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German Pages [201] Year 2018
Gudula Linck
Yin und Yang
Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813621
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Gudula Linck Yin und Yang
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Gudula Linck
Yin und Yang Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken Überarbeitete Neuausgabe
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Gudula Linck Yin and Yang Searching for wholeness in Chinese thinking Qi is closely linked with yin and yang, more precisely, yin-qi and yang-qi. Many people in this part of the world will be familiar with these as symbols of vital energy or life energy. The idea itself originated in the first century before Christ: yin was then a symbol of shadow, darkness, rain clouds, the north side of the mountain and yang a symbol of the opposite: light, brightness, sun rays and the south side of mountains. The people of the early dynasties were already aware that yin and yang rely on one another, that the one depends on and generates the other. Later further polarities were attached to the conceptual pair, such as calmness and movement, softness and hardness, moistness and dryness, weight and light-weightedness, fullness and emptiness, etc. – until finally the whole world, including human beings, was organised bivalently according to yin and yang. The polar affiliation makes the yin-yang emblem into a symbol denoting the search for wholeness. This is still true to Chinese thinking today, with some deviations, particularly in Traditional Chinese Medicine (TCM), in martial arts, in Qi Gong, or in shadowboxing. Gudula Linck explains the diverse relationship of yin and yang in Chinese philosophy, religion, and social history using numerous examples.
The Author: Gudula Linck was born in Mainz in 1943. She studied in Paris, Germersheim, Salamanca, Tübingen, Taibei, Osaka, Munich, Freiburg, Beijing and Berkeley. After completing her PhD and habilitation she was Professor of Chinese Studies in Kiel from 1990 to 2008. Since 2008 she has been lecturing in Chinese Studies, as well as teaching Qi Gong and Yoga in Freiburg.
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Gudula Linck Yin und Yang Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken Hinter yin und yang steht das qi, genauer gesagt das yin-qi und yangqi, das vielen hierzulande als Inbegriff gespürter Lebenskraft oder fließender Lebensenergie vertraut sein dürfte. Die Idee selbst stammt aus dem ersten Jahrtausend vor Christus: yin steht im damaligen Denken für Schatten, Dunkelheit, Regenwolken, die Nordseite des Berges und yang für das Gegenteil: Licht, Helligkeit, Sonnenstrahl, die Südseite des Berges. Den Menschen der frühen Dynastien war bereits bewußt, daß yin und yang aufeinander angewiesen sind, eines das andere bedingt und hervorbringt. In der Folgezeit lagerten sich weitere Polaritäten an das Begriffspaar an, wie Ruhe und Bewegung, das Weiche und das Harte, das Feuchte und das Trockene, das Schwere und das Leichte, die Fülle und die Leere usw. – bis schließlich die ganze Welt, einschließlich des Menschen, zweiwertig nach yin und yang geordnet war. Die polare Zusammengehörigkeit macht das yinyang-Emblem zum Symbol für die Suche nach Ganzheit, der das chinesische Denken trotz einiger Irrungen treu geblieben ist – bis heute, zumindest in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), in der Kampfkunst, im Qigong oder im Schattenboxen. Gudula Linck macht das vielgestaltige Verhältnis von yin und yang in Philosophie, Religion und Sozialgeschichte Chinas an zahlreichen Beispielen deutlich.
Die Autorin: Gudula Linck wurde 1943 in Mainz geboren. Studium in Paris, Germersheim, Salamanca, Tübingen, Taibei, Osaka, München, Freiburg, Beijing und Berkeley. Nach Promotion und Habilitation war sie von 1990 bis 2008 Professorin für Sinologie in Kiel. Seit 2008 Lehraufträge für Sinologie sowie Tätigkeit als Qigong- und Yoga-Lehrerin in Freiburg. Von ihr sind bei Alber erschienen: Leib oder Körper. Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie (2. Aufl. 2012) und Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst (2. Aufl. 2015).
