntgenstrahlung 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen ermöglichte nicht nur das Diagnostizieren von Tuberkulose, sondern durchleuchtete das bis dahin unsichtbare Innerste des Menschen und schuf somit erstmals Sichtbarkeit. Die Faszination der unsichtbaren Strahlen und ihrer Auswirkungen auf Bereiche außerhalb der Medizin beschreibt Beatriz Colomina in X-Ray Architecture (2019). Die neuen Röntgenbilder faszinierten und beeinflussten auch die Planung und Beschaffenheit von Räumen der Architektur des 20. Jahrhunderts. So findet man z.B. in Mies van der Rohes nicht realisiertem Entwurf für das Hochhaus Berlin Friedrichstraße (1921) die Idee der durchdringenden Sichtbarkeit in Form eines offenen Skelettbaus wieder, die – vergleichbar einem Röntgenbild – das Innerste des Gebäudes 24 Pechriggl, Alice/Schober, Anna (Hg.): Hegemonie und die Kraft der Bilder, Köln 2013 (Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 3), S. 22–23, hier S. 16.
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1. Architektur als Bild offenlegt.25 Ob computertomografische Darstellungen, Röntgenbilder oder Diagramme und Infografiken, das Bild als sichtbarer Wahrheitsbeweis ist heute tief in unserer Gesellschaft verankert. Auch die in der Renaissance erfundene künstliche Perspektive kann als eine Darstellungsform gelesen werden, die räumliche Wahrheit produzieren will. Mit dem Anspruch auf eine einzige, „richtige“ Wahrheit etablierte die Perspektive jedoch eine bestimmte, partikulare Sichtweise, die ab dem 15. Jahrhundert weite Teile der Welt eroberte. Es gelang der Perspektive dabei, ihre konstruierte Künstlichkeit aus verzerrten (verkürzten) Längendarstellungen abzuschütteln. Die Perspektive zeigt jedoch keine räumliche Wahrheit, sondern eine zur Norm gewordene, etablierte Darstellungsform. Sam Jacob beschreibt die Dominanz der Perspektive im Rahmen der Ausstellung Disappear Here: On perspective and other kinds of space (RIBA, 2018) folgendermaßen: „[…] perspective has been a fundamental tool in the way we imagine space and design architecture. But perspective is also a kind of tyranny too, forcing its own logic onto the worlds we create.“26 Das (Auf-)Zeichnen von Informationen, Erkenntnissen oder Wissen stellt zwar optische Konsistenz her (Computertomografie, Perspektive, Diagramm, Grundriss), jedoch nicht immer die Vielfalt der Realität oder gar eine einzige Wahrheit. Obwohl uns eine Welt aus historisch gewachsenen und zur Natur gewordenen Vor-Bildern umgibt, die durch ihren Anspruch auf Wahrheit Autorität und Dominanz einfordern, geht es auch darum, diese visuellen Hegemonien in Frage zu stellen. Denn der Glaube an eine einzige Wahrheit und Echtheit eines Bildes verunmöglicht andere Formen des Daseins und beschränkt das Sein auf etablierte Darstellungsformen. Demgegenüber schlägt diese Forschungsarbeit vor, Bilder als eine gewählte Visualität von vielen Möglichkeiten zu verstehen.
25 Vgl. Colomina, Beatriz: X-Ray Architecture, Zürich 2018, S. 137. 26 Jacob, Sam: Disappear Here: On perspective and other kinds of space, 2018, https://www.samjacob.com/portfolio/riba/ (5.1.2022).
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1.1 Bild und Gesellschaft
Kulturen der Evidenz & neuer Materialismus Die Nähe von Bild und Evidenz darf aber nicht nur als Problem aufgefasst werden. Im Sinne eines Neuen Materialismus kann sie auch als eine gegenkulturelle Möglichkeit betrachtet werden, die laut Holert zur „Sichtung spezifischer Konstellationen und Situationen“27 beiträgt und somit auch Veränderung von Wirklichkeiten ermöglicht. So können bestimmte Handlungen zur Herstellung von Evidenz auch als performative Praxis verstanden werden, die Verhandlungsspielräume und Anschlussfähigkeiten schafft und dadurch auch vermittelnd agiert. Dabei kann die Wissensproduktion, also das Evidenz-Schaffen, die Grenzen institutioneller Organisationen auflösen und lokal, spezifisch und partizipativ verlaufen. Haben sich die (Kultur-)Wissenschaften vor allem mit den Effekten beschäftigt, die das Reale erzeugt, wurden die Dinge des Realen meist mit Schweigen übergangen.28 So wurden der Eigensinn und die Widerständigkeit, die den Dingen innewohnt, vergessen. Strömungen wie der Neue Realismus reagierten darauf mit einer Rückbesinnung auf das Wirkliche und seine Manifestationen und Verankerungen in der realen Welt. Vor allem im Neuen Materialismus steht die Materie als etwas Aktives und Wirkmächtiges im Vordergrund, sowie die Überwindung der Zentralstellung des menschlichen Subjekts. Vor allem Schriften wie Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature (1991) von Donna Haraway liefern hier wertvolle Ideen. Haraway plädiert dafür, sich in das gesellschaftliche Spiel um Wissen und Macht aktiv einzubringen und einzumischen, und betont dabei, dass es nicht bei reinem Theoretisieren von Machtstrategien oder bei einem „Spiel mit Wörtern“ bleiben darf.29 „Es reicht nicht aus, auf die grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist.“30 Vielmehr müsse eine Annäherung an die Welt angestrebt werden, oder noch deutlicher: „Das Ziel sind bessere Darstellungen der Welt.“31 Dieses Ziel kann nach Haraway aber nur erreicht werden, wenn die dichotomische 27 Holert: Regieren im Bildraum, S. 17. 28 Vgl. Lethen, Helmut: Vorwort. Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2015, S. 10. 29 Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur, S. 75. 30 Ebd., S. 78. 31 Ebd., S. 90.
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1. Architektur als Bild Struktur der Moderne, die Mensch und Natur, Subjekt und Objekt sowie Produktionssystem und Umwelt einander als Gegensätze gegenüberstellt, überwunden wird. Eine bessere Darstellung, macht unterschiedliche Perspektiven sichtbar und zeigt Diversität von Zuständen und Möglichkeiten. Haraway spricht von einer „feministische[n] Version von Objektivität“,32 die die Sichtbarkeit und Verkörperung von Wissen als Ausgangsbasis begreift. Dabei wird den Objekten der Welt der Status von Akteur*innen oder Agent*innen zugestanden, die nicht im Dienst von jemandem stehen, sondern selbst handlungsfähig sind. Die Vielfalt an verkörperten Standpunkten ermöglicht, den eigenen Standort mit anderen zu verbinden, damit daraus ein (Verbindungs-)Netz entsteht. Dieses verbindende Netz entspricht keinem allumfassenden Blick, sondern es dezentriert eine hegemoniale Anordnung und steht für ein partielles, positioniertes Wissen der Vielen. Verkörpertes Wissen kann durch Bilder in Erscheinung treten. Die Forschungspraxis der transdisziplinär und international operierenden Agentur Forensic Architecture, 2011 von Eyal Weizman gegründet, agiert in diesem Feld. Materielle Formierungen und mediale Spuren legen so materielle Zeugenschaft33 von Verbrechen ab und ermöglichen gleichzeitig ein kritisches Offenlegen von Prozessen des Unsichtbarmachens. Dabei agiert Forensic Architecture offen parteilich und versuchen, kriminelle Vorgänge, an denen staatliche Instanzen beteiligt sind, zu rekonstruieren und aufzuklären. Sie lösen damit auch das institutionelle (staatliche) Monopol der Evidenzproduktion auf, der forensische Blick wird quasi umgekehrt.34 Im Fokus der Forschungen von Forensic Architecture stehen nichtmenschliche, materielle Akteur*innen: Umwelt, Gebäude, kleine Objekte aber auch Landschaften sowie deren unterschiedliche Repräsentationsformen in Medien oder als Daten. Verkörpertes Wissen ist jedoch auch in weak signals35 (schwachen Signalen) wiederzufinden, wie in Spurenelementen und Fragmenten, also in nicht-sprachlichen Dingen, Fährten und Indizien. Denn materielle Objekte, egal welchen Maßstabes, 32 Ebd., S. 77. 33 Schuppli, Susan: Material Witness. Media, Forensics, Evidence, Cambridge (MA) 2020, S. 10. 34 Vgl. Weizman, Eyal: Forensic Architecture. Violence at the Threshold of Detectability, New York 2017, S. 64. 35 Ebd., S. 128.
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1.1 Bild und Gesellschaft nehmen die Veränderungen in ihrer Umwelt auf und absorbieren dieses Wissen. So schreibt Weizman: „Die Materie kann insofern als ästhetisches Sensorium betrachtet werden, als ihre formalen Veränderungen die verschiedenen Kräfte um sie herum registrieren.“36 Auch die öffentliche, performative Beweisführung ist ein wesentlicher Bestandteil im Vorgehen von Forensic Architecture und kann als eine Repolitisierung des Forensischen gelesen werden. Die Rekonstruktion der Ermittlungen durch eine visuelle Praxis ist also von einer öffentlichen, narrativen Praxis begleitet. Die Herausforderung, scheinbar unzusammenhängendes und fragmentiertes Wissen zusammenzuetzen, ist ein wesentlicher Bestandteil aller Wissensformen und kann auch als Arbeit an der Imagination gelesen werden. Die Erstellung und Aufarbeitung von architektonischen Beweisen sowie deren visuelle wie narrative Präsentation in einem Forum kann auch als eine „ästhetische Praxis“37 verstanden werden. Sie stützt sich auf Verfahren, die dokumentieren, aufnehmen und präsentieren. Diese Praxis von Forensic Architecture führt zu einer Neuordnung von Daten, Artefakten, Bildern, Tönen, Filmen und anderen Materialien. Sie zeigt neue Erzählweisen, in denen Wahrheitsansprüche artikuliert werden und im besten Fall, wie Haraway meint, zu einer besseren Darstellung der Welt beitragen.38 Wissen ist also auch in einer spezifischen Weise verkörpert und nicht – wie oft angenommen – nur von technologischen Apparaten abhängig. Wenn das Bild als verkörpertes Wissen gelesen werden kann, das sich seiner begrenzten Verortung und seiner Situiertheit im Hinblick auf Wissen39 bewusst ist, dann können diese materiellen Wissensformen Übersetzungsarbeit leisten, Netzwerke aufspannen und Vielfalt schaffen. Denn eine Wertschätzung und Verantwortlichkeiten gegenüber einer Dingwelt überwinden auch ein zweckorientiertes, verbrauchendes und ausbeutendes Denken und Handeln gegenüber Objekten und ermöglichen ein Zusammen-(Über-)Leben.40
36 Ebd., S. 159. 37 Ebd., S. 94. 38 Vgl. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur, S. 90. 39 Ebd., S. 70. 40 Vgl. Mosayebi, Elli: Donna Haraway für Architekt*innen, in: ARCH+ 246 Zeitgenössische feministische Raumpraxis, 2022, S. 42–43, hier S. 43.
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1. Architektur als Bild
1.1.4 Bilder von Gemeinschaft und Wissen Der Umgang mit Bildern setzt – dies haben die bisherigen Ausführungen verdeutlicht – eine gewisse Verantwortlichkeit und Sorgfalt voraus. Es bedarf einer Reflexion und Übersetzung, um ihre Wirkkraft als Zeichen, Medium und Materie zu verstehen. Denn Bilder bzw. Bildpraktiken vermitteln nicht nur Wissen, sie erzeugen es auch, worin eine bedeutende Wirkmacht von Bildern liegt. Durch die Produktion und Verbreitung von Wissen bilden sie eine Art gesellschaftliches, kollektives Gedächtnis, das durch seine Bildhaftigkeit auch Beständigkeit erzeugen kann. Schade und Wenk beschreiben dieses Gedächtnis auch als etwas Veränderbares, „Gedächtnis ist Erlebnis von Politiken, von Eingriffen, Interversionen, Unterbrechungen und Zensur – immer unvollständig, entstellt, partiell vergessen, asymmetrisch zugänglich, kunstvoll ergänzt.“41 Der Hinweis auf Unvollständigkeit, Ergänzung oder Zensur ist hier wesentlich, denn das Bild speichert zwar wie ein Gedächtnis historische Ereignisse, aber das, was festgehalten, eingefangen und sichtbar wird, ist eben eine aufgrund gewisser Interessen, Voreinstellungen, Motive getroffene Auswahl von bestimmten Erzählungen und Bedeutungen. Wenn wir Bilder in diesem Sinne als ein kuratiertes Gedächtnis lesen, dann können wir auch von Erinnerungstechniken oder Erinnerungsprozessen sprechen, die eine gewisse Geschichtlichkeit oder Geschichtsschreibung propagieren.42 So kann durch ausgewählte Bildpraktiken oder die permanente Wiederholung von bestimmten Bildhandlungen, -momenten oder -begebenheiten bewusst (und unbewusst) Bedeutung hergestellt werden. Denn durch ständige Repetition werden die gezeigten Bilder als vertraut, selbstverständlich und natürlich wahrgenommen. Die in Kapitel 2 analysierten homogenen Bildwelten des Wohnens auf digitalen Plattformen wie Instagram oder Airbnb produzieren ebendieses Moment der selbstverständlichen Vertrautheit durch eine schier endlose Wiederholung von ähnlichen Bildinhalten und Bildformen. Durch Bilder werden aber auch Ereignisse und Handlungen intersubjektiv wahrnehmbar,43 also für die Betrachtenden erkennbar und verhandelbar. Bildproduktion sowie Bildwahrnehmung sind also Teil
41 42 43
58
Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 128. Ebd., S. 122. Vgl. Schwarte: Pikturale Evidenz, S. 9.
1.1 Bild und Gesellschaft einer kollektiven Praxis und produzieren somit auch einen Gesellschaftskörper über Bilder. Wir ordnen uns über Bilder Gruppen und Gemeinschaften zu oder distanzieren uns von ihnen. Lesen wir das Bild als ein Zeichen, das Bedeutung produziert, dann erzeugt dieses Zeichen eine gesellschaftsbildende Kraft. Bilder stellen in diesem Sinne gemeinschaftliche Werte her und propagieren bestimmte Ideen von Gemeinschaft. Das Individuum bewegt sich demnach mit anderen in einer Gemeinschaft aus Zeichen, diese gemeinsamen Bild- (und auch Wort-)Systeme teilt die Gemeinschaft. Viele dieser kollektiven Vorstellungsbilder tragen wir unbewusst in uns. Es existiert eine sinnliche Verbundenheit mit Bildern, die Gemeinschaft hervorbringen kann. Sowohl diejenigen, die Bilder produzieren, als auch diejenigen, die Teil der Bildinszenierung sind, aber auch die Betrachter*innen erzeugen ein visuelles soziales Gedächtnis, das zugleich Ursache und Effekt der Herstellung von Gemeinschaft ist. Ideen von Gemeinschaft können sich durch das Handeln von Menschen, einschließlich der Produktion neuer Bilder, jedoch auch wandeln und Variationen ausbilden. Gemeinschaft kann also unterschiedliche Formen annehmen. Sie muss auch nicht physisch erfahrbar sein, wie die in Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, skizzierten Communitys auf Plattformen zeigen, auch das Teilen gemeinsamer Werte oder einer gemeinsamen Ästhetik kann ein Gefühl von Gemeinschaft erzeugen. Den Qualitäten dieser neuen Gemeinschaftsformen und den (Un-)Möglichkeiten der Teilhabe, die sie produzieren, wird ebenfalls in Kapitel 2.5 nachgegangen. Bilder – das soll hier noch einmal betont werden – besitzen also die Fähigkeit, unterschiedliche Formen von Gemeinschaft zu erzeugen. Die Qualität von (Bild-)Gemeinschaften, die Zugangsbedingungen zu und die Formen der Teilhabe an ihnen müssen jedoch diskutiert werden. Klar zu erkennen ist, dass Bilder nicht nur Formen von Gemeinschaft konstituieren, sondern auch Subjektivierungsprozesse vorantreiben. „Visualität und Subjektivität umschlingen sich wechselseitig bis zur Unauflöslichkeit“, so Holert.44 Vor allem „äußere“ Bilder, die von sozial oder kulturell bestimmbaren, dominanten Gruppen einer Gesellschaft „vorgesehen“ sind, können sich mit „inneren“ Bildern einzelner Subjekte überblenden.45 Erfahrungen, die wir durch Bilder sammeln, formen also auch das eigene Selbst mit. Gerade in sozialen Medien, auf 44 45
Holert: Regieren im Bildraum, S. 28. Vgl. Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 133.
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1. Architektur als Bild Plattformen wie Instagram oder TikTok, lässt sich diese Überlagerung von bildlicher Erfahrung der anderen mit dem eigenen Selbst beobachten. Elisa Serafinelli dokumentiert in Digital Life on Instagram (2018) die eigene Identifikation mit dem Leben der anderen: „For example, Alessandro [Interviewpartner der Autorin] considers Instagram a different social network precisely because it is based on the sharing of images. In his opinion, this aspect helps users to feel part of others’ experiences, journeys and so on.“46 Die Erfahrung des eigenen Selbst orientiert sich an den Bildwelten der anderen und verschiebt sich dadurch auch immer stärker an digitale Orte (Plattformen). Peter Mörtenböck schreibt hierzu: „Wurde Erfahrung früher als Besitztum des Selbst verstanden, mit dem sich Individualität konstruieren ließ, so hat sich ihr Mittelpunkt in Verbindung mit den neuen Medien verstärkt an andere, zusätzliche und oft nur virtuell vorhandenen Orte verschoben.“47 Bilder produzieren somit nicht nur ein kollektives Gedächtnis, das ein gesellschaftliches Wissen speist, sondern sie formen auch individuelle Subjektivierungsprozesse mit. Die digitalen Bildräume (auf Plattformen) sind Schauplatz einer medialen Visualität, in der sich Subjekte inszenieren und dadurch zur Projektionsfläche für das Selbst der anderen werden. Daraus entwickeln sich unterschiedliche Formen von Zugehörigkeit, die sich stark über Bilder definieren.
Zeichen, Praktiken und Macht Die Erkenntnis, dass Bilder weitaus mehr als Abbildungen der Wirklichkeit sind, dass sie Wissen produzieren und Gemeinschaft erzeugen, führt auch dazu, dass von der Macht der Bilder gesprochen wird. Die darin bereits anklingende kritische Einschätzung kann sich steigern zu einer regelrechten Furcht vor Bildern.48 So wird auch vor der Verführung durch Bilder gewarnt oder gleich – einer Naturkatastrophe gleich – eine Bilderflut beschworen. Dabei ist die Macht der Bilder nicht abstrakt oder
46 Serafinelli, Elisa: Digital Life on Instagram. New Social Communication of Photography, Bingley 2018, S. 83. 47 Mörtenböck, Peter: Die virtuelle Dimension. Architektur, Subjektivität und Cyberspace, Wien 2001, S. 11. 48 Mitchell: Bildtheorie, S. 107.
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1.1 Bild und Gesellschaft plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Sprechen wir über die Bedeutung von Bildern, müssen wir erkennen, dass es um die Beziehung zwischen Zeichen, Praktiken und Macht geht. Erst wenn die Bedingungen der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem offengelegt werden, können die darin liegenden Formen von Macht auch sichtbar werden und problematisiert werden. Ein wesentlicher Faktor in dieser Beziehung ist das Begehren. Das Bild kann zum Ort des Begehrens selbst werden und ein Verlangen in seinen Betrachter*innen wecken, indem es ein Gefühl von Mangel und Sehnsucht erzeugt. Diese Macht des Bildes über Wünsche und Begehren nach Dingen, Personen und Tätigkeiten ist ein Wesenszug, den vor allem die Werbung aktiv aufgegriffen hat, aber auch in Sozialen Medien ist sie treibende Kraft einer kapitalisierten Gesellschaft. Die Eigenschaft des Bildes, dass es Visuelles, Imaginäres und Reales verschwimmen lässt und keine klare Grenze zwischen physisch Greifbarem und visuell, imaginär Erfahrbarem zieht, ermöglicht es, subjektive Wünsche und gesellschaftliches Begehren zu erzeugen. Das Bild produziert eine Art Beziehung zu Wunschbildern, die sich aus der eigenen Wahrnehmung, aber auch aus der Wahrnehmung von anderen speisen. „Mit dem Imaginären wird letztlich eine Begehrensbeziehung des Subjekts zu Idealbildern von imaginierten Gemeinschaften bezeichnet, die den Einzelnen unbewusst bleibt.“49 Das Bild zeigt also ein projiziertes Ich-Ideal, bei dem die Grenzen zwischen Fiktivem, Autobiografischem und Gemeinschaftlichem aufgehoben sind und ein idealisiertes Begehren ausgestellt wird.
„How can we see a billion images?“ Da sich die vorliegende Studie vor allem mit digitalen Bildwelten auseinandersetzt, die in den letzten 15 Jahren unsere Bildschirme und somit unseren Alltag erobert haben, stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dieses umfangreiche Bildarchiv im digitalen Raum zu erfassen und die bereits diskutierten Bildeigenschaften an ihnen zu untersuchen. Die größte Herausforderung im Zusammenhang mit digitalen Bilddaten spricht Lev Manovich in Cultural Analytics (2020)
49
Vgl. Schade/Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 139.
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1. Architektur als Bild an, indem er die Frage stellt: „How can we see a billion images?“50 Die Milliarde steht stellvertretend für die unendliche Anzahl an Bildern, die online auf digitalen Plattformen wie Instagram, Behance, Flickr, Pinterest usw. existieren und tagtäglich produziert und reproduziert werden. Das komplette Ausmaß digitaler Kultur zu erfassen – das sich zudem ja nicht nur auf Bilder beschränkt, sondern auch Musik- und Videodaten umfasst – ist rein praktisch gar nicht mehr möglich. So liegt der Fokus nicht unbedingt auf digitalen Medien an sich, sondern eher darauf, wie man mit immer mehr Medien operiert.51 Denn ein Umgang mit immer mehr Medien fordert die eigene sowie die gemeinschaftliche Wahrnehmung der komplexen Vielschichtigkeit in diesen Medien heraus. Eine sich daran anschließende Frage wäre zudem, ob sich der Prozess der Bildproduktion durch die unglaubliche Menge an digitalen Bildern, die durch die Vielen hervorgebracht werden, demokratisiert hat? Denn der Zugang zu sowie die Teilhabe an Prozessen der Bildproduktion wurde durch Handykameras, Apps und Plattformtechnologien für eine breitere Öffentlichkeit erleichtert. War die Produktion von Bildern im 19. Jahrhundert noch eine aufwendige Angelegenheit, die jedes Bild zu einem kostspieligen und exklusiven Objekt machte, so haben die Massenproduktion von Kameras sowie die digitale Fotografie den Materialverbrauch und die Kosten für das Einzelbild massiv reduziert. Dank technologischer Neuerungen kann nun fast jede*r Bilder herstellen. Die Macht über Bilder und die damit einhergehende Kontrolle über diese, geht jedoch weit über den bloßen Zugang zu Technologie hinaus und setzt auch heute gewisse Skills und Möglichkeiten voraus, wie in Kapitel 2.3, Understanding Instagram, ausführlich beschrieben und diskutiert wird. Aufgehoben wurde jedoch die klare Grenzziehung zwischen denen, die Bilder machen, und denen, die sie konsumieren. Denn digitale Plattformtechnologien ermöglichen (fast) allen, Bilder zu teilen, sie zu kommentieren und weiterzuverbreiten. Bilder können so im digitalen Raum überall auftauchen und unendlich oft reproduziert werden: „In our new digital ecosystem, images detach themselves from their creators and their original locations in the world, becoming themselves the context
50 Manovich, Lev: Cultural Analytics, Cambridge (MA) 2020, S. 1. 51 Vgl. Carpo, Mario: The Post-Digital Will Be Even More Digital, Says Mario Carpo, in: Metropolis Magazin, 05.06.2018, https://metropolismag.com/viewpoints/ post-digital-will-be-more-digital (28.01.2022).
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1.1 Bild und Gesellschaft for other images.“52 Klare Rollenverteilungen im Sinne von Bildproduzent*innen und -betrachter*innen lösen sich somit auf, ebenso wie die uneingeschränkte Kontrolle über das einzelne Bild. Ein gleichberechtigter Zugang aller zur digitalen Bild- und Wissensproduktion geht damit allerdings nicht einher. Denn auch wenn es scheint, dass sich Geografie und Autor*innenschaft im digitalen Raum in einer visuellen Universalsprache auflösen, ist eine solche Aussage mit Vorsicht zu genießen. Hito Steyerl beschreibt diesen digitalen Raum der Bilder als unberechenbar: „But this space is also a sphere of liquidity, of looming rainstorms and unstable climates. It is the realm of complexity gone haywire, spinning strange feedback loops. A condition partly created by humans but also. only partly controlled by them, indifferent to anything but movement, energy, rhythm, and complication.“53
Abschließende Betrachtungen zu Bild und Gesellschaft Der vereinfachte Zugang zu digitaler Technologie, der die Produktion und Verwaltung von Bildern zwar vereinfacht, ermöglicht jedoch nicht automatisch Diversität und Widerstand gegen visuelle Hegemonien, es geht daher um mehr als vereinfachte, neue technische Möglichkeiten. Um digitale, aber auch analoge Bildwelten, die durch sie ermöglichte Wissens- oder Gemeinschaftsproduktion und die daraus entstehenden Begehren und Machtansprüche zu verstehen, muss das Bild aus unterschiedlichen Blickwinkeln, von unterschiedlichen Disziplinen und Positionen aus betrachtet werden. Dabei sollen Widerstände zugelassen und der Anspruch aufgegeben werden, das Gesehene vollständig interpretieren zu können. Das Abweichen und Durchkreuzen von institutionalisierten Techniken und Politiken der Bildproduktion ist wichtig und notwendig, denn erst Widerstand macht Komplexität und Vielschichtigkeit im Bild sichtbar. Untersuchungen der Art und Weise, wie die Wiederholung von Vor-Bildern zustande kommt oder die Wechselbeziehung zwischen Subjekten und Gemeinschaften in Bildern entsteht, kön-
52 Vassallo, Jesu: Seamless: Digital Collage and Dirty Realism in Contemporary Architecture, Zürich 2016, S. 170. 53 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/ journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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1. Architektur als Bild nen Machtprozesse sichtbar machen. Bilder sind eben nicht nur Abbilder und Beiwerk, sondern müssen auch einer kritischen Machtanalyse unterzogen werden. Denn das Verhältnis von Bild, Macht und Begehren ist die Grundlage von Praktiken der Bildproduktion.
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1. Architektur als Bild Welche Rolle spielt das Bild in der Produktion, der Wahrnehmung und der Bewertung von Architektur? „Architecture has a troubled relationship with images“, schreibt Michael Young in seinem Artikel Fear of the mediated image (2020).54 Die komplizierte Beziehung zwischen dem Gebauten (Architektur) und dem Gezeigten (Bild) ist von Abhängigkeiten, Beurteilungen und Restriktionen geprägt. Die Architektur benötigt das Bild, da dieses vermittelt, was kommen wird, und gleichzeitig dauerhaft festhält, was Architektur ist. Trotz dieser Notwendigkeit, die das Bild in der Etablierung von Architektur(-wissen) einnimmt, existieren Architektur und Bild nicht gleichwertig nebeneinander. Vielmehr wird das Bild im Feld der Architektur oft nur als Hilfsmittel und Werkzeug wahrgenommen oder gar als ein Medium, das Realität verzerrt oder vortäuscht. Der immer wieder konstatierte Graben zwischen Materiellem (Architektur) und Immateriellem (Bild) oder wahrhaftiger Realität und beschreibendem Bild soll im folgenden Kapitel überwunden werden. Es geht darum, auszuloten, in welchem Verhältnis Architektur und Bild zueinander stehen, welche Bedeutungen sie gemeinsam produzieren und welche unterschiedlichen Realitäten sie hervorbringen. Architektur selbst unterliegt als Produkt unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen. Sie kann körperlich und physisch in Erscheinung treten und affektiv und haptisch erfahren werden. Architektur ist jedoch nicht nur ein Gefäß, das durch ein Subjekt erlebt wird und dieses gleichzeitig beherbergen kann, sie ist auch ein Betrachtungsmechanismus, das Benutzer*innen formt und produziert.55 Sie bringt das (wohnende) Subjekte mit hervor und tritt dabei mit ihm und seiner Umwelt in Beziehung. Ebenso ist Architektur auch eine Form der Repräsentation, die für etwas steht, etwas darstellt und ausstellt. Sowohl das physisch erfahrbare Gebäude als auch seine bildliche Darstellung, die beide in enger Verbindung zueinander stehen, sind Repräsentationsformen, die bestimmte Arten von Bedeutungen generieren. Diese Untersuchung setzt sich im Feld der Architektur speziell mit dem Wohnen auseinandersetzt. Daher soll an dieser Stelle auch fest-
54 Young, Michael: Fear of the mediated image, in: Cornell Journal of Architecture, 2020, S. 146–161, hier S. 146. 55 Vgl. Colomina, Beatriz: The Split Wall. Domestic Voyeurism, in: dies. (Hg.): Sexuality & Space, New York 1992, S. 72–129, hier S. 83.
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1.2 Bild und Architektur gehalten werden, dass die bildliche Darstellung von Architektur meist Außenansichten zeigt, bei der die Objekthaftigkeit des Gebäudes im Vordergrund steht. Der Innenraum – Schauplatz des Wohnens – wird im Fachdiskurs meist zurückgedrängt und ist visuell unterrepräsentiert. Erst mit der Moderne und dem Interesse an einzelnen Architekturikonen (Villa Savoye [1931], Haus Tugendhat [1928]) bekam der Innenraum größere mediale Aufmerksamkeit. Auch im Kontext von Möbeldesign und Wohnausstattung tritt der Wohnraum spätestens seit den 1950er Jahren medial stärker in Erscheinung und wird mit all seinen Ausstattungsmöglichkeiten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Spielregeln im Bild ausgestellt. Beatriz Colomina beschreibt das Zuhause als eine Art Bühne, auf der das Schauspiel der Bewohner*innen zu betrachten ist, eingefangen und festgehalten durch Bilder. „‚To inhabit‘ here means to inhabit that picture.“56 Gleichzeitig wird im Bild des Wohnens auch der Blick auf das Wohnen domestiziert57 und macht es zur geordneten, bestimmten und geregelten Handlung. Welche Rolle spielen Architekt*innen in der Beziehung zwischen Bild und Architektur? Robin Evans hält fest: „Architects do not make buildings; they make drawings of buildings.“58 Architekt*innen bauen also nicht, sondern sie zeichnen, skizzieren oder kreieren Modelle und hantieren somit mit unterschiedlichen Repräsentationsformen. Sie produzieren dabei nicht nur Bilder von Gebäuden, sondern auch Ideen, Vorstellungen und Einstellungen zu Raum, Stadt und Gesellschaft, das produzierte Bild ist somit auch kein objektiver Blick. Die Interessen der verschiedenen Beteiligten (Architekt*innen, Auftraggeber*innen etc.) schreiben sich in die Zeichnungen und Bilder mit ein und überlagern sich mit bestehenden und neuen Ideen. Neil Leach meint in diesem Zusammenhang, dass „Architects have become increasingly obsessed with images and image-making“ und darüber hinaus mit dem weitreichenden Eingriff in ihre Umwelt.59 Die Etablierung eines eigenen Berufstandes – Architekt*in – hat sich erst in der Renaissance vollzogen. Durch die Verlagerung der Profession von der Baustelle in die Planung wurde auch die Zeichnung zum immer 56 Ebd., S. 115. 57 Ebd., S. 116. 58 Evans, Robin: Architectural Projection, in: Blau, Eve/Kaufman, Edward (Hg.): Architecture and Its Image. Four Centuries of Architectural Representation, Montreal 1989, S. 19–36, hier S. 21. 59 Leach, Neil: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge 2000, S. viii.
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1. Architektur als Bild wichtigeren Bestandteil der architektonischen Praxis. Das Bild musste Räume vorstellbar machen, Detailprobleme lösen, Ideen kommunizieren und vor allem Auftraggeber*innen überzeugen. So ist das Darstellen von Architektur zu einer zeitaufwendigen Tätigkeit im Berufsleben von Architekt*innen geworden und setzt daher auch eine bestimmte (ökonomische) Verwertbarkeit dieser Arbeit voraus. Gleichzeitig umfasst das Zeichnen bzw. das Produzieren von Bildern auch Momente des Unvorhersehbaren, nicht Rationalen und somit Potentiale für Kreativität und Veränderung. Architekt*innen und die von ihnen produzierten unterschiedlichen Darstellungen von Architektur spielen eine wesentliche Rolle in der Entwicklung architektonischer Vorstellungswelten. Bilder können Ideen von Architektur fixieren, aber auch verändern und etablierte Vorstellungen von Architektur in Frage stellen. Wir konsumieren Architektur vor allem über Bilder, dabei variieren die Darstellungstechniken der gezeigten Bilder. Sie reichen von etablierten Techniken, wie Grundriss, Schnitt und Ansicht, die auch eine gewisse Erfahrung im Planlesen voraussetzen, bis zu Schaubildern, die unterschiedliche perspektivische Blickwinkel einnehmen: Collagen, Illustrationen, Renderings, Axonometrien usw. Auch die Fotografie ist ein gängiges Medium, um Architektur zu verbildlichen. Im Folgenden werden unter dem Begriff Bild alle Variationen der bildlichen Darstellung von Architektur miteingeschlossen, seien es Fotografie oder Zeichnung, Illustration oder Collage. Auch wenn jede Technik andere Absichten verfolgt und somit unterschiedliche Bedeutungen produziert, ist ihnen doch gemein, dass sie eine Vorstellung von Architektur herstellen, die unsere Wahrnehmung von Raum, Stadt und Gesellschaft beeinflusst und prägt.
1.2.1 Das Bild in der Architektur – Status quo Bilder übernehmen in der Architektur vielfältige Aufgaben, sie sind Teil von Konzeptionierungs-, Organisations- und Gestaltungsprozessen von Raum und treten dabei in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. So kommt die Zeichnung beispielsweise als Informationsträger zum Einsatz, oder wie Momoyo Kaijima, Mitgründerin des japanischen Ateliers BowWow, das intensiv mit unterschiedlichen Formen der Architekturzeich-
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1. Architektur als Bild wichtigeren Bestandteil der architektonischen Praxis. Das Bild musste Räume vorstellbar machen, Detailprobleme lösen, Ideen kommunizieren und vor allem Auftraggeber*innen überzeugen. So ist das Darstellen von Architektur zu einer zeitaufwendigen Tätigkeit im Berufsleben von Architekt*innen geworden und setzt daher auch eine bestimmte (ökonomische) Verwertbarkeit dieser Arbeit voraus. Gleichzeitig umfasst das Zeichnen bzw. das Produzieren von Bildern auch Momente des Unvorhersehbaren, nicht Rationalen und somit Potentiale für Kreativität und Veränderung. Architekt*innen und die von ihnen produzierten unterschiedlichen Darstellungen von Architektur spielen eine wesentliche Rolle in der Entwicklung architektonischer Vorstellungswelten. Bilder können Ideen von Architektur fixieren, aber auch verändern und etablierte Vorstellungen von Architektur in Frage stellen. Wir konsumieren Architektur vor allem über Bilder, dabei variieren die Darstellungstechniken der gezeigten Bilder. Sie reichen von etablierten Techniken, wie Grundriss, Schnitt und Ansicht, die auch eine gewisse Erfahrung im Planlesen voraussetzen, bis zu Schaubildern, die unterschiedliche perspektivische Blickwinkel einnehmen: Collagen, Illustrationen, Renderings, Axonometrien usw. Auch die Fotografie ist ein gängiges Medium, um Architektur zu verbildlichen. Im Folgenden werden unter dem Begriff Bild alle Variationen der bildlichen Darstellung von Architektur miteingeschlossen, seien es Fotografie oder Zeichnung, Illustration oder Collage. Auch wenn jede Technik andere Absichten verfolgt und somit unterschiedliche Bedeutungen produziert, ist ihnen doch gemein, dass sie eine Vorstellung von Architektur herstellen, die unsere Wahrnehmung von Raum, Stadt und Gesellschaft beeinflusst und prägt.
1.2.1 Das Bild in der Architektur – Status quo Bilder übernehmen in der Architektur vielfältige Aufgaben, sie sind Teil von Konzeptionierungs-, Organisations- und Gestaltungsprozessen von Raum und treten dabei in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. So kommt die Zeichnung beispielsweise als Informationsträger zum Einsatz, oder wie Momoyo Kaijima, Mitgründerin des japanischen Ateliers BowWow, das intensiv mit unterschiedlichen Formen der Architekturzeich-
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1.2 Bild und Architektur nung arbeitet, schreibt, „as a medium for sharing information“.60 In der Architektur werden über verschiedene Bilder Informationen für unterschiedliche Personengruppen visualisiert: Von aufwendigen Präsentationszeichnungen für potenzielle Kund*innen oder in Publikationen und Ausstellungen für ein Fachpublikum bis zu detaillierten Ausführungsplänen für Bautechniker*innen. Bilder treten im Architekturprozess immer wieder auf, als Entwurfsskizze, um erste Ideen zu entwickeln, als Plandokument und bildliche Anweisung, wie etwas gebaut werden soll, als Hochglanz-Rendering, das eine Idee verkaufen will, oder als Fotografie, die als visueller Beweis den Kanon der Architekturgeschichte mitschreibt. Die unterschiedlichen Darstellungsformen von Architektur werden im Fachdiskurs dabei jedoch nicht als gleichrangig wahrgenommen und bewertet. So kann die Architekturskizze auf einer Serviette oder einem Blatt Papier als Ursprung eines bedeutenden architektonischen Werkes eines Stararchitekten in die Architekturgeschichtsbücher eingehen. Unzählige Publikationen über die Handskizzen berühmt gewordener Architekt*innen tummeln sich am Büchermarkt und erzählen Geschichten über Autor*innenschaft und den Mythos des (meist männlichen) Genies. Im Gegensatz dazu trägt das Rendering, als digitales und daher manipulierbares Bild, immer die Aura des Betrugs in sich. Durch reichlich greenwashing mit üppigen Bäumen und Pflanzen, einem immer blauen Himmel sowie zumeist jungen, aktiven und weißen Bewohner*innen bilden Renderings die Grundlage des klassischen visuellen Verführungsnarrativs einer populären Renderästhetik der 2000er Jahre. Dem digitalen Bild wird also weitaus mehr Misstrauen entgegengebracht als dem von Hand gezeichneten Bild oder der Fotografie. Doch Architekturbilder – digital oder analog – sind niemals neutral, sie werden für ein bestimmtes Publikum produziert, unterschiedlich bewertet und verfolgen differenzierte Absichten. Die Darstellungstechniken von Architektur verändern sich immer wieder, von Tinte auf Papier über das Zeichenbrett und die Blaupause bis hin zu digitalen Praktiken wie CAD-Zeichnungen, 3D-Modellierungen und BIM-Software. Kester Rattenbury beschreibt in This is Not Architecture (2002) vier wesentliche Umbrüche in der Geschichte der Archi-
60 Kaijima, Momoyo: Learning from Architectural Ethnography, in: dies./Stalder, Laurent/Yu, Iseki: Architectural Ethnography, 16. Mostra Internazionale di Architettura, Tokio 2018, S. 8–14, hier S. 10.
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1. Architektur als Bild tekturdarstellung: Demnach haben die Perspektive, die Fotografie, der Film sowie die Digitalisierung jeweils zu wesentlichen Veränderungen in der bildlichen Repräsentation von Architektur geführt.61 Für diese Forschung besonders Relevant, vollzog sich der letzte dieser Umbrüche Mitte der 1990er Jahre, als das analoge Zeichnen von Hand großteils durch das digitale Zeichnen am Computer ersetzt wurde. Die wachsende Rechenleistung vereinfachte die Produktion gerenderter Bilder, die meist eine idealisierte Architektur in einer attraktiven Zukunft präsentierten und sich als sogenannte Schaubilder neben Plan und Fotografie in der Architekturdarstellung etablierten. Die Debatte über Wahrheit und Realität im architektonischen Bild ist auch stark von einem Misstrauen gegenüber digitaler Kultur geprägt. Das digitale Bild wird dabei, meint Sam Jacob, auf bestimmte Aspekte reduziert: „Digital culture, up to now at least, has categorized drawings as either technical or illustrative, as building information or money shot.“62 Und er weist darauf hin, dass durch diese eingeschränkte Sicht auf das digitale Zeichnen das wesentliche Moment des Erforschens von Architektur durch visuelle Darstellungen verloren geht: „But in doing so, the drawing’s role as an exploratory, inquiring design tool has diminished.“63
Mind the gap Das Misstrauen gegenüber der bildlichen Darstellung von Architektur ist nicht erst mit dem digitalen Bild entstanden. Vielmehr steht seit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert stets auch die Frage nach einer Manipulation des Bilds im Raum, während vermeintlich nur gebaute Architektur legitimerweise für sich den Anspruch auf Realität, Wahrheit und Echtheit erheben kann. Andere Formen der Darstellung, Vermittlung oder Repräsentation von Architektur können immer nur in Beziehung zu Gebautem stehen. Bilder bleiben demgegenüber nur Gedachtes und Gezeichnetes und werden als Übersetzung zwischen dem Zwei- und Drei61 Vgl. Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. xxiii. 62 Jacob, Sam: Architecture Enters the Age of Post-Digital Drawing, 2017, https:// metropolismag.com/projects/architecture-enters-age-post-digital-drawing/ (17.1.2022). 63 Ebd.
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1.2 Bild und Architektur dimensionalen, zwischen dem, was noch nicht ist, aber sein wird, oder dem Realen und dem Erdachten wahrgenommen. Sie sollen „the gap between plan and building“ schließen, wie Laurent Stalder und Andreas Kalpakci anmerken.64 Nur das Materielle, physisch Vorhandene und damit Berührbare wird als erwiesenermaßen real und damit natürlich wahrgenommen. „There is an ingrained bias for the material as natural and the technical as cultural“, schreibt Michael Young.65 Ignoriert wird dabei, dass kulturelle Techniken materielle Prozesse sind, und umgekehrt, dass Materialität auch kulturell konstruiert ist. Zwischen gebauter und verbildlichter Architektur besteht demzufolge nicht nur eine Kluft, sondern das Bild wird in dieser Gegenüberstellung auch systematisch abgewertet. Wie sinnvoll sind die Debatte um Realität und Imaginäres in der Architekturdarstellung und die damit einhergehenden Bewertungen? In einer Welt, die aus realen Gebäuden, aber auch real erfahrbaren digitalen Bildern besteht, ist die Frage, was davon echter, natürlicher oder zuerst da war, irrelevant. Wichtig ist vielmehr, die Verbindungen und Beziehungen zwischen Bild und Architektur und die Art und Weise, wie sie einander beeinflussen, benötigen und prägen, zu verstehen. Beide Formen – Bild und gebaute Architektur – sind Teil unserer Lebensrealität geworden, ob wir uns durch Städte bewegen oder vom Sofa aus auf digitalen Plattformen surfen und Bilder von Architektur auf dem Display unseres Smartphones betrachten. Das physisch Spürbare und das visuell Erfahrbare sind beides Teil einer nicht mehr voneinander trennbaren Realität geworden. So schreibt Hito Steyerl: „But if images start pouring across screens and invading subject and object matter, the major and quite overlooked consequence is that reality now widely consists of images; or rather of things, constellations, and processes formerly evident as images. This means one cannot understand reality without understanding cinema, photography, 3D modeling, animation, or other forms of moving or still image.“66 Statt die Realität der Bidler zu leugnen, geht es Steyerl zufolge darum, zu lernen, diese Bilder zu verstehen. Bild und reale Welt sind also keine Gegensätze, zwischen denen ein – im Feld der Architektur immer wieder ausgiebig diskutierter – tiefer Graben 64 Stalder, Laurent/Kalpakci, Andreas: A Drawing Is Not a Plan, in: Kaijima, Momoyo/Stalder, Laurent/Yu, Iseki: Architectural Ethnography, 16. Mostra Internazionale di Architettura, Tokio 2018, S. 15–20, hier S. 15. 65 Young, Michael: Fear of the mediated image, S. 153. 66 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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1. Architektur als Bild liegt. Die gebaute Welt (Architektur) und das Bild sind nur differenzierte Versionen voneinander.67 Ihre Unterschiede, Mängel oder Übertreibungen gilt es zu erforschen, zu überprüfen und zu verstehen. Anstatt Bild und Architektur voneinander zu trennen, sollten die Möglichkeiten, die beide jeweils in sich tragen, erfasst und genutzt werden.68 Wie bereits erwähnt, gibt es bekannte Rollen-Attribute, die dem Bild im Feld der Architektur immer wieder zugeordnet werden und auf die hier genauer eingegangen werden soll. So wird das Bild einerseits als Informationsträger über Längen- und Höhenangaben und in diesem Sinne als ein Hilfsmittel und Werkzeug der Architektur gesehen. Anderseits hat es die Aufgabe zu dokumentieren, also festzuhalten, was Architektur ist, und trägt so dazu bei, dass ausgewählte Gebäude im Kanon der Architekturgeschichte verankert werden. Weiters wird das Bild auch als Medium einer Verführung und Täuschung wahrgenommen, die die eindeutige Differenz zwischen Realität und Illusion verschleiert.
Wenn das Bild informiert Wenn das Bild informiert, tritt es meist als Plan, Grundriss, Schnitt oder Ansicht in Erscheinung. Der Plan beispielsweise wird gebraucht, um Abläufe an einem anderen Ort, etwa der Baustelle, zu ermöglichen und alle Beteiligten zu informieren, was wie gebaut werden soll. Bis heute bilden diese klassischen Techniken der Architekturdarstellung die Grundlage jeglicher Architekturvermittlung innerhalb des eigenen Faches. In unterschiedlichen Planungsphasen werden verschiedene Plandarstellungen in bewährten Maßstäben eingesetzt, um die Abgrenzungen eines architektonischen Objektes unmissverständliche darzustellen. Sie sind trotz ihrer stark vereinfachten und reduzierten Darstellungsform exakte Dokumente und Anweisungen, die präzise und genau eine kommende bauliche Wirklichkeit vorwegnehmen wollen. Die Effizienz dieser Plandarstellungen in der Kommunikation zwischen Architekt*in und Baustelle wurde durch CAD-Programme noch weiter optimiert.
67 Vgl. ebd. 68 Vgl. Decroos, Bart/Patteeuw, Véronique/Cicek, Asli/Engels, Jantje: The Drawing as a Practice, in: Practices of Drawing, OASE 105, 2020, S. 13–24, hier S. 17.
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1.2 Bild und Architektur
Wenn das Bild dokumentiert Wenn das Bild in der Architektur dokumentiert, dann meist in Form von Fotografien: Diese halten auf Dauer fest, wie Architektur aussieht bzw. was Architektur überhaupt ist. Architekturfotografien tauchen meist kuratiert in Publikationen und Magazinen auf und zeigen spezifische Teilaspekte eines Gebäudes. Und obwohl die Fotografie viele Aspekte (Umgebung / Kontext, gesellschaftliche Umstände, Entstehung) nicht zeigt, produziert sie in ihrer exakten Erscheinungsform ein visuelles Klassifizierungssystem. Diese präzise Präsentation von Architektur durch die Fotografie hat nicht nur dokumentarische Funktion in Bezug auf das Design, sondern begründet auch ein Einteilungs- und Bewertungssystem von Architektur. James Ackermann beschreibt die Bedeutung dieses Klassifizierungssystems so: „Photographs are fundamental to the practice of historical research and interpretation because they give scholars an almost infinitely expandable collection of visual records of buildings and details of buildings in their area of research.“69 Denn mit dem eigenen Körper, den eigenen Augen wäre an unterschiedlichen Orten gebaute Architektur für uns in dem Umfang, wie ihn die Fotografie ermöglicht, gar nicht erfassbar. Archive von Architekturfotografien ermöglichen es nun, dass Gebäude historischen Perioden, Stilen und Planer*innen zugeordnet, verglichen und vor allem bewertet werden. Die Fotografie hat so maßgeblich zur Verbreitung bestimmter architektonischer Stile beigetragen. „In the period of Modernist architecture, […] photographs of contemporary work, particularly those of the most eminent architects, powerfully affected the spread of the style.“70 Auch die Architekt*innen profitierten von der Fotografie, die zur Legitimierung bestimmter eigener Stilrichtungen führt. Ein Beispiel hierfür ist der ikonografische Werdegang des Case Study House #22 von Pierre Koenig (1960) in Los Angeles, fotografiert von Julius Shulman. Die Nachtaufnahme der über der Stadt schwebenden Villa zeigt ein Wohnzimmer aus einer Glas-Stahl-Konstruktion, in dem zwei weiß gekleidete Frauen auf Polstermöbeln sitzen und sich unterhalten. Dieses und weitere Fotos trugen zur Etablierung der Westküstenmoderne bei, die nach und nach ihren Weg in die Mainstream-Medien fand
69 Ackermann, James S.: On the origins of architectural photography, in: Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 26–36, hier S. 34. 70 Ebd., S. 33.
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1. Architektur als Bild und zur Stilikone im Feld der Architektur wurde. Shulman wurde zum Chronisten dieses neuen Stils. Seine Bilder zeigen meist Szenen mit kontrollierten Lichtverhältnissen, inszenierten Requisiten und Menschen – Models wie Avataren. Waren Bewohner*innen und alle Spuren des Gebrauchs bis dahin aus der Architekturfotografie ausgeschlossen, arrangierte Shulman sie nun, als wären sie Möblierung. „His goal is to suggest occupancy and to activate desire in the viewer for a comfortable lifestyle in a modern home.“71 Trotzdem waren Shulmans mit Menschen, Dingen und Emotionen ausgestatteten Architekturfotografien in der Erstveröffentlichung von John Entenzas renommierten Arts & Architecture (1959) Magazin nicht vertreten. In Arts & Architecture wurden Schwarz-Weiß-Fotografien abgedruckt, die das Haus ohne die beiden Frauen zeigen, im Vordergrund standen die minimalistische Geometrie sowie die eingesetzten Materialien. Die publizierten Fotografien folgten damit der strengen Tradition der Architekturfotografie der Moderne und imitierten Darstellungsprinzipien der Zeichnung, insbesondere des Aufrisses, um so die Authentizität einer seriösen Architektur vor einem Fachpublikum zu wahren. Es dauerte bis Shulmans Bild mit den beiden Frauen am 17. Juli 1960 am Titelblatt des Los Angeles Times Home Magazine erstmals publiziert wurde und seinen Kultstatus erreichte. Die visuelle Erzählung des populären Fotos zeigt ein inszeniertes Posieren im faszinierenden Wohnambiente, das jedoch wie alltägliches, zufälliges Wohnen aussehen soll. Bis heute ist dieses Narrativ des unmittelbaren, spontanen Wohnmoments, der bis ins kleinste Detail inszeniert ist, in unzähligen Wohnbildern in Wohnzeitschriften, Anzeigen und auf digitalen Plattformen wiederzufinden. Das Beispiel von Julius Shulmans Fotografien des Case Study House #22 zeigt, wie die Fotografie – also das Bild – Architektur zu Kultstatus verhelfen kann und gleichzeitig eine Stilrichtung markiert. Diese vorteilhafte Verbindung zwischen Architektur und Fotografie beschränkt sich jedoch nicht nur auf Fachpublikationen. Auch Alltagsmedien wie Zeitschriften oder neuerdings Soziale Netzwerke zeigen Interesse am Publizieren und Ausstellen bestimmter Wohnbildwelten. Sie verfolgen damit (kommerzielle) Absichten, legen aber zugleich auch Wohnstile und Normen fest. Eine Auseinanderset-
71 Serraino, Pierluigi: Framing icons. Two girls, two audiences. The photographing of Case Study House #22, in: Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 129.
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1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_5: Two Girls, Foto von Julius Shulman, 1959. (Case Study House#22 von Pierre Koenig in Los Angeles).
zung mit architektonischen Bildwelten des Alltags sowie deren Konsumtion und Wahrnehmung auch durch Nicht-Fachleute, ist daher notwendig, um Zusammenhänge zwischen Bild und Architektur in ihrer Entwicklung verstehen zu lernen. Eine Untersuchung, die sich ausschließlich auf Fachmedien fokussieren würde, würde demgegenüber Gefahr laufen, die immer gleichen Darstellungspraktiken zu reproduzieren, könnte also nur einen eingeschränkten Blick auf das Thema Architektur und Bild werfen. Architektur und Fotografie sind eng aufeinander bezogen, ja geradezu abhängig voneinander – eine Beziehung, die es in all ihren Facetten zu erforschen gilt. „Whether photographs are used as a vehicle for propaganda, a marketing tool or an educational aid, buildings rely on the technology of photography, and its built-in recording limits, to find their way in the culture of architecture.“72
72 Serraino, Pierluigi: Framing icons. Two girls, two audiences. The photographing of Case Study House #22, in: Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 127–135, hier S. 135.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_6: Case Study House#22, Foto von Julius Shulman, Erstveröffentlichung in Arts & Architecture, 1960.
Verführungstechniken In der Architektur wird dem Bild neben seiner informierenden oder dokumentierenden Funktion auch das Potential zugeschrieben, die Wirklichkeit zu manipulieren und/oder seine Betrachter*innen zu verführen. Dabei bezieht sich diese Kritik weniger auf die Zeichnung und die Fotografie als auf die digitale Zeichnung, obwohl der Unterschied zwischen Rendering und Fotografie oft gar nicht mehr erkennbar ist, wie die Produktwerbung belegt. Vielleicht liegt das Misstrauen gegenüber dem digitalen Bild aber auch gerade in seiner Ähnlichkeit zur gebauten Wirklichkeit. Dass wir von Pixeln getäuscht und überlistet werden können und nicht mehr eindeutig zwischen Bild und Realität unterscheiden können, führt zu wachsender Verunsicherung. Darstellungstechniken, denen Architekt*innen über Jahrhunderte vertraut haben, wie Grund-
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1.2 Bild und Architektur riss, Schnitt oder Ansicht, waren immer abstrakt und grenzten sich so von allen anderen Wissensformen innerhalb der Disziplin ab. „Images that abstract aspects from reality are given a place of privilege, while images that ‚look like‘ reality are devalued.“73 Die abstrakte Zeichnung auf Papier ist distanziert und von der Welt getrennt. Das digitale Bild jedoch kann uns näherkommen, es kann unendlich viele Referenzen in sich tragen und kann sich ständig verändern. „[…] the screen is intimately, vibrantly connected to the world. It’s how the world – or much of it – comes to us.“74 Das digitale Bild ist daher schwer fassbar, nicht eindeutig bestimmbar und kann nicht immer als konstruierte, abstrakte und entfernte Zeichnung kategorisiert werden. In der Architekturkritik nimmt das digitale Schaubild oder Rendering daher keinen bedeutenden Stellenwert ein. In der Architekturpraxis jedoch ist das Rendering oft die entscheidende Darstellung, die maßgeblich dafür ist, ob ein Wettbewerb gewonnen oder ein Gebäude verkauft wird. Der oft beschriebenen Macht der Bilder oder ihrer Verführungskraft kann sich der Mensch scheinbar nur schwer entziehen. Simone Brott differenziert in den Renderbildwelten unterschiedliche dominante Bildtypen, die vor allem in den Darstellungen ikonischer Gebäude zum Einsatz kommen. So spricht sie bei Bildern, auf denen das betreffende Gebäude in eine träumerische grüne Landschaft getaucht wird, als Elysium, eine Art paradiesische Nachwelt.75 Doch die romantisierenden Versprechen haben wenig mit tatsächlicher ökologischer oder sozialer Nachhaltigkeit zu tun, „Vielmehr verkauft dieses Elysium die Fantasievorstellung eines idyllischen Lebens nach dem Tod, eine Rückkehr in ein Paradies, das nie existiert hat und in dem Grün nicht Ökologie bezeichnet, sondern Ewigkeit – ein nie endendes Immer – mehr.“76 Doch das (Schau-)Bild, das mittels digitaler Software erstellt wurde, ist nicht per se in Frage zu stellen, sondern viel eher die homogenisierten,
73 Young, Michael: Fear of the mediated image, S. 148. 74 Jacob, Sam: Architecture Enters the Age of Post-Digital Drawing, 2017, https:// metropolismag.com/projects/architecture-enters-age-post- digital-drawing/ (17.1.2022). 75 Brott, Simone: Digital Monuments. The Dreams and Abuses of Iconic Architecture, London/New York 2020, S. 45. 76 Brott, Simone im Gespräch mit Stefan Fuchs und Anh-Linh Ngo: Die Entwirklichung der Realität, Interview, in: ARCH+245 Fassadenmanifest, 2021, S. 162–169, hier S. 165.
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1. Architektur als Bild vereinheitlichten Bildwelten, die Architekt*innen immer wieder damit produzieren. So können zwar durch bestimmte Software technische und visuelle Limitierung produziert werden, doch wie viele Beispiele zeigen, kann digitale Software auch als ein weiteres Werkzeug gesehen werden, das auf unterschiedliche Weise mit anderen Medien und Formaten kombiniert werden kann und diverse Bildtypen erzeugen kann. Es liegt also nicht an der Technik hinter dem Bild, dass uns digitale Bilder in der Architektur oft als ästhetisierter, grüngewaschener, aufpolierter Pseudorealismus präsentiert werden. Vielmehr ist zu fragen, wie und warum sich immer wieder gewisse Bild-Stereotype durchsetzen, die uns dann als gebaute Architektur-Stereotypen wiederbegegnen. Philipp Schaerer beschreibt diese Entwicklung so: „This global tendency of an increasingly similar and interchangeable architecture is evident not only in realized buildings, but already in the imagery and visual vocabulary of visualized project designs, which are now increasingly being communicated by means of computer renderings.“77 Die überproduzierten, kommerzialisierten Dubai-style images78 mit ihren wiederkehrenden Themen von scheinbarer Nachhaltigkeit, Multimodalität und Luxus als fotorealistische Wiedergabe unserer Welt entspringen jedoch bewussten ästhetischen Entscheidungen ihrer Produzent*innen. Nicht das digitale Bild an sich erschafft die Homogenität eines sich ausbreitenden Pseudorealismus, denn Pixel können auf ganz unterschiedliche Arten zusammengesetzt werden.79 Mit Blick auf konstruierte Wirklichkeiten möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf die Perspektive zu sprechen kommen. Erfunden im 14. Jahrhundert in den Ateliers der Florentiner Maler und Bildhauer, wurde sie im Zuge der Renaissance zu einem wichtigen und dann zu einem hegemonialen Moment der Architekturdarstellung. Die Perspektive veränderte das Verhältnis zwischen Bild und Gebautem grundsätzlich. In ihrer Darstellung ging es nicht mehr darum, die tatsächliche Wirklichkeit mit ihren Längen, Breiten und Höhen wiederzugeben, denn sie verkürzte die abgebildeten Objekte nach Projektionsregeln und verzerrt somit die Wirklichkeit. Die Perspektive machte jedoch die Idee des Raums visu-
77 Schaerer, Philipp: Built Images: On the Visual Aestheticization of Today’s Architecture, in: ZARCH 9, 2017, S. 48–59, hier S. 57. 78 Vgl. Kofler, Andreas: Architecture and Image, in: L’Architecture d’Aujourd’hui nº401, 2014, S. 80–85, hier S. 81. 79 Vgl. Young, Michael: Fear of the mediated image, S. 153.
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1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_7: Renderings aus 9 verschiedenen Bauträgerwettbewerben aus der Jubiläumsausgabe 2019 des wohnfonds_wien, Collage Bernadette Krejs, 2022.
ell erfahrbar. Sie ließ die Objekte oder Szenen vertraut erscheinen, da sie sie so wiedergab, wie man sie aus einer bestimmten Position wahrnehmen konnte. Sowohl die Perspektive als auch das digitale Schaubild geben vor, die Realität abzubilden. Das jeweilige Publikum weiß zwar über die künstliche Konstruktion des Bildes Bescheid (Verkürzungen, Pixel), doch das hält es nicht davon ab, das Spektakel als Wirklichkeit zu betrachten. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass nicht das digitale Bild an sich problematisch ist, sondern der Umgang damit in der Architekturpraxis. Bei Planer*innen wie Kund*innen scheinen die immer gleichen, homogenen und optimierten Bilder einer Pseudorealität großen Anklang zu finden, während gleichzeitig große Skepsis gegenüber der digitalen Zeichnung herrscht, da sie keine klare Grenzziehung zwischen disziplinärem Wissen und Alltagskultur erlaubt. Sam Jacob plädiert daher dafür, das Potential der Künstlichkeit digitaler Bilder zu
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1. Architektur als Bild erforschen und mit ihnen zu experimentieren: „Instead of striving for pseudo-photo-realism, this new cult of the drawing explores and exploits its artificiality, making us as viewers aware that we are looking at space as a fictional form of representation. This is in strict opposition to the digital rendering’s desire to make the fiction seem ‚real‘.“80
Alternative räumliche Darstellungen Die Dominanz bestimmter Darstellungstechniken wie der (Zentral-)Perspektive und des pseudorealistischen Schaubilds verdrängt auch andere Sichtweisen auf Raum, Stadt und Gesellschaft. Massimo Scolari untersucht in Oblique Drawing (2012) unter anderem antiperspektivische visuelle Darstellungen und zieht unterschiedliche historische Beispiele von Parallelprojektionen auf griechischen Vasen und chinesischen Bildtapeten heran, um die historische Vielfalt und die Möglichkeiten visueller Repräsentation aufzuzeigen. Dabei betont er, dass Bilder nicht nur Kunst sind, sondern auch Formen des Denkens widerspiegeln, quasi Projektionen von Lebensweisen darstellen.81 Die Vertrautheit der Perspektive lässt Projektionen wie die in (Maschinen-)Konstruktionszeichnungen eingesetzte Axonometrie, in der die tatsächlichen Maße der dargestellten Objekte in Breite, Höhe und Tiefe erhalten bleiben, verzerrt und unnatürlich erscheinen. Die Axonometrie ermöglicht auch einen Überblick über das große Ganze und generiert somit ein kontextbezogenes Verständnis. In den letzten zehn Jahren wird die Axonometrie wieder vermehrt eingesetzt, vermutlich weil sie auch komplexen Inhalten gerecht zu werden vermag. Das Experimentieren mit räumlichen alternativen Bildtechniken birgt das Potential von größerer Vielfalt in den Darstellungsweisen von Welt und Architektur und sollte weiter befördert werden.
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Jacob, Sam: Architecture Enters the Age of Post-Digital Drawing (2017), https:// metropolismag.com/projects/architecture-enters-age-post-digital-drawing/ (17.1.2022). Vgl. Scolari, Massimo: Oblique Drawing. A History of Anti-Perspective, Cambridge/London 2012 (Writing Architecture Series), S. 1.
1.2 Bild und Architektur
GSEducationalVersion
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Abb. 1_8: Axonometrische Darstellungen von Kleinsthäuser in Wien und Tokio aus der Publikation Cartography of Smallness, 2018.
1.2.2 Bild und Architektur: von Relationen, Abhängigkeiten und Verbindungen Zwischen Architektur und Bild besteht seit jeher eine enge Verbindung, denn beide benötigen einander, um zu existieren. Architektur wurde schon immer in Bildern gedacht, mit Bildern vermittelt (Plan) und durch Bilder wahrgenommen (Ausstellungen, Publikationen). Beatriz Colomina schreibt dazu: „The house is drawn with a picture already in
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1.2 Bild und Architektur
GSEducationalVersion
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Abb. 1_8: Axonometrische Darstellungen von Kleinsthäuser in Wien und Tokio aus der Publikation Cartography of Smallness, 2018.
1.2.2 Bild und Architektur: von Relationen, Abhängigkeiten und Verbindungen Zwischen Architektur und Bild besteht seit jeher eine enge Verbindung, denn beide benötigen einander, um zu existieren. Architektur wurde schon immer in Bildern gedacht, mit Bildern vermittelt (Plan) und durch Bilder wahrgenommen (Ausstellungen, Publikationen). Beatriz Colomina schreibt dazu: „The house is drawn with a picture already in
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1. Architektur als Bild mind.“82 Nicht gebaute, imaginäre Entwürfe als Architektur zu behandeln ist Teil unserer Kultur geworden. Wir finden diese Kulturtechnik sowohl in der Entwurfslehre an Universitäten als auch im Wettbewerbswesen wieder. „The culture of treating unbuilt, imaginary designs as architecture is essential to the design process as taught and used in the Western world.“83 Nachdem Architektur gebaut wurde, verweilt sie jedoch träge an einem bestimmten Ort und ist für die meisten nur durch Medien, wie etwa Bilder, zugänglich. „Although we continuously surround ourselves (and are surrounded) by architecture, we tend to consume it mainly indirectly, by means of descriptive media such as images, texts or plans.“84 Erst das Bild ermöglicht es also, ein Gebäude anderswo als dort, wo es steht, erfahrbar zu machen. Das Bild repräsentiert etwas Abwesendes, seine visuelle Wirkkraft ist folglich entscheidend. Was wir als Architektur verstehen, ist ein komplexes, konstruiertes Geflecht medialer Repräsentationsformen, die ein Verständnis von Qualität, Interpretation, Absicht und Bedeutung produzieren. Die Tatsache, dass wir Architektur großteils über visuelle Medien erleben, lässt das Bild selbst zu Architektur werden, wir behandeln und betrachten Bilder als Architektur. Es ist ein Paradoxon, dass Architektur aufs Engste mit der Vorstellung von einem Ding verbunden ist, während sie fast ausschließlich vermittelt durch Bilder von diesem Ding erfahren wird.
Das Bild wird zur Architektur Es besteht eine tiefe Verschränkung und Verbindung zwischen Bild und Architektur, die so weit geht, dass das Bild auch dann als Architektur wahrgenommen wird, wenn das abgebildete Gebäude gar nicht real existiert. Beide Erscheinungsformen, gebaute Architektur und das Bild als Architektur, scheinen gleichwertig in die Architekturgeschichte eingehen zu können. Prominente Beispiele dieser Bild-Architekturen sind die Fotografien des Barcelona Pavillon (1929) oder die Collagen des Hochhaus Berlin Friedrichstraße (1921).
82 Colomina: The Split Wall, S. 116. 83 Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. xxi. 84 Schaerer: On the Visual Aestheticization of Today’s Architecture, S. 51.
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1.2 Bild und Architektur Der Barcelona Pavillon – Pavillon des Deutschen Reiches auf der Internationalen Weltausstellung in Barcelona 1929 – von Ludwig Mies van der Rohe ist eines der einflussreichsten und bedeutendsten Gebäude des 20. Jahrhunderts, eine Ikone der Moderne. Als real existierendes Bauwerk auf der Weltausstellung 1929 haben ihn allerdings nur die Wenigsten gesehen, 1930 wurde er demontiert. Erst mit der von Philip Johnson kuratierten Mies-van-der-Rohe-Ausstellung im Museum of Modern Art von 1947/48, bei der Fotografien des Pavillons gezeigt wurden, begann die ikonografische Geschichte des Bauwerks. Beatriz Colomina schreibt dazu: „Ein Gebäude, das nur aus Bildern in Zeitschriften bekannt war […], wurde zum wichtigsten Monument moderner Architektur.“85 Mehr noch, dadurch dass es im Museum ausgestellt und in Zeitschriften abgedruckt wurde, wurde das Bild des Pavillons zu einem Kunstwerk und der Architekt zum Künstler. Auch die gewählte Ästhetik der menschenleeren, sterilen, materialbessesenen Aufnahmen inszenierte das Bauwerk wie ein Kunstwerk in einer Galerie. 1986 errichteten Ignasi de Solà Morales, Christian Cirici und Fernando Ramos nach den publizierten Originalfotos am selben Ort in Barcelona eine Rekonstruktion des original Pavillons. Sie versuchten also, auf Grundlage eines imaginären, bildhaften Verständnisses des Pavillons wieder reale, materielle Architektur zu schaffen. Die heute existierenden Farbfotos des Pavillons in den Architekturgeschichtsbüchern sind also Abbildungen der Rekonstruktion einer Abbildung. Die weitreichende Verstrickung von Bild und Architektur am Beispiel der ikonischen Bilder des Barcelona Pavillons macht sichtbar, dass Bilder eben nicht nur bloße Abbilder von Architektur sind, sondern dass ein Bild selbst als Architektur wahrgenommen werden kann. Oder wie Rattenbury schreibt: „It almost replaces the architecture in the idea of being ‚real‘“.86 Im Falle des Barcelona Pavillons besaß das massenmedial reproduzierte Bild des Gebäudes mehr Beständigkeit und Einfluss als die tatsächlich gebaute Architektur von 1929. Mies van der Rohes Collagen des Hochhauses Berlin Friedrichstraße von 1921, die einen gläsernen Wolkenkratzer zeigen, sind ein weiteres Beispiel dafür, wie Bilder als Architektur anerkannt und besprochen
85 Colomina, Beatriz: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, in: ARCH+ 204 Krise der Repräsentation, 2011, S. 26–31, hier S. 29. 86 Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 57.
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1. Architektur als Bild werden. Das Hochhaus wäre 1921 in dieser Form nicht realisierbar gewesen, die collagierten Modellzeichnungen wurden trotzdem als Architektur akzeptiert. Die Liste an statischen und bewegten Bildern, die Bauten zeigen, die nie gebaut wurden, aber trotzdem das Verständnis von Architektur mitprägen, ist lang. Filme wie Fritz Langs Metropolis (1927) oder Ridley Scotts Blade Runner (1982) inspirierten zahlreiche architektonische Zukunftsvisionen. Auch aktuelle Filme und Serien, wie urbane und häusliche Zukunftsszenarien in der Serie Black Mirror (2016) zeigen Architekturen, die unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Raum, Stadt und Wohnen beeinflussen, als wären sie real existierende, erlebbare Räume.
Bilder prägen Architektur Medien verwandeln Architektur in Bilder und Bilder in Architektur, wodurch diese für Menschen weltweit zugänglich wird. Colomina schreibt dazu: „Die Prägung durch diese Bilder ist so tief, dass, selbst wenn die Menschen direkt vor einem Gebäude stehen, sie unweigerlich durch die Brille der ihnen bereits bekannten Bilder blicken. Sie versuchen, die Architektur mit Bildern in Übereinstimmung zu bringen und in ihren Schnappschüssen die kanonischen Aufnahmen zu reproduzieren.“87 Das bedeutet, dass Bilder auch eine gewisse Erscheinungsform von Architektur festlegen, sie inszenieren ein Gebäude und können dabei alle „störenden“ Eigenschaften ausblenden (schlechtes Wetter, Unordnung, Abnutzung etc.). Das Bild wird dadurch als klar, authentisch und real wahrgenommen, da es gewisse Qualitäten des Gebäudes perfekt einfangen kann. Die materialisierte, also bewohnte, gealterte und an die Bauordnung und den Kontext angepasste Architektur selbst kann im Vergleich zu der vom Bild geprägten Vorstellung ihrer selbst nur enttäuschen. Denn die vertrauten und gewohnten Bilder von Räumen, die wir immer wieder in Büchern, Magazinen oder auf digitalen Plattformen sehen, prägen sich in unser Gedächtnis ein und zeigen eine idealisierte Form von Architektur. In den gezeigten Bildern überstehen die makellosen Oberflächen, die ausgeleuchteten Raumfolgen und die schillern-
87 Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 30.
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1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_9: Barcelona Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe, Fotografie, 1929. Abb. 1_10: Mies-van-der-Rohe-Ausstellung im Museum of Modern Art, New York, 1947/48.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_11: Screenshot aus der Serie Black Mirror, Staffel 3, Episode 1: Nosedive, 2016.
den Objekte hunderte Jahre Architekturgeschichte, während das reale, materielle Gebäude mit Abnutzung, Erhaltung und Umwelteinflüssen zu kämpfen hat. In den Arbeiten des portugiesischen Architekturbüros fala lassen sich die komplexen Relationen zwischen Bild und gebauter Architektur nachvollziehen. Die verführerischen Collagen von fala bestechen durch ihre Flachheit, die Material- und Farbwahl sowie eine Balance aus Abstraktion und Detailierung. Die Popularität ihrer Collagen, die durch wachsende Follower*innenzahlen auf Instagram zu beobachten ist, spiegelt sich auch in den Fotografien von Ricardo Loureiro wider, der die von fala gebauten Räume abgelichtet hat. So werden in den Fotos ähnliche Bildausschnitt wie in der vorangegangen Collage gezeigt, sowie idente Farbgebung und die gleiche Flachheit provoziert, um an die gezeichneten Collagen möglichst nahe heranzukommen. Auch die Architektur selbst, die Wahl der Materialien, Farben, Formen und Gegenstände, scheint nur des Bildes wegen zu existieren. Jede Form der Architekturdarstellung, sei es ein Foto oder eine Zeichnung, wählt bestimmte Kriterien einer eigenen visuellen Sprache aus und ist somit auch voreingenommen und begrenzt. Diese Kuratierung des Bildes ist
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1.2 Bild und Architektur bei der Betrachtung immer zu berücksichtigen, denn sie ist nicht natürlich gegeben, sondern gewählt und dadurch auch veränderbar.
Massenmediale Vereinigung Architektur wie Bild sind also Repräsentationsformen voneinander. Wie das Bild ausgewählte Erscheinungsformen von Architektur repräsentiert, ist die Architektur wiederum auf bildliche Repräsentation angewiesen. Spektakuläre Architektur verfolgt immer die Absicht, medial abgebildet zu werden. Denn, wie Colomina herausstellt: „Die monumentale Kraft der Architektur beruht auf ihren immateriellsten Mitteln.“88 Das Bild in der Architektur kann erst Bedeutung generieren, wenn es eine Verbindung mit Massenmedien eingeht, wenn es also reproduziert wird und zu zirkulieren beginnt. In Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media (1989) untersucht Colomina, wie die Moderne in der Architektur nicht nur durch den Einsatz neuer Materialien wie Glas und Stahl, sondern auch und gerade durch Massenmedien ermöglicht wurde: „Modern architecture only becomes modern with its engagement with the media.“89 Das „Moderne“ bestand also vor allem in der Verbindung von Architektur mit medialen Repräsentationsformen wie der Fotografie, dem Film oder der Werbung. Die moderne Architektur steht demzufolge künstlerisch nicht in Opposition zur Alltags- oder Massenkultur, sondern ist im Gegenteil gerade auf massenmediale Kommunikationssysteme angewiesen und benutzt diese auch. Architekturarbeit findet in der Moderne also nicht mehr ausschließlich in Büros oder auf der Baustelle statt. Um sichtbare, erfolgreiche und vor allem populäre Architektur zu produzieren, hat sich der Tätigkeitsbereich von Architekt*innen auch auf die Erstellung bzw. Nutzung medialer Repräsentationsformate wie Ausstellungen, Bücher, Zeitschriften, Websites und Social-Media-Accounts ausgeweitet.
88 Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 30. 89 Colomina, Beatriz: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge (MA) 1989, S. 14.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_12: Haus in Rua do Pradiso in Porto, Collage von fala, 2017. Abb. 1_13: Haus in Rua do Pradiso in Porto von fala, Foto von Ricardo Loureiro, 2017.
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1.2 Bild und Architektur
Architektur wird in Zeitschriften und auf Plattformen gebaut Architektur wurde und wird also auch „als Bild auf Seiten von Zeitschriften und Zeitungen gebaut“.90 Doch mittlerweile sind es vor allem digitale Plattformen wie ArchDaily, Dezeen oder Designboom – um nur einige der weltweit stark frequentierten Online-Portale für zeitgenössische Architektur zu nennen –, die einen großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung haben. Auf ihnen konkurrieren Architekturprojekte im Wettbewerb um Aufmerksamkeit miteinander. Sie müssen in ihrem visuellen Auftritt überzeugen, um die Betrachter*innen zumindest für einige Sekunden auf der Website zu halten, bevor weitergeklickt oder -gescrollt wird. Architektur wird daher in schnell zugängliche Bilder zerlegt, die tatsächliche Realisierung eines Projekts steht nicht im Vordergrund, maßgeblich ist die visuelle Attraktivität. Der digitale Raum ist somit zu einem wichtigen Ort für die mediale Verbreitung von Architekturbildern geworden. Möchten wir die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Bild und Architektur sowie deren Auswirkungen und Wahrnehmungen verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit digitalen Medienformaten wie Social-Media-Plattform unumgänglich, da sie die Bildproduktion wie den Bildkonsum im 21. Jahrhundert stark verändert haben. Der Architekturdiskurs muss sich demnach auch populären Medienformaten wie Werbung, Mode, Social Media, TV etc. zuwenden, in denen Architekturbilder reproduziert und rezipiert werden. Denn die Verbreitung von Bildern über Websites, Blogs oder soziale Medien folgt nicht der Logik einer redaktionell geleiteten Institution, vielmehr ist sie Algorithmen und der Kapitalisierung von Inhalten unterworfen. Das, was der Algorithmus der Google-Bildersuche auf Millionen von Geräten als Architektur vorschlägt, verstehen und akzeptieren wir auch als solche. Genauso wie Millionen von Architekturbildern auf ArchDaily durch visuelles Herausragen um Aufmerksamkeit und damit Sichtbarkeit ringen, passt sich auch die Architektur dieser Aufmerksamkeitslogik an. Durch auffällige Formen, knallige Farben oder neue Effekte, die spektakulär und anziehend sind und sich vor allem gut ablichten lassen, wird eine visuelle Identität von Architektur entworfen. Rattenbury nennt diese Aufmerksamkeitsarchitektur daher „high-code architecture“.91 Ikonen wie der Eiffelturm 90 Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 26. 91 Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 59.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_14: Screenshot der Suchoption „Housing“ auf ArchDaily, https://www.archdaily.com/search/projects/categories/ housing? (12.02.2022).
in Paris, die Oper in Sydney, der CCTV-Tower in Peking oder die Elbphilharmonie in Hamburg sind materielle wie visuelle Symbole der Aufmerksamkeit. In Kapitel 3.3, Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, werden diese Formen von Architektur als instagramable gefasst, also als visuell attraktiv genug, um auf Instagram gepostet zu werden. Die Bildwelten im digitalen Raum schlagen dabei nicht nur eine bestimmte Art vor, wie Architektur zu betrachten ist, sondern nach Rattenbury gewissermaßen auch, wie durch Architektur die Welt zu betrachten ist. „They tell us not only how the world might be, but how we might see it.“92 Im globalen Ringen um Sichtbarkeit bleiben komplexe soziale und räumliche Zusammenhänge von Architektur jedoch auf der Strecke, da sie formal nicht ausdrucksstark artikulierbar sind und sich nicht
92 Ebd.
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1.2 Bild und Architektur in markanten Bildern vermitteln lassen. Der Einfluss des Bildes auf die Architektur ist dabei keine Neuerfindung digitaler Medien: So kritisierte schon Adolf Loos in den 1930er Jahren seine Kollegen dafür, dass sich ihre Gebäude immer mehr an Modelle und Fotos anpassen würden, um vorteilhaft zu wirken,93 jedoch hat sich die Bedeutung visueller Repräsentierbarkeit von Architektur durch digitale Medien erheblich verstärkt.