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Eine frühere Fassung des Buches ist im Jahre 2000 unter demselben Titel im Verlag C.H. Beck erschienen.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © fotolia / Elena Ray Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48916-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81362-1
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Inhalt
Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive 1. Als Himmel und Erde sich trennten . . . . . a) Pangu, die Flöhe und ein dunkler Ledersack b) Heraus aus dem Chaos und wieder hinein c) Ununterbrochene Kosmogonie . . . . . . . 2. Eine Welt in Bewegung . . . . . . . . . . . . a) Die Wandlungen des qì 氣 . . . . . . . . . b) Göttliche und andere Atmosphären . . . . c) Das Resonanzgeschehen in der Welt: gǎn-yīng 感應 . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mikrokosmos Mensch . . . . . . . . . . . . . a) Die Menschwerdung des qì 氣 . . . . . . . b) Körper- und Leibbilder . . . . . . . . . . . c) Leben und Sterben . . . . . . . . . . . . .
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit 1. Mensch und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wunsch und Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entzauberung der Welt . . . . . . . . . . . . . c) Welt und Prinzip lǐ 理 . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Selbstermächtigung des Herzens . . . . . . . . . . a) Die Suche nach dem leeren Herzen . . . . . . . . . b) Das Herz – ein Fürst und Herrscher . . . . . . . . . c) Das gespaltene Herz . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3. Seele oder Lebenskräfte? . . . . . . a) Die Vielgestaltigkeit von shén 神 b) Vergänglich oder unvergänglich . c) hún 魂 und pò魄 . . . . . . . . .
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes . 1. Wege zum Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Augen wie Lacktupfen, Hüften wie ein Bündel Seide b) Qìgōng 氣功 mit dem Pinsel . . . . . . . . . . . . . c) Wind und Wasser und die Kunst des Wohnens . . . 2. Trinken, Essen, Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . a) Vom Kornwein zum flüssigen Nephrit . . . . . . . b) Aromatische Wolken kitzeln begehrliche Gaumen . c) Das Spiel von Drache und Phönix . . . . . . . . . . 3. Konzert der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spontane Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Moralische Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Weg der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Anhang Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Endnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 a) Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen . . . . . . . . 199
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Zur Einführung
Die Suche nach Ganzheit Vielleicht hat die Suche nach Ganzheit die Menschheit immer beschäftigt; doch scheinen wir im Westen derzeit besonders intensiv auf der Suche zu sein: Uns selbst fremd geworden, vereinzelt inmitten einer lauten Welt – die Natur ist uns auch nicht mehr das, was sie einmal war –, von Termin zu Termin gehetzt, von Sinneseindrücken überfordert, erfahren wir täglich, daß Leben in der modernen Welt sich ziemlich kompliziert gestaltet – allen materiellen Annehmlichkeiten zum Trotz. Was einst versprach, das Dasein der Menschen zu erleichtern: Technik und Industrie, Medizin und Pharmazie, Information und Kommunikation, ist uns längst nicht mehr geheuer, und der Impuls, dem zu entkommen, löst die Suche aus nach Stille und Harmonie, nach Selbstfindung in Ganzheit. Da wir geneigt sind, das Unbehagen der europäisch-westlichen Zivilisation anzulasten, ist es kein Wunder, wenn wir hilfesuchend die Ganzheit nach Afrika oder Asien projizieren, insbesondere nach China und Indien. Auf diese Weise sorgen wir für eine Globalisierung in umgekehrter Richtung, den Transfer von Ideen und Praktiken nach Europa, die hier Wurzeln schlagen und sich in Windeseile verbreiten: Trommeln und Bauchtanz, Schattenboxen und Qigong, Ayurveda und Zen. Eher selten dürfte diese Aneignung von einem Verständnis für den ursprünglichen kulturspezifischen Kontext begleitet sein. Doch sei die Frage erlaubt: Warum sollte sie denn?! Warum nicht wie im Supermarkt aus den Regalen der Völker und Kulturen das herausgreifen, was sich in die eigene Lebenswelt integrieren läßt? So und nicht anders dürfte Jahrtausende lang der Aus9 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
tausch von Gütern und Ideen über kulturelle Grenzen hinweg vor sich gegangen sein. Andererseits leuchtet auf Anhieb ein, daß ein genaueres Hinsehen auf die Herkunftsländer den eigenen Horizont zu erweitern vermag. So entpuppt sich denn auch beim zweiten Blick die diesen Kulturen unterstellte Ganzheit durchaus als problematisch. Nicht nur der Westen leistete sich den Sündenfall, der Denken und Empfinden auseinanderdividiert. In Europa begann der Körper-Geist-Dualismus 1 seinen Siegeszug, als Demokrit (um 460 – um 370 v. Chr.) die offizielle Philosophie einseitig auf das Leitbild der festen, d. h. tast- und sichtbaren Körper festlegte. In der Folge war es vor allem Platon (um 427 – um 348 v. Chr.), der den Dualismus vorantrieb, indem er neben den sichtbaren vergänglichen Körpern die davon unabhängigen ewigen Ideen postulierte. Zugleich sei der Mensch in eine Außenwelt hineingestellt, zu der er nur über ein Drittes hinausfinden könne: über Botschaften, die auf dem Wege der fünf Sinnesorgane und das periphere Nervensystem von der Außenwelt in die Innenwelt gelangen. Diese in der modernen westlichen Wissenschaft bis heute folgenreiche Lehre wird auch physiologische Reduktion genannt. Dank dieser haben wir es in Wissenschaft und Technik weit gebracht; doch fordert sie ihren Preis, da sie grundsätzlich alles außen vor läßt, was nicht sichtund tastbar und damit meßbar ist – was aber dennoch unbestritten Realität besitzt; kann doch jeder für sich und an sich spürend nachvollziehen: Stimmungen von der Art der dunklen Nacht, der Stille, der bleiernen Schwere vor einem Gewitterregen, der Heiterkeit eines Frühlingstages oder Atmosphären wie der feierliche Ernst einer Trauergemeinde, die Ausgelassenheit einer Silvesterparty. Auch wenn die großen Kulturen Asiens die Wahrnehmung nicht auf das Sicht- und Tastbare verengten, war doch auch dort im Laufe der Jahrhunderte mehrfach Gefahr im Verzug. So stritten im alten Indien namhafte Philosophen darüber, ob Ganzheit oder Spaltung von Körper und Seele/Geist der 10 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
menschlichen Existenz eigen sei. Und in China verschafften sich immer wieder Stimmen Gehör, die entweder den Körper geringschätzten 2 oder vor dem Ausleben von Gefühl und Begehren warnten. Das bei uns sprichwörtlich auf Menschen aus Asien gemünzte »Immer nur lächeln, immer vergnügt« kann, so gesehen, eher Lebenshemmung nahelegen als Lebensfreude und Lebenslust. Auch im Osten also nichts Neues? Hinzu kommt ein anderes, das die geneigten Leser, wenn sie das Buch nur einen Augenblick beiseitelegen, unmittelbar nachvollziehen mögen: Stellt sich Ganzheit nicht gegenwärtig ein, wenn wir die Augen schließen – mit nichts weiter befaßt als mit dem eigenen Ein- und Ausatmen? Kein Gedanke hat dann auch nur die geringste Chance, Fuß zu fassen und Vernunft und Gefühl gegeneinander auszuspielen. Wozu sich also auf die Suche machen nach China oder anderswo, wenn das eine auch dort und das andere auch hier möglich war und