Making history Aus der oben dargelegten intensiven, mächtigen und absoluten Verbindung zwischen Bild und Architektur entstand und entsteht Architekturgeschichte. Bilder überliefern kulturelles Wissen, das als implizites Wissen wieder auf Gestaltungprozesse zurückwirkt. Was wir über Bilder als Architektur erfassen, wird in dem Moment, in dem es in Büchern publiziert, auf Websites gepostet oder in Ausstellungen gezeigt wird, selbst zu Architektur. Durch Bilder lernen wir, Architektur zu definieren und zu bewerten: „This constructed representation defines what we consider good, what we consider fashionable, what we consider popular.“94 Doch Bilder und Medien haben auch technische und kulturelle Limitierungen und formen somit nicht nur gewisse Praktiken des Herstellens und Ausstellens von Architektur mit, sondern schließen andere dabei auch aus. Fest steht, dass das Bild niemals neutral sein und ein Gebäude umfassend zeigen kann, denn es zeigt immer nur einen gewählten Ausschnitt oder einen bestimmten Aspekt der abgebildeten Architektur. Wenn Bilder Architekturgeschichte schreiben können und dabei definieren, was „gute“ Architektur ist, produzieren sie dadurch auch Ruhm und Bedeutung für ihre Produzent*innen, die Architekt*innen. „To win contemporary fame and a place in history, architects and architecture have to make it through a highly biased, highly self-referential publication system.“95 Das Werk von Architekt*innen kann nur über Bilder bestehen. Wie oben dargestellt, wurde Pierre Koenig erst durch Julius Shulmans ikonische Fotografien des Case Study House #22 und deren Verbreitung in Fach- und Publikumszeitschriften bekannt. Auch
93 Vgl. Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 30. 94 Rattenbury, Kester: This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. xxii. 95 Ebd., S. 125.
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1. Architektur als Bild Mies van der Rohes Sonderstellung als einer der Begründer der architektonischen Moderne basiert Colomina zufolge auf fünf Projekten, von denen keines gebaut wurde, die jedoch durch Ausstellungen und umfangreiche Publikationen für eine Öffentlichkeit verfügbar waren.96 In der Beziehung zwischen Bild und Architektur spielt daher die Selbstprofilierung einzelner Architekt*innen keine unwesentliche Rolle.
1.2.3 Mehr als ein Werkzeug Wenn Bilder Architekturgeschichte schreiben, zu Ruhm und Erfolg verhelfen können und dabei als Architektur wahrgenommen werden, ist anzuerkennen, dass das Bild weitaus mehr als ein Werkzeug, ein bloßes Mittel zum Zweck – sei dies Dokumentation oder Verführung – ist. Es steht zwar außer Frage, dass das Bild in der Architektur eine unverzichtbare Funktion beim Vermessen, Konstruieren oder Ausstellen übernimmt, aber das Bild ist gleichzeitig wie oben dargelegt auch als architektonischer Akt zu verstehen. So komplex Architektur ist, so vielschichtig kann auch das Bild als Zeichnung sein: Umwelt, Mensch, Wissen und Raum können durch sie in Beziehung zueinander gesetzt und die Widersprüche zwischen ihnen erforscht werden. Ganz bewusst können im Bild bestimmte Begebenheiten sichtbar gemacht werden, wie die Geschichte eines Ortes, Erinnerungen, Bräuche, Bedürfnisse und Sehnsüchte. Durch die (subjektive) Sichtweise der Bildproduzent*innen (Architekt*innen) können eigene Verstrickungen in Machtregime, Abhängigkeiten und Ideale freigelegt und thematisiert werden und ebenso Potentiale und Ambitionen artikuliert werden. Die Zeichnung lässt diesen Spielraum der Interpretation und Auslegung zu. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieses Potential der Zeichnung auch ausgenutzt und angewendet wird und somit auch ein Mehrwert im Begreifen von Raum und Architektur entstehen kann.
96 Vgl. Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 28. Bei den Projekten handelt es sich um zwei Glaswolkenkratzer (1921 und 1922), ein Stahlbeton-Bürogebäude (1923) und die Beton-Backstein-Landhäuser (1923 und 1924).
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1. Architektur als Bild Mies van der Rohes Sonderstellung als einer der Begründer der architektonischen Moderne basiert Colomina zufolge auf fünf Projekten, von denen keines gebaut wurde, die jedoch durch Ausstellungen und umfangreiche Publikationen für eine Öffentlichkeit verfügbar waren.96 In der Beziehung zwischen Bild und Architektur spielt daher die Selbstprofilierung einzelner Architekt*innen keine unwesentliche Rolle.
1.2.3 Mehr als ein Werkzeug Wenn Bilder Architekturgeschichte schreiben, zu Ruhm und Erfolg verhelfen können und dabei als Architektur wahrgenommen werden, ist anzuerkennen, dass das Bild weitaus mehr als ein Werkzeug, ein bloßes Mittel zum Zweck – sei dies Dokumentation oder Verführung – ist. Es steht zwar außer Frage, dass das Bild in der Architektur eine unverzichtbare Funktion beim Vermessen, Konstruieren oder Ausstellen übernimmt, aber das Bild ist gleichzeitig wie oben dargelegt auch als architektonischer Akt zu verstehen. So komplex Architektur ist, so vielschichtig kann auch das Bild als Zeichnung sein: Umwelt, Mensch, Wissen und Raum können durch sie in Beziehung zueinander gesetzt und die Widersprüche zwischen ihnen erforscht werden. Ganz bewusst können im Bild bestimmte Begebenheiten sichtbar gemacht werden, wie die Geschichte eines Ortes, Erinnerungen, Bräuche, Bedürfnisse und Sehnsüchte. Durch die (subjektive) Sichtweise der Bildproduzent*innen (Architekt*innen) können eigene Verstrickungen in Machtregime, Abhängigkeiten und Ideale freigelegt und thematisiert werden und ebenso Potentiale und Ambitionen artikuliert werden. Die Zeichnung lässt diesen Spielraum der Interpretation und Auslegung zu. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieses Potential der Zeichnung auch ausgenutzt und angewendet wird und somit auch ein Mehrwert im Begreifen von Raum und Architektur entstehen kann.
96 Vgl. Colomina: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, S. 28. Bei den Projekten handelt es sich um zwei Glaswolkenkratzer (1921 und 1922), ein Stahlbeton-Bürogebäude (1923) und die Beton-Backstein-Landhäuser (1923 und 1924).
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1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_15: W House, Zeichnung von Yukiko Suto, 2010.
Architektur-Ethnografie Momoyo Kaijima von Atelier Bow-Wow thematisiert ebenfalls das Potential der Zeichnung als einer kritischen, forschenden Praxis. „Beside being simply instructions for a coming building, they [drawings] are also an ideal instrument to document, discuss, and evaluate architecture in a critical feedback-loop.“97 Wie viele andere japanische Büros erforscht Atelier Bow-Wow durch die Zeichnung unseren Alltag, zu dem auch das Wohnen zählt. Das gezeichnete Bild erkundet den Wohnalltag und generiert dabei Wissen, denn vor allem in der Wiederentdeckung der kleinen Dinge des Alltags sind Eigenheiten von Räumen und Orten zu finden. Forschendes Zeichnen beruht laut Kaijima darauf, „to draw the world
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Kaijima: Learning from Architectural Ethnography, S. 7.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_16: Wohnhaus und Atelier, Schnitt von Atelier Bow-Wow, Tokio, 2005.
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1.2 Bild und Architektur form the standpoint of daily life, or an ethnographic point of view, trying not only to observe the existing situation but also to reconnect pieces of our disconnected world“.98 Die Architektur-Ethnografie kann eine wesentliche Rolle bei dieser Zusammensetzung einzelner Phänomene des alltäglichen Wohnens und Lebens spielen. So schreibt Anh Linh Ngo in dem 2020 erschienenen Themenheft Architektur Ethnografie der ARCH+: „Sie [die Architektur-Ethnografie] ist eine Methode, mit der wir die uns selbst fremd gewordene Welt zeichnerisch beschreibend erschließen.“99 Auch im Rahmen der 18. Architektur-Biennale in Venedig stand für die Kurator*innen des japanischen Pavillons, Kaijima sowie Laurent Stalder und Yu Iseki, das Erforschen von menschlichen Verhaltensmustern und Lebensweisen durch das Medium der Zeichnung als Untersuchungsmethode im Vordergrund. Keine der im Rahmen der Ausstellung gezeigten Zeichnungen stellt den Raum isoliert, unabhängig von seinem Gebrauch dar, vielmehr setzen sie sich mit den Auswirkungen sich ändernder Lebensbeweisen auf räumliche Umgebungen auseinander. Versteht man Architektur als eine Erweiterung des menschlichen Lebens, dann ist es sinnvoll, die vielen Details und Alltagselemente im Bild sichtbar zu machen. So zeigt die Zeichnung W House von Yukiko Suto (2009/10) ein Wohnhaus samt der Gebrauchsspuren der in ihm lebenden Familien. Auch die Auswirkungen der Umgebung, der Natur und der Zeit sind in Sutos Zeichnung sichtbar, die somit eine Wohngeschichte beeinflusst von ökologischen, ökonomischen und architektonischen Veränderungsprozessen erzählt. Auch der bereits oft publizierte Schnitt durch das Wohnhaus und Atelier von Bow-Wow in Tokio (2007) hat Architektur-ethnografische Momente, insofern das Bild Spuren des Benutzens und Bewohnens mit einer konstruktiven Zeichnung aus Fensterdetails und Dachaufbauten kombiniert. Unterschiedliche Aufgaben, die die Architektur erfüllen muss, werden in einer Zeichnung zusammengeführt und eröffnen so neue Zusammenhänge und Einblicke in das hybride Gebäude. Zeichnungen wie W House und Haus und Atelier von Bow-Wow erforschen Zwischenebenen des Bewohnens abseits dominanter Wertevorstellungen und Beurteilungskriterien. Die behandelten Zeichnungen erheben keine Deutungshoheit, also keinen Anspruch, eine umfassende Wahrheit des
98 Ebd., S. 11. 99 Ngo, Anh Linh: Reflexive Ethnografie, in: ARCH+ 238 Architekturethnografie, 2020, S. 2.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_17: Row House, Zeichnung von Junya Ishigami, 2005.
jeweils Dargestellten wiederzugeben, vielmehr beobachten sie und legen mögliche Potentiale frei. So ist die Zeichnung kein bloßes Werkzeug, sondern ein Mittel der Interaktion, mit dem unterschiedliche Realitäten sowie verschiedene Zustände, die ein Ort durchleben kann, gezeigt werden.
Techniken der Bildproduktion – post-digital drawing Welche Rolle spielt der Einsatz von neuen Darstellungstechniken oder technologischen Entwicklungen bei der Freilegung von Potentialen in der
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1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_18: Heerlijkheid Park, Zeichnung von FAT (Fashion Architecture Taste), 2004.
Architekturzeichnung? Ermöglichen erst andere, neu entwickelte Technologien der Zeichnung, ihre vorbestimmte Rolle als Hilfsmittel zu verlassen? Auf diese Fragen gibt es im Architekturdiskurs ganz unterschiedliche Antworten: James Ackermann meint, dass sich Darstellungsformen durch neue Techniken nicht wesentlich ändern, sondern bestehende Konventionen stets weitergeführt werden.100 Helen Thomas hingegen betont in Drawing Architecture (2018), dass sich die Architekturzeichnung durch die Einführung neuer Technologien in der Art ihrer Produktion und Reproduktion stark verändert hat, genauso wie sich auch das Bauwesen verändert.101 Am Beispiel des post-digitalen Bildes, also der Weiterentwicklung des digitalen Bildes durch neue Techniken, soll nun der Frage nachgegangen werden, ob dadurch auch andere als die bisherigen Sichtweisen und Realitäten im Bild evoziert werden können. Zuvor ist festzuhalten, dass es nicht um die Frage digitale oder analoge Techniken geht, denn wir befinden uns bereits vollständig in einem digitalen Zeitalter, bzw. wie Mario 100 Vgl. Ackermann: On the origins of architectural photography, S. 35. 101 Thomas, Helen: Drawing Architecture, London 2018, S. 8.
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1. Architektur als Bild Carpo es beschreibt: „There is more digital after the digital.“102 Vielmehr soll hier danach gefragt werden, ob das post-digitale Bild neue, alternative Sichtweisen für die Architekturproduktion und -wahrnehmung bietet und wenn ja welche. Vor dem Hintergrund der digitalen Revolution sind in den letzten zehn Jahren Zeichnungen entstanden, die nun bereits als post-digital bezeichnet werden – ein Begriff, den Sam Jacob 2018 in seinem Artikel Rendering: The Cave of the Digital103 vorgeschlagen hat. Es scheint, dass die post-digitale Zeichnung die Unterscheidung zwischen analog und digital überwunden hat und Techniken benutzt, die alle möglichen Formate digitaler und analoger Prozesse willkürlich vermischt: zeichnen, modellieren mit Hand oder am Computer, in 2D oder 3D, einscannen, photoshoppen, ausdrucken, abfotografieren usw. Dabei entstehen Zeichnungen, die oft Referenzen und Zitate aus anderen Projekten beinhalten, Oberflächen und Atmosphären aus der Kunstgeschichte entlehnen und mit eigenen Formen und Elementen neue Bilder zusammenbauen. Viele der post-digitalen Zeichnungen weisen erzählerische Versatzstücke auf und benutzen Software-gestützte Collagetechniken. Es sind jedoch keine klassischen Collagen, denen man das Zusammengeklebt-Sein ansieht. Sie sind auffallend „anders“ und erzeugen dadurch Aufmerksamkeit. Olivier Meystre nennt diese Art der Zeichentechnik auch pseudo-analoge Zeichnung und verortet ihren Ursprung in Japan.104 Die Intention der betreffenden japanischen Zeichnungen, so Meystre, besteht darin, die Realität fiktiv wirken zu lassen, um so auch Spontanität zu suggerieren. Hinter dem Analogen steht aber ein raffinierter Einsatz digitaler Werkzeuge (Digitalkamera, Scanner etc.), aus denen sich hybride Techniken entwickeln, die keine Grenzziehung mehr zwischen analog und digital kennen. Auf populären architekturbezogenen Websites, wie der von Federica Sofia Zambeletti gegründeten Plattform KoozArch, tummeln sich Architekturzeichnungen, die als post-digital eingeordnet werden können und sich
102 Carpo, Mario: The Post-Digital Will Be Even More Digital, Says Mario Carpo, Metropolis Magazine 2018, https://metropolismag.com/viewpoints/post-digi tal-will-be-more-digital (28.01.2022). 103 Jacob, Sam: Rendering: The Cave of the Digital, https://www.e-flux.com/ architecture/representation/167503/rendering-the-cave-of-the-digital/ (2.10.2021). 104 Vgl. Meystre, Olivier: Pictures of the Floating Microcosm. New Representations of Japanese Architecture, Zürich 2018, S. 9.
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1.2 Bild und Architektur z.B. Versatzstücke aus Gemälden von Edward Hopper, David Hockney oder René Magritte ausleihen. Diese Zeichnungen verbreiten sich potentiell endlos über die Sozialen Medien und existieren dort als autonome Bilder ohne den Anspruch, in gebaute Realität umgesetzt zu werden. Als Mitbegründer des nicht mehr aktiven Studios FAT (Fashion Architecture Taste) beschreibt Sam Jacob das Experimentieren mit neuen Zeichentechniken und die daraus entstehenden Möglichkeiten, auch andere Vorstellungen von Architektur auszudrücken, folgendermaßen: „For us [FAT] it was the super-collage possibilities of Photoshop and the extreme flatness of Illustrator that established a different kind of image discourse: one that considered other types of digital space, other forms of graphic quality, and simultaneously a set of alternative architectural propositions.“105 Die Freiheit und Offenheit der post-digitalen Zeichnung erlaubt es, Dinge auszuprobieren, die sonst schwer zu fassen wären oder noch undefiniert sind. Das Potential dieser Technik liegt auch darin, dass die intensive Auseinandersetzung mit Mischtechniken des Zeichnens und die gleichzeitige Inszenierung einzelner Zeichen, Farben und Formen es ermöglichen, die Zeichnung als einen Ort zu betrachten, an dem architektonische Ideen neu erdacht und verhandelt werden können. Nicht uninteressant ist die Kritik von Swarnabh Ghosh, der in jenen vermeintlich neuen post- digitalen Zeichnungen letzten Endes einen populären, angesagten Renderstil sieht, der sich vor allem bei Studierenden und zunehmend auch bei Architekturbüros immer größerer Beliebtheit erfreut. Er kritisiert, dass die Zeichnungen in ihrer Besessenheit von Flachheit, Frontalität, Kontrast und stummer Farbgebung, der Hang zum Collagierten sowie die immer wiederkehrenden Fragmente ikonischer Gemälde nicht darüber hinwegtäuschen könnten, dass letztendlich nur eine Grundform der Darstellung (Rendering) durch eine andere ersetzt werde.106 „The ‚post-digital‘ valorizes the ordinary and renders it to look like the past.“107 Eine tiefgreifende Veränderung, einen neuen Blickwinkel auf Raum oder gar eine Kritik der zeitgenössischen Architekturkultur kann Ghosh in den post-digitalen Zeichnungen nicht erkennen.
105 Jacob, Sam: Architecture Enters the Age of Post-Digital Drawing, 2017, https:// metropolismag.com/projects/architecture-enters-age-post-digital-drawing/ (17.1.2022). 106 Ebd. 107 Ghosh, Swarnabh: Can’t Be Bothered: The Chic Indifference of Post-Digital Drawing, 2018, https://metropolismag.com/viewpoints/postdigital-drawingaesthetic (17.1.2022).
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_19: Stop City, Collage von Dogma, 2007. Abb. 1_20: Stop City, Collage von Dogma, 2007.
100
1.2 Bild und Architektur Beide Argumentationsrichtungen, also die Betonung des Potentials der post-digitalen Zeichnung als auch die Kritik daran, haben ihre Berechtigung. So ist es eigentlich auch unmöglich, von der post-digitalen Zeichnung zu sprechen, weil weder der Begriff eine klare Definition ermöglicht noch die Menge an Zeichnungen, die man heute als post-digital bezeichnen würde, einem Genre zugeordnet werden können. Mehr Klarheit in die Frage nach dem Potential der post-digitalen Zeichnung bringt ein konkretes Bildbeispiel. Als frühe Vertreter*innen dieses Zeichenstils können Büros wie Point Supreme, OFFICE Kersten Geers David Van Severen, Dogma und später fala genannt werden. Die frühen Zeichnungen zu Stop City108 (2007) von Dogma (Vittorio Aureli und Martino Tattara) können in ihrer Erscheinungsform als post-digital gelesen werden können. Die zwischen Collage und digitaler Zeichnung angesiedelten Bilder zeichnen sich aus durch Frontalität, Flachheit und eine reduzierte Farbgebung, gleichzeitig treten sie spektakulär und erzählerisch auf. Die Zeichnungen weisen Referenzen zu Ludwig Hilberseimer oder der No-stop City von Archizoom auf und sind so mit weiteren (historischen) Narrativen verknüpft. Die Verschmelzung von Leere, Landschaft und Masse, eingebettet in GoogleEarth-Luftaufnahmen, verleihen den Bildern ihre Ausdruckskraft. Doch die Zeichnungen zu Stop City sind weit mehr als bloß eine neue visuelle Erscheinungsform, ihre Ästhetik resultiert aus einer architektonischen wie gesellschaftlichen Kritik. Stop City verzichtet auf Architektur, es ist das Modell einer Stadt, die die Form der Grenze annimmt. „Stop City is architecture freed from itself; it is the form of the city.“109 Die Bilder sind keine utopischen Projektionen, „but an acute and sarcastic analysis of the reality in which we live“.110 Seit der Veröffentlichung der Stop-City-Zeichnungen von Dogma sind über zehn Jahre vergangen. Ihr spektakuläres und gleichzeitig simples Erscheinungsbild ist längst in das Repertoire populärer Architekturdarstellungen eingegangen. Reduziert man die post-digitale Zeichnung auf
108 Stop City ist die Forschung zu einem theoretischen Stadtmodell, die Hypothese für eine nicht-figurative architektonische Sprache für eine Stadt. Die Stadt nimmt hier die Form der Grenze and und verdichtet sich vertikal. Die absolute Grenze der Stadt in der Stadt, die ein „leeres“ Gebiet abgrenzt, fordert zum kritischen Überdenken von Raum auf. 109 Stop City, Dogma (Pier Vittorio Aureli, Martino Tattara), https://www.theradical project.com/stop-city-dogma-pier-vittorio-aureli-martino-tattara (28.01.2022). 110 Ebd.
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1. Architektur als Bild eine Art „Filterästhetik“ aus Retro-Bescheidenheit und pastellfarbener Bedeutungslosigkeit, dann ist die Goshs Kritik angebracht und nachvollziehbar. Das Bild darf nicht allein auf seine digitalen Möglichkeiten und sein ästhetisches Erscheinen reduziert werden. Trennt man das Bild von politischen Impulsen, von ökologischen, sozialen und ökonomischen Einflüssen und kopiert nur einen ästhetischen Stil, bleibt wenig Spannendes übrig. Macht sich das Bild jedoch auf die Suche nach gegenhegemonialen Erzählungen und erforscht mögliche Realitäten, kann die „Rückkehr“ zur (post-digitalen) Zeichnung, wie sie Sam Jacob beschreibt, eine wichtige Kritik an zeitgenössischer Architekturkultur ermöglichen.
Paper architects und autonome Bilder Wie bereits in Bezug auf die post-digitale Zeichnung, aber auch an anderen Bildformaten dargelegt, können gewisse Bilder in der Architektur Autonomie erlangen. Das bedeutet, sie werden als eigenständige Bilder wahrgenommen, ohne dass es ein real gebautes Gebäude dazu geben muss. Es geht dabei nicht um berühmte Serviettenskizzen oder beeindruckende Plandarstellungen, sondern um Zeichnungen von imaginär gebliebenen Projekten. Solche autonomen Bilder werden in Publikationen und Vorträgen immer wieder referenziert, haben unter Umständen sogar Einzug in die Architekturgeschichtsbücher gefunden und nehmen dann im Kanon oftmals einen gleichwertigen Platz wie gebaute Architektur ein. Historische Beispiele für autonome Bilder sind die großen Architekturzeichnungen der sogenannten paper architects aus den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa die frühen Zeichnungen von Zaha Hadid (The Peak, 1983), Daniel Libeskind (Micromegas, 1979) oder Zoe Zenghelis und Madelon Vriesendorp (OMA) (The City of The Captive Globe, 1972; Roosevelt Island, 1975). In dieser Zeit war die Zeichnung untrennbar mit der Disziplin der Architektur verknüpft und war nicht nur ein Abbild von Architektur, sondern wurde als Kunst ausgestellt oder eben selbst als Architektur diskutiert. „These were drawings not of architecture but as architecture“, wie Jacob betont.111 In dieser Tradition stehen auch die
111
102
acob, Sam: Architecture Enters the Age of Post-Digital Drawing, 2017, https:// J metropolismag.com/projects/architecture-enters-age-post- digital-drawing/ (17.1.2022).
1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_21: Solo House, Zeichnung von OFFICE Kersten Geers David Van Severen, 2017.
populären Zeichnungen von Archigram, Superstudio und Archizoom. Doch die Tradition der großen Zeichnungen der Architektur reicht sehr viel weiter zurück, wie z.B. Giovanni Battista Piranesis Architekturphantasien (Vedute di Roma, 1747–1778; Il Campo Marzio, 1762) oder Claude-Nicolas Ledoux’ utopische Bauten der französischen Revolutionsarchitektur belegen. Die Bedeutung der Zeichnung nahm erst ab, als die paper architects Ende der 1980er Jahren zu bauen begannen. Als OMA die ersten Aufträge bekam und Projekte realisieren konnte, rückte auch die Zeichnung in ihren Arbeiten in den Hintergrund, verschwand oder wurde erneut zum Werkzeug und Hilfsmittel zur Repräsentation gebauter Architektur. Warum gelang es dennoch einigen Zeichnungen, als eigenständiges Bild wahrgenommen und nahezu gleichwertig wie gebaute Architektur diskutiert zu werden? Die autonome Zeichnung löst sich davon, reines Abbild von Architektur zu sein. Denn eine Abbildung ist immer mit Verlust verbunden, einem Verlust von Räumlichkeit, Detail und Gesamtheit. Autonome Zeichnungen wollen mehr als eine Abbildung sein, sie vermitteln Visionen oder Utopien, zeigen bisher nicht gesehene Zusammen-
103
1. Architektur als Bild
Abb. 1_22: The Peak, Zeichnung von Zaha Hadid, 1983.
104
1.2 Bild und Architektur
Abb. 1_23: Walking City, Collage von Archigram, 1964. Abb. 1_24: Fundamental Acts, Collage von Superstudio, 1971–1973.
105
1. Architektur als Bild hänge auf oder machen Räume auf andere Weise sichtbar, als wir sie in gebauter Form wahrnehmen würden. So zeigen Zeichnungen wie Walking City (1964) der Gruppe Archigram, die im eigenen Archigram Magazine publiziert wurden, spektakuläre Bilder, die die klassischen Konventionen der Architekturzeichnung negierten und vielmehr wie Comics oder Collagen erschienen. Im visuellen Bruch mit dem Architektur-Establishment behandeln die Zeichnungen von Archigram dabei Themen wie Technik, Innovation, Werbung, Mobilität und alternative Lebensmodelle. Diese Themenwahl und das damit einhergehende neue und selbstbestimmte Erscheinungsbild ermöglichten xden Zeichnungen Autonomie. Auch die Zeichnung The Peak (1983) von Zaha Hadid, ein Entwurf für einen Freizeitclub in Hongkong, wurde nie gebaut, sondern ging vor allem als spektakuläres, farbiges, konstruktivistisches, autonomes Kunstobjekt in die Architekturgeschichte ein. In Hadids Zeichnung werden die einzelnen Teile des Gebäudes auseinandergezogen, schweben, fliegen oder explodieren und verschmelzen mit der umgebenden Landschaft – eine klare Absage an die Konventionen einer informierenden, erklärenden Architekturdarstellung. Die autonomen Bilder setzten wichtige Impulse für eine veränderte Wahrnehmung des Bildes im Feld der Architektur. Doch Zaha Hadids spektakuläre Zeichnung The Peak, Fundamental Acts von Superstudio oder Walking City von Archigram sind als autonome Kunstwerke, die mitunter den Status von Ikonen haben, auch abgeschnitten von den realen Verhältnissen, den Konflikten und Veränderungen in Alltag, Gesellschaft und Politik als Kunstwerke in Geschichtsbüchern und Museen. Auch die etablierte Autor*innenschaft ihrer Produzent*innen sowie die akademische oder fachspezifische Verbreitung der Zeichnungen limitiert ihre Teilhabe an einem realen, materiellen und alltäglichen Architekturdiskurs. Autonomie bringt also auch Isolation. Ist es somit analytisch auch hilfreich und notwendig, die Eigenständigkeit eines Bildes zu erkennen, sollten doch die Anschlussstellen zu Umwelt, Mensch und Leben dabei nicht verloren gehen. Kapitel 1.3, Agency of the image, plädiert daher für eine Weiterentwicklung des Autonomiebegriffs hin zu einer Handlungsfähigkeit des Bildes.
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1. Architektur als Bild Wie bereits angedeutet ist die Autonomie des Bildes, also das Wahrnehmen des Bildes als etwas Eigenständiges, losgelöst von seiner untergeordneten Rolle als Abbildung, ein wichtiges Moment im Umgang mit Bildern. Doch der Autonomiebegriff alleine wird dem Umstand nicht gerecht, dass Bilder aktiv handeln und produktiv sein können. Der englische Begriff agency, der als Handlungsfähigkeit oder Wirkmacht ins Deutsche übersetzt werden kann, ermöglicht es, ebendiese Kapazität von Bildern zu erfassen. Dabei soll im Folgenden zwischen Bildern unterschieden werden, die Bedeutung durch die Ausübung von Macht erzeugen, und solchen, die durch ihre agency vermitteln. Ein entsprechend erweiterter Bildbegriff spricht Bildern die Fähigkeit zu, in Verhandlung zu anderen Akteur*innen zu treten und dabei Veränderungen von Realität zu bewirken. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten und Sichtweisen sich durch dieses neue Bildverständnis für die Produktion und das Verständnis von Architektur ergeben.
1.3.1 Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente Wie in Kapitel 1.1 und 1.2 ausführlich beschrieben wurde, ist die Bedeutung von Bildern und ihrem Einfluss auf unsere Umwelt sowie auf gesellschaftliches Zusammenleben weitreichend und dabei auch vielfältig. Durch ihre kommunizierenden Eigenschaften tragen Bilder das Potential in sich, Übersetzungsarbeit zu leisten und das Gezeigte mit Bedeutungen aufzuladen. Diese Bedeutungen sind mit Machtstrukturen verbunden und legen somit bestimmte Dinge fest. So können Bilder ganze Systeme (z.B. der Bewertung) einführen, Klischees oder Stereotype (re-)produzieren und Ideale oder Normen festschreiben. Bruno Latour beschreibt in seinem Artikel Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente (2006) genau diese Kraft, den Einfluss und die Bedeutung von (Bild-)Elementen.112 Bilder können, so Latour, zu unveränderlich mobilen Elementen werden und so bestimmte Themen, Inhalte und Aussagen eta-
112 Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANTholgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307.
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1. Architektur als Bild Wie bereits angedeutet ist die Autonomie des Bildes, also das Wahrnehmen des Bildes als etwas Eigenständiges, losgelöst von seiner untergeordneten Rolle als Abbildung, ein wichtiges Moment im Umgang mit Bildern. Doch der Autonomiebegriff alleine wird dem Umstand nicht gerecht, dass Bilder aktiv handeln und produktiv sein können. Der englische Begriff agency, der als Handlungsfähigkeit oder Wirkmacht ins Deutsche übersetzt werden kann, ermöglicht es, ebendiese Kapazität von Bildern zu erfassen. Dabei soll im Folgenden zwischen Bildern unterschieden werden, die Bedeutung durch die Ausübung von Macht erzeugen, und solchen, die durch ihre agency vermitteln. Ein entsprechend erweiterter Bildbegriff spricht Bildern die Fähigkeit zu, in Verhandlung zu anderen Akteur*innen zu treten und dabei Veränderungen von Realität zu bewirken. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten und Sichtweisen sich durch dieses neue Bildverständnis für die Produktion und das Verständnis von Architektur ergeben.
1.3.1 Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente Wie in Kapitel 1.1 und 1.2 ausführlich beschrieben wurde, ist die Bedeutung von Bildern und ihrem Einfluss auf unsere Umwelt sowie auf gesellschaftliches Zusammenleben weitreichend und dabei auch vielfältig. Durch ihre kommunizierenden Eigenschaften tragen Bilder das Potential in sich, Übersetzungsarbeit zu leisten und das Gezeigte mit Bedeutungen aufzuladen. Diese Bedeutungen sind mit Machtstrukturen verbunden und legen somit bestimmte Dinge fest. So können Bilder ganze Systeme (z.B. der Bewertung) einführen, Klischees oder Stereotype (re-)produzieren und Ideale oder Normen festschreiben. Bruno Latour beschreibt in seinem Artikel Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente (2006) genau diese Kraft, den Einfluss und die Bedeutung von (Bild-)Elementen.112 Bilder können, so Latour, zu unveränderlich mobilen Elementen werden und so bestimmte Themen, Inhalte und Aussagen eta-
112 Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANTholgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307.
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1.3 Agency of the image blieren.113 Und obwohl diese Elemente mobil sind, sind sie auch unveränderlich, präsentierbar, lesbar und miteinander kombinierbar. Was Latour mit unveränderlich mobilen Elementen meint, erklärt er am Beispiel des Seefahrers und Geografen Jean-François de La Pérouse, der im 18. Jahrhundert im Auftrag des französischen Königs Ludwig XVI. den Pazifik bereiste, um eine bessere Karte des riesigen Ozeans zu erstellen: „Man muss fortgehen und mit den ‚Dingen‘ zurückkehren, wenn die Bewegungen nicht vergeblich sein sollen; die ‚Dinge‘ müssen aber in der Lage sein, die Rückreise zu überstehen, ohne Schaden zu nehmen. […] Die gesammelten und verlagerten ‚Dinge‘ müssen alle gleichzeitig denen präsentierbar sein, die man überzeugen will und die nicht fortgegangen sind.“114 Auch wenn wir keine Seefahrer*innen mehr sind, geht es letzten Endes – auch in der Architektur – darum, etwas „zurückzubringen“ (z.B. ein Bild), um damit andere von etwas (Architektur) zu überzeugen. Durch diese Bilder – oder diese „Inskription“115, wie Latour es nennt – wird eine Tatsache geschaffen, also festgelegt, wie etwas ist oder zu sein hat. Genauso wie die Bewohner*innen Chinas, die der Seefahrer La Pérouse antraf und befragte, nicht mobil waren, ist auch die gebaute Architektur nicht mobil. Die Inskriptionen aber sind mobil, egal ob es eine Karte ist – so wie sie La Pérouse nach Versailles mitbrachte, oder eben Bilder, Fotografien und Zeichnungen. Durch das Aufzeichnen und Festhalten ist die Inskription allerdings nicht nur mobil, sondern auch unveränderlich geworden. Genauso verhält es sich mit den Abbildungen von Architektur: Das Gebäude muss nicht selbst mobil sein, erst das Bild (Zeichnung, Illustration, Fotografie) macht es mobil und gleichzeitig unveränderlich. Spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks (Druckerpresse) wurde das Bild zu einem unveränderlich mobilen Element: Die Kopie steht dabei für die Mobilität und der Druck für die Unveränderbarkeit. Vor dem Buchdruck blieb jede Leistung lokal und temporär, da es keine Möglichkeit gab, ihre Ergebnisse anderswohin zu bewegen. Durch das Internet hat sich die Mobilität von (Bild-)Elementen potenziert, überall und immer sind mobile Inskriptionen abrufbar. Durch die Hin- und Rückbeziehung zwischen Objekt und Inskription und das Verbildlichen, also das Transferieren in eine Zeichnung, eine Karte oder einen Grundriss, wird das Gezeigte auch einfacher
113 Ebd., S. 285. 114 Ebd., S. 266. 115 Ebd., S. 276.
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1. Architektur als Bild
Abb. 1_25: Frontispiz des Atlas du Voyage de La Pérouse, Jean-François de La Pérouse, Paris 1797.
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1.3 Agency of the image zu beherrschen und leichter zu reproduzieren. Vor allem aber kann das Bild auch neu mit anderen Bildern oder Elementen gemischt oder kombiniert werden, es können also bewusst Überlagerungen und Veränderungen herbeigeführt werden. „Architects constantly move back and forth between the building-in-construction and its numerous models and drawings, comparing, correcting and updating them.“116 Inskriptionen (Bilder) präsentieren also auf ihre spezielle Weise abwesende Dinge und zugleich verbinden sie dadurch diejenigen miteinander, die bei der Präsentation zugegen sind. Das Überzeugen und Vereinnahmen durch Inskription verleiht dem Bild auch die Kraft, Dinge und Menschen zu beherrschen. Vor allem, wenn Inskriptionen kapitalisiert werden, können Verbündete mobilisiert und kann somit Wahrheit hergestellt werden.117 In einer agnostischen Welt ist das schnelle Gruppieren von Alliierten unglaublich wichtig geworden, denn erst durch die Mobilisierung dieser Verbündeten kann innerhalb eines Systems Objektivität geschaffen werden. Das Bild schafft es also, die Vielen von etwas Abwesendem zu überzeugen. Ein Beispiel hierfür gibt Llerena Guiu Searle in ihrer 2016 erschienenen Studie Landscapes of Accumulation. Real Estate and the Neoliberal Imagination in Contemporary India. „I went to India to study people making markets, but I primarily encountered people making representations of markets.“118 Searle beschreibt in ihrer Forschung, wie bildliche Repräsentationen am Immobilienmarkt nicht nur für etwas Reales stehen, sondern auch neue Märkte konstituieren. Der Markt ist hier nicht als eine abstrakte Vorstellung zu verstehen, sondern als Schauplatz reflexiver, kommunikativer Aktivität. Das bedeutet, die Geschichten dieser Bilder, die von Finanzakteur*innen in Auftrag gegeben werden, zeigen Fiktionen, es sind Versuche, die Welt nach ihren Idealen (Profitsteigerung) zu gestalten. „When people tell stories, they don’t merely exchange information; they create social relationships with one another and conceptually organize the world so as to act in it.“119 Bilder bieten also nicht nur Informationen über eine Wohnung oder ein städtebauli-
116 Latour, Bruno/Yaneva, Albena: Give Me a Gun and I Will Make All Buildings Move. An ANT’s View of Architecture, in: Geiser, Reto (Hg.): Explorations in Architecture. Teaching, Design, Research, Basel 2008, S. 80–89, hier S. 85. 117 Vgl. Latour: Drawing Things Together, S. 285. 118 Searle, Guiu Llerena: Landscapes of Accumulation. Real Estate and the Neoliberal Imagination in Contemporary India, Chicago 2016, S. 12. 119 Ebd.
111
1. Architektur als Bild ches Projekt, sondern sie erzeugen durch ihre Erzählungen auch einen Markt, an dem die Welt gestaltet wird. Ob das einzelne Bild nun gut oder schlecht ist, ob es gelungene oder missglückte Architektur zeigt, ist nebensächlich, wichtiger ist zu verstehen, was die Geschichten dieser Bilder bewirken. Denn jedes Projekt und jedes gebaute Gebäude ist der materielle Output von zahlreichen Kommunikationsakten durch Bilder zwischen unterschiedlichen Akteur*innen, wie Investor*innen, Entwickler*innen, Architekt*innen und Bauarbeiter*innen.120 An diesem Beispiel der visuellen Darstellungen für den Immobilienmarkt wird die Wirkmacht von Bildern sichtbar. Bilder zeigen Geschichten, die Kommunikationsakte mit vielen Beteiligten erzeugen, um ein System der Kapitalisierung am Laufen zu halten. Die von Searle beschriebenen Bilder können als unveränderlich mobile Elemente gelesen werden, denn sie besitzen die Macht, die Vielen von etwas Abwesendem (der noch nicht gebauten Immobilie) zu überzeugen, und schaffen gleichzeitig eine eigene Welt der (Finanz-)Märkte.
1.3.2 Agency – die Handlungsfähigkeit des Bildes Der Begriff agency geht jedoch über das Überzeugen und Beherrschen durch ein Festhalten und Aufzeichnen mittels Bildern hinaus. Nicht die Reproduktion unveränderbarer, mobiler Wahrheiten soll die Vielen überzeugen, sondern die Handlungsfähigkeit des Bildes steht im Vordergrund. Der Begriff agency ist dabei in doppelter Hinsicht zu verstehen: Einerseits erfasst er einen operativen Aspekt, ein effektives Tun, einen Prozess, bei dem etwas passiert, und andererseits erfasst er auch das, was aus diesem Tun heraus entsteht. Susanne Lummerding skizziert die Handlungsfähigkeit in agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen (2005) so: „Handlungsfähigkeit meint hier nicht etwa einen juridischen Begriff, sondern rekurriert auf den im englischen Terminus agency konnotierten Bedeutungskomplex, der ein Spektrum an Konnotationen von Kraft/Macht über Vermittlung/ Mittel bis hin zu Tätigkeit und vor allem Wirkung umfasst.“121 Verstehen
120 Vgl. ebd. 121 Lummerding, Susanne: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Köln/Weimar 2005, S. 14.
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1. Architektur als Bild ches Projekt, sondern sie erzeugen durch ihre Erzählungen auch einen Markt, an dem die Welt gestaltet wird. Ob das einzelne Bild nun gut oder schlecht ist, ob es gelungene oder missglückte Architektur zeigt, ist nebensächlich, wichtiger ist zu verstehen, was die Geschichten dieser Bilder bewirken. Denn jedes Projekt und jedes gebaute Gebäude ist der materielle Output von zahlreichen Kommunikationsakten durch Bilder zwischen unterschiedlichen Akteur*innen, wie Investor*innen, Entwickler*innen, Architekt*innen und Bauarbeiter*innen.120 An diesem Beispiel der visuellen Darstellungen für den Immobilienmarkt wird die Wirkmacht von Bildern sichtbar. Bilder zeigen Geschichten, die Kommunikationsakte mit vielen Beteiligten erzeugen, um ein System der Kapitalisierung am Laufen zu halten. Die von Searle beschriebenen Bilder können als unveränderlich mobile Elemente gelesen werden, denn sie besitzen die Macht, die Vielen von etwas Abwesendem (der noch nicht gebauten Immobilie) zu überzeugen, und schaffen gleichzeitig eine eigene Welt der (Finanz-)Märkte.
1.3.2 Agency – die Handlungsfähigkeit des Bildes Der Begriff agency geht jedoch über das Überzeugen und Beherrschen durch ein Festhalten und Aufzeichnen mittels Bildern hinaus. Nicht die Reproduktion unveränderbarer, mobiler Wahrheiten soll die Vielen überzeugen, sondern die Handlungsfähigkeit des Bildes steht im Vordergrund. Der Begriff agency ist dabei in doppelter Hinsicht zu verstehen: Einerseits erfasst er einen operativen Aspekt, ein effektives Tun, einen Prozess, bei dem etwas passiert, und andererseits erfasst er auch das, was aus diesem Tun heraus entsteht. Susanne Lummerding skizziert die Handlungsfähigkeit in agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen (2005) so: „Handlungsfähigkeit meint hier nicht etwa einen juridischen Begriff, sondern rekurriert auf den im englischen Terminus agency konnotierten Bedeutungskomplex, der ein Spektrum an Konnotationen von Kraft/Macht über Vermittlung/ Mittel bis hin zu Tätigkeit und vor allem Wirkung umfasst.“121 Verstehen
120 Vgl. ebd. 121 Lummerding, Susanne: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Köln/Weimar 2005, S. 14.
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1.3 Agency of the image wir Bilder also nicht nur als eigenständig und autonom, sondern als Trägerinnen von agency, dann sind sie offene Vermittlerinnen, die durch ihre Kraft eine Wirkung erzielen können. Agency bezeichnet dabei keine Form der Subjektautonomie, sondern das Potential von Subjekten wie auch Objekten, als Agent*innen Prozesse sichtbar zu machen und zugleich zur Diskussion zu stellen. Diese Handlungsfähigkeit ist nicht innerhalb einer etablierten Ordnung zu verstehen, sondern beschreibt Aktivitäten, die das Vorhandene transformieren. Handlungsfähigkeit ist also auch mit einem politischen Akt zu vergleichen, wobei hier klar zwischen dem Politischen und Politik zu unterscheiden ist. Denn das Politische ist nicht als politische Realität im Sinne von Politik durch Institutionen zu verstehen, sondern in Susanne Lummerdings Worten „als Moment der Offenheit und Unentscheidbarkeit“,122 der die Voraussetzungen oder Möglichkeiten für soziale Handlungen verdeutlicht. Handlungsfähigkeit beruht also auf der Konzeption des Politischen und erkennt Kontingenz und Offenheit als Möglichkeiten von Vielfalt.
Das Bild als operativer Prozess mit vielfältigen Folgen Im Folgenden sollen die beiden bereits erwähnten Aspekte, die der Begriff agency in sich trägt, herausgearbeitet werden: einerseits das Bild als operativer Prozess und anderseits die daraus resultierenden Folgen, die etwas machen oder in Gang setzen können. Betrachten wir zunächst den Handlungsaspekt von agency: Bilder zu produzieren und sie in Umlauf zu bringen ist eine aktive Handlung. Die unterschiedlichen Produktionsformen des Zeichnens, des Uploadens, des Kopierens, des Zusammenstellens und Veränderns sind operative Prozesse. Aber auch das Sehen und Erkennen von Bildern kann als eine Form von teilnehmender Handlung verstanden werden. Das Handelnde im Bild beschreibt Hito Steyerl auch als ein Wandern über (mediale) Träger: „They [images] are rather nodes of energy and matter that migrate across different supports, shaping and affecting people, landscapes, politics, and social systems.“123 Wenn Bilder also über
122 Ebd., S. 19. 123 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too- much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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1. Architektur als Bild Displays in unsere Realität wandern, vermehren sie sich nicht nur, sondern sie können sich auch verwandeln und dadurch Zustände und Systeme verändern, an denen Betrachter*innen wie Produzent*innen beteiligt sind. Handlungsfähigkeit durch operative Prozesse geht jedoch weit über das Produzieren oder Sehen von bestimmten Bildern hinaus. Es bedeutet auch das Wahrnehmen von Möglichkeiten, die abseits des Gegebenen aufzufinden sind, sowie das Herausfordern des Herkömmlichen. Bilder sind daher auch in Prozesse hegemonialer Auseinandersetzung involviert. Handeln ist in diesem Sinne kein bloßes Wiederholen von bereits Bestehendem und Bekanntem, sondern ein kritisches Sichtbarmachen von Herrschafts- und Machtverhältnissen. Anna Schober und Alice Pechriggl betonen in diesem Zusammenhang auch die Ambivalenz des Bildes,124 da es nicht nur kritisch herausfordern kann, sondern zugleich auch affirmativ, also bestätigend wirkt. Das Zeichnen und Produzieren, das Wahrnehmen und Herausfordern durch Bilder geht also auch mit einem Bestärken des Gezeigten einher. Dieses Bestärken ist bereits Ausdruck des zweiten Aspekts von agency, nämlich der aus dem Handeln resultierenden Auswirkungen. Das Erzeugen eines Bildes kann Unterschiedliches und Ambivalentes miteinander vernetzten und so neue Verbindungen und Zusammenhänge herstellen. Durch das handelnde Neubefragen von hegemonialen Konzepten oder eingelernten Ritualen werden diese herausgefordert und kulturelle wie soziale Situationen und Ereignisse zur Verhandlung gestellt. In der Folge kann daraus etwas Neues und Anderes entstehen. Aber auch in Momenten der Unmöglichkeit liegt ein großes Potential. So schreibt Lummerding: „Es ist gerade das ,Unmögliche‘ als das ,Nicht- Intelligible‘ – das, was innerhalb eines bestimmten soziosymbolischen Rahmens als nicht-denkbar scheint –, welches auf diese Weise zu einem ,Denkbaren‘ und in diesem Sinn ,Virtuellen‘, also im Bereich des Möglichen Liegenden werden kann.“125 Das bedeutet, dass es gerade das Unmögliche ist, das erst gewisse Dinge und Entwicklungen ermöglicht. Übertragen wir diese Überlegung z.B. auf das Wohnen, dann könnten uns unmögliche Wohnbilder neue und andere Aspekte des Wohnens aufzeigen, die zuvor als nicht denkbar bzw. planbar galten.
124 Vgl. Pechriggl/Schober: Hegemonie und die Kraft der Bilder, S. 18. 125 Lummerding, Susanne: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Köln/Weimar 2005, S. 275.
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1.3 Agency of the image Auf die Frage „Wie willst du wohnen?“ könnten die Bilder des Unmöglichen endlich neue Vorschläge abseits der immer gleichen hegemonialen Wohnbildwelten vorschlagen. Weiters kann agency auch Lebhaftigkeit generieren. W.J.T. Mitchell beschreibt Bilder in diesem Sinne als Lebenszeichen oder Lebensformen, als lebendige Bilder, die sogar einen eigenen Willen besitzen.126 „Wenn Bilder Lebensformen sind und Objekte die Körper, die sie beseelen, dann stellen Medien die Lebensräume oder Ökosysteme dar, in denen Bilder lebendig werden.“127 Nehmen wir Bilder als eine Form von (Lebens-)Realität wahr, dann ist auch hier nicht die Spiegelung einer umgebenden Welt gemeint, sondern die Erweiterung von Realitäten durch Bilder. James Ackermann fasst diese Überlegung so zusammen: „Representation itself is not a reflection of some ‚reality‘ in the world about us, but is a means of casting onto that world a concept – or unconscious sense – of what reality is.“128 Bilder besitzen folglich die Wirkmacht, Realitäten zu erzeugen. Eine klare Trennung zwischen Bild und Realität ist hinfällig, viel interessanter ist die Handlungsfähigkeit und Wirkmacht von Bildern bei der Erzeugung von möglichen neuen Realitäten. An dieser Stelle ist es hilfreich, noch einmal Bruno Latours Überlegungen zu den unveränderlich mobilen Inskriptionen heranzuziehen. Latour weist darauf hin, dass durch die Verlagerung oder Transformation zwischen Ort und Inskription, das Hin- und Zurückbewegen auch Modifikationen und Veränderungen vorgenommen werden können. So ist es möglich, dass Inskriptionen (Bilder) auch Realitäten von neuen Welten, Träumen oder Utopien erschaffen, also auch Möglichkeitsräume für Experimente. „Man kann nicht nur Städte, Landschaften oder Ureinwohner verlagern und auf Straßen durch den Raum von ihnen weg und wieder zu ihnen hin gehen, sondern man kann auch Heilige, Götter, Himmel, Paläste oder Träume mit denselben Hin- und Rück-Straßen erreichen […]. Die doppelspurige Straße wird zu einer vierspurigen Autobahn!“129 Dieses Potential der Neuentdeckung und Veränderung von Realitäten kann neue Blickwinkel eröffnen und gleichzeitig Unmögliches 126 Vgl. Mitchell: Das Leben der Bilder, S. 22. 127 Ebd., S. 162. 128 Ackermann, James S.: On the origins of architectural photography, in: Rattenbury, Kester (Hg.): This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 26–36, hier S. 35. 129 Latour: Drawing Things Together, S. 269.
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1. Architektur als Bild Wirklichkeit werden lassen. Diese Eigenschaft des Bildes, die oft als Manipulation verurteilt wird, kann auch als Chance und Möglichkeit wahrgenommen werden, dem noch nicht Denkbaren oder zuvor als unmöglich Beschriebenen Sichtbarkeit zu verleihen. Das Bild kann folglich durch seine Handlungsfähigkeit und Wirkmacht neue Verbindungen, Situationen und Systeme sowie Lebhaftigkeit und Realitäten erzeugen. Im Sinne des Begriffs agency stellt es dadurch aber immer gewohnte und etablierte Systeme kritisch in Frage.
1.3.3 Architektur – Bild – agency Wo ist die Handlungsfähigkeit und Wirkmacht (agency) von Bildern im Kontext der Architektur zu finden? Welche Möglichkeiten eröffnen Bilder im Feld der Architektur, wenn wir ihnen agency zusprechen, sie entsprechend betrachten und mit ihnen operieren? Wenn Architektur in unterschiedlichen Bildformaten über unsere Bildschirme hinaus in die Welt getragen wird, dann können diese Bilder sich auch in andere (materielle) Zustände verwandeln, wie Hito Steyerl beschreibt. „They [images] incarnate as riots or products, as lens flares, high-rises, or pixelated tanks. […] They invade cities, transforming spaces into sites, and reality into realty.“130 Bildern wohnt also eine gewisse Kraft inne, Realität zu schaffen und zu verändern. Diese Kraft kann nun eingesetzt werden, um Systeme der Kapitalisierung am Laufen zu halten und gleichzeitig Ideale und Normierungen durch die Reproduktion bestimmter Bildwelten festzuschreiben. Kapitel 2 geht diesen Wirkmächten am Beispiel von digitalen Wohnbildern auf Plattformen wie Instagram oder Airbnb nach. So werden bestimmte Formen der Bildproduktion, der Distribution und Reproduktion sowie der Bildrezeption offengelegt, die diese Prozesse vorantreiben und beschleunigen. Welche Anschlussstellen und Auswirkungen diese Bildwelten auf unsere Umwelt und die gebaute Wirklichkeit haben, wird in einer kritischen Reflexion in Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, dargelegt. Mittels des Begriffs agency soll dieser Art der Bildwahrnehmung und -festlegung jedoch entgegengetreten werden und sollen die Potentiale und Möglichkeiten handlungsfähiger und wirkmächtiger Bilder hervor130 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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1. Architektur als Bild Wirklichkeit werden lassen. Diese Eigenschaft des Bildes, die oft als Manipulation verurteilt wird, kann auch als Chance und Möglichkeit wahrgenommen werden, dem noch nicht Denkbaren oder zuvor als unmöglich Beschriebenen Sichtbarkeit zu verleihen. Das Bild kann folglich durch seine Handlungsfähigkeit und Wirkmacht neue Verbindungen, Situationen und Systeme sowie Lebhaftigkeit und Realitäten erzeugen. Im Sinne des Begriffs agency stellt es dadurch aber immer gewohnte und etablierte Systeme kritisch in Frage.
1.3.3 Architektur – Bild – agency Wo ist die Handlungsfähigkeit und Wirkmacht (agency) von Bildern im Kontext der Architektur zu finden? Welche Möglichkeiten eröffnen Bilder im Feld der Architektur, wenn wir ihnen agency zusprechen, sie entsprechend betrachten und mit ihnen operieren? Wenn Architektur in unterschiedlichen Bildformaten über unsere Bildschirme hinaus in die Welt getragen wird, dann können diese Bilder sich auch in andere (materielle) Zustände verwandeln, wie Hito Steyerl beschreibt. „They [images] incarnate as riots or products, as lens flares, high-rises, or pixelated tanks. […] They invade cities, transforming spaces into sites, and reality into realty.“130 Bildern wohnt also eine gewisse Kraft inne, Realität zu schaffen und zu verändern. Diese Kraft kann nun eingesetzt werden, um Systeme der Kapitalisierung am Laufen zu halten und gleichzeitig Ideale und Normierungen durch die Reproduktion bestimmter Bildwelten festzuschreiben. Kapitel 2 geht diesen Wirkmächten am Beispiel von digitalen Wohnbildern auf Plattformen wie Instagram oder Airbnb nach. So werden bestimmte Formen der Bildproduktion, der Distribution und Reproduktion sowie der Bildrezeption offengelegt, die diese Prozesse vorantreiben und beschleunigen. Welche Anschlussstellen und Auswirkungen diese Bildwelten auf unsere Umwelt und die gebaute Wirklichkeit haben, wird in einer kritischen Reflexion in Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, dargelegt. Mittels des Begriffs agency soll dieser Art der Bildwahrnehmung und -festlegung jedoch entgegengetreten werden und sollen die Potentiale und Möglichkeiten handlungsfähiger und wirkmächtiger Bilder hervor130 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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1.3 Agency of the image gehoben werden. Denn verstehen wir das Bild als agency, bedeutet das ein kritisches Erkennen und Sichtbarmachen von Herrschafts- und Machtverhältnissen. Darin liegen Potentiale zur Neuerfindung und Veränderung von Realitäten: So kann dem noch nicht Denkbaren oder als unmöglich Angesehenen Lebendigkeit verliehen werden. Diese Wirkmacht und Handlungsfähigkeit zu erkennen und mit ihren Potentialen und Auswirkungen operieren zu können ist für das Feld der Architektur wichtig und notwendig. Denn sie sprengt die nach wie vor dominante Vorstellung von Architektur als euklidischem Raum, also als zweidimensionaler Vereinfachung von Raum durch eine Zeichnung auf Papier. Die vielen Geschichten und Möglichkeiten, was Architektur alles sein könnte, gehen in dieser Vorstellung verloren, wie auch Bruno Latour und Albena Yaneva kritisieren: „Everyone agrees that the drawing (or the photography) of a building as an object does not say anything about the ‚fight‘ of a building as a project, and yet we always fall back on Euclidian space as the only way to ‚capture‘ what a building is – only to complain that too many dimensions are missing.“131 Das Neubefragen von Umwelt, Gesellschaft und Gebautem durch handlungsfähige und wirkmächtige Bilder entlässt das Bild aus der Einschränkung, die mit seiner bisher vorherrschenden Wahrnehmung als bloßes Abbild einhergehen. Denn im Bild kann fast alles gedacht, experimentiert und ausprobiert werden. Ausgehend von diesem offenen und kritischen Begriff des handlungsfähigen Bildes geht Kapitel 3, Drawing Housing Otherwise, dem Potential gegenhegemonialer Bildwelten nach und testet dabei die Möglichkeiten von agency im Bild aus.
131 Latour/Yaneva: Give Me a Gun and I Will Make All Buildings Move, S. 82.
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Kapitel 2, Das Bild des Wohnens, untersucht, wie Wohnen in digitalen Bildwelten auf Plattformen wie Instagram medial aus- und dargestellt wird und welche Wohnideale und -begehren durch diese globalen visuellen Repräsentationsformen evoziert werden. Darauf aufbauend soll der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja wie die allgegenwärtigen digitalen Wohnbildwelten, die auf follwerstarken Home-&-Interior-Accounts produziert werden, tatsächlich unser Wohnverständnis, die Planung von Wohnraum und letztlich auch den gebauten Wohnraum verändern. Zunächst wird in Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, das (Be-)Wohnen als alltägliche performative Praxis zwischen Subjekten, Objekten und Räumen betrachtet. Dabei werden Wertevorstellungen, Machtstrukturen und Hierarchien, die in diesen (Wohn-)Handlungen verankert sind, durch Architektur festgelegt (Wände, Gänge, Zimmer). Wohnen ist auch ein System der Repräsentation, ein Schauplatz 1, an dem sich das Subjekt durch Objekte und Handlungen konstituiert und bestimmte Formen von Gemeinschaft ausgestellt werden. In diesem komplexen Feld des Wohnens, das von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Interessen bestimmt ist, werden Wohnnormen und -ideale durch mediale Inszenierung festgehalten, ausgestellt und vermittelt. In unterschiedlichen Modellen des Wohnens wird durch ein Vorzeigen und Ausstellen gesellschaftliches Wohnwissen miterzeugt. Kapitel 2.2, Plattformen, skizziert zunächst die Durchdringung unterschiedlichster Lebensbereiche unseres Alltags durch Plattformtechnologien und die damit einhergehenden Veränderungen, sowohl in soziokultureller wie politisch-ökonomischer Hinsicht. Die großen Plattform-Monopolisten, zu denen auch Instagram gehört, sind privatisierte Räume mit eigenen Zugangs- und Spielregeln. In der Logik der Plattform-Ökonomie forcieren sie die Kapitalisierung jeglicher Aktivität durch ständige Zirkulation, um Kapital zu steigern. In Kapitel 2.3 und 2.4 werden die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Plattform Instagram anhand ausgewählter followerstarker Home-&-InteriorAccounts untersucht. Die inszenierten und kuratierten Wohnbildwel-
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Vgl. Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bd. 1, Bielefeld 2014, S. 9–38, hier S. 9.
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2. Das Bild des Wohnens ten zeigen in der visuellen Sprache einer Instagram-Ästhetik etablierte Wohnnarrative, die das Begehren nach immer mehr Bildern und letztlich mehr Konsumation stets aufrecht- und in Bewegung halten. Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, führt die in den vorigen Teilen erlangten Erkenntnisse zusammen und zieht Bilanz hinsichtlich der untersuchten Plattformphänomene, der bildlichen Inszenierung des Wohnens sowie der Transformation des Wohnens zu einem Lifestyle, der nur noch in tiefer Verschränkung mit Konsumhaltungen existieren kann. Die neuen Wohnideale auf Instagram reproduzieren sich auch außerhalb der Plattform und legen Wohnideale und Normen fest. Die weitreichenden Folgen und Auswirkungen dieser Entwicklungen werden ausführlich diskutiert. So wird deutlich, dass Instagram ist kein neutraler Ort ist, sondern vielmehr ein normierendes System, das bestimmte Wissensformen und Kulturen produziert und somit essenzielle Aspekte des Wohnens bewusst ausklammert und andere Narrative dafür immer wieder reproduziert.
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2. Das Bild des Wohnens
2.1.1 Über das Bewohnen In Feld der Architektur wird Wohnen meist im Kontext der Wohnbauproduktion, der Wohnbaupolitik oder anhand formaler Kategorien des Entwurfs behandelt. Dabei stehen Funktionalität und Kosteneffizienz des Wohnens sowie die ästhetische Erscheinung als Wohnobjekt im Vordergrund. Nur einzelne engagierte Wohnbauprojekte versuchen darüber hinaus weitere Themen – etwa Gemeinschaft, Funktionsmischung oder eine intelligente Freiraum- und Quartiersplanung – in den Entwurfsprozess zu integrieren. Selten wird jedoch im Zusammenhang mit Wohnbau auch über das Bewohnen selbst gesprochen, das als der aktive Gebrauch der Wohnräume verstanden werden kann. Bis auf wenige Entwürfe historischer Meisterwerke (z.B. Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe, 1930), die das Bewohnen mit seinen Raumfolgen, Möbeln und alltäglichen Handlungsabläufen in den Blick nehmen, bleibt dieses oft unsichtbar. Dass Architektur durch Wände, Flure, Zimmer, Raumhöhen, Materialien oder Öffnungen bestimmte Formen des Bewohnens ermöglicht und andere verunmöglicht, wird zumeist nicht hinterfragt. Dabei manifestieren diese gebauten Wohnräume durch ihre Form, die präzise Anordnung und Organisation von Materialitäten und die dazugehörigen Wohnobjekte ein gesellschaftliches Regelwerk, das unter anderem Moral, Macht- und Geschlechterverhältnisse und Moral konfiguriert und somit diskutiert und erforscht werden muss. Denn das Bewohnen der vorgegebenen Wohnräume mit all seinen Wohnobjekten beruht auf Konventionen und Ordnungen, die über Jahrhunderte in unterschiedlichen medialen Formaten gezeigt, vermittelt und eingelernt wurden. Die eingespielten Praktiken des Bewohnens zwischen Subjekten, Objekten und Räumen entsprechen einem gewohnten und vertrauten Bild des Wohnens, das durch Architektur immer wieder (re-)produziert wird. Im Folgenden wird diskutiert, welche Auswirkungen die Konfigurationen unserer Wohnräume auf Wertvorstellungen, Machtstrukturen und Hierarchien innerhalb des Wohnens haben.
Wohnen als Grundrecht und Alltagspraxis Ein weiterer Aspekt, der im Wohndiskurs und in der alltäglichen visuellen Reproduktion kaum präsent ist, ist das Wohnen als Grundrecht des Menschen. Seit 1948 ist von den Vereinten Nationen in Artikel 25 der All-
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2.1 Schauplatz Wohnen gemeinen Erklärung der Menschenrechte Wohnen als Grundrecht deklariert: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung […].“ Über Wohnraum zu verfügen kann demnach als Daseinsnotwendigkeit aufgefasst werden. In den medial inszenierten Wohnbildwelten, die aus der Produktwerbung, aus Immobilienanzeigen oder auf Social-Media-Plattformen vertraut und bekannt sind, wird Wohnen jedoch fast ausschließlich als konsumierbare Ware dargestellt und angepriesen. Durch die Selbstverständlichkeit, dass wir alle wohnen (müssen), wird Wohnen als Grundbedürfnis und zugleich Menschenrecht zugunsten eines konsumierbaren und dabei immer stärker optimierten und idealisierten Wohnens verdrängt. Grundbedürfnisse wie Versorgung, Sicherheit und Erholung sind Grundelemente des Wohnens, genauso wie Gemeinschaft und Kommunikation. Verlagert sich die Wahrnehmung vom Wohnen jedoch auf eine reine Repräsentationsform auf der Basis von Konsumation von Objekten und Serviceleistungen, rückt der allgemeine Zugang zum Grundrecht Wohnen immer stärker in den Hintergrund. Wohnen muss als Daseinsnotwendigkeit verstanden werden, auch wenn (noch) kein Rechtsanspruch auf Wohnen besteht. Das Wohnen an sich ist ein vertrautes Alltagsterrain, in dem jede*r permanent Erfahrungen sammelt und somit selbst Expert*in ist. Zugleich ist Wohnen ein komplexes Feld, das von gesellschaftspolitischen, ökonomischen und kulturellen Interessen bestimmt wird. Dabei ist Wohnen nicht statisch und fixiert, sondern vielmehr von historischen Brüchen, gesellschaftlichen Verschiebungen und Paradoxa geprägt. Blicken wir auf die Geschichte des Wohnens zurück, so stehen meist Werkschauen oder Architekt*innen im Mittelpunkt historischer Erzählungen. Die enge Verschränkung und Kommunikation zwischen bewohnenden Subjekten, ihrem Wohnhandeln sowie den Wohnräumen und -objekten fehlt in diesen Erzählungen meist. Dabei gehen der Gebrauch von bestimmten Gegenständen des Wohnens und die Praktiken der Wohnraumnutzung mit Prozessen der Subjektbildung und Subjektivierung einher. „Die Ein-Richtung des Wohnens korreliert mit der Ein-Richtung des Subjekts und seiner sozialen Beziehungen“, so Katharina Eck, Kathrin Heinz und Irene Nierhaus.3 So würden „Be3 Eck, Katharina/Heinz, Kathrin/Nierhaus, Irene: Einleitung, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64, 2018, S. 5.
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2. Das Bild des Wohnens züglichkeiten geformt und ausgebildet, Geschlecht eingerichtet, Nation verfasst, Gemeinschaft modelliert.“4
Die Kleinfamilie als Grundeinheit des Wohnens Architektur materialisiert – damals wie heute – Vorstellungen und Maximen einer Gesellschaft und schafft damit gleichzeitig die physischen Bedingungen für Klassismus. Die Wohnadresse, die Größe und Ausstattung der Wohnung sind mitentscheidend für die Zugehörigkeit oder Einteilung zu einer bestimmten „Klasse“. Da im Weiteren immer wieder auf das bürgerliche Wohnen im 19. Jahrhundert verwiesen wird, sei an dieser Stelle erläutert, warum diese Wohnform, die nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten war, hier trotzdem als Referenz herangezogen werden muss. Während die große Masse der Arbeiter*innen oft bis hinein ins 20. Jahrhundert in beengten Wohnverhältnissen unter meist prekären Bedingungen wohnte, repräsentierte die bürgerliche Wohnung einen bestimmten gesellschaftlichen Status und ein damit verbundenes Wohnverständnis, das als bis heute prägendes Ideal weit über das Bürgertum hinaus Bedeutung erlangte. Von der Aufteilung und Zuteilung der Wohnräume bis hin zu einzelnen Wohnobjekten manifestierten sich in dieser Wohnform Herrschaftsformen und Moralvorstellungen des Bürgertums. Wie die weitere Untersuchung zeigen wird, finden wir das bürgerliche Wohnideal ausgestellt auf Instagram in ästhetisierten Wohnbildwelten wieder. Diese repräsentieren, heute wie damals, eine idealisierte Einheitsvorstellung davon, wie die Dinge zu sein haben: soziale oder geschlechtliche Rollenbilder, Raumaufteilungen, Machtverhältnisse etc. Unabhängig davon, wie die reale Wohnsituation der Vielen tatsächlich aussieht, zeigen die entsprechenden Instagram-Accounts bestimmte, meist privilegierte Wohnsituationen, die die Wohngeschichte als dominantes Narrativ fortschreiben. Die dominierende Gemeinschaftsform im Wohnen ist bis heute im globalen Norden weitgehend die Kleinfamilie. Auf dieser Grundeinheit des Wohnens – bestehend aus Vater, Mutter, Kind(ern) – baut sich die
4 Eck, Katharina/Hartmann, Johanna/Heinz, Kathrin/Keim Christiane (Hg.): Wohn/ Raum/Denken. Politiken des Häuslichen in Kunst, Architektur und visueller Kultur, Bd. 5, Bielefeld 2021, S. 11–28, hier S. 15.
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2.1 Schauplatz Wohnen Typologie des Wohnens auf. Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, Kinderzimmer, Küche und Bad lautet die übliche Raumaufteilung des Kleinfamilienhaushalts. Je ausdifferenzierter die einzelnen Wohnräume sind – in Bubenzimmer, Mädchenzimmer, Elternbad, Gästetoilette usw. –, desto mehr Objekte können sie aufnehmen. Das ökonomische Interesse am Lebens- und Wohnmodell Kleinfamilie ist groß und verdrängt dadurch andere Formen des Zusammenwohnens. Im Biedermeier etablierte sich die Familienwohnung als Wohnform. In der Regel wurden in den damals eher kleinen Wohnungen die Räume multifunktional genutzt und von einem größeren Familienkreis, bestehend aus Verwandten und Personal, bewohnt. Das kleinfamiliäre Wohnen setzte sich, beginnend im 19. Jahrhundert, vor allem in bürgerlichen Schichten durch und dehnte sich von dort allmählich auf das Proletariat aus. Die Kleinfamilie wird als soziale und ökonomische Einheit spätestens nach 1945 zur dominanten Struktur und bestimmt seitdem den Wohnbau weitgehend. Alternativen wie das Einküchenhaus (Heimhof, Wien, 1923)5 oder Baugemeinschaften und Clusterwohnungen haben sich im Wohnbau für die Masse (noch) nicht durchgesetzt und sind bis heute seltene Alternativen geblieben. Die Kleinfamilie legte auch die Anordnung der Geschlechter in den Wohnräumen fest. So gab es klare geschlechterdifferenzierende Ausprägungen in der Aufteilung und Einrichtung der Wohnräume. In der bürgerlichen Wohnung des 19. Jahrhunderts war das Herren- oder Arbeitszimmer mit ausladendem Schreibtisch, Globen und ehrwürdigen Porträts der Ort für Narrationen von Männlichkeit. Im Gegensatz dazu waren die weiblich zugeordneten Räume, wie der Salon oder das Boudoir mit Erker oder Fensterplatz, Orte der Zerstreuung, zu deren Ausstattung Spiegel, Polstermöbel, üppiges Dekor und Nippes gehörten. Die versteckte Küche, wie auch alle anderen der Hausarbeit zugeordneten
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Der Heimhof – auch als Einküchenhaus bekannt – wurde von 1921 bis 1923 von der gleichnamigen Genossenschaft nach Plänen von Otto Polak-Hellwig im 15. Wiener Gemeindebezirk errichtet. Die gesamte Anlage umfasste 25 Kleinstwohnungen, diverse Gemeinschaftseinrichtungen, etwa eine Zentralküche, einen Speisesaal, eine Dachterrasse und Wäschereien. Für die häusliche Arbeit wurden von den Mieter*innen Angestellte bezahlt, so wurde z.B. das Essen über einen Speiseaufzug in die Wohnungen „geliefert“. Familien und Paare wurden im Heimhof nur dann aufgenommen, wenn beide Partner*innen berufstätig waren.
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2. Das Bild des Wohnens Räume, waren ebenfalls Orte der Frau bzw. des bedienenden Hauspersonals. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich das Wohnen in seiner Oberfläche und Ausdehnung stark verändert. Salons und Herrenzimmer des bürgerlichen Wohnens sind innerhalb der verknappten SMART6-Wohngrundrisse, mit denen wir heute konfrontiert sind, nicht mehr wiederzufinden. Doch die Anordnung der Geschlechter und ihrer Rollen in den Praktiken des Bewohnens wurden nicht abgestreift. So ist die Hausarbeit bis heute eine gesellschaftlich weniger sichtbar Arbeit, die vorwiegend von Frauen verrichtet wird oder an weniger privilegierte, oftmals migrierte (Putz) Frauen weiter delegiert wird. Der private, häusliche Raum wurde zwar in den letzten hundert Jahren immer stärker in ökonomische Kreisläufe eingebunden (ähnlich wie der öffentliche Raum), aber drängende Fragen der Reproduktionsarbeit bzw. Hausarbeit konnte dadurch nicht gelöst werden. So schreibt Dolores Hayden „Der Kapitalismus hatte nur diejenigen Aspekte der Hausarbeit vergesellschaftet, die durch profitable Waren oder Dienstleistungen ersetzt werden konnten, die anderen blieben unangetastet.“7 Bis heute wohnen wir daher in überholten Wohnformen, die um das Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit starren Rollenzuweisungen geplant werden. Daraus resultieren zahlreiche Probleme für Frauen und Männer, etwa das Fehlen von Gemeinschaftseinrichtungen oder die Vereinzelung und Isolierung in den häuslichen Sphären. Hayden verweist hier auf die „materiellen Feministinnen“8, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA formierten und schon damals alternative Raumformen für diese Herausforderungen entwickelten. Sie stellten dabei zwei wesentliche Elemente des Industriekapitalismus in Frage: „die räumliche Trennung von privatem Haushalt und öffentlichem Raum sowie die Trennung von
6 Das SMART-Wohnbauprogramm wurde 2012 vom damaligen Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig ins Leben gerufen und hat zum Ziel im geförderten Wiener Wohnbau kostengünstigen Wohnraum auf minimaler Fläche zu schaffen. Seit 1. Oktober 2019 ist bei allen Wohnprojekten in Wien, die im Rahmen von Bauträgerwettbewerben und im Grundstückbeirat beurteilt werden, die Hälfte der Wohnungen als „smarte“ Variante umzusetzen. Nicht alle SMART Wohnungen sind jedoch in ihrer Planung "smart", so steht die Kritik im Raum, das viele SMART Wohnungen einfach klein sind und daher kostengünstiger. 7 Hayden, Dolores: Eine revolutionäre Neuordnung der Hausarbeit, in: ARCH+ 231 The Property Issue – Von der Bodenfrage und neuen Gemeingütern, Berlin 2018, S. 132–141, hier S. 140. 8 Ebd., S. 134.
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2.1 Schauplatz Wohnen häuslicher Wirtschaft und politischer Ökonomie“.9 Die klare Separierung und Differenzierung zwischen unterschiedlichen Wohn- und Lebensräumen durch materielle Barrieren (Wände, Türen, Flure) sowie zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen erschwert das Aufbrechen gesellschaftlich normierter Rollenbilder und ihrer zugeteilten Tätigkeitsund Wohnbereiche. Die Ökonomisierung des Haushalts brachte zahlreiche neue Objekte, die für ein angemessenes Wohnen scheinbar unverzichtbar wurden. Bereits im bürgerlichen Wohnen des 19. Jahrhunderts herrschte ein Überfluss an Gegenständen, die die Atmosphären unterschiedlicher historischer Stile reproduzierten, ähnlich wie heute Designvorlieben (Shabby Chic, Landhaus, Skandinavien etc.) über Oberflächen und Objekte bedient werden. Die Anhäufung von Objekten des Wohnens wurde je nach Epoche dichter oder dünnte sich wieder aus. So zogen in den 1960er Jahren etliche neue Haushaltsgeräte – vom Fernseher bis zum Kühlschrank – in die Wohnungen ein. Und obwohl sich die Anzahl der Geräte seit der Jahrtausendwende wieder verringerte – das Smartphone war nun Fernseher, Telefon und PC in einem –, erfindet der Markt immer neue Variationen von Waren, die für das Bewohnen unverzichtbar erscheinen. Vor allem die Oberflächen und das Erscheinungsbild des Wohnens müssen sich ständig erneuern, um mit unterschiedlichsten Trends mithalten zu können. Die tiefe Verschränkung des Wohnens mit einem ausgeprägten Warenkonsum ist nicht mehr aufzulösen.
2.1.2 Der private Schauplatz Bestimmte Praktiken und Rituale des Wohnens sind historisch gewachsen, wurden über Jahrhunderte erlernt und eingeübt und halten sich beharrlich in der Wohngeschichte der westlichen Kultur. Die Privatheit im Wohnen ist ein solcher Komplex von Praktiken, die bis heute eng mit der Idee von Wohnen verknüpft ist. Der Begriff privat kommt vom lateinischen privare und bedeutet berauben, befreien. Beraubt oder befreit von der Herrschaft versteht sich das Private als das Persönliche, Individuelle, Intime und Unbeobachtete,
9 Ebd.
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2.1 Schauplatz Wohnen häuslicher Wirtschaft und politischer Ökonomie“.9 Die klare Separierung und Differenzierung zwischen unterschiedlichen Wohn- und Lebensräumen durch materielle Barrieren (Wände, Türen, Flure) sowie zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen erschwert das Aufbrechen gesellschaftlich normierter Rollenbilder und ihrer zugeteilten Tätigkeitsund Wohnbereiche. Die Ökonomisierung des Haushalts brachte zahlreiche neue Objekte, die für ein angemessenes Wohnen scheinbar unverzichtbar wurden. Bereits im bürgerlichen Wohnen des 19. Jahrhunderts herrschte ein Überfluss an Gegenständen, die die Atmosphären unterschiedlicher historischer Stile reproduzierten, ähnlich wie heute Designvorlieben (Shabby Chic, Landhaus, Skandinavien etc.) über Oberflächen und Objekte bedient werden. Die Anhäufung von Objekten des Wohnens wurde je nach Epoche dichter oder dünnte sich wieder aus. So zogen in den 1960er Jahren etliche neue Haushaltsgeräte – vom Fernseher bis zum Kühlschrank – in die Wohnungen ein. Und obwohl sich die Anzahl der Geräte seit der Jahrtausendwende wieder verringerte – das Smartphone war nun Fernseher, Telefon und PC in einem –, erfindet der Markt immer neue Variationen von Waren, die für das Bewohnen unverzichtbar erscheinen. Vor allem die Oberflächen und das Erscheinungsbild des Wohnens müssen sich ständig erneuern, um mit unterschiedlichsten Trends mithalten zu können. Die tiefe Verschränkung des Wohnens mit einem ausgeprägten Warenkonsum ist nicht mehr aufzulösen.
2.1.2 Der private Schauplatz Bestimmte Praktiken und Rituale des Wohnens sind historisch gewachsen, wurden über Jahrhunderte erlernt und eingeübt und halten sich beharrlich in der Wohngeschichte der westlichen Kultur. Die Privatheit im Wohnen ist ein solcher Komplex von Praktiken, die bis heute eng mit der Idee von Wohnen verknüpft ist. Der Begriff privat kommt vom lateinischen privare und bedeutet berauben, befreien. Beraubt oder befreit von der Herrschaft versteht sich das Private als das Persönliche, Individuelle, Intime und Unbeobachtete,
9 Ebd.
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2. Das Bild des Wohnens vor allem aber als das Nicht-Öffentliche. Die Auslegung des Privaten ist einem stetigen Wandel unterworfen und es verändert seine gesellschaftliche Bedeutung und die einhergehenden räumlichen Verschränkungen über die Jahrhunderte immer wieder. Das Verständnis von Privatheit in Form von einzelnen Zimmern, in die sich das Subjekt zurückziehen kann, gab es beispielsweise bis zum 16. Jahrhundert in dieser Form nicht. Das Schreiben von Briefen oder das Aufbewahren von Souvenirs bot einen virtuellen privaten Erinnerungsraum, der sich erst später über Bettkästchen und Truhen in eigene private Räume oder Zimmer verwandelte.10 Die Verbreitung des Leben in Einzelzimmern wird als Errungenschaft des 20. Jahrhunderts betrachtet und hat sich als Wohnnorm in das private Wohnen eingeschrieben. Mit der Durchsetzung dieser Norm kam es auch zur Kritik an der Isolation einzelner Körper, gefangen in einzelnen Zimmern – Versuche, diese aufzubrechen, sind in der Wohngeschichte der letzten Jahrzehnte jedoch meist gescheitert. Aus einer familiären Privatheit ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Erfindung der individuellen Privatsphäre für das Bürgertum hervor. Die Monofunktionalisierung der Räume ermöglichte die Ausbildung einer persönlichen Intimsphäre für die Bewohner*innen. Um diese Intimität zu wahren, wurden damals die privaten Zonen der Wohnung oder des Hauses durch unterschiedliche Schichten von der Öffentlichkeit abgetrennt. Stiegenhäuser und Gänge waren wie Pufferzonen zwischen der Außenwelt und der privaten Häuslichkeit angeordnet. Das Wohnen wurde in Stoffe, Jalousien und Textilien gehüllt und bildete eine Gegenposition zum Außenleben. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war diese Grenze zwischen privat und öffentlich bzw. innen und außen auch noch klar physisch ersichtlich, denn das Private konstituierte sich durch eine sichtbare materielle Grenzziehung zum Öffentlichen. Das Außen war die öffentliche Großstadt, die das Chaos, die Dichte und die Gefahr repräsentierte. Die private Wohnung als Gegen-Ort dazu war die intime Rückzugshöhle und musste sich durch viele Schichten von Stuck, Tapeten, Polsterungen, Tapisserien und schweren Vorhängen von diesem Außen, diesem Anderen abgrenzen. Sabine Pollak beschreibt in Kochen, Essen, Lieben. Architektur des privaten Wohnens (2015) diese bürgerliche Vorstellung des in sich gekehrten Wohnens im 19. Jahrhundert als eine Art Prototyp des Privaten. 10
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Vgl. Pollak, Sabine: Kochen, Essen, Lieben. Architektur des privaten Wohnens, Wien 2015, S. 21.
2.1 Schauplatz Wohnen
Abb. 2_1: Die Wohnung, Plakat für die Werkbundausstellung Stuttgart, 1927.
Das Regelwerk des Wohnens Mit Beginn des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Ideale des privaten Wohnens. Die neue Sachlichkeit räumte mit dem Wahn und Nonsens, wie Le Corbusier es nannte, also mit den vielen Schichten an Material und Gegenständen, auf. 11 Glatte Flächen, Licht und Klarheit waren die Grundpfeiler des modernen Wohnens, das durch Bauausstellungen und
11 Vgl. Nierhaus, Irene: Rahmenhandlungen. Zuhause gelernt. Anordnungen von Bild, Raum und Betrachter, in: Kittlausz, Viktor/Pauleit, Winfried (Hg.): Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung, Bielefeld 2015, S. 55–71.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_2: Hochhausstadt Berlin Nord-Südstraße, Ludwig Hilberseimer, 1924.
Wohnliteratur erst einmal den Wohnenden vermittelt und beigebracht werden musste. Die klare Trennung zwischen Stadt und Wohnung löst sich im visuellen Erscheinungsbild nun auf. Die Zeichnungen Ludwig Hilberseimers aus dem Jahr 1924 für seine Hochhausstadt Berlin verdeutlichen diese Annäherung von Stadt und Wohnraum. Der öffentliche Raum wie auch das Wohnen werden nun neutral und leer dargestellt. Ebenso erscheint das Wohnen visuell demokratischer, aber auch für alle gleichförmiger. Das Private und Öffentliche gleichen sich im Bild an, alles ist hell, transparent, hygienisch und leer. „Auf die verwobenen Höhlen des Privaten folgt die klinische Leere sauberer Luft“, so Sabine Pollak.12 Festzuhalten ist jedoch, dass jede Form von Privatheit, egal ob öffentlich sichtbar oder versteckt hinter Lagen an Vorhängen, immer fest mit Räumen und Dingen verbunden ist. So definieren und fixieren Raumkonstellationen, Materialien, Möbel und Gegenstände, wo und wie wir essen, schlafen, uns erholen, uns reinigen oder unsere Sexualität le12
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Pollak, Sabine: Kochen, Essen, Lieben, S. 17.
2.1 Schauplatz Wohnen
Abb. 2_3: Home Office. Das Bett als hybrider Wohn- und Arbeitsort, Zeichnung von Nicole Marquart (TU Wien), 2020.
ben. Beatriz Colomina spricht daher von einem Einteilungssystem des Hauses (Wohnens), das gewisse Dinge festlegt und damit auch bewertet: „The house is a mechanism for classification. It collects views and, in doing so, classifies them.“13 Die Praktiken des Wohnens folgen einem definierten Regelwerk, das über Geschriebenes, Überliefertes oder Bilder vermittelt und erlernt wurde und wird. Diese Konventionen, also akzeptierte Regeln im Hinblick auf Moral, Hygiene, Sicherheit, Eigentum und Geschlechterrollen, werden unter anderem über Materialität – also
13 Colomina, Beatriz: The Split Wall. Domestic Voyeurism, in: dies. (Hg.): Sexuality & Space, New York 1992, S. 72–129, hier S. 113.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_4: Das Schlafzimmer meiner Frau, publiziert von Adolf Loos, 1903.
Architektur – sichergestellt, wie wiederum Pollak betont: „Architektur produziert und reproduziert somit auch die gängigen Modelle von Geschlechterverhältnissen und Vorstellungen von Differenz, Rollen, Zuweisungen und geschlechtlicher Identität.“14 Die Programmierung der Wohnräume, ihre materiellen Beschränkungen und die präzise Auswahl von Objekten produzieren mögliche Handlungsabläufe des Wohnens und gestalten akzeptierte Praktiken von Privatheit. Das Wohnen ist also nicht ein regelfreier Rückzugsraum, in dem das Subjekt tun kann, was es möchte. Festgelegte Routinen, Regeln und Codes bestimmen auch das private Wohnen. Diese äußern sich in Wohnpraktiken, die sich hartnäckig und relativ konstant über Jahrhunderte hinweg durch erlernte, überlieferte, visualisierte und räumliche Narrative manifestiert haben. „Der Ausschluss alles Öffentlichen bedeutet nicht zwingend, dass weni-
14
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Pollak, Sabine: Kochen, Essen, Lieben, S. 9.
2.1 Schauplatz Wohnen ger Regeln gelten. Auch das Private benötigt Arrangements, an die sich Mitspielende zu halten haben.“15
Das Bett als hybrider Wohnort Das Bett als intimster Privatort, die innerste Zwiebelschicht des Wohnens, hat sich – nicht immer freiwillig – von einem unsichtbaren Ort des Wohnens zu einem hybriden Ort des Wohnens und Arbeitens transformiert. Beatriz Colomina hat das 21. Jahrhundert auch als das Jahrhundert des Bettes bezeichnet, weil wir darin nicht mehr nur schlafen, lieben und uns erholen, sondern auch und gerade arbeiten. Andreas Rumpfhuber schreibt: „Das Bett ist heute paradigmatischer Ort zeitgenössischer Formen von Wissens- und Kreativarbeit.“16 In beengten Wohnverhältnissen wird das Bett dank des Laptops zur prekären Arbeitsstätte und bleibt zugleich Ort der Erholung und Intimität. War das Schlafzimmer mit Ehebett historisch gesehen ein Ort von Erholung, Gesundheit und geregelter Sexualität, so ist das Bett heute öffentlich sichtbare Bühne geworden. 1903 veröffentlicht Adolf Loos Fotografien aus der gemeinsamen Privatwohnung in der Bösendorferstraße in Wien unter dem Titel Das Schlafzimmer meiner Frau.17 Seine damalige Ehefrau Lina Loos (Carolina Obertimpfler) wird im Artikel namentlich nicht genannt, durch die Betitelung der Fotografien wird ihr jedoch der private Schlafraum zugeordnet. Neben den weißen Angorafellen und Vorhängen wird Lina Loos, ohne bildlich anwesend zu sein, zum weiteren Objekt in diesem zum Kunstwerk transformierten Schlafzimmer. Der weiße, reine Raum mit dazugehörigem Titel verkörpert somit die ideale Weiblichkeit und wird gleichzeitig durch Vorhänge und Felle von seiner Funktionalität entbunden und zum Kunstwerk des Meisters. Heute ist das Zeigen und Präsentieren von Schlafräumen kein rein voyeuristischer Akt mehr, der eine private Intimsphäre ausstellt, sondern vielmehr ist das Bett eine weitere Bühne für das Inszenieren von Wohnen, bewohnenden Subjekten 15 Ebd., S. 12. 16 Rumpfhuber, Andreas: The working glamour, in: Nierhaus, Irene/Heinz, Kathrin (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bd. 3, Bielefeld 2016, S. 349–360, hier S. 349. 17 Loos, Adolf: Das Schlafzimmer meiner Frau, in: Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere, Heft 1, Wien 1903.
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2. Das Bild des Wohnens und Wohnobjekten geworden. Das Bett und der Schlafraum stehen heute für ein Lifestyle-Konzept, das Geborgenheit und Wohlfühlatmosphäre vermitteln soll.
Auflösung und neue Abgrenzungen Giorgio Agamben unterscheidet in Herrschaft und Herrlichkeit (2010) zwischen dem Haus, oikos, und der Stadt, polis. Diese Differenzierung öffnet die klassischen Kategorien zwischen dem Privat-Häuslichen und dem Öffentlich-Städtischen, insofern er die Ordnung des Hauses und die Ordnung der Stadt als Ökonomien von Macht weiterdenkt. Der oikos ist „weder ein modernes Einfamilienhaus noch einfach die erweiterte Familie […], sondern ein komplexer Organismus, ein Geflecht aus heterogenen Verhältnissen“.18 Dieser Organismus ist eine Form von Verwaltung, die Entscheidungen und Anordnungen trifft. Die oikonomia, das sich aus oikos (Haus) und nomos (Gesetz) zusammensetzt, kann als die Verwaltung oder eben Ordnung des Hauses verstanden werden. „Insofern stellt sich die oikonomia als zweckmäßige Organisation, als Verwaltungstätigkeit dar, die keiner anderen Regel verpflichtet ist als dem geordneten Funktionieren des betreffenden Hauswesens oder Unternehmens.“19 Das Wohnen beschreibt die Ordnung des Hauses und ist eine an ökonomischen Prinzipien orientierte Verwaltung von Handlungen, Individuen und Objekten und somit auch eine Ökonomie von Macht. Die polis als Gegensatz dazu ist die Ordnung der Stadt und stellt Zusammenhalt über Politik her. Agamben betont durch die Begrifflichkeit von oikos die administrativen, organisatorischen, verwaltenden Aspekte der Ordnung des Hauses. In modernen westlichen Gesellschaften hat sich das Wohnen auf das Organisieren, Ordnen und Verwalten von Oberflächen, Handlungen und Objekten im Haus bzw. in der Wohnung beschränkt und somit zunehmend entpolitisiert. Konflikte, Uneindeutigkeiten oder Interventionen sind nicht vorgesehen in diesem geregelten Ordnungssystem. Oder wie Peter Mörtenböck 2013 in einem Vortrag ausgeführt hat: „Die Ordnung des Hauses verdeckt damit jede Möglichkeit für Politik und stellt Wohnen, so
18 19
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Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2010, S. 32. Ebd., S. 33.
2.1 Schauplatz Wohnen wie viele andere Bereiche unseres Lebens, unter Hausarrest, das Wohnen wird zu einem Einrichten und Organisieren statt zu einem Verhandeln und Entscheiden.“20 Die erlernten Abgrenzungen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sind Begrifflichkeiten, die sich auflösen, verdichten und zu anderen Vorstellungen transformieren: Ordnung, Sichtbarkeit, Verwaltung, Einsamkeit, Transparenz und Unsichtbarkeit bezeichnen die komplexen und vielschichtigen Zustände des Wohnens innerhalb und außerhalb von Wänden, Plattformen, Fluren und Displays. Die umfassende Sichtbarkeit des alltäglichen Wohnens auf unterschiedlichsten Medien hebt jedoch nicht die Ordnung des Wohnens als Machtgefüge auf. Die immer sichtbaren, inszenierten, perfekten Wohlfühlinterieurs und das Zur-Schau-Stellen von Wohnhandlungen üben stellvertretend Herrschaft aus und halten die Ordnung des Wohnens/Hauses aufrecht. Agamben argumentiert, dass die Struktur der Macht auf ihrem ökonomischen Prinzip der Stellvertretung beruht, in dem die Ökonomie eine Praxis ist, die anordnet, einteilt, darstellt, umsetzt und so die herrschende Macht begründet. Das leere Zentrum der Macht benötigt Zeremonie, Protokoll und Beifall und zeigt sich in Pracht, Atmosphäre und Herrlichkeit, um Herrschaft zu etablieren.21 Dieses Modell hat sich im westlichen Regieren etabliert und im Wohnen Ausdruck gefunden. Wohnen ist somit ein geordnetes Spiel des Darbietens und Zusehens auf unterschiedlichsten Ebenen. In diesem Spiel hat sich die zuvor als Privatheit bezeichnete Idee zur Sphäre persönlicher Individualität gewandelt. Individualität kann durch unterschiedliche Repräsentationsformen vorangetrieben werden, sie ist jedoch nicht als Handlungsfreiheit des Individuums zu lesen. Auch das Subjekt ordnet sich in gesellschaftlichen und räumlichen Systemen ein und agiert und präsentiert sich gemäß der in ihnen geltenden Konventionen und Regeln. Viele der erlernten und vertrauten Praktiken des Wohnens sind auch in diesen neuen Subjektivierungsprozessen zu erkennen: das Einüben von Rollenbildern, das Bewohnen von Raumkonfigurationen bis hin zu Status- und Machtdemonstrationen über Objekte und den sie besitzenden Subjekten.
20 Peter Mörtenböck: Wohnen im Haushalt der Märkte, Vortrag an der Universität Bremen, April 2013. 21 Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit, S. 32.
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2. Das Bild des Wohnens Individualität baut jedoch immer auch auf der Idee von Abgrenzung zu etwas Anderem auf. Auch wenn sich alte Grenzen zwischen dem, was öffentlich sichtbar ist, und dem, was privat, verdeckt bleiben soll, aufgelöst haben, tauchen im digitalen Zeitalter nun neue Grenzen auf. Das Andere, von dem es sich nun zu unterscheiden gilt, ist nicht mehr die unübersichtliche Öffentlichkeit der Großstadt, das Andere ist all das, was nicht innerhalb der akzeptierten Ordnung steht: Schmutz, Krankheit, Hausarbeit, Unordnung, Ausbeutung usw., um nur einige Phänomene zu nennen. Das bedeutet, dass das Prinzip der Teilung des Raumes durch die Auflösung der Kategorien privat und öffentlich, oikia und polis, Großstadt und Wohnraum nicht aufgehoben wurde, sondern andere Grenzziehungen und Ordnungssysteme entstanden sind. Über das Wohnen werden Distinktionen geschaffen, die nicht ausschließlich räumlich sind, sondern auch eine Abgrenzung von anderen Personen, Kulturen oder Klassen schaffen können. Wohnen ist ein Apparat aus Grenzziehungen, der auf mehreren Ebenen zugleich Unterscheidungen treffen und Abgrenzungen vornehmen kann. Die neuen Ordnungssysteme beruhen auf einer bestimmten Ästhetik, Formen von Selbstdarstellung, dem Präsentieren von einer Vielzahl an Objekten sowie der Idee von Prestige durch ausgewählte Handlungen. Diese Ordnungen schaffen Grenzlinien, die über Teilhabe, Anerkennung und Zugang entscheiden. Die Teilhabe an Gemeinschaft, das Recht auf Erholung und Intimität, die (Un-)Möglichkeiten des Konsums werden durch diese und andere Grenzen und Ordnungen neu festgelegt. „The classical distinction between inside and outside, private and public, object and subject, becomes convoluted“, schreibt Colomina.22 Es kann also festgehalten werden, dass die Durchdringung und Auflösung der Kategorien von Öffentlichkeit und Privatheit kaum zu einer Neuoder Andersprogrammierung der Wohnräume geführt hat, dass jedoch neue Grenzziehungen und Ordnungssysteme entstanden sind, die Macht für sich beanspruchen und somit bestimmte Formen des Wohnens definieren. Wir finden nun einerseits wohnzimmerartige Lounge-Möbel im öffentlich-städtischen Raum, die uns das Gefühl von Geborgenheit und Häuslichkeit vermitteln wollen, jedoch oft Privateigentum auf Privatboden sind. Anderseits begegnen uns in den unterschiedlichsten Medien in-
22
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Colomina, Beatriz: The Split Wall. Domestic Voyeurism, S. 84.
2.1 Schauplatz Wohnen szenierte Formen des Wohnens wie z.B. Bildwelten von Pölstern, Möbeln, Betten und Couchformationen. Doch die scheinbare Transparenz des Wohnens erzählt kaum neue oder alternative Wohngeschichten, sondern zeigt das Wohnen als ökonomische Ordnung unserer Lebenswelten. Das sichtbare Wohnen, das durch klare Grenzen von unsichtbaren Wohnformen abgetrennt wird, zeigt ein zur Schau gestelltes Wohnen, das Subjekt inszeniert sich dabei gekonnt in unterschiedlichsten Wohnräumen und gibt vor, alles zu zeigen – von der Vorratskammer bis zur individuellen Wahl der weiß drapierten Bettdecken im Schlafzimmer. Dieses sichtbare öffentliche Wohnen zeigt jedoch nur akzeptierte Praktiken und Ordnungen des Wohnens. Aufgeräumte Küchen, liebevolle Mütter, dekorierte Wohnzimmer und sortierte Garderoben repräsentieren einen inszenierten, verklärten Sehnsuchtsort. Fragen von Macht, Geschlecht, Pflegearbeit, Leistbarkeit, Gewalt und Hausarbeit verbleiben im Unsichtbaren.
2.1.3 Wohnen als Repräsentationsform Dass Wohnen weit mehr ist als ein Dach über dem Kopf oder die funktionale Aufteilung von Tätigkeiten in Räumen, schreibt bereits 1970 Lucius Burckhardt in seinem Aufsatz Wohnbedürfnisse, in dem er die Wohnung wie eine Bühne der Gesellschaft darstellt: „Wir sprechen hier von den Wohnbedürfnissen des Menschen und müssen sogleich präzisieren, dass damit nicht der Schutz vor den Unbilden der Witterung gemeint sein kann, sondern die Inszenierung des Menschen bei seinem Auftritt im Leben […].“23 Somit ist das Wohnen eng mit dem Zeigen, Ausstellen und Inszenieren von Objekten und Subjekten verflochten. Wohnräume sind in diesem Sinne also auch Ausstellungsräume. Diese Wechselbeziehung zwischen Wohnen und Ausstellen ist auch historisch verankert. „In der Geschichte der Moderne kulminiert erstmals Ende des 19. Jahrhunderts das Domiziliare im Ausstellen, wie auch das Ausstellende im Domizil.“24 So wurde das Wohnen einerseits selbst zum Ausstellungsgegenstand, z.B. in Form von als Musterhäuser errichteten Wohnhäusern (Haus Behrens,
23 Burckhard, Lucius: Wohn-Bedürfnisse (1970), in: Fezer, Jesko/Schmitz, Martin (Hg.): Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin 2004, S. 260–269, hier S. 260. 24 Nierhaus, Irene: Rahmenhandlungen, S. 55.
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2.1 Schauplatz Wohnen szenierte Formen des Wohnens wie z.B. Bildwelten von Pölstern, Möbeln, Betten und Couchformationen. Doch die scheinbare Transparenz des Wohnens erzählt kaum neue oder alternative Wohngeschichten, sondern zeigt das Wohnen als ökonomische Ordnung unserer Lebenswelten. Das sichtbare Wohnen, das durch klare Grenzen von unsichtbaren Wohnformen abgetrennt wird, zeigt ein zur Schau gestelltes Wohnen, das Subjekt inszeniert sich dabei gekonnt in unterschiedlichsten Wohnräumen und gibt vor, alles zu zeigen – von der Vorratskammer bis zur individuellen Wahl der weiß drapierten Bettdecken im Schlafzimmer. Dieses sichtbare öffentliche Wohnen zeigt jedoch nur akzeptierte Praktiken und Ordnungen des Wohnens. Aufgeräumte Küchen, liebevolle Mütter, dekorierte Wohnzimmer und sortierte Garderoben repräsentieren einen inszenierten, verklärten Sehnsuchtsort. Fragen von Macht, Geschlecht, Pflegearbeit, Leistbarkeit, Gewalt und Hausarbeit verbleiben im Unsichtbaren.
2.1.3 Wohnen als Repräsentationsform Dass Wohnen weit mehr ist als ein Dach über dem Kopf oder die funktionale Aufteilung von Tätigkeiten in Räumen, schreibt bereits 1970 Lucius Burckhardt in seinem Aufsatz Wohnbedürfnisse, in dem er die Wohnung wie eine Bühne der Gesellschaft darstellt: „Wir sprechen hier von den Wohnbedürfnissen des Menschen und müssen sogleich präzisieren, dass damit nicht der Schutz vor den Unbilden der Witterung gemeint sein kann, sondern die Inszenierung des Menschen bei seinem Auftritt im Leben […].“23 Somit ist das Wohnen eng mit dem Zeigen, Ausstellen und Inszenieren von Objekten und Subjekten verflochten. Wohnräume sind in diesem Sinne also auch Ausstellungsräume. Diese Wechselbeziehung zwischen Wohnen und Ausstellen ist auch historisch verankert. „In der Geschichte der Moderne kulminiert erstmals Ende des 19. Jahrhunderts das Domiziliare im Ausstellen, wie auch das Ausstellende im Domizil.“24 So wurde das Wohnen einerseits selbst zum Ausstellungsgegenstand, z.B. in Form von als Musterhäuser errichteten Wohnhäusern (Haus Behrens,
23 Burckhard, Lucius: Wohn-Bedürfnisse (1970), in: Fezer, Jesko/Schmitz, Martin (Hg.): Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin 2004, S. 260–269, hier S. 260. 24 Nierhaus, Irene: Rahmenhandlungen, S. 55.
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2. Das Bild des Wohnens 1901, Darmstadt) oder ab den 1920er Jahren dann in Form von Bauausstellungen (Stuttgart 1927, Wien 1932). Anderseits stellte schon das frühe Bürgertum seinen Wohlstand in seinen Wohnungen aus, etwa in Vitrinen. Aber auch der Wohnraum selbst kann als Bühne für (Re-)Präsentation verstanden werden. Objekte, die gewisse Zugehörigkeiten, Abhängigkeiten, aber auch Status symbolisieren, sind wichtige Bestandteile dieses Zu-sehen-Gebens. Genauso sind die handelnden bzw. wohnenden Subjekte Teil des Ausgestellt-Seins. Irene und Andreas Nierhaus fassen diese Prozesse des Sehens und Zeigens im Wohnen als ein Zeigesystem des Sozialen.25 So ist das Wohnen also nicht nur ein Ort des Aufenthalts und des Handelns, sondern auch des Ausstellens. Verstehen wir die Inszenierung von Wohnräumen und Subjekten als eingebettet in ein solches Zeigesystem, so ist mit der Konstellation von Raum – Subjekt – Objekt auch immer die Rolle der Betrachter*innen verbunden, also derjenigen, denen gezeigt wird oder für die inszeniert wird. Um diese Betrachter*innen zu erreichen, bedarf es unterschiedlichster Medien, die das Wohnen über Filme, Texte und vorrangig Bilder wiedergeben dokumentieren und ausstellen. Für die Betrachter*innen des Schauspiels Wohnens wird Bewohnbarkeit vor allem durch Objekte und Handlungen simuliert. Die Repräsentation bestimmter Praktiken des Wohnens mit ihren zugehörigen Werte- und Machtsystemen steht bei der Inszenierung im Vordergrund. Das tatsächliche Bewohnen, das Spuren der Benutzung hinterlässt sowie mögliche Konflikte evoziert, wird hingegen ausgeklammert. Irene und Andreas Nierhaus bezeichnen diesen Wohn-Ort des Ausstellens und Zeigens daher als Schauplatz. Der Schauplatz Wohnen ist ein Ort gesellschaftlicher Verhandlungen und gesellschaftspolitischen Handelns. Durch das Vorzeigen eines „richtigen“ (Be-)Wohnens wird ein Werte- und Normensystem etabliert, das erlernt, übernommen und reproduziert wird. „Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.“26 Der Schauplatz des Wohnens reproduziert und modifiziert sich immer wieder, er besitzt keine bestimmte, festgelegte Form, sondern repräsentiert und vermittelt Werte- und Normvorstellungen von Gesellschaft, die sich ins Wohnen eingeschrieben haben und einschreiben. Neben bestimmten Raumkonfigurationen und Raumabfolgen des Wohnens spielt auch das Subjekt als Bewohner*in eine wesentliche 25 26
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Vgl. Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas: Wohnen Zeigen, S. 21. Ebd., S. 21.
2.1 Schauplatz Wohnen Rolle. In der Vermittlung von Architektur und somit auch von Wohnen verschwand der Mensch zu Beginn der Moderne als als aktives, sichtbares Wohnsubjekt aus den über Bilder vermittelten Wohnräumen. Die entleerte Architektur zeigte einen scheinbar neutralen Bildraum und folgte so einer exakten Ästhetik. Das Objekt, also das Gebäude bzw. der Wohnraum an sich, wurde zum Hauptdarsteller. Gegenstände wie ein aufgeschlagenes Buch oder ein Blumenstrauß deuteten nur noch Spuren des Bewohnens an. Bis heute ist der Mensch auf Bildern im Fachdiskurs der Architektur eher eine Maßstabshilfe als ein*e aktive*r Bewohner*in. Verlässt man jedoch die Fachpublikationen und blickt in Alltagsmedien, wie z.B. auflagenstarke Wohnzeitschriften, Einrichtungs-Blogs oder followerstarke Social-Media-Accounts zum Thema Home & Interior, so spielt das Subjekt eine bedeutende Rolle im Ausstellen und Zeigen von Wohnen. Der menschliche Körper wird tief verwoben mit Objekten des Wohnens präsentiert und erzählt oft schon vertraute Narrative des Wohnens. Das Subjekt als zeigender und lernender Körper nimmt in den populären digitalen Wohnbildwelten des 21. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle ein.
Objekte des Wohnens Aber auch die Objekte des Wohnens, etwa Tapeten, Möbel, Accessoires und Dekorgegenstände, spielen eine wesentliche Rolle am Schauplatz Wohnen. Sie sind Bestandteil eines Ordnungssystems und entscheiden mit über Prestige, Zugehörigkeit und Klasse. In Fragen der Repräsentation und Selbstdarstellung der Bewohner*innen kommt ihnen also eine wesentliche Bedeutung zu. So stehen Wohnobjekte, die bewohnenden Subjekten und die dafür vorgesehenen Wohnräume in vielfältigen Beziehungen zueinander. Dabei sind die Objekte des Wohnens jedoch nicht tote Materie, etwas Passives oder Unbearbeitetes. Im Gegenteil, den oft als bloßen Requisiten missverstandenen Objekten auf der Bühne des Wohnens ist eine gewisse Handlungsfähigkeit und Wirkmacht zu eigen. Jane Bennet beschreibt diese Objekte in Vibrant Matter. A Political Ecology of Things (2010) als lebhafte Materie, die auch materielle Handlungsmacht besitzt. Hier ist allerdings festzuhalten, dass diese Vitalität der Materie nicht durch menschliches Handeln entsteht, sondern den Objekten selbst innewohnt. Dinge oder materielle Anordnungen besitzen also die Fähigkeit oder die Wirkmacht
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2. Das Bild des Wohnens zu handeln und können somit auf ihre Umwelt einwirken. „Ding-Macht verweist auf die merkwürdige Fähigkeit gewöhnlicher, von Menschen erschaffener Gegenstände, über ihren Objektstatus hinauszuwachsen und Ansätze der Unabhängigkeit und Lebendigkeit zu entalten, die das Außen unserer eigenen Erfahrung konstituieren.“27 Die Dinge des Wohnens stehen also in Beziehung zueinander und ihre materielle Handlungsmacht fließt durch uns hindurch oder um uns herum. Es besteht also auch eine Wirkmacht, die von nicht-menschlichen Dingen ausgeht. Diese Erkenntnis ist außerordentlich wichtig, denn wird (politische) Handlungsmacht nur Menschen zugestanden, bleibt dadurch ein breites Spektrum an Kräften unerkannt. Bennet argumentiert weiter, dass instrumentalisierte Materie zerstörerisch wirkt, wenn sie z.B. auf reine Konsum- oder Eroberungsfantasien reduziert wird.28 Nehmen wir die Objekte des Wohnens jedoch auch als lebhafte Materie war, die uns berührt, verändert und begleitet, dann verändert sich auch der Umgang mit ihnen. Bennet verfolgt in ihrer Argumentation vor allem einen ökologischen Ansatz, der auch im Feld der Architektur, des Bauens und des Wohnens wichtige Veränderungen mit sich bringen könnte. Auch Graham Harmans Konzept der objektorientierten Philosophie schließt hier an. Harman sieht die absolute Vormachtstellung des Menschen und die daraus resultierende Subjekt-Objekt-Fixierung als problematisch an. „Auf den waghalsigen Sprung zwischen Subjekt und Objekt fixiert, sagt sie [die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt] uns nichts über die Kluft, die den Baum von der Wurzel oder das Bindegewebe vom Knochen trennt.“29 Überträgt man diese Überlegung auf das Wohnen, so ließe sich konstatieren, dass die Fixierung auf das Subjekt (Bewohner*in) in seiner Beziehung zu den umgebenden Wohnobjekten (Möblierung, Wände etc.) den komplexen Konstellationen des Wohnens nicht gerecht werden kann. Denn die Beziehungen zwischen den Objekten produzieren ein ganzes Universum von Realitäten.30 Der Mensch ist hier nur eines der vielen Dinge,
27
ennett, Jane: Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge, Berlin B 2020, S. 21. 28 Vgl. ebd., S. 10. 29 Harman, Graham: Objekt-orientierte Philosophie, in: Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 122–136, hier S. 123. 30 Der Begriffs des Objekts ist bei Harman sehr weit gefasst, so schreibt er: „Alles innerhalb wie außerhalb des Geistes ist ein Objekt.“ In: Harman, Graham: Vierfaches Objekt, Berlin 2011, S. 176.
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2.1 Schauplatz Wohnen die für das Dasein (das Wohnen) zentral sind, und nimmt bei Harman keine Sonderstellung mehr ein. Vergessen wir all die anderen Dinge, die nicht in unmittelbarem Bezug zum Subjekt stehen oder von ihm gerade nicht wahrgenommen werden, bemerken wir auch deren Einfluss auf unsere Realität nicht mehr, ähnlich dem Wetter, das uns beeinflusst, ohne dass wir es immer direkt registrieren. Es gibt also auch nonhumane, unbekannte Beziehungen zwischen Dingen, die uns beeinflussen. Verstehen wir die Bilder des Wohnens als Objekte, die in Beziehung zu anderen Objekten oder auch Menschen stehen, dann bemerken wir auch ihre Wirkkraft oder ihren Einfluss auf bestimmte Prozesse des Wohnens. Dabei ist nicht unbedingt ausschlaggebend, was das Bild zeigt, sondern vielmehr die Beziehung, die das Bild zu anderen Objekten eingeht. Es kann also festgehalten werden, dass unterschiedlichste Objekte – insofern sie lebhafte Materie sind – das Bewohnen, sowie die Wohnenden beeinflussen.
Abb. 2_5: Wohnpädagogik: Puppenküche nach dem Vorbild einer Küche im Gemeindebau in der Ratschkygasse in Wien, ca. 1930er Jahre.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_6: Wohnpädagogik: Andreas Haus, LEGO® Friends Spielset, 2021. Abb. 2_7: Barbies Malibu-Traumhaus auf Airbnb, 2019.
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2.1 Schauplatz Wohnen
2.1.4 Wohnwissen und Wohnideale Im Zeigen von Wohnen wird gesellschaftliches Wohnwissen – wie es Irene und Andreas Nierhaus nennen – erzeugt. Damit ist nicht ein WohnKnow-how von Expert*innen und Planer*innen gemeint, sondern das im eingeübten Handeln wohnender Menschen sich manifestierende Wissen über das Wohnen, das aus Erfahrungen und Vermittlungsformen entstanden ist. „Dieses ‚natürliche‘ Wissen ist selbst schon Ergebnis eines historisch langen gesellschaftlichen Prozesses, in dem sich heutiges Wohnen als Anordnungsgefüge aus sozialen, gesellschaftspolitischen, kulturellen und ästhetischen Diskurspolitiken und Repräsentationsstrategien formiert hat und weiter formiert.“31 Das Wissen über ein angemessenes, gesellschaftlich akzeptiertes Wohnen ist ein machtvolles Geflecht aus Erfahrungen, Begehren und Artikulationen zu Themen wie Körperhygiene, Sexualität, Hausarbeit, Geschlechterrollen und weiteren Bereichen, die das Wohnen umfasst. So ist Wohnwissen kein statisches, festgeschriebenes Wissen, sondern es „ist explizit und implizit sowie manifest, latent und plural, es versammelt und ordnet institutionelles, öffentliches, privates, persönliches und verschwiegenes Wissen“.32 Unterschiedliche Medienformate produzieren und vermitteln Wohnwissen, das nun im eigenen Bewohnen bewusst oder unbewusst angewendet und praktiziert wird. Durch diese Reproduktion von Wohnwissen etablieren sich auch bestimmte Hegemonien des Wohnens, also gesellschaftlich akzeptierte Praktiken des Zusammenlebens in definierten Raumkonstellationen.
Modelle des Wohnens Das Wissen über das Wohnen wird auch durch dezidierte Wohndidaktik oder -pädagogik vermittelt und so von latentem Wissen in ein permanentes Wohnwissen übertragen. So wurde und wird anhand des seit dem 16. Jahrhundert existierenden Puppenhauses Mädchen spielerisch die
31 Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas (Hg.): Wohnen zeigen, S. 12. 32 Nierhaus, Irene: Seiten des Wohnens – Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, 2018, S. 18–28, hier S. 23.
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2. Das Bild des Wohnens Haushaltsführung nähergebracht, wobei eine heutige Variante des Puppenhauses beispielsweise Andreas Haus aus der Lego-Friends-Reihe ist. Die speziell für die Zielgruppe Mädchen in türkis, lila und pink getauchten Spielhäuser des dänischen Spielzeugherstellers Lego werden zwar politisch korrekt von Bewohner*innen mit unterschiedlicher Hautfarbe bewohnt, an den Wohnarchitekturen und den darin möglichen Handlungen hat sich jedoch nicht viel geändert: Muffins backen, staubsaugen und Kaffee trinken sind einige der möglichen Wohntätigkeiten, die um weitere Konsumobjekte wie den eigenen Gartenpool oder das Musikzimmer zum Schlagzeugspielen ergänzt werden können. Das Puppenhaus als wohnpädagogisches Instrument findet sich auch 2019 in der Marketingaktion Barbie’s Malibu Dreamhouse von Airbnb wieder. Für 60 Dollar pro Nacht (anlässlich des 60. Geburtstags von Barbie) erhielt man die einmalige Gelegenheit, eine Nacht in Barbies Traumhaus im kalifornischen Malibu zu verbringen. Auch Mattel, die Firma, die Barbie 1959 auf den Markt brachte, versuchte, Barbies dünnes, blondes Hausfrauen-Image mit einer breiteren Palette von neun Hauttönen, variablen Körperformen (Barbie bleibt dabei allerdings dünn) und einem aufgeschlossenen Charakter (Barbie interessiert sich nun für LGBT-Rechte und hat ehrgeizige Karriereziele in der Raumfahrt) zu transformieren. Barbies Traumhaus ist, wie die Airbnb-Villa am Meer zeigte, jedoch noch immer rosa und repräsentiert tief verwurzelte Wohnideale von Luxus und Normativität: So bot die Villa einen pinken Sportplatz auf dem zweiten Sonnendeck, einen Infinity-Pool, ein privates Kino und einen komplett ausgestatteten Kleiderschrank voller bekannter Barbie-Outfits:33 das Puppenhaus zum realen Nachleben von Wohnidealen einer hochkapitalisierten Plattformwelt, in der Wohnen vor allem Konsum und Lifestyle bedeutet. Modelle des Wohnens generieren Wohnwissen über geschlechternormative Rollenbilder, idealisierte Raumzuschreibungen, passende Möblierungsobjekte und angemessenes Wohnverhalten. Sie können dabei in unterschiedlichen räumlichen und medialen Formen in Erscheinung treten: von Wohnliteratur wie Benimmfibeln, Wohnratgebern oder Wohnzeitschriften über Bauausstellungen und Spielzeug bis zu Entertainmentformaten im TV und auf digitalen Plattformen. So hat die
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gl. Krejs, Bernadette: Ideals of the Home, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, V Helge (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 289– 296, hier S. 295.
2.1 Schauplatz Wohnen Streaming-Plattform Netflix 2019 mit der Aufräum-Docutainment-Show Tidying Up with Marie Kondo ein solches Wohnmodell geschaffen. Die als Entertainment verpackte Show ist ein wohnpädagogisches Werkzeug, das Wohnwissen über richtiges Aufräumen im eigenen Zuhause vermitteln soll. Basierend auf Marie Kondos 2011 erschienenen weltweiten Bestseller The Life-Changing Magic of Tidying Up ging die Show 2021 mit Sparking Joy with Marie Kondo in die Fortsetzung. Kondo besucht in ihrer Show amerikanische Haushalte und bringt deren Bewohner*innen durch ihre Copyright-geschützte KonMari-Methode Aufräumen bei. In sechs Schritten weist Kondo den Weg zum rich-
Abb. 2_8: Modelle des Wohnens: Die Bauausstellung, Eröffnung der Werkbundsiedlung Wien, 1932.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_9: Modelle des Wohnens: Wohnratgeber, Cover des Buches So wohnt sich’s gut von Grete Borgmann, 1957.
tigen Wohnen: Begonnen mit Commit Yourself to Tidying Up über Imagine Your Ideal Lifestyle landen die (Messie-)Bewohner*innen schließlich bei Kondos bekannter Ausmist-Frage Ask Yourself If It Sparks Joy?. Durch das genaue Vorführen von Falttechniken oder das Ausmisten und Wegschmeißen nach vorgegebenen Normen und Regeln wird das unkontrollierte Chaos beseitigt und in eine Ordnung der Dinge überführt. Am Weg ins Wohnglück durch Aufräumen verspricht Marie Kondo Ekstase und Vergnügen – „spark joy and passion for tidying“.34 Die begeisterten Zuseher*innen können vor ihrem Bildschirm mitverfolgen, wie man richtig schläft, isst oder eben aufräumt. Verpackt im easy-watching-Format erlernen wir fast zufällig und beiläufig, wie „richtiges“ Wohnen aussieht.
34
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https://konmari.com (28.2.2022).
2.1 Schauplatz Wohnen
Abb. 2_10: Modelle des Wohnens: Aufräum-DocutainmentShow, Tidying Up with Marie Kondo auf der StreamingPlattform Netflix, 2019. Abb. 2_11: Show me how to live, Collage von Maria Groiss & Bernadette Krejs, 2021.
Bilder des Wohnens Wohnwissen wird über unterschiedliche Medien vermittelt, ob über eine TV-Show oder eine Wohnzeitschrift, und Bilder spielen dabei eine wesentliche Rolle. Dies scheint dafür zu sprechen, dass Text alleine den Wohnraum, aber vor allem die Wohnerfahrung, nicht ausreichend erfassen kann – erst die Bildwelten des Wohnens transportieren das Erlebnis und vor allem die Atmosphäre des Wohnens mit. „Die Vermittlung des Wohnens artikuliert sich aufgrund ihrer Medien und deren Genres oft auf implizite, integrative und empathische Weise in Stimmungen, Affekten und Gefühlen, die auf diesem Wege Wohnwerte mit dem Erlebnis und somit dem Erleben des Subjekts und als Subjekt verknüpfen.“35 Bilder sprechen uns an und sind weit mehr als eine Aneinanderreihung von Wohnszenen, sie sind mediale Überträgerinnen von Wohnwissen. Das
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Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas: Wohnen Zeigen, S. 29.
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2. Das Bild des Wohnens bedeutet, Bilder produzieren und reproduzieren Normen und tragen zur Verfestigung von Wissen bei. Die Bilder des Wohnens benötigen ein Medium, in das sie eingebettet sind, über das sie verbreitet und in die Welt verstreut werden. Ein populäres Medium dafür war und ist auch heute noch die Wohnzeitschrift, die im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des bürgerlichen Wohnens und seinen Wohngegenständen auch die ersten Wohnzeitschriften aufkommt. Die vor allem im deutschsprachigen Raum bekannte Schöner Wohnen erschien 1960 zum ersten Mal und unterhielt ihre Leser*innen vor allem mit Tipps und Trends, Reportagen und Interviews aus dem Bereich Wohnen und Dekoration. Die einmal monatlich im Verlag Gruner + Jahr erscheinende Zeitschrift hatte ihre Blütezeit in den 1990er Jahren, mit einem Auflagenhoch von 449.000 Exemplaren im Jahr 1997.36 Doch seither hat die Schöner Wohnen ein ähnliches Schicksal wie viele andere Printmedien erfahren und ein Auflagenminus von mehr als 60 Prozent erlitten. Das weltweit auflagenstärkste Druckwerk zum Thema Wohnen, der jährlich erscheinende Ikea-Katalog, der 2014 eine Auflage von 217 Millionen Exemplaren erreichte,37 wurde 2020 im Print eingestellt und kann seitdem nur noch online abgerufen werden. Der Wandel hin zu elektronischen Medien und digitalen Plattformen, die Wohnwissen verbreiten und reproduzieren, ist somit bereits weit fortgeschritten. Egal ob analog oder digital, die mediale Vermittlung von Wohnwissen durch ästhetisierte Bildwelten wirkt in die Gesellschaft hinein. In Medien wie Wohnzeitschriften, Social-Media-Plattformen, Blogs oder TV-Sendungen werden spezifische Aspekte des Wohnens und ausgewählte Bewohner*innen gezeigt und ausgestellt. Dabei soll das Gezeigte seine Betrachter*innen zu einem (meist) normativen Wohnhandeln anleiten. Denn, so Nierhaus und Nierhaus, „das private Wohnen ist in seinen Domestikationsvorgängen auch eine öffentliche Normierungsund Normalisierungsinstanz“.38 Dabei erlang die Normalisierung des Wohnens dadurch gesellschaftliche Akzeptabilität, dass die Norm zum begehrten Ideal stilisiert wird. In den digitalen und analogen Bildern 36 Gruner + Jahr GmbH: 40 Jahre SCHÖNER WOHNEN: Die Erfolgsgeschichte der größten Wohnzeitschrift Europas von 1960 bis 2000, Jänner 2000, https:// www.presseportal.de/pm/6562/102775 (9.11.2021). 37 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157668/umfrage/anzahl-dergedruckten-ikea-kataloge-pro-jahr-seit-1954/ (9.11.2021). 38 Nierhaus, Irene/Nierhaus, Andreas (Hg.): Wohnen zeigen, S. 13.
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2.1 Schauplatz Wohnen
Abb. 2_12: Cover der letzten Print-Ausgabe des Ikea-Katalogs, 2020.
des Wohnens wird dieses Wohnbegehren visualisiert, inszeniert und artikuliert und immer wieder in unterschiedlichen Modellen des Wohnens reproduziert. „So dient in diesem Zusammenhang das Bessere und Schönere dem Anheizen des Begehrens und zugleich seiner Normalisierung.“39 Das medial gezeigte, unerreichbare und bessere Wohnideal wird so zu einer tatsächlichen Wohnnorm, die es zu erreichen gilt. Dieses Ideal trägt politische, soziökonomische sowie gesellschaftspolitische Konditionen in sich, die sich auf das Wohnen übertragen. Denn Wohnen ist keine politikfreie Sphäre des Privaten, sondern vielmehr eine komplexe Anordnung aus Handlungen und Objekten, die durch Medien vermittelt Kultur, Gesellschaft, Ökonomie und Politik mitformen. 39 Nierhaus, Irene: Seiten des Wohnens – Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, S. 20.
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2.2 Plattformen
2.2.1 Plattformtechnologien Um den Einfluss und die Bedeutung digitaler Wohnbildwelten besser zu verstehen, wurde bereits in Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, das Themenfeld des Wohnens genauer betrachtet. So wurde der für diese Arbeit zentrale Begriff des Bewohnens, aber auch der Schauplatz Wohnen als Repräsentationsform einschließlich der darin handelnden Objekte und Subjekte sowie der räumlich-materiellen Beschränkungen diskutiert. Ebenso wurden unterschiedliche Modelle des Wohnens besprochen, im Speziellen die Bedeutung des Bildes in der digitalen Vermittlung von Wohnen. Kapitel 2.2, Plattformen, geht nun vom Wohnen zu Plattformen über, um im Weiteren das Wohnen im Kontext seiner medialen Reproduzierbarkeit durch Plattformtechnologien verstehen zu lernen. Denn um das einzelne Bild auf Instagram, das eine ausgewählte Szene des Wohnens zeigt, geht es – ganz im Sinne McLuhans – gar nicht mehr. Von Bedeutung ist vielmehr das Medium an sich, also die digitale Plattform.40 Dementsprechend stehen hier die Wirkmacht sowie die Möglichkeiten und Limitierungen, die das Medium (Plattform) in Bezug auf Gemeinschaft, Handlungsfähigkeit und Ordnungssysteme erzeugt, im Vordergrund. Keller Easterling spricht in diesem Zusammenhang von einer technologischen Matrix, die aus einer „wilden Mischung aus Gewalt und bonbonsüßen Märchen“ besteht und uns einlullt.41 Denn Plattformtechnologien durchdringen in hohem Maß unseren Alltag und verändern dadurch auch die Art und Weise, wie wir zueinander und zu unserer Umwelt in Beziehung stehen. Sie gestalten Formen des Zusammenlebens mit und sortieren Ordnungssysteme neu, indem sie in Infrastrukturen eingreifen und dabei – auch unsichtbare – Mächte und Politiken schaffen. Nick Srnicek schreibt daher, dass es wichtig ist, sich mit Plattformen auseinanderzusetzen, also zu „begreifen, wie sie funktionieren und was wir tun können“.42 Im Folgenden soll daher ein Einblick in Plattformtechnologien gegeben und die Bedeutung von Zirkulation und Aktivität herausgestellt werden. Insbesondere soll danach gefragt werden, was Plattform-Ökonomien antreibt und warum digitale Plattformen auch Auswirkungen auf den gebauten Raum haben.
40 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, S. 17. 41 Keller, Easterling: Medium Design, in: ARCH+ 234 Datatopia, 2019, S. 148–157, hier S. 149. 42 Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 127.
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2. Das Bild des Wohnens Wir kommunizieren über Facebook, Instagram, Twitter oder TikTok, wohnen über Airbnb, bewegen uns mit Uber und Lime-E-Scootern durch die Stadt, verabreden uns zum Sex auf Tinder und Grindr, kaufen bei Amazon, spielen live auf Twitch, streamen über Netflix und arbeiten oder tauschen Wissen über Zoom aus, um nur einige der Arten zu nennen, wie die großen Plattformunternehmen heute unser Leben prägen. Plattformen sind zu einem Bestandteil des Alltags geworden und sind mit allen möglichen Aktivitäten, Bewegungen und Interaktionen verwoben. Sie übernehmen dabei verschiedene Rollen: Marktplatz, Verwaltung, Infrastruktur oder Tummelplatz für Freizeitaktivität und Spaß. Srnicek schreibt in Platform Capitalism (2016): „Plattformen dringen immer tiefer in unsere digitale Infrastruktur ein, und die Gesellschaft wird immer abhängiger von ihnen.“43 Der Begriff Plattform selbst wirkt äußert harmlos, wird mit ihm doch oft Neutralität, Transparenz, Offenheit, Fortschritt und vor allem Neuartigkeit verbunden. Diese Eigenschaft des Neuen und gleichzeitig Immateriellen macht die Plattform auch schwer fassbar, ein Wesenszug, der nicht ganz unbeabsichtigt ist. So hält Benjamin Bratton fest: „Platforms don’t look like how they work, and they don’t work like how they look.“44 Plattformen möchten als innovative Unternehmen auftreten und mit smarten Städten oder intelligenten Infrastrukturen assoziiert werden, ihren User*innen versprechen sie, dass ihre Wünsche durch hohe Flexibilität und On-demand-Dienstleistungen schnellstmöglich erfüllt werden. Doch Plattformen sind vorranging Wirtschaftsunternehmen, die durch das Erschließen neuer Märkte sowie die Entwicklung neuer Waren und Möglichkeiten ihr Kapital vermehren wollen und oftmals monopolartige Dominanz erlangt haben. Auch wenn sie, verkleidet in verführerische Oberflächen (Bilder), ihr Profitstreben nicht immer in den Vordergrund stellen, sind sie vor allem wirtschaftliche Akteur*innen. Der mehrdeutige und flexible Begriff der Plattform steht also nicht nur für Austausch oder unternehmerische Möglichkeiten, sondern umfasst auch ein System von Wettbewerb, Ausbeutung und Exklusion, in dem Gesetzmäßigkeiten über Zugang und Teilhabe von der Plattform konstituiert und vorgeben werden. Bedenkt man, dass Plattformen immer mehr Funktionen moderner Staaten übernehmen (Infrastruktur, Mobilität, Administration), dann
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Ebd., S. 127. Bratton, Benjamin H.: Platform Econometrics in: ders./Boyadjiev, Nicolay/Axel, Nick (Hg.): The New Normal, Zürich 2020, S. 373.
2.2 Plattformen ist der Aufstieg der großen Monopol-Unternehmen auch eine dramatische Wende in Bezug auf die demokratische Legitimation gesellschaftlicher Entscheidungen. Denn wenn den Plattformunternehmen, deren Führungskräfte ja nicht demokratisch gewählt werden, die Gestaltung und Regelung vormals staatlich geregelter Infrastruktur überlassen wird, werden diese Plattformunternehmen die Strukturen vorgeben, in denen unsere Zukunft stattfindet.
2.2.2 Zirkulation und Aktivität Plattformen werden von einer globalen Zirkulation angetrieben, dabei sind Interaktionen und Aktivitäten wesentliche Eigenschaften von Plattformen. Zirkulation wird hier als allumfassendes Prinzip gedacht, wonach alles Mögliche zirkuliert: das Individuum als handelndes Subjekt, die User*innen als aktive Gemeinschaft, aber auch die immer upgedatete Plattform selbst müssen ständig in Bewegung sein und Aktivität erzeugen. Aktivität und Zirkulation bedeuten Erfolg, Stillstand das Ende der Plattform. Dabei ist Zirkulation keine Neuerfindung von Plattformen, Ross Exo Adams schildert in Circulation & Urbanization (2019) die Bedeutung von Zirkulation in der Geschichte der Stadt. In der Stadt des 19. Jahrhunderts konnte durch das Aufkommen der Mobilität und die damit einhergehende Erzeugung von Bewegung durch Technologien auf jedes Problem nun eine Antwort gefunden werden, wie Adams ausführt: „If there is a history of the urban, it is a history of what circulates.“45 Der Begriff der Zirkulation war schon immer eng mit den Ideen von Fortschritt, Wissenschaft und Kommunikation verwoben. Bis heute sind Vorstellungen von Freiheit und Innovation stark mit Zirkulation verbunden. Zirkulation kann also sowohl als ein ideeller Begriff verstanden werden als auch als eine verwaltungstechnische Kategorie (Infrastruktur). Diese begriffliche Dualität findet sich auch im Kapitalismus wieder, der von Zirkulation geprägt ist, denn Kapital, Arbeit und Waren müssen ständig in Bewegung sein. Wie Adams zeigt, wird am Beispiel der Stadt die wichtige Rolle von Zirkulation in der Beziehung zwischen Macht und Raum sichtbar. Denn begreifen wir Zirkulation als eine Form von idealisierter Infrastruktur,
45 Adams, Ross Exo: Circulation & Urbanization, London/Thousand Oaks, 2019, S. 3.
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2.2 Plattformen ist der Aufstieg der großen Monopol-Unternehmen auch eine dramatische Wende in Bezug auf die demokratische Legitimation gesellschaftlicher Entscheidungen. Denn wenn den Plattformunternehmen, deren Führungskräfte ja nicht demokratisch gewählt werden, die Gestaltung und Regelung vormals staatlich geregelter Infrastruktur überlassen wird, werden diese Plattformunternehmen die Strukturen vorgeben, in denen unsere Zukunft stattfindet.
2.2.2 Zirkulation und Aktivität Plattformen werden von einer globalen Zirkulation angetrieben, dabei sind Interaktionen und Aktivitäten wesentliche Eigenschaften von Plattformen. Zirkulation wird hier als allumfassendes Prinzip gedacht, wonach alles Mögliche zirkuliert: das Individuum als handelndes Subjekt, die User*innen als aktive Gemeinschaft, aber auch die immer upgedatete Plattform selbst müssen ständig in Bewegung sein und Aktivität erzeugen. Aktivität und Zirkulation bedeuten Erfolg, Stillstand das Ende der Plattform. Dabei ist Zirkulation keine Neuerfindung von Plattformen, Ross Exo Adams schildert in Circulation & Urbanization (2019) die Bedeutung von Zirkulation in der Geschichte der Stadt. In der Stadt des 19. Jahrhunderts konnte durch das Aufkommen der Mobilität und die damit einhergehende Erzeugung von Bewegung durch Technologien auf jedes Problem nun eine Antwort gefunden werden, wie Adams ausführt: „If there is a history of the urban, it is a history of what circulates.“45 Der Begriff der Zirkulation war schon immer eng mit den Ideen von Fortschritt, Wissenschaft und Kommunikation verwoben. Bis heute sind Vorstellungen von Freiheit und Innovation stark mit Zirkulation verbunden. Zirkulation kann also sowohl als ein ideeller Begriff verstanden werden als auch als eine verwaltungstechnische Kategorie (Infrastruktur). Diese begriffliche Dualität findet sich auch im Kapitalismus wieder, der von Zirkulation geprägt ist, denn Kapital, Arbeit und Waren müssen ständig in Bewegung sein. Wie Adams zeigt, wird am Beispiel der Stadt die wichtige Rolle von Zirkulation in der Beziehung zwischen Macht und Raum sichtbar. Denn begreifen wir Zirkulation als eine Form von idealisierter Infrastruktur,
45 Adams, Ross Exo: Circulation & Urbanization, London/Thousand Oaks, 2019, S. 3.
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2. Das Bild des Wohnens dann sehen wir, dass sowohl bei der Artikulation von Macht im Raum als auch bei der Umsetzung von Macht durch Raum46 Zirkulation (Bewegung) ein wesentliches Instrument ist.
Das optimierte Selbst Plattformen generieren eine zirkulierende Gesellschaft in einer zirkulierenden Welt. Die Teilnehmer*innen dieser Welt müssen zwischen Arbeit, Freizeit, Konsum und vielen anderen Bereichen navigieren und sind somit ständig in Bewegung und aktiv. Das Zirkulieren zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen wird durch das Versprechen auf Selbstverwirklichung vorangetrieben, wie Douglas Spencer festhält: „Where circulation and mobility are presented as the keys to self-valorisation, this society’s subjects must be able to switch deftly between work and leisure, education and marketing, citizenship and consumerism.“47 In diesem bewegten Geflecht aus Aktivitäten können die Akteur*innen immer wieder ihre Rolle wechseln, so werden aus Konsument*innen auch Produzent*innen und Verkäufer*innen. Ein Beispiel hierfür ist die Kurzzeit- Wohnungsvermietungs-Plattform Airbnb. Das Individuum kann als Mieter*in eine temporäre Urlaubsunterkunft beziehen oder selbst Vermieter*in werden, wozu nur die privaten Wohnräume inklusive Schlafzimmer inszeniert und abgelichtet sowie über die Plattform zur Vermietung angeboten werden muss. Auf Plattformen werden alle möglichen Formen von Interaktion angeboten - wichtig ist weniger, was zirkuliert, als vielmehr, dass alles permanent in Bewegung ist. Das Individuum muss im bewegten, offenen Feld des Marktes seine Chancen nutzen, in sich selbst investieren, vielleicht auch Vermögen mobilisieren und meist die alleinige Verantwortung über jegliches Handeln übernehmen. Der Idealtypus des unternehmerischen Selbst ist aktiv und produktiv, anpassungsfähig und trotzdem individuell, ist immer up to date und verfügbar, hat die Kontrolle über die eigenen, sorgfältig kuratierten
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gl. Adams, Ross Exo: Circulatory Regimes: Bodies, Spaces, Power, DUE 72, V 2018, https://due.aaschool.ac.uk/exoadams/ (2.3.2021). 47 Spencer, Douglas: Bearing Capital: Platforms, Performance and Personification, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 312.
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2.2 Plattformen Aktivitäten und ist in ständiger Selbstoptimierung begriffen. Um dieses Ideal zu erreichen, muss der eigene Körper ständig korrigiert warden. Auch wenn Adams eine transformierende Darstellung des Körpers im 19. Jahrhunderts beschreibt, „A new visibility of the body revealed not its perfection, but rather its perpetual need for correction.“48, ist diese Form von Zirkulation auch in zeitgenössischen Optimierungslogiken wiederzufinden. Technologie (also die Plattform selbst) hilft bei diesen Korrekturprozessen und macht den Köper zu einer Art Maschine. Der Verletzlichkeit des Körpers steht nun ein optimierter Datenkörper gegenüber, dessen Handlungen, Reaktionen und Wünsche (Daten)Wissen erzeugen und somit Wert generieren. „This dichotomy gave rise to a body likened to a machine and one interminably vulnerable.“49 Die Plattform wird zum Instrument der Transformation und lässt das unternehmerische Selbst als eine ganz natürliche Tatsache erscheinen. Jede*r kann, mit den richtigen Fotos, Filtern und Trends, durch Selbstoptimierung auf Instagram erfolgreich sein. So war 2022 auf der Website von Instagram unter Creators – Stand out on Instagram folgender Slogan zu finden: „Connect with more people, build influence, and create compelling content that’s distinctly yours.“50 Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass die Plattform in diesem Prozess auch eine kontrollierende und überwachende Rolle einnimmt. So weist Douglas Spencer darauf hin, dass dieses individualisierte, unternehmerische Selbst in einer kontrollierten, festgelegten Identität verweilen muss. „The hyper-individuated and entrepreneurial form of being presented to us as natural fact in capitalism is manifestly a trap, a means to pin us to an identity surveilled and recorded in its every interaction and transaction, monitored and evaluated in everything it produces, every task it performs.“51
Die Plattform-Community Dieses neue, unternehmerische Selbst und die mit ihm verknüpften Mechanismen von Überwachung und Bewertung konstituieren auch eine
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dams, Ross Exo: Circulatory Regimes, https://due.aaschool.ac.uk/exoadams/ A (2.3.2021). 49 Ebd. 50 https://about.instagram.com/creators (28.2.2022). 51 Spencer, Douglas: Bearing Capital, S. 319.
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2. Das Bild des Wohnens neue Form von Gemeinschaft (platform community). Diese definiert sich über die erbrachte Performance gemessen in Klicks, Likes, Tweets und Kommentaren. Dieser Zirkulations- und Bewertungsapparat zeigt den Erfolg und das Potential des*der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, aber auch gegenüber möglichen Investor*innen.52 Das Bewertungssystem, das die Plattform und das unternehmerische Selbst durch Feedbacks, Kommentare, Ratings, Likes oder Follower*innen produzieren, wird jedoch als Plattformgemeinschaft angepriesen – eine Form von Gemeinschaft, die nur innerhalb dieser Feedbacksysteme existiert. Das in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende romantisierende Bild der freien, unabhängigen digitalen Nomad*innen, die sich online in digitalen Gemeinschaften versammeln und vernetzen, lässt dabei Einiges im Dunklen. Denn Formen der Ausbeutung des Prekariats sowie der Erschöpfung oder Vereinsamung sind ebenfalls Bestandteil und Folge dieser neuen Plattform-Communitys. Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer artikulierten daher im österreichischen Pavillon der Biennale Architettura 2021 den Slogan „The Platform Is My Boyfriend“.53 Dieser macht darauf aufmerksam, dass wir uns zwar über Plattformen mit der ganzen Welt austauschen können und bereitwillig unsere Emotionen kommunizieren, letzten Endes aber die Plattform selbst unser ständiger Begleiter, unser boyfriend ist. Die Nutzer*innen bauen eine enge Bindung zur Plattform auf, das ständige Updaten, Einloggen und Abrufen von Tweets und Storys gleicht den Praktiken einer tiefen emotionalen Beziehung. Dabei verweben sich Technologie, Kommunikation, Konsum und Vergnügen und sind kaum noch voneinander zu trennen. Die Interaktion mit der Plattform kann jedoch das Fehlen von greifbarer, teilhabender, gemeinschaftlicher Erfahrungen mit Anderen im Alltagsleben oder im physischen Raum nicht kompensieren. Plattformen generieren also das Gefühl von Gemeinschaft und Beteiligung mit Anderen. Twitter, Facebook, TikTok und Instagram treten als öffentliche Foren des Austauschs und der Interaktion in Gemeinschaft auf, ihr Interesse liegt aber vor allem in der Mobilisierung der Fähigkeiten und Handlungen ihrer Nutzer*innen, um diese dann auf
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gl. Avermaete, Tom: The Places, Pulses and People of Platform Urbanism, in: V Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 281–288, hier S. 27. Ebd., S. 23.
2.2 Plattformen unterschiedlichen Wegen in Kapital umzuwandeln. Die Plattform selbst forciert Zirkulation, denn diese steht für immer neue Verbindungen. Durch die enge Verschränkung des Individuums mit der Plattform und den daraus resultierenden Aktivitäten ergeben sich immer neue Verbindungen, Vernetzungen und Geschäftsmodelle, aus denen Daten hervorgehen, die dann aufgezeichnet, verarbeitet und weitergenutzt werden können. Je mehr Menschen dazu mobilisiert werden können, auf Plattformen zu interagieren, umso mehr Aktivitäten und Daten entstehen dadurch. Das soziale Subjekt, das als zirkulierendes und teilnehmendes Wesen auf der Plattform agiert, generiert somit Wert für die Plattform. Aktivität wird in Daten und somit Kapital umgewandelt. Auch Bilder sind Teil des Zirkulationsgeschehens, sie werden über Postings geteilt und verlinkt. Sie können an immer andere Orte weitertransportiert werden, in anderen Kontexten als denen, in denen sie entstanden sind, auftauchen und einem neuen Publikum auf einem anderen Portal gezeigt werden. So betont auch Hito Steyerl, dass das einzelne Bild als Idee oder Kunstwerk nicht von Interesse ist, sondern die Zirkulation der Bilder im Vordergrund steht, die aber auch mit einer großen Leere einhergeht: „Circulationism is not about the art of making an image, but of postproducing, launching, and accelerating it. It is about the public relations of images across social networks, about advertisement and alienation, and about being as suavely vacuous as possible.“54 Diese Form von Zirkulation würde kaum zu Umstrukturierung oder Veränderung in bestehenden Systemen führen, so Steyerl weiter, vielmehr prognostiziert sie ein Internet, das einer Shoppingmall ähnelt: „And it is quite likely that circulationism instead of restructuring circulation will just end up as ornament to an internet that looks increasingly like a mall filled with nothing but Starbucks franchises personally managed by Joseph Stalin.“55
54 Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, 2013, https://www.e-flux. com/journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022). 55 Ebd.
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2. Das Bild des Wohnens
2.2.3 Plattform-Ökonomie Daten, eine neue Ära des Kapitalismus Plattformen sind davon angetrieben, Kapital zu generieren. Dies tun sie einerseits, indem sie die von ihren User*innen erzeugten Daten auf verschiedene Weisen weiterverwenden und kapitalisieren, und andererseits, indem sie immer neue Geschäftsbereiche entwickeln, um daraus wieder Daten gewinnen zu können. Nick Srnicek schreibt daher, „der fortgeschrittene Kapitalismus im 21. Jahrhundert dreht sich um die Gewinnung und Nutzung eines besonderen Rohmaterials: Daten“.56 Wobei das Sammeln von Daten nicht einfach mit dem Einsammeln von Holz gleichzusetzen ist, wie Bratton betont: „Das Modellieren von Daten produziert erst die eigentlichen Daten, und daher sind in vielen Fällen die interessantesten Daten abgeleitete Daten und nicht die Rohdaten selbst.“57 Daten sind also nicht gleich Wissen, aber aus ihnen kann Wissen abgeleitet werden. Plattformen erfassen in erster Linie das Rohmaterial Daten, zeichnen sie auf und erst dann werden sie z.B. durch Algorithmen und Datenanalytiker*innen extrahiert und können genutzt werden. Das Aufzeichnen von Daten ist relativ kostengünstig und daher relativ einfach. Wobei zu bedenken ist, dass Daten nicht immateriell sind und ihre Speicherung in Datenzentren und Serverfarmen Energie (Strom) und Ressourcen (Boden) verbraucht. So ist das Internet für 9,2 Prozent des weltweiten Stromverbrauchs verantwortlich.58 Social-Media-Plattformen verfolgen also das Ziel, immer größere Mengen an Daten zu sammeln. Nutzen immer mehr Personen eine bestimmte Plattform, erzeugen sie Netzwerkeffekte, die zu neuen Daten und zum fortgesetzten Wachstum der Plattform führen. Die Plattform wird dadurch für alle Beteiligten immer wertvoller. „Das ergibt einen Kreislauf, bei dem mehr Nutzer*innen immer noch mehr Nutzer*innen anziehen, und die entsprechenden Plattformen entwickeln eine Tendenz zur Monopolisierung.“59 Für diese Entwicklung besteht keine natürliche
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Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, S. 41. ratton, Benjamin H.: The Stack, in: ARCH+ 234 Datatopia, 2019, S. 168–183, B hier S. 172. Ebd., S. 42. Ebd., S. 48.
2.2 Plattformen Grenze, denn die niedrigen Grenzkosten und die Möglichkeit, bestehende Infrastrukturen zu nutzen, fördern die stetige Wachstumssteigerung. Um neue Nutzer*innen zu gewinnen, muss die Plattform jedoch attraktiv bleiben, ihr Image muss visuell perfekt kuratiert sein und sie muss sich ständig weiterentwickeln, um innovativ und neu zu wirken. So sind Einstiegsservices oft kostenlos zugänglich und sollen die User*innen in das Netzwerk hineinziehen. Der kostenlose Instagram-Account beispielsweise vermittelt den Eindruck, dass man sich in einem offenen, neutralen Raum befindet, in dem sich das Individuum frei entwickeln kann. Aber auch kostenlose Dienste sind nur Ausdruck einer bestimmten Marketingpolitik und sollten nicht vergessen lassen, dass es sich um einen privatisierten Plattform-Raum mit vorgegebenen Spielregeln handelt. Facebook und Instagram sind genauso wie Google sogenannte Werbeplattformen,60 deren wichtigste Einnahmequelle der Verkauf von Werbefläche ist. Daten über Bewegungen und Aktivitäten von Nutzer*innen auf der Plattform werden gesammelt, analysiert und genutzt, um gezielt Werbefläche zu verkaufen. Durch die Datenbearbeitung kann auf Vorlieben, Interessen und Konsumverhalten der Konsument*innen reagiert werden und Werbung effizient platziert werden. „Die gesammelten Daten dienen nicht länger ausschließlich dazu, Dienstleistungen zu verbessern, sondern dem Erzielen von Werbeeinahmen.“61 Es kann also festgehalten werden, dass Plattformen vorrangig Werkzeuge zur Datensammlung sind.62 Die Plattform stellt zwar gewisse Infrastrukturen zur Verfügung, um Nutzer*innen zusammenzubringen, durch Netzwerkeffekte und Quersubventionierungen erzeugt sie aber eindeutige Monopoltendenzen. Die Monopolbildung ist quasi in die genetische Ausstattung der Plattform eingebaut, ihr ganzes Konzept und alle Dynamiken beruhen auf dem Aufstieg zum Monopolunternehmen. Trotz dieser Marktlogik sollte nicht vergessen werden, „die Daten der Bürger*innen gehören den Bürger*innen“.63 Gerade in Europa ist in den letzten Jahren eine große Debatte um Datenschutz entstanden, doch sollte in der Diskussion nicht vergessen werden, dass es vor allem auch um ein Wissen im Umgang mit Daten geht und welche Informationen aus ihnen gewonnen werden beziehungsweise mit diesen Daten verknüpft sind.
60 Ebd., S. 53. 61 Ebd., S. 55. 62 Ebd. 63 Bratton, Benjamin H.: The Stack, S. 172.
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2. Das Bild des Wohnens
Infrastructure space Um neue Märkte zu erschließen und ihre Reichweite zu vergrößern, präsentieren sich Plattformen auch als neue Infrastrukturen. Egal ob im Bereich Mobilität (Uber, E-Scooter), Kommunikation (Social Media), Arbeit (Co-Working) oder Wohnen (Co-Living) – Plattformen treten mit einem attraktiven, komprimierten Angebot und zügiger Abwicklung auf. Sie übernehmen dabei auch vormals öffentliche, staatliche infrastrukturelle Aufgaben. Mag das Service der Plattform zwar effizient und ästhetisch ansprechend präsentiert sein, so sind daran eigene Spielregeln geknüpft. Die Plattform regelt und kontrolliert die Zugangsbedingungen und folgt dabei vor allem marktwirtschaftlichen oder persönlichen Interessen der Plattformbetreiber*innen. Historisch betrachtet sind Mechanismen des Ausschlusses aus bestimmten Zonen – z.B. einer Stadt – kein Novum. So waren Stadtmauern mit Toren physische Barrieren, über die der Zugang kontrolliert und verweigert werden konnte. Doch die Regeln und Bedingungen des Zugangs waren klar ersichtlich. Plattformen sind Privatunternehmen und legen ihre Zugangsbestimmungen gemäß ihren Interessen fest, was heißen kann, dass nicht alle sie erfüllen können. Aufgrund ihres Monopolstatus ist eine Verweigerung dieser Regeln nur durch Nicht-Teilnahme möglich, denn es gibt keine echte Alternative zu Facebook oder Instagram. Während unter Infrastruktur oft primär physische Netze wie Straßen, Schienen oder Wasserleitungen verstanden werden, erfasst Keller Easterlings Begriff des infrastructure space – des infrastrukturellen Raumes – auch Phänomene wie gemeinsame Normen oder Organisationsformen.64 Easterling spricht in diesem Zusammenhang von der Existenz einer globalen Infrastruktur, auch „die gemeinsamen Standards und Ideen, die alles steuern, von technischen Einrichtungen bis hin zu Führungsstilen, bilden eine Infrastruktur. […] die offen zutage liegende Schnittstelle, die uns alle verbindet – die Regeln, die unseren alltäglichen Lebensraum bestimmen.“65 Es gibt also so etwas wie eine infrastrukturelle Matrix von Regeln und Beziehungen, die uns umgeben. Easterling beschreibt auch die Weitergabe von Informationen im Raum: „Der infrastrukturelle Raum ist zu einem Medium der Infor-
64 Vgl. Easterling, Keller: Extrastatecraft. The power of infrastructure space, London 2014. 65 Easterling, Keller: Die infrastrukturelle Matrix, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Heft 12, 2015, S. 68–78, hier S. 68.
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2.2 Plattformen mation geworden. Die Information liegt in unsichtbaren, wirkmächtigen Aktivitäten, die bestimmen, wie Objekte und Inhalte organisiert und in Umlauf gebracht werden.“66 Das bedeutet, dass der infrastrukturelle Raum durch Informationen bestimmte Normen und Organisationsformen festlegt und so den Zugang entweder gewährt oder verweigert und bestimmte Handlungen ermöglicht und andere verunmöglicht. Geht man von diesem erweiterten Infrastrukturbegriff aus und versteht Plattformen auch als infrastrukturellen Raum, so wird ersichtlich, dass auch sie den globalen Raum mitgestalten und prägen. So entwickeln Plattformen z.B. standardisierte, ausgefeilte Abläufe und Programme zur Organisation von Konsum, die überall reproduzierbar sind. Der Plattform ist also eine gewisse Handlungsmacht, ein Potential oder, wie Easterling es nennt, ein Dispositiv eingeschrieben. Ein Dispositiv ermöglicht bestimmte Dinge, verunmöglicht andere, vergleichbar mit Spielregeln oder einem Betriebssystem.67 Das Regelwerk von Plattformen ist jedoch nicht sofort sichtbar und entzieht sich dadurch jeglicher Erklärung. Das bedeutet, dass Plattformen vorgeben, Infrastrukturen zur Verbesserung oder Optimierung des täglichen Lebens zur Verfügung zu stellen, dadurch jedoch davon ablenken, was sie eigentlich tun und beabsichtigen. „Mit anderen Worten, was das Medium sagt, lenkt uns oft von dem ab, was das Medium tut.“68 Das visuelle Narrativ der Plattform zeigt also nicht unbedingt das, was die Plattform antreibt. So ist die Maxime der Plattform – das Generieren von Kapital – im ästhetischen Erscheinungsbild nicht sichtbar. Was die Plattform aber – als infrastruktureller Raum – erzeugt, erfahren wir als gültige und dominante gemeinsame Standards und Ideen, die sich im Zusammenleben, aber auch in den Wohnräumen und Architekturen unserer Städte wiederfinden.
2.2.4 Die Verschränkung mit der bestehenden Stadt Plattformen können in unterschiedlichen Funktionen in Erscheinung treten und sind fest im alltäglichen Leben verankert. Sie werden so zu
66 67 68
Ebd., S. 70. Vgl. Keller, Easterling: Medium Design, S. 154. Easterling, Keller: Die infrastrukturelle Matrix, S. 70.