ist?! Das vorliegende Buch ist ein Plädoyer für den »nächsten Weg zu sich selbst einmal um die Welt herum«: Im Alltag Denkgewohnheiten aufzulockern, Sichtweisen zu brechen, die uns seit Jahrhunderten als Habitus überliefert und fast zur zweiten Natur geraten sind, dürfte kein leichtes Unterfangen sein. Erst recht fällt es schwer, Verhaltensmuster aufzulösen, die uns von Kindesbeinen an einverleibt sind. Nichts ist unmöglich, aber es setzt Bewußtheit voraus. So mag die kulturelle Distanz zu einer fundierten Selbstreflexion führen und uns damit womöglich umso schneller auf die Sprünge helfen. Im Folgenden geht es um zweierlei – erstens um den Nachweis ganzheitlichen Denkens in China, veranschaulicht am wohlbekannten yin-yang-Emblem (s. u.), denn an der vorgefundenen Welt interessierten die chinesischen Philosophen nicht so sehr die festen Körper, vielmehr richteten sie ihr Augenmerk auf die ganzheitlich gespürten Wirkkräfte und Atmosphären, auf das, was zwischen den Menschen ist, diese umfängt und um11 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
hüllt. Zweitens geht es darum zu zeigen, daß auch im chinesischen Denken die Ganzheit nicht so unantastbar war, wie das aus der europäischen Perspektive den Anschein haben mag: Wenn wir nämlich die Wege verfolgen, auf denen sich das Bedürfnis nach Ganzheit im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Gehör zu verschaffen sucht, geraten die Gefahren in den Blick, denn auch in China war Kampf angesagt zwischen Moral und Gefühl, Vernunft und Begehren – und um ein Haar hätte dies auch dort eine Art Körper-Geist-Dualismus vorangebracht. Diesem doppelten Anliegen – Ganzheit und Gefahr für die Ganzheit – sind nicht nur die beiden ersten Teile des Buches gewidmet, die in den Bereichen Philosophie und Religion angesiedelt sind. Auch im dritten Teil, der vor allem mit Sozialgeschichte befaßt ist, steht neben der Erprobung der Ganzheitshypothese am Detail die Frage nach den Wirkungen von Triebund Affektregulierung im »Prozeß der Zivilisation«. Im Alltag des vormodernen China Umschau zu halten, kann nicht bedeuten, »Geschichte von unten« zu schreiben – schon gar nicht »so, wie sie wirklich war«. Vielmehr sind aus ganz unterschiedlichen Texten Muster im Bewußtsein zu dechiffrieren, die Rückschlüsse erlauben auf den Umgang mit Körper und Leib.
Der tast- und sichtbare Körper und der gespürte Leib Der Vorrang des gespürten Leibes im vormodernen China bedeutet, daß leibliches Spüren für wichtiger gehalten wurde als der tast- und sichtbare Körper, ohne letzteren zu unterschlagen. Körper und Leib sind im Folgenden nicht umgangssprachlich als Synonyme zu verstehen, sondern unterschiedlich definiert. Diese begriffliche Differenzierung legt schon die Etymologie nahe; sie entspricht darüber hinaus unserer alltäglichen Lebenserfahrung und hat sich bereits seit dreißig Jahren philosophisch bewährt, nicht zuletzt in der Phänomenologie des Leibes. 3 Körper kommt von lat. corpus, d. h. es handelt sich um das 12 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
tast- und sichtbare Gebilde, das noch existiert, wenn Leben schon daraus entwichen ist, denn corpus ist auch der Leichnam. Körper ist zugleich das, was ich wahrnehme, wenn ich kritisch an mir herunterschaue, gleichfalls eine sicht- und tastbare, nach Lage und Abständen gegliederte Realität. Nicht zuletzt ist der Körper Gegenstand der modernen naturwissenschaftlichen Medizin, in jeder Hinsicht meßbar und in gewisser Weise auch zerstückelt, denn der Ohrenarzt bekommt die Ohren, der Augenarzt die Augen, und andere Spezialisten bekommen anderes zugeteilt. Leib hingegen hat etymologisch mit Leben zu tun und ist das, was ich wahrnehme, wenn ich – ohne Augen und Hände zu Hilfe zu nehmen