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2.2 Plattformen mation geworden. Die Information liegt in unsichtbaren, wirkmächtigen Aktivitäten, die bestimmen, wie Objekte und Inhalte organisiert und in Umlauf gebracht werden.“66 Das bedeutet, dass der infrastrukturelle Raum durch Informationen bestimmte Normen und Organisationsformen festlegt und so den Zugang entweder gewährt oder verweigert und bestimmte Handlungen ermöglicht und andere verunmöglicht. Geht man von diesem erweiterten Infrastrukturbegriff aus und versteht Plattformen auch als infrastrukturellen Raum, so wird ersichtlich, dass auch sie den globalen Raum mitgestalten und prägen. So entwickeln Plattformen z.B. standardisierte, ausgefeilte Abläufe und Programme zur Organisation von Konsum, die überall reproduzierbar sind. Der Plattform ist also eine gewisse Handlungsmacht, ein Potential oder, wie Easterling es nennt, ein Dispositiv eingeschrieben. Ein Dispositiv ermöglicht bestimmte Dinge, verunmöglicht andere, vergleichbar mit Spielregeln oder einem Betriebssystem.67 Das Regelwerk von Plattformen ist jedoch nicht sofort sichtbar und entzieht sich dadurch jeglicher Erklärung. Das bedeutet, dass Plattformen vorgeben, Infrastrukturen zur Verbesserung oder Optimierung des täglichen Lebens zur Verfügung zu stellen, dadurch jedoch davon ablenken, was sie eigentlich tun und beabsichtigen. „Mit anderen Worten, was das Medium sagt, lenkt uns oft von dem ab, was das Medium tut.“68 Das visuelle Narrativ der Plattform zeigt also nicht unbedingt das, was die Plattform antreibt. So ist die Maxime der Plattform – das Generieren von Kapital – im ästhetischen Erscheinungsbild nicht sichtbar. Was die Plattform aber – als infrastruktureller Raum – erzeugt, erfahren wir als gültige und dominante gemeinsame Standards und Ideen, die sich im Zusammenleben, aber auch in den Wohnräumen und Architekturen unserer Städte wiederfinden.
2.2.4 Die Verschränkung mit der bestehenden Stadt Plattformen können in unterschiedlichen Funktionen in Erscheinung treten und sind fest im alltäglichen Leben verankert. Sie werden so zu
66 67 68
Ebd., S. 70. Vgl. Keller, Easterling: Medium Design, S. 154. Easterling, Keller: Die infrastrukturelle Matrix, S. 70.
161
2. Das Bild des Wohnens mächtigen Instrumenten, die nicht nur gesellschaftliche und ökonomische Systeme verändern, sondern auch in den gebauten, materiellen Raum eingreifen. Sie spannen dabei ein dichtes Netz aus Interaktionen zwischen digitalen und physischen Umgebungen. In der Transformation städtischen Lebens, so Mörtenböck und Mooshammer, spielen Plattformen daher eine wesentliche Rolle: „Seamlessly embedded in the everyday flows, movements and interactions of cities worldwide, they are one of the most powerful tools available for reprogramming urban life“.69 Diese Verschränkungen zwischen digitaler Technologie und gebauter Stadt sowie physischem Wohnraum soll im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Anschlussstellen der Plattformen an bestehende materielle Strukturen kein zusätzliches Feature in ihrer Angebotspalette ist, sondern vielmehr eine Grundvoraussetzung für ihr Bestehen. Denn Plattformen existieren wie schon gesagt nicht isoliert im digitalen Raum, zu ihrer Entfaltung benötigen sie Anknüpfungspunkte im urbanen Feld. Tom Avermate spricht daher vom parasitären Charakter der Plattformen, „it seems that platform urbanism cannot exist without the infrastructures and spaces that another urbanism has produced“.70 Zu diesen bestehenden urbanen Infrastrukturen zählt Avermate z.B. Poststellen, überdachte Passagen oder Pick-up-Zonen in Bahnhöfen und Flughäfen, die Zusteller*innen und Fahrer*innen im Dienst der Plattformen mitbenutzen. Die Plattform Uber alleine kann keine Menschen befördern, erst dadurch, dass Straßen und Pick-up-Points zur Verfügung stehen, an denen Menschen abgeholt werden können, entfaltet sich das volle Potential der Plattform. Dabei ist wichtig anzumerken, dass diese materiellen Anknüpfungspunkte von den Plattformen zwar intensiv genutzt werden, ihre Betreiber*innen jedoch wenig Sorge dafür tragen.71 Die Idee und Praxis des Mitbenutzens von existierenden Strukturen findet sich auch im Feld des Wohnens. Die in Kapitel 2.4, InstagramWohnen, besprochenen Bildwelten des Wohnens auf Plattformen wie Instagram oder Airbnb können nur existieren und erfolgreich kapitalisiert
69
70 71
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örtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Platform Urbanism and Its Discontents, M in: dies. (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 9–38, hier S. 29. Avermaete, Tom: The Places, Pulses and People of Platform Urbanism, S. 283. Vgl. ebd.
2.2 Plattformen werden, weil sie von der Idee eines realen Wohnraums oder -ortes ausgehen. Erst durch die eigene Erfahrung in physischen Wohnräumen und das gleichzeitige Zeigen von tatsächlich existierenden Küchen, Wohnzimmern und Schlafzimmern kann die jeweilige Plattform ein digitales, nicht körperlich erfahrbares Wohnen zu einer begehrenswerten, attraktiven Tätigkeit transformieren. Es entsteht eine emotionale Beziehung zwischen dem digitalen und dem physischen Raum, eine Beziehung ohne Widerstand und Widerspruch. Auch hier übernimmt die Plattform keine reale Verantwortung für das Grundbedürfnis Wohnen im Sinne eines leistbaren, für alle zugänglichen sicheren WohnensWohnens, das für alle zugänglich, sicher und bezahlbar ist. Vielmehr etabliert sie eine Idee und eine Organisationsform von Wohnen. Diesen von Plattformen etablierten Wohnvorstellungen liegt eine gewisse Wirkmacht inne, denn sie finden als zu erreichendes Ideal wieder zurück in die Planung von Wohnräumen und somit auch in unsere tatsächlich gebaute Wohnumwelt.
Plattform-Architektur Douglas Spencer greift im Zusammenhang mit Plattformen den Begriff der Plattform-Architektur auf und verweist damit ebenfalls auf die Verschränkung zwischen Plattform und physischem Raum. Denn gebaute Architektur kann selbst zu einer Art Plattform werden oder zumindest die explizit kommunizierten Eigenschaften von Plattformen – wie Offenheit, Freiheit und Kommunikation – widerspiegeln. Spencer führt einige Beispiele von Architekturprojekten an, die als Plattform-Architektur agieren, wie z.B. das Centre Pompidou in Paris (1977, Richard Rogers, Renzo Piano & Gianfranco Franchini) als die Urform von Plattform-Architektur. Das Gebäude kann als eine Art gebaute Maschine der Zirkulation gelesen werden, die für alle zugänglich ist und totale Transparenz vermitteln soll, indem sie ihr Innerstes nach außen kehrt und alle Leitungen, Rolltreppen und Ventilationen wie Organe offen zeigt.72 Das Centre Pompidou greift die, in Zusammenhang mit Plattformen, immer wieder assoziierten Begriffe auf: Transparenz, Offenheit und
72
pencer, Douglas: The Architecture of Neoliberalism. How Contemporary ArS chitecture Became an Instrument of Control and Compliance, London/New York 2016, S. 111.
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2. Das Bild des Wohnens Fortschritt. Gleichzeitig kann das Centre Pompidou auch als idealisierte Vision einer neoliberalen Gesellschaft gelesen werden. Ein aktuelles Beispiel von Plattform-Architektur ist The Vessel in New York City (2019, Thomas Heatherwick). Diese interaktive Skulptur, die wie Architektur aussieht, aber vor allem für ein zielloses Erlebnis steht, zieht viele Besucher*innen an. So wandelt man durch ein offenes „Kunstwerk“, trifft auf viele Andere und tut vor allem eines: dieses Erlebnis in Form von Selfies festhalten. The Vessel ist die perfekte Kulisse für die Verschmelzung von Subjekt, Architektur und Stadt. Die monumentale Kraft der durchlässig erscheinenden Skulptur, in der alle in Bewegung sind, ohne eine Absicht zu verfolgen, scheint The Vessel zu einem „holy grail of platform-as-a- service in the urban realm“ gemacht zu haben.73 Plattform-Architekturen wie The Vessel sind Bühnen, auf denen sich das Subjekt inszeniert und ablichtet und normative Muster der Selbstdarstellung erprobt. Diese Inszenierung wird durch Bilder festgehalten und im digitalen Raum immer wieder reproduziert. Die so entstehenden Rückkopplungseffekten zwischen physischer und digitaler Präsenz sind ein wesentliches Merkmal von Plattform-Architekturen.74
Plattform-Wohnen Architektur bzw. die gebaute Stadt wird somit in Form der von Nutzer*innen generierten Bilder Teil der digitalen Plattformen, die ihrerseits Effekte auf Stadt und Architektur haben: „The urban shows up in, through and as platforms; and at the same time, […] platforms show up in, through and as urban.“75 Wenn also Plattformen auch reale Umwelt transformieren und mitgestalten, sei es öffentlicher (Stadt-)Raum oder privater Wohnraum, dann zieht die Plattformmentalität mit ihren Codes, Konventionen und Maximen in alle Lebensbereiche ein. Auch in Bezug auf das Wohnen sind infolgedessen Veränderungen erkennbar: So wird
73
74 75
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örtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Platform Urbanism and Its DisconM tents, in: dies. (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 9–38, hier S. 28. Vgl. Spencer, Douglas: Bearing Capital, S. 312. Rodgers, Scott/Moore, Susan: Platform Urbanism: An Introduction, in: Mediapolis. A Journal of Cities and Culture, no. 4, 2018, https://www.mediapolisjournal.com/2018/10/platform-urbanism-an-introduction/ (11.11.2021).
2.2 Plattformen Wohnen immer weniger als Teil einer Grundversorgung und zunehmend als eine von Plattformen angebotene Serviceleistung verstanden. Der CoHousing-Sektor ist ein Beispiel hierfür. Durch die große Nachfrage nach Wohnraum, die hohen Kosten am Wohnungsmarkt und das Bedürfnis nach Gemeinschaft mit Gleichgesinnten haben Plattformen wie WeLive (USA)76 oder Quintain Living (UK) Co-Housing-Konzepte entwickelt. Die Idee ist einfach: Kleine, bereits fertig eingerichtete Wohnzellen können zu relativ hohen Abo-Preisen temporär gemietet werden. Im Preis inbegriffen ist der Zugang zur Co-Housing-Gemeinschaft, die sich über Arbeit (Co-Working) und scheinbar gleiche Interessen über die Plattform verbindet. So schreiben die WeLive-Betreiber*innen auf ihrer Website: „CoLiving is a community living concept for like-minded people to live, work, and play together. Living spaces are well designed, fully furnished, with incidentals and utilities covered by one bill. Catering to various living styles and tastes, the main value of the CoLiving experience is access to the community.“77 Der Wunsch nach Gemeinschaftserfahrung wird hier von der Plattform als Marketingstrategie eingesetzt. Die versprochene Gemeinschaft ist jedoch keine wirklich erfahrbare, gleichberechtigte und teilhabende Gemeinschaft. Die Plattform propagiert dabei auch eine Form von Gemeinschaft, die Grenzen zwischen Arbeit, Freizeit und Wohnen aufhebt. Die Ausweitung der Arbeit auf Wohnräume und die gleichzeitige Transformation von Lebensräumen in ein professionelles Arbeitsumfeld, verbunden mit inszeniertem Spaß, entsprechen der oben beschriebenen Plattformmentalität aus Zirkulation und Ökonomisierung.78 Festzuhalten ist abschließend, dass zwischen digitalen Plattformen und der materiellen Welt eine enge Verflechtung besteht. Diese Verschränkungen werden bewusst produziert und herausgefordert. So ist die gebaute Stadt Anschlussstelle der Plattform und gleichzeitig schreibt sich die Idee der Plattform in die Stadt als Umwelt ein. Diese Erkenntnis 76 WeLive ist Teil des US-amerikanisches Unternehmens WeWork. WeWork wurde 2010 gegründet und stellt Co-Working-Spaces zur Verfügung. WeLive sollte eine weltweites Co-Living-Konzept etablieren, bis heute gibt es aber nur zwei Standorte in New York City und Virginia. Die beiden Standorte werden heute von WeWork verwaltet. Das Erfolgskonzept des Konzerns ist nicht aufgegangen, mehre tausend Mitarbeiter*innen mussten entlassen werden. 77 https://coliving.com/what-is-coliving (16.11.2021). 78 Vgl. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Platform Urbanism and Its Discontents, in: dies. (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 9–38, hier S. 19.
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2. Das Bild des Wohnens ist für die weitere Untersuchung von digitalen Bildwelten auf Plattformen in den folgenden Unterkapiteln essenziell, da auch das immaterielle, digitale Bild Gesellschaft und Raum mitformen kann. Plattformen selbst sind in ihren Organisationsformen sowie ihrer überdimensionalen Vernetzung und Aktivität (physisch) schwer fassbar und lassen sich fast nur über ihr visuelles Narrativ wahrnehmen, das die immer gleiche Idee von Flexibilität, Effizienz, Fortschritt und Offenheit vermittelt. Mörtenböck und Mooshammer sprechen daher von ihrer „capacity to appear everywhere and reside nowhere, to always be in contact but never in touch“.79 Während sich die Plattformen also dem Zugriff durch uns entziehen, sind ihre Auswirkungen für uns überall sichtbar und spürbar.
Abb. 2_13: Plattform-Architektur: The Vessel von Thomas Heatherwick, New York, 2019.
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Ebd., S. 29.
2.2 Plattformen
Abb. 2_14: Plattform-Architektur: Centre Pompidou, Collage, Richard Rogers, Renzo Piano & Gianfranco Franchini, 1977.
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2.3 Understanding Instagram
2.3.1 Von digitalen Bildern und Handykameras In diesem und dem nächsten Teilkapitel wird das Themenfeld des Wohnens in seinen Verknüpfungen mit Plattformtechnologien untersucht. Insbesondere die Social-Media-Plattform Instagram wird genauer betrachtet. Die Foto-Sharing-App mit ihrer Community setzt vor allem auf Bildinhalte. Die mediale Vermittlung von Wohnen basiert auf digitalen Bildern, die gewissen Normen, Idealen und Ordnungssystemen der Plattform Instagram folgen. Wie Instagram funktioniert, benutzt und gedacht wird, soll im Folgenden genauer beleuchtet werden, bevor in Kapitel 2.4 konkrete Instagram-Home-Accounts vorgestellt und untersucht werden. Was sind digitale Bilder eigentlich? Das digitale Bild beruht auf einem binären Zahlencode und kann daher mathematischen Operationen unterzogen werden. Das gesamte Bild ist in einen Raster aufgeteilt, in dem jedem einzelnen quadratischen Bildpunkt, dem Pixel, ein numerischer Farbwert zugeordnet ist.80 Auf dem Display eines Computers oder Smartphones können diese Zahlensysteme in ein sichtbares Bild umgewandelt werden. Jeder einzelne Bildpunkt kann daher ausgewählt und verändert werden. Diese Möglichkeit der Manipulation und die technische Reproduzierbarkeit von digitalen Bildern stellen ihre Authentizität in der alltäglichen Wahrnehmung in Frage. Vor allem durch das Aufkommen und den Einsatz von Bildbearbeitungsprogrammen wie Adobe Photoshop etablierte sich die Vorstellung, dass digitale Bilder völlig beliebig gestaltet werden könnten. Denn durch Eingriffe in das Bild, z.B. über die Anwendung von Filtern, kann es bis ins letzte Detail verändert werden. Gleichzeit können digitale Bilder unbegrenzt kopiert und in unterschiedlichsten Medien reproduziert werden. Diese dynamischen Eigenschaften ermöglichen es, dass sie in immer neuen Versionen und Kontexten verwendet werden. Folglich sind digitale Bilder durch einen spezifischen Produktions- und Distributionskontext gekennzeichnet und verweisen somit auch auf die Konfigurierbarkeit von Kultur.81 Walter Benjamin spricht in seinem bekannten Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vom „Verkümmern der
80 V gl. Kittler, Friedrich: Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung, in: Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie, Frankfurt a. M. 2002, S. 178. 81 Gunkel, Katja: Der Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld 2018, S. 349.
169
2. Das Bild des Wohnens Aura“ des Kunstwerks (bzw. Bildes) als Folge seiner Reproduktion, da es dabei aus seinem zeitlichen, örtlichen und materiellen Kontext herausgelöst werde.82 Die Idee des Einzigartigen und Singulären, die das Original in sich trägt, wird durch Wiederholung und technische Verbreitung aufgelöst. Benjamins Argument beruht jedoch auf der Vorstellung, dass es ein einziges Original und eine unbegrenzte Zahl an identischen Kopien gebe. Doch die mechanische Reproduktion kann nicht direkt mit der digitalen Reproduktion verglichen werden. Die Kopie eines Drucks folgt einer anderen Logik als das Viral-Gehen on digitalen Bildern. Wird ein digitales Bild am Display dargestellt, interpretiert jede Software die codierte Information autonom und damit potentiell unterschiedlich, woraus folgt, dass es kein visuelles Original im eigentlichen Sinne, sondern stattdessen Millionen einzigartiger Reproduktionen gibt. Michael Young schreibt daher: „Instead of originals without auras, we have auras without originals.“83 Die Frage nach dem Original verliert damit an Relevanz, wichtiger scheint nun die Frage, wie sich digitale Bilder durch andere Displays, Medien und Kontexte verändern und durch ihre neuartige Aura transformieren. Vor der Erfindung des Internets war die Reproduktion von Bildern durch Institutionen oder Redaktionen kuratiert und reguliert. Auch hier wurden Bilder bereits gemäß bestimmter Sichtbarkeitspolitiken bearbeitet und also auch manipuliert, um disziplinäres Wissen zu schaffen.84 Doch die heutige Reproduktion digitaler Bilder scheint undurchsichtiger und unüberschaubarer zu sein. Die Wanderung einzelner Bilder durch digitale Netzwerke ist nicht mehr nachvollziehbar, ebenso wenig können Fotografien noch eindeutig von Renderings unterschieden werden. Der Fokus liegt also nicht mehr auf dem Wert oder der Aura des Originals, sondern vielmehr auf den Fragen danach, was die Reproduktion der Bilder – also ihre Wiederholung bei gleichzeitiger Veränderung – bewirkt und wie in diesem Prozess wechselnde Kontexte, Betrachter*innen und Displays dem einzelnen Bild immer andere und neue Bedeutungen einschreiben. Für die weitere Untersuchung spielt diese Reproduktion, also die Potenzierung von Sichtbarkeit einzelner Bilder und ihre Auswirkungen, eine wesentliche Rolle.
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gl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen ReproV duzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 13. 83 Young, Michael: Fear of the mediated image, in: Cornell Journal of Architecture, 2020, S. 146–161, hier S. 156. 84 Ebd.
170
2.3 Understanding Instagram
Neue Bilder – neue Smartphone-Kameras Die explosionsartige Vermehrung digitaler Bilder geht auch mit der Entwicklung von Handykameras einher. Das Mobiltelefon hat den globalen Bildgebrauch radikal transformiert: Die Produktion (Kamera), Manipulation (Filter) und Distribution (Social-Media-Apps) digitaler Bilder wurden durch technologische Innovationen stark verändert. Mit der Markteinführung des iPhones von Apple im Jahr 2007 wurde der Grundstein für die Etablierung von Smartphones und Tablets gelegt. Das smarte Mobiltelefon wurde ein unverzichtbarer Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs und zentrales Objekt gegenwärtiger Dingkultur.85 Durch die globale Verbreitung des omnipräsenten, multifunktionalen Smartphones, das sozusagen ein portabler Computer mit Internetverbindung und Fotokamera ist, entstand ein Gerät, das alles integrierte: endlose Funktionen, Unterhaltung, Informationsbeschaffung, Transaktionen und Transformationen. Mit der Markteinführung des iPhone 4 (2010) wurde auch die Kamera in den Fokus der Hard- und Software-Entwicklung gestellt. Durch die Entwicklung und Optimierung der integrierten Kamera verbreitete sich das Genre der mobile photography rasant und etablierte eine neue Kultur des mobilen Bildermachens. Die Smartphone-Kamera in Kombination mit einer Internetverbindung schuf ideale Bedingungen für die Entwicklung unterschiedlicher Kamera-Apps (Hipstamatic, 2009) oder Foto-Sharing-Plattformen wie Instagram (2010). War bis dahin professionelle Fotografie an teures Equipment, Know-how und Publikationsmöglichkeiten (Galerien, Bücher) gebunden und daher nur für einige wenige zugänglich, führte die Entwicklung von Handykameras und Foto-Apps zu einer Art Demokratisierung des Bildermachens. Jede*r konnte nun immer und überall Fotos in ausreichender Qualität machen und durch die technische Unterstützung mit digitaler Bildbearbeitung der Kamera-Apps „schöne“ Bilder produzieren und anschließend virtuell teilen. Hito Steyerl betont in ihrem Artikel Too Much World: Is the Internet Dead? (2013), dass die Bildproduktion durch das Internet zur Massenproduktion wurde, bei der alle den Anspruch auf Kunst erheben können: „As the web spills over into a different dimension, image production moves way beyond the confines of specialized fields. It becomes mass postproduction in an age of crowd creativity. Today, al-
85
Vgl. Gunkel, Katja: Der Instagram-Effekt, S. 18-19.
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2. Das Bild des Wohnens most everyone is an artist.“86 Der Zahlencode des digitalen Bildes nimmt auf Instagram Gestalt an und tritt in unterschiedlichen reproduzierbaren Formen, hervorgebracht durch die Vielen, in Erscheinung.
Abb. 2_15: iPhone 1. Generation, 2007. Abb. 2_16: Logo der Instagram-App im Gründungsjahr 2010.
86
172
teyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, https://www.e-flux.com/ S journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
2.3 Understanding Instagram
Abb. 2_17: Screenshot about.instagram.com.
2.3.2 How Instagram works „Näher an den Menschen und Dingen, die du liebst – Instagram from Facebook. Verbinde dich mit Freunden und lass sie an deinem Leben teilhaben oder sieh dir an, was andere Menschen überall auf der Welt machen. Entdecke eine Community, in der du einfach du selbst sein kannst. Hier kannst du ganz alltägliche Momente oder auch Highlights deines Lebens mit anderen teilen. Sei du selbst und verbinde dich mit Freunden.“87 Instagram ist eine Foto-Sharing-Plattform, die 2010 als App veröffentlicht wurde. Bereits 2011 wurde sie im Apple-App-Store zur App des Jahres gewählt und erfährt seitdem einen enormen Zuspruch. Anfangs nur als iOS-Version für Apple-Endgeräte konzipiert, konnte die populäre Social-Media-Software ab 2012 auch von Android-User*innen genutzt werden. 2012 kaufte Facebook (heute Meta) Instagram zu einem damals unglaublichen Preis von 1 Milliarde US-Dollar auf. Seitdem wurde die 87
Offizielle Beschreibung der Instagram -App (Version 214.0), im deutschsprachigen Apple -App-Store, November 2021.
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2.3 Understanding Instagram
Abb. 2_17: Screenshot about.instagram.com.
2.3.2 How Instagram works „Näher an den Menschen und Dingen, die du liebst – Instagram from Facebook. Verbinde dich mit Freunden und lass sie an deinem Leben teilhaben oder sieh dir an, was andere Menschen überall auf der Welt machen. Entdecke eine Community, in der du einfach du selbst sein kannst. Hier kannst du ganz alltägliche Momente oder auch Highlights deines Lebens mit anderen teilen. Sei du selbst und verbinde dich mit Freunden.“87 Instagram ist eine Foto-Sharing-Plattform, die 2010 als App veröffentlicht wurde. Bereits 2011 wurde sie im Apple-App-Store zur App des Jahres gewählt und erfährt seitdem einen enormen Zuspruch. Anfangs nur als iOS-Version für Apple-Endgeräte konzipiert, konnte die populäre Social-Media-Software ab 2012 auch von Android-User*innen genutzt werden. 2012 kaufte Facebook (heute Meta) Instagram zu einem damals unglaublichen Preis von 1 Milliarde US-Dollar auf. Seitdem wurde die 87
Offizielle Beschreibung der Instagram -App (Version 214.0), im deutschsprachigen Apple -App-Store, November 2021.
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2. Das Bild des Wohnens App ständig weiterentwickelt, sowohl ihr Interface-Design als auch das Logo wurden verändert und auch neue Features und Funktionen kamen hinzu. 2022 hat Instagram monatlich 1,18 Milliarden88 aktive User*innen, Tendenz steigend, und steht somit nach Facebook, YouTube und WhatsApp auf Platz 4 der beliebtesten Social-Media-Plattformen weltweit.89 Instagram kann kostenlos genutzt werden, die User*innen „bezahlen“ für ihre Nutzungsrechte – wie auf vielen anderen Plattformen auch – mit ihren Daten. Auf Instagram können Fotos veröffentlichen, bearbeiten und geliket werden, seit 2013 gilt dasselbe auch für Videos. Durch Likes, Kommentare und Reposts wird mit Anderen interagiert und kommuniziert. Das verbindende Element ist immer das statische oder bewegte Bild, es bildet somit die Grundlage für Interaktion. Mit der Foto-Sharing-App Instagram wurden die mobilen Kommunikationsmöglichkeiten von Social Media um eine visuelle Komponente erweitert. Durch die benutzer*innenfreundliche Oberfläche und die leicht zu bedienenden Filteroptionen war es mit der Einführung der App 2010 fast allen möglich, Fotos in ihrem Alltag zu produzieren und mit der ganzen Welt zu teilen.90
Instagram-Community und Selbstinszenierung Im Werbetext zur Instagram-App wird das Verbindende immer wieder hervorgehoben: Verbinde dich mit Freunden. Das sogenannte Sharing-Verhalten erzeugt Netzwerkeffekte und schafft somit immer neue Verbindun-
88 Anzahl der monatlich aktiven Nutzer von Instagram weltweit in den Jahren 2020 und 2021 sowie eine Prognose bis 2026, Statista 2023, https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/795086/umfrage/anzahl-der-nutzer-von-instagramweltweit/ (20.3.2022). 89 Beliebteste soziale Netzwerke weltweit im Oktober 2021, sortiert nach der Anzahl der aktiven Nutzer*innen, Statista 2022, https://www.statista.com/stati stics/272014/global-social-networks-ranked-by-number-of-users/ (22.11.2022). 90 Instagram war vor allem in seinen Anfangsjahren aufgrund des Angebots an Filtern besonders populär. Im Interface der App waren die Filter prominent sichtbar, genauso im Werbetext zur App. Einige Filter brachten Strukturen wie Körnungen oder Kratzer sowie Unschärfe in die Bilder und sollten so an die nostalgisch besetzte Ästhetik einer Instant-Fotografie (Polaroid) anknüpfen. 2021 besaß die Instagram-App 23 Filter und weitere Bearbeitungsfunktionen wie Ausrichtung, Helligkeit, Kontrast, Struktur, Wärme, Sättigung, Farbe, Verblassen, Highlight, Schatten, Vignette, Tilt-Shift. Aber auch der Hashtag #notfilter hat sich etabliert.
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2.3 Understanding Instagram gen. Historisch gesehen gibt es hierzu kein Äquivalent und somit macht es Instagram zu einem beeindruckenden Phänomen in der Geschichte moderner Medien. Auf Instagram können viermal mehr Interaktionen erzeugt werden als auf der Schwesterplattform Facebook.91 Die Frequenz der Interaktion gibt auch Auskunft über die Relevanz eines Accounts innerhalb der Instagram-Community. Status und Erfolg werden über das Feedback durch Likes und Abonnent*innen gemessen. Auch die Vernetzung mittels Verschlagwortung durch Hashtag (#) und Verweise (@) machen einen Account auffindbar und können die Reichweite erhöhen. Durch das Zusammenstellen des „jeweils passenden Hashtag- Ensembles“92 kann Instagram auch als eine Wort-Bild-Marke93 gelesen werden, denn erst die geglückte Kombination von Bild und richtiger Verschlagwortung optimiert die Reichweite einzelner Accounts. Wer auf Instagram sichtbar ist, ist abhängig von der Anzahl der Interaktionen, denn mit fehlender sozialer Reichweite schwindet die eigene visuelle Präsenz auf der Plattform. Dem Appell zum Verbinden wird bei Instagram noch das Selbst vorausgestellt: Sei du selbst und verbinde dich mit Freunden. Die Selbstinszenierung und gleichzeitige Selbstoptimierung ist ein wesentliches Charakteristikum der Selbstdarstellung auf Instagram. So wird durch das Zusammenwirken ästhetischer, sozialer und wirtschaftlicher Werte in den geteilten Bildern ein subjektbezogener Lifestyle des 21. Jahrhunderts promotet. Das Individuum kann so über Bilder visuelle Präsenz erhalten. Dabei muss das Subjekt nicht unbedingt auf jedem Bild selbst körperlich in Erscheinung treten, allein durch die Reproduktion von gewissen ästhetisierten Bildinhalten wird ein visual style des Individuums festgelegt. Doch diese visuelle Freiheit ist nicht grenzenlos, die Plattform hat auch selbst durch ihre User*innen einen gewissen visuellen Stil entwickelt (siehe 2.3.1, Instagram aesthetics und Instagramism), dem sich die User*innen aufgrund technischer Parameter und ästhetischer Konventionen unterwerfen müssen oder wollen. Solche medienstrukturellen Parameter sind z.B. das quadratische Bildformat, die chronologische Sortierung innerhalb des Feeds oder das Ausschließen von rein textlichen Posts.
91 92 93
ocialbakers: Instagram engagement: Everything you need to know, 2018, S https://www.socialbakers.com/blog/instagram-engagement (22.11.2021). Gunkel, Katja: Der Instagram-Effekt, S. 164. Der Name Instagram wurde gebildet aus instant camera (Sofortbildkamera) und telegram.
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2. Das Bild des Wohnens Neben Community und Selbstinszenierung betont Instagram in seiner Eigenwerbung auch die Verbindung mit und zu Dingen betont: Näher an den Menschen und Dingen. Shopping ist eine weitere Form der Interaktion auf Instagram, so ist das Bewerben von Produkten oder Serviceleistungen fixer Bestandteil der Plattform. Über Produktplatzierungen tauchen unterschiedlichste Waren in den geteilten Bildern auf oder Werbeposts sind direkt im Feed platziert. Instagram ist nicht nur eine Foto-Sharing-Plattform, sondern ist auch zu einem Marktplatz geworden. Im Jahr 2020 erwirtschaftete Instagram in den USA 17,4 Milliarden US-Dollar an Werbeeinnahmen, für das Jahr 2023 werden rund 40 Milliarden US-Dollar prognostiziert.94 Genauso wie sich User*innen auf Instagram von Produkten und Dienstleistungen inspirieren lassen, suchen auch Unternehmen auf Instagram nach markttauglichen visuellen Trends. Auffallend ist, dass die Verschränkung mit Waren immer mehr in den Fokus der Plattform gerückt worden ist. Seit 2016 können sogenannte Business-Accounts erstellt werden, die weitere Vorteile für Kauf und Verkauf bieten.95 Wie Katja Gunkel in Instagram-Effekt (2018) schreibt, lag der Schwerpunkt der Plattform im Jahr 2013 noch auf den Möglichkeiten, durch Bildbearbeitung mit Filteroptionen „Kunstwerke“ zu erschaffen. Betrachtet man den heutigen Beschreibungstext der App, ist die Verknüpfung mit Dingen sowie die explizite Einladung zum Produkterwerb stärker in den Mittelpunkt gerückt. „Entdecke Marken und kleine Unternehmen und kaufe Produkte, die deinen Stil unterstreichen.“96
94 Annual Instagram advertising revenues in the United States from 2018 to 2023, Statista 2023, https://www.statista.com/statistics/1104447/instagram-ad-re venues-usa (12.03.2022). 95 Seit 2012 gibt es auch eine zusätzliche Webversion der App, die vor allem für Firmen und Marken notwendig war, damit diese sich verlinken konnten. Die individuellen User*innen sollen jedoch mittels App agieren, da hier die Interaktion und Zirkulation einfacher, schneller und vor allem ergiebiger ist. 96 Instagram -App (Version 214.0), App-Beschreibung im Apple-App-Store, November 2021 (22.11.2021).
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2.3 Understanding Instagram
Abb. 2_18: Instagram-Screenshot about.instagram.com. Abb. 2_19: Instagram-Profil von Christiano Ronaldo, @cristiano, mit 422 Millionen Follower*innen (Stand April 2022).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_20: Instagram-App, Feed-Ansicht. Abb. 2_21: Instagram-App, Grid-Ansicht.
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2.3 Understanding Instagram
Feed, Grid und Stories Jeder Instagram-Account zeigt ein rundes, standardisiertes Profilbild, daneben steht der Accountname mit einer knappen, stichwortartigen Beschreibung. Ein Klarname muss auf Instagram nicht sichtbar sein, überhaupt ist das Profilbild weniger relevant als bei anderen Plattformen, etwa bei Facebook. Denn das Image eines Instagram-Accounts definiert sich nicht über dessen Profilbild, sondern über den Gesamteindruck der gezeigten Bilder. Gleich unter dem Accountnamen folgt die eigentlich wichtigste Information, die Reichweite des Accounts: 99k (@fala.atelier), 3.3m (@archdaily) oder 422m (@christiano). 422 Millionen Abonnent*innen97 folgen somit dem Account des portugiesischen Fußballprofis Christiano Ronaldo – dem reichweitenstärksten Account auf Instagram. Eine große Reichweite bringt auch finanzielle Möglichkeiten mit sich: So wird kolportiert, dass Ronaldo für einen Post 1,6 Millionen US-Dollar bekommen habe. Instagram kann auf zwei unterschiedliche Arten betrachtet werden: entweder in der Feed-Ansicht, einer vertikalen, linearen Anordnung aus unterschiedlichen Bildern von abonnierten Accounts, oder in der Grid-Ansicht des ausgewählten einzelnen Accounts. Der Feed erlaubt es, beliebig lange vertikal in die Vergangenheit zu scrollen. Dabei mischen sich abonnierte Accounts mit unzähligen Werbeanzeigen. Die personalisierte Werbung gleicht sich grafisch immer mehr an abonnierte Posts an, eine Unterscheidung zwischen beiden ist auf den erst Blick kaum möglich, nur die winzige dunkelgraue Unterschrift gesponsert unterscheidet Werbung von bewusst abonniertem Content. Auch diese grafische Anpassung zeigt, wie sehr die Plattform von Konsum durchdrungen ist. Wird nun ein einzelner Account besucht, präsentieren sich die Bilder in einem Raster mit jeweils 3 quadratischen Bildern nebeneinander, in der Vertikale führen die quadratischen Bilder ins (scheinbar) Unendliche. Wie Kacheln tauchen die quadratischen Bilder im Grid nebeneinander auf, Text kommt in dieser Ansicht nicht vor. Die Bilder stehen im Grid in Relation zueinander und wirken in ihrer Gesamtheit, sie bilden das Identitätsnarrativ eines Accounts. Erst durch Anklicken eines Einzelbildes vergrößert sich dieses und eine Bild-Text Kombination-wird sichtbar.
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Stand April 2022. https://www.instagram.com/cristiano/ (12.2.2022).
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2. Das Bild des Wohnens So kann das Bild über die Kommentarfunktion beschrieben, ge(hash-) tagt und mit Verweisen auf andere versehen werden. User*innen können hier kommentieren oder ihre Zuneigung mit dem Herz-Button als Like zum Ausdruck bringen. Viel Interaktion spült nun in der algorithmisch sortierten Zeitleiste einzelne Bilder im Feed der vielen Accounts nach oben und verhilft ihnen zu Sichtbarkeit. Auch der Faktor Zeit ist ein wesentliches Element auf Instagram. Uhrzeit und Datum legen nicht nur die Position jedes einzelnen Bildes im Raster unwiederbringlich fest, sondern das Hier und Jetzt, das ImMoment-Sein sowie die Atmosphäre des realen Lebens sind Rahmenhandlung jedes vieler Posts auf Instagram. Die Besessenheit von Zeit verlangt jedoch von den User*innen, immer verfügbar und up to date zu sein, um nichts zu verpassen. Auch die Plattform selbst muss sich ständig neu erfinden und anpassen. Seit ihrer Veröffentlichung 2010 wurde die Instagram-App 214-mal upgedatet (Stand 2021), wobei die Inspiration für Neuerungen oft von anderen Plattformen stammt. Populäre Features der Konkurrenz wurden und werden von Instagram übernommen. Zu beobachten war dies z.B. 2013 bei der Einführung der Videofunktion, die auf einer Idee der Videoplattform Vine basierte. 2016 wurde die beliebte Funktion Stories – eine Slideshow aus Bildern und Videos im Hochformat, die nach 24 Stunden automatisch verschwindet – eingeführt, übernommen von der Plattform Snapchat. Genauso wie die 2018 ergänzenden animated GIFs für Stories, die ebenfalls von den Face-Filtern der Plattform Snapchat kommen. Das Lesezeichen erlaubt seit 2017 die Gruppierung von einzelnen ausgewählten Posts zu Kollektionen, ähnlich einem Pinterest-Board. Die 2019 eingeführten Reels (Kurzvideos) sind von der Plattform TikTok übernommen. Die größte Veränderung erfuhr Instagram jedoch 2016. Das gesamte Interface-Design wurde flacher und durch Schwarz-weiß-Töne dezenter. Auch das Marken-Logo wurde einem kompletten Redesign unterzogen und als reduziertes, flaches, abstraktes Logo mit Betonung auf dem Farbverlauf neu geboren. Einzig die handschriftliche Typografie des Schriftzugs Instagram blieb. Die Liste an Veränderungen und Updates würde sich ewig weiterführen lassen, denn die Plattform muss sich stets neu erfinden und weiterentwickeln, um attraktiv zu bleiben.
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2.3 Understanding Instagram
2.3.3 Instagram aesthetics und Instagramism Der Begriff Instagram aesthetics erreicht 2022 bei einer Google-Suchanfrage 2 ca. Millionen Ergebnisse.98 Die Popularität des Begriffs Ästhetik im Zusammenhang mit Instagram ist unbestritten. So scheint es fast egal, welcher Content auf Instagram gezeigt wird, wichtig ist vor allem seine Erscheinungsform. Themen wie Mode, Food, Design oder Reisen sind zwar beliebt, doch relevant ist nicht die abgebildete Tasse Kaffee an sich, sondern vielmehr, wie diese Tasse Kaffee gezeigt wird. Instagram- Ästhetik lässt sich verstehen als eine Kombination aus visuellem Stil, ausgewählten Techniken und einer speziellen Art von Inhalt, die immer auch im größeren Kontext des Grids betrachtet wird. Durch spezielle Filter, weitere Apps (VSCO99), Photoshop oder auch das Arrangieren und Inszenieren eines bestimmten Schauplatzes werden Voraussetzungen geschaffen, um der beschriebenen Instagram-Ästhetik gerecht zu werden. Lev Manovich fasst die Bedeutung einer Instagram-Ästhetik so zusammen: „The creation of beauty – rather than information – is what successful Instagram accounts aim at. Having a consistent visual theme is seen as a necessary condition for attracting many followers. Another such condition is posting only aesthetically pleasing photos.“100 So werden Fotos auf Instagram meist sorgfältig kuratiert eingesetzt, um diese ästhetischen Ansprüche zu erfüllen. Man kann daher festhalten, dass Instagram nicht einfach eine bildbasierte Kommunikationsplattform ist, sondern eine Plattform für ästhetisierte visuelle Kommunikation. Die auf Instagram geteilten Fotos sind zwar von unterschiedlichen Einflüssen zeitgenössischer Designtrends beeinflusst, sie sind jedoch von einer übergeordneten visuellen Strategie geprägt. Im Vordergrund steht nicht die Vermittlung eines bestimmten Narrativs, sondern die Atmosphäre eines einzigartigen Moments mit Menschen, Gegenständen oder Räumen. Der bewusste Einsatz von Helligkeit, Kontrast, Sättigung und gedämpften Farben in Kombination mit persönlichen Gegenstän-
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Google-Suche zu „Instagram aesthetics“ vom 4.2.2022. SCO (früher VSCO Cam) ist eine mobile Foto-App für iOS- und Android-GeV räte. Die App wurde 2011 von Joel Flory und Greg Lutze entwickelt. Die App bietet voreingestellte Filter und Bearbeitungswerkzeugen an. 100 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Data Publics. Public Plurality in an Era of Data Determinacy, London 2020, S. 192–210, hier S. 194.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_22: Google-Suchergebnis zu „Instagram aesthetics“.
den, Objekten und Körpern in einer räumlichen Inszenierung erzeugt die spezifische Instagram-Ästhetik. Dabei vermischen sich unterschiedliche Praktiken und Begriffe, wie kommerziell, künstlerisch, natürlich, artifiziell, individuell, kollektiv, und bilden keine Gegensätze mehr, sondern verschwimmen ineinander. Auch der Umgang mit Raum und seine Inszenierung im Bild sind Teil dieser Instagram-Ästhetik: „The visual representation of space and experience becomes aspirational, both for recreating the look and for obtaining that feeling.“101 So entstehen Bilder, die flache Räume, separierte Objekte und aus der Bildmitte entrückte Körper in stimmigen Farben und dem richtigen Kontrast zeigen, einen geplanten und arrangierten Moment von scheinbar einzigartiger Spontanität. Und obwohl diese Bildbeschreibung von Unmöglichkeiten und Widersprüchen begleitet ist, spielen die Grenze zwischen authentisch und inszeniert keine Rolle mehr, solange das Bild der Logik der Instagram-Ästhetik 101
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Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram. Visual Social Media Cultures, Cambridge/Medford 2020, S. 72.
2.3 Understanding Instagram folgt. Diese Ästhetik wird zu einer Art Vorlage oder Schablone, wie Erlebnisse oder Erfahrungen auf der Plattform präsentiert und wahrgenommen werden.
Platform vernacular und Instagramism Martin Gibbs et al. nennen diese Kombination aus Stilen, Grammatiken und Logiken der Plattform und die Art, wie ihre Nutzer*innen sich diese in der Praxis aneignen und implementieren, „platform vernacular“.102 Lev Manovich wiederum bezeichnet das Phänomen einer spezifisch ästhetisierten, globalen visuellen Sprache, die Nutzer*innen im Verband mit der Plattform hervorbringen, als Instagramism: „Instagramism offers its own vision of the world and its own visual language.“103 Beide Begriffe, platform vernacular und Instagramism, stehen für kulturelle Ausdrucksformen, die über visuelle Medieninhalte und ihre Distribution entstehen. In dieser medialen Form vermischen sich künstlerische Stile, individuelle Interessen, soziale Normen, aber auch politische Ordnungen. Dabei steht kein spezieller Inhalt im Vordergrund, sondern ausschlaggebend sind die Stimmung und die Atmosphäre, die durch das Agieren mit Bildern auf der Plattform produziert werden. Instagramism findet sich nicht nur im offiziellen Erscheinungsbild von Instagram mit seinen Celebritys, Instagram-Stars und Influencer*innen mit vielen Follower*innen wieder. Sondern auch die große Masse von Instagram-User*innen strebt nach diesem visuellen Ideal. „We [Autor*innen des Artikels] argue that Instagram use has shifted from a focus on filters to an era of templatability, where new aesthetic and communication norms are established by celebrities and Influencers that ripple through the platform, establishing the fleeting vernacular norms of the day.“104 Instagram hat mit seinem gigantischen Bildarchiv eine globale visuelle Kultur hervorgebracht. Der Einfluss der Plattform auf eine populäre Bildsprache, die durch kollektive visuelle Erfahrungen hervorgebracht wird, ist in unzählige andere Medienformate übergegangen und somit auch in Lebensbereiche außerhalb der Plattform. Diese neue Bildkultur hat sich
102 V gl. Gibbs, Martin et al.: # Funeral and Instagram: death, social media, and platform vernacular, in: Information Communication and Society, 2015. 103 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 193. 104 Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 6.
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2. Das Bild des Wohnens zwar aus technischen Medien entwickelt (Plattform, Kamera), sie wird jedoch nicht ausschließlich durch Technologie produziert, sondern entwickelt auch eigene Kulturtechniken.
Aesthetic workers Doch wer sind die Akteur*innen, die diese globale visuelle Ästhetik als kulturelles und sozioökonomisches Phänomen mitgestalten? Die Produzent*innen dieser Bildwelten – häufig Instagramer*innen genannt – besitzen bestimmte Fähigkeiten bzw. Skills, um den ästhetisierten Bildermarkt zu füttern. Das alleinige Besitzen eines Mobiltelefons mit Kamera und der Zugang zur Instagram-App reichen nicht aus, um Teil dieser neuen Ästhetik- und Wertegemeinschaft zu sein. Plattformen produzieren also auch neue „Arbeiter*innen“. Plattformen wie Instagram und Facebook produzieren vor allem Wissensarbeiter*innen, denn das Produkt ihrer Arbeit ist immateriell: kulturelle Inhalte, Wissen, Affekte und Dienstleistungen.105 Manovich bezeichnet diese neuen Arbeiter*innen als aesthetic workers, die auf Instagram durch ihre Arbeitskraft und Fähigkeiten kulturelles Kapital (Pierre Bourdieu) kreieren, das, bei genügend Follower*innen, auch in ökonomisches Kapital transformiert werden kann.106 Aesthetic workers müssen ihre Fähigkeiten nicht an Dritte weiterverkaufen. Durch ihre technischen Skills, ihre Community-Erfahrung sowie den eingeübten Austausch in Online-Kommunikation können sie die Popularität ihrer Accounts so steigern, dass Möglichkeiten zu Geschäftskooperationen mit Marken und Unternehmen entstehen. Das Wissen über erfolgreiches Agieren auf Plattformen wie Instagram und das Beherrschen von Kommunikations- und Ausdrucksstilen sind wesentliche Eigenschaften dieser neuen Arbeiter*innen. Der Fulltimejob aesthetic worker und die damit einhergehende ästhetische Medienkompetenz impliziert auch die Selbstinszenierung des Subjekts über persönliche Erlebnisse und Erfahrungen in der Bildpräsenz. Das Aufwachen, Genießen und Entspannen als einzigartige Momente der Selbstinszenierung, tragen zur Identitätsproduktion eines Accounts wesentlich bei. Diese bildbasierte Art der Selbstdarstellung ist zu einer kollektiven sozialen Praxis auf Instagram geworden und folgt in 105 Vgl. Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, S. 56. 106 Vgl. Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 194f.
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2.3 Understanding Instagram
Abb. 2_23: Instagramism : ästhetisierte, einzigartige, perfekte Momente, Instagram-Account @lydiamillenhome, 326k Follower*innen (Stand 2022).
hohem Maße einer Logik der Selbstoptimierung. Die ästhetische Arbeit am Inszenieren des eigenen Körpers sowie des ausgewählten Lebensstils wird zur extensiven Vollzeitbeschäftigung. Der Umgang mit ikonischer Selbstinszenierung verlangt ein ästhetisches Bewusstsein, sowohl für das Einzelbild als auch für das gesamte Erscheinungsbild eines Accounts. Dabei müssen sämtliche Innovationen absorbiert und angewendet werden, damit die Atmosphäre von Einzigartigkeit und Spontanität kontrolliert aufrechterhalten werden kann. Arbeit lässt sich in dieser Form nicht mehr von Nicht-Arbeit trennen,107 die Unterscheidung zwischen privaten In-
107 Vgl. Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, S. 56.
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2. Das Bild des Wohnens teraktionen und gewinnorientierten Handlungen löst sich auf. Doch alle Interaktionen sind durch eine gemeinsame Instagram-Ästhetik verbunden. Aesthetic workers handeln in einer aesthetic society, in der ästhetisierte Bilder von Produkten und Erlebnissen zentrale Elemente in der Vermarktung von Waren und Dienstleistungen geworden sind.108
2.3.4 Shop my post Obwohl Instagram nach seiner Gründung 2010 wie oben ausgeführt schnell wuchs, verfolgte die Plattform zunächst kein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Die Integration von Werbung auf der Plattform vollzog sich zunächst langsam, wurde dann durch die Übernahme von Facebook 2012 jedoch beschleunigt. Die Transformation zu einem Marktplatz der Aufmerksamkeit und des Kommerzes wurde in Gang gesetzt. „As Instagram has grown from an iPhone-only app into a vast platform owned by facebook, it has also had a wrestle with being a space where communication and commerce have overlapped, from the appearance of advertising to the rise of Influencers and a new class of content creators who strive for authenticity on a platform best known for selfies and self-representation.“109 Als stark wachsende Social-Media-Plattform mit großer Reichweite und einer starken Interaktionsfrequenz sowie als kommerzieller Marktplatz ist Instagram für viele Unternehmen und Marken äußerst attraktiv geworden. Instagram hat sich mittlerweile, so Gunkel, zu einem „vollends kommerzialisierten Kommunikationsmedium“ mit einem ausdifferenzierten Waren- und Dienstleistungsuniversum gewandelt.110 Vom geschäftigen Treiben auf der Plattform profitiert dabei zum einen das Mutter-Unternehmen Facebook (Meta) selbst, insofern Unmengen an Daten aufgezeichnet werden, auf deren Basis Werbeflächen verkauft werden. Zum anderen sind auf Instagram attraktive Geschäftsmodelle für erfolgreiche Instagramer*innen oder Influencer*innen entstanden. Im Jahr 2001 beherbergte Instagram mehr als 200 Millionen Business-Accounts, und laut der eigenen Firmenstatistik folgen 90 Prozent der
108 Vgl. Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 195. 109 Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 1. 110 Gunkel, Katja: Der Instagram Effekt, S. 337.
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2. Das Bild des Wohnens teraktionen und gewinnorientierten Handlungen löst sich auf. Doch alle Interaktionen sind durch eine gemeinsame Instagram-Ästhetik verbunden. Aesthetic workers handeln in einer aesthetic society, in der ästhetisierte Bilder von Produkten und Erlebnissen zentrale Elemente in der Vermarktung von Waren und Dienstleistungen geworden sind.108
2.3.4 Shop my post Obwohl Instagram nach seiner Gründung 2010 wie oben ausgeführt schnell wuchs, verfolgte die Plattform zunächst kein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Die Integration von Werbung auf der Plattform vollzog sich zunächst langsam, wurde dann durch die Übernahme von Facebook 2012 jedoch beschleunigt. Die Transformation zu einem Marktplatz der Aufmerksamkeit und des Kommerzes wurde in Gang gesetzt. „As Instagram has grown from an iPhone-only app into a vast platform owned by facebook, it has also had a wrestle with being a space where communication and commerce have overlapped, from the appearance of advertising to the rise of Influencers and a new class of content creators who strive for authenticity on a platform best known for selfies and self-representation.“109 Als stark wachsende Social-Media-Plattform mit großer Reichweite und einer starken Interaktionsfrequenz sowie als kommerzieller Marktplatz ist Instagram für viele Unternehmen und Marken äußerst attraktiv geworden. Instagram hat sich mittlerweile, so Gunkel, zu einem „vollends kommerzialisierten Kommunikationsmedium“ mit einem ausdifferenzierten Waren- und Dienstleistungsuniversum gewandelt.110 Vom geschäftigen Treiben auf der Plattform profitiert dabei zum einen das Mutter-Unternehmen Facebook (Meta) selbst, insofern Unmengen an Daten aufgezeichnet werden, auf deren Basis Werbeflächen verkauft werden. Zum anderen sind auf Instagram attraktive Geschäftsmodelle für erfolgreiche Instagramer*innen oder Influencer*innen entstanden. Im Jahr 2001 beherbergte Instagram mehr als 200 Millionen Business-Accounts, und laut der eigenen Firmenstatistik folgen 90 Prozent der
108 Vgl. Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 195. 109 Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 1. 110 Gunkel, Katja: Der Instagram Effekt, S. 337.
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2.3 Understanding Instagram User*innen mindestens einer kommerziellen Marke.111 Für die Nutzer*innen sind vorgeschlagene und abonnierte Werbung, abonnierte Accounts und personalisierte Werbung visuell kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Werden User*innen selbst zu Unternehmer*innen, kann das in unterschiedlichen Formen und Maßstäben passieren. So gibt es die Produktkooperationen zwischen Firmen und beliebten Instagramer*innen, bei denen Produkte des betreffenden Unternehmens in ihren geposteten Bildern auftauchen und dafür ein Gegenwert (Produkte, Reisen etc.) erhalten wird. Markenkooperationen oder gezieltes Product-Placement mit Hinweisen auf das Label in den Bildbeschreibungen werden meist auch monetär abgegolten. Aber auch ganze Accounts können wie eine konsumierbare Marke zu einem begehrenswerten Objekt werden.
Das Bild als Währung Instagrams ökonomisches Potential als globaler Marktplatz beruht auf Bildern. Das Bild alleine muss auf der Plattform dementsprechend all die Möglichkeiten, Stimmungen und Begehren erzeugen, die bei den User*innen die Lust und den Willen zum Konsum steigern. Gunkel führt dazu aus: „Gemäß der Warenlogik der New Economy korrespondiert der Marktwert eines Bildes hierbei mit dessen Aufmerksamkeitswert, welcher sich wiederum durch die Anzahl an Likes und Followern quantifizieren lässt.“112 Bilder sind also eine Art Währung, die durch Aufmerksamkeit Follower*innen generieren können und dadurch einen Marktwert schaffen. In der Aufmerksamkeitsökonomie113 bedeutet die knappe Ressource Beachtung ökonomisches Kapital und soziale Währung. Auf Instagram wird Aufmerksamkeit vor allem durch Ästhetik generiert, denn in einer aesthetic society sind ästhetisierte Bilder treibende Kraft für die Vermarktung von Waren und Dienstleistungen. Diese Konsumästhetik114 umfasst sowohl den Akt des Kaufens als auch die verschiedenen Arten des Gebrauchs von Dingen und beschreibt die Identifikation mit
111 https://business.instagram.com/getting-started?ref=igb_carousel (24.11.2021). 112 Gunkel, Katja: Der Instagram Effekt, S. 34. 113 Georg Frank etablierte Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie 1998. (Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998). 114 Gunkel, Katja: Der Instagram Effekt, S. 32.
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2. Das Bild des Wohnens ästhetisierten kulturindustriellen Gegenständen. Um dieser Konsumästhetik gerecht zu werden, folgen erfolgreiche Instagram-Accounts gewissen Regeln. Unmengen an Video-Tutorials auf YouTube verweisen auf die Notwendigkeit eines konsequenten visuellen Stils, der wie ein Muster im Grid des Accounts wiedererkennbar sein muss. 2015 taucht in diesem Zusammenhang daher der Begriff von Instagram-Themes auf. Ein Theme umfasst einen Themenbereich, der in Kombination mit einer bestimmten Farbpalette und ausgewählten Kontrasten den Stil bzw. das Erscheinungsbild des Accounts definiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Fotos auf einmal gleich aussehen müssen, Variationen sind möglich, solange sie der Ästhetik der Sequenz eines Accounts folgen. Doch grundsätzlich gilt laut Lev Manovich: „Resist the urge to post things that wont’t fit in.“115 Die visuelle Stringenz in allen Fotos und das kontrollierte Beibehalten des visuellen Themes durch eine bestimmte Sequenz von Farben, Sättigungen und Kontrasten im Grid produzieren eine Instagram-Ästhetik. Diese visuellen Strategien erzeugen Aufmerksamkeit und Wiedererkennungswerte bei User*innen und sind für erfolgreiche Instagram-Accounts ausschlaggebend. Bildbasierte Social-Media-Kommunikation und Konsum sind füreinander prädestiniert. Scrollt man heute durch erfolgreiche Instagram-Accounts, ist die Kommerzialisierung der Plattform und ihrer Nutzer*innen in allen Bereichen spürbar, wenn auch nicht immer eindeutig erkennbar. Ästhetisierte Bilder von Waren und Serviceleistungen in perfekter Stimmung und Atmosphäre zeugen von unterschiedlichen erfolgversprechenden Verkaufsstrategien, von Product-Placement über Markenkooperation bis zum eigenen Webshop, in dem die gezeigten Waren und Objekte gleich nachgekauft werden können. Durch die ständige Zirkulation und die netzwerkartigen Relationen können einzelne Accounts stark anwachsen, bei mangelnder Interaktion aber auch in Bedeutungslosigkeit versinken. Es ist jedoch festzuhalten, dass die dominante Instagram-Ästhetik eine bestimmte Version unserer Welt produziert und immer wieder reproduziert. Der Einfluss und die Monopolstellung einzelner hochkapitalistischer Plattformunternehmen auf die Produktionsmodalitäten einer bildbasierten Massenphänomen sollten hierbei nicht unterschätzt werden. Instagram ist – wie schon ge-
115 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, S. 204.
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2.3 Understanding Instagram
Abb. 2_24: Instagram-Theme, Instagram-Account @lizmariegalvan, 589k Follower*innen (Stand 2022).
sagt – kein neutraler Ort, sondern ein normierendes System, das bestimmte Wissensformen und Kulturen produziert. In dem zu Beginn dieses Unterkapitels beschriebenen binären Zahlencode digitaler Bilder liegt ein kollektives Gedächtnis, das die Gesellschaft und ihre Räume mit- und weiterformt. Ausgehend von diesen Erkenntnissen werden in Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, anhand ausgewählter followerstarker Home-&-Interior-Accounts die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Verbildlichung von Wohnen auf der Plattform Instagram untersucht und diskutiert.
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2.4 Instagram-Wohnen Neben Mode, Food und Reisen ist auch das Wohnen oder das Zuhause zu einem begehrenswerten Schauplatz auf Instagram geworden. Angereichert durch eine spezielle Instagram-Ästhetik (vgl. Kap. 2.3) wird das Wohnen durch ästhetisierte Bilder medial als Lifestyle-Erfahrung vermittelt und schafft dabei Anschlussstellen für kommerzielle Verwertungslogiken. Insta-Homes nennen Tama Leaver, Tim Highfield und Crysal Abidin in ihrer Studie Instagram. Visual Social Media Cultures (2020) die perfekt inszenierten Orte des Wohnens, die von der Idee und Grammatik eines Instagramism durchdrungen sind.116 Im Folgenden werden followerstarke Home-&-Interior-Accounts auf Instagram vorgestellt und untersucht, die das Zusammenspiel von Wohnen und Konsum mit dem Drang des Präsentierens und Repräsentierens vereinen. In zirkulierenden Bild-Kommunikationsformen inszenieren sie die Warenförmigkeit des Wohnens in einzigartigen Wohnmomenten und schüren damit Begehren nach bestimmten Modellen des Wohnens. Dabei treten Insta-Homes nicht als Ratgeber, Orte des Fachwissens oder Best-Practice-Sammlungen des Wohnens auf, vielmehr porträtieren sie das vermeintlich alltägliche Leben in perfekt wirkenden Wohnumgebungen. Vertraut und bekannt ist dieses (Wohn-)Narrativ bereits aus populären Celebrity-Home-Stories in unterschiedlichsten Medien. Festzuhalten ist hier Kim Kardashians Instagram-Account @kimkardashian mit knapp 300 Millionen Follower*innen (Stand April 2022). Die Unternehmerin und Milliardärin wurde vor allem durch die Reality-TV-Show Keeping Up with the Kardashians bekannt. Ihre 1.400 m² große Villa in den Hollywood Hills ist immer wieder Bühne der eigenen Fernsehshow oder Kulisse für spektakuläre Fotoshootings. 2020 stellte Architectural Digest die von Axel Vervoordt und anderen Designer*innen gestaltete Villa vor, in der Kim Kardashian mit ihren vier Kindern wohnt. „A minimal monastery“ nennt Kardashian ihr eigenes Haus,117 in dem Fußböden, Wände und Decken in der gleichen hellen Farbe gehalten sind, keine Objekte (außer Kunstwerken) herumstehen, aber alles von enormer Größe ist. Ein Bild zeigt Kardashian im Ballkleid in ihrer eigenen Dusche, das große mi-
116 Vgl. Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 169. 117 Rus, Mayer: Step Inside Kim Kardashian West and Kanye West’s BoundaryDefying Home, 2020, https://www.architecturaldigest.com/story/kim-kardas hian-kanye-west-home (1.4.2022).
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2. Das Bild des Wohnens nimalistische Bad grenzt an eine Dschungellandschaft und enthebt es vollständig seiner Funktion als Ort der Körperhygiene. Das Wohnhaus ist in Kardashians Bildern eine spektakuläre Bühne für die Selbstdarstellung der Protagonistin, genauso aber auch für die Architektur selbst. Wohnen wird zum Lifestyle aus Oberflächen, Objekten, Farben und Materialien und findet sich als eines von vielen visuellen Spektakeln auf Instagram wieder. Das medial inszenierte Wohnbild von Kim Kardashians Villa mag in Maßstab und Ausmaß übertrieben wirken, doch das Wohnverständnis, das es vermittelt, liegt den meisten Insta-Homes zugrunde, wie die folgenden Beispiele zeigen werden.
Abb. 2_25: Kim Kardashian im Bad ihres Hauses in den Hollywood Hills, für Vogue, 2019.
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2.4 Instagram-Wohnen
Abb. 2_26: Kim Kardashians Instagram-Account @kimkardashian mit 298 Millionen Follower*innen (Stand 2022) und ihr Post zur Veröffentlichung eines Beitrags über ihr Haus in Architectural Digest (2020).
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2. Das Bild des Wohnens
2.4.1 Looking at home & interior accounts on Instagram Im Folgenden wird anhand von vier Instagram-Accounts das Zusammenspiel von Plattformtechnologie und Wohnen untersucht. Dabei werden die gezeigten Bilder des Wohnens nie losgelöst und isoliert von der Plattform und ihrem Gebrauch betrachtet und analysiert. Genauso essentiell für das Verständnis dieser Wohnbildwelten sind auch ihre jeweiligen Entstehungsgeschichten sowie die Personen hinter und in den Bildern des Wohnens. Die umfangreiche Untersuchung der einzelnen Accounts gliedert sich somit in Analysen der Entstehungsgeschichte, des gezeigten Bildmaterials und der kommerziellen Verwertungsformen. Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, reflektiert dann abschließend kritisch über die Beobachtungen zu den hier vorgestellten Accounts. Die vier analysierten Accounts wurden nach bestimmten Parametern ausgewählt: Alle Accounts haben über 100.000 Abonnent*innen (Follower*innen), sie beschäftigen sich mit dem Themenfeld home & interior und sie sind personalisierte Accounts. Das Kriterium von über 100.000 Abonnent*innen war insofern wesentlich, als es die Sichtbarkeit und Reichweite der Accounts gewährleistet, wobei die Abonnent*innen-Zahlen der ausgewählten Accounts zwischen 116.000 (@renovationhusbands) und 3.200 000 (@studiomcgee) liegen. Vergleicht man die Reichweite dieser Instagram-Accounts mit thematisch ähnlichen Druckwerken wie der deutschen Wohnzeitschrift Schöner Wohnen oder dem in der Printausgabe ja 2021 eingestellten Ikea-Katalog, ergibt sich folgendes Bild: Der Ikea-Katalog erreichte 2019 noch eine weltweite Auflage von 124 Millionen Stück.118 Die im deutschsprachigen Raum auflagenstarke Wohnzeitschrift Schöner Wohnen hatte 2021 eine Auflage von ca. 160.000 Exemplaren,119 die Zeitschrift ElleDecor120 erreichte 2020 weltweit eine
118 A nzahl der gedruckten IKEA-Kataloge weltweit in den Jahren 1951 bis 2019, Statista 2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157668/um frage/anzahl-der-gedruckten-ikea-kataloge-pro-jahr-seit-1954/ (27.11.2021). 119 https://www.gujmedia.de/print/portfolio/schoener-wohnen/auflagereichweite/ (27.11.2021). 120 Elle Decor (1989 in Frankreich gegründet) ist ein Ableger des Modemagazins Elle und erscheint in 25 Ländern. Elle Decor zeigt Interior design im Bereich des Wohnens.
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2.4 Instagram-Wohnen Auflagenzahl von ca. 555.000.121 Alle drei Beispiele – Ikea-Katalog, Schöner Wohnen und ElleDecor – waren bzw. sind Print-Erzeugnisse, jedoch mittlerweile auch auf Instagram aktiv, wo etwa 4,2 Millionen Menschen @elledecor, 981.000 @ikea und 155.000 @schönerwohnen folgen. Diese Zahlen machen deutlich, dass personalisierte Instagram-Accounts mit ihrer Reichweite im selben Markt agieren wie etablierte Zeitschriften von Verlagen und werbliche Publikationen von Möbelhäusern. Hinter ElleDecor, Ikea oder Schöner Wohnen stehen Unternehmen mit Kapital, Redaktionen und Marketing-Agenturen. Personalisierte Instagram-Accounts werden hingegen meist von Einzelpersonen oder kleineren Teams gestartet, die sich im Erfolgsfall allerdings auch zu Unternehmen weiterentwickeln können. Der Vergleich zwischen den Abonnent*innen-Zahlen und Auflagenzahlen etablierter Medien machen deutlich, dass Instagram einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Wohnen hat. Alle vier analysierten Accounts sind im Themenfeld Home-Dekor & Innenarchitektur angesiedelt, setzen sich also mit dem Ausstellen und Darstellen von Wohnen auseinander. Da die wenigsten Accounts in ihrer Profilbeschreibung explizit auf die thematische Ausrichtung verweisen, wurde die Auswahl auf Basis des präsentierten Bildmaterials getroffen, welches Variationen von unterschiedlichen Wohngegenständen sowie die Benutzung von Wohnräumen, tägliche Wohnrituale oder Erlebnisse des Bewohnens zeigt. Dabei taucht auf den ausgewählten Accounts immer wieder der Begriff home auf, der unterschiedliche Bedeutungen haben kann und für mehr als einen physischen Raum bzw. die Räume, die wir bewohnen steht. So kann ein Zuhause auch eine Nachbarschaft, eine Stadt oder einen emotionalen Erinnerungsort bezeichnen. Im Zuhause wird auch die eigene Identität definiert und eine gewisse Form der Zugehörigkeit abgebildet. Diese Identität wird durch den individuellen Wohnstil und durch das Präsentierens des eigenen Geschmacks demonstriert. Die Gegenstände des Wohnens, etwa Möblierung und Dekorelemente, geben Einblick in die Persönlichkeit und definieren gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder größeren Gruppe, mit der das Individuum den Geschmack bzw. die Interessen teilt. So fassen Kim Babour und Lydia 121 ElleDecor Media Kit 2020, http://www.elledecormediakit.com/hotdata/publishers/ elledecormk/elledecormk/pdfs/ED2020_MediaKit_final-04.pdf (27.11.2021).
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2. Das Bild des Wohnens Heise in ihrer Studie Sharing #home on Instagram (2019) den Begriff des „Zuhauses“ folgendermaßen zusammen: „Homes are, as they arguably have always been, the meeting place of public and private spheres, where the evidence of our economic capital is located, where we demonstrate our tastes, pursue our hobbies, and build many of the relationships that define our identities.“ Auf Instagram findet man unter den Hashtags #home, #homedecor, #homestyle, #homesweethome vor allem positive Bilder von Orten der Freizeit und Erholung, von einzigartigen Wohnmomenten und Lifestyle-Erlebnissen, die darauf schließen lassen, dass das Zuhause auf Instagram vor allem ein Ort der Dinge, der Repräsentation und des Wohlfühlens ist. Neben der Reichweite und der thematischen Ausrichtung der ausgewählten Accounts war auch die Personalisierung der Accounts, als Erzählung rund um eine oder auch mehrere konkrete Personen, für die Auswahl hier entscheidend. So wird der Account @mytexashouse von Erin Vogelpohl betrieben, die auch Protagonistin des visuellen Narrativs ist. Wir lernen ihr privates Haus und ihre Familie sowie ihre persönlichen Wohnvorlieben kennen. Ob Vogelpohl jeden Post selbst schreibt oder ein Team den Account betreibt, ist hier nicht relevant, ausschlaggebend ist der Eindruck der Follower*innen, dass es Vogelpohl ist, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse mittels Bildern teilt. Auch der untersuchte Account @studiomcgee ist klar zugeordnet, in diesem Fall dem Ehepaar Syd und Shea McGee. Auch wenn der Name des gemeinsamen Designstudios Studio McGee den Accountnamen ziert, ist die gesamte Erzählung rund um das Paar und ihrer drei Kinder aufgebaut. Die sich aus den dargestellten Kriterien ergebende Auswahl der Accounts beschränkt sich auf einen westlichen (Wohn-)Kulturraum und alle vier Accounts kommen aus den USA. Diese geografische und kulturelle Einschränkung ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass englischsprachige (meist US-amerikanische) Accounts die größte Verbreitung und die meisten Follower*innen haben, und andererseits dem Algorithmus, der diese weltweite Verbreitung und Dominanz unterstützt. Auch wenn Indien vor den USA die meisten Instagram-User*innen zählt.122
122 Führende Länder nach Größe der Instagram-Nutzerschaft im Juli 2021: Indien 180 Mio., USA 170 Mio., Brasilien 110 Mio., Statista 2022, https://www. statista. com/statistics/578364/countries-with-most-instagram-users/ (07.12.2022).
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2.4 Instagram-Wohnen
Abb. 2_27: Instagram-Account von @studiomcgee, Shea und Syd McGee, mit 3,2m Abonnent*innen (Stand 2022). Abb. 2_28: Die Netflix-Show Dream Home Makeover von Shea und Syd McGee, Screenshot Staffel 2, Episode 1, 2021.
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2. Das Bild des Wohnens
2.4.2 @ studiomcgee 3,2m/Syd & Shea McGee/Utah 4.363 Beiträge, 3,2m Abonnent*innen Studio für Innenarchitektur Design studio and online store @mcgeeandco by Syd & Shea McGee. NYT best seller Make Life Beautiful. Watch our show Dream Home Makeover on Netflix! (Stand 12.03.2022)
That is @studiomcgee @studiomcgee ist ein Instagram-Account, der 2013 von Shea McGee gestartet wurde. Ausgestattet mit einem Abschluss in Public Relations und einem persönlichen Interesse an Interior Design – „Shea realized that design was where her heart was“123 – dokumentierte McGee den Umbau ihres ersten Hauses auf Instagram. Sie beschreibt sich selbst als eine der ersten Design-Influencer*innen124 auf der Plattform, denn 2013 waren Design-Accounts auf der Plattform noch nicht so populär wie heute. So erzählt sie im Rückblick: „It [Instagram] was free, and it was visual, it was like, wow, no one is using Instagram as a designer to promote their business, but I see all these other businesses that are using it – there’s got to be something there. So I just started posting every single day, and was one of the earliest people to see Instagram as an opportunity.“125 2014 gründet sie mit ihrem Ehemann Syd McGee ihr eigenes Innenarchitekturstudio Studio McGee unter dem Motto „Make Life Beautiful“. Die große Beliebtheit des Accounts, der schnell viele Follower*innen bekam, führte 2016 zur Gründung der eigenen E-Commerce-Marke McGee & Co., eines umfangreichen Webshops mit unterschiedlichsten Home-Dekor- und Einrichtungsgegenständen.126 2020 veröffentlichten die beiden McGees
123 h ttps://studio-mcgee.com/the-studio/about/ (29.11.2021). 124 Als Influencer*innen (to influence = beeinflussen) werden seit den 2000er Jahren Multiplikator*innen bezeichnet, die ihre starke Präsenz und ihr Ansehen in sozialen Netzwerken nutzen, um beispielsweise Produkte oder Lebensstile zu bewerben, vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/Influencer (29.11.2021). 125 Nicolaus, Fred: Studio McGee is everywhere, but don’t call it an overnight success, 2020, https://businessofhome.com/articles/studio-mcgee-is-every where-but-don-t-call-it-an-overnight-success (29.11.2021). 126 https://studio-mcgee.com/the-studio/about/ (29.11.2021).
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2.4 Instagram-Wohnen den New-York-Times-Bestseller Make Life Beautiful, und einem noch breiteren Publikum wurden sie bekannt durch ihre eigene Netflix-Originalserie Dream Home Makeover (2020). Nach der erfolgreichen ersten Staffel mit der Mission „Shea und Syd McGee vom Studio McGee erfüllen Familien auf der Suche nach ihrem individuell gestalteten Traumhaus den Wunsch vom perfekten Eigenheim“127 ist die Serie bereits in der vierten Staffel angelangt. Mittlerweile beschäftigt Studio McGee 140 Mitarbeiter*innen, der voraussichtliche Jahresumsatz für 2021 belief sich laut der Zeitschrift Forbes auf 90 Millionen US-Dollar, was einer Steigerung von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach.128 Den Instagram-Account @studiomcgee hatten im Februar 2022 3,2 Millionen Menschen abonniert. Die große Zahl von Follower*innen hat auch die Tür für Kooperationen mit unterschiedlichsten Firmen geöffnet, von Netflix über die Target Corporation129 bis zur Investmentfirma Strand Equity. Instagram spielt eine wesentliche Rolle in der Erfolgsgeschichte von Studio McGee. Ohne bezahltes Marketing konnte eine riesige Anzahl Follower*innen generiert werden. Die Corona-Pandemie seit 2020 und die weltweiten Lockdowns und Quarantänen haben das Zuhause noch deutlicher in den Mittelpunkt des Kaufinteresses gerückt. War die Göttin des Home-Dekors in den 1990er Jahren noch Martha Stewart, so sind Studio McGee oder die Traumhaus-Profis Drew und Jonathan Scott von den Property Brother (HGTV-Show) das digitale Update der Wohn- und Lifestyle-Branche.
What do we see on @studiomcgee? Scrollt man durch den Account von @studiomcgee, sieht man Unmengen an Bildern, die unterschiedliche Interieurs von Schlafzimmern, Biblio-
127 D eutsche Beschreibung der Serie auf Netflix, https://www.netflix.com/at/ title/81088239 (29.11.2021). 128 Edelson, Sharon: Studio McGee Takes On First Investor As It Looks To Accelerate Growth, 2021, https://www.forbes.com/sites/sharonedelson/2021/03/ 16/studio-mcgee-closes-minority-investment-and-begins-new-growth-phase/ (29.11.2021). 129 Die Target Corporation gehört zu den größten Einzelhändlern der USA und ist nach Walmart der zweitgrößte Discounter des Landes mit Firmensitz in Minneapolis, Minnesota.
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2. Das Bild des Wohnens theken, Treppenläufen, Wohnzimmern oder Küchen zeigen. Die meisten Bilder sind Innenansichten – Ausnahmen, wie einen Blick in den Garten oder auf das Eingangsportal, gibt es nur selten. Auffallend sind die homogenen Farben, Kontraste und Sättigungen der einzelnen Bilder. Betrachtet man sie im Grid als Sequenz, fällt das perfekt inszenierte Theme des Accounts sofort auf. Die Bilder sind auffallend hell, es dominiert ein strahlendes Weiß, das von Erdtönen wie Braun, Grau und Beige begleitet wird, nur dezent treten schwarze oder grüne Akzentkontraste auf. Kein einziges Bild fällt aus diesem harmonischen Szenario und so ergeben sie in ihrer Sequenz ein perfekt abgestimmtes visuelles Gesamtbild. Man kann sagen, die McGees haben die Instagram-Ästhetik endgültig perfektioniert, ihnen unterläuft kein visueller „Fehler“. Während auf ihrer Website (studio-mcgee.com) klar zwischen dem eigenen McGeeHome und anderen Design-Projekten aus der Neflix-Show unterschieden wird, begegnet einem auf dem Instagram-Account @studiomcgee eine Masse an atmosphärischen, ästhetisierten Wohnräumen. Die gleichförmig erscheinenden Wohnbilder gleichen einander stark und machen eine Differenzierung zwischen einzelnen Projekten/ Häusern fast unmöglich. Die Ästhetik der auf Instagram präsentierten Bilder ist allen anderen Informationen übergeordnet. Die so perfekt wirkenden Bilder zeigen meist das eigene Haus der McGees, Baby Margots Kinderzimmer, Sheas und Sheds master bedroom, die Vorratskammer, das Bastel-und Musikzimmer usw. Instagram ist der verführerische Einstieg in die Welt der McGees. Als Ergänzung zu den inszenierten Wohnräumen mit ihren sortierten Wohnobjekten finden sich auch immer wieder die Protagonist*innen auf den Bildern. So wird die Familie McGee bei unterschiedlichen Alltagstätigkeiten (Kochen, Tischdecken, Dekorieren, Grillen), aber auch bei Feiern (Thanksgiving, Halloween, baby welcome party) gezeigt – spontan wirkend, jedoch sorgfältig geplant und in Szene gesetzt. Am häufigsten und dabei in unterschiedlichen Rollen ist Shea McGee zu sehen, etwa als Expertin für Inneneinrichtung beim Drapieren von Tischdekorationen oder als liebevolle Mutter mit neugeborenem Baby auf dem Arm in einer glänzend weißen Marmorküche. Die Verknüpfung der gezeigten Wohnräume und der dazugehörigen Objekte des Wohnens mit ihren Bewohner*innen ist wesentlich für den Erfolg des Instagram-Accounts @studiomcgee. Erst durch die Personalisierung der Wohnräume und das Narrativ der glücklichen Familie wird eine emotionale Bindung der Fol-
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2.4 Instagram-Wohnen lower*innen ermöglicht. So wird die Geburt der dritten Tochter Margot mit der 3,2 Millionen großen Instagram-Community geteilt. Das dazugehörige Fotoshooting im People-Magazin (Juli 2021) zeigt ebenfalls das neue Familienmitglied, diesmal jedoch schon im neu gestalteten Babyzimmer. Auf der eigenen McGee-Website wird das neue Kinderzimmer unter der Überschrift „Our Favorite Nursery Design Tips“ auch gleich ausführlich besprochen und vorgestellt.130 Der visuelle Appetizer auf Instagram führt über die McGee-Website direkt in den McGee-&Co-Webshop, auf dem fast alle Produkte des neuen Babyzimmers zu kaufen sind, von der Wandfarbe bis zum Babybett.
How to shop @studiomcgee? Will man das Mantra „Make Life Beautiful“ von Studio McGee wirklich umsetzten, bedarf es nach genauerer Betrachtung neben den Instagram-Accounts und der damit verknüpften Website auch noch einer Menge von Objekten und Waren. Fast jedes von Studio McGee gepostete Foto auf Instagram wird mit einem begleitenden Kommentar versehen, der beim Anklicken des Fotos sichtbar wird und die User*innen zum Kauf des Gezeigten auffordert. So wird das Bild eines strahlend weißen Schlafzimmers, bei dem die Polsterungen und Bettdecken genauso hell leuchten wie das durch das großformatige Fenster eindringende Sonnenlicht, von folgendem Kommentar begleitet: „Here’s some news to make your week even brighter: we added lots of new lighting options to the @mcgeeandco sale. Swipe to see some of our favorites and head to the site to shop with code GRATEFUL for 20% off!“ Die Marke McGee & Co. bietet eine breite Produktpalette zum Themenfeld Wohnen, fast alle Accessoires, Möbel und Dekorgegenstände, die auf den Bildern auf Instagram präsentiert werden, stehen im eigenen Online-Shop zum Verkauf. Aber „Make Life Beautiful“ geht weit über das Wohnen hinaus, der McGee-Lifestyle expandiert in andere Lebensbereiche, die an das Wohnen angeschlossen sind, wie Ernährung, Beauty und Fashion. So verweisen einzelne Bilder auf Beiträge auf der Website, wie z.B. Shea’s Hair Routine + Favorites131 oder die
130 https://studio-mcgee.com/margot-mcgees-nursery/ (12.2.2022). 131 https://studio-mcgee.com/sheas-hair-routine-favorites/ (12.2.2022).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_29: Post auf @studiomcgee: People-Magazin-Fotoshooting in Baby Margot McGees neuem Babyzimmer, 2021.
Holiday Gift Guides: For Him132. Auf diesen jeweiligen Themnseiten können weitere Produkte gekauft werden, von der Apple Watch über Parfums bis zum Easy-Instant-Gartengrill. Der Online-Shop McGee & Co. belieferte im Jahr 2020 mehr als 83.000 Kund*innen, von denen 51 Prozent bereits öfter dort eingekauft hatten.133 Circa 80 Prozent des Umsatzes von Studio McGee wird über diese Produktverkäufe generiert. Am Beispiel des Instagram-Accounts @studiomcgee wird sichtbar, welche Dynamiken und Entwicklungen durch die bildbasierte Kommunikation auf Instagram entstehen können. Das Beherrschen einer makellosen Fotoästhetik kombiniert mit der persönlichen Familien- und
132 https://studio-mcgee.com/2021-holiday-gift-guides-for-him (12.2.2022). 133 Edelson, Sharon: Studio McGee Takes On First Investor As It Looks To Acce lerate Growth, 2021, https://www.forbes.com/sites/sharonedelson/2021/03/ 16/studio-mcgee-closes-minority-investment-and-begins-new-growth-pha se/ (29.11.2021).
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2.4 Instagram-Wohnen Erfolgsgeschichte der McGees hat eine Community an Follower*innen kreiert, die den ökonomische Erfolg der McGees in Gang gesetzt hat. So kann auch dieser Aspekt der beruflichen Erfolgsgeschichte des Paares nachgeahmt und nachgekauft werden. Die Studio McGee Presets sind ein Set von Voreinstellungen, also Fotofiltern, die auch den eigenen Fotos einen Studio-McGee-Look verpassen können – für 164 US-Dollar im Online-Shop zu erwerben.
Abb. 2_30: Margot McGee’s Nursery Reveal im Webshop auf studio-mcgee.com, 2021.
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2. Das Bild des Wohnens
2.4.3 @em_henderson 964k/Emily Henderson/ Kalifornien 6.281 Beiträge, 964k Abonnenten Emily Henderson Studio für Innenarchitektur Stylist, New York Times bestselling author of STYLED, TV personality, and founder of stylebyemilyhenderson.com. #showemyourstyled #showemyourdiy (Stand 12.03.2022)
That is @em_henderson Emily Henderson startete 2010 mit einem Blog zum Thema style and interior design. 2022 folgten ihr auf ihrem Instagram-Account @em_henderson 964.000 Menschen. Sie selbst beschreibt sich in einem Interview als „Stylist/Interior Designer and writer, wait and mom. Styling was where I started and what I honestly love the most.“134 Eines ihrer Mottos lautet: „Perfection is boring. Let’s get weird.“135 Happiness und fun treiben sie an, erzählt sie, und ein Zuhause sollte sein wie man selbst, Vintage darf dabei nicht fehlen, sonst wäre ein Raum seelenlos. Emily Henderson wuchs im ländlichen Oregon in einer Mormonen-Familie auf, zog dann nach New York und Los Angeles und lebt heute in Portland. Die Umzüge, Renovierungen und Neugestaltungen der eigenen familiären Lebens- und Wohnräume sind Teil des Contents auf ihrem Instagram-Account, ergänzt durch eine Menge anderer Projekte, die sie gestaltet hat, die ihr gefallen oder die sie zufällig entdeckt hat. Der Account ist eine Sammlung aus allem, kuratiert und ausgewählt von der „Marke“ Emily Henderson. „When your brand is yourself then in a way anything that you like is on brand.“136 Ihre eigene Firma, Emily Henderson Design, beschäftigt laut Website 17 Mitarbeiter*innen, diese betreuen den Blog, die Social-Media-Kanäle und diverse Styling- und Design-Projekte. Die eigene TV-Show Secrets from a Stylist (2011), ihr Bestseller-Buch Styled (2015) und 134 B rittany: Becoming: Emily Henderson, 2019, https://thehousethatlarsbuilt. com/2019/02/becoming-emily-henderson.html/ (29.11.2021). 135 https://www.facebook.com/emilyhendersondesign/ (29.11.2021). 136 Schioldage, Arianna: How Design Star Emily Henderson Really Feels About Working for Free, 2016, https://www.createcultivate.com/blog/emily-hen derson-design-star-on-working-for-free/ (29.11.2021).
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2.4 Instagram-Wohnen The New Design Rules (2022) und diverse Design-Skillshare-Online-Schulungen haben zur großen Popularität und Reichweite ihres InstagramAccounts beigetragen. Die für den Bereich home & interior relativ große Fangemeinde ist auch auf die Dichte des ständig neuen Contents und der vielen Verlinkungen zurückzuführen. Mehrere Posts am Tag zeigen Bilder, Videos, Tipps, Tricks, Verkaufsangebote, Familienbilder und Verlinkungen zu anderen Projekten, Personen und Marken. Es braucht lange, bis man versteht, was Henderson eigentlich wirklich macht und durch welche Bilder man gerade klickt. Die ständige Zirkulation unterschiedlichster Inhalte ist jedoch das, was dafür sorgt, dass auf dem Account und der damit verbundenen Website immer etwas Neues zu sehen ist, was sie gewissermaßen antreibt. Wechselt man auf Hendersons persönliche Website (stylebyemilyhenderson. com), springen einem Texte, Blogbeiträge, Bücher, Videos, Werbung, Bilder von Hendersons eigenem Haus sowie von anderen Häusern, aber vor allem sehr viel Werbung entgegen. Die Rastlosigkeit ihres Fulltime-Jobs beschreibt sie im Interview selbst folgendermaßen: „I’m always writing, always shopping/styling and always thinking about social media and staying innovative because it honestly changes on a daily basis.“137 So gibt Henderson auf ihrer Website auch ausführliche Tipps, wie man Social Media oder speziell Instagram am besten nutzt: „Tell your story on Instagram and Insta-story. That is where there is more community right now and the ability to connect is higher.“ Und weiter: „Tag the brands you want to work with. Use the hashtags to be seen.“138 Henderson weist allerdings auch auf die ständige Gefahr hin, die gewonnene Anhänger*innenschaft auch wieder zu verlieren, „that audience isn’t technically ‚yours‘. If from one day to the next they decide to pull the plug, or something shifts, or there’s a glitch that wipes out your followers … that’s it.“139 Es bleibt unklar, ob Emily Henderson Design wirklich Designprojekte entwickelt, welche Räume von ihr selbst bewohnt werden und welche ihr nur gefallen. Das alles spielt jedoch keine Rolle, denn Zirkulation, Interaktion und ständige Aktivität scheinen die Attraktivität des Accounts auszumachen. 137 B rittany: Becoming: Emily Henderson, 2019, https://thehousethatlarsbuilt. com/2019/02/becoming-emily-henderson.html/ (29.11.2021). 138 Henderson, Emily: Would I Recommend Starting a Blog in 2020? Advice From this OG Blogger, 2019, https://stylebyemilyhenderson.com/blog/should-you start-a-blog (29.11.2021). 139 Ebd.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_31: Instagram-Account @em_henderson von Emily Henderson mit 964.000 Abonnent*innen (Stand 2022). Abb. 2_32: Instagram-Account von @em_henderson.
What do we see on @em_henderson? Der Account @em_henderson zeigt eine Fülle von Bildern von Betten, Küchen, Christbäumen, Emily Henderson selbst, ihrer Familie, Vintage-Möbeln, neuen Möbeln, Baustellen usw., ergänzt z.B. um Happy-Indigenous-Peoples’-Day-Posts. Der Account zeigt keinen perfekt designten Rhythmus im Instagram-Grid. So mischen sich nicht nachbearbeitete private Thanksgiving-Snapshots mit perfekt ausgeleuchteten Badezimmer-Ensembles in Türkistönen mit wiederum von anderen Instagramer*innen gestylten Wohnzimmer-Settings. Trotzdem ist ein gewisser
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2.4 Instagram-Wohnen Grundrhythmus von strahlender Helligkeit, Vintage-Flair und satten Pastellfarben zu erkennen. Die Bilder sollen inspirieren, meint Henderson, und so lässt sich die Stylistin auch selbst durch andere Social-Media-Posts anregen: „I love beautiful pictures.“140 Instagram ist ein visuelles Archiv an Möglichkeiten und für Henderson vor allem eine Bühne. Wir sehen sie beim Kaffeetrinken, mit ihrem neuen Herbstoutfit oder (in Kurzvideos) beim Vorführen des neu gemieteten Apartments. Die Videos sind häufig von ihrem Mann aufgenommen und erheben keinen Anspruch auf Perfektion, vielmehr laufen die eigenen Kinder durchs Bild oder die Vorhänge sind mit Tape an die Wand geklebt, da noch keine Vorhangstangen da sind. Doch auch diese „Echtheit“ des Lebens ist Teil ihrer Marke, verrät Henderson, „the key is authenticity, honesty, being human and willing to be vulnerable“.141 Als Tipps für den eigenen erfolgreichen Instagram-Account oder Blog rät sie ihrer Community, ohne langes Planen loszulegen und Content zu kreieren. So schlägt Henderson vor, auch Fotos von Anderen zu posten und die Autor*innen in den Credits zu nennen: „Say something like ‚So inspired by @BenMendansky’s work – I love how graphic his mugs are and it’s making me get back into the studio this morning. Just add coffee.‘“ Dadurch bekommen alle Genannten mehr Aufmerksamkeit: „Pretty photos = likes, and likes = more followers.“142 Auch das erneute Posten von bereits gezeigten Bildern ist kein Problem: „There’s no shame in recycling old projects, especially if they’re repackaged in an interesting way.“143 So kann man zusammenfassen, dass auf dem Account @em_henderson vor allem viel und immer wieder Neues gezeigt wird – worum es sich dabei handelt, ist dabei nicht ausschlaggebend. „Show a happy, colorful image. If I’m funny I get literally twice the likes, but I’m so busy that it’s hard to produce good, funny, beautiful content all day. But that is the goal – pretty and entertaining.“144
140 Ebd. 141 Ebd. 142 Henderson, Emily: My Four Cents On Starting A Successful Creative Career, 2021, https://stylebyemilyhenderson.com/blog/four-cents-starting-success ful-creative-career (29.11.2022). 143 Ebd. 144 Schioldage, Arianna: How Design Star Emily Henderson Really Feels About Working for Free, 2016, https://www.createcultivate.com/blog/emily-hen derson-design-star-on-working-for-free/ (29.11.2021).
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2. Das Bild des Wohnens
How to shop @em_henderson? Klickt man einzelne Bilder des Instagram-Accounts @em_henderson an, findet man in den dazugehörigen Textbeschreibungen Verweise und Links zu Kooperationspartner*innen. So bewirbt ein Bild von Emily Henderson in kurzen Jeansshorts diverse Kosmetik- und Kleidermarken, die direkt verlinkt sind. Shopping beschränkt sich hier nicht auf Wohnen und Design, sondern umfasst weitere Lifestyle-Bereiche. So ist das Familienweihnachtsfoto 2021 vor dem in Planung befindlichen farmhouse eine Kooperation mit dem Grußkartenhersteller Minted. Solche und ähnliche Kooperationen mit diversen Dekor- und Lifestyle-Firmen findet man auf dem Account @em_henderson oft. Meistens verweist der Instagram-Account jedoch auf Hendersons eigene Website, die in unterschiedlichsten Formaten Werbung bereithält. Meist in Blogbeiträge verpackt, werden Tipps und Tricks rund um das Thema Lifestyle und Wohnen beworben: „My Favorite Things – The Official ‚Emily‘ Gift Guide Just Landed: PART 1 Home Décor“145 oder „How To Make Your Bedroom Better (And Cozier)“ . 146 In den begleitenden Texten gibt es eine wohnpädagogische Anleitung, wie das Schlafzimmer gemütlicher gestaltet werden kann, mit Links zu unzähligen Firmen und Marken, die Bettdecken, Pölster und Teppiche für das passende Arrangement anbieten. Weiters gibt es eine Kooperation mit dem Target-Konzern, für den Henderson als Home-Style-Expertin tätig ist und z.B. die „Fall Bedding with Functional Nightstand Collection style by Emily Henderson“147 zusammengestellt hat. Einen eigenen Online-Shop bietet sie nicht an, denn die Stärke von Emily Henderson ist Zirkulation, überall und immer, denn das generiert Follower*innen und Business-Kooperation. „My job is to create compelling digital content in the home and style world […]. […] and we have to move FAST.“148
145 H enderson, Emily: My Favorite Things – The Official “Emily” Gift Guide Just Landed: PART 1 Home Decor, 2021, https://stylebyemilyhenderson.com/blog/ the-official-emily-henderson-gift-guide-part-1-home-decor (12.2.2022). 146 Bunge, Jess: How To Make Your Bedroom Better (And Cozier), 2021, https:// stylebyemilyhenderson.com/blog/how-to-make-your-bedroom-better-andcozier (12.2.2022). 147 https://www.target.com/p/fall-bedding-with-functional-nightstand-collec tion-style-by-emily-henderson/-/A-77706831#lnk=sametab (12.2.2022). 148 Brittany: Becoming: Emily Henderson, 2019, https://thehousethatlarsbuilt. com/2019/02/becoming-emily-henderson.html/ (29.11.2021).
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2.4 Instagram-Wohnen
2.4.4 @ mytexashouse 7553k/Erin Vogelpohl/ Texas 1.893 Beiträge, 753k My Texas House | Erin Creator of My Texas House collection @Walmart Wife, mom of 3, former teacher Affordable home decor & fashion Mytexashouse.com Dallas, TX (Stand 12.03.2022)
That is @mytexashouse @mytexashouse ist der Instagram-Account von Erin Vogelpohl. Wie der Name des Accounts bereits verrät, dreht sich hier alles um das riesige Haus der Familie Vogelpohl in Dallas/Texas. Nach mehreren Umzügen und Hausbauprojekten startete Vogelpohl 2016 mit ihrem Instagram-Account @mytexashouse, auf dem sie den Einzug und die Dekorierungsarbeiten in ihrem neuen texanischen Zuhause dokumentierte. Vogelpohls Ideale zu Einrichtung und Wohnen finden sich auf ihrer Website (mytexashouse.com): „Erin is passionate about decorating on a budget and loves to share tips and ideas! She believes that you don’t have to break your budget to have a stylish home that you love!“149 Die Erfolgsgeschichte der ausgebildeten Volksschullehrerin baut auf dem Narrativ der stay-at-home mum of three kids auf. Die Symbolik der Hausfrau und Mutter zieht sich durch den gesamten Account und die damit verbundene Website. So wird allen Anderen vorgezeigt, wie ein perfekt gestyltes Bett aussieht, wie man am besten Teppiche saugt oder wie Unmengen an Pölstern arrangiert werden. Tatsächlich ist Vogelpohl jedoch eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die durch ihren Instagram-Account eine riesige Community an Follower*innen aufgebaut hat. Aus dem großen Interesse an ihrem Account ist eine umfangreiche Geschäftskooperation mit dem Walmart-Konzern entstanden,150
149 h ttps://mytexashouse.com/about/#about (2.1.2021). 150 Walmart Inc. (bis 2008 Wal-Mart Stores Inc.) ist ein weltweit tätiger US-amerikanischer Einzelhandelskonzern, der einen großen Teil des US-Marktes beherrscht. Walmart ist in der Liste „Fortune Global 500“ auf Platz eins der umsatzstärksten Unternehmen der Welt verzeichnet.
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2. Das Bild des Wohnens bei der erschwingliches Design im Mittelpunkt steht. Die riesengroße, makellose Villa der Familie scheint für Vogelpohl aber dazu in keinen Widerspruch zu stehen. Dem Instagram-Account @mytexashouse folgen mittlerweile 753.000 Menschen (Stand 12.03.2022). „I wouldn‘t be anywhere without my Instagram page and my followers and their support“, wie Vogelpohl in einem Porträt in der Tageszeitung The Arizona Republic zitiert wird.151 Ihre Posts bekommen viele Likes und Kommentare. „I show them how to clean their rugs. And it just feels like I’m one of their friends and they’re going to me for advice.“ Der Account und alles was dazugehört – perfekte Bilder, Kooperationen, das Expandieren auf andere Plattformen – ist zu einem Fulltime-Job geworden. „It is hard work.“152 2020 sind die Vogelpohls aus ihrem Haus in Dallas in ein noch größeres Haus umgezogen. Die Großmutter brauche mehr Privatsphäre und für die Kooperation mit Walmart bedürfe es mehr Platz153, – denn wie oft kann das gleiche Wohnzimmer gezeigt werden, bis die treue Abonnent*innen-Gemeinschaft zum nächsten Account abwandert?
What do we see on @mytexashouse? Der eigentliche „Star“ des Accounts @mytexashouse ist das private Wohnhaus der Familie Vogelpohl. Auf den Bildern des Accounts sind Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Gästezimmer, Arbeitszimmer und andere Bereiche des Hauses zu sehen. Meistens zeigen die Bilder sorgfältig ausgewählte und inszenierte Innenräume mit vielen Dekorelementen, wie Pölstern, Decken, Lampen und Kerzenständern. Dabei ist es kaum möglich, zwischen dem alten und dem neuen Haus der Vogelpohls zu unterscheiden, denn Gebäude, Wohnräume und Dekor ähneln einander sehr. Den Stil ihrer Häuser beschreibt Erin Vogelpohl als einen Mix aus „modern farmhouse and French country décor“.154
151 R obinson, Kim: Instagram fame, then a Walmart deal: How an Arizona woman became known for her home décor, 2021, https://eu.azcentral.com/story/ entertainment/life/2021/04/05/my-texas-house-at-walmart-instagram-ho me-decor/4666494001/ (2.12.2021). 152 Ebd. 153 Vgl. Ebd. 154 Ebd.
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2.4 Instagram-Wohnen
Abb. 2_33: Instagram-Account von @mytexashouse mit 753.000 Abonnent*innen (Stand 2022).
Wir sehen viele Teppiche aus Vogelpohls eigener Orian-Teppichkollektion und andere Wohngegenstände wie Möbel und Dekorelemente. Zu verschiedenen Anlässen wird das Haus durch Dekorelemente umgestylt, so können dieselben Räume neu inszeniert und präsentiert werden. „[…] I can veer into modern (décor) depending upon the room and the décor that I choose.“155 So tauchen z.B. zur Weihnachtszeit die Farben Grün und Rot in den sonst hellen, weißen Raumbildern auf oder leichte braune und orange Töne zu Halloween.
155 Ebd.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_34: @mytexashouse, Werbepartner*innenschaft mit Samsung.
Die Farbe Weiß bestimmt, insofern die gezeigten Möbel und Materialien überwiegend weiß sind, auch das Erscheinungsbild des Accounts und erzeugt eine homogene Sequenz im Instagram-Grid. Durch die Ähnlichkeit der Bilder, durch immer wieder üppige weiße Betten, viele Pölster und die einheitliche Farbgebung ist ein stringentes Theme zu erkennen. Einzelne Schnappschüsse aus dem Familienalltag, etwa von einem Ausflug nach Disney World oder vom Urlaub in Las Vegas, sind visuelle Ausnahmen in Farbe und Bildqualität, tragen aber zur Identifizierung mit der Familie bei. Vogelpohl selbst taucht auch immer wieder in den geteilten Bildern auf. In der Rolle als stay-at-home mum trägt sie Sorge für das Haus und kümmert sich um die zahlreichen Wohngegenstände. Man sieht sie beim Bettenmachen oder als Dekor-Expertin beim Arrangieren von Blumen und Lampen. Vor allem aber genießt Vogelpohl in den gezeigten Bildern ihr perfektes Haus. Sie spielt mit ihrem Hündchen auf dem neuen Wohnzimmerteppich und knipst Selfies mit ihren aktuellen Sommeroutfits im
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2.4 Instagram-Wohnen Schlafzimmer. Die Bilder zeigen aufgeräumte, makellose Wohnräume. So stellt sich den Betrachter*innen immer wieder die Frage, wie ein (Be-) Wohnen in diesen Bildensembles überhaupt möglich ist. In einem anderen Zeitungsporträt, dieses Mal in der New York Times, sagt Vogelpohl: „The house does feel a little less like my own because so many people know it. So many people have seen inside every space, […] I don’t want to entertain because it’s my work space – literally, the whole thing.“156
How to shop @mytexashouse? Der Instagram-Account @mytexashouse ist der Ursprung von Erin Vogelpohls Erfolg und somit auch der Anknüpfungspunkt für ihre weiteren Aktivitäten. Aufgrund der großen Anzahl an Follower*innen ergaben sich Partnerschaften und Kooperationen mit Unternehmen wie eBay, dem Teleshopping-Sender QVC und Home Depot. Die erfolgreiche Kooperation mit dem Teppichhersteller Orian machte Walmart auf den Account @mytexashouse aufmerksam. Der Konzern bot Vogelpohl 2020 eine langfristige Partnerschaft an, die gemeinsam gelaunchten Produkte im Online-Store von Walmart sind ein großer Erfolg. Die von Vogelpohl für Orian zusammengestellte Kollektion umfasst Teppiche, Vorhänge, Kissen, Decken und Wanddekor, alles in hellen, leuchtenden und neutralen Tönen, ab 12 US-Dollar ist man laut Werbung dabei. Es ist daher nicht verwunderlich, dass fast alle Links auf @mytexashouse zu Walmart führen. Auch die Umleitung auf die eigene Website zeigt zuerst die bekannten Raumensembles der Instagram-Posts und führt dann ebenfalls meist zu Walmart. Unter der Rubrik Shop My Instagram Posts auf der eigenen Website werden im vertrauten Instagram-Quadrat ausgewählte Fotos des Accounts gezeigt, mit direkter Verlinkung zu den abgebildeten Produkten, die wiederum oft zu Walmart führen. Durch das Erwerben einzelner Wohngegenstände aus den auf Instagram präsentierten Lebensund Wohnsituationen kann die Welt von mytexashouse gegen Bezahlung quasi „nachgewohnt“ werden. Shop my Instagram Post macht es möglich, dem abgebildeten Wohnideal ein wenig näher zu kommen. Doch auch
156 Kaysen Ronda: Could Your House Be an Instagram Star?, 2019, https://www. nytimes.com/2019/08/09/realestate/could-your-house-be-an-instagram-star. html (2.12.2021).
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2. Das Bild des Wohnens hier beschränkt sich das Wohnerlebnis nicht auf Pölster und Teppiche, das Wohnen auf @mytexashouse expandiert ebenso in die Bereiche Reisen, Mode und Food. Die Marke My Texas House will wachsen und in andere Lifestyle-Bereiche expandieren, die mit dem Themenfeld Wohnen kombinierbar sind. So werden Suppenrezepte geteilt („Yummy Dutch Oven Soup recipe“157) und gleichzeitig zur Le-Creuset-Kooperation verlinkt oder man sieht Vogelpohl im Schlafzimmer mit dem neuen Samsung Jet 90 ihre Teppiche saugen. Zugleich betont Vogelpohl bei all ihren Unternehmungen, dass sie damit Andere unterstützen will: „I have always dreamed about designing a home decor collection that had a designer look at an affordable price! I’m passionate about helping people decorate their homes on a budget and believe that you don’t have to sacrifice style for affordability.“158
2.4.5 @ renovationhusbands 116k/Stephen & David/Massachusetts 563 Beiträge, 116k Abonnenten Renovation Husbands he/him Stephen & David Husband-husband team renovating our previously abandoned Victorian home and serving: DIY, Beekeeping & Antics Boston www.renovationhusbands.com/mobile (Stand 12.03.2022)
That is @renovationhusbands @renovationhusbands ist der Instagram-Account des Ehepaars David und Stephen St. Russell. Die beiden Männer aus Massachusetts sind um die 30 Jahre alt und leben in Boston. Während ihrer Studienzeit – Stephen studierte Architektur – beschlossen beide aufgrund der steigenden Mietpreise, selbst in ein renovierungsbedürftiges Haus zu investieren und
157 https://mytexashouse.com/yummy-dutch-oven-soup-recipe-featuring-le creuset/ (12.2.2022). 158 Gray, Lily: These 9 Kitchen Renovation Materials From Walmart Will Totally Upgrade Your Home for Less, 2022, https://www.southernliving.com/news/ erin-vogelpohl-my-texas-house-home-decor-walmart-online (2.12.2022).
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2. Das Bild des Wohnens hier beschränkt sich das Wohnerlebnis nicht auf Pölster und Teppiche, das Wohnen auf @mytexashouse expandiert ebenso in die Bereiche Reisen, Mode und Food. Die Marke My Texas House will wachsen und in andere Lifestyle-Bereiche expandieren, die mit dem Themenfeld Wohnen kombinierbar sind. So werden Suppenrezepte geteilt („Yummy Dutch Oven Soup recipe“157) und gleichzeitig zur Le-Creuset-Kooperation verlinkt oder man sieht Vogelpohl im Schlafzimmer mit dem neuen Samsung Jet 90 ihre Teppiche saugen. Zugleich betont Vogelpohl bei all ihren Unternehmungen, dass sie damit Andere unterstützen will: „I have always dreamed about designing a home decor collection that had a designer look at an affordable price! I’m passionate about helping people decorate their homes on a budget and believe that you don’t have to sacrifice style for affordability.“158
2.4.5 @ renovationhusbands 116k/Stephen & David/Massachusetts 563 Beiträge, 116k Abonnenten Renovation Husbands he/him Stephen & David Husband-husband team renovating our previously abandoned Victorian home and serving: DIY, Beekeeping & Antics Boston www.renovationhusbands.com/mobile (Stand 12.03.2022)
That is @renovationhusbands @renovationhusbands ist der Instagram-Account des Ehepaars David und Stephen St. Russell. Die beiden Männer aus Massachusetts sind um die 30 Jahre alt und leben in Boston. Während ihrer Studienzeit – Stephen studierte Architektur – beschlossen beide aufgrund der steigenden Mietpreise, selbst in ein renovierungsbedürftiges Haus zu investieren und
157 https://mytexashouse.com/yummy-dutch-oven-soup-recipe-featuring-le creuset/ (12.2.2022). 158 Gray, Lily: These 9 Kitchen Renovation Materials From Walmart Will Totally Upgrade Your Home for Less, 2022, https://www.southernliving.com/news/ erin-vogelpohl-my-texas-house-home-decor-walmart-online (2.12.2022).
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2.4 Instagram-Wohnen dieses in Eigenregie zu sanieren. Nachdem sie ihr erstes Haus wieder verkauft hatten, stießen sie 2017 auf ein altes viktorianisches Wohnhaus aus dem Jahr 1893 am Rande Bostons. Mit wenig Geld und einem Kredit begannen sie das Haus von Grund auf selbst zu renovieren. Auf ihrem Instagram-Account @renovationhusbands dokumentierten und teilten sie den Transformationsprozess ihres neuen Zuhauses. So appelliert David St. Russell: „Believe in yourself! When we started renovating, we had very little money and practically no skills. What we did have was a determination to figure out how things work, there was almost nothing that we wouldn’t try.“159 Durch Bücher und YouTube-Tutorials erlernten sie unterschiedliche handwerkliche Skills, um ihr Haus selbst zu renovieren. Der Account bedient damit ein beliebtes Themenfeld im Zusammenhang von home & interior, die Do-it-yourself-Mentalität (DIY). Handwerken, selber machen, selber ausprobieren, scheitern, doch Erfolg haben usw., DIY boomt nicht nur dank Handwerker*innen-Videos auf YouTube, sondern ist auch ein beliebtes Fotomotiv – oftmals mit Vorher-nachher-Effekt – auf Instagram. Aus unterschiedlichen Video-, TV- und Streamingformaten bekannt, erfreuen sich Refurbishment-Reality-Shows, bei denen ein heruntergekommenes Zuhause aufgeräumt, renoviert und dekoriert wird, großer Beliebtheit. Und auch Superstars wie Brad Pitt lassen von den bereits erwähnten Brüdern Drew und Jonathan Scott beraten, die in den USA und Kanada durch ihre TV-Sendung Property Brothers bekannt sind. DIY oder das Handwerken an sich wird dabei gerne als freudvolle Freizeitbeschäftigung inszeniert und selten mit Arbeit, Anstrengung oder einer Notwendigkeit in Verbindung gebracht. David und Stephen St. Russell, laut ihrer Webseite „a husband-husband DIY team with a passion for good projects“,160 erzählen, dass ihr Interesse an DIY anfangs aus einer finanziellen Notlage heraus entstanden sei.161 So bauten die beiden in dem viktorianischen Haus das meiste, wie etwa Holzeinbauten im Wohnzimmer, selbst und gestalteten einen Raum nach dem anderen um. Dabei soll immer eine perfekte Mischung
159 Kippels, Taylor: Bathroom Reveal And Q&A With Renovation Husbands, 2020, https://www.roomandboard.com/blog/2020/09/bathroom-reveal-and-qa-withrenovation-husbands/ (12.2.2021). 160 https://www.renovationhusbands.com/about (03.12.2021). 161 Vgl. Kippels, Taylor: Bathroom Reveal And Q&A With Renovation Husbands, 2020, https://www.roomandboard.com/blog/2020/09/bathroom-reveal-andqa-with-renovation-husbands/ (12.2.2021).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_35: Instagram-Account von @renovationhusbands mit 116.000 Abonnent*innen von Stephen & David St. Russell.
zwischen Alt und Neu geschaffen werden, wie die beiden betonen,162 wobei sie damit auch die Faszination für #oldhouses und #vintage bedienen, populäre und beliebte Themenfelder auf Instagram. Der Schlüssel zum perfekten Gleichgewicht zwischen Alt und Neu liegt in der Verwendung der richtigen Materialien, die in der Entstehungszeit eines Hauses verwen-
162 V gl. Leach, Ryan M.: Renovation Husbands. Breathing new life into old Boston, Boston Spirit, 2021, S. 46-51.
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2.4 Instagram-Wohnen det worden sein könnten, erzählen sie.163 So findet man im Wohnzimmer des Hauses traditionelle Holzdetails und Messingbeschläge, ein kräftige Farben sorgen jedoch für frischen Wind und attraktive Instagram-Fotos. Nach vier Jahren folgen den St. Russells auf Instagram 116.000 Menschen, ähnlich viele waren es auf der Plattform TikTok. Mit über 100.000 Abonnent*innen ist die Reichweite des Instagram-Accounts überschaubar, bietet aber dennoch Möglichkeiten für Kooperationen mit Anderen. „Sharing the process of bringing the home back to life sounded like a lot of fun, and Instagram became the perfect way to do that.“164 Neben Spaß und Freude ermöglichte die digitale Präsenz auch das eine oder andere Finanzierungsmodell. Umgekehrt war Instagram auch eine Quelle der Inspiration für ihre Renovierungsarbeiten und motiviert die beiden zum stetigen Weiterarbeiten, sagen sie.165 Auf ihrer Website renovationhusbands. com kann noch einmal die Transformation aller renovierten Räume einzeln bewundert werden, dabei werden von der Tapete bis zum Sessel alle Marken, Firmen und Hersteller angegeben, selbstverständlich auch zum Nachmachen und Selbst-Nachbauen. Wie es in Zukunft weitergehen soll, wissen sie nicht, 2022 planen sie ihre bereits fertige Küche erneut um166, da sie zu modern für den Rest des Hauses ist, vielleicht verkaufen sie das Haus auch wieder, wenn alles fertig ist, oder auch nicht, auf jeden Fall wird man es auf Instagram mitverfolgen können.
What do we see on @renovationhusbands? Die Bilderwelten auf dem Account @renovationhusbands zeigen sorgfältig ausgewählte Fotos in satten Farben. Die Bilder sind bunt und freundlich und möchten ein Gefühl von Spaß und Freude am Haus wie am gesamten Leben vermitteln. Das Design-Motto der beiden DIY-Handwerker „Classic Meets Contemporary“167 spiegelt sich nicht nur in den fertig gestalteten Wohnräumen wieder, auch die gezeigten Bildwelten kokettieren
163 Vgl. Ebd. 164 Mulvey, Kelsey: Meet the Adorable Couple Renovating a New England Victorian, 2021, https://www.lonny.com/Meet+The+Adorable+Couple+Renovating+A+ New+England+Victorian (03.12.2021). 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Ebd.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_36: DIY-Arbeiten im Haus der @renovationhusbands.
mit diesem Mix. Neben den selbst renovierten Räumen wie Speisezimmer, Wohnzimmer, Suite, Prinzessinnen- und Cowboyzimmer sind vor allem die beiden Protagonisten David und Stephen St. Russell auf fast jedem Foto zu sehen. Das fast biedermeierlich anmutende Zelebrieren des Häuslichen (ausgiebiges Dekorieren mit Weihnachtsschmuck, das Entspannen vor dem Kamin) wird von queer, schwulen Posen überlagert. So sieht man die beiden zum Beispiel mit nackten Oberköpern bei Garten- und Heimwerkerarbeiten, das unzählige begeisterte Kommentare und Likes hinterlasst. Auf dem Account @renovationhusbands dient das DIY-Haus als perfekte Kulisse für die beiden. Neben den klassischen Instagram-Posen (quality time mit Hund am Sofa im Sonnenlicht) sind auch einige humorvolle Bilder, angelehnt an ihre TikTok-Videos, zu finden. Stimmung und Atmosphäre sind jedoch auch auf diesem Instagram-Account die Grundstimmung jedes Bildnarrativs. So werden die beiden oft als verliebtes Ehepaar inszeniert, im Garten, auf der gerade fertiggestellten Treppe oder kuschelnd in der Hauseingangstür. Die beiden sympathischen Bewohner, die all diese Gemütlichkeit
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2.4 Instagram-Wohnen mit gleichzeitiger Designraffinesse haben entstehen lassen, machen die Attraktivität diese Accounts aus. Die makellos designten Wohnräume, die geradezu spürbaren Eigenschaften der eingesetzten Materialien und das Glück der beiden Männer sind perfekt inszeniert und in Bildern eingefangen, die durch ihre kontrastreiche Farbgebung und ihr warmes Licht ein klares Theme im Feed wiedererkennen lassen.
How to shop @renovationhusbands? Hinter dem Account @renovationhusbands stand 2021 (noch) kein Unternehmen, von dem David und Stephen St. Russell hätten leben können. Zu einem Instagram-Post aus dem Jahr 2018 schreiben sie, „yes, we have day jobs“.168 Gleichwohl sind in den Kommentartexten zu einzelnen Fotos immer wieder kleine Werbekooperationen zu finden. So wird die Installierung der neuen Toilette mit einem Video dokumentiert und dieses von folgendem Kommentartext begleitet: „TOTO is offering $30 off the WASHLET C5 […], exclusively at Amazon now […]. Link in bio and stories!“169 Weiters verweisen die beiden auch immer wieder auf die Wichtigkeit von geeigneten Werkzeugen. Auf ihrer Website findet man daher unter der überschaubaren Rubrik Our Favorite Things eine Auswahl an Markenwerkzeugen, DIY must haves und Küchengeräten sowie einige der Kleidungsstücke, die sie auf den spontan anmutenden Schnappschüssen tragen. So führen auch die grünen Birkenstock-Schuhe direkt zu Amazon. Stolz sind die beiden auf ihren eigenen dot honey aus dem Hausgarten, der ebenfalls über die Website zu kaufen ist. Beide als eifrige Imker runden das Bild der glücklichen Heimwerker ab. Die Online-Präsenz der renovationhusbands durch ihren Instagram-Account ermöglichte auch die Teilnahme als featured designers an der One Room Challenge 2020, die zur Fertigstellung der Suite (Schlafzimmer, Badezimmer) führte.170 Events
168 https://www.instagram.com/p/BrfjOR4nlAo/ (27.02.2022). 169 https://www.instagram.com/p/CWq6el4F5RA/ (27.02.2022). 170 Die One Room challenge ist ein biennaler Event, bei dem Designer*innen einzelne Zimmer innerhalb eines festgelegten Zeitraums umgestalten. „The One Room challenge® will provide participants with a supportive, enthusiastic forum in which to share the process of transforming a room. The ORC is not a competition, but rather a celebration of creativity, inspiration, and original ideas. Welcome!“ https:// www.oneroomchallenge.com/about (17.03.2022).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_37: @renovationhusbands, Werbepartner*innenschaft mit TOTO-Dusch-WC.
wie diese führen zu mehr Medienpräsenz und ermöglichen weitere Kooperationen und Partnerschaften. Auf die Frage, ob es so etwas wie eine Marke Renovation Husbands gibt, meinen die beiden im Interview: „It’s funny to even think of ourselves as a ‚brand.‘ We started our Instagram and blog as an opportunity to share our renovation process with our family and friends. Over the last three years it has grown into a community that we truly love interacting with.“171
2.4.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede Nach der Untersuchung der vier ausgewählten Instagram-Accounts sollen diese nun noch einmal vergleichend betrachtet werden: Zunächst lässt sich feststellen, dass – bei allen Unterschieden im visuellen Auftreten –
171 Mulvey, Kelsey: Meet the Adorable Couple Renovating a New England Victorian, 2021, https://www.lonny.com/Meet+The+Adorable+Couple+Renovating+A+ New+England+Victorian (03.12.2021).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_37: @renovationhusbands, Werbepartner*innenschaft mit TOTO-Dusch-WC.
wie diese führen zu mehr Medienpräsenz und ermöglichen weitere Kooperationen und Partnerschaften. Auf die Frage, ob es so etwas wie eine Marke Renovation Husbands gibt, meinen die beiden im Interview: „It’s funny to even think of ourselves as a ‚brand.‘ We started our Instagram and blog as an opportunity to share our renovation process with our family and friends. Over the last three years it has grown into a community that we truly love interacting with.“171
2.4.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede Nach der Untersuchung der vier ausgewählten Instagram-Accounts sollen diese nun noch einmal vergleichend betrachtet werden: Zunächst lässt sich feststellen, dass – bei allen Unterschieden im visuellen Auftreten –
171 Mulvey, Kelsey: Meet the Adorable Couple Renovating a New England Victorian, 2021, https://www.lonny.com/Meet+The+Adorable+Couple+Renovating+A+ New+England+Victorian (03.12.2021).
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2.4 Instagram-Wohnen doch grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen allen vier Accounts gefunden werden konnten. Jeder Account präsentiert eine eigene visuelle Identität durch Farbgebung, Bildrhythmen und gezeigten Content. So begegnen uns in den Bildwelten von @studiomcgee „modern“ gestaltete Wohnräume in hellen Beige-, Braun- und Weißtönen, während auf @mytexashouse Materialien und Objekte in allen nur erdenklichen Weißtönen klassisch-konservative Wohnvorstellungen anbieten. Auf @renovationhusbands sind die Wohnbildwelten in bunte, satte Farben getaucht und zeigen eine queere Häuslichkeit, und der Account @em_henderson suggeriert abwechslungsreiche Wohnwelten in bunten, pastelligen Farben mit viel Vintage- Romantik. Wenngleich die Accounts also unterschiedliche Oberflächen erzeugen, lässt sich doch sagen, dass sie ähnliche visuelle Strategien anwenden, um erfolgreich Follower*innen zu gewinnen und diese Popularität – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – auch ökonomisch zu verwerten.
Stimmung oder Atmosphäre Allen Accounts liegt zugrunde, dass sie eine besondere Stimmung oder Atmosphäre mit den gezeigten Bildern evozieren wollen. Es geht also nie um das einzelne Kissen, die Überwurfdecke oder den neuen Teppich an sich, sondern was zählt, ist das Flair, das diese Objekte, Materialien und deren Inszenierung ausstrahlen. Die abgebildeten Wohnräume zeigen auf einzigartig erscheinende Weise Momente der Freude, Entspannung, Gemütlichkeit oder anderer Wohlgefühle. Wie Lev Manovich ausführt: „It is about ‚contemplation‘, ‚meditation‘, ‚being lazy‘, and so on – the luxury of doing absolutely nothing while being in a perfect place, perfectly dressed, with a perfect drink – solo or with a perfect friend.“172 Diese Atmosphären entstehen durch das Zusammenspiel von ausgewählten Objekten, der richtigen Farben und Kontraste sowie der Präsenz der Bewohner*innen dieser Wohnszenarien, die zugleich das Narrativ des jeweiligen Accounts prägen. Das Generieren der passenden Stimmung, der perfekten Atmosphäre wird je nach Account unterschiedlich ausgelegt, je nach thematischer Zuordnung und der 172 M anovich, Lev: Instagram and Contemporary Image, 2016, http://manovich. net/index.php/projects/instagram-and-contemporary-image (19.02.2022).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_38: Shea McGee drapiert Pies für den perfekten Instagram-Moment im McGee-home.
Klientel, die der Account ansprechen will. So sehen wir z.B. Shea McGee in perfektes Sonnenlicht getaucht am Esstisch Geschirr und Pies für eine Kaffeetafel arrangieren. Die Gelb- und Brauntöne der Blumen, Stühle und Speisen kreieren mit dem Lächeln von Shea McGee eine für den Account spezifische Atmosphäre, die ein breites Publikum ansprechen soll.
Wohnen als Lifestyle Gemeinsam ist allen Accounts auch ein erweitertes Verständnis von Wohnen. So wird Wohnen nicht als Notwendigkeit gezeigt und in funktionale Räumlichkeiten für Kochen, Schlafen und Körperhygiene aufgeteilt. Wohnen verstehen alle vier gezeigten Accounts als eine Lebenserfahrung – als Lifestyle. So ist jedes Bild ein Erlebnis oder eine freudvolle, aufregende Erfahrung in und mit der Wohnumgebung und den dazugehörigen
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2.4 Instagram-Wohnen Wohngegenständen. In der Küche auf @mytexashouse wird nicht gekocht, sondern es werden die neuesten Haushaltsgegenstände ausgestellt und ihre bloße Anwesenheit genossen. Durch die Entkoppelung des Wohnens von funktionalen Notwendigkeiten und die Ausweitung des Wohnens in den Bereich Lifestyle können neue Lebens- und Konsumbereiche erschlossen werden. So zeigt @mytexashouse nicht nur Teppiche, Teller und Pölster, sondern inszeniert auch die neue Sommerkleid- Kollektion auf der Bühne des weißen Schlafzimmers. Versteht man Wohnen als ein Lifestyle-Erlebnis, ist die Wohnumgebung mit unendlich vielen andere Bereichen kombinierbar, von der eigenen Bienenzucht (@renovationhusbands) bis zur perfekten Gartenparty mit Freund*innen (@em_henderson).
Selbstinszenierung Alle untersuchten Accounts leben von einem starken Narrativ rund um ihre Protagonist*innen. Die Selbstinszenierung der handelnden Subjekte ist wesentlicher Bestandteil für das Generieren gelungener Atmosphären, aber auch für das Etablieren einer Gemeinschaft aus Abonnent*innen. Interaktion und Zirkulation wachsen, wenn die Instagramer*innen selbst körperlich sichtbar werden, die Anwesenheit der wohnenden Person ist unabdingbar für den Erfolg der betrachteten Accounts. Dabei muss der Körper der Protagonist*innen nicht in klassischer Porträtform gezeigt werden; oft reicht es, wenn Körperteile, etwa Hände oder Füße, gekonnt ins Bild gesetzt werden. Die beliebte Fuß-im-Bild-Pose zeigt das Subjekt beim Entspannen, immer eng verknüpft mit Objekten und Waren des Wohnens. So sind David und Stephen St. Russell auf @renovationhusbands fast in jedem Bild sichtbar und präsentieren sich in unterschiedlichen Lebens- und Wohnsituationen. Die Familie McGee taucht zwar nicht in jedem Bild ihren perfekten Wohnumgebungen auf, doch sie sind Teil der räumlichen Erzählung und stellen so eine persönliche Beziehung zwischen User*innen und Account-Betreiber*innen her.
Webshops und Kaufoptionen Allen Accounts ist gemeinsam, dass sie die gezeigten Atmosphären und ihr erweitertes Lifestyle-Wohnverständnis auf unterschiedliche Weisen
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_39: Erin Vogelpohl präsentiert eine Walmart-summerdress-Kollektion in ihrem Schlafzimmer auf @mytexashouse.
kapitalisieren möchten. So wird durch die perfekt inszenierten Wohnstimmungen ein Wohnbegehren bei den Betrachter*innen erzeugt, das – so das Kalkül – erst durch den Erwerb der gezeigten Waren gestillt werden kann. Die gezeigten Wohnräume (meist große Häuser) sind jedoch immer noch größer, noch heller, noch aufgeräumter und enthalten noch mehr, immer wieder wechselnde Gegenstände. Denn wie Irene Nierhaus schreibt: „Das nie erreich- und erfüllbare ‚Bessere‘ hält das Begehren am Laufen bzw. bringt es mit hervor“.173 Dabei sind die Schauplätze des Wohnens bis ins Detail inszenierte, geplante und kuratierte Bühnen, die durch ihre Verbildlichung mit perfektem Licht und pas173 N ierhaus, Irene: Seiten des Wohnens – Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, S. 20.
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2.4 Instagram-Wohnen
Abb. 2_40: Instagram Living, Collage von Maria Groiss & Bernadette Krejs, 2021.
senden Farben zu unerreichbaren Idealen transformiert werden. Über die verlinkten Webshops und Kaufoptionen der vorgezeigten Wohnträume wird der Eindruck erweckt, dass sich Wohnen bzw. das Zuhause über Waren konstituiert und sich das eigene Wohngefühl erst durch den Erwerb der angebotenen Objekte dem gezeigten Ideal annähern kann. Die User*innen werden dazu ermuntert, über das Nachahmen des Wohnideals und das Kombinieren unterschiedlicher Wohnobjekte dem gezeigten Vorbild näherzukommen. Dieser Prozess des Zeigens, Darbietens und Bewerbens wird ständig erweitert und beschränkt sich nicht auf einige Dekor- oder Möbelstücke. Das Expandieren in neue
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_41: perfekter Instagram-Moment auf @renovationhusbands.
Märkte und das Verlinken mit ihnen beschleunigt die Zirkulation auf dem jeweiligen Account und treibt dessen Wachstum an. Alle vier betrachteten Accounts vereint auch, dass bestimmte Aspekte des Wohnens bewusst ausgeklammert werden und nicht sichtbar sind; andere Aspekte werden dafür immer wieder wiederholt. Der Ort des Wohnens ist meist ein großes freistehendes Haus, Fragen danach, wer sich ein solches Wohnen leisten kann, wer Zugang dazu erhält, werden so gut wie nie thematisiert. Das Wohnen ist eine perfekte Konfiguration von Objekten, völlig losgelöst von Grund und Boden sowie jeglicher Lasten des alltäglichen Lebens. Zeigt uns Kim Kardashian in einer Ballrobe in ihrer Dusche stehend, in voller Deutlichkeit, dass das Wohnen in ihrer Inszenierung auf Instagram längst Fragen der Notwendigkeit, der Funktionalität und der Gemeinschaft hinter sich gelassen hat, sind die Bildwelten der hier untersuchten Accounts in ihren visuellen Stra-
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2.4 Instagram-Wohnen tegien weniger eindeutig, auch wenn sie eine ähnliche Agenda in sich tragen. Aufgeräumte Wohnräume, wunderschöne Objekte, Materialien und Möbel, das perfekte Sonnenlicht, alles ist erledigt bzw. da, wo es sein soll, alles ist Leisure, das Zuhause als perfekter Ort der Entspannung, der Freude und der Familie. Erreichbar für alle?
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2.5 Ideale mit Folgen Ausgehend von den in Abschnitt Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, beschriebenen Wohnidealen, die durch inszenierte Bildwelten bestimmte Wohnbegehren evozieren, werden nun die Folgen dieser ästhetisierten Verbildlichung von Wohnen auf digitalen Plattformen wie Instagram kritisch beleuchtet. Dabei soll es um vier wesentliche Auswirkungen dieser untersuchten visuellen Idealisierung von Wohnen gehen: (1) So ist zu beobachten, dass durch die gezeigten Wohnideale eine Verschiebung des Verständnisses von Wohnen stattfindet, nämlich hin zum Wohnen als ästhetischem Konsum. (2) Weiters kann festgehalten werden, dass sich die Prozesse der Gemeinschafts- und Subjektbildung durch das Betrachten der betreffenden Bildinhalte, aber auch durch die Interaktion der User*innen mit der Plattform verändern. Ein neues Gemeinschaftsverständnis setzt voraus, ständig mittun zu müssen, ohne unbedingt teilzuhaben, und geht dabei von einem optimierten, immer verfügbaren Subjekt aus. (3) Außerdem ist zu beobachten, dass durch den fokussierten, gerichteten Blick der inszenierten Wohnbildwelten das Wohnen auf einige wenige Zustände reduziert wird. Die Homogenisierung der Bilder geht mit einer Limitierung von Wohnerfahrungen und somit auch Wohnmöglichkeiten einher. (4) Es ist also nicht verwunderlich, dass die vorgezeigten begehrten Wohnideale auf Instagram auch in die Planung und das Bauen von Wohnraum Einzug gefunden haben. So zeugen die als AirSpaces bezeichneten uniformen Räume mit der weltweit gleichen optischen Ausstattung , ebenso wie die immer gleichen weißen Wohnräume der Plattform Airbnb, von einer Verräumlichung visuell omnipräsenter digitaler Bildwelten. Denn neben der Homogenisierung von gebauter Umwelt und der visuellen Vereinheitlichung wird auch die instagramable Präsentierbarkeit gebauter Architektur forciert. Man kann also feststellen, dass sich digitale Plattformen zu einflussreichen Akteurinnen bei der Gestaltung unserer Umwelt entwickelt haben.174
174 V gl. Wainwright, Oliver: Snapping point: How the world’s leading architects fell under the Instagram spell, in: The Guardian, 23.11.2018, https://www.the guardian.com/artanddesign/2018/nov/23/snapping-point-how-the-worlds leading-architects-fell-under-the-instagram-spell (15.12.2021).
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2. Das Bild des Wohnens
2.5.1 Wohnen als ästhetischer Konsum In Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, wurde skizziert, dass Wohnen ein Grundrecht aller Menschen ist, dass es unterschiedliche Funktionen wie Regeneration, Schutz oder Versorgung übernimmt, aber auch ein Ort der Gemeinschafts- und Subjektbildung ist, in dem über Macht, Repräsentation und soziale Konventionen verhandelt wird. Dieser komplexe Schauplatz erfährt in den auf Instagram gezeigten Wohnbildwelten eine radikale Vereinfachung. Anders gesagt, die Vielschichtigkeit des Wohnens wird in den präsentierten Bildwelten auf im Wesentlichen nur noch einen möglichen Zustand reduziert: Wohnen als ästhetischen Konsum. Wie in der Analyse der ausgewählten Accounts gezeigt wurde, sind die Objekte, Räume und Handlungen des Wohnens auf Instagram meist aufs Engste mit unterschiedlichen Formen von Konsum verwoben. Dabei beschränkt sich das Konsumieren nicht auf das Kaufen von Möbeln, Teppichen oder Vasen, sondern expandiert in weitere Lebensbereiche, die an das Wohnen anschließen und zu einer Erweiterung des Wohnbegriffs hin zu einem Lifestyle-Erlebnis führen. Das Wohnen soll also mehr sein als ein funktionaler Ort der Reproduktion, Erholung und Hygiene, es geht kaum noch um den Gebrauchswert der zahlreichen Wohndinge, sondern vor allem um deren Tauschwert oder ihr Gebrauchsversprechen. So thematisiert der marxistische Theoretiker Wolfgang Fritz Haug in Kritik der Warenästhetik (1971) die Entkoppelung des Gebrauchswertes von seiner Erscheinung. „Hinfort wird bei aller Warenproduktion ein Doppeltes produziert: erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes.“175 Denn die ästhetische Erscheinung einer Ware – in diesem Fall der Dinge des Wohnens – ist auch ein (Gebrauchs-)Versprechen und bildet somit eine eigenständige Funktion im Prozess des Konsums. Das ästhetisierte Dar- und Ausstellen des Wohnens wird also im Bild selbst warenförmig. Wohnen als perfekt inszenierter Schauplatz des Lebens mit all seinen Objekten, Oberflächen und Handlungen ist durchdrungen von einem Zeigen und Gezeigtwerden. Abgebildet und eingefangen in makellosen, kontrastreichen, weißen Bildern im Sinne einer Instagram-Ästhetik, präsentiert sich das Wohnen als ästhetischer Konsum. Denn Ästhetik
175 Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M. 1971, S. 16.
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2.5 Ideale mit Folgen spielt eine wesentliche Rolle bei der Kapitalisierung von Wohnens. Erst durch die mediale Vermittlung von überästhetisierten Bildwelten, wie auf Instagram, kann der Kapitalkreislauf aus Wohnideal, Wohnbegehren und Konsumation stets aufs Neue angekurbelt werden. David Harvey spricht in The Enigma of Capital (2010) von sieben Handlungsbereichen („activity spheres“) – (1) Technologien und Organisationsformen, (2) gesellschaftliche Verhältnisse, (3) institutionelle und administrative Strukturen, (4) Produktion und Arbeitsprozess, (5) Beziehung zur Natur, (6) Reproduktion des alltäglichen Lebens und der menschlichen Spezies, (7) geistige Vorstellungen von Welt (kulturelle Normen und Überzeugungen) –, die zur Evolution des Kapitalismus beitragen.176 Diese nebeneinander bestehenden, in wechselseitige Beziehungen miteinander verwobenen Bereiche begründen nach Harvey eine Art koevolutionäre Dynamik, die den Kapitalismus immer weiter vorantreibt.177 Ästhetik ist nun ebenfalls mit diesen Handlungsbereichen verbunden. Die ästhetische Steuerung des Kapitalismus betrifft verschiedene dieser activity spheres, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung und Geschwindigkeit entwickeln. Aufgrund der wechselseitigen Beeinflussung bewirkt dabei eine Veränderung im einen Bereich auch Veränderungen in anderen Bereichen. Überträgt man diese koevolutionäre Theorie auf die ästhetisierten Bildwelten des Wohnens, lassen sich Veränderungen in unterschiedlichen Handlungsbereichen erkennen: Die veränderten (4) Produktionsbedingungen und Arbeitsprozesse (aesthetic workers) überschneiden sich mit neuen (1) Technologien (digitale Plattformen), die wiederum (3) bestehende institutionelle Strukturen (Infrastrukturen) verdrängen und auf (2) grundlegende gesellschaftliche Verhältnisse (das Wohnen) einwirken. Die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen durchdringen alle Strukturen, die Ästhetik fließt daher auch in alle diese Bereiche ein. Die Ästhetisierung unterschiedlicher Lebensbereiche und im Speziellen des Wohnens spiegelt sich in der explosionsartigen Verbreitung ästhetisierter Bildwelten auf digitalen Plattformen wider. Diese Wende hin zur Ästhetisierung des Wohnens darf jedoch nicht 176 V gl. Harvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden, Hamburg 2014, S. 121. Die weiteren Bereiche sind: gesellschaftliche Verhältnisse, institutionelle und administrative Strukturen, Beziehung zur Natur, geistige Vorstellungen von Welt (kulturelle Normen und Überzeugungen), ebd. 122f. 177 Vgl. ebd., S. 137.
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2. Das Bild des Wohnens dem Wunsch nach Vereinfachung folgen und isoliert betrachtet werden, sondern muss im Kontext einer wechselseitigen Beeinflussung diskutiert werden. „Denn ‚problematisch‘ wird es, wenn eine dieser Dimensionen auf dogmatische Weise und unter Ausschluss aller anderen als die einzige Quelle von Veränderung und daher als vorrangiger politischer Ansatzpunkte dargestellt wird,“ schreibt Harvey.178
Die Un-Ästhetik und ihre Maskeraden Die zunehmende Ästhetisierung des Wohnens und die mit ihr verwobene Kapitalisierung sind auf unterschiedlichen Handlungsebenen zu betrachten, denn Ästhetik wird als Instrument eingesetzt, um Formen des Politischen auszulöschen. Jean Baudrillard beschreibt diese Auflösung so: „When everything becomes aesthetic, nothing is either beautiful or ugly any longer, and art itself disappears.“179 Auch Neil Leach greift in The Anaesthetics of Architecture (2000) die narkotisierende Wirkung einer allumfassenden Ästhetisierung des Lebens auf und sieht darin eine Schwächung des sozialen und politischen Bewusstseins. „The intoxication of the aesthetics leads to an anaesthetics of intoxication, and a consequent lowering of critical awareness. What results is a culture of mindless consumption […].“180 Denn eine Über-Ästhetisierung kann uns wie in einem Kokon einspinnen und isoliert uns dadurch von den sozialen und politischen Realitäten des täglichen Lebens bzw. Wohnens. In der unendlichen Wiederholung der perfekt inszenierten und ausgeleuchteten Bilder des Wohnens auf Instagram wird die ästhetische Empfindung gegenüber anderen Realitäten privilegiert. Jene Bilder mit ihrer optimalen Helligkeit, perfekten Bildsättigung und einzigartigen Objektkombinationen verzerren unsere Wahrnehmung vom Wohnen, da sie das visuelle Erlebnis in den Vordergrund stellen und zu dessen Konsumation einladen, während jegliche andere Bedeutung des (Be-)Wohnens zum unsichtbaren Nebenschauplatz wird. Leach schreibt hierzu kritisch: „The
178 Ebd., S. 133. 179 Baudrillard, Jean: The Disappearance of Art and Politics, Chaloupka, William/ Stearns, William (Hg.): Jean Baudrillard. The disappearance of art and politics, London 1992, S. 10. 180 Neil Leach: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge 2000, S. viii.
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2.5 Ideale mit Folgen image is all there is. Everything is transported into an aesthetic realm and valued for its appearance. The world has become aestheticized.“181 Auch Keller Easterling greift in Enduring Innocence. Global Architecture and Its Political Masquerades (2005) die Mythen, Wünsche und Maskeraden auf, die das Materielle (und Immaterielle) durchdringen. Denn unterschiedliche räumliche Produkte (spatial products182) oder Architekturen, zu denen auch der Wohnraum gezählt werden kann, folgen vertrauten kommerziellen Logiken, indem ihnen Fassaden, Effekte oder spezielle Formen vorangestellt werden, gleich aufwendigen Kostümen.183 So stellt sich die Frage, was das eigentlich ist, was wir zu sehen bekommen, und wie es uns erscheint. Easterling spricht von „hilarious and dangerous masquerades“,184 also urkomischen und zugleich gefährlichen Verkleidungen. Denn auch wenn alles größer, üppiger und glänzender wird, wird die Welt – oder das Wohnen – dadurch nicht vielfältiger. „The boundaries expand and exclude, extend and tighten, allowing the world to increase in size but not necessarily in diversity or intelligence.“185 Die aufwendig verpackten, inszenierten und ästhetisierten Bilder des Wohnens präsentieren sich in diesen spektakulären Kostümen, weil sie durch ihre Maskeraden alles zu Ästhetik werden lassen und das Politische, die Vielfalt und die Komplexität dabei auflösen. Zurück bleibt das Begehren nach Konsumation und nach noch mehr Bildern, Objekten und Handlungsanweisungen. In ihrem Artikel Producing place atmospheres digitally (2017) sprechen Monica Degen, Clare Melhuish und Gillian Rose daher auch von „the aesthetic side of capitalism“.186 Sie tun dies in Bezug auf computergenerierte Bilder (CGI/Rendering) wie die für das Msheireb Project187 in Doha (Katar), die sie untersucht haben, die Formulierung lässt sich aber auch auf die
181 Ebd., S.5. 182 Easterling, Keller: Enduring Innocence. Global Architecture and Its Political Masquerades, Cambridge 2005, S. 1. 183 Vgl. ebd., S. 3. 184 Ebd. 185 Ebd., S. 1. 186 Degen, Monica/Melhuish, Clare/Gillian, Rose: Producing place atmospheres digitally: Architecture, digital visualisation practices and the experience economy, in: Journal of Consumer Culture 17, 2017, S. 3–24, hier S. 2. 187 Msheireb Downtown Doha (Katar) ist ein Stadterneuerungsprojekt und liegt im derzeitigen Stadtteil Mushayrib, Planunsbeginn war 2010 und umfasst 310.000 m². Themen wie Nachhaltigkeit und smart city sind Teil des Planungsund Werbekonzepts.
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2. Das Bild des Wohnens ästhetisierten Wohnbildwelten auf Instagram übertragen. Zu beobachten ist, dass Ästhetik, die in Bildern Stimmungen, Affekte und Atmosphären erzeugt, auch konkrete Auswirkungen zeitigt. So wie beim Msheireb Project durch ästhetisierte Hochglanz-Renderings der Verkauf der beworbenen Architekturen vorangetrieben wurde, werden auf den untersuchten Instagram-Accounts neue (Wohn-)Begehren und Wünsche zur Steigerung unterschiedlicher Konsumhandlungen evoziert. Ästhetik steht also ganz im Dienst des Kapitals. Denn während ein Bedürfnis befriedigt werden kann, so Gernot Böhme, wird ein Begehren dadurch, dass man ihm entspricht, noch gesteigert.188 Der Wunsch nach einer immer besseren und umfassenderen Ausstattung des Lebens sowie danach, mehr gesehen und gehört zu werden, verlangt auch ökonomisches Wachstum. Langeweile im Wohlstand, Unzufriedenheit auf hohem Lebensniveau und das Sich-nicht-begnügen-Wollen mit dem Erreichten sind Paradigmen unserer Zeit. Auf den untersuchten Instagram-Accounts wird jegliche Lebensausstattung unter der Perspektive möglicher Erweiterung und Verbesserung betrachtet. Technologische Entwicklungen sowie die ständige Sichtbarkeit steigern dieses Begehren. So werden unendlich viele Lagen an Pölstern bei @mytexashouse drapiert, unzählige Blumenvasen und Deko-Gegenstände verstellen den Esstisch von Shea McGee und die eben erst eingebaute Küche der @renovationhusbands wird nach kurzer Zeit durch eine neue ersetzt. Die vielen Gegenstände und Möglichkeiten in den perfekt inszenierten Bildwelten sollen das Begehren nach noch mehr, nach etwas Neuem nicht abreißen lassen und reduzieren das Wohnen gleichzeitig auf passende Produkte und Handlungen. Dabei ist der Überfluss an Dingen, das ständige Auswechseln, Anpassen und Optimieren von Tapeten, Dekorgegenständen und Einrichtungsobjekten auch Teil eines Leistungsdenkens. Die untersuchten Bildwelten des Wohnens auf Instagram verweisen auf die Pflicht, Sorge zu tragen für ein immer ästhetisch ansprechendes Zuhause, das nie langweilig ist und sich immer verbessern lässt. Denn Wohnen bedeutet hier, den Maskeraden einer allumfassenden Ästhetik des Konsums zu folgen, während das Politische und Soziale des Wohnens ausgeklammert werden.
188 Böhme, Gernot: Ästhetischer Kapitalismus, Berlin 2016, S. 18.
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2.5 Ideale mit Folgen
Abb. 2_42: Erin Vogelpohl auf @mytexashouse.
2.5.2 Community experience und optimierte Individuen Die visuelle Präsentation von Wohnen auf digitalen Plattformen wie Instagram produziert auch neue Rollen aller involvierten Personengruppen. Zunächst gibt es die bereits erwähnten aesthetic workers, also diejenigen, die die Skills besitzen, Wohnen auf ihren Accounts atmosphärisch in einer Instagram-Ästhetik zu visualisieren. Gleichzeitig sind sie auch die Hauptdarsteller*innen im Schauspiel Wohnen und inszenieren ihren Körper in gekonnter Selbstdarstellung in arrangierten Umgebungen. Sie bedienen eine weitere Gruppe, nämlich die der Follower*innen dieser Accounts. Die Community aus Follower*innen und Interessierten bildet
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2.5 Ideale mit Folgen
Abb. 2_42: Erin Vogelpohl auf @mytexashouse.
2.5.2 Community experience und optimierte Individuen Die visuelle Präsentation von Wohnen auf digitalen Plattformen wie Instagram produziert auch neue Rollen aller involvierten Personengruppen. Zunächst gibt es die bereits erwähnten aesthetic workers, also diejenigen, die die Skills besitzen, Wohnen auf ihren Accounts atmosphärisch in einer Instagram-Ästhetik zu visualisieren. Gleichzeitig sind sie auch die Hauptdarsteller*innen im Schauspiel Wohnen und inszenieren ihren Körper in gekonnter Selbstdarstellung in arrangierten Umgebungen. Sie bedienen eine weitere Gruppe, nämlich die der Follower*innen dieser Accounts. Die Community aus Follower*innen und Interessierten bildet
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2. Das Bild des Wohnens eine Form von Gemeinschaft, die eines genaueren Hinschauens bedarf. Welche Form von Gemeinschaft ermöglichen und befördern die Plattform und ihre technologische Infrastruktur? Und welche Auswirkungen hat diese neue Werte- und Ästhetik- Gemeinschaft auf das Zusammenleben inner- und außerhalb unserer Wohnräume? Die aesthetic workers, Instagramer*innen oder Influencer*innen nutzen die digitale Infrastruktur der Plattform, um ihre Projekte oder Unternehmen zu präsentieren. Ab einer gewissen Zahl von Follower*innen werden die unternehmerischen Tätigkeiten auf Social Media auch als creator economy bezeichnet. Creators sind Akteur*innen, die Plattformtechnologien nutzen, um unterschiedlichste Inhalte zu kreieren, die sie dann monetär verwerten, kurz gesagt: „Creators are the new founders“.189 Tipps, To-do-Listen und Tutorials sind Hilfsmittel, die Interessierten zeigen, wie man auf Instagram mit ästhetisierten Inhalten (egal welchen) möglichst viele Abonnent*innen sammelt, um Content in Kapital zu verwandeln. Treibende Kraft zur Etablierung einer Community ist die Persönlichkeit der betreffenden Akteur*innen selbst. „To succeed, creators have to be incredible storytellers, relentless hustlers, and leaders of their fan communities.“190
Community experience Der Überfluss an ästhetisierten Bildern auf Instagram und anderen Plattformen sowie die Unmengen an damit verknüpften Konsummöglichkeiten bewegen User*innen zum Handeln. Bilder werden gelikt oder geteilt und Konsumaufforderungen werden von befolgt, um uns und unsere Wohnumgebungen einem Community-Ideal anzupassen. Durch dieses Klicken und Kaufen werden potentielle Konsument*innen mit Produkten verbunden, die dabei in dem Glauben handeln, dass sie sich im Austausch mit einer Community befinden. Dabei ist das oberste Ziel der Plattformen und ihrer Betreiber*innen, die User*innen so lange wie möglich durch Verstrickungen wie Kommentare, Videos, Likes und Ähnliches zum Verweilen auf den eigenen Seiten zu animieren. Dabei
189 Y uan, Yuanling: Signal Fire’s Creator Economy Market Map, https://signalfire. com/blog/creator-economy/ (9.12.2021). 190 Ebd.
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2.5 Ideale mit Folgen sollen das Investieren von Zeit und die „Arbeit“, die in das Erforschen des Accounts gesteckt wird, nicht als solche erfahren werden, vielmehr werden sie als Teil einer Gemeinschaftserfahrung angepriesen. Durch die stetige Steigerung von Kommunikation befinden sich die User*innen in einem Mechanismus von ständiger Aufmerksamkeit, in dem sie zu dauernd verfügbaren Konsument*innen gemacht werden. Michaela Ott verweist in einem Interview auf problematische Folgen dieser Verfügbarkeit: „Die sozialen Praktiken des Linking und Liking aufgrund der Dichte der Kommunikation führen zu rapiden Stimmungswechseln zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit.“191 Die Aufmerksamkeitsbindung der User*innen an die Plattform oder zu einzelnen Accounts kontrolliert den eigenen Alltag und wird von dem Versprechen angetrieben, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Die unbezahlte „Arbeit“, die User*innen in die Interaktion mit beliebten Accounts investieren, kann dabei als eine in Teilen unfreiwillige Partizipation verstanden werden. Ott spricht hier von freiwillig-unfreiwilliger Teilhabe, die diese Art der Aufmerksamkeitsbindung zur Gemeinschaft einfordert.192 Diese Form der Kommunikation beruht auf einer ökonomischen Transaktion zwischen virtuellen Körpern und kann zur Etablierung eines Gemeinschaftsgefühls, wie dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Werte- oder Ästhetikgemeinschaft, beitragen. Eine tatsächlich greifbare (körperliche) Gemeinschaft oder der Austausch mit Anderen im Sinne von gemeinsamer Teilhabe steht dabei jedoch nicht im Vordergrund. Die immer wieder betonte Idee der Community von Plattformen, die in der creator economy von aesthetic workers propagiert wird, ist daher kritisch zu betrachten. So meint Benjamin Bratton: „Facebook hat viele fragwürdige Gesichter, am schlimmsten ist das Selbstbild einer großen Gemeinschaft.“193 Auch Keller Easterling spricht von der „dumpfen Binärlogik von Likes und Dislikes in sozialen Medien“,194 die wenig mit einer tatsächlichen Gemeinschaftserfahrung zu tun haben. Die auf und von den Plattformen selbst betriebene Idealisierung von Communitys,
191 Musterer, Constanze/Ott, Michaela: Es lebe die Dividuation! – Interview mit Prof. Dr. Michaela Ott, in: Yeast – Art of Sharing, 2016, http://www.yeast-art-ofsharing.de/2016/05/es-lebe-die-dividuation-interview-mit-prof-dr-michaelaott/ (31.8.2020). 192 Ebd. 193 Bratton, Benjamin H.: Eine Aktualisierung von The Stack, S. 175. 194 Keller, Easterling: Medium Design, S. 154.
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2. Das Bild des Wohnens die letztlich auf Konsumation und emotionaler Bindung mittels Likes beruhen, erscheint letztlich eher als normierende und einengende Praxis, als dass sie tatsächlich die Teilhabe an einer Gemeinschaft befördert. Der Community-Begriff auf Plattformen wie Instagram entspricht daher eher einer collective membership mit Gleichgesinnten,195 wie eine Mitgliedschaft im Fitnesscenter. Doch die Idee von Gemeinschaft steht hoch im Kurs in der öffentlichen Präsentation von Plattformen. Die Sehnsucht nach Verbundenheit ist in einer Gesellschaft von digitalen Nomad*innen, unabhängigen Singles und vernetzten Weltbürger*innen groß. Ihnen wird suggeriert, dass aus einem Zusammenspiel aus digitalen Netzwerken, Körpern und Apparaten (Computer, Handys) neue Formen des Gemeinwesens entstehen könnten.196 So steht das Aufrechterhalten und Verbildlichen eines Gemeinschaftsgefühls wesentlich stärker im Vordergrund als tatsächlich gelebte Gemeinschaft.
Subjektivierung und Individualisierung Nicht nur auf der Ebene der Gemeinschaft bringen Plattformen wie Instagram einen grundlegenden Wandel, auch die einzelnen User*innen durchleben Prozesse der Subjektivierung und Individualisierung, um vor allem eines voranzutreiben, nämlich das Konsumieren. Einerseits sind es die Instagramer*innen selbst, die durch teilweise intime Offenbarungen in Bildern (und Texten) gegenüber einer unbekannten Gemeinschaft ein neues Selbstverständnis gestalten. Aber auch die Follower*innen erfahren durch die ständige Auseinandersetzung mit den gezeigten Lebenswelten persönliche Transformationsprozesse. Mit der Zeit verwächst so der eigene Lebensweg mit den gezeigten ästhetisierten Bildwelten zu einem virtuell imaginierten neuen Selbst. Ott beschreibt diese Verschmelzung so: „Sinnliche Reize, Sprache und Bilder werden uns heute verstärkt durch technologische Medien vermittelt, was dazu führt, dass wir diese in unsere Psychophysis integrieren, dass wir sie zu Teilhabenden an unseren Subjektivierungsprozessen werden lassen, uns von ihnen
195 Vgl. Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 73. 196 Vgl. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: My Home is my Future. CoLiving und das neue Ethos der Gemeinschaftsbildung in: ARCH+ 244 Wien, 2021, S. 200–207, hier S. 203.
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2.5 Ideale mit Folgen
Abb. 2_43: Blick ins Wohnzimmer der @renovationhusbands.
steuern lassen, im Extremfall mit ihnen zusammenwachsen.“197 So haben uns Sprache und Blicke Anderer zwar schon immer bewohnt und dadurch geformt, neu ist jedoch die Omnipräsenz und Dominanz dieser digitalen Bild- und Normwelten, heute multipliziert sich ihre Präsenz in ungeheurem Maß. Negative Gefühle, wie Unzulänglichkeit und Neid, die das sorgfältig präsentierte Leben der Anderen in den Bildern auf Instagram auch erzeugen können, sind den Plattformunternehmen nicht erst seit der Veröffentlichung der bereits erwähnten Facebook Papers (2021) (vgl. Kap. 2.2) bekannt. So schreibt Katrin Tiidenberg in Selfies. Why We Love (and Hate) Them (2018): „Participants described Instagram as an app that demands a lot of effort and tight self-control, which is occasionally depressing because of comparison with, and the envy of ‚strangers‘ be-
197 Musterer, Constanze/Ott, Michaela: Es lebe die Dividuation!, http://www.yeastart-of-sharing.de/2016/05/es-lebe-die-dividuation-interview-mit-prof-dr-mi chaela-ott/ (31.8.2020).
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2. Das Bild des Wohnens autiful lives.“198 Auch Neil Leach beschreibt eine ähnliche Dynamik, in der sich die Einzelnen in eine Art ästhetischen Kokon zurückziehen und sich durch zunehmende Individualisierung von ihrer realen Umgebung immer mehr abkoppeln. „In this introverted and self-absorbed domain, individuals are increasingly isolated, cocooned from everything around, like commuters crammed into rush-hour underground trains, studiously ignoring those right in front of their nose.“199 Wie werden diese Individuen erreicht, die in ihrem ästhetischen Kokon verweilen und gleichzeitig Teil einer gemeinsamen Plattform-Community sind? In den gezeigten Bildern der untersuchten Accounts wird das Besondere, Einzigartige und Individuelle propagiert, doch dieses Versprechen der Individualität kann nicht eingelöst werden. Die präsentierten Bilder entsprechen meist einer für alle gleichen, konsumierbaren Norm, die bei Walmart oder Target eingekauft werden kann und wenig mit Individualität oder eigenen Interessen zu tun hat. Individualität bedeutet im Kontext der Plattform Instagram also nicht Sichtbarkeit von Individuen in ihrer Diversität, vielmehr soll das Gefühl oder die Atmosphäre von Einzigartigkeit vermittelt werden. Können wir also von der Auflösung des Individuums bei gleichzeitiger permanenter visueller Betonung von Individualität sprechen? Es ist zumindest zu beobachten, dass sich die Besonderheiten des Individuum durch populäre ästhetische Praktiken immer mehr reduzieren. Beispiele dafür sind die individuell ausgewählten, aber doch immer gleichen, optisch ähnlichen Einrichtungsgegenstände auf @studiomcgee oder der als einzigartig angepriesene Lebensstil der @renovationhusbands, der doch ein normatives Wohnmodell im Einfamilienhaus mit Hund und bewährten Raumkonfigurationen reproduziert. Keiner der untersuchten Instagram-Accounts zeigte in seinen Wohnbildwelten eigenständige, individuelle Wohnformen. Im Gegenteil, das Wohnen wird auf allen Accounts als eine eingeübte, für alle geltende Norm repräsentiert, jedoch verpackt in die Atmosphäre der einzigartigen Individualität der erzählenden Persönlichkeiten. Der eigene Körper hat sich dabei in bestimmte, festgelegte, normative (Wohn-) Systeme einzupassen, so mein Tatjana Schneider „denn jeder abweichen-
198 Tiidenberg, Katrin: Selfies. Why We Love (and Hate) Them, Bingley 2018, S. 57. 199 Leach, Neil: Wallpaper* person. Notes on the behaviour of a new species, in: Rattenbury, Kester (Hg.): This is not Architecture. Media Constructions, London 2002, S. 231–243, hier S. 233.
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2.5 Ideale mit Folgen de Körper soll zu dem projizierten, dimensionierten und ausgestellten Körper werden“.200 Das gilt sowohl für den inszenierten Köper der Instagramer*innen als auch für die zusehende, nachahmende Community. Der Überfluss an ästhetisierten Bildern auf Instagram erzeugt also weder mehr Diversität noch Kommunikation oder real greifbare Gemeinschaft. Vielmehr produziert er die Idee einer gemeinsamen Instagram-Community, eine Normierung und Limitierung von Lebens- und Wohnzuständen, mit dem immer gleichen Ziel, jeglichen Aktivitäten letzlich in Konsumation zu verwandeln.
2.5.3 Fokussierte (Wohn-)Limitierungen Eine weitere kritische Beobachtung betrifft die bereits angesprochene Homogenität in den gezeigten Wohnbildwelten der untersuchten Instagram-Accounts. So wirkt zwar jeder Account in seinem äußeren Erscheinungsbild zunächst unterschiedlich und verfolgt eine je eigene Stilrichtung, aber die gezeigten Formen des Wohnens, die Raumkonfigurationen oder die Gegenstände des Wohnens sind doch homogen und ähneln sich. Das Wohnen wird in vertraute Funktionen aufgeteilt und in den dafür vorgesehenen Räumen verstaut. Je nach finanziellen Möglichkeiten werden Küche, Wohnzimmer und Schlafräume durch Babyzimmer, parlor, media room und andere Erweiterungen ergänzt. Auch die Gegenstände des Wohnens ähneln einander, jedes Schlafzimmer besitzt ein Doppelbett mit ausladenden Überdecken und Pölstern, links und rechts Nachtkästchen mit Lampe zudem ein riesiger Teppich. Diese immer gleichen Bilder des Wohnens begegnen uns dabei keineswegs nur auf Instagram oder auch anderen Plattformen, sondern dieses visuelle (Wohn-)Ideal wird auch in anderen Medien reproduziert und nachgeahmt. Die homogenisierten Wohnbildwelten sind auch Produkt einer Sehweise, die Juhani Pallasmaa in Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne (2013) als fokussiert oder gerichtet charakterisiert. Er beschreibt diese fokussierte Sehweise als ein kontrollierendes Sehen, das alles lücken-
200 Vgl. Schneider, Tatjana: Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021.
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2.5 Ideale mit Folgen de Körper soll zu dem projizierten, dimensionierten und ausgestellten Körper werden“.200 Das gilt sowohl für den inszenierten Köper der Instagramer*innen als auch für die zusehende, nachahmende Community. Der Überfluss an ästhetisierten Bildern auf Instagram erzeugt also weder mehr Diversität noch Kommunikation oder real greifbare Gemeinschaft. Vielmehr produziert er die Idee einer gemeinsamen Instagram-Community, eine Normierung und Limitierung von Lebens- und Wohnzuständen, mit dem immer gleichen Ziel, jeglichen Aktivitäten letzlich in Konsumation zu verwandeln.
2.5.3 Fokussierte (Wohn-)Limitierungen Eine weitere kritische Beobachtung betrifft die bereits angesprochene Homogenität in den gezeigten Wohnbildwelten der untersuchten Instagram-Accounts. So wirkt zwar jeder Account in seinem äußeren Erscheinungsbild zunächst unterschiedlich und verfolgt eine je eigene Stilrichtung, aber die gezeigten Formen des Wohnens, die Raumkonfigurationen oder die Gegenstände des Wohnens sind doch homogen und ähneln sich. Das Wohnen wird in vertraute Funktionen aufgeteilt und in den dafür vorgesehenen Räumen verstaut. Je nach finanziellen Möglichkeiten werden Küche, Wohnzimmer und Schlafräume durch Babyzimmer, parlor, media room und andere Erweiterungen ergänzt. Auch die Gegenstände des Wohnens ähneln einander, jedes Schlafzimmer besitzt ein Doppelbett mit ausladenden Überdecken und Pölstern, links und rechts Nachtkästchen mit Lampe zudem ein riesiger Teppich. Diese immer gleichen Bilder des Wohnens begegnen uns dabei keineswegs nur auf Instagram oder auch anderen Plattformen, sondern dieses visuelle (Wohn-)Ideal wird auch in anderen Medien reproduziert und nachgeahmt. Die homogenisierten Wohnbildwelten sind auch Produkt einer Sehweise, die Juhani Pallasmaa in Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne (2013) als fokussiert oder gerichtet charakterisiert. Er beschreibt diese fokussierte Sehweise als ein kontrollierendes Sehen, das alles lücken-
200 Vgl. Schneider, Tatjana: Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021.
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2. Das Bild des Wohnens los erfassen möchte und gleichzeitig Distanz schafft.201 Die gezeigten Wohnbilder auf Instagram repräsentieren diese gerichtete, fixierte und kontrollierende Sehweise: Nichts wird dem Zufall überlassen, alles ist geplant und arrangiert, nichts kann schiefgehen oder falsch verstanden werden, alles ist eindeutig und sichtbar. Dem fokussierten, gerichteten Sehen stellt Pallasmaa ein peripheres Sehen gegenüber: „Eine periphere Sehweise umgibt uns immer mit Raum, während eine streng ausgerichtete, fokussierte Sehweise uns aus ihm hinausdrängt und zu bloßen Zuschauern macht.“202 Peripheres Sehen oder Wahrnehmen bindet uns also in die Welt mit ein und stellt uns die Welt, bzw. das Wohnen, nicht nur zur Betrachtung gegenüber. Eine periphere Wahrnehmung überführt das rein visuell Sichtbare in eine räumliche und körperliche Erfahrung, denn „der Verlust des Fokus wird uns endlich vom ewigen Wunsch des Auges nach Kontrolle und patriarchaler Macht befreien“.203 Daran anschließend lässt sich sagen, dass die visuell streng kuratierten Bilder des Wohnens auf Instagram ein peripheres Sehen verunmöglichen und somit auch das betrachtende Subjekt aus einer Raumerfahrung oder dem Entdecken von (Wohn-)Möglichkeiten hinausdrängen. So verbleiben die Betrachter*innen in der Rolle der passiven Konsument*innen. Wird der eigene Körper als Sitz der Wahrnehmung, des Denkens und Bewusstseins, aber auch als Ort der Imagination und Erinnerung für all diese Kapazitäten nicht mehr gebraucht, kommt es zu einer zunehmenden „Erfahrung von Entfremdung, Distanz und Einsamkeit“. 204 Das Ausschließen eines peripheren Sehens bedeutet den Verlust unterschiedlicher Formen von körperlicher und geistiger Wahrnehmung, denn im peripheren Sehen, so Pallasmaa weiter, verschmelzen „das Anwesende und das Abwesende, das Nahe und das Ferne, das Empfundene und das Imaginierte […] ineinander“.205 Wichtig ist zu erkennen, dass die gezeigten fokussierten, gerichteten Bilder des Wohnens auf Plattformen wie Instagram nicht weit entfernte Pixelbilder sind, die bloß Unterhaltungswert haben. Wie in Kapitel 1.3, Agency of the image, ausführlich beschrieben, sind Bilder nicht statische Entitäten, die unabhängig von ih201 V gl. Pallasmaa, Juhani: Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne, Los Angeles 2013, S. 17. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Ebd., S. 24. 205 Ebd., S. 57.
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2.5 Ideale mit Folgen rem Kontext existieren, sondern verfügen über Handlungsmacht (agency). John L. Austin skizzierte in seiner Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) (1975), dass mit einer Äußerung nicht bloß das Vorhandene benannt werden, sondern durch das Tätigen der Äußerung aktiv etwas getan wird. Austin nennt dieses Tun eine performative Äußerung: „Man sagt mit ihr [der performativen Äußerung] nicht bloß etwas, sondern tut etwas.“206 Durch das Performen – sei es körperlich oder sprachlich – eine Handlung vollzogen.207 Austin versteht unter performativen Äußerungen vor allem Sprechakte, führt man diesen Gedanken weiter, können aber genauso auch Bilder als Äußerungen gelesen und verstanden werden. Damit eine performative Äußerung – oder eben eine visuelle Äußerung wie die untersuchten Wohnbildwelten auf Instagram – jedoch glückt und die damit getätigte Handlung gelingt, müssen mehrere Voraussetzungen gegeben sein. So muss die adressierte User*innen-Zielgruppe z.B. die Spielregeln bzw. den Umgang mit der Plattform Instagram, die Konventionen einer gemeinsamen Wohnkultur oder die ökonomische Logik des Kapitalismus kennen. Auch trägt zum Gelingen einer performativen Äußerung bei, wenn Sprecher*in und Hörer*in oder Produzent*in und Betrachter*in eines Bilds ein gemeinsames Vokabular von Werten, Idealen und Gefühlen teilen. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, weil die Betrachter*innen eines Bilds auf Instagram z.B. von einem differenzierten Wohnbegriff ausgehen oder ein anderes ästhetisches Wohnideal begehren als die Accountbetreiber*innen, wird die performative Bild-Äußerung nicht die gewünschte Handlung (Konsumation) auf Seiten der Betrachtenden produzieren. Sind jedoch die richtigen Voraussetzungen geschaffen, können durch performative Bild-Äußerungen Handlungen vollzogen werden, die dadurch einen neuen Tatbestand schaffen. Mit anderen Worten, durch das Zeigen bestimmter Bilder werden auch bestimmte Handlungen vollzogen. Das bedeutet, dass Bilder etwas aktiv machen, nämlich unser Verständnis davon, was Wohnen ist, definieren, prägen und verändern. Zugleich produzieren sie bei den Betrachter*innen ein Begehren, das gestillt werden will, denn durch Folgen, Liken und Kaufen werden bewusst Handlungen gesetzt. Aber auch die Treue zu einem Account, das Übernehmen ästhetischer Werte und eines gemeinsamen Wohnverständnisses sind Hand-
206 A ustin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Oxford 1975, S. 46. 207 Vgl. ebd., S. 30.
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2. Das Bild des Wohnens lungen, die diese gezeigten Bilder produzieren. Diese Veränderung eines Zustandes ist ein Dinge-mit-Bildern-Tun, das mit Austins „to do things with words“ vergleichbar ist.208 Dem Bild ist also die handlungspraktische Kapazität zu eigen, etwas zu vollziehen oder zu produzieren, was es zuvor gezeigt hat. Es kann also festgehalten werden, auch wenn die untersuchten Wohnbildwelten auf Instagram wie harmlose Momentaufnahmen des Wohnens aussehen, sind sie weit mehr als nur eine Abbildung von Wohnen. Äußerungen, egal ob sprachlich oder visuell, haben Bedeutung. Indem man etwas sagt, tut man etwas – übertragen auf Bilder: Indem man etwas zeigt, tut man etwas. Die präsentierten Wohnbildwelten der Home-&-Interior-Accounts auf Instagram dürfen also nicht als statische Abbildungen unserer Umwelt verstanden werden, sondern ihnen wohnt eine gewisse Wirkungsmacht inne. Die oft nur zufällig zum Zeitvertreib angeklickten Bilder machen etwas mit ihren Betrachter*innen und ihrer Umwelt und etablieren so ein bestimmtes Verständnis von Wohnen. Es ist zu bedenken, dass diese Wohnszenarien abseits der unterschiedlichen ästhetischen Stile vor allem von Monotonie und Einfallslosigkeit dominiert werden, sodass in ihnen Veränderung nur mehr durch Konsum von noch mehr Räumen und Gegenständen möglich zu sein scheint. Die Auswahl an Wohn- und Lebensmöglichkeiten wird infolge dieser globalen Angleichung dessen, was unter Wohnen verstanden wird, dementsprechend immer enger. Wohnen wird so auf einige wenige Zustände limitiert, die fast nur noch in unterschiedlichen visuellen Ästhetiken variiert werden. Diese Limitierung von Wohnerfahrungen ist eine einschränkende Entwicklung, die es kritisch zu hinterfragen gilt, denn sie verbreitet Gleichförmigkeit statt Vielfalt. Eine globalisierte ästhetische Universalität aus wiederkehrenden visuellen Schablonen bedeutet auch den Endpunkt von Vielfalt.
2.5.4 This is so instagramable : AirSpaces und Airbnb Angesichts der limitierten Wohnbildwelten auf Instagram und Co. verengen sich auch unsere Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf das
208 Ebd., S. 24.
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2. Das Bild des Wohnens lungen, die diese gezeigten Bilder produzieren. Diese Veränderung eines Zustandes ist ein Dinge-mit-Bildern-Tun, das mit Austins „to do things with words“ vergleichbar ist.208 Dem Bild ist also die handlungspraktische Kapazität zu eigen, etwas zu vollziehen oder zu produzieren, was es zuvor gezeigt hat. Es kann also festgehalten werden, auch wenn die untersuchten Wohnbildwelten auf Instagram wie harmlose Momentaufnahmen des Wohnens aussehen, sind sie weit mehr als nur eine Abbildung von Wohnen. Äußerungen, egal ob sprachlich oder visuell, haben Bedeutung. Indem man etwas sagt, tut man etwas – übertragen auf Bilder: Indem man etwas zeigt, tut man etwas. Die präsentierten Wohnbildwelten der Home-&-Interior-Accounts auf Instagram dürfen also nicht als statische Abbildungen unserer Umwelt verstanden werden, sondern ihnen wohnt eine gewisse Wirkungsmacht inne. Die oft nur zufällig zum Zeitvertreib angeklickten Bilder machen etwas mit ihren Betrachter*innen und ihrer Umwelt und etablieren so ein bestimmtes Verständnis von Wohnen. Es ist zu bedenken, dass diese Wohnszenarien abseits der unterschiedlichen ästhetischen Stile vor allem von Monotonie und Einfallslosigkeit dominiert werden, sodass in ihnen Veränderung nur mehr durch Konsum von noch mehr Räumen und Gegenständen möglich zu sein scheint. Die Auswahl an Wohn- und Lebensmöglichkeiten wird infolge dieser globalen Angleichung dessen, was unter Wohnen verstanden wird, dementsprechend immer enger. Wohnen wird so auf einige wenige Zustände limitiert, die fast nur noch in unterschiedlichen visuellen Ästhetiken variiert werden. Diese Limitierung von Wohnerfahrungen ist eine einschränkende Entwicklung, die es kritisch zu hinterfragen gilt, denn sie verbreitet Gleichförmigkeit statt Vielfalt. Eine globalisierte ästhetische Universalität aus wiederkehrenden visuellen Schablonen bedeutet auch den Endpunkt von Vielfalt.
2.5.4 This is so instagramable : AirSpaces und Airbnb Angesichts der limitierten Wohnbildwelten auf Instagram und Co. verengen sich auch unsere Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf das
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2.5 Ideale mit Folgen Wohnen. Die Wohnungsanzeigen auf den Projektseiten der Immobilienentwickler*innen gleichen sich immer mehr an, Anzeigen für Urlaubsunterkünfte entsprechen zunehmend ein und demselben uniformen Wohnideal. Träumen wir bereits von den gleichen Wohnräumen, die uns auf Instagram, Airbnb oder bei Ikea umspülen? Die unterschiedlichen Plattformen kennen unsere Wohnwünsche bereits, denn sie produzieren und reproduzieren sie immer wieder. Wie die weltweit größte visuelle Wohndatenbank Airbnb zeigt, sind diese einander stark ähnelnden Wohnoptionen längst keine bloßen Wunschvorstellungen mehr, sondern haben auf unterschiedlichen Ebenen Einzug in unsere Wohnrealität gefunden. Klickt man sich etwa auf der Mietplattform Airbnb mit ihren mehr als 5 6 Millionen Unterkünften (Stand Dezember 2022)209 durch die beliebtesten Anzeigen, die der Algorithmus gleich zu Beginn präsentiert, wird schnell klar, dass die homogenisierten und idealisierten Wohnvorstellungen längst Teil unserer real gebauten (Wohn-)Umwelt geworden sind. Unsere Begehren und Wünsche, die von Plattformen wie Instagram produziert werden, sind zu einschränkenden und limitierenden Wohnrealitäten geworden. Denn ein Übermaß an Wohnfläche, wie es die texanische Villa auf @mytexashouse zur Verfügung stellt, bietet der reale Wohnungsmarkt für die Normalverbraucher*innen natürlich nicht. So bleiben letztlich die weißen Oberflächen, die austauschbaren Wohnaccessoires, die gleichen Möblierungen und normativen Raumordnungen übrig. Kyle Chayka führt zur Beschreibung dieser Harmonisierung der Geschmäcker durch digitale Plattformen den Begriff AirSpace ein und bezeichnet damit eine von Technologie geschaffene Realität.210 AirSpaces können als Cafés, Bars, Apartments oder Co-Working-Spaces in Erscheinung treten, was sie verbindet ist eine vertraute Gleichförmigkeit. Cafés mit minimalistischen Möbeln, industrieller Beleuchtung, Vintage-Holztischen und vor allem schnellem Internet, Caffè Latte und Avocado-Toast. Apartments mit immer gleichen in Weiß gehalten Räumen, Bädern mit U-Bahn-Fliesen und modularen Möbel. Vertraute Beschreibungen von 209 Kennzahlen zu Airbnb weltweit, Statista 2023, https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/419494/umfrage/globaler-ueberblick-von-airbnb/ (12.6.2023). 210 Chayka, Kyle: Welcome to AirSpace. How Silicon Valley Helps Spread the Same Sterile Aesthetic across the World, in: The Verge, 2016, https://www.theverge. com/2016/8/3/12325104/airbnb-aesthetic-global-minimalism-startup-gentri fication (19.02.2022).
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2. Das Bild des Wohnens Orten, die man oft gesehen und auch schon erfahren hat. AirSpaces sind jedoch nicht Produkte einer globalen Kette, die gemäß einem Corporate Design vereinheitlicht sind, vielmehr handelte es sich um Räume und Orte, die unabhängig voneinander eine zunehmend universelle Ästhetik entwickelt haben. Dieser globale Geschmack verbreitet sich durch Social-Media-Plattformen wie ein „verbindendes emotionales Raster“ über unsere globalisierte Welt.211 Die Homogenität dieser neuen Räume ermöglicht auch ein reibungsloses Reisen, das zwar zwischen unterschiedlichen geografischen Orten, aber in einander gleichenden AirSpaces stattfindet. Diese durch Technologie produzierten und verbundenen Räume sind durch ihre Gleichartigkeit austauschbar und präsentieren eine gewisse Form von Leere, die auch Hotels, Flughäfen und Supermärkte (non-places212) kennzeichnet. Diese ästhetische Vereinheitlichung von Räumen und die damit einhergehende Ortlosigkeit ist somit keine abstrakte Theorie, sondern Realität, die von bestimmten Unternehmen (Plattformen) beschleunigt wird. Ein solches Unternehmen, das Technologie gewissermaßen nutzt, um Geografie aufzulösen, ist die Plattform Airbnb.
International Airbnb style: feel at home everywhere while being nowhere Die Online-Vermittlungsplattform für Reiseunterkünfte Airbnb wurde 2008 in San Francisco gegründet. Entstanden im Geiste der sharing economy, besitzt Airbnb selbst (fast) keine Wohnungen. Die Plattform-User*innen stellen in der Rolle von Hosts ihre Privatunterkünfte zur Vermietung zur Verfügung, die Plattform bietet lediglich die digitale Infrastruktur. Nick Srnicek zählt Airbnb zu den „schlanken“ Plattformen, die ihren Anlagenbesitz auf ein Minimum reduzieren, um ihre Kosten so gering wie möglich zu halten.213 Aus der ursprünglichen Idee, dass Hosts sich durch das Angebot der Plattform etwas dazuverdienen können, indem sie Reisenden das leer stehende Gästezimmer der großen Altbauwohnung weitervermieten, ist heute nur noch die romantische Idee vom authentischen Mitwohnen bei
211 Ebd. 212 Augé, Marc: Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity, London/New York 1995. 213 Vgl. Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, S. 76.
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2.5 Ideale mit Folgen locals übrig geblieben. Mittlerweile ist die Plattform zu einer lukrativen Kurzzeit-Vermietungs-Infrastruktur für Wohnungen geworden, die meist von professionellen Hosts genutzt wird. Während Airbnb selbst in der Werbung noch immer seine großzügige Haltung gegenüber seinen lokalen Hosts propagiert – „Über 93 Mrd. € haben sich Gastgeber seit 2008 insgesamt dazuverdient“214 –, hat das an der Börse notierte Unternehmen mittlerweile einen Firmenwert von 106 Milliarden US-Dollar (market capitalisation) und ist damit fast genauso viel wert wie die zwei größten Hotelunternehmen der Welt zusammen (Oriental Land, ca. 56 Mrd. $; Marriott International, ca. 50 Mrd. $).215 Mit dem großen Unterschied, dass Airbnb ja nichts weiter als eine digitale Infrastruktur (Plattform) zur Verfügung stellen muss, denn alle weiteren Kosten wie Wohnraum, Instandhaltung etc. werden von den Hosts selber getragen. In den deutschen Werbeslogans der Plattform ist zu erkennen, was vermittelt werden soll: Teile deine Welt (2012), Willkommen zu Hause (2014), Belong anywhere (2015), Weltweit zuhause (2016). Christian Berkes fasst die von Airbnb erdachten Gefühlswelten deshalb als „Weggehen-Können ohne Ankommen-Müssen“.216 Das Reisen zwischen AirSpaces oder Airbnb-Apartments bedeutet also, weg vom eigenen Zuhause zu sein, aber trotzdem Vertrautheit zu erfahren, ohne zu viel Unterschied und Fremde erleben zu müssen. Doch wie sehen diese einander so stark ähnelnden Wohnungen auf Airbnb nun aus? Dominant sind weiße, helle Wohnräume, rohes Holz, dezent gemusterte Teppiche, offene Regale oder ein Eames-Stuhl; vereinfacht gesprochen ein erweiterter IkeaShowroom.217 Die Wohnwelten auf Airbnb sind eine Kombination aus vertrauten, wiedererkennbaren Wohnelementen (being at home) und einer Prise Authentizität in Form von kulturellen Artefakten, die den konkreten Ort oder die lokalen Hosts repräsentieren.
214 https://news.airbnb.com/de/about-us/ (16.12.2021). 215 https://companiesmarketcap.com/hotels/largest-hotel-companies-by-marketcap (16.12.2021). 216 Berkes, Christian: Disrupted Living: Das Wohnen und die Sharing Economy, in: Nierhaus, Irene/Heinz, Kathrin: Unbehaust Wohnen. Konflikthafte Räume in Kunst – Architektur – Visueller Kultur, Bd. 7, Bielefeld 2020, S. 385–398, hier S. 386. 217 Chayka, Kyle: Welcome to AirSpace, https://www.theverge.com/2016/8/3/123 25104/airbnb-aesthetic-global-minimalism-startup-gentrification (19.02.2022).
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_44: Airbnb Dreams, Collage von Maria Groiss & Bernadette Krejs, 2021.
Abb. 2_45: Airbnb-Apartment, Barcelona / Spanien. Abb. 2_46: Airbnb-Apartment, Bangkok / Thailand. Abb. 2_47: Airbnb-Apartment, Lviv / Ukraine.
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2.5 Ideale mit Folgen
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2. Das Bild des Wohnens Dieser begrenzte Individualismus soll so speziell wie möglich sein, jedoch nicht zu viel davon, und gleichzeitig global verständlich und wiederkennbar. Die dabei entstehende Mischung aus Individualität und Uniformität bringt ein globales und dabei homogenisiertes Mittelklasse-Wohnen mit bekannten Kombinationen aus Möbeln und Materialen hervor. Betrachtet man die größte globale Sammlung von Innenraumfotografien, zu finden auf der digitalen Plattform Airbnb, wird deutlich, dass eine bestimmte Repräsentation von Wohnraum die Voraussetzung für erfolgreiches Vermieten ist. Zu dieser Inszenierung von Wohnraum schreibt das Kunst und Architektur Kollektiv Åyr: „The website Airbnb proves to be a powerful case study in showing how particular modes of representation are forced upon its users as instrumental assets to global capital and its consumption-based economy.“218 Doch wie die Wiedererkennbarkeit und globale Übersetzbarkeit bildlich inszeniert und gleichzeitig Neugier geweckt werden kann, musste die Plattform ihren User*innen erst beibringen. Mit den zertifizierten Airbnb-Fotografien219 war die Geburtsstunde der „schönen Bilder“ angebrochen. Deren Merkmale waren: weite Winkel, glatte Oberflächen und hohe Auflösung. Die neuen Bildnormen sind dabei stark kuratiert, der Blickwinkel der Kamera, viel Helligkeit und Kontrast, ausreichend Bodenfläche im Bild und natürlich weiße Wände und Klarheit. Mit der 2018 eingeführten Kategorie „Airbnb plus“220 wurde Design mit Qualität als neues AirbnbGütesiegel eingeführt. „International Airbnb Style“ nennt Kyle Chayka diese spezifische ästhetische Homogenität des Wohnens, die zunehmend nachgefragt wird.221 Dabei erwarten potentielle Gäste der Plattform nicht nahezu identische 218 Åyr: Catfish Homes: Airbnb and the domestic interior photograph, Nov 2014, https://rhizome.org/editorial/2014/nov/12/airbnb-and-domestic-interior-pho tography (19.02.2022). 219 2008 wurde Airbnb Photography (von Airbnb zertifizierte Fotos) ins Leben gerufen, ein kostenloser Service des Unternehmens. Freiberufliche Fotografen weltweit fotografieren, die zu vermietende Unterkunft für den Host. Zu Beginn war dieses Service kostenlos. Durch die Einführung professioneller Fotografien wurde die Buchungsrate von Inseraten gesteigert. 220 Airbnb-Plus („Plus“ oder „Programm“) ist ein Programm, das es Gastgebern ermöglicht, eine Plus-Einstufung zu erhalten, mit der Unterkünfte anerkannt werden, die sich durch ein besonderes Maß an Qualität, Komfort und Stil auszeichnen. https://www.airbnb.at/help/article/2195 (1.2.2023). 221 Chayka, Kyle: Welcome to AirSpace, https://www.theverge.com/2016/8/3/123 25104/airbnb-aesthetic-global-minimalism-startup-gentrification (19.02.2022).
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2.5 Ideale mit Folgen Wohnräume wie bei einer Hotelkette, vielmehr geht es um ein Gefühl der Vertrautheit. Doch was sind nun die Auswirkungen dieses Zusammenspiels von Wohnbegehren, die durch Plattformen (Instagram) produziert werden und in real gebauten, gleichförmig erscheinenden Wohnhegemonien in Erscheinung treten, und als International Airbnb Style Teil unseres Lebens geworden sind? Wir müssen anerkennen, dass die Bilder des Wohnens, die durch technologische Möglichkeiten von Plattformen wie Airbnb, Instagram, Pinterest usw. ausgestellt wurden, unsere Umwelt sowie unsere Wohnräume mitgestalten und formen. Eine inszenierte, rationalisierte, nach den Regeln der Vermarktbarkeit optimierte Idee des Wohnens, wie sie von Plattformen vorangetrieben wird, wird weder zu mehr Freiheit und Individualität noch zu mehr Diversität und Vielfalt im Wohnen führen. Aber nicht nur die individuellen privaten Wohnmöglichkeiten verändern sich auf diese Weise, auch auf der Ebene der Stadt greift die Ästhetisierung des Wohnens auf Plattformen (durch Bilder) stark in die Entwicklungen ein. Im Fall von Airbnb werden z.B. dem Wohnungsmarkt dringend benötigte Wohnungen entzogen, da es sehr viel lukrativer ist, sie kurzfristig an Tourist*innen zu vermieten. Diese Entwicklung führt zu einem massiven Gentrifizierungsproblem in Stadtgebieten, in denen bezahlbares Wohnen ohnehin ein knappes Gut ist.222 Das in Kapitel 2.2, Plattformen, bereits angesprochene fehlende Sorgetragen der Plattformbetreiber*innen für vorhandene (Stadt)Strukturen ist auch bei Airbnb zu beobachten. So entzieht sich das milliardenschwere Unternehmen seiner gesellschaftlichen Verantwortung durch Missachtung bzw. Umgehung des Mietrechts oder unterschiedlichste Steuervermeidungspraktiken. Deshalb stellt Berkes klar, dass Airbnb kein Community-Marktplatz ist, auf dem sich Menschen über das Wohnen kennenlernen oder Dinge miteinander teilen, sondern ein Finanz-Marktplatz.223 Das Agieren von Unternehmen wie Airbnb wird im Wirtschaftssektor als „disruptive Innovation“ bezeichnet.224 Aber Airbnb hat nicht nur den Hotel- und Woh-
222 Siehe auch: Seidl, Roman J./Plank, Leonhard/Kadi, Justi: Airbnb in Wien. eine Analyse, 2017, http://wherebnb.in/wien (27.02.2022). 223 Vgl. Berkes, Christian: Airbnb, Wohntourismus. 20 Thesen zum Plattformkapitalismus am konkreten Fall, in: polar #18, 2015, http://www.polar-zeitschrift.de/ polar_18.php?id=817#817 (19.2.2022). 224 Der Begriff disruptive innovation wurde von Clayton. M. Christensen. in The Innovators’s Dilemma (1997) eingeführt. Christensen, Clayton M.: The Innovator's Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail, Boston 1997.
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2. Das Bild des Wohnens nungsmarkt erschüttert, sondern auch das Bewohnen an sich mit seinen Wohninnenwelten transformiert und so gewissermaßen als Nebeneffekt noch besser vermarktbar gemacht. Chaykas Begriff des International Airbnb Style kann auch auf die daraus entstehenden gleichförmigen, homogenisierten gebauten (Wohn-)Architekturen oder AirSpaces angewendet werden. Diese Architekturen repräsentieren die „neutrale Ästhetik eines transnationalen Kapitalismus“,225 in der monopolistische Plattform-Unternehmen durch einen globalisierten, vereinheitlichten Geschmack jegliche Vielfalt bei Objekten, Räumen und Gemeinschaft verdrängt haben. Dabei produzieren die Plattformen zwar das Begehren nach einer vertrauten Ästhetik, jedoch sind wir alle als ihre Konsument*innen Erfinder*innen dieser AirSpaces. Denn durch das ständige Teilen und Konsumieren der immer gleichen Wohnideale schränken wir selbst unsere eigenen Wohn- und Daseinsmöglichkeiten immer mehr ein. Wie Chayka es zuspitzt: „There is a kind of nightmare version of AirSpace that could spread room by room, cafe by cafe across the world.“226 So stellt sich letztlich die Frage, ob in einer Welt, in der ein International Airbnb Style es scheinbar ermöglicht, sich überall zu Hause zu fühlen und gleichzeitig nirgendwo zu sein,227 der Begriff eines Zuhauses überhaupt noch sinnhaft ist.
Instagramability & ikonische Architekturen Dieses Sich-Auflösen des Zuhauses in weiße, vertraute, einander zum Verwechseln ähnliche Oberflächen und Raumabfolgen steht eine schrille, nach Aufmerksamkeit schreiende „Fassadenproduktion“ durch Plattformen gegenüber. Die Begriffe Instagramable Social-Media-Architektur oder Plattform-Architekturen zeigen, welchen Einfluss Plattformen auf die Gestaltung unserer gebauten Lebensumwelten haben. So ist die Instagram-Tauglichkeit – also die Instagramability – eines Architekturprojekts ein nicht unwesentliches Kriterium, das bereits im Entwurfsprozess mitgedacht werden kann.
225 Interview mit Adam Nathaniel Furman, geführt von Rahael Dillhof, Stefan Fuchs, Sacha Kellermann und Anh-Linh Ngo: Ästhetik ist eine Frage von Repräsentation, in: ARCH+245 Fassadenmanifest, 2021, S. 72–87, hier S. 76. 226 Chayka, Kyle: Welcome to AirSpace, https:// www.theverge.com/2016/8/3/123 25104/airbnb-aesthetic-global-minimalism-startup-gentrification (19.02.2022). 227 Vgl. Krejs, Bernadette: Ideals of the Home, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 289–296.
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2.5 Ideale mit Folgen Denn wenn ein Gebäude auf Instagram gut aussieht, dann steigert das auch die Popularität seines Standorts. Ähnlich wie die prestigeträchtigen Museumsbauten bekannter Stararchitekt*innen ganze Regionen aufwerten sollen (Bilbao-Effekt228), verhelfen auch instagramable Architekturen zu mehr globaler Sichtbarkeit. Die geposteten Architekturen werden so „Teil einer digitalen Landschaft“229 und somit Orte, die man bereits zu kennen scheint. Gebäude können dabei zufällig zu Instagram-Stars werden, wie z.B. der populäre Wohnkomplex Choi Hung Estate in Hongkong. Die pastellfarbene Fassade der Wohnblöcke ist ein beliebtes Selfie-Motiv und lässt Unmengen von Tourist*innen dorthin pilgern. Genauso existieren aber auch bereits geplante instagramable Architekturen, wie das beliebte Restaurant Sketch in London oder das bereits erwähnte Projekt The Vessel, Teil des Hudson Yards Redevelopment Project in Manhattan. Die Programme, ihr Nutzen oder ihr gesellschaftlicher Mehrwert stehen bei instagramabler Architektur nicht immer im Vordergrund, ausschlaggebend ist die starke visuelle Wirkung der Gebäude als ästhetisch ansprechender Hintergrund für Selfies. Simone Brott spricht in diesem Zusammenhang auch von ikonischen Architekturen (griech. eikon = Abbild), die seit der Weltfinanzkrise 2007 vermehrt entstanden sind; ein Beispiel hierfür ist die Elbphilharmonie in Hamburg (2017). Lange vor Baubeginn wurde das Bild des Gebäudes durch Unmengen von Renderings in der Öffentlichkeit verbreitet. Durch die ständige Wechselwirkung zwischen digitalem Bild und Architektur wird das Bild zum digitalen Monument, das seine Botschaften vor allem durch die Verbildlichung transportiert.230 Diese ikonischen Architekturen sind quasi Olympiasiegerinnen der Architekturgeschichte und visualisieren als gebaute Doppelgänger ihr (Vor)Bild, das System des Kapitals.231 Dass Architektur auch in Bildern gefallen will und daher ihre visuelle Präsentierbarkeit auch in die Planung mit einfließen kann, ist
228 Der Bilbao-Effekt bezeichnet die Aufwertung von Orten, Städten oder Regionen durch spektakuläre Architekten. Der Begriff nimmt Bezug auf die nordspanischen Stadt Bilbao, in der Frank O. Gehry 1997 das Guggenheim-Museum errichtete. 229 Fiocco, Fabiola/Pistone, Giulia: Von der Bühne zum Hintergrund: Architektur im Zeitalter der digitalen Darstellung, in: ARCH+ 245 Fassadenmanifest, 2021, S. 190–199, hier S. 191. 230 Vgl. Brott, Simone: Digital Monuments: The Dreams and Abuses of Iconic Architecture, Oxon, S. 2. 231 Ebd., S. 162.
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2. Das Bild des Wohnens
Abb. 2_48: Der Wohnkomplex Choi Hung Estate in Hongkong ist beliebter Hintergrund für instagramable Fotos.
keine Neuerfindung, die erst durch Instagram in Gang gesetzt wurde. „It’s merely an extension of the ‘Kodak moment’ […] Architects have always designed their buildings to be photogenic. […] It’s exactly what a church or a cathedral does“232 Allerdings ist durch die ständige Präsenz von Plattformen und die tiefe Verflechtung mit Subjekten und Umwelt der
232 Wainwright, Oliver: Snapping point: How the world’s leading architects fell under the Instagram spell, in: The Guardian, 23.11.2018, https:// www.theguardian. com/artanddesign/2018/nov/23/snapping-point-how-the-worlds-leading-ar chitects-fell-under-the-instagram-spell (15.12.2021).
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2.5 Ideale mit Folgen Wunsch nach instagramablen Architekturen stark angestiegen. Die totale Entkoppelung der räumlichen und sozialen Qualitäten eines Gebäudes von seiner visuellen Repräsentation ist jedoch eine problematische Entwicklung. Reduzieren wir Architektur (oder das Wohnen) auf ein schnelles, visuelles Lifestyle- Erlebnis, bleiben das Verweilen, das Sorge tragen, sowie die Umgebung (Quartier) und die darin lebenden Menschen zurück. Durch die Fixierung auf äußere Erscheinungsformen und Oberflächen verwaisen (öffentliche) Orte der körperlichen Begegnung zunehmend. Zum Beispiel werden auf öffentlichen Plätzen Toiletten, Sitzbänke und Spielplätze bereits von fotogenen Lounge-Möbeln verdrängt. „Wir sollten uns auch darüber klar werden, in welcher Weise die Realisierbarkeit von Architektur [Wohnen] durch aktuelle politische, kulturelle, wirtschaftliche, erkenntnis- und wahrnehmungsbezogene Entwicklungen bedroht oder marginalisiert wird.“233 In einem Prozess der ästhetischen und kulturellen Assimilation befinden wir uns in einer Welt, in der Plattformen in unsere gebaute Umwelt eindringen und diese auf unterschiedlichste Weise mitgestalten und verändern. „The idea and grammar of Instagram ripples through popular culture.”234 Der Einfluss von Plattformen wie Instagram weist auch materielle und gebaute Anschlussstellen auf, die sich von der Stadt bis in unsere Wohnräume ziehen. Wollen wir die Befürchtung von Åyr nicht wahr werden lassen – „to realise that this ‘better world’ which makes us wake up and work every day belongs to somebody else, or is computer generated”235 – sollten wir der Blindheit gegenüber Bildwelten auf Plattformen wie Instagram entgegentreten. Prozesse und Mechanismen von Plattformen, die Bildproduktion sowie die Auswirkungen müsste verstehen und diskutiert werden, um die gesellschaftliche Verantwortung, die damit einhergeht, wahrnehmen zu können. „facebook wants it to be an Instagram world out there.“236 Was kann die Architektur dem entgegensetzen?
233 Pallasmaa, Juhani: Die Augen der Haut, S. 44. 234 Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 191. 235 Åyr: Catfish Homes, https://rhizome.org/editorial/2014/nov/12/airbnb-anddomestic-interior-photography (19.02.2022). 236 Leaver, Tama/Highfield, Tim/Abidin, Crystal: Instagram, S. 2.
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Kapitel 3 macht sich auf die Suche nach gegenhegemonialen Bildern des Wohnens: Gibt es abseits der dominanten und omnipräsenten digitalen Wohnbildwelten auch andere, gegenhegemoniale Bilder des Wohnens? Das visuelle Idealisieren, Inszenieren und Homogenisieren von Wohnen durch digitale Bilder auf den großen Plattformen wie Instagram und Airbnb verdichtet sich zu Normen und Standards, die in das alltägliche Wohnen Einzug gefunden haben, wie in Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, dargelegt wurde. So führen etwa die vielfach reproduzierten, letztlich immer gleichen Wohnideale zu einem einseitigen Verständnis von Wohnen als ästhetischem Konsum. In den ästhetisierten Wohnbildwelten werden alle Handlungen, Objekte und Subjekte einer Kapitalisierungslogik unterworfen, bei der Konsum immer im Vordergrund steht. Ebenso wird die gesellschaftliche Idee von Gemeinschaft, die für das Gelingen von Wohnen wesentlich ist, durch die Interaktion mit der Plattform selbst stark verändert. Das ständige Mittun eines optimierten, immer verfügbaren Subjekts, das jedoch nie wirklich Teil einer Gemeinschaft ist, bietet daher kaum eine gute Grundlage für ein kollektives Wohnen. Weiters evoziert der fokussierte, gerichtete Blick der inszenierten Wohnbildwelten eine Limitierung an Wohnerfahrungen und Wohnmöglichkeiten, die in geplanter und gebauter Realität vor allem zu Monotonie und Einfallslosigkeit führen. Gegenhegemoniale Bilder (des Wohnens) treten in Opposition, indem sie dringlich notwendige Alternativen sichtbar machen und dadurch bestehende Hegemonien zur Disposition stellen. Durch die Praxis eines drawing otherwise, das die Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung der Vielen befördern kann, ist ein Denken, Entwerfen und Produzieren von gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens möglich. So klärt Kapitel 3.1, Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie, zunächst den Hegemonie Begriff und führt zu einer gegen-hegemonialen Bildpraxis im Sinne eine drawing otherwise. Einige ausgewählte Beispiele in Kapitel 3.2, Das politisch aktivistische Bild, zeigen diese andere Bildpraxis auf. Welche Wirkmächte sich durch die Praxis von drawing otherwise entfalten, zeigt daran anschließend Kapitel 3.3, Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit. So unterstützen die gegenhegemonialen Bildwelten eine Rekonzeptualisierung des Raumbegriffs, der unterschiedliche Beziehungen und Multiplizität erzeugen kann und immer auf ein Gemacht-Werden statt
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3. Drawing Housing Otherwise auf ein statisches Fixiert-Sein abzielt.1 Ebenso wird Wohnen, das anderswo oft nur als Ort des Konsums erscheint, in gegenhegemonialen Wohnbildwelten auch als Ort des Widerstands sichtbar. Diese anderen Wohnbilder treten in Opposition zu einer Verwertungslogik, in der Bilder als überteuerte NFTs (Non-Fungible Tokens) gleich einer Währung gehandelt werden. So bleibt die abschließende Frage, welche Rolle Plattformen als privatisierte, monopolisierte Orte der Reproduktion mit Blick auf gegenhegemoniale Bilder spielen können?
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Vgl. Massey, Doreen: For space, London 2005, S. 9.
3. Drawing Housing Otherwise
3.1.1 Hegemonie Auf der Suche nach gegenhegemonialen Wohnbildwelten ist es hilfreich, zunächst den Begriff der Hegemonie genauer zu fassen. 1985 veröffentlichten Chantal Mouffe und Ernesto Laclau mit Hegemonie und radikale Demokratie3 das zentrale Werk ihrer gemeinsam entworfenen Hegemonietheorie, in dem versuchen die Entstehung und Beständigkeit hegemonialer Verhältnisse zu erklären. Zentrales Thema ist dabei das Hinterfragen von gesellschaftlichen Strukturen, Prozessen und Machtverhältnissen sowie die Darlegung von deren Kontingenz ist. Mouffe und Laclau entwickeln dabei Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie weiter, der damit den Prozess bezeichnet, in dem es der herrschenden Klasse gelingt, ihre Überzeugungen als kollektiven Willen zu etablieren. Hegemonie wird nach Gramsci jedoch nicht über Zwang oder gewaltsame Unterwerfung hergestellt, vielmehr wird über Prozesse der Identifikation, Übereinkunft oder Faszination Zustimmung erzeugt.4 Der Begriff Hegemonie verweist somit auf eine Vormachtstellung von jemandem oder etwas und basiert auf Macht. Individuelle bzw. partikulare Interessen setzen sich als gesellschaftliche bzw. allgemeine Interessen durch und werden hegemonial, ohne dass dies notwendigerweise gesetzlich oder anderweitig festgeschrieben werden muss. Hegemonie ist also eine bestimmende Norm, eine Art wungeschriebenes Gesetz“, das gesellschaftlich kaum noch in Frage gestellt wird. Sie naturalisiert damit spezifische Formen von (sozialer) Wirklichkeit und marginalisiert alternative Diskurse. Hegemonie gibt es nicht nur im Feld der Ökonomie oder der Verwaltung, sondern auch in Bereichen der Kultur, der Ideologie oder bei räumlichen Fragen. In einem „Wohngespräch“ hat Tatjana Schneider am Beispiel des Bodenbesitzes dieses hegemoniale Prinzip des Zur-NormWerdens dargestellt: Boden galt über lange Zeit als unveräußerbar. So ging etwa eine Gruppe von Native Americans, die Wampanoag, die große Teile der heutigen US-Bundesstaaten Rhode Island und Massachusetts besie-
3 Mouffe, Chantal/Laclau Ernesto: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. 4 Vgl. Gramsci, Antonio: Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens, in: ders.: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, hg. v. Guido von Zamis, Frankfurt a. M. 1980, S. 188–215.
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie delten, davon aus, dass Land allen gehört und von allen genutzt werden kann. Erst über die Zeit und zumeist unter Gewalteinsatz wurde das Besitzen von Land zur Norm. Bis heute wird es als eine Selbstverständlichkeit gesehen, dass jedes Stück Boden jemandem gehört. Boden zu besitzen ist somit ein hegemoniales Prinzip geworden, mit dem individuelle Interessen, z.B. die von Fürst*innen oder Kolonialist*innen, als gesellschaftliche Prinzipien durchgesetzt wurden.5 Dabei geraten die jeweiligen Entstehungskontexte, die hegemoniale Prinzipien hervorbringen – im Falle des Bodenbesitzes Kriege, Kolonialisierungsschübe oder andere Formen gewaltsamer Ausbeutung –, oft in Vergessenheit oder werden verdrängt. Das hegemoniale Prinzip wird dadurch unweigerlich auch entpolitisiert und steht somit lange nicht mehr zur Verhandlung, sondern wird als gesetzt wahrgenommen. Ein Hinterfragen dieser hegemonialen gesellschaftlichen Strukturen, Prozesse und Machtverhältnisse findet nicht mehr statt. Hegemonie ist für Mouffe und Laclau jedoch eine Doppelbewegung: Einerseits wird der Fokus auf einen bestimmten Horizont gelegt, wodurch dieser etabliert wird, andererseits kommt es gleichzeitig zu einer Exklusion aller anderen Horizonte.6 So können vorherrschende, dominante Erzählungen durch Medien oder gebaute Umwelt andere Narrative und Sichtweisen verdrängen und unsichtbar machen, „denn mit der Durchsetzung eines spezifischen hegemonialen Diskurses ist immer die Unterdrückung und Marginalisierung von alternativen sozialen Wirklichkeiten verbunden“.7 Hegemonie bezeichnet also eine Norm oder einen Standard, die bzw. der so übermächtig ist, dass alle anderen Formen und Richtungen dadurch marginalisiert werden. Wie etablieren sich hegemoniale Erzählungen und Sichtweisen im Feld der Architektur? Am sogenannten Tisch der Entscheidungen, an dem über den Kanon der Architekturgeschichtsschreibung entschieden wird, sitzen Player, die durch Erzählungen in Form von Bildern, Texten oder gebauter Umwelt Systeme entwerfen, die Hegemonien erzeugen. Vor allem diejenigen, die Geschichte auf- und damit festschreiben, spielen eine wesentliche Rolle in diesen Prozessen. Am Beispiel der Etablierung der Mo-
5 Vgl. Schneider, Tatjana: Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021. 6 Vgl. Mouffe, Chantal/Laclau, Ernesto: Hegemonie und radikale Demokratie. 7 Glasze, Georg/Mattissek, Annika: Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, in: dies. (Hg.): Handbuch Diskurs und Raum, Bielefeld 2015, S. 153–180, hier S. 163.
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3. Drawing Housing Otherwise derne durch bestimmte Formen der Architekturgeschichtsschreibung wird dieses hegemoniale System sichtbar: Sigfried Giedion, von 1928 bis 1939 Generalsekretär von CIAM 8 und offizieller Sprecher dieser Bewegung, kann als einer dieser Player gesehen werden. 9 Was wir heute unter moderner Architektur verstehen, hat Giedion mit einer Vielzahl von Publikationen und Büchern, in denen er bestimmte Persönlichkeiten wie Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe oder Walter Gropius heroisierte, stark geprägt.10 Durch die Vermittlung und Verbreitung einer bestimmten Form von moderner Architektur trug er wesentlich zur Etablierung der Moderne, wie wir sie heute verstehen, bei. Giedions Begriff der architektonischen Moderne wurde so Teil des Architekturkanons, der oft als allgemeingültiges Architekturverständnis hingenommen wird und kaum mehr hinterfragt wird. Mit dieser Form der Geschichtsschreibung ist auch ein Prozess der Ausgrenzung und Limitierung verbunden. Denn alle anderen Geschichten, Prozesse, Entwicklungen und Persönlichkeiten, die nicht Teil dieses hegemonialen Narratives sind, werden somit ausgeblendet und vergessen. Gerade Bildern kommt eine bedeutsame Rolle bei der Etablierung von Hegemonien zu, denn sie besitzen erzählerische Kraft und können somit überzeugen, vereinnahmen und faszinieren. Bilder zeigen und präsentieren jedoch immer nur eine Auswahl aus einem breiten Repertoire der verschiedenen möglichen Realitäten. Die uns immer umgebenden digitalen Bildwelten auf Plattformen wie Instagram stellen durch die ständige Bild-Wiederholung wenige universalisierte Erscheinungsformen des Wohnens aus und legen damit bestimmte Hegemonien des Wohnens als Ideal fest. Auch die ständige Wiederholung (durch Sharen und Crossposten) von Bildinhalten verstärkt und legitimiert Hegemonien, die so auf Werte, Normen und Standards in unserer Gesellschaft übergehen. Die immer wieder gleichen, wiederholbaren Idealbilder des Wohnens folgen dabei marktwirtschaftlichen Interessen, die ein permanentes Konsumieren CIAM steht für Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, das Netzwerk wurde 1928 gegründet. CIAM prägte die Städtebaudiskussionen und die Entwicklung der modernen Architektur bis in die Nachkriegszeit. Prägende Persönlichkeiten waren Sigfried Giedion, Le Corbusier, Walter Gropius und andere. 9 Tatjana Schneider führte das Beispiel Siegfried Giedion im Wohngespräch „Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum“ am 19. Mai 2020 an der TU Wien, an. 10 Vgl. z.B. seine Bücher Bauen in Frankreich. Eisen. Eisenbeton (1930) mit einer Covergestaltung von László Moholy-Nagy oder Befreites Wohnen (1929) sowie Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition (1941). 8
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie der Individuen befördern. Doch die vorherrschende Ordnung des Kapitalismus ist keine natürlich gegebene Ordnung, sondern sie wird, wie alles andere auch, durch bestimmte Praktiken produziert und reproduziert.
3.1.2 Things could always be otherwise! Da hegemoniale Prinzipien nicht zur Verhandlung stehen, sondern als gesetzt wahrgenommen werden, sind sie auch unangreifbar. Alle anderen Alternativen erscheinen damit als nicht umsetzbar, unzumutbar oder die schlechtere Option zu sein. Aber auch wenn Dinge sehr lange nicht verhandelbar waren oder bisher nicht in Frage gestellt wurden, muss das nicht so bleiben. Chantal Mouffe schreibt dazu: „Things could always be otherwise and therefore every order is predicated on the exclusion of other possibilities. It is in that sense that it can be called ‘political’ since it is the expression of a particular structure of power relations. Power is constitutive of the social because the social could not exist without the power relations through which it is given shape. What is at a given moment considered as the ‘natural’ order—jointly with the ‘common sense’ which accompanies it—is the result of sedimented hegemonic practices; it is never the manifestation of a deeper objectivity exterior to the practices that bring it into being.“11 Machtverhältnisse sind Mouffe zufolge also spezifisch und kontingent, folglich aber auch veränderbar und somit politisch. Denn Hegemonien können Differenzen oder Heterogenität nicht vollständig eliminieren, sie können sie nur temporär ausschließen.12 Hegemoniale Konzepte sind also durch „instabile Gleichgewichte“ zwischen verschiedenen Positionen gekennzeichnet und müssen stets aufrechterhalten werden, um zu bestehen.13 Genau deshalb können Hegemonien aber auch herausgefordert und in
11 Mouffe, Chantal: Artistic Activism and Agonistic Spaces, http://www.artand research.org.uk/v1n2/mouffe.html (4.10.2021). 12 Vgl. Glasze, Georg/Mattissek, Annika: Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, S. 160. 13 Vgl. Hall, Stuart: Gramsci’s Relevance for the Study of Race and Ethnicity, in: Morley, David/Kuan-Hsing, Chen: Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London/New York 1996, S. 411–440, hier S. 422.
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie der Individuen befördern. Doch die vorherrschende Ordnung des Kapitalismus ist keine natürlich gegebene Ordnung, sondern sie wird, wie alles andere auch, durch bestimmte Praktiken produziert und reproduziert.
3.1.2 Things could always be otherwise! Da hegemoniale Prinzipien nicht zur Verhandlung stehen, sondern als gesetzt wahrgenommen werden, sind sie auch unangreifbar. Alle anderen Alternativen erscheinen damit als nicht umsetzbar, unzumutbar oder die schlechtere Option zu sein. Aber auch wenn Dinge sehr lange nicht verhandelbar waren oder bisher nicht in Frage gestellt wurden, muss das nicht so bleiben. Chantal Mouffe schreibt dazu: „Things could always be otherwise and therefore every order is predicated on the exclusion of other possibilities. It is in that sense that it can be called ‘political’ since it is the expression of a particular structure of power relations. Power is constitutive of the social because the social could not exist without the power relations through which it is given shape. What is at a given moment considered as the ‘natural’ order—jointly with the ‘common sense’ which accompanies it—is the result of sedimented hegemonic practices; it is never the manifestation of a deeper objectivity exterior to the practices that bring it into being.“11 Machtverhältnisse sind Mouffe zufolge also spezifisch und kontingent, folglich aber auch veränderbar und somit politisch. Denn Hegemonien können Differenzen oder Heterogenität nicht vollständig eliminieren, sie können sie nur temporär ausschließen.12 Hegemoniale Konzepte sind also durch „instabile Gleichgewichte“ zwischen verschiedenen Positionen gekennzeichnet und müssen stets aufrechterhalten werden, um zu bestehen.13 Genau deshalb können Hegemonien aber auch herausgefordert und in
11 Mouffe, Chantal: Artistic Activism and Agonistic Spaces, http://www.artand research.org.uk/v1n2/mouffe.html (4.10.2021). 12 Vgl. Glasze, Georg/Mattissek, Annika: Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, S. 160. 13 Vgl. Hall, Stuart: Gramsci’s Relevance for the Study of Race and Ethnicity, in: Morley, David/Kuan-Hsing, Chen: Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London/New York 1996, S. 411–440, hier S. 422.
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3. Drawing Housing Otherwise Frage gestellt werden, denn sie sind von Brüchen, Differenzen und Instabilität gekennzeichnet. Jedes hegemoniale Konzept umfasst also auch Widersprüchlichkeiten und kritische Tendenzen, die wie cracks14 (Risse) auftauchen können. Diese cracks entstehen durch andere Konzepte und Projekte, die durch kritisches Hinterfragen von Entstehungskontexten Abhängigkeiten sichtbar machen. Durch dieses andere Befragen werden bestimmte hegemoniale Konzepte repolitisiert und Themen können neu ausverhandelt werden. Gegenhegemoniale Ansätze sind also ein Moment des Infragestellens von vorherrschenden Prinzipen und des gleichzeitigen Sichtbarmachens oder Zum-Ausdruck-Bringens dieses Infragestellens durch konkrete Bilder, Projekte oder Theorien. Eine besondere Betonung liegt auf dem Zum-Ausdruck-bringen, also dem Aktiv-Werden und dem gleichzeitigen Zeigen von anderen Geschichten und Erzählungen. Denn was wir für selbstverständlich halten – den Besitz von Boden, die im Kanon etablierte Architekturgeschichte der Moderne oder konsumierbare Wohnensembles – sind nur ausgewählte und immer wieder reproduzierte Wissensformen. Es geht also darum, den Blick für Ambivalenzen und Heterogenität zu schärfen, indem das Gewohnte zur Diskussion gestellt wird. Das Verlassen von Bequemlichkeiten und Gewohnheiten ist der erste Schritt zu gegenhegemonialen Praktiken. Auch wenn dieses Infragestellen mit der Sorge um Kontrollverlust, Ambivalenz, Unordnung und vielleicht auch Irrtum verbunden ist, ist es eine Chance auf mehr Vielfalt und Gerechtigkeit. Gegenhegemoniale Bilder können also „überkommene Konzepte und Rituale auch herausfordern oder irritieren und das Erfinden von Neuem bzw. anderem anstoßen“.15 Sie schaffen somit einen politischen Horizont für andere Formen des Wissens und Möglichkeiten für Diversität. Das ist wichtig und notwendig, denn hegemoniale Bild-Erzählungen schaffen Gleichheit (sameness), wo eigentlich Vielfalt existiert. Auch die inszenierten Wohnbilder auf digitalen Plattformen reproduzieren limitierte Wohnhegemonie, die andere Erscheinungsformen von Wohnen und Zusammenleben an den Rand der Sichtbarkeit drängen. Die Limitierung von Erfahrungen 14 Der Begriff cracks wurde aus dem Wohngespräch mit Tatjana Schneider zum Thema „Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum“, 19. Mai 2020 TU Wien, übernommen. 15 Pechriggl, Alice/Schober, Anna: Hegemonie und die Kraft der Bilder, in: dies. (Hg.): Hegemonie und die Kraft der Bilder, Köln 2013 (Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 3), S. 9–25, hier S. 13.
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie und Lebenszuständen wird dem Wohnen in seinen unterschiedlichen und pluralen Wahrheiten sowie seiner Komplexität nicht gerecht. Gegenhegemoniale Bildwelten versuchen dieses Korsett aufzubrechen, um auch andere Erfahrungen von Wohnen und Zusammenleben sichtbar zu machen. Daher ist es notwendig, die Hegemonien normativer, idealisierter Wohnbildwelten aufzubrechen, denn diese Bilder zeigen uns standardisierte Lösungen, die Schablonen produzieren, wo eigentlich differenzierte Ansätze nötig wären. Doch hegemoniale Systeme haben uns fest im Griff,16 sie bestimmen, wie wir die Welt sehen, einteilen, begreifen oder bewerten. Daher muss auch das erlernte und gewohnte Sehen überwunden werden, denn gegenhegemoniale Bildwelten zeigen keine vereinfachten, bereinigten Bilder, in denen das Wohnen perfekt und geordnet in Szene gesetzt wird. Wir werden unsere Sehgewohnheiten adaptieren müssen, um diese anders erscheinenden Bilder lesen zu lernen: Bilder aus Schichten von Fragmenten, Zitaten, Gedachtem oder Unsichtbarem, Bilder, die Mängel, Wiedersprüche und Gegensätze zulassen und auch zeigen. Macht man sich also auf die Suche nach Rissen und Widersprüchlichkeiten in bestehenden Hegemonien, können daraus auch gegenhegemoniale Bildpraxen entwickelt werden, die neue und andere Strategien, Handlungskonzepte und Produktionsweisen entwerfen. Dabei nimmt das aktive Handeln der Subjektive – das im starken Kontrast zum passiven Konsumieren auf Plattformen steht – eine wichtige Rolle ein. Ich nenne diese Handlungsfähigkeit zu einer gegenhegemonialen Bildpraxis drawing otherwise.
3.1.3 Drawing otherwise Was bedeutet der Begriff drawing otherwise im Kontext von Wohnbildern? Zunächst zu seinem zweiten Bestandteil: Otherwise meint hier nicht „ansonsten“ oder „andernfalls“, was die übliche Übersetzung wäre, ebenso wenig geht es um „andere“ im Sinne von nur „weiteren, neuen“ Formen der visuellen Darstellung. Denn ein Bild, das eine hegemoniale Wohnpraxis zeigt, geht nicht in Opposition zu dieser, indem es diese beispiels-
16 Vgl. Schneider, Tatjana: Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021.
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie und Lebenszuständen wird dem Wohnen in seinen unterschiedlichen und pluralen Wahrheiten sowie seiner Komplexität nicht gerecht. Gegenhegemoniale Bildwelten versuchen dieses Korsett aufzubrechen, um auch andere Erfahrungen von Wohnen und Zusammenleben sichtbar zu machen. Daher ist es notwendig, die Hegemonien normativer, idealisierter Wohnbildwelten aufzubrechen, denn diese Bilder zeigen uns standardisierte Lösungen, die Schablonen produzieren, wo eigentlich differenzierte Ansätze nötig wären. Doch hegemoniale Systeme haben uns fest im Griff,16 sie bestimmen, wie wir die Welt sehen, einteilen, begreifen oder bewerten. Daher muss auch das erlernte und gewohnte Sehen überwunden werden, denn gegenhegemoniale Bildwelten zeigen keine vereinfachten, bereinigten Bilder, in denen das Wohnen perfekt und geordnet in Szene gesetzt wird. Wir werden unsere Sehgewohnheiten adaptieren müssen, um diese anders erscheinenden Bilder lesen zu lernen: Bilder aus Schichten von Fragmenten, Zitaten, Gedachtem oder Unsichtbarem, Bilder, die Mängel, Wiedersprüche und Gegensätze zulassen und auch zeigen. Macht man sich also auf die Suche nach Rissen und Widersprüchlichkeiten in bestehenden Hegemonien, können daraus auch gegenhegemoniale Bildpraxen entwickelt werden, die neue und andere Strategien, Handlungskonzepte und Produktionsweisen entwerfen. Dabei nimmt das aktive Handeln der Subjektive – das im starken Kontrast zum passiven Konsumieren auf Plattformen steht – eine wichtige Rolle ein. Ich nenne diese Handlungsfähigkeit zu einer gegenhegemonialen Bildpraxis drawing otherwise.
3.1.3 Drawing otherwise Was bedeutet der Begriff drawing otherwise im Kontext von Wohnbildern? Zunächst zu seinem zweiten Bestandteil: Otherwise meint hier nicht „ansonsten“ oder „andernfalls“, was die übliche Übersetzung wäre, ebenso wenig geht es um „andere“ im Sinne von nur „weiteren, neuen“ Formen der visuellen Darstellung. Denn ein Bild, das eine hegemoniale Wohnpraxis zeigt, geht nicht in Opposition zu dieser, indem es diese beispiels-
16 Vgl. Schneider, Tatjana: Housing Otherwise – Geschichten über gegenhegemoniale Produktion von Raum, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021.
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3. Drawing Housing Otherwise weise in Neonfarben taucht und dadurch bloß die visuelle Erscheinung dadurch verändert. Zeitgenössische Darstellungstechniken der Architekturproduktion geben oft vor, durch einen „anderen“ visuellen Auftritt auch alternative Inhalte zu vermitteln. Ausbeuterische Wohnpraktiken können durchaus in dieser neuen visuellen Sprache erscheinen und erwecken dadurch auch Erwartungen auf „andere“ Inhalte, die dann nicht eingelöst werden. So bedienen sich neoliberale Bau- und Planungspraktiken längst auch schon alternativer Darstellungsformen abseits der oft demaskierenden fotorealistischen Renderings der 1990er Jahre. Praktizieren die Collagen des portugiesischen Architektur-Kollektivs fala atelier ein otherwise und zeigen somit gegenhegemoniale Bildpraktiken? Fala wurde vor allem durch ihre zweidimensionalen, flachen, pastellfarbenen Collagen auf Instagram bekannt, über 102.700 Follower*innen17 folgen @fala.atelier auf der Plattform mittlerweile. Zur Zeit seiner Gründung 2015 agierte das Atelier in einem höchst prekären Wohnungsmarkt in Porto, indem es kleine Studios für den Sektor Kurzzeitmiete designte. Ihre Entwürfe zeigt fala in anders erscheinenden Collagen, die ungewohnte Vorschläge zu Materialität, Form und Wohnraumnutzung zeigen. Agieren die Collagen von fala atelier nun otherwise oder besitzen sie nur eine neue, ungewöhnliche und ansprechende Oberfläche? Um eine mögliche Antwort auf diese Frage zu finden, soll nun der gesamte Begriff – drawing otherwise – betrachtet werden. In drawing otherwise steckt aktives Handeln, denn durch das Zeichnen bzw. das Produzieren entsteht etwas. In drawing otherwise ist daher die Idee von agency tief verankert. Bereits in Kapitel 1.3, Agency of the image, wurde dem Bild agency, also eine gewisse Handlungsfähigkeit und Wirkmacht zugeschrieben. Auch in Kapitel 2.1, Schauplatz Wohnen, wurden Objekte als lebhafte Materie erkannt, die handeln kann. Auf der Suche nach gegenhegemonialen (Wohn-)Bildwelten wird diese Art der agency auch im Begriff drawing otherwise verortet. Der Akt des Zeichnens oder Produzierens von anderen, ungewohnten, kritischen Bildwelten des Wohnens beschreibt ein handelndes Eingreifen in bestehende Zustände, das diese auch verändern kann. Drawing otherwise bezeichnet hier also ein aktives, kritisches Handeln, aus dem gegenhegemoniale Bilder (des Wohnens) hervorgehen. Anthony Giddens fasst otherwise im Zusammenhang mit agency so: „To be
17
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Stand Februar 2022, https://www.instagram.com/fala.atelier (17.2.2022).
3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie
Abb. 3_1: Collagen von fala Atelier, 2015.
able to act ‚otherwise‘ means being able to intervene in the world, or to refrain from such intervention, with the effect of influencing a specific process or state of affairs.“18 Giddens beschreibt in dieser Aussage ein handelndes Subjekt (agent), das in die Welt aktiv eingreift, um etwas zu verändern. Wie das aktive Eingreifen kann auch sein bewusstes Unterlassen Prozesse beeinflussen. Im Kontext der Architektur würde ein solches Unterlassen, das bewusste Nicht-Bauen, also das Nicht-Hinzufügen von 18 Giddens, Anthony: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Berkeley 1984, S. 14.
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3. Drawing Housing Otherwise immer mehr Rohstoffen, nachhaltige Veränderungen hervorbringen. Durch das aktive Handeln – hier: durch das Zeichnen – entsteht dabei etwas, das jedoch nicht immer physisch, materiell sein muss. Drawing otherwise agiert dabei in einer Struktur, die Nishat Awan, Tatjana Schneider und Jeremy Till in Spacial Agency. Other ways of Doing Architecture (2021) als die Art und Weise verstehen, wie Gesellschaft organisiert ist. „Agency is described as the ability of the individual to act independently of the constraining structures of society; structure is seen as the way society is organized.“19 Dabei stehen die Begriffe agency und Struktur in keinem Gegensatz zueinander, sondern sind miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Die handelnden Subjekte sind also weder komplett frei noch komplett gefangen innerhalb der Struktur, in der sie agieren, sie können als Verhandlungsführer*innen gesehen werden.20 Überträgt man die Idee der Akteur*innen auf die Bild- und Architekturproduktion, ist festzuhalten, dass hier nicht Protagonist*innen gemeint sind, die im Auftrag von jemandem – wie z.B. einem Bauunternehmen, Kund*innen oder Developer*innen – aktiv werden. Akteur*innen sind Verhandlungsführer*innen, die kritisch, kollaborativ und offen eine unvorhersehbare Zukunft denken. Sie verfolgen damit also eine Absicht, die sie zum Handeln antreibt. Aber diese Absicht wird ständig durch den Kontext (die Struktur) verändert, in dem sie sich bewegen. Die Absicht muss also flexibel und reaktionsfähig sein und ist somit ein klares Gegenmodell zu einer bestehenden, statischen Wissens-, Macht- und Raumproduktion. Die Akteur*innen handeln otherwise.
3.1.4 Gegenhegemoniale Bildpraktiken (des Wohnens) Die Praxis eines drawing otherwise ermöglicht die Entwicklung von vielfältigen Szenarien des Wohnens. Die so entstehenden gegenhegemonialen Bildwelten provozieren Veränderungen in bestehenden Strukturen. Gegenhegemoniale Bilder sollten aber nicht mit utopischen Zukunftsbildern verwechselt werden. Sie können das Potential möglicher „Zukünfte“ in sich tragen, jedoch leben wir heute in einer ständigen Gegenwart, die
19 Awan, Nishat/Schneider Tatjana/Till, Jeremy: Spatial Agency. Other Ways of Doing Architecture, Oxon 2011, S. 30. 20 Vgl. Giddens, Anthony: Social Theory and Modern Society, Cambridge 1987, S. 220.
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3. Drawing Housing Otherwise immer mehr Rohstoffen, nachhaltige Veränderungen hervorbringen. Durch das aktive Handeln – hier: durch das Zeichnen – entsteht dabei etwas, das jedoch nicht immer physisch, materiell sein muss. Drawing otherwise agiert dabei in einer Struktur, die Nishat Awan, Tatjana Schneider und Jeremy Till in Spacial Agency. Other ways of Doing Architecture (2021) als die Art und Weise verstehen, wie Gesellschaft organisiert ist. „Agency is described as the ability of the individual to act independently of the constraining structures of society; structure is seen as the way society is organized.“19 Dabei stehen die Begriffe agency und Struktur in keinem Gegensatz zueinander, sondern sind miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Die handelnden Subjekte sind also weder komplett frei noch komplett gefangen innerhalb der Struktur, in der sie agieren, sie können als Verhandlungsführer*innen gesehen werden.20 Überträgt man die Idee der Akteur*innen auf die Bild- und Architekturproduktion, ist festzuhalten, dass hier nicht Protagonist*innen gemeint sind, die im Auftrag von jemandem – wie z.B. einem Bauunternehmen, Kund*innen oder Developer*innen – aktiv werden. Akteur*innen sind Verhandlungsführer*innen, die kritisch, kollaborativ und offen eine unvorhersehbare Zukunft denken. Sie verfolgen damit also eine Absicht, die sie zum Handeln antreibt. Aber diese Absicht wird ständig durch den Kontext (die Struktur) verändert, in dem sie sich bewegen. Die Absicht muss also flexibel und reaktionsfähig sein und ist somit ein klares Gegenmodell zu einer bestehenden, statischen Wissens-, Macht- und Raumproduktion. Die Akteur*innen handeln otherwise.
3.1.4 Gegenhegemoniale Bildpraktiken (des Wohnens) Die Praxis eines drawing otherwise ermöglicht die Entwicklung von vielfältigen Szenarien des Wohnens. Die so entstehenden gegenhegemonialen Bildwelten provozieren Veränderungen in bestehenden Strukturen. Gegenhegemoniale Bilder sollten aber nicht mit utopischen Zukunftsbildern verwechselt werden. Sie können das Potential möglicher „Zukünfte“ in sich tragen, jedoch leben wir heute in einer ständigen Gegenwart, die
19 Awan, Nishat/Schneider Tatjana/Till, Jeremy: Spatial Agency. Other Ways of Doing Architecture, Oxon 2011, S. 30. 20 Vgl. Giddens, Anthony: Social Theory and Modern Society, Cambridge 1987, S. 220.
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie unsere Zukunft ist. Das bedeutet, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart angelegt ist und die immer wieder kehrende Idee einer Zukunft als ein technopositivistischer Moment utopischer Erneuerung in dieser Form nicht allgemein gültig ist. So sind Fundamental Acts (1971–1973) von Superstudio oder der Fun Palace von Cedric Price (1959–1961) zwar visuelle Zeugnisse spektakulärer und futuristischer Zukunftsvisionen, jedoch wird die Gegenwart nicht von einem spektakulären Idealbild der Zukunft beherrscht. Gegenhegemoniale Bildwelten erforschen verschiede Möglichkeiten von Zukunft. Denn drawing otherwise ist eine Praxis, die in der Gegenwart verankert ist, die daraus entstehenden Bilder zeigen Möglichkeiten und Fähigkeiten für das Jetzt. Wie Nishat Awan schreibt: „They [drawings] are ways of exploring different possibilities or futures by giving voice to other narratives and uses of space.“21 Es sind Bilder, die die Gegenwart erkennen, um die Zukunft anders zu denken, sie legen Zusammenhänge frei und eröffnen neue Sichtweisen auf das Jetzt. „Diese Zusammenhänge sind teils deshalb verborgen, weil wir sie – im Register herkömmlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien – nicht wahrnehmen können, teils deshalb, weil wir sie – im sozio- und psychodynamischen Register der Verkennung – nicht wahrhaben wollen.“22 Gegenhegemoniale Bilder sind somit auch eine Form der vielfältigen Wissensproduktion. Der Akt des Zeichnens und die dabei erzeugten Bilder bringen neue Erkenntnisse hervor und ermöglich dadurch einen anderen Blick auf die Welt. „In thinking about maps not just as drawings or objects, but as ways of producing and disseminating knowledge about the world, the maps themselves take on a certain agency.“23 Wissen bedeutet also nicht weiteres Detail- oder Spezialwissen, sondern das Erzeugen von Szenarien der Veränderung. Diese Form der Wissensproduktion ist wichtig, da es dringliche und notwendige Themenbereiche gibt, zu denen auch das Wohnen zählt, die nach Alternativen und Möglichkeiten suchen. Um alternative Szenarien zu produzieren, müssen neue Wissensformen erforscht und entwickelt werden. Die handelnden Ak-
21 Awan, Nishat: Mapping Otherwise: Imagining other possibilities and other futures, in: Schalk, Meike/Kristiansson, Thérèse/Mazé, Ramia (Hg.): Feminist Futures of Spatial Practice: Materialisms, Activisms, Dialogues, Pedagogies, Projections, Baunach 2017, S. 33–41, hier S. 39. 22 Pechriggl, Alice/Schober, Anna: Hegemonie und die Kraft der Bilder, S. 22f. 23 Awan, Nishat: Mapping Otherwise: Imagining other possibilities and other futures, S. 39.
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3. Drawing Housing Otherwise teur*innen (Planer*innen, Architekt*innen, Aktivist*innen, etc.) erkennen die Notwendigkeit zur Veränderung dringlicher Themen innerhalb der Struktur. Ihr Handeln schließt also auch eine politische, sozioökonomische, ethische wie auch räumliche Verantwortung mit ein. Einige dieser dringlichen Themen und globalen Herausforderungen sind z.B. der Klimanotstand (globale Erwärmung, Naturkatastrophen), aber auch gesellschaftspolitische und sozioökonomische Themen wie die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit, die Suche nach anderen (nicht ausbeuterischen) Formen von Arbeit, die faire Gestaltung von Prozessen der Migration, der Umgang mit neuen Technologien oder die Frage nach einem gemeinsamen Zusammenleben, das auch non-humane Koexistenten miteinschließt. Auch im Wohnen gibt es Handlungsfelder, die alternative und andere Szenarien erfordern. Themen wie Wohnungsknappheit, die Bezahlbarkeit von Wohnen, Care-Arbeit oder Vereinsamung sind nur einige der vielen Themen, die oft wenig Aufmerksamkeit finden. Die inszenierten Wohnbildwelten auf Instagram mit ihren glänzenden Oberflächen, weiten Winkeln und drapierten Objekten liefern auf diese dringlichen Fragen jedoch keine Antworten. Denn Bezahlbarkeit oder Nachhaltigkeit liegen außerhalb der Interessen hegemonialer Wohnideale, in denen Wohnen vorrangig als ästhetische Ware begriffen wird. Die handelnden Akteur*innen übernehmen somit auch durch das Produzieren und Zeigen von gegenhegemonialen Bildwelten Verantwortung, indem sie Sichtbarkeiten schaffen, wo zuvor Unsichtbarkeit herrschte. Sie zeigen durch andere visuelle Szenarien Möglichkeiten auf. Mouffe weist allerdings darauf hin, dass die jeweiligen Akteur*innen – also im Falle des Wohnens Architekt*innen und Planer*innen – mit dieser Verantwortung nicht alleine gelassen werden können: „This does not mean, though, as some seem to believe, that they [agents] could alone realize the transformations needed for the establishment of a new hegemony. […] It would be a serious mistake to believe that artistic activism could, on its own, bring about the end of neo-liberal hegemony.“24 Gegenhegemoniale Bilder können demnach zwar alternative Szenarien und Sichtbarkeit schaffen, es bedarf jedoch auch anderer Systeme, um eine Wende herbeizuführen.
24 Mouffe, Chantal: Artistic Activism and Agonistic Spaces, http://www.ar tandresearch.org.uk/v1n2/mouffe.html (4.10.2021).
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3.1 Von Hegemonie zu Gegen-Hegemonie Die eingangs gestellte Frage, ob die Collagen von fala Atelier aus der Praxis eines drawing otherwise entstanden sind und somit als gegenhegemoniale Bilder gelesen werden können, ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Stellt man sich jedoch die Frage, ob die hier gezeigten Collagen von fala durch das, was sie zum Ausdruck bringen, auch Platz für andere Geschichten und Erzählungen schaffen, dann trifft das zumindest teilweise zu. So wird die Küche von einem Ort der Repräsentation von Funktionalität, Fortschritt und Konsum zu einem unauffälligen, bunten, poetischen Farbkleks in falas Collagen. Stützen werden ihrer statischen Funktion entbunden und als Raumelemente inszeniert, denn, so fala, „columns are architecture before being structure“.25 So stellen die Collagen zwar bekannte architektonische (Wohn-)Elemente neu und anders zusammen – „fortunately, domestic spaces can also pretend to be something else“26 – doch ob dies als ein politisch-aktivistisches Infragestellen hegemonialer Strukturen zu lesen ist, bleibt mehr als fraglich. Denn gegenhegemoniale Bildwelten gehen über diese Rekombination hinaus, sie sind Bilder des Konfliktes und der Auseinandersetzung, die Veränderung erzeugen. So weist Audre Lorde in Sister Outsider (1984) darauf hin, dass wir mit den Werkzeugen der Herrschenden nicht wirklich Veränderungen herbeiführen werden, denn „die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen. Sie werden uns im Einzelfall gestatten, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, aber sie werden uns niemals darin bestärken, wirkliche Veränderungen herbeizuführen.“27 Gerade Unterschiedlichkeiten oder das Andere können in Stärke verwandelt und zur Basis politischen Handelns werden. Denn Wohnen ist komplex, in ihm werden Machverhältnisse verhandelt, Gemeinschaft erprobt und multiple Nutzungen zugleich gelebt. Gegenhegemoniale Bildwelten des Wohnens, die von der Produktionsgeschichte des Wohnens, dem (un-)möglichen Zugang zu Wohnraum oder dem Wohnen als konfliktreichem Alltagshandeln erzählen, spiegeln diese Komplexität wider. Das vielschichtige Feld des Wohnens benötigt daher auch andere Praktiken und Werkzeuge, so wie es ein drawing otherwise skizziert, um das Andere mit all seinen Stärken sichtbar zu machen. Das
25 https://falaatelier.com (23.2.2022). 26 https://falaatelier.com/043 (23.2.2022). 27 Lorde, Audre: Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen, in (dies.): Sister Outsider, München 2021, S. 7–12, hier S. 10.
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3. Drawing Housing Otherwise fotorealistische Rendering oder der eindeutig bestimmte Grundriss können dieser Komplexität nicht hinreichend gerecht werden. Eine gegenhegemoniale Haltung produziert jedoch unweigerlich auch eine andere, multiple Bildsprache, die dem jeweiligen Anliegen und der Notwenigkeit nach Veränderung gerecht wird.
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3. Drawing Housing Otherwise Wie in Kapitel 3.1, Von Hegemonie zu Gegenhegemonie, festgestellt wurde, verlangt eine gegenhegemoniale Haltung unweigerlich auch eine andere und multiple Bildsprache. Durch die Einführung des Begriffs drawing otherwise wurde ein Handlungsrahmen entworfen, der diese Bildproduktion hervorbringen kann. Doch wie sehen gegenhegemoniale Wohnbildwelten aus? In welcher visuellen Erscheinungsform begegnen uns die Bilder des Wohnens, die aus einem drawing otherwise entstanden sind? Im Zusammenhang mit solchen visuellen Erscheinungsformen ist auch der Begriff der Ästhetik näher zu betrachten. Unter Ästhetik wird im Folgenden allerdings keine Wahrnehmungstheorie der Empfindungen verstanden, denn, wie Jacques Rancière schreibt, „Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch die Wirkung auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst.“28 Rancière streicht vor allem die politischen Implikationen von Ästhetik heraus: „Es ist unmöglich, über sinnliche Wahrnehmung und über ihre historisch-apriorischen Formen zu sprechen, ohne über Politik zu sprechen.“29 Ästhetik wird in diesem Denken also über die Kunst hinausreichend verstanden, sie kann als ein Modus der Artikulation zwischen Handlungs-, Produktions- und Wahrnehmungsformen beschrieben werden. Anna Schober weist im Editorial zum Themenheft Ästhetik des Politischen der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften auch darauf hin, dass seit dem Bruch hin zur Moderne jede politische Handlung zugleich eine ästhetische ist.30 Das Politische definiert sie in Abgrenzung zur Politik folgendermaßen: „‚Politisch‘ werden all jene Handlungen, Inszenierungen und Sichtweisen genannt, welche die grundsätzliche Offenheit unseres gegenseitigen Austausches nutzen, um strukturelle Prinzipien in Frage zu stellen und um Ordnungen für ein solches Sich- Austauschen vorzuschlagen. Der Begriff der ‚Politik‘ bezeichnet demgegenüber einen separaten sozialen Komplex, 28 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 23. 29 Ebd., S. 10f. 30 Vgl. Schober, Anna: Editorial, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Jg. 15, 2004: Ästhetik des Politischen, https://journals.univie. ac.at/index.php/oezg/article/view/4142/3901 (20.12.2021).
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild der diese prekäre Logik des ‚Politischen‘ handhabt.“31 Ausgehend von dieser Bestimmung des Politischen, das stets auch ins Ästhetische hineinragt, sind gegenhegemoniale Bildwelten immer auch als politische Auftrittsformen zu verstehen. Im Folgenden wird daher der Frage nach dem Politischen in der Ästhetik gegenhegemonialer Bilder nachgegangen.
3.2.1 Ästhetik des Politischen 1998 schrieb Nicolas Bourriaud in Relational Aesthetics32 (Ésthétique relationelle) über neue Tendenzen der Gegenwartskunst in den 1990er Jahren. Mit Blick auf verschiedene künstlerische Arbeiten – z.B. Pierre Hugyes Casting (1995)33 oder Rirkrit Tiravanijas Untitled34 (1992) – entwickelte Bourriaud den Begriff der relationalen Ästhetik. Dieser zielt vor allem auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Kunstwerke hervorrufen können, insbesondere solche, die Kommunikation bzw. Beziehung bewusst forcieren und so Gemeinschaftlichkeit herstellen wollen. An den Aspekt des Austausches, der auch als etwas Politisches verstanden werden kann, knüpft Claire Bishop im Kontext des in den 2000er Jahren aufkommenden Diskurses über partizipative Kunst an. Partizipative Kunst kann als Modell der Selbstermächtigung aufgefasst werden, das die Dreiecksbeziehung von Künstler*in, Kunstwerk und Betrachter*in zur Disposition stellt. Diesen Aspekt der Partizipation sieht Bishop in den von Bourriaud angeführten Kunstprojekten allerdings nicht. In Antagonism and Relational Aesthetics (2004) betont sie, dass Kunstprojekte
31 Ebd. 32 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002. 33 1995 realisierte der französische Künstler Pierre Huyghe in Mailand die Arbeit Casting. Im Vorfeld wurden zwei verschiedene Einladungen ausgesendet, eine an Kunstinteressierte zur Eröffnung, die zweite wurde an nicht-professionelle Schauspieler*innen, um sich für einen Part in einer neuen Arbeit des Künstlers zu bewerben, ausgesendet. Der Raum in dem Casting stattfand war leer, die Ausstellung war keine materiellen Installation, sondern eine sozialen Konstellation. 34 1992 fand Rirkrit Tiravanijas Untitled in New York in einem Galerieraum statt. Er platzierte darin eine Küche und einen Essraum, in denen er kochte und servierte. Untitled wurde durch die Benutzung der Gäste (Gratis-Restaurant, sozialen Begegnungsraum, ästhetischen Ausstellungsraum) zu einem sozialen Verhandlungsraum.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild der diese prekäre Logik des ‚Politischen‘ handhabt.“31 Ausgehend von dieser Bestimmung des Politischen, das stets auch ins Ästhetische hineinragt, sind gegenhegemoniale Bildwelten immer auch als politische Auftrittsformen zu verstehen. Im Folgenden wird daher der Frage nach dem Politischen in der Ästhetik gegenhegemonialer Bilder nachgegangen.
3.2.1 Ästhetik des Politischen 1998 schrieb Nicolas Bourriaud in Relational Aesthetics32 (Ésthétique relationelle) über neue Tendenzen der Gegenwartskunst in den 1990er Jahren. Mit Blick auf verschiedene künstlerische Arbeiten – z.B. Pierre Hugyes Casting (1995)33 oder Rirkrit Tiravanijas Untitled34 (1992) – entwickelte Bourriaud den Begriff der relationalen Ästhetik. Dieser zielt vor allem auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Kunstwerke hervorrufen können, insbesondere solche, die Kommunikation bzw. Beziehung bewusst forcieren und so Gemeinschaftlichkeit herstellen wollen. An den Aspekt des Austausches, der auch als etwas Politisches verstanden werden kann, knüpft Claire Bishop im Kontext des in den 2000er Jahren aufkommenden Diskurses über partizipative Kunst an. Partizipative Kunst kann als Modell der Selbstermächtigung aufgefasst werden, das die Dreiecksbeziehung von Künstler*in, Kunstwerk und Betrachter*in zur Disposition stellt. Diesen Aspekt der Partizipation sieht Bishop in den von Bourriaud angeführten Kunstprojekten allerdings nicht. In Antagonism and Relational Aesthetics (2004) betont sie, dass Kunstprojekte
31 Ebd. 32 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002. 33 1995 realisierte der französische Künstler Pierre Huyghe in Mailand die Arbeit Casting. Im Vorfeld wurden zwei verschiedene Einladungen ausgesendet, eine an Kunstinteressierte zur Eröffnung, die zweite wurde an nicht-professionelle Schauspieler*innen, um sich für einen Part in einer neuen Arbeit des Künstlers zu bewerben, ausgesendet. Der Raum in dem Casting stattfand war leer, die Ausstellung war keine materiellen Installation, sondern eine sozialen Konstellation. 34 1992 fand Rirkrit Tiravanijas Untitled in New York in einem Galerieraum statt. Er platzierte darin eine Küche und einen Essraum, in denen er kochte und servierte. Untitled wurde durch die Benutzung der Gäste (Gratis-Restaurant, sozialen Begegnungsraum, ästhetischen Ausstellungsraum) zu einem sozialen Verhandlungsraum.
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3. Drawing Housing Otherwise nicht automatisch emanzipatorische oder demokratische Effekte haben, nur weil sie die Betrachter*innen miteinbeziehen. Es kommt also auf die Qualität der Relationen an. Verbleibt das Publikum in einer passiven, entmündigten Position und fehlt die Auseinandersetzung – der Antagonismus – für eine kollektive Aktivität,35 kann die bloße Absicht des Miteinbeziehens nicht als politisch gelesen werden. Auch Jacques Rancière weist in The Emancipated Spectator (2007) darauf hin, dass eine künstlerische Arbeit, die ihre Betrachter*innen anweist, aktiv und kritisch zu werden, diesen zugleich die Möglichkeit nimmt, von sich aus aktiv und kritisch zu sein. Denn ein Konsens durch Autoritäten verhindere Konfliktsituationen und verunmögliche das Ausverhandeln von Demokratie. So schreibt Claire Bishop, „[…] a democratic society is one in which relations of conflict are sustained, not erased. Without antagonism there is only the imposed consensus of authoritarian order – a total suppression of debate and discussion, which is inimical to democracy.“36 Die von Bishop wie auch Rancière vertretene Position, dass Teilhabe unterschiedliche Qualitäten hat und erst die Auseinandersetzung und der Konflikt kollektive Aktivität und somit Demokratie erzeugen, ist für das Verständnis des politischen Bildes bedeutend. Denn drawing otherwise, das gegenhegemoniale Bilder hervorbringen kann, die auch politische Bilder sind, beruht auf dem Prinzip einer selbstbestimmten handelnden Teilnahme, die jedoch gewisse Qualitäten benötigt, um als solche auch erfahren zu werden. Bereits Bishop betont die Bedeutung des Konfliktualen im Politischen. Oliver Marchart greift dieses Potential des Konflikts in Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere (2019) auf und sieht den Konflikt als einen wesentlichen Bestandteil politischer Kunst. Er spricht von einer konflitkualen Ästhetik, die aus einer Vielzahl von Kontroversen Komplexität erzeugen kann.37 Marchart weist aber auch darauf hin, dass Kunst nicht per se politisch ist und dass sie, um als politische Kunst handeln zu können, auch immer wieder das Feld der Kunst verlassen muss.38
35 Vgl. Bishop, Claire: Antagonism and Relational Aesthetics, in: October Magazine, 2004, S. 51–79. 36 Ebd., S. 66. 37 Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, London 2019. 38 Vgl. ebd. Marchart skizziert, dass sich in der spontanen Ideologie des Kunstfeldes die Haltung etabliert hat, dass Kunst umso besser ist, je ambivalenter
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild Politische Kunst agiert daher auch außerhalb des ideologischen (Kunst-) Feldes und somit auch abseits von institutionellen Orten wie Museen. Sowohl der Konflikt als auch das Verlassen bestehender Felder und Diskurse löst festgelegte Grenzen einzelner Disziplinen auf. Denn erst im grenzüberschreitenden, konfliktualen Ausverhandeln kann die Komplexität von Gesellschaft, Stadt oder Wohnen durch gegenhegemoniale Bilder sichtbar werden. Denn wie im Feld der Kunst, in dem sich ästhetische Kategorien der Kunstgeschichte verfestigt haben, ist auch im architektonischen Diskurs ein etabliertes, hegemoniales Bewertungs- und Einteilungssystem festgeschrieben, dass es zu befragen gilt. Bilder, die nicht im Rahmen klar zugeordneten Felder agieren und keine eindeutige Abgrenzung zwischen Kunst, sozialer Arbeit oder Populärkultur vornehmen, müssen dialogisch zwischen unterschiedlichen Bereichen agieren.39 Dieses transdisziplinäre Potential gegenüber weiteren und anderen kulturellen Feldern ist ein wesentliches Merkmal gegenhegemonialer Bilder. Denn das Konfliktuale und Dialogische reproduziert nicht Abgrenzungen und Ausschlussmechanismen, sondern zeigt Ambivalenz und Komplexität und die daraus entstehenden Möglichkeiten auf. Gegenhegemoniale Bilder sind politische Bilder, insofern sie politisch handeln und agieren. Der Vergleich mit politischer Kunst ist daher hilfreich, um die Bedeutung des Politischen in diesen Bildern besser fassen zu können. So beschreibt etwa Chantal Mouffe verschiedene Formen von politischer Kunst:40 Eine ist die Annahme, dass Kunst etwas in unserer Wahrnehmung verschiebt und dadurch als solche schon politisch ist. Als eine weitere Form nennt sie die kritische Kunst, bei der sich Künstler*innen in ihrem Werk kritisch mit einem Thema auseinandersetzten, das Werk aber isoliert – z.B. in einem Museum – existiert. Als dritte Form
und undeutbarer sie ist. Wenn Kunst vollständig ausinterpretierbar ist, dann ist sie keine – oder schlechte – Kunst, so die vorherrschende Haltung. Marchart kommt zu dem Schluss, dass politische Kunst in der spontanen Ideologie des Kunstfeldes keinen besonders hohen Stellenwert hat, da sie die oben angeführten etablierten Kriterien oft nicht erfüllt, da sie die Reduktion von Ambivalenz und Komplexität forciert, um lesbar zu bleiben. Politische Kunst verlässt daher auch immer wieder das eigene (Kunst-)Feld. 39 Grant Kester hat in diesem Zusammenhang den Begriff der dialogischen Ästhetik eingeführt. Ein zentrales Merkmal dieses Begriffs ist die Offenheit von Kunst gegenüber anderen kulturellen und sozialen Feldern, wenn Methoden und Anliegen aus anderen Bereichen in die Kunstproduktion einfließen. 40 Mouffe, Chantal: Agonistics. Thinking the World Politically, London 2013, S. 91.
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3. Drawing Housing Otherwise sieht sie aktivistisch-politische Kunst: Diese hängt nicht an weißen Wänden in einer Galerie, sondern ist eine aktivistische Praktik, bei der die Künstler*innen selbst zu Aktivist*innen werden können. Die aktivistisch-politische Kunst kennzeichnet Mouffe als künstlerische Form im Dienst des politischen Aktivismus und somit als gegenhegemoniale Bewegung: „By putting artistic forms at the service of political activism, these ‚artivist‘ practices present an important dimension of radical politics. They can be seen as counterhegemonic moves against the capitalist appropriation of aesthetics and its goal of securing and expanding the valorization process.“41 Die bei Mouffe genannten Dimensionen von politisch-aktivistischer Kunst – die Bedeutung der Aktivität (politischer Aktivismus), die aktive, dialogische Teilnahme an Prozessen, das Konfliktuale, das den Widerspruch sucht, sowie das Politische im Sinne einer klaren Gegenposition zur kapitalistischen Aneignung und Verwertung von Ästhetik – sind Bestandteil von gegenhegemonialen Bildwelten. Es geht im Folgenden jedoch nicht darum, politisch-aktivistische Kunst in gegenhegemonialen Bildwelten (des Wohnens) aufzuspüren, sondern darum, die Eigenschaften politisch-aktivistischer Kunst auch in gegenhegemonialen Bildwelten (des Wohnens) zu erkennen.
3.2.2 Das ästhetische Regime und die Aufteilung des Sinnlichen Um sich den Begriffen des Politischen und der politisch-aktivistischen Kunst weiter anzunähern, sollen hier Jacques Rancières Überlegungen aus Die Aufteilung des Sinnlichen (la partage du sensible) mit einbezogen werden.42 Rancière argumentiert, dass Kunst nur dann politisch ist, wenn sie nicht Politik ist, also wenn sie keine Entscheidungen tätigt und kein einseitiges Engagement für etwas Konkretes leisten muss. Positiv formuliert ist Kunst demnach dann politisch, wenn sie vorhandene Möglichkeiten aufzeigt und somit den Horizont des Sinnlichen öffnet. Politik ist demnach die Festlegung eines konkreten Horizonts, die Kunst ist die Öffnung des Horizonts. Diese Überlegungen Rancières sind für die Erfassung gegenhegemonialer Bildpraktiken wichtig. 41 42
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Ebd., S. 98f. Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen.
3. Drawing Housing Otherwise sieht sie aktivistisch-politische Kunst: Diese hängt nicht an weißen Wänden in einer Galerie, sondern ist eine aktivistische Praktik, bei der die Künstler*innen selbst zu Aktivist*innen werden können. Die aktivistisch-politische Kunst kennzeichnet Mouffe als künstlerische Form im Dienst des politischen Aktivismus und somit als gegenhegemoniale Bewegung: „By putting artistic forms at the service of political activism, these ‚artivist‘ practices present an important dimension of radical politics. They can be seen as counterhegemonic moves against the capitalist appropriation of aesthetics and its goal of securing and expanding the valorization process.“41 Die bei Mouffe genannten Dimensionen von politisch-aktivistischer Kunst – die Bedeutung der Aktivität (politischer Aktivismus), die aktive, dialogische Teilnahme an Prozessen, das Konfliktuale, das den Widerspruch sucht, sowie das Politische im Sinne einer klaren Gegenposition zur kapitalistischen Aneignung und Verwertung von Ästhetik – sind Bestandteil von gegenhegemonialen Bildwelten. Es geht im Folgenden jedoch nicht darum, politisch-aktivistische Kunst in gegenhegemonialen Bildwelten (des Wohnens) aufzuspüren, sondern darum, die Eigenschaften politisch-aktivistischer Kunst auch in gegenhegemonialen Bildwelten (des Wohnens) zu erkennen.
3.2.2 Das ästhetische Regime und die Aufteilung des Sinnlichen Um sich den Begriffen des Politischen und der politisch-aktivistischen Kunst weiter anzunähern, sollen hier Jacques Rancières Überlegungen aus Die Aufteilung des Sinnlichen (la partage du sensible) mit einbezogen werden.42 Rancière argumentiert, dass Kunst nur dann politisch ist, wenn sie nicht Politik ist, also wenn sie keine Entscheidungen tätigt und kein einseitiges Engagement für etwas Konkretes leisten muss. Positiv formuliert ist Kunst demnach dann politisch, wenn sie vorhandene Möglichkeiten aufzeigt und somit den Horizont des Sinnlichen öffnet. Politik ist demnach die Festlegung eines konkreten Horizonts, die Kunst ist die Öffnung des Horizonts. Diese Überlegungen Rancières sind für die Erfassung gegenhegemonialer Bildpraktiken wichtig. 41 42
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Ebd., S. 98f. Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen.
3.2 Das politisch-aktivistische Bild Rancière nennt drei Regime von Kunst, wobei alle drei nicht Objektbereiche definieren, sondern vielmehr Fähigkeiten des Herstellens und Erkennens markieren.43 Er unterscheidet zwischen dem ethischen Regime (pädagogische Rolle der Kunst), dem repräsentativen Regime (Einteilung in „hohe“ und „niedrige“ Kunst sowie Kunstgattungen und -genres) sowie dem ästhetischen Regime. Das ästhetische Regime „schreibt der Kunst Autonomie und Freiheit im Sinn des Vermischens potentiell aller jeweils herrschenden Einteilungen der Sinnlichkeit zu“44 und bringt damit etablierte Gegenüberstellungen durcheinander, etwa die von Aktivität und Passivität, Denken und Wahrnehmen, Sinn und Unsinn, Kunst und Nicht-Kunst etc.45 Das dritte Regime ist also befreiend und dadurch auch demokratisierend, es entzieht sich festgelegten Regeln und Hierarchien. „Auf diese Weise wird jedoch die Grenze der mimesis gesprengt, die die künstlerischen von den übrigen Tätigkeitsformen und die Regeln der Kunst von den sozialen Beschäftigungen trennt. Das ästhetische Regime der Künste bestätigt die absolute Besonderheit der Kunst und zerstört zugleich jedes pragmatische Kriterium dieser Besonderheit.“46 Dieses Störungspotential ist aber nicht nur der Kunst vorbehalten, auch in politisch-emanzipatorischen Handlungen kann es zu einer Neuaufteilung des Sinnlichen kommen. Unter der Aufteilung des Sinnlichen versteht Rancière ein Einteilungs- und Wahrnehmungssystem, das Orte und Formen der Teilhabe an einer gemeinsamen Welt aufteilt47 und dabei festlegt, welche Elemente (aus Kunst, Architektur, Alltagssituationen etc.) mit „Sinn“ versehen und daher sichtbar sind. Gleichzeitig macht die Aufteilung des Sinnlichen auch sichtbar, wer überhaupt fähig ist, am Gemeinsamen teilzuhaben.48 Eine auch im Hinblick auf gegenhegemoniale Bildpraktiken bedeutsame Überlegung Rancières ist die, dass ästhetische Regime Grenzen aufheben und so die hierarchische Verteilung des Sinnlichen auflösen. „However, the singularity of art enters into an interminable contradiction due to the fact that the aesthetic regime also calls into question the
43 Vgl. ebd., S. 36. 44 Sonderegger, Ruth: Ästhetische Regime, in: Bildpunkt, 15.03.2010, https:// www.linksnet.de/artikel/25416 (18.2.2022). 45 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 39. 46 Ebd., S. 40. 47 Vgl. Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, London 2013, S. 89. 48 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26.
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3. Drawing Housing Otherwise very distinction between art and other activities.“49 Das bedeutet, dass ästhetische Praktiken, zu denen auch die Produktion von gegenhegemonialen (Wohn-)Bildern zählt, die anerkannte Aufteilung des Sinnlichen unterbrechen, denn sie stellen andere und neue Sichtbarkeiten und Möglichkeiten her. So kann es zu einer Neuaufteilung des Sinnlichen kommen, die die Parzellierungen oder Einteilungen zwischen Zuschauer*innen und Akteur*innen, Sinnlichem und Intelligiblem, aber auch Handeln und Konsumieren neu ordnet. Das schafft eine Welt, in der nicht vorab das Entscheidende schon festgelegt ist. Es kann also festgehalten werden, dass gegenhegemoniale Bilder politisch-aktivistische Bilder sind, die das Konfliktuale als Möglichkeit der Auseinandersetzung in sich tragen. In diesem Sein und Tun rekonfigurieren sie die Aufteilung des Sinnlichen und lösen die Grenze zwischen Kunst und anderen Tätigkeiten auf. Mit dieser wesentlichen Charakterisierung des Politischen im Bild ist die Suche nach gegenhegemonialen Bildwelten um einen zusätzlichen Aspekt erweitert worden. Im Folgenden sollen nun die wesentlichen Eigenschaften von gegenhegemonialen (Wohn-)Bildwelten anhand ausgewählter Beispiele skizziert werden. Die hier vorgestellten, aus einer Praxis des drawing otherwise entstandenen Bilder und Prozesse sind nicht als Best-Practice-Bildersammlung zu lesen. Ihre Hervorhebung im Rahmen dieser Untersuchung ist kein Vorzeigen, Festlegen oder Bestimmen gegenhegemonialer Erscheinungsformen. Im Gegenteil, die hier diskutierten Bilder sind der Versuch, eine andere als die vorherrschende Bildsprache und Bildproduktion zur Diskussion zu stellen und neue, vielfältige Formen des Sehens und Wahrnehmens zu erlernen. Vier große Themenfelder, die gegenhegemonialen Bildwelten zugrunde liegen, werden anhand ausgewählter visueller Praktiken diskutiert: (1) Aktivismus, Handlung und Agitation als Grundlage einer Bildproduktion, in der Praxis ein drawing otherwise; (2) Konflikt, Wahrheit und Propaganda, die ein (3) Auflösen und Öffnen von (visuellen) Horizonten ermöglichen; sowie die Bedeutung von (4) Kollektivität und Organisation in diesen Prozessen.
49
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Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, S. 85f.
3.2 Das politisch-aktivistische Bild
Abb. 3_2: abnormal_story, Screenshot des Instagram-Accounts @abnormal_story.
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3. Drawing Housing Otherwise
3.2.3 Handlung und Agitation: (ab)Normal Das Potential der Handlungsfähigkeit gegenhegemonialer Bilder, das durch die Praxis eines drawing otherwise erzeugt wird, wurde bereits ausführlich besprochen. Denn der Akt des Produzierens (Zeichnens) ist Aktivität im Sinne von Teilhabe, Veränderung und Konflikt und kann dadurch politisch-aktivistische Bilder hervorbringen. Das politisch-aktivistische Bild steht also für Handlung. Oliver Marchart führt in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Agitation ein. Der Duden definiert Agitation als „aggressive Tätigkeit zur Beeinflussung anderer, vor allem in politischer Hinsicht; Hetze.“50 Der hier negativ konnotierte Begriff vermittelt jedoch auch die Energie bzw. den Drang, etwas verändern zu müssen. Marchart sieht in Agitation vor allem die Problematisierung von Vorstellungen und Grundsätzen, die von einer Gesellschaft unhinterfragt als wahr oder richtig angenommen werden,51 also ein Sich-Loslösen von Hegemonien. Es geht also beim drawing otherwise nicht um das bloße Erstellen eines Bildes, sondern um Veränderungen und Erfahrungen, die durch das Zeichnen gemacht werden. So können Erkenntnisse über vergangene und bestehende Konstellationen sowie verdeckte Beziehungen oder Verbindungen gewonnen und dabei neue Formen von Wissen produziert werden. Nishat Awan beschreibt in dem Artikel „Mapping Otherwise: Imagining other possibilities and other futures“ (2017) Möglichkeiten, die durch das Zeichnen von Karten (Bildern) generiert werden, so: „Maps and mapmaking could hold a privileged position here in the unexpected ways in which they are able to bring together disparate knowledges and claims, juxtaposing ways of seeing the world.“52 Auch James Corner weist in Agency of Mapping (1999) darauf hin, dass es nicht um die Karte (das Bild) als Artefakt geht, sondern um das Kartieren als Aktivität, das etwas erzeugt und zum Vorschein bringt.53
50 https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Agitation (20.2.2022). 51 Vortrag von Oliver Marchart: Buchpräsentation Conflictual Aesthetics, Künstlerhaus Graz, Nov. 2020, https://journal.km-k.at/de/posts/image-wars-machtder-bilder/buchpr%C3%A4sentation-mit-oliver-marchart/ (8.10.2021). 52 Awan, Nishat: Mapping Otherwise: Imagining other possibilities and other futures, S. 33–41. 53 Vgl. Corner, James: The Agency of Mapping: Speculation, Critique and Inven tion, in: Denis Cosgrove (Hg.): Mappings, London 1999, S. 231–252.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild Als ein Beispiel des Agierens durch Zeichnen kann abnormal_story, das visual diary des Kollektivs (ab)Normal, gelesen werden.54 Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von digitalen Collagen ohne Chronologie, um visuelle, räumliche Erzählungen in Form von Zeichnungen, die aus einer Frustration des Kollektivs über das Ausschlachten von Basis-Skills im Architekturbetrieb entstanden. „(ab)Normal came out from the frustration that the four of us experienced rendering photorealistic images while working in architecture offices. Behind the layer of perfect photorealism, architecture gets often banalizes and reduced to its realizability. We wanted to explore the fantasies abandoned during the design process. For us it is a therapeutic release of unexplored obsessions through illustrations.“55 In einem von fotorealistischen Renderings dominierten Arbeitsumfeld war für (ab)Normal das Produzieren eigener Zeichnungen, die Phantasien und Obsessionen in der Auseinandersetzung mit Architektur und Raum in sich trugen, eine Möglichkeit zum Handeln und Agieren. Wenn das Zeichnen als Handlung verstanden wird, durch die Erfahrungen gemacht werden können, die dann wiederum Veränderungen in der Wahrnehmung, der Reproduktion, aber auch dem Umgang mit Raum und den darin Agierenden erzeugt, dann ist diese Agitation in der Praxis von (ab)Normal wiederzufinden. Denn die Zeichnungen durchkreuzen Gewohntes, Erlerntes und Etabliertes und stellen die Welt dabei neu und anders zusammen. Im Feld der Architektur haben Bilder meist einen klaren Auftrag: zu erklären, zu belehren und (zum Kauf) zu verführen. Sie stehen für Realisierbarkeit, Verwertbarkeit und Optimierbarkeit, während die Bilder der abnormal_story diese Logiken durchbrechen. Die Bilder zeigen weder konkrete Architektur noch repräsentieren sie Architektur, vielmehr benutzen sie Architektur, um andere, unbekannte Geschichten zu erzählen. „We are learning to use architecture in order to represent something else, rather than representing itself.“56 Die Zeichnungen, meist Collagen, zeigen Ansammlungen von dreidimensionalen Objekten und fungieren wie ein Container für die formalen Obsessionen ihrer Produzent*innen. Ihre Inhalte speisen sich aus verworfenen und 54 (ab)Normal wurde 2017 von Marcello Carpino, Mattia Inselvini, Davide Masserini and Luigi Savio gegründet, https://www.abnormalstory.com (18.3.2033). 55 (ab)Normal Interview, 2018, https://www.koozarch.com/interviews/abnormal/ (8.10.2021). 56 (ab)Normal im Interview, in: Kanto. Creative Corners/No 2, 2018, https://issuu. com/kanto_mag/docs/kanto_no._2_2018 (8.10.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise übrig geblieben Objekten aus der Architekturproduktion, aus Leidenschaften, (Fake)Nachrichten, Instagram und Dingen aus dem Internet: „Everything is on stage.“57 Die Präsenz von Vielem und Allem zugleich beschreibt die Welt, in der wir heute leben, treffender als die vertrauten, aufgeräumten, inszenierten, in Weiß getauchten Wohnbildwelten auf
Abb. 3_3: The Delos bed, #52 Domestic monuments von (ab)Normal, 2019.
57 Vgl. Savio, Luigi/Inselvini, Mattia (ab)Normal: Share Screen Architecture, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild Airbnb und Instagram. Die Bilder der abnormal_story sind keine futuristischen Visionen urbaner Szenarios, vielmehr beschreiben sie das Hier und Jetzt mit all seinen Ungewissheiten: „We believe that the idea of the future does not exist anymore today. […] It’s an ocean of uncertainty, the idea of the future is an obsolete idea.“58 Die abnormal_story ermöglicht auch Momente des Konfliktualen, da die Bilder nicht eindeutig zuzuordnen sind. Weder können sie einem Feld bzw. einer Disziplin klar zugeschrieben werden, noch können ihre Bildinhalte klar kategorisiert werden. Das Lesen der abnormal_story fordert daher auch Sehgewohnheiten heraus: Die Dichte an Objekten, die Überlagerung an Erzählungen oder das Fehlen von Eindeutigkeit macht die Betrachter*innen so von bloßen Konsument*innen zu Teilnehmer*innen, die ihre eigenen Erzählungen in den gezeigten Bildern erst auswählen und erkennen müssen. Gleichzeitig gibt es einige immer wiederkehrende Themen, die in den Zeichnungen der abnormal_story sichtbar werden, etwa Natur und Technologie sowie ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Auch die Produktion von Bildern wird durch technologische Limitierungen und Verfügbarkeiten beeinflusst. Die Entstehungs- und Produktionsgeschichte von Bildern und die technologischen Auswirkungen auf Gestaltungsprozesse werden meist als gesetzt hingenommen. Das visual diary von (ab)Normal thematisiert die Produktionsbedingungen und Entstehungsprozesse, insofern die technischen Möglichkeiten im Renderprozess der Zeichnungen bewusst eingeschränkt werden. Die auffallend unnatürliche Farbgebung der Collagen entsteht, indem Farben durch Farbverläufe definiert werden, die auf Normalvektoren der Oberflächen und nicht auf Schattierungen und Lichtern beruhen. Hier wird die Auswirkung von Technologie im Bild selbst sichtbar und gleichzeitig wird ein visueller Bruch mit klassischen Architekturdarstellungen zelebriert.
3.2.4 Konflikt und Wahrheit: EDIT Gegenhegemoniale Bilder sind auch Bilder des Konflikts, wie festgestellt wurde. Der Konflikt eröffnet eine Vielzahl von Meinungen und ermöglicht dadurch Diskurse. Konfliktuale Themen, die oft im Bereich des Unsicht-
58 Ebd.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild Airbnb und Instagram. Die Bilder der abnormal_story sind keine futuristischen Visionen urbaner Szenarios, vielmehr beschreiben sie das Hier und Jetzt mit all seinen Ungewissheiten: „We believe that the idea of the future does not exist anymore today. […] It’s an ocean of uncertainty, the idea of the future is an obsolete idea.“58 Die abnormal_story ermöglicht auch Momente des Konfliktualen, da die Bilder nicht eindeutig zuzuordnen sind. Weder können sie einem Feld bzw. einer Disziplin klar zugeschrieben werden, noch können ihre Bildinhalte klar kategorisiert werden. Das Lesen der abnormal_story fordert daher auch Sehgewohnheiten heraus: Die Dichte an Objekten, die Überlagerung an Erzählungen oder das Fehlen von Eindeutigkeit macht die Betrachter*innen so von bloßen Konsument*innen zu Teilnehmer*innen, die ihre eigenen Erzählungen in den gezeigten Bildern erst auswählen und erkennen müssen. Gleichzeitig gibt es einige immer wiederkehrende Themen, die in den Zeichnungen der abnormal_story sichtbar werden, etwa Natur und Technologie sowie ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Auch die Produktion von Bildern wird durch technologische Limitierungen und Verfügbarkeiten beeinflusst. Die Entstehungs- und Produktionsgeschichte von Bildern und die technologischen Auswirkungen auf Gestaltungsprozesse werden meist als gesetzt hingenommen. Das visual diary von (ab)Normal thematisiert die Produktionsbedingungen und Entstehungsprozesse, insofern die technischen Möglichkeiten im Renderprozess der Zeichnungen bewusst eingeschränkt werden. Die auffallend unnatürliche Farbgebung der Collagen entsteht, indem Farben durch Farbverläufe definiert werden, die auf Normalvektoren der Oberflächen und nicht auf Schattierungen und Lichtern beruhen. Hier wird die Auswirkung von Technologie im Bild selbst sichtbar und gleichzeitig wird ein visueller Bruch mit klassischen Architekturdarstellungen zelebriert.
3.2.4 Konflikt und Wahrheit: EDIT Gegenhegemoniale Bilder sind auch Bilder des Konflikts, wie festgestellt wurde. Der Konflikt eröffnet eine Vielzahl von Meinungen und ermöglicht dadurch Diskurse. Konfliktuale Themen, die oft im Bereich des Unsicht-
58 Ebd.
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3. Drawing Housing Otherwise baren verstaut warten, können so wieder zur Diskussion gestellt und repolitisiert werden. Der Konflikt ist die Auseinandersetzung mit Komplexität. Gegenhegemoniale Bilder können komplexe Themenfelder wie das Wohnen machtkritisch bearbeiten und dabei ungewohnte Blickwinkel und neue Erzählungen erzeugen. Oliver Marchart ergänzt in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Propaganda, allerdings in seiner ursprünglichen Bedeutung einer Verbreitung der Wahrheit, die unters Volk gebracht werden muss,59 also das Ausweiten einer Idee. Wahrheit steht dabei jedoch nicht für eine objektive, allgemeingültige Aussage, sondern vielmehr für die Dringlichkeit, ein Anliegen, einen Umstand oder eine Erzählung zum Thema zu machen. Propaganda in diesem Sinne bezeichnet also die Verbreitung einer solchen Wahrheit, die durch unterschiedliche Narrative aufgezeigt und in die Welt getragen wird. In den Arbeiten des Londoner intersektional-feministischen Designkollektivs EDIT60 wird die Idee des Verbreitens einer dringlichen und wichtigen Wahrheit sichtbar. EDIT spürt in Zeichnungen Vorurteile und Hierarchien auf, die sich in unserer gebauten Umwelt verankert haben, und suchen nach den cracks, also den Momenten, in denen in festgesetzten hegemonialen Erzählungen Widersprüchlichkeiten auftauchen. Aus diesen konfliktualen Rissen können sich dann andere Erzählungen und Sichtweisen entwickeln. Das Interesse von EDIT liegt im machtkritischen Erforschen des Schauplatzes des Häuslichen, also dem Wohnen. „Zudem wollen wir die geschlechterspezifischen Hierarchien und Machtstrukturen, die unsere gebaute Umwelt prägen, sichtbar machen.“61 Dabei steht mit Blick auf die Vermittlung eine einfache Lesbarkeit und Zugänglichkeit der ausgewählten Darstellungsformen im Vordergrund. Die visuellen Interventionen von fiktionalen Erzählungen, Collagen oder Gifs weichen dabei von konventionellen architektonischen Darstellungsweisen ab und erzählen einfache und zugleich komplexe Geschichten über den Schauplatz Wohnen. Die Verbreitung von bereits existierenden, aber marginalisierten Wissens- und Wahrheitsformen ist ein wichtiges und dringliches Anliegen von EDIT. 59 60
Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics, S. 31. EDIT wurde 2018 gegründet und besteht derzeit aus Alberte Lauridsen, Alice Meyer, Hannah Rozenberg, Marianna Janowicz und Saijel Taank. 61 Lauridsen, Alberte/Meyer, Alice/Rozenberg Hannah/Janowicz, Marianna/Taank Saijel/Williams, Sophie: Praxis. Edit Collective, in: ARCH+ 246 Zeitgenössische feministische Raumpraxis, 2022, S. 106–109, hier S. 106.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild
Abb. 3_4: Home Revolution, Collage von EDIT Collective, 2020. Abb. 3_5: Power, Collage von EDIT Collective, 2020.
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3. Drawing Housing Otherwise Die Collagen Home Revolution und Power, beide aus dem Jahr 2020, thematisieren Machtdynamiken, die sich durch häusliche Routinen und Rituale materialisiert haben und sich in Grundrisse des Wohnens als unverrückbare Normen und Standards eingeschrieben haben. Home Revolution erforscht die funktionale Einteilung des Wohnens in thematische Räume (Badezimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer etc.) und den dadurch vorbestimmten Gebrauch: „We are taught to use different rooms within our house for specific actions: we sleep in the bedroom, we eat in the kitchen, we clean ourselves in the bathroom. What would happen if these actions were mixed by misplacing the furniture that supports them? What if taking a bath could be as exciting as being at the beach, if the bathtub was maybe in the living room?“62 Die Collage Home Revolution negiert die Aufteilung und Einteilung des Wohnens und unterbricht die festgelegten Wohnroutinen durch bestimmte Rekonfigurationen, sie stellt den Gebrauch der Wohnräume um und stellt Konzepte von Privatheit neu zusammen. Die gleichzeitige Grobheit der Collage lässt aber auch Spielraum für eine Vielzahl von Möglichkeiten des Bewohnens dieser neuen Wohnsituationen. Power ist eine Collage, die als Wettbewerbsbeitrag zur Gestaltung der RIBA Architecture Gallery (Royal Institute of British Architects) entstanden ist und erforscht, wie das zeitgenössische Zuhause als Kulisse für patriarchale Wohn- Aufführungen fungiert. EDIT bezieht sich hier auf Judith Butlers Überlegung zur Gender-Performativität und untersucht performative Aspekte des Wohnens in einer durch Architektur materialisierte Wohnkulisse. Durch die Anordnung von Wänden, Korridoren, Gängen und Möbeln werden devices geschaffen, die den Körper in bestimmte Handlungen drängen und gleichzeitig andere Tätigkeiten verunmöglichen. In EDITs Collage Power wird der Korridor, der die Rolle des Teilens und Unterscheidens zwischen unterschiedlichen Ritualen und Funktionen, Dienenden und Bedienten räumlich markiert, aufgelöst. Die so verbleibende Ansammlung von Räumen und die darin verschobenen Objekte bieten nun eine Bühne für neue, andere Auftritte und Aufführungen. Die so entstandene Collage gibt keine klaren Anweisungen für das Bewohnen mehr, den Betrachter*innen werden eher Denkanstöße für Möglichkeiten des Bewohnens gegeben.
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https://www.editcollective.uk/home-revolution (10.10.2021).
3.2 Das politisch-aktivistische Bild Die Bilder zu Alternative Histories sind eine Serie von schnell produzierten und leicht zugänglichen Gifs und Collagen. Alternative Histories zeigt bekannte Bilder aus der Populärkultur, die vertraute Verhaltensmuster im Wohnalltag zeigen. EDIT entwickelte durch kleine Interventionen in Form von Verschiebungen und Manipulationen fiktive, andere Erzählungen über den Wohnalltag. „The contemporary home is a political project, hidden beneath stylistic flourishes and clichés. The status quo is upheld and reproduced through a wealth of media, cultural norms, and consumer trends. In order to undermine these established hierarchies, this project seeks to understand and subvert the media that supports them.“63 In allen drei Collagen bearbeiten EDIT konfliktuale Themenfelder des Wohnens, die aus den optimierten, inszenierten und konsumierbaren digitalen Wohnbildwelten sonst konsequent ausgelagert worden sind. Die visuellen Interventionen erproben die Reorganisation des Häuslichen und regen alternative Formen des Zusammenlebens an. Die einfache Lesbarkeit von EDITs Bildern – „accessible for all“64 – forciert die Auseinandersetzung der Vielen mit neuen und anderen Formen des Häuslichen, von genderspezifischer Raumaneignung bis zur Aufhebung räumlich segregierter Funktionszuweisungen.
63 https://www.editcollective.uk/alternative-histories (10.10.2021). 64 Vortrag von EDIT Collective, Projective Cities Guest Lecture, AA School of Architecture, Mai 2020, https://www.youtube.com/watch?v=fCYaLOv40Jc (10.10.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise
Abb. 3_6: Alternative Histories, Collage von EDIT, 2020.
3.2.5 Auflösen und öffnen: Mona Mahall & Asli Serbest Der bereits eingeführte Begriff des ästhetischen Regimes von Jacques Rancière zielt darauf, die hierarchische Aufteilung des Sinnlichen aufzuheben und durch diese Öffnung bisher nicht Gesehenes sichtbar werden zu lassen.65 Der dadurch ebenfalls geöffnete Raum des Politischen kann auch als „Erscheinungsraum, in dem unterschiedliche Stimmen und Perspektiven in Auseinandersetzung stehen“, beschrieben werden.66 Auch die Arbeiten von Asli Serbest und Mona Mahall67 unterbrechen immer wieder festgelegte Einteilungen, da sie neue Sichtbarkeiten herstellen 65 Vgl. Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, S. 86. 66 Schober, Anna: Ästhetik des Politischen, https://journals.univie.ac.at/index. php/oezg/article/view/4142/3901 (20.12.2021). 67 Die international ausgestellten bzw. publizierten Projekte und Arbeiten der 2010 gegründeten gemeinsamen Arbeitspraxis von Asli Serbest und Mona Mahall sind auf ihrer Website https://m-a-u-s- e-r.net zu finden.
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3. Drawing Housing Otherwise
Abb. 3_6: Alternative Histories, Collage von EDIT, 2020.
3.2.5 Auflösen und öffnen: Mona Mahall & Asli Serbest Der bereits eingeführte Begriff des ästhetischen Regimes von Jacques Rancière zielt darauf, die hierarchische Aufteilung des Sinnlichen aufzuheben und durch diese Öffnung bisher nicht Gesehenes sichtbar werden zu lassen.65 Der dadurch ebenfalls geöffnete Raum des Politischen kann auch als „Erscheinungsraum, in dem unterschiedliche Stimmen und Perspektiven in Auseinandersetzung stehen“, beschrieben werden.66 Auch die Arbeiten von Asli Serbest und Mona Mahall67 unterbrechen immer wieder festgelegte Einteilungen, da sie neue Sichtbarkeiten herstellen 65 Vgl. Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics, S. 86. 66 Schober, Anna: Ästhetik des Politischen, https://journals.univie.ac.at/index. php/oezg/article/view/4142/3901 (20.12.2021). 67 Die international ausgestellten bzw. publizierten Projekte und Arbeiten der 2010 gegründeten gemeinsamen Arbeitspraxis von Asli Serbest und Mona Mahall sind auf ihrer Website https://m-a-u-s- e-r.net zu finden.
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild und dadurch den Horizont neu aufteilen. „Für uns [Asli Serbest und Mona Mahall] ist klar, dass ästhetische (architektonische) und politische Formen ineinander verschaltet sind und dass jede von ihnen in der Lage ist, die Ordnungsmacht der anderen zu stören. Darin liegt das radikale Potential: in Akten der Umordnung (rearrangement), in denen die sinnliche Form aufgebrochen wird, um die Art und Weise, wie Ordnung in ihr eingerichtet ist, infrage zu stellen.“68 Die daraus entstehenden Formate von Denkmodellen – zu denen auch Bilder gehören – können als gegenhegemoniale Bilder gelesen werden. Sie sind geprägt von einem Interesse an physischen oder digitalen Spekulationen und möglichen Verzerrungen und Variationen, die so klassische Einteilungs- und Bewertungssysteme in Frage stellen und das Feld des Politischen öffnen und umordnen. Serbests und Mahalls Feminist Utopian Spaces Lexicon ist eine spekulative Forschung, die architektonische Projektionen utopischer Ideen und Visionen für alternative Zukünfte aus einer feministischen Perspektive sammelt. Es präsentiert Denk- und Praxisströmungen zwischen 1918 bis 2018 und versteht sich als Gegenreaktion auf die vorherrschenden ideologischen Implikationen und Auswirkungen der Moderne. Es stellt die Frage, warum sich architektonische Utopien seit den 1960er Jahren (Archigram, Superstudio, Haus-Rucker-Co) bisher nicht von ihren maskulin-patriarchal, technopositiven und kolonialen Sichtweisen befreien konnten. „Frauen und nicht-binäre Personen fehlen dabei komplett, als ob sie nicht utopisch denken würden“, schreiben Serbest und Mahall.69 Diese Problematik behandeln sie auch in ihrer ins Lexikon aufgenommenen Collage hilberseimer, grid, bride (2018), die Ludwig Hilberseimers Projekt einer Hochhausstadt (1924) und die Fotografie des Braut-Hauses inklusive Braut aus House Beautiful70 (1956) auf einem Raster zeigt. „A cardboard model of a suburban semi-detached house (with a bride) put in a context of a radically rationalized urbanity.“71 Die Collage zeigt zwei Versionen moderner Wohnformen, in denen Architektur bzw. die Produktion von Raum als Modus des sozialen und politischen Engagements
68 Mahall, Mona/Serbest, Asli: Praxis. Mona Mahall, Asli Serbest, in: ARCH+ 246 Zeitgenössische feministische Raumpraxis, 2022, S. 110–11, hier S. 110. 69 Ebd., S. 114. 70 House Beautiful ist ein US-Magazin für Inneneinrichtung und Dekoration im Wohnen. Es besteht seit 1896 und ist eines der ältesten Wohnmagazine. 71 Mahall, Mona/Serbest, Asli: Feminist Utopian Spaces Lexicon, https://m-a-u-s-e-r. net (18.2.2022).
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3. Drawing Housing Otherwise mit feministischer Agenda unsichtbar geblieben ist. Das Bild fordert ein, feministische Ansätze des Utopischen neu zu denken und dadurch bisher marginalisierte Optionen des Zusammenlebens zu erfinden. Feminist Utopian Spaces Lexicon ist eine fragmentarische Sammlung, die durch Bilder, Pläne und Modelle Momente des Überdenkens ermöglicht und so das abgesteckte Feld des Architekturkanons wieder öffnet bzw. das bestehende Archiv verändert. Serbest und Mahall beschreiben, dass sie vor allem Interesse an kleinen Fundstücken, Fragmenten, Figuren, Orten und Riten haben, die Diskrepanzen in sich tragen und so Beweglichkeit und politische Möglichkeiten eröffnen.72 Hilberseimer, grid, bride und andere Arbeiten aus dem Feminist Utopian Spaces Lexicon machen sichtbar, wer und was an einer kollektiven Archivierung von Wissen teilhaben kann und welche Erzählungen ausgeschlossen werden und unentdeckt bleiben. „Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Bestätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist.“73 Dieses System versucht das Feminist Utopian Spaces Lexicon zu öffnen, zu erweitern und neu zu denken. Das Auflösen von Grenzen und die damit einhergehende Öffnung des Horizonts durch gegenhegemoniale Bilder befördern ein spielerisches Neusortieren von architektonischen Geschichten und Wissensformen. In der kleinformatigen, Fanzine-ähnlichen Publikationsreihe Junk Jet, die Mahall und Serbest zwischen 2007 und 2012 herausbrachten, werden konventionelle Darstellungsformen und Denkmodelle unterlaufen. „It is about wild forms and found objects, about weird theories and (small) narratives, anti-fashions and non-styles, about exploring do-it-yourself works, accidental outcomes, deviant and normal aesthetic forms that result from jammed common practices, old media, and subverted customary tools.“74 Die einzelnen Ausgaben beschäftigen sich mit Scheitern und Lärm (Nr. 1), architektonischer und räumlicher Arbeit (Nr. 2), temporären Typen und stabilen Ereignissen (Nr. 3), dem Nichts (Nr. 4), dem Internet (Nr. 5) und lokalen Räumen in einer globalen Kultur (Nr. 6). Die Hefte vermitteln ein „Hingezogen-Sein zu Wesen, Dingen und
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Vgl. https://m-a-u-s-e-r.net (24.2.2022). Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26. http://junkjet.net (24.2.2022).
3.2 Das politisch-aktivistische Bild
Abb. 3_7: hilberseimer, grid, bride, Collage von Asli Serbest, Mona Mahall, 2018.
Wissensformen“75 und lassen ein Rauschen zu einem Signal werden.76 Im Bann dieses Rauschens aus Bildern, Texten und Theorien entsteht ein kollaboratives Format, in dem unterschiedliche Raumpraktiken neu ausverhandelt werden können. Vielheit, Komplexität und Widerspruch lösen dabei Grenzen, Konventionen und Diskursfelder auf.
3.2.6 Kollektivität und Organisation Neben den bereits diskutierten Begriffen Agitation und Propaganda nennt Oliver Marchart noch die Organisation als eine Form des Widerstands in politisch-aktivistischer Kunst. So entsteht ihm zufolge „an aesthetics, that is, of propagating, agitating, and organizing as three interconnected ways of
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Mahall, Mona/Serbest, Asli: Praxis, S. 110. Vgl. http://junkjet.net (24.2.2022).
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild
Abb. 3_7: hilberseimer, grid, bride, Collage von Asli Serbest, Mona Mahall, 2018.
Wissensformen“75 und lassen ein Rauschen zu einem Signal werden.76 Im Bann dieses Rauschens aus Bildern, Texten und Theorien entsteht ein kollaboratives Format, in dem unterschiedliche Raumpraktiken neu ausverhandelt werden können. Vielheit, Komplexität und Widerspruch lösen dabei Grenzen, Konventionen und Diskursfelder auf.
3.2.6 Kollektivität und Organisation Neben den bereits diskutierten Begriffen Agitation und Propaganda nennt Oliver Marchart noch die Organisation als eine Form des Widerstands in politisch-aktivistischer Kunst. So entsteht ihm zufolge „an aesthetics, that is, of propagating, agitating, and organizing as three interconnected ways of
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Mahall, Mona/Serbest, Asli: Praxis, S. 110. Vgl. http://junkjet.net (24.2.2022).
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3. Drawing Housing Otherwise
Abb. 3_8: Cover der Junk Jet Nr. 3: flux-us! flux-you!, 2010.
rehearsing antagonism“.77 Ich möchte den Begriff der Organisation hier als organsierte Gemeinschaft weiterdenken, einerseits als ein Agieren im Kollektiv durch die Produktion von Bildern im Sinne von drawing otherwise, andererseits aber auch als gemeinschaftliches Teilhaben an diskursiven Prozessen, die von gegenhegemonialen Bilder ausgelöst werden. Kollektive, gemeinschaftliche Praktiken sind auch Formen des Widerstands gegen dominante Strukturen wie den immer noch bestehenden Geniekult im Feld der Kunst. Gemeinschaftliches Arbeiten im Kollektiv, das einen ständigen Diskurs der Beteiligten erzeugt, eröffnet Räume und Möglichkeiten für ein widerständiges Architekturhandeln. Die vorherrschende Architekturproduktion baut auf dem hegemonialen Konzept von Autor*innenschaft auf. Natalie Donat-Cattin merkt hierzu an: „In the
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Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics, S. 30.
3.2 Das politisch-aktivistische Bild history of architecture, the concept of author has in many cases prevailed over the concept of collaboration.“78 So ist es nicht verwunderlich, dass die Architekturgeschichte vom Vergessen der mitwirkenden Kollaborateur*innen bedeutender Architekturprojekte geprägt ist: Der Einfluss Lilly Reichs auf die Architektur von Ludwig Mies van der Rohe, die Kollaborationen Le Corbusiers mit seinem Cousin Pierre Jeanneret oder mit Charlotte Perriand waren Jahrzehnte unbekannt, da sie nicht genannt wurden, um die Autorität des Genies nicht zu schwächen. Um die 2000er Jahre erreichte der Stararchitekt*innen-Kult rund um Frank Gehry, Rem Koolhaas, Zaha Hadid und andere seinen Höhepunkt, doch gleichzeitig lag hier auch der Beginn einer Krise. Im Laufe der letzten Jahre sind daher auch nicht-hierarchische Gegenbewegungen als Alternative entstanden. So beschreiben EDIT ihr Denken und Arbeiten im Kollektiv so: „No voice is less important than the other“.79 Keine Zeichnung und kein Projekt des Kollektivs ist daher Eigentum einer Person, individuelle Urheberinnen existieren bei EDIT nicht. Für (ab)Normal bedeutet kollektives Handeln, dass alle Beteiligten Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte haben. Dabei ist geografische Nähe und physische Präsenz weniger ausschlaggebend für Gemeinschaftlichkeit als das gegenseitige Verstehen und Miteinander-Sprechen. Die Mitglieder von (ab)Normal leben verstreut in Europa (Rotterdam, Mailand und Basel) und kommunizieren in einer digitalen Umwelt mit digitalen Werkzeugen. Als Kollektiv kennt (ab)Normal keine starren Grenzen, es können immer wieder Anschlussstellen für weitere Verbindungen mit Kollaborateur*innen für neue Projekte eingegangen werden. Natalie Donat-Cattin schreibt in Collective Processes. Counterpractices in European Architecture (2022), dass im Kollektiv ähnliche Visionen der Beteiligten vereint werden, aber Offenheit, Fairness und Freundschaft auch weiterhin Vielfalt erlauben. „Collective states, on the one hand, the possibility to aggregate when for instance a series of individuals come together because they share the same vision – and on the other hand a sense of multiplicity – when the same individuals, while still recognizing themselves as a joint entity, choose not to conform to it, relying on a system of collective trust
78 Donat-Cattin, Natalie: Collective Processes. Counterpractices in European Architecture, Berlin 2022, S. 11. 79 Vgl. Vortrag von EDIT Collective, Projective Cities Guest Lecture, AA School of Architecutre, Mai 2020, https://www.youtube.com/watch?v=fCYaLOv 40Jc (10.10.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise and personal freedom.“80 Organisation oder das gemeinschaftliche Arbeiten bedeuten jedoch nicht, dass nur Kollektive gegenhegemoniale Bilder erzeugen können. Wie die Arbeiten von Mahall und Serbest zeigen, bedarf es für politisch-aktivistisches Denken, Handeln und Produzieren nicht des Labels „Kollektiv“. Es geht vielmehr um ein Interesse am Gemeinschaftlichen und Kollektiven, die Auseinandersetzung mit Organisationsformen von Gemeinschaft sowie das kritische Hinterfragen von etablierten Arbeitsstrukturen im Feld der Architektur. Kollektives Denken und Arbeiten sind ein klares Gegenmodell zur Idee des isolierten Subjekts als Einzelgenie, denn wie wir arbeiten und denken, planen und zeichnen, prägt auch, was hervorbracht wird: die Bilder, Räume, Ideen und Spekulationen über das Hier und Jetzt. So erzählt Luigi Savio von (ab)Normal, dass das kollektive Zeichnen wie das Spiel Cadavre Exquis ist: Irgendjemand beginnt mit etwas, jemand anderes fügt etwas hinzu, dann der*die Nächste und so weiter.81 In diesem Prozess des teilweise unkontrollierten Zeichnens mit seinen vielen Beteiligen und einem ungewissen Ausgang wird ein Bild nach dem anderen gemeinschaftlich erfunden. Diese kollektive Bildproduktion von (ab)Normal steht im klaren Widerspruch zu klassischen Produktionsabläufen im Feld der Architektur. Gemeinschaft existiert jedoch nicht nur im Rahmen des kollektiven Arbeitens, sondern bedeutet auch Austausch und Dialog in anderen Maßstäben der Gesellschaft. So wird das Zeichnen an den Collagen der abnormal_story als persönliche und zugleich kollektive Befragung gesehen, durch das spätere Publizieren auf dem Instagram-Account @abnormal_story wird jedoch auch der Austausch mit einer Öffentlichkeit gesucht. Der kollektive Austausch mit einer Öffentlichkeit findet sich auch in der Arbeitsweise von Mahall und Serbest. „The aim is to gather to collectively (re-)consider rejected knowledge and to find alternative modes of organizing our lives, schools, online and offline movements.“82 Der Begriff des Kollektiven oder Gemeinschaftlichen kann durch gegenhegemoniale Bilder auf die Gesellschaft ausgeweitet werden. So spricht EDIT von der Notwendigkeit eines collective unlearning – also davon, dass wir als Gesellschaft Dinge auch kollektiv wieder „verlernen“ müssen, um zu lernen, unsere Umwelt oder auch das Wohnen auf eine neue, andere Art
80 Donat-Cattin, Natalie: Collective Processes, S. 14. 81 Vgl. Savio, Luigi/Inselvini, Mattia (ab)Normal: Share Screen Architecture, Wohngespräch mit Michael Obrist und Bernadette Krejs, TU Wien, Mai 2021. 82 https://m-a-u-s-e-r.net/ (20.2.2022).
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3.2 Das politisch-aktivistische Bild zu verstehen. EDITs bereits erwähnte Serie Alternative Histories setzt sich auch mit Fragen zur Hausarbeit auseinander, einem gesellschaftlichen Themenfeld, in dem viel umgelernt, umgedacht und neugedacht werden könnte. Dass das Wohnen auch ein Ort unsichtbarer, unbezahlter Reproduktionsarbeit ist, wird aus den hegemonialen Bildwelten auf Instagram gekonnt ausgeklammert. Elke Krasny schreibt dazu: „Immer noch wird die reproduktive Arbeit als eine Art von Arbeit aufgefasst, die sich, was das politische Verständnis dieser Arbeit angeht, außerhalb der Logiken der Industrialisierung bewegt […].“83 Durch die Ablösung des fordistischen Industriekapitalismus in den 1970er Jahren und durch das neue Regime eines globalisierten, flexibilisierten und beschleunigten Kapitalismus expandierte dieses Denken auch in das häusliche Territorium.84 Am Wohnort, an dem reproduktive, immaterielle Care- oder Sorgearbeit geleistet wird, bildet sich ein care gap.85 Ein Graben, der zwischen Männern und Frauen, Wohlhabenden und Nichtvermögenden oder einfach Privilegierten und Nicht-Privilegierten weiterhin besteht und durch Bilder normalisiert wurde und wird. Die Collagen aus der Serie Alternative Histories von EDIT laden zum collective unlearning ein, indem zum Beispiel spielerisch vorgeschlagen wird, die unsichtbare Arbeit des Sorge-Tragens zum kollektiven Handeln des gemeinsamen familiären Wäschewaschens zu machen. Die Kollektivierung der Hausarbeit legt Machtstrukturen zwischen Geschlechtern und Klassen offen und steht im klaren Gegensatz zur kapitalistischen Annahme, dass Hausarbeit am effizientesten ist, wenn sie individuell, unsichtbar, schlecht bezahlt und von einigen wenigen verrichtet wird. „We need to stop designing for growth, and start designing for care“, lautet EDITs Plädoyer.86 Das Ausverhandeln von anderen, neuen Wissensformen kann kollaborativ und gemeinschaftlich gelingen, um so Vielfalt statt Uniformität zu erzeugen. Die aus der Organisation der Gemeinschaft entstehenden gegenhegemonialen Bildpraxen sind offen und umfassend, weniger festlegend und eröffnen dadurch Diversität und Vielfalt.
83 Krasny, Elke: Die Hausarbeit überdenken. Die postindustrielle Haushaltsfrage, in: dies./Bittner, Regina (Hg.): Auf Reserve: Haushalten! Historische Modelle und aktuelle Positionen aus dem Bauhaus, Leipzig 2015, S. 322–329, hier S. 324. 84 Vgl. ebd., S. 324. 85 Zum Begriff des care gap vgl. Krasny, Elke: Die Wohnfrage. Von den Maßstäben der Sorge., in: ARCH+244 Wien, 2021, S. 532–55, hier S. 53. 86 https://www.editcollective.uk/future-architecture (10.10.2021).
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Kapitel 3.3 fragt nach dem Zusammenhang von Sichtbarkeitspolitiken und gegenhegemonialen Bildwelten. Warum sind gegenhegemoniale Bilder des Wohnens im Alltag kaum sichtbar, insbesondere auf digitalen Plattformen wie Instagram? Die allgemeine Logik der Plattformökonomie, die durch die Kapitalisierung von Daten vorangetrieben wird und durch Algorithmen umgesetzt wird, verunmöglicht Sichtbarkeiten, die im Wiederspruch zu dieser Logik stehen. Wenn also Bilder und Handlungen, die als Daten aufgezeichnet werden, nicht dem Erzielen von mehr Werbeeinahmen dienen können, dann werden sie in den Unmengen von Aktivitäten auf den großen Plattformen verschwinden. Das Auswählen von bestimmten Sichtbarkeitsformen ist kein Novum, auch andere Medien tragen durch eine kuratierte Auswahl bestimmter Bildtypen zu einem abgesteckten Geschichtsnarrativ von Architektur, Raum und Wohnen bei. Diese etablierten Sichtbarkeitspolitiken manifestieren eine kanonisierte Geschichtsschreibung. So entstehen Bilder, Sichtweisen und Blicke, die durch bestimmte strukturelle Bedingungen bevorzugt, immer wieder reproduziert und selten hinterfragt und dadurch letztlich dominant werden. Doch warum ist die Produktion und Sichtbarkeit von gegenhegemonialen Bildwelten wichtig und notwendig? Welche Möglichkeiten eröffnen diese Bilder für ein differenziertes Raum- und Wohnverständnis? Gegenhegemoniale Bilder denken Raum nicht statisch und fixiert, vielmehr zeigen sie unterschiedliche Wechselbeziehungen und Unvorhersehbarkeiten, aus denen sich Raum konstituieren kann, auf und machen dadurch Prozesse von Multiplizität sichtbar. Es stellt sich also die Frage, wie mehr Sichtbarkeit für gegenhegemoniale Bildwelten erzeugt werden kann. Daran anschließend soll zudem gefragt werden, ob digitale Plattformen eine Rolle zur Sichtbar-Machung von gegenhegemonialen Bildwelten beitragen können. Die großen monopolistischen Plattformunternehmen wie Facebook (Meta) scheinen dafür nicht in Frage zu kommen. Könnten also öffentliche Plattformen, wie sie Nick Srnicek in Plattform-Kapitalismus (2018) diskutiert, tatsächlich ein Möglichkeitsraum für die Sichtbarkeit von gegenhegemonialen (Wohn-)Bildwelten werden? Der Möglichkeitsraum für eine sichtbare gegenhegemoniale Bildpraxis und die daraus entstehenden Chancen für einen anderen Blick auf Raum und Wohnen ist zwar eng, doch er existiert. Die Notwendigkeit, dringliche Themen durch gegenhegemoniale Bilder sichtbar zu machen, ist im fortschreitenden Kapitalismus des 21. Jahrhun-
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3. Drawing Housing Otherwise dert auch eine Möglichkeit, andere Formen von Gemeinschaft, Wohnen und dem Umgang mit unserer Umwelt auszutesten. Denn der private Wohnraum ist längst nicht mehr nur Rückzugsort, sondern kann durch sein Ausgestellt-Sein auch ein Ort des visuellen Widerstandes durch Bilder und in Bildern werden.
3.3.1 Über die Unsichtbarkeit gegenhegemonialer Bilder Plattform-Kapitalismus und Algorithmen Gegenhegemoniale Bilder haben in einer Plattform-Welt, die durch Kapitalisierungslogiken wie die der Profitmaximierung geprägt ist, keine Bedeutung, da sie im Sinne der Plattformökonomie nicht ausreichend verwertbar sind. Wie ist das zu verstehen? Wie bereits dargelegt, agieren gegenhegemoniale Bildwelten politisch-aktivistisch und stellen bestehende Strukturen mit ihren Idealen der Optimierung, Effizienz und einer allumfassenden Kapitalisierung von Alltagstätigkeiten in Frage. Gegenhegemoniale Bilder können Systeme von Macht, Ausbeutung und Konflikt sichtbar machen. Es kommt zu einer Aufteilung des Sinnlichen, wie Jacques Rancière es nennt, der Horizont öffnet sich und wird neu oder anders sortiert. Diese Handlungsfähigkeit von gegenhegemonialen Bildern steigert aber weder den Wert einer bestimmten Ware (wie etwa der Wohnung selbst oder einzelner Wohnobjekte), noch evoziert sie Bedürfnisse und Wünsche nach mehr Konsum. Gegenhegemoniale Bilder stehen also im genauen Gegensatz zu den in Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, beschriebenen digitalen Wohnbildwelten, die durch starke Zirkulation und ihre ästhetisierte Erscheinungsform zu immer mehr Konsum und Aktivität anregen. Viel Aktivität durch Konsum wird auch vom Algorithmus bevorzugt und verschafft Sichtbarkeit im Feed. Wie bereits in Kapitel 2.2, Plattformen, dargelegt, sind Technologieunternehmen wie Facebook (Meta) wirtschaftliche Akteurinnen einer kapitalistischen Produktionslogik. David Harvey schreibt, das Überleben des Kapitalismus hänge von der Fähigkeit ab, eine durchschnittliche
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3. Drawing Housing Otherwise dert auch eine Möglichkeit, andere Formen von Gemeinschaft, Wohnen und dem Umgang mit unserer Umwelt auszutesten. Denn der private Wohnraum ist längst nicht mehr nur Rückzugsort, sondern kann durch sein Ausgestellt-Sein auch ein Ort des visuellen Widerstandes durch Bilder und in Bildern werden.
3.3.1 Über die Unsichtbarkeit gegenhegemonialer Bilder Plattform-Kapitalismus und Algorithmen Gegenhegemoniale Bilder haben in einer Plattform-Welt, die durch Kapitalisierungslogiken wie die der Profitmaximierung geprägt ist, keine Bedeutung, da sie im Sinne der Plattformökonomie nicht ausreichend verwertbar sind. Wie ist das zu verstehen? Wie bereits dargelegt, agieren gegenhegemoniale Bildwelten politisch-aktivistisch und stellen bestehende Strukturen mit ihren Idealen der Optimierung, Effizienz und einer allumfassenden Kapitalisierung von Alltagstätigkeiten in Frage. Gegenhegemoniale Bilder können Systeme von Macht, Ausbeutung und Konflikt sichtbar machen. Es kommt zu einer Aufteilung des Sinnlichen, wie Jacques Rancière es nennt, der Horizont öffnet sich und wird neu oder anders sortiert. Diese Handlungsfähigkeit von gegenhegemonialen Bildern steigert aber weder den Wert einer bestimmten Ware (wie etwa der Wohnung selbst oder einzelner Wohnobjekte), noch evoziert sie Bedürfnisse und Wünsche nach mehr Konsum. Gegenhegemoniale Bilder stehen also im genauen Gegensatz zu den in Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, beschriebenen digitalen Wohnbildwelten, die durch starke Zirkulation und ihre ästhetisierte Erscheinungsform zu immer mehr Konsum und Aktivität anregen. Viel Aktivität durch Konsum wird auch vom Algorithmus bevorzugt und verschafft Sichtbarkeit im Feed. Wie bereits in Kapitel 2.2, Plattformen, dargelegt, sind Technologieunternehmen wie Facebook (Meta) wirtschaftliche Akteurinnen einer kapitalistischen Produktionslogik. David Harvey schreibt, das Überleben des Kapitalismus hänge von der Fähigkeit ab, eine durchschnittliche
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Wachstumsrate von 3 Prozent zu erreichen.87 Dieses Kapital müsse in unterschiedlichen activtiy spheres (Handlungsbereichen) erwirtschaftet werden.88 Daten spielen bei dieser Kapitalgenerierung eine immer wichtigere Rolle. Plattformen wie Facebook und Instagram sammeln Informationen über ihre Nutzer*innen, indem sie alle Handlungen aufzeichnen. Diese Daten werden dann aufbereitet und ihre Ergebnisse werden dazu genutzt, Werbefläche zu verkaufen. Werbeplattformen wie Facebook, aber auch Google generieren ihre Einnahmen hauptsächlich über Werbung; so stammten z.B. 96,8 Prozent der Einnahmen von Facebook im ersten Quartal 2016 aus solchen Werbeeinnahmen.89 Um Kapital laufend zu steigern, bedarf es immer neuer Wege, Märkte und Waren, die Zirkulation und Bewegungen vorantreiben. Durch die Verarbeitung großer Datenmengen werden auch die selbstlernenden, KI-basierten Algorithmen trainiert und optimiert, die dafür verantwortlich sind, welche Inhalte (Bilder) im Feed der jeweiligen Plattform gezeigt wird. Was letzten Endes User*innen auf ihrem Instagram-Account angezeigt bekommt, ist kaum noch nachvollziehbar, jedoch gibt es bestimmende Parameter, die für den Instagram-Algorithmus entscheidend sind. So ist etwa die Verweildauer von Nutzer*innen auf einer Seite ein Indiz für Interaktion und Interesse an möglicher Konsumation. Frances Haugen, ehemalige Facebook-Mitarbeiterin und Whistleblowerin im Fall der 2021 veröffentlichten Facebook Papers, weist drauf hin, dass vor allem Reaktionen der User*innen entscheidend dafür sind, wie sich der Algorithmus anpasst oder weiterentwickelt.90 Das sogenannte reaktionsbedingte Ranking (engagement-based ranking) platziert Inhalte im Feed abhängig von der Zahl der User*innen-Reaktionen und reguliert dadurch ihre Sichtbarkeit. Die Algorithmen bevorzugen also Bilder, die bei vielen Nutzer*innen eine Reaktion hervorrufen. Aktivitäten wie Liken, Sharen, Shoppen, Verlinken usw. erhöhen somit die eigene Sichtbarkeit im Feed. Die in Kapitel 2.4, Instagram-Wohnen, besprochenen Home-&-Interior-Accounts folgen diesem Prinzip der
87 Harvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden, Hamburg 2014, S. 129. 88 Vgl. ebd., S. 221. 89 Srnicek, Nick: Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 55. 90 Vgl. Interview mit Frances Haugen, geführt mit ZDF Magazin Royale: facebook Papers, Dez. 2021, https://www.youtube.com/watch?v=ws06adOKNUk (27.2.2022).
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3. Drawing Housing Otherwise ständigen Zirkulation durch Interaktion. So zieht Emily Hendersons erfolgreicher Instagram-Account (@em_henderson) vor allem durch ständig neuen Inhalt, Verlinkungen, Kooperationen und Shopping-Möglichkeiten Follower*innen an. Ohne dass Henderson irgendetwas Konkretes produziert oder eine Dienstleistung anbietet, sind ihre Posts durch die hohe Interaktionsrate (engagement) verfügbar und immer sichtbar. Da Unternehmen wie Facebook an maximalem Wachstum interessiert sind, ist das reaktionsbedingte Ranking trotz der damit verbundenen negativen Folgen91 kein Grund für das Unternehmen, sein Ranking diverser zu gestalten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Instagram-Algorithmus die User*innen in den immer gleichen Echokammern „gefangen“ hält. Dieses Phänomen ist auch bei den Home-&-Interior-Accounts auf Instagram zu beobachten: Dadurch, dass dieselben Inhalte immer wieder von ähnlichen Accounts geteilt und verlinkt werden, werden die homogenisierten, weißen Luxuswohnzimmer aus einigen wenigen möglichen Stilen (Landhaus, Skandinavien und Vintage) durch die Netzwerkeffekte als einzig mögliche Wohnoption immer wieder in unsere Feeds katapultiert. Nicht fesselnde Inhalte, die keinen anger, wenige Klicks und vor allem keinen Konsum erzeugen, dürfen zwar auf den großen Plattformen existieren, bringen aber wenig engagement und sind daher für die Profitmaximierung im Plattformkapitalismus unbedeutend. Kein Facebook- oder Instagram-Algorithmus wird diesen Inhalten zur Sichtbarkeit verhelfen. Der Instagram-Algorithmus beeinflusst uns: Was wir sehen, was wir kennen, was wir gelernt haben, wurde uns zuvor auf Instagram bereits gezeigt und beigebracht: Welche Ideale erreicht werden sollen, welche Sofas zu kaufen sind und wem man am besten folgt. Frances Haugen formuliert es im Hinblick auf Facebook so: „If people realised that by the time they show up in the polling booth, the ideals they get to vote on have already been
91 Frances Haugens Enthüllungen machten öffentlich, dass Anzeigen, die potentiell starke negative Gefühle bei den User*innen auslösen, fünf- bis zehnmal billiger verkauft werden als Mitgefühl und Empathie erzeugende Anzeigen. „The fastest way to a click is anger“. Facebook (Meta) ist sich dieser toxischen Komponente bewusst, ändert aber nichts daran. Auch in Bezug auf die Plattform Instagram wurden Daten öffentlich, die zeigten, dass die Plattform negative Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung von jungen Nutzer*innen hat, da engagement-based ranking User*innen immer wieder zu extremen Inhalten wie etwa Storys über Anorexie hinführt, indem ihnen diese Inhalte im Feed vorgeschlagen werden, https://www.youtube.com/watch?v=ws06adOKNUk (27.2.2022).
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit influenced by the facebook algorithm.“92 Denn Plattformen wie Instagram oder Facebook sind keine leeren Räume, die uns frei zur Verfügung stehen, in denen wir uns unabhängig entfalten und eigene Entscheidungen treffen können, es sind privatisierte Räume monopolistischer Unternehmen, die von Algorithmen orchestriert werden.
Die sichtbare Macht der Geschichtsschreibung Doch auch abseits der kapitalistischen Marktlogik der Plattform-Ökonomie stellt sich die Frage, wer über Sichtbarkeit entscheidet: Jedes Bild und jede Zeichnung muss zunächst publiziert, ausgestellt, gepostet, gedruckt, geteilt und somit medial reproduziert werden. Erst durch den Akt der Vervielfältigung wird Sichtbarkeit generiert. Im Feld der Architektur waren es vor allem einflussreiche Ausstellungen und Publikationen, die ausgewählten Bildern von Bauwerken und Projekten zu Sichtbarkeit verhalfen und ihnen somit meist auch einen Platz in der Architekturgeschichtsschreibung – dem Kanon – sicherten. Heute ist vor allem die mediale Präsenz von Architekturprojekten auf Websites wie ArchDaily, Dezeen oder Architizer entscheidend. Alleine auf die Website ArchDaily greifen monatlich ca. 17,9 Millionen Menschen zu,93 auf Instagram folgen @archdaily noch einmal über 3,4 Millionen.94 So bestätigt auch Bjarke Ingels (BIG Architects): „Within the field of architecture, ArchDaily is the one place where everything is going to be.“95 Welche Bilder von Architektur (oder Wohnformen) auf ArchDaily, in Ausstellungen oder in Publikationen gezeigt wird, wird meist von einer Redaktion, einer Fachjury oder Kurator*innen entschieden. Gegenhegemoniale Bilder haben daher in diesem Kontext bessere Bedingungen und Chancen, Sichtbarkeit zu erlangen, als auf den großen Plattformen. So stellt z.B. ArchDaily jährlich die besten Architekturzeichnungen vor. Die Sammlungen enthalten ein breites Spektrum an Zeichnungen, doch auch
92 Ebd. 93 Quelle: https://www.archdaily.com/content/about?ad_source=jv-header&ad_ name=hamburger_menu (10.2.2022). 94 Quelle: https://www.similarweb.com/de/website/archdaily.com/#interests (10.2.2022). 95 https://www.archdaily.com/content/about?ad_source=jv-header&ad_name= hamburger_menu (10.2.2022).
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3. Drawing Housing Otherwise ArchDaily buhlt in seinen Posts um die Aufmerksamkeit von User*innen. So werden hauptsächlich Bilder gezeigt, die spektakuläre Architektur ohne jeglichen Kontext präsentieren.96 Gegenhegemoniale Bilder heben sich jedoch nicht durch ihre bildliche Andersartigkeit oder Neuheit ab, sondern dadurch, dass sie Hegemonien herausfordern und konfliktuale Widersprüchlichkeiten thematisieren. Werden sie jedoch auf ein neuartiges visuelles Darstellungserlebnis in einer willkürlichen Sammlung aus Bildern reduziert, geht ihre Handlungsfähigkeit und Wirkmacht verloren. Plattformen wie ArchDaily können vereinzelt Anschlussstellen für gegenhegemoniale Bildproduktion bieten, aber in den seltensten Fällen dem Potential dieser Bilder gerecht werden. Im akademischen Feld der Architektur, im Kontext von Ausstellungen, Publikationen und Lehre (Vermittlung), ist unser Wissen oft auf die Vergangenheit beschränkt. Denn was und wen bekommen wir zu welchen Bedingungen und aus welchen Perspektiven immer wieder zu sehen? Die manchmal eindimensionalen Sichtweisen, die bestimmte strukturelle Bedingungen miterzeugen, können es auch verunmöglichen, über das Vertraute und Erlernte hinaus neue Wissens-, Architektur- oder Bildformen aufzuspüren. Durch die immer gleichen, abgesicherten (Bild-)Quellen wiederholt sich so die Geschichtsschreibung. Die Vielfalt von Produktion, Protagonist*innen, Formen, Bildern und Architektur wird so oft verleugnet, unterdrückt oder ausgelöscht, stattdessen wird die Produktion eines verengten Kanons vorangetrieben. So schreibt das feministische Kollektiv Claiming*Spaces im Introtext der Konferenz Whose History?: „Reflect on the demographics of the architects we are presented within university! The Icon Architect: Lone, never-sleeping genius, middle-class man, white, cis, able … penetrates beyond the boundaries of the university. Architectural practice, city planning, and cultural production are governed by, and produced for this image, thus structurally reproduced again and again.“97 So fällt es auch im akademischen Feld der Architektur gegenhegemonialen Bildern nicht leicht zu bestehen, wahrgenommen und dadurch sichtbar zu werden.
96 Die durchschnittliche Verweildauer auf der Website www.archdaily.com beträgt gut fünf Minuten, https://www.similarweb.com/de/website/archdaily. com/#overview (10.2.2022). 97 Vgl. Whose History?, 2nd Claiming*Spaces Conference, März 2022, https:// www.claimingspaces.org (21.2.2022).
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit
Abb. 3_9: The Best Architectural Drawings of 2021, zusammengestellt von ArchDaily, Screenshot der Website archdaily.com.
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3. Drawing Housing Otherwise
Abb. 3_10: Flagrant Délit, Zeichnung von Madelon Vriesendorp, 1975. Abb. 3_11: Hotel Sphinx, Zeichnung von Zoe Zenghelis und Elia Zenghelis.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Ein historisches Beispiel, das die Macht der Geschichtsschreibung und das gleichzeitige Unsichtbar-Machen von Produzent*innen und Entstehungskontexten verdeutlicht, sind die Zeichnungen von Madelon Vriesendorp und Zoe Zenghelis.
Being an outsider Madelon Vriesendorp98 bezeichnet sich selbst in Bezug auf das Kunstoder Architektursystem als Outsiderin,99 ihre Arbeiten können keinem Feld klar zugeordnet werden. Ihre hybride Praxis macht sie daher innerhalb dieses Systems nicht fassbar, nicht kategorisierbar und somit auch nicht bewertbar, was zur Folge hatte, dass ihre Arbeit im Laufe der Zeit immer weniger Aufmerksamkeit erhielt. Dabei waren Vriesendorps Zeichnungen wie Flagrant Délit (1975) im Museum of Modern Art in New York ausgestellt. Erstmals veröffentlicht wurden sie in Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan (1978), dem Klassiker von Vriesendorps berühmten Ehemann Rem Koolhaas. Vriesendorp und Koolhaas sowie Zoe Zenghelis und deren Ehemann Elia Zenghelis gründeten Mitte der 1970erJahre das Office for Metropolitan Architecture, bekannt als OMA. Die Anfangsprojekte des Büros können als paper architecture bezeichnet werden, da sie vor allem in Gestalt von Bildern und Malereien von Vriesendorp und Zoe Zenghelis in Erscheinung traten. OMA finanzierte sich damals vor allem durch den Verkauf dieser Bilder und Zeichnungen. Später änderte sich das, wie Zoe Zenghelis erzählt: „Once OMA started building, they dumped the painters.“100 Die Erfolgsgeschichte von OMA und Rem Koolhaas, der als einer der einflussreichsten Architekten der Gegenwart gilt, ist bekannt. So wurden Flagrant Délit und andere Zeichnungen von Vriesendorp Teil einer bedeu98 Madelon Vriesendorp wurde 1945 in den Niederlanden geboren und lebt seit Mitte der 1970er Jahre in den USA und im Vereinigten Königreich. 2018 wurde sie mit dem Ada-Louise-Huxtable-Preis ausgezeichnet. 99 Lópes, Diana Ibanez: Career? I have no career! It’s just that I’ve never learnt to say no! says Madelon Vriesendorp, Sep. 2019, https://www.frameweb.com/ar ticle/career-i-have-no-career-its-just-that-ive-never-learnt-to-say-no-saysmadelon-vriesendorp (10.2.2022). 100 Heathcote, Edwin: Zoe Zenghelis: a painter whose medium is architecture, in: Financial Times online, Jänner 2021, https://www.ft.com/content/3346b51d 8587-4459-a3f3-eb429bc13003 (17.9.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise tenderen, mächtigeren Erzählung, die mit Delirious New York begann und von Koolhaas und OMA überflügelt wurde. Das unfreiwillige Unterordnen unter eine andere, mächtigere Geschichte hatte zur Folge, dass Vriesendorps Bilder und Zeichnungen bis heute oft Koolhaas zugeschrieben oder als bloße Auftragswerke für OMA eingeordnet werden – wie kürzlich in Reinier de Graafs Publikation The Masterplan101 (2021) – oder einfach falsche Quellen angegeben werden. Diese Art von Geschichtsschreibung, bei der eine bedeutendere, dominant gewordene Erzählung eine andere vereinnahmt, ist kein Einzelfall und oft das Schicksal von weniger privilegierten Gruppen. Zeichnungen wie Flagrant Délit (1975) von Madelon Vriesendorp oder auch Hotel Sphinx (1978) von Zoe Zenghelis und Elia Zenghelis können auch als gegenhegemoniale Bilder gelesen werden, zumindest in Teilaspekten. Flagrant Délit stellt alle Gesetzmäßigkeiten der Architekturdarstellung seiner Zeit auf den Kopf. Architektur ist nicht mehr etwas Rationales und Abstraktes, sondern die Gebäude, die Menschen und die Stadt sind gleichwertige Wesen, die Eifersucht, Voyeurismus und Sexualität kennen: „Objects become creatures and people become things. It’s a world where buildings have sex lives […].“102 Die freudianischen Traum-Hochhäuser werden zu menschlichen Figuren, die Metropole als „Volk“ vor dem Fenster, das Chrysler Building und das Empire State Building liegen zusammen im Bett und werden dort vom Rockefeller Center überrascht. Tausende von Narrativen lassen sich in Vriesendorps Zeichnung wiederfinden, die die Komplexität von Architektur, ihrer Produzent*innen und unserer Umwelt widerspiegeln, ohne dabei auf eingelernte Darstellungs- und Erzählmuster zurückzugreifen. Der Entwurf zu Hotel Sphinx (1978) stammt von Zoe und Elia Zenghelis, die Zeichnung selbst wurde vermutlich von Zoe Zenghelis angefertigt. Das hybride Gebäude vereinigt die heterogenen Elemente bzw. Dimensionen einer Stadt und wird somit selbst zur Stadt: Luxushotel, Wohnsiedlungen, Infrastruktur, Arbeit, Unterhaltseinrichtungen bis hin zum Planetarium am Dach. Das Gebäude ist durch Screens mit dem Time 101 de Graaf, Reinier: The Masterplan: A Novel, Amsterdam 2021. 102 Jacob, Sam: ‚If at first you don’t succeed, cry, cry again‘: Madelon Vriesendorp on being written out of history, Februar 2018, https://www.architectural-review. com/essays/if-at-first-you-dont-succeed-cry-cry-again-madelon-vriesendorpon-being-written-out-of history?utm_source=WordPress&utm_medium=Re commendation&utm_campaign=Recommended_Articles (20.9.2021).
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Square und seiner Umgebung verwoben. Auch wenn all diese Dinge nicht direkt ausgestellt werden, sind sie doch vorhanden. Die kantige und fragmentierte Zeichnung zeigt Stadt (Raster) und Raum (Gebäude) in ihrer Außergewöhnlichkeit. Langeweile wie Ekstase, Verspieltheit und klare Anordnungen sind keine Gegensätze mehr, sondern zeigen im Bild mögliches Zusammenleben auf. Auch Farben spielen dabei eine wesentliche Rolle; Zoe Zenghelis dazu: „Colour ist fundamental to our perception. Surprisingly many architects are indifferent to it. Buildings are not black lines on white paper.“103 2018 initiierten Shumon Basar und Stephan Trüby die Ausstellung The World of Madelon Vriesendorp: Paintings/Postcards/Objects/Games (AA Galler, London). 2021 folgte die Ausstellung Do You Remember How Perfect Everything Was? The Work of Zoe Zenghelis (Betts Project, London), kuratiert von Hamed Khosravi. Beide Ausstellungen waren Momente, in denen die Erzählungen dieser gegenhegemonialen Bildwelten wieder zu ihren Autor*innen zurückkehrten und nicht stellvertretend für andere Erzählungen eingesetzt wurden. „Nothing was made for the book [Delirious New York]. It was all my series. It was not a collaboration. He [Koolhaas] just used it“, erzählt Vriesendorp über die Vereinnahmung von Flagrant Délit in Delirious New York.104 Gerade gegenhegemoniale Bilder, die oft kollaborative Autor*innenschaft vorziehen und von weniger privilegierten Gruppen produziert werden, laufen auch Gefahr, von größeren Narrativen und Logiken überrollt und geschluckt zu werden. Es stellt sich also die Frage: „How to be an outsider without being left outside? How to operate with other models that draw the world differently, not prescribed by the academy, the profession or the market?“105
103 Akigbogun, Sarah: Out of the archive: Zoe Zenghelis at the AA, in: AJ Architects’ Journal online, Juni 2021, https://www.architectsjournal.co.uk/practice/ culture/exhibition-zoe-zenghelis-at-the-aa (17.9.2021). 104 Card, Nell: Such stuff as dreams are made on, April 2019, https://www.thegu ardian.com/lifeandstyle/ng-interactive/2019/apr/08/madelon-vriesendorp architectures-lost-heroine (22.9.2021). 105 Jacob, Sam: ‚If at first you don’t succeed, cry, cry again‘: Madelon Vriesendorp on being written out of history, Februar 2018, https://www.architectural-review. com/essays/if-at-first-you-dont-succeed-cry-cry-again-madelon-vriesendorp on-being-written-out-of-history? (20.9.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise
3.3.2 Sichtbarkeit für ein diverses (Wohn-)Raumverständnis Warum ist es wichtig, dass gegenhegemoniale Bildwelten sichtbar und in alltäglichen, aber auch akademischen Bilddiskursen verstärkt wahrgenommen werden? Vor allem die Dominanz der homogenisierten, immer gleichen Wohnbilder auf digitalen Plattformen verengt unsere Wahrnehmung von Wohnen und Gesellschaft, wie in Kapitel 2.5, Ideale mit Folgen, ausführlich dargelegt wurde. Denn Bilder erschaffen auch Wissen. Die Bildwelten des Wohnens auf Instagram erzeugen ein autoritäres, machtvolles und normatives Wissen darüber, wie Wohnen sein soll und vor allem wie es auszusehen hat. Sie vermitteln ein Wohnwissen, das Normen und Standards bestimmen kann. Gegenhegemoniale Bilder hingegen fordern dieses stabile, autoritäre Wissen heraus und ermöglichen kollektive, diverse Formen der Wissensproduktion. Nishat Awan und Tatjana Schneider betonen die Bedeutung einer offenen Wissensproduktion: „Professionals rely on this assertion of stable knowledge in order to give themselves authority over others, and so to accept acting otherwise is to recognise the limits of one’s authority, and to relinquish the sole hold of fixed and certain knowledge.“106 Wenn wir also festes Wissen durch offene Wissensformen erweitern und verändern können, kann so auch ein diverseres Verständnis von Raum und schließlich von Wohnen entwickelt werden. Gegenhegemoniale Bildwelten haben das Potential, Wahrnehmung und Wissen zu öffnen und damit eine kritische Wirklichkeit möglicher Zukünfte aufzuzeigen. Das ist möglich, da sich gegenhegemoniale Bilder dem dominanten System aus Optimierungs- und Verwertungslogik entziehen. Sie sind nicht usable (verwertbar), sondern useful, also nützlich, wichtig und notwendig. Indem die Bedeutung des Sozialen (Gemeinschaft) und die Handlungsfähigkeit des eigenen Selbst zurückgewonnen wird, wird auch Wohnen zu mehr als bloßem Konsum. Gegenhegemoniale Bildwelten lassen Dinge offen und schaffen damit Raum für Varianten und Variationen. Das Zeichnen ist ein Prozess, der auch Platz für nicht rationale, nicht logische Denk- und Wissensformen lässt. Unvollständigkeit und Improvisation sind keine Mängel, sondern
106 Awan, Nishat/Schneider, Tatjana/Till, Jeremy: Spatial Agency, S. 32.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit können imaginative, spekulative Bilder von Möglichkeiten produzieren. Das Freie, Offene, Imaginative im Bild ist bereits in Capriccios aus dem frühen 18. Jahrhundert zu finden. Stark beeinflusst vom italienischen Theater zeigen Capriccios nicht die Abbildung der tatsächlich gebauten Realität, sondern sind zum Teil oder vollständig erfunden, behalten jedoch stets den Bezug zur Realität bei und fungieren quasi als mögliche Variante derselben. Gemäß dieser Denkweise hat Giovanni Battista Piranesi in seiner Serie Le Carceri d’Invenzione (1760/61) eine fiktive Welt aus möglichen Gefängnisszenen erschaffen. Man müsse das Bild nur davor bewahren, realisiert oder gebaut zu werden – „preventing the drawing from being realized“107 –, denn die Zeichnung, die nicht verwertet werden muss, also nicht kapitalisierbar, baubar oder bewertbar ist, kann ihre Freiheit bewahren und somit experimentieren, ausprobieren, scheitern und inspirieren. Gegenhegemoniale Bildwelten erzeugen kritische Wirklichkeiten und untergraben dabei auch bestehende Strukturen, sie besitzen, wie Alice Pechriggl und Anna Schober schreiben, „eine die herrschenden Machtverhältnisse subvertierende Wirkung“.108 Sind gegenhegemoniale Bilder daher auch radikal? Für die Ausstellung What is Radical Today? (2019) in der Royal Academy of Arts in London wurde diese Frage mehreren Architekt*innen, Künstler*innen und Designer*innen gestellt, die sie mit einem Bild beantworteten sollten. Lag in den 1970er Jahren die Radikalität von Architektur und ihren Ausdrucksmitteln in den großen bildlichen Visionen von endlosen Rastern und Maschinengebäuden, beschreibt Kurator Gonzalo Herrero Delicado die Radikalität der eingereichten Beiträge 2019 differenzierter: „There are many different ways of being radical. Right now, it doesn’t have to be through buildings or installations. You can be radical by raising awareness on specific issues, or doing a small pavilion, or communicating an idea to the general public.“109 Die Radikalität gegenhegemonialer Bildwelten ist weniger in spektakulären Darstellungen verankert als in der Adressierung dringlicher Themenfelder: Klimakrise, Ausbeutung von Arbeitskraft, Woh107 Decroos, Bart/Patteeuw, Véronique/Cicek, Asli/Engels, Jantje: The Drawing as a Practice, in: Practices of Drawing, OASE 105, Rotterdam 2020, S. 15. 108 Pechriggl, Alice/Schober, Anna: Hegemonie und die Kraft der Bilder, S. 14. 109 Buxton, Pamela: Radical thoughts on architecture at RA exhibition, Oktober 2019, https://www.ribaj.com/culture/what-is-radical-today-royal-academy-exhibition-pamela-buxton (27.9.2021).
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3. Drawing Housing Otherwise nungsknappheit, das Fehlen von Gemeinschaft usw. Radikalität kann auch bedeuten, vernachlässigten, verdrängten und unsichtbaren Erzählungen und Orten (wieder) zu Sichtbarkeit zu verhelfen, auch wenn dieses Handeln unpopulär zu sein scheint.
Der Raum-Zeit-Begriff in gegenhegemonialen Bildern Aufbauend auf Doreen Masseys Raumtheorie und ihrem Raum-Zeit-Begriff wird hier argumentiert, dass die von Massey entworfenen Rekonzeptualisierungen von Raum auch in gegenhegemonialen (Wohn-)Bildwelten wiederzufinden sind. Durch das Sichtbarmachen dieses Raum-Zeit-Begriffs in Bildern kann ein differenziertes, erweitertes Raum- und somit auch Wohnverständnis zur Diskussion gestellt werden. Denn eine von Masseys Kernaussagen ist, dass Räume nicht einfach da sind, sondern vielmehr erst erschaffen werden.110 Bilder können im Prozess des Erschaffens – des Planens und Bauens von Wohn- und Architekturwelten – Rekonzeptualisierungen von Raum aufzeigen. Massey sieht eine enge Verbindung zwischen Raum und Zeit: „Weder das eine noch das andere kann als Abwesenheit des anderen begriffen werden.“111 Sie kritisiert, dass in der gängigen Literatur Raum immer wieder mit Stillstand gleichgesetzt wird und als Gegensatz zur Zeit gesehen wird. Sie schreibt: „Es entsteht der Eindruck, ‚die Zeit schreite fort‘, während Raum nur herumlungert. Zeit ist die Gegenwartsgeschichte, während Raum/Ort eine Art Rastplatz ist, wo nach dem Weltgeschehen eine Pause gemacht wird.“112 Genau diese statische, festgesetzte Vorstellung von Raum und Wohnen brechen gegenhegemoniale (Wohn-)Bilder auf. Indem Raum mit Zeit verbunden wird, wird dem Raum Dynamik, Beweglichkeit und Veränderbarkeit zugeschrieben. Ausgehend von diesem Raum-Zeit-Begriff schlägt Massey drei eng zusammenhängende Rekonzeptualisierungen von Raum vor: Erstens ist Raum als Produkt von Wechselbeziehungen zu verstehen, denn erst
110 Vgl. Massey, Doreen: For Space, London 2005. 111 Massey, Doreen: Raum, Ort und Geschlecht. Feministische Kritik geographischer Konzepte, in: Bühler, Elisabeth (Hg.): Ortssuche. Zur Geographie der Geschlechterdifferenz, Zürich 1993, S. 109–122, hier S. 110. 112 Ebd.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit
Abb. 3_12: The Parliament of Plants, Collage von Céline Baumann im Rahmen der Ausstellung What is Radical Today?, Royal Academy of Arts London, 2019.
durch unterschiedliche Beziehungen und die Interaktion zwischen verschiedenen Akteur*innen kann Raum konstituiert werden. Zweitens ist Raum eine Möglichkeitssphäre für multiplictiy (Multiplizität), denn Vielheit entsteht durch mehrere und gleichzeitig existierende trajectories, also Bahnen, Kurven oder Wege, die miteinander verflochten sein können. Drittens hält Massey fest, dass Raum immer als Prozess des Werdens oder Gemacht-Werdens zu verstehen ist. Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen und somit können jederzeit neue Bahnen etabliert oder neue Beziehungen eingegangen werden.113 Überträgt man diese drei Überlegungen zur Raumproduktion auf Räume des Wohnens sowie deren Planung, werden hier Parameter ge-
113 Vgl. Massey, Doreen: For Space, S. 9.
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3. Drawing Housing Otherwise schaffen, die eine wichtige Grundlage für Raum und Wohnen bieten. Die beschriebenen Prozesse zur Raumproduktion tragen Momente des Unvorhersehbaren in sich und schaffen dadurch Offenheit. Beziehungen und Verflechtungen sind ausschlaggebend für diese Offenheit und gleichzeitig schaffen sie Möglichkeiten der Veränderung. Diese Überlagerungen unterschiedlicher Beziehungen und Prozesse erschaffen eine Multiplizität von Raum und Gesellschaft. Gegenhegemoniale Bildwelten können dazu beitragen, dieses Raumverständnis aufzuzeigen. Denn Raum ist immer ein Produkt materieller Machtpraktiken,114 die jedoch durch gegenseitige Beziehungen und Multiplizität dynamisch aufgebrochen werden können. Die Koexistenz von unterschiedlichen, sich überlagernden Beziehungen und die daraus resultierende Multiplizität von Raum und Gesellschaft kann in gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens wiedergefunden werden. Die Bilder zeigen somit für die Planung von Wohnraum Perspektiven auf: Offenheit für eine unbestimmte Zukunft im Gegensatz zu einer standardisierten Wohnlösung genauso wie Multiplizität durch Beziehungen und Verbindungspunkte, die Vielfalt an Wohnformen und Wohngewohnheiten produzieren kann. „Without space, no multiplicity; without multiplicity, no space.“115
3.3.3 Wohnbildwelten: a site of resistance Es wurde also festgestellt, dass gegenhegemoniale Bildwelten (des Wohnens) sowohl von kapitalistischen Sichtbarkeitspolitiken als auch von eindimensionalen, aber dominanten Sichtweisen der Geschichtsschreibung ausgeschlossen sind. Welche Möglichkeiten und Optionen von Sichtbarkeit gegenhegemonialer (Wohn-)Bilder können dann generiert werden? Welche Strategien, Nischen und cracks können genutzt werden? Dieser letzte Abschnitt stellt sich zwei wesentliche Fragen: Kann das Wohnen, dieser historisch dogmatische Ort der Privatheit und heutige Schauplatz von inszenierter Sichtbarkeit, überhaupt als Ort des Widerstands in gegenhegemoniale Bildpraktiken auftreten? Und welche Rolle können Ideen und Formen von Plattformen abseits der monopolisierten, privatisierten Netzwerke spielen? Oder anders gefragt, gibt es doch 114 Ebd. 115 Ebd.
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3. Drawing Housing Otherwise schaffen, die eine wichtige Grundlage für Raum und Wohnen bieten. Die beschriebenen Prozesse zur Raumproduktion tragen Momente des Unvorhersehbaren in sich und schaffen dadurch Offenheit. Beziehungen und Verflechtungen sind ausschlaggebend für diese Offenheit und gleichzeitig schaffen sie Möglichkeiten der Veränderung. Diese Überlagerungen unterschiedlicher Beziehungen und Prozesse erschaffen eine Multiplizität von Raum und Gesellschaft. Gegenhegemoniale Bildwelten können dazu beitragen, dieses Raumverständnis aufzuzeigen. Denn Raum ist immer ein Produkt materieller Machtpraktiken,114 die jedoch durch gegenseitige Beziehungen und Multiplizität dynamisch aufgebrochen werden können. Die Koexistenz von unterschiedlichen, sich überlagernden Beziehungen und die daraus resultierende Multiplizität von Raum und Gesellschaft kann in gegenhegemonialen Bildwelten des Wohnens wiedergefunden werden. Die Bilder zeigen somit für die Planung von Wohnraum Perspektiven auf: Offenheit für eine unbestimmte Zukunft im Gegensatz zu einer standardisierten Wohnlösung genauso wie Multiplizität durch Beziehungen und Verbindungspunkte, die Vielfalt an Wohnformen und Wohngewohnheiten produzieren kann. „Without space, no multiplicity; without multiplicity, no space.“115
3.3.3 Wohnbildwelten: a site of resistance Es wurde also festgestellt, dass gegenhegemoniale Bildwelten (des Wohnens) sowohl von kapitalistischen Sichtbarkeitspolitiken als auch von eindimensionalen, aber dominanten Sichtweisen der Geschichtsschreibung ausgeschlossen sind. Welche Möglichkeiten und Optionen von Sichtbarkeit gegenhegemonialer (Wohn-)Bilder können dann generiert werden? Welche Strategien, Nischen und cracks können genutzt werden? Dieser letzte Abschnitt stellt sich zwei wesentliche Fragen: Kann das Wohnen, dieser historisch dogmatische Ort der Privatheit und heutige Schauplatz von inszenierter Sichtbarkeit, überhaupt als Ort des Widerstands in gegenhegemoniale Bildpraktiken auftreten? Und welche Rolle können Ideen und Formen von Plattformen abseits der monopolisierten, privatisierten Netzwerke spielen? Oder anders gefragt, gibt es doch 114 Ebd. 115 Ebd.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Möglichkeiten und Wege, Plattformtechnologie auch antikapitalistisch einzusetzen?
Wohnen als Ort des Widerstands Die Bilder des Wohnens auf Instagram, Airbnb und in der alltäglichen Werbung inszenieren Wohnen als geregelten, konfliktfreien Ort des Konsums. Familienstrukturen wie Geschlechterrollen sind klar definiert und fügen sich durch Riten und Gewohnheiten harmonisch in die dafür vorgesehenen Wohnräume ein. Die Wohngegenstände werden als konsumierbare Accessoires vorgestellt, die in Menge und Variationen praktisch endlos sind. Das Wohnen begegnet uns als ein harmonisches Erlebnis aus Einrichten, Organisieren und Konsumieren weit entfernt von politischer Verantwortlichkeit. Diese vereinfachte Darstellung, wie sie uns insbesondere auf zahlreichen Home-&-Interior-Accounts auf Instagram begegnet, wird jedoch dem weiten Themenfeld Wohnen mit seinen komplexen Machtstrukturen nicht annähernd gerecht. Alle Formen von Konflikt, Überlagerung und Uneindeutigkeit werden aus diesen Bildern ausgeblendet und unsichtbar gemacht. Der medialisierte und dadurch transparente Wohnraum ist jedoch alles andere als statisch und angepasst. Im Gegenteil, „the personal is political“, wie der nach wie vor gültige Slogan der zweiten Frauenbewegung lautet.116 Das eigene Wohnen ist durch sein Exponiert-Sein in digitalen Medien auch politisch. So ist das immer wiederkehrende Idealbild der Frau als Mutter, Organisatorin und Sorgeträgerin von Lebens- und Wohnraum ein zutiefst politisches Bild, ebenso wie die konsequente Auslagerung von Fragen der Leistbarkeit im Wohnen oder die Idealisierung des Besitzes unendlich vieler Wohngegenstände. Wohnen kann aber auch Schauplatz des Widerstands sein und wird in dieser Funktion unterschätzt. Es sind vor allem die kleinen Dinge, Formen und Fragmente, von denen Mona Mahall und Asli Serbest sprechen, die die großen Gesten herrschender Kategorien unterwandern können.117 „Wir
116 Hanisch, Carol: The Personal is Political, in: Firestone, Shulamith/Koedt, Anne (Hg.): Notes for the Second Year. Women’s Liberation, New York 1970, http:// www.carolhanisch.org/CHwritings/PIP.html (2.2.2022). 117 Vgl. Mahall, Mona/Serbest, Asli: Praxis, S. 113.
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3. Drawing Housing Otherwise sehen besonders in kleineren Formen das Potential für größere Auf- oder Unterbrechungen. Bei einer kleineren Form ist alles politisch. Politisch in dem Sinn, dass alltägliche, familiäre oder häusliche Leben und Belange immer mit größeren gesellschaftlichen Fragen verbunden sind.“118 Begreifen wir den Wohnraum und die darin platzierten Wohnhandlungen als kleine Formen im Gegensatz zu großen Formen wie der Stadt an sich oder Repräsentationsbauten (Museen, Kirchen, Regierungsgebäude etc.), dann sind auch diese kleinen (Wohn-)Formen handlungsfähig und politisch. bell hooks spricht vom Zuhause als einem Ort des Widerstands; im Text homeplace. a site of resistance (1990) erzählt sie vom Haus ihrer Großmutter Rosa Bell. Das Zuhause ist ein Ort, „where all that truly mattered in life took place – the warmth and comfort of shelter, the feeding of our bodies, the nurturing of our souls. There we learned dignity, integrity of being; there we learned to have faith.“119 Vor allem Schwarze Frauen, wie Rosa Bell, die in von rassistischer und sexistischer Herrschaft geprägten weißen Haushalten arbeiteten, schufen in ihrem eigenen Zuhause einen Raum des Sorgetragens und der Menschlichkeit. Das eigene Zuhause wurde so ein Ort des Widerstands, da der vorherrschende weiße Kulturraum die Entfaltung des eigenen (Schwarzen) Selbst oder die Existenz von (Schwarzer) Gemeinschaft verunmöglichte. Erst im Inneren – im Zuhause – war es möglich zu wachsen, sich zu entwickeln und den Geist zu nähren.120 Das Zuhause wird zu einem Ort des gemeinsamen Widerstands (und Befreiungskampfes) und erhält eine bedeutsame, politische Dimension. „Historically, black women have resisted white supremacist domination by working to establish homeplace.“121 Das Zuhause ist also weder ausschließlich Gefäß für Waren und Objekte der Konsumation, noch ist es ein rein funktionaler Ort des Kochens, Waschens und Schlafens. Das Wohnen kann ein Zuhause sein, das eine Gemeinschaft des Widerstands erzeugt. Die Verfügbarkeit und der Zugang zu Wohnraum sowie die Möglichkeit der Erholung, der Intimität, der Gemeinschaft und der Selbstermöglichung darin unterwandern die permanent wiederholten Wohnbilder aus ausgestellter, statischer, pas-
118 Ebd. 119 hooks, bell: homeplace. a site of resistance, in: Yearning: Race, Gender and Cultural Politics, New York 2015, S. 41–49, hier S. 41f. 120 Vgl. ebd., S. 42. 121 Ebd., S. 44.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit siver Inszenierung, von optimierter Universalisierung. Das Zuhause als Ort des Widerstands kann dabei unterschiedlich interpretiert werden. Wie bei bell hooks als sicherer Ort des Selbst: „We can make homeplace that space where we return for renewal and self-recovery, where we can heal our wounds and become whole.“122 Oder wie bei Virginia Woolf, die Widerstand im Wohnen als die Möglichkeit beschreibt, Raum für sich selbst zu schaffen: „[A] woman must have money and a room of her own if she is to write fiction.“123 Der eigene (Wohn-)Raum kann also mit der ihm zugeschriebenen Funktion brechen. In Woolfs Fall bedeutet es das Negieren des Wohnraums als eines häuslichen Ortes der Reproduktionsarbeit, stattdessen wird der eigene Raum als Ort der (beruflichen) Freiheit und Entfaltung gesehen. Für Ludger Schwarte wiederum entspringt das Aufbegehren gegen Behausung, Domestizierung und Disziplinierung aus einer transformatorischen Kraft gelungener Sozialität im Wohnen, so schreibt er in dem Artikel „Revolutionen des Wohnens“ (2021): „Das impliziert Rückzugsräume, Räume der Intimität, Räume der Erholung, aber auch eine Vielzahl von Arten des Zusammenseins, Räume der Verhandlung.“124 Wie immer die Formen des Widerstands im Wohnen auch aussehen mögen, das Zuhause kann zum Ort der Vermittlung eines kritischen (Wohn-)Bewusstseins werden. Dabei können die Schattierungen von Sichtbarkeit selbst ausgewählt werden. Formen des Widerstands können in geschützter Unsichtbarkeit zu Hause gelebt und erfahren werden oder mit einer Öffentlichkeit (z.B. über Plattformen) geteilt werden. Fest steht dabei, dass sich das Themenfeld des Wohnens in all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit als vertrautes Terrain für Widerstand eignet.
Plattform neu Welche Rolle spielen nun digitale Plattformen, wenn es um die Sichtbarkeit von gegenhegemonialen Bildern geht? Sind sie geeignete Räume für die Verbreitung dieser Bilder? Und existiert Sichtbarkeit überhaupt au-
122 Ebd., S. 49. 123 Woolf, Virginia: A Room of One’s Own, in: dies.: A Room of One’s Own and Three Guineas, London 2012, hg. v. Hermione Lee, S. 1–98, hier S. 2. 124 Schwarte, Ludger: Revolutionen des Wohnens, in: ARCH+244 Wien, 2021, S. 22–25, hier S. 24.
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3. Drawing Housing Otherwise ßerhalb der großen Plattformen? Plattformen sind mittlerweile fixer Bestandteil unseres Alltags geworden und durchdringen unterschiedlichste Lebensbereiche von Arbeit über Freizeit und Mobilität bis hin zu den vielen Formen des Konsums. Auf, durch und mit ihnen wird nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch kulturelles Kapital generiert und akkumuliert. Und obwohl Plattformen individualisierte Lebensstile propagieren und somit Anschlussstellen für das Themenfeld des Wohnens bieten, ist dieses Versprechen der Selbstverwirklichung nicht mit einem selbstbestimmten, freien Agieren gleichzusetzen. Die Plattform agiert nach neoliberalen Prinzipien, was bedeutet, dass sich individuelle Freiheit nur im Rahmen von freien Märkten entfalten kann und es dafür weder staatlicher Einschränkungen noch Regulationen bedarf. Im Zentrum dieser neoliberalen Bewegung, so Harvey, steht eine Form von „selbstbezüglichem Individualismus“.125 Diese Form der Selbstinszenierung versteht die Entwicklung des eigenen Selbst nicht im Kontext des Gemeinschaftlichen und steht auch im klaren Gegensatz zu einer selbstbestimmten Handlungsfähigkeit durch und mit gegenhegemonialer Bilder. Der Aufstieg und das Wachstum der großen, monopolistischen Plattform-Unternehmen wie Google, Meta oder Amazon ist ungebremst. Aber wohin führt diese Entwicklung? Könnte ihr weiteres Wachstum auch zur Ausbildung von alternativen Plattformräumen führen? Srnicek prognostiziert eine gegenläufige Entwicklung und schreibt von einem Trend zur Konvergenz. Damit ist gemeint, dass die verschiedenen Plattformen einander immer ähnlicher werden, weil sie alle das gleiche Ziel – das Generieren von immer mehr Daten – verfolgen.126 Er spricht von geschlossenen Plattformen, die Nutzer*innen und ihre Daten an sich zu binden versuchen.127 Ein abgeschlossenes Ökosystem aus Kommunikation, Shopping, Mobilität und Information, das nicht mehr verlassen werden muss oder kann, denn die Abhängigkeit von bestimmten Diensten, die Unmöglichkeit, Daten zu transferieren oder der Ausschluss von jeglichen Alternativen schafft abgeschlossene Plattformräume. Die aktuelle Weiterentwicklung von Apps (nicht zuletzt der Instagram-App) weist bereits in Richtung geschlossener Plattformen: weg von einem offenen Internet hin zu einer privatisierten, fragmentierten App.
125 Harvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 132. 126 Srnicek, Nick: Plattform Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 108f. 127 Ebd., S. 110.
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3.3 Von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer verweisen in Platform Urbanism and Its Discontents (2021) auf die Dualität von Plattformen, die sowohl Räume des Austauschs und der Transformation sein können als auch technologisch beschleunigte Formen der Ausbeutung generieren.128 Es ist ein Navigieren zwischen freien und determinierten Prozessen, verbindenden und trennenden Handlungen, zwischen Partizipation und Ausschluss, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ständiger Selbstoptimierung. Mörtenböck und Mooshammer schlagen daher vor, diese Dualitäten in öffentlichen Diskursen zu thematisieren: „Importantly, such public cultures could help to illuminate and engage with the wide spectrum of antagonisms inherent in platform-run societies.“129 Auch gegenhegemoniale Bilder können diesen kritischen Diskurs widerspiegeln und somit die Plattform in ihren Limitierungen und Möglichkeiten austesten. Doch das Unterfangen, mehr Sichtbarkeit für gegenhegemoniale Bildwelten auf den großen Plattformen zu erzeugen, erscheint (fast) aussichtlos. Und selbst wenn es zumindest partiell gelingt, droht die Vereinnahmung durch kapitalistische Marktlogiken oder die Entschärfung durch ein Einspeisen in die etablierten Kategorien und letztlich wieder der Verlust von Diversität. Plattformen wie Instagram, Facebook und Airbnb sind keineswegs die offenen, transparenten, freien Systeme, als die sie sich in ihren visuellen Auftritten präsentieren, sondern privatisierte Räume, in den die Spielregeln der Unternehmen gelten, die sie betreiben. Wo können gegenhegemoniale Bilder, die auch als Teil einer revolutionären antikapitalistischen Bewegung verstanden werden können, also überhaupt gezeigt und gesehen werden? Wo sollen wir beginnen? David Harvey meint, dass alle sieben Handlungsbereiche (activtiy spheres), in denen der Kapitalismus voranschreitet, sich für Veränderungen eignen: „[…] aus der koevolutionären Theorie ergibt sich, dass wir überall beginnen können, solange wir nicht dort stehen bleiben, wo wir angefangen haben!“130 Denken wir an die Verstrickungen, Abhängigkeiten und Verknüpfungen all dieser gleichzeitig existierenden Handlungsbereiche, die erst in Beziehung miteinander Veränderungen entfalten. Es geht also um
128 Vgl. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Platform Urbanism and Its Discontents, in: dies. (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 9–38, hier S. 35. 129 Ebd., S. 35. 130 Harvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 137.
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3. Drawing Housing Otherwise Bündnisse zwischen einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Kräften; gegenhegemoniale Bilder können in den Zwischenräumen dieser Lebenssphären einen Anfang setzen. Auch Handlungsbereiche wie Technologie und Organisation werden sich transformieren. Allein auf Veränderung und Sichtbarkeit in bestehenden Plattformstrukturen zu setzen, greift somit zu kurz, stattdessen muss es (auch) darum gehen, neue Formen von Plattformen zu erfinden. Srnicek sieht die Zukunft alternativer Plattformen nicht in kooperativen Modellen, da diese die Gefahr der Selbstausbeutung in sich tragen und neben wachsenden Netzwerkeffekten der großen Monopolisten wenig Chance hätten. Auch staatliche Regulierungsmaßnahmen in Bezug auf kommerzielle Plattformen sind nach Srnicek nicht ausreichend und bringen kaum Veränderungen. Interessant ist Srniceks Idee der öffentlichen Plattform, die von der Bevölkerung besitzt und kontrolliert wird. Der Staat müsste dafür in Technologie investieren und die öffentliche Plattform als eine Art Dienstleistung zur Verfügung stellen. „Noch radikaler gedacht, können wir postkapitalistische Plattformen fordern, die die gesammelten Daten nutzen, um Ressourcen zu verteilen, demokratische Partizipation zu ermöglichen und technische Entwicklungen voranzutreiben. Vielleicht sollten wir heute die Plattformen kollektivieren.“131 Die Idee einer öffentlichen Plattform macht sichtbar, dass Alternativen immer möglich sind. Auch wenn es angesichts der erlernten und erfahrenen Grenzen von Kapital, Staat und Gesellschaft als unmöglich erscheint, kann auch das festgesetzte Konzept einer kapitalistischen Plattform durch gegenhegemoniale Bilder und neue Projekte (öffentliche Plattformen) cracks und Widersprüche bekommen. Things could alwasys be otherwise!132 Denn Plattformen haben auch kollaborative, verbindende Eigenschaften, sie können zu einem Ort des öffentlichen Austauschs, des Konflikts und der Möglichkeit der Vielen werden, um gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse zu erzeugen. Das Wohnen als komplexes und widerständiges Themenfeld, in dem alle Expert*innen sind, wäre es auf jeden Fall wert, auf einer öffentlichen Plattform im sichtbaren Diskurs mit Vielen zu stehen.
131 Srnicek, Nick: Plattform Kapitalismus, S. 127. 132 Mouffe, Chantal: Artistic Activism and Agonistic Spaces, http://www.artandre search.org.uk/v1n2/mouffe.html (4.10.2021).
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Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens
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Digitale Wohnbildwelten auf Plattformen wie Instagram, die ein ästhetisiertes Lifestyle-Wohnen als (Wohn-)Norm inszenieren, reproduzieren und sie dadurch fast allgegenwärtig erscheinen lassen, verändern die Wahrnehmung und das Denken über Wohnen und in der Folge das Planen und Bauen von Wohnraum tiefgreifend. Die Transformation des Wohnens hin zu einem ästhetischen Konsum verdrängt seine Komplexität als Ort soziokultureller wie politisch-ökonomischer Auseinandersetzung und löscht dadurch wichtige Formen des Politischen im Wohnen aus. Auch der Verlust von greifbarer1, teilhabender Gemeinschaft wird durch ein optimiertes Selbst kompensiert, das sich in Abhängigkeit von den Feedbacks Unbekannter (Plattform-Community) korrigiert und formt. Die digitalen Bilder des Wohnens auf Instagram präsentieren abseits auswechselbarer Dekoroberflächen limitierte Wohnmöglichkeiten. Sie produzieren einen von der Plattform generierten „space of visually driven pre-agreed normativity“, wie es Andrés Jaque in seinem Artikel „Grindr Archiurbanism“ (2017) formuliert.2 So materialisieren sich die idealisierten Normbilder auch außerhalb der Plattform und finden Anschlussstellen an die gebaute Umwelt. Gegenhegemoniale Bilder treten dieser ästhetisierten und kapitalisierten Bildlogik entgegen und versuchen, die Aufteilung des Sinnlichen (la partage du sensible)3 zu öffnen und neu zu ordnen, und entwerfen im Fall von Wohnbildern neue Möglichkeiten und Potentiale für das Wohnen. Das bis jetzt scheinbar Unmögliche, das Undiskutierte und Unsichtbare, das durch Sichtbarkeitspolitiken dominanter Bildnarrative auf Plattformen wie Instagram bewusst ausgegrenzt wurde, wird durch gegenhegemoniale Bilder wieder neu verhandelt: Leistbarkeit, Nachhaltigkeit, Rückzugsmöglichkeit sowie Teilhabe und Gemeinschaft. Politisch-aktivistischer Bilder, die Wohnen als einen verhandelbaren Raum des Widerstands verstehen, können auf neu entwickelten öffentlichen Plattformen Diskussionen und Veränderungen vorantreiben.
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tefano Harney und Fred Moten bezeichnen mit dem Begriff der „Greifbarkeit“ S (hapticality) ein Füreinander-greifbar-Sein, vgl. Harney, Stefano/Moten, Fred: All Incomplete, 2021, https://www.minorcompositions.info (19.02.2022), S. 14. Jaque, Andrés: Grindr Archiurbanism, in: Log. Observations on architecture and the contemporary city, 2017, https://officeforpoliticalinnovation.com/article/ grindr-archiurbanism (25.10.2021), S. 77. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008.
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Schluss
Wohnen In Weiterführung dieser Argumentation sollen hier ein Ausblick in die Zukunft des Wohnens und seine mediale Repräsentation durch Bilder gegeben sowie Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschung aufgezeigt werden. Wie sieht das Wohnen der Zukunft aus, das mit multiplen Realitäten und digitalen wie materiellen Optimierungsprozessen von Kapitalisierungsstrategien verflochten ist? Welche Auswirkungen haben die digitalen, ästhetisierten und homogenisierten Wohnbildwelten der großen Plattformunternehmen auf ein zukünftiges Wohnen? Und vor allem: Kann die visuelle Präsenz von gegenhegemonialen Wohnbildwelten das Wohnen längerfristig und nachhaltig für mehr Diversität, Teilhabe und Unbestimmtheit öffnen? Vorausgeschickt muss werden, dass hier nicht von einem Zukunftsbegriff ausgegangen wird, der auf eine nicht zur Verhandlung stehende, weit entfernte Utopie (oder Dystopie) abzielt. Vielmehr ist die Zukunft auch im Hier und Jetzt verankert. Wir leben in einer ständigen Gegenwart, die unsere Zukunft markiert und dadurch aber auch veränderbar ist und zur Disposition gestellt werden kann. Bilder können Ideen und Möglichkeiten einer Zukunft unserer Gegenwart im Wohnen aufzeigen. Ein solches Bild ist die Fotografie Die Wohnung von Hannes Meyer aus der Serie Co-op Interieur (1926). Die Szene begleitet Meyers Artikel „Die neue Welt“, publizierten in Das Werk. Diese „neue Welt“ beschreibt er als eine von technischen Entwicklungen, intensiven Beziehungen und der Uniformität menschlicher Gewohnheiten angetriebene, in deren Mittelpunkt er den alltäglichste und intimste Raum stellt, nämlich das private Zimmer. Die Fotografie Die Wohnung zeigt ein offenes Raumsegment; textile Wandelemente begrenzen den Raum, in dem sich ein Bett, ein zusammengefalteter und an der Wand aufgehängter Klappstuhl sowie ein Grammophon auf einem Tischchen befinden.4 2014 ergänzte das Kollektiv Åyr Meyers Darstellung um einen Laptop und ein Smartphone und verpasste der Bedeutung des Grammophons im Bild ein Update. Laptop und Smartphone markieren heute die Anschlussstellen für die Verbindung mit anderen (digitalen) Welten: Kommunikation, Un-
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ie Originalfotografie Co-op Interieur von 1929 zeigte zusätzlich noch einen D weiteren Stuhl sowie ein Regal mit Gläsern unbekannten Inhalts. Für seinen Artikel „Die Neue Welt“ in der Zeitschrift Das Werk (1929) verwendet Meyer allerdings den in Abb. X_1 ausgewählten Bildausschnitt.
Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens terhaltung, Konsum und Vergnügen. Meyers Fotografie mit den Ergänzungen des Kollektivs Åyr stellen das Wohnen im 21. Jahrhunderts dar. Der gezeigte temporäre, veränderbare Raum aus textilen Wänden ist adaptierbar, er kann damit den Ort wechseln und sich anpassen, aber sich dadurch auch schnell und einfach wieder auflösen und seinen Bewohner*innen entzogen werden. Durch die flexiblen Raumbegrenzungen besteht die Möglichkeit, dass sich der Raum öffnen und größer werden und sich somit einer Gemeinschaft zuwenden kann. Auch der Klappstuhl an der Wand symbolisiert mögliche Formen von Gemeinschaft mit anderen. Gleichzeitig ist der Raum eine Zelle des Rückzugs, der Erholung und der Selbstständigkeit. Er ist nicht transparent und einsehbar und entzieht sich somit der Kontrolle und den Blicken anderer. In unterschiedlichen Schattierungen von Sichtbarkeit kann das Wohnen daher auch Ort des Widerstands (siehe 3.3.1, Wohnbildwelten: a site of resistance5) sein, denn auch „bei einer kleineren Form ist alles politisch“,6 da alles daran mit größeren gesellschaftlichen Fragen verbunden ist. Der universale Raum ist in dieser Form jedoch nur zu akzeptieren, weil durch Laptop und Smartphone eine Verbindung zu digitalen Realitäten möglich ist. Der Zugang zu einer digitalen Welt ist heute essentiell, denn sie verspricht nicht nur immer mehr Informationen, Dinge und Kommunikation, sondern erfüllt auch den Wunsch nach Pracht, Atmosphäre und Herrlichkeit. Den so erschöpfen sich Glamour und Luxus schließlich in einer Über-Ästhetik7 und der Möglichkeit, von allem mehr zu sehen, zu konsumieren und zu erfahren. Die Millionen ästhetisierten Bilder auf Instagram, die unendlich vielen Videos und Filme auf YouTube, TikTok und Netflix sowie die nicht enden wollende Menge an Daten, durch die wir (einsam) surfen, vermitteln das Gefühl, überall sein zu können und gleichzeitig nirgendwo zu sein. Raum und Smartphone benötigen einander, sonst könnte dieser universale Raum in seiner Einfachheit und Offenheit nicht existieren. Das Bild Åyr zeigt uns einen physischen Raum, der mit einem digitalen Raum verbunden ist, beide übernehmen Anforderungen, die heute an das Wohnen gestellt werden.
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gl. hooks, bell: homeplace. a site of resistance, in: Yearning: Race, Gender and V Cultural Politics, New York 2015, S. 41–49. Mahall, Mona/Serbest, Asli: Praxis. Mona Mahall, Asli Serbest, in: ARCH+ 246 Zeitgenössische feministische Raumpraxis, 2022, S. 113. Leach, Neil: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge 2000, S. 5.
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Schluss
Abb. X_1: Die Wohnung, Co-op-Raum von Hannes Meyer in Das Werk, Basel 1926. Abb. X_2: AYRBRB Haus nach Hannes Meyers Co-op-Raum, von Åyr, 2014.
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Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens Dieses Szenario des Wohnens im Bild ist keine Wertung hinsichtlich der Zukunft unserer Gegenwart, vielmehr zeigt es Möglichkeiten der Veränderung auf. Bereits das Originalbild von Meyer (1926) beschreibt ein emanzipiertes Wohnen, das sich vom Organisieren und Dekorieren befreit hat oder, wie Peter Mörtenböck meint, aus dem „Hausarrest“ des Domestischen entlassen wurde.8 So hat Die Wohnung die Last des häuslichen Lebens abgestreift und die Hausarbeit in das Kollektive (z.B. Wohnküchen) verlagert bzw. an Dritte (z.B. eine Servicegesellschaft) ausgelagert. Ebenso hat sich dieser auf radikale Weise allgemeine Raum von den Lasten und dauerhaften Verpflichtungen des Eigentums gelöst. Das Aufheben des individuellen Besitzes gibt den Raum wieder zur (Be-) Nutzung frei. So schreibt Pier Vittorio Aureli über Meyers Zimmer: „His room shows what could be the architecture of use against the architecture of property.“9 Der Wohnraum der Zukunft scheint die dominante Idee des bürgerlichen Konzepts der Kleinfamilie überwunden zu haben. Trotzdem verklärt weder Meyers Originalbild noch die Erweiterung durch Åyr die romantisierende Kollektivität einer sharing economy, wie sie von Plattformen propagiert wird. Im Gegenteil steht hier der Idee einer freiwillig-unfreiwilligen10 Gemeinschaft optimierter Subjekte eine selbst gewählte, aber räumlich mögliche Gemeinschaft gegenüber. Ebenso ist die Entwicklung des Individuums, das sein eigenes Zimmer benötigt – „a woman must have money and a room of her own if she is to write fiction“11 – im Bildnarrativ vorhanden. Der eigene Raum steht hier aber nicht für einen bürgerlichen Individualismus oder für die Selbstinszenierung des Subjekts, sondern markiert die Möglichkeit des Rückzugs, der Entwicklung und der Kontrolle über die eigene Sichtbarkeit, aber auch der freiwilligen Gemeinschaft.
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gl. Vortrag von Peter Mörtenböck: Wohnen im Haushalt der Märkte, UniverV sität Bremen, April 2013. Aureli, Pier Vittorio/Tattara, Martino: Soft cell: the minimum dwelling, 2018, https://www.architectural-review.com/essays/soft-cell-the- minimum-dwel ling (10.02.2022). Ott, Michaela: Es lebe die Dividuation! Zur Notwendigkeit andere Denkkonzepte angesichts zeitgenössischer Teilhabepraktiken, http://www.yeast-art-of-shar ing.de/2016/05/es-lebe-die-dividuation-interview-mit-prof-dr-michaela-ott/ (31.8.2020). Woolf, Virginia: A Room of One’s Own, in: dies.: A Room of One’s Own and Three Guineas, hg. v. Hermione Lee, 2012 London, S. 1–98, hier S. 2.
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Schluss Der gezeigte Raum einer möglichen Zukunft des Wohnens darf jedoch nicht als isoliertes Zimmer einer wiederholbaren Typologie gelesen werden. Vielmehr zeigt er die Idee eines Wohnraums, der immer im Kontext der Großstadt gedacht wird und mit dieser in Verbindung steht. Wenn das Wohnen nicht mehr als ein fixierter häuslicher Innenraum im Rahmen einer Wohntypologie gelesen wird, sondern als ein politischer Bestandteil, der zur Gesamtheit der Stadt gehört und somit zur Bildung eines Gesellschaftskörpers beiträgt, dann sind unterschiedliche Formen von Kollektivität, Selbstständigkeit und Verbundenheit möglich. Das Bild visualisiert also Möglichkeiten, wie Wohnen heute gelebt, gedacht und weiterentwickelt werden kann. Dabei geht es nicht um das Bild als Objekt an sich, sondern darum, wie die bildliche Repräsentation Bedeutung produziert: „Representation connects meaning and language to culture.“12 Dadurch wird auch sichtbar, dass durch das aktive Produzieren von Bedeutungssystemen diese auch veränderbar sind.
NFTs Das Bild des Wohnens zeigt ein Narrativ, das davon erzählt, was Wohnen ist und sein kann, und eröffnet dadurch Perspektiven und Möglichkeiten, legt dadurch aber gleichzeitig auch Situationen und Begebenheiten vorübergehend fest. Die Ambivalenz des Bildes liegt darin, dass es sowohl kritisch herausfordert als auch zugleich affirmativ und bestätigend wirkt.13 In welcher Form wird sich die Bedeutung von Bildern demnach weiterentwickeln? Ein Aspekt sei hier hervorgehoben, der bereits in unserer Gegenwart verankert ist: Abseits von Bedeutungs- und Evidenzproduktion wird das digitale Bild schlichtweg heute auch als Wertanlage gehandelt. Der Markt der sogenannten Non-Fungible Tokens (NFTs) ist ein stark wachsender und sollte in der Auseinandersetzung mit digitalen Bildern nicht unerwähnt bleiben.
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all, Stuart: The Work of Representation, in: Hall, Stuart (Hg.): Representation. H Cultural Representation and Signifying Practices, London/Thousand Oaks/ New Delhi 1997, S. 15. Vgl. Pechriggl, Alice/Schober, Anna (Hg.): Hegemonie und die Kraft der Bilder, in: Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Band 3, Köln 2013, S. 18.
Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens Non-Fungible Token kann als „nicht ersetzbares digital geschütztes Objekt“ übersetzt werden.14 In den letzten Jahren hat sich eine Vielzahl neuer Plattformen für den Handel mit NFTs bzw. mit digitaler „Kunst“ entwickelt.15 Bilder, Gifs, Musik, Videos und andere multimediale Artefakte werden als NFTs gehandelt. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass durch den Kauf eines NFT nicht das digitale Objekt (Bild) an sich erworben wird, sondern nur ein Eintrag in der Blockchain, einer Art Datenbank. Hier wird einmalig mittels Signatur festgehalten, wer Eigentümer*in der Datei ist, wodurch Einträge Besitzer*innen eindeutig zugeordnet werden können. Wer ein NFT erwirbt, besitzt demnach nicht das digitale Bild selbst, sonderneinen kryptografischen Kontrakt bzw. eine Art „Angeberecht“ mit einem bestimmten monetären Wert, der in Cryptocoins gehandelt wird.16 Das zugrunde liegende Werk kann weiterhin millionenfach digital reproduziert werden. Wer Geld gewinnbringend anlegen möchte, kann nicht mehr nur in Grundstücke, Immobilien, Kunst oder Aktien investieren, sondern auch in Kryptowährung oder NFTs. Ein Beispiel hierfür ist die digitale Collage Everydays: The First 5000 Days von Mike Winkelmann, bekannt unter dem Namen Beeple. 2021 bei einer Auktion bei Christie’s in London wurde Everydays für fast 70 Millionen US-Dollar verkauft. Beeple ist seitdem, nach David Hockney und Jeff Koons, der drittteuerste lebende Künstler der Welt. Das Gif Nyan Cat (von Christopher Torres) wurde für mehr als 1 Million US-Dollar verkauft, die Liste an Beispielen überteuerter NFTs lässt sich endlos weiterführen und erzählt die Geschichte eines Hyper- oder Turbokapitalismus. Ähnlich wie in der Finanzkrise ab 2007 werden hier spekulative (Bild)Werte gehandelt, bei denen niemand weiß, ob das erworbene Bild oder die Blockchain selbst im schnell vergänglichen digitalen Raum des Internets in 20 Jahren überhaupt noch aufzufinden sein wird. Das als ein Gegenmodell zum institutionalisierten Finanzapparat entwickelte Crypto-Modell17 ist in keinem Staat rechtlich verankert und könnte
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FTs sind Non-Fungible Tokens und sind einzigartige kryptografische (Wert-) N Marken, sie sind nicht austauschbar im Vergleich zu Fungible Tokens wie etwa Bitcoins. Beispiele hierfür sind die Plattformen Rarible oder Opensea. https://www.theverge.com/2021/2/18/22287956/nyan-cat-crypto-art-foun dation-nft-sale-chris-torres (20.3.2022). Nakamoto, Satoshi: Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System, 2008, https://bitcoin.org/bitcoin.pdf (11.3.2022).
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Schluss auch dafür in die Geschichte eingehen, die nächste Spekulationsblase verursacht zu haben. Kryptowährung und NFTs mögen aus einer Gegenbewegung zum hegemonialen System entstanden sein, sie bringen aber nicht unbedingt Verbesserungen für die Vielen. David Harveys in anderem Zusammenhang formulierte Warnung lässt sich also auch hier anbringen: „Es bestehen ebenso viele Möglichkeiten, dass gut gemeinte Bewegungen kooptiert werden oder auf katastrophale Weise scheitern.“18 Die Absurdität dieses neuen (Bilder)Marktes zeigt auch das von Krista Kim entworfene Mars House (2020). Es ist das erste „crypto-digital home“, das für umgerechnet 512.000 US-Dollar versteigert wurde. Das an die 1990er Jahre erinnernde Rendering ist die erste digitale Immobilie, die zu den Kosten eines durchschnittlichen Einfamilienhauses verkauft wurde. Kim sieht das Mars House als Vorlage für einen zukünftigen Metaverse-Lifestyle und schreibt dazu auf ihrem Instagram-Acccount: „Mars House will live forever as an NFT, so let it represent an art movement for humanity through the power of digital technology. Let this remind future generations that we are here to create a new and better world at a pivotal time in history.“19 Dass digitale Bilder von Luxusarchitekturen wirklich Antworten auf Wohnungsknappheit und -unsicherheit bei einem gleichzeitig überteuerten Immobilienmarkt liefern, ist zu bezweifeln. Die luxuriösen digitalen Phantasieräume stellen aber eine Überkreuzung von Imaginationen und Investitionsgütern dar, deren globale Zirkulation Versprechen vorantreiben und dadurch Märkte bedienen. Bilder wie das Mars House stellen also imaginäre und monetäre Werte her, sie schaffen jedoch keine räumlich greifbaren Verantwortungen oder Verpflichtungen. Wird das digitale Bild als eine Wertanlage begriffen, die am Kunstmarkt unglaubliche Profite einbringen kann, muss diese neue Wahrnehmung und Handhabung von Bildern untersucht werden. Die Auseinandersetzung mit NFTs im Kontext digitaler Bilder ist somit notwendig und bietet zahlreiche Anschlussstellen für weitere Forschung. Angesichts dessen, dass „architects have become increasingly obsessed with images and image-making“, wie Neil Leach schreibt,20 wird die Bedeutung von NFTs auch und gerade an der Architektur nicht spur-
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arvey, David: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und H seine Krisen überwinden, Hamburg 2014, S. 137. https://www.instagram.com/krista.kim (20.3.2022). Leach, Neil: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge 2000, S. viii.
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Abb. X_3: Everydays: The First 5000 Days, Collage von Mike Winkelmann aka Beeple, 2021. Abb. X_4: Mars House von Krista Kim, das erste „crypto-digital home“, 2020.
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Schluss los vorüberziehen – wie das Mars House bereits zeigt. Nach der bereits behandelten Autonomie des Architekturbildes (siehe Kapital 1.2, Bild und Architektur) in den 1970er Jahren, die sich in Zeichnungen von Archigram (Walking City, 1964) oder Zaha Hadid (The Peak, 1983) fand, entwickelte sich auch die gegenhegemoniale Bildpraxis eines handlungsfähigen, politisch-aktivistischen Bildes (siehe Kapital 3.2, Das politisch aktivistische Bild). Sind die nächsten „revolutionären“ Entwicklungen im Architekturbild NFTs? Losgelöst von jeglichem Narrativ oder der Motivation, Teil der architektonischen Geschichtsschreibung zu werden, kann das digitale Architekturbild als NFT zu einem handelbaren Vermögenswert im Finanzbereich werden. Diese Entwicklung kann die Vorstellung, was das digitale Bild in der Architektur sein will, radikal verändern. Auffallend ist bereits, dass auch Kollektive wie (ab)Normal oder der britische Künstler und Designer Adam Nathaniel Furman, der seine Arbeiten selbst als „political-aesthetic projects […] in pursuit of diversity & multicultural cosmopolitanism“ beschreibt,21 ihre digitalen Bilder als NFTs auf diversen Plattformen verkaufen. So wird die digitale Zeichnung Unleashed von (ab)Normal auf der Plattform Reasoned Art für ca 4.000 Euro (Stand 2022) angeboten.22 Im dazugehörigen Post-contemporary Manifesto der Plattform wird von NFTs als „greifbaren“ Vermögenswerten in einer immateriellen Welt des Metaverse gesprochen. „In such a delicate historical moment like the one we are living in, there is need for a cultural revolution to bring about human evolution.“23 Neben der versprochenen kulturellen Revolution durch NFTs bleibt noch das ökologische Problem des massiven Ressourcenverbrauchs, die die neue Kryptokunst mit sich bringt. Denn die verschlüsselten Codes der Blockchain müssen in riesigen Serverfarmen ständig Daten validieren und verschlingen dabei enorme Mengen an Strom. Deshalb verspricht Furman auch, dass seine NFTs weniger CO2 ausstoßen: „Tezos is a clean proof-of-stake blockchain that uses two million times less carbon than Bitcoin & Ethereum.“24 Ob NFTs nun die große Chance für digitale Künstler*innen sind und neue Möglichkeiten für interessierte Käufer*innen bringen oder ob sie
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https://adamnathanielfurman.com/pages/about (11.3.2022). https://www.reasonedart.com/profile/abnormal (11.3.2022). https://www.reasonedart.com/manifesto (20.3.2022). https://adamnathanielfurman.com/collections/projects/products/nfts (20.3.2022).
Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens nur eine Neuerfindung einer hochkapitalistischen Gesellschaft sind, die auch aus digitalen Bildern kapitalisierbares Eigentum erzeugen möchte, wird man in Zukunft erforschen müssen. Die Idee eines offenen, freien Internets, in dem alle auf Informationen zugreifen können, wird jedoch durch NFTs um ein weiteres Stück beschnitten. Durch das Aufkommen der Blockchain-Technologie wird die Idee von zuordenbarem Eigentum und eindeutigem Besitz sowie das Konzept der Knappheit der Dinge, die man besitzen könnte, auch im digitalen Raum angefeuert. So hat Mark Zuckerberg, Eigentümer von Meta (Instagram, Facebook), bereits angekündigt, dass es auf Instagram bald NFTs geben wird. „We’re working on bringing NFTs to Instagram in the near term“.25 Anh-Linh Ngo bemerkt daher in der ARCH+: „Das Bild hat sich verselbstständigt und sich im Zuge dessen verfestigt. Es ist entgegen dem Gerede von seiner Flüchtigkeit und Immaterialität dasjenige, das am längsten währt und am weitesten reicht. Die härteste Währung unserer Zeit – wenn man den astronomischen Preisen von NFT-Kunstwerken Glauben schenkt.“26
Pirats Welche Rolle NFTs in einer möglichen Zukunft spielen werden, wird sich zeigen. Ebenso, wer von ihnen profitiert und ob sie doch auch Möglichkeiten der Sichtbarkeit für eine gegenhegemoniale (Wohn-)Bildpraxis schaffen können. Doch eigentlich gehen diese Fragen weit über NFTs hinaus, denn in welchem digitalen Raum, der mit dem physischen (Wohn-) Raum tief verstrickt ist, operieren wir eigentlich? Hito Steyerl spricht von einem offensichtlich vollständig überwachten, monopolisierten und durch Urheberrecht, Kontrolle und Konformismus geregelten Internet und stellt die Frage in den Raum: „Why not slowly withdraw from an undead Internet to build a few others next to it?“27 Die Frage ist berechtigt, denn wie lassen sich die Praktiken eines drawing otheriwse (hierzu ausführlich Kap. 3.2) mit den Monopolstrategien hochkapitalisierter
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https://www.engadget.com/mark-zuckerberg-confirms-nf-ts-are-comingto-instagram-204435805.html (20.3.2022). Ngo, Anh-Linh: Fassadenmanifest, in: ARCH+245 Fassadenmanifest, 2021, S. 3. Steyerl, Hito: Too Much World: Is the Internet Dead?, https://www.e-flux.com/ journal/49/60004/too-much-world-is-the-internet-dead/ (19.02.2022).
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Schluss Technologiekonzerne vereinbaren? Der „the myth of the neutral platform“ ist, wie ich gezeigt habe, längst entzaubert.28 Auch Mark Zuckerbergs Metaverse der totalen Überwachung bestätigt die Weiterführung einer nicht (an)greifbaren Zukunft, die ein vollkommen transparentes Wohnen und Arbeiten in Aussicht stellt. Eine idealisierte Version des eigenes Selbst wird jedoch außerhalb dieser digitalen Zukunftswelt, mit all ihren Mängeln und Schwächen in unzureichenden physischen Wohnräumen, alleine gelassen. Die digitalen Räume, die unterschiedliche Plattformen zur Verfügung stellen, prägen die Strukturen, in denen unsere Zukunft stattfinden kann. Die Unternehmen des Silicon Valley entwerfen und produzieren somit Infrastruktur für die Zukunft. Akademische Diskurse, Planer*innen, aber auch die User*innen und Bewohner*innen dieser digitalen Räume müssen in die Prozesse, in denen Zukunft verhandelt und gestaltet wird, mit eingebunden werden. Denn wie Benjamin Bratton schreibt: „The platforms we have are not the platforms we need or need to settle for.“29 So plädieren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer für eine öffentliche Kultur der Auseinandersetzung über diese digitalen Räume: „[…] importantly, such public cultures could help to illuminate and engage with the wide spectrum of antagonisms inherent in platform-run societies“.30 Denn in diesen virtuellen Räumen können die Gegensätze möglicher Zukünfte der Gegenwart zur Verhandlung gestellt werden. Dabei müssen aber die Rollen der Protagonist*innen, Teilnehmer*innen und somit auch Planer*innen neu überdacht werden. Denn die Verantwortung von Architekt*innen geht weit über die einer Organisatorin oder eines „orgman“ – wie es Keller Easterling nennt – hinaus. „The architect and salesmean of such things as golf resorts or container ports is a new orgman.“31 Easterling schlägt vor diesem Hintergrund eine „produktive Piraterie“ vor, „in which an additional set of regulations,
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illespie, Tarleton: Custodians of the internet: Platforms, content moderation, G and the hidden decisions that shape social media, New Haven 2018, S. 24. Bratton, Benjamin H.: Platform Econometrics in: ders./Boyadjiev, Nicolay/Axel, Nick (Hg.): The New Normal, Zürich 2020, . S. 371–386, hier S. 373. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge: Platform Urbanism and Its Discontents, in: dies. (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents, Rotterdam 2021, S. 9–38, hier S. 35. Easterling, Keller: Enduring Innocence. Global Architecture and Its Political Masquerades, Cambridge 2005, S. 2.
Ein Ausblick: Wohnen in Non-Fungible Tokens wild cards and fictions, loaded with unorthodox powers, become tools for practitioners sensitive to the political composition of an urban landscape“.32 Sie weist aber darauf hin, dass Architekt*innen in dieser neuen Form der „produktiven Piraterie“ (noch) nicht geübt sind: „Architects are not trained to pirate, except in the service of their own careers.“33 Für die aktive Teilnahme am Diskurs über die Zukunft (des Wohnens) werden also neue Rollen, Praktiken und Produktionsformen erlernt werden müssen. So mahnt Simone Brott an: „Was wir […] verlangen können, ist, dass Architekt*innen lernen sollten, ihre eigenen Bilder zu lesen. […] Es gibt eine schreckliche Blindheit gegenüber Bildern. […] Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele gewissermaßen Analphabeten auf diesem Feld sind.“34 Die Verantwortlichkeit und das Sorgetragen für die eigenen bildlichen, baulichen und gemeinschaftlichen Handlungen ist ebenso bedeutend wie die Bereitschaft, Dinge offen zu gestalten und Prozesse des Werdens zuzulassen. Diese Zukunftsoffenheit würde die Rolle der Architekt*innen bei der Mitgestaltung zukünftiger und gegenwärtiger digitaler wie physischer Prozesse räumlicher und bildlicher Gestaltung verändern und bestärken. Auch der in dieser Untersuchung entwickelte Begriff des drawing otherwise ist eine Form der „produktiven Piraterie“, denn er beschreibt eine greifbare Handlungsfähigkeit gegenhegemonialer Bildproduktion. Ein solches Aktiv-Werden macht bisher unsichtbare Geschichten und Erzählungen sichtbar, die gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und Machtverhältnisse neu zur Verhandlung stellen. Denn gegenhegemoniale Ansätze stellen vorherrschende Prinzipien in Frage und machen dieses Hinterfragens durch konkrete Bilder, Projekte oder Theorien gleichzeitig sichtbar. Die Praxis eines drawing otherwise kann dabei mögliche Zukünfte skizzieren oder solche Zukünfte erkunden, „by giving voice to other narratives and uses of space“, wie Nishat Awan schreibt.35 Auch wenn sich die Möglichkeiten, was das Bild und das Wohnen in einer Zukunft der Ge-
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Brott, Simone/Fuchs, Stefan/Ngo, Anh-Linh: Die Entwirklichung der Realität, Interview, in: ARCH+245 Fassadenmanifest, 2021, S. 162–169, hier S. 169. Awan, Nishat: Mapping Otherwise: Imagining other possibilities and other futures, in: Schalk, Meike/Kristiansson, Thérèse/Mazé, Ramia (Hg.): Feminist Futures of Spatial Practice: Materialisms, Activisms, Dialogues, Pedagogies, Projections, Baunach 2017, S. 33–41, hier S. 39.
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Schluss genwart sein können, vervielfachen, ist ein aktives, greifbares Sorgetragen für Bild, Raum und Gesellschaft unabdingbar. Die hier versammelten Narrative und Überlegungen haben daher Nebenschauplätze genauso wie Bühnen der Sichtbarkeit, digitale wie materielle Realitäten untersucht und sich mit Fehlern, Piraterie, Ausnahmen, Verallgemeinerungen und Normen sowie sichtbaren und unsichtbaren Konstellationen und Situationen befasst. Die dabei gesammelten Erkenntnisse bestärken die Notwendigkeit einer „produktiven Piraterie“, wie es die Praxis eines drawing otherwise zulässt, denn sie produziert Möglichkeiten und Fähigkeiten für das Hier und Jetzt und zeigt Chancen für Vielfalt, Gerechtigkeit und eine greifbare Gemeinschaft auf.
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Abb. 2_38: Quelle: https://www.instagram.com/ studiomcgee/ (10.2.2022). Abb. 2_39: Quelle: https://www.instagram.com/ mytexashouse/ (9.2.2022). Abb. 2_40: Quelle: Bernadette Krejs, 2021. Abb. 2_41: Quelle: https://www.instagram.com/ renovationhusbands (10.2.2022). Abb. 2_42: Quelle: https://www.instagram.com/ mytexashouse/ (9.2.2022). Abb. 2_43: Quelle: https://www.instagram.com/ renovationhusbands (10.2.2022). Abb. 2_44: Quelle: Bernadette Krejs, 2021. Abb. 2_45: Quelle: https://www.airbnb.com/ rooms/plus/24978503 (10.2.2022). Abb. 2_46: Quelle: https://www.airbnb.com/ rooms/plus/31944797 (10.2.2022). Abb. 2_47: Quelle: https://www.airbnb.com/ rooms/plus/23637120 (10.2.2022). Abb. 2_48: Quelle: Screenshot, https://www. instagram.com/explore/tags/choihungestate/ (10.2.2022).
Kapitel 3 Abb. 3_1: Quelle: fala Atelier, https://www.ins tagram.com/fala.atelier/ (16.03.2022). Abb. 3_2: Quelle: (ab)Normal. Abb. 3_3: Quelle: (ab)Normal. Abb. 3_4: Quelle: EDIT. Abb. 3_5: Quelle: EDIT. Abb. 3_6: Quelle: EDIT. Abb. 3_7: Quelle: Asli Serbest und Mona Mahall. Abb. 3_8: Quelle: Asli Serbest und Mona Mahall. Abb. 3_9: Quelle: Screenshot https://www.archdaily.com/973582/the-best-architectural-drawings-of-2021 (1.3.2022). Abb. 3_10: Quelle: Madelon Vriesendorp. Abb. 3_11: Quelle: Hotel Sphinx von Zoe & Elia Zenghelis, 1975-76, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. Abb. 3_12: Quelle: Céline Baumann, Parliament of Plants, 2019.
Schluss Abb. X_1: Fotografie Co-op Interieur, 1926, © Hannes Meyer- Archiv, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M.
Abbildungsverzeichnis Abb. X_2: Åyr. Abb. X_3: Everydays © The First 5000 Days" von Mike Winkelmann (Beeple), 2021, Screenshot https://onlineonly.christies.com/s/beeple-first5000-days/beeple-b-1981-1/112924 (10.6.2023). Abb.X_4: Quelle: Krista Kim.
Die Autorin hat sich bis Produktionsschluss bemüht, alle Rechteinhaber*innen ausfindig zu machen. Personen und Institutionen, die möglicherweise Rechte an verwendeten Abbildungen beanspruchen, werden gebeten, sich mit der Autorin in Verbindung zu setzen.
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Bernadette Krejs (Drin DI) ist Architektin und Forscherin und an der Technischen Universität Wien am Forschungsbereich für Wohnbau und Entwerfen tätig. Ihre Arbeiten bewegen sich in einem transdisziplinären Forschungsfeld zwischen Architektur, Wohnbau und Visueller Kultur. In ihrer 2022 mit Auszeichnung abgeschlossenen Dissertation beschäftigt sie sich mit der medialen Repräsentation von Wohnen auf digitalen Plattformen und einer gegenhegemonialen Bildproduktion im Feld der Architektur. In ihrer forschungsgeleiteten Praxis befasst sie sich kritisch mit verschiedenen ästhetischen Praktiken sowie darin eingeschriebenen Politiken. Sie arbeitet an unterschiedlichen Forschungsprojekten im Feld der Raumproduktion (Diskursraum Wohnbau Wien [2019–2021], Intensified Density [2017]) und ist Mitherausgeberin und Autorin zahlreicher Bücher. Für ihre Tätigkeit als Co-Gastredakteurin der ARCH+, Ausgabe 244: Wien. Das Ende des Wohnbaus (als Typologie) (2021) wurde sie mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022 ausgezeichnet. Ihre Arbeiten wurden in unterschiedlichen Ausstellungen (u.a. PLATFORM AUSTRIA – La Biennale di Venezia 2021) und Büchern publiziert. Als Mitgründerin des feministischen Kollektivs Claiming*Spaces beschäftigt sie sich mit Fragen einer queer-feministischen, intersektionalen Wissensproduktion in der Architekturausbildung und hat in diesem Kontext internationale Konferenzen co-konzipiert (u. a. WHOSE HISTORY?, Architekturzentrum Wien 2022). 2023 erhielt sie den Best Teaching Award für Gendersensible Lehre an der TU Wien. Sie hält Vorträge (u. a. im MAGAZIN – Raum für zeitgenössische Architektur, 2022) und spricht auf Konferenzen und Tagungen (u.a. Research Festival Design Academy Eindhoven, 2022; Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, Universität Bremen, 2021). Sie ist Margarete-Schütte-Lihotzky-Projektstipendiatin 2023. Mit dem Projekt Palace of Un/Learning ist sie gemeinsam mit Max Utech LINA-Fellow 2023 und kooperierte mit der Fondació Mies van der Rohe in Barcelona, der Oslo Architecture Triennale, der Irish Architecture Foundation in Dublin, der Viper Gallery & Umprum in Prag, der Design Academy Eindhoven und Architektūros fondas in Vilnius.
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WISSEN. GEMEINSAM. PUBLIZIEREN. transcript pflegt ein mehrsprachiges transdisziplinäres Programm mit Schwerpunkt in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Aktuelle Beträge zu Forschungsdebatten werden durch einen Fokus auf Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsthemen sowie durch innovative Bildungsmedien ergänzt. Wir ermöglichen eine Veröffentlichung in diesem Programm in modernen digitalen und offenen Publikationsformaten, die passgenau auf die individuellen Bedürfnisse unserer Publikationspartner*innen zugeschnitten werden können.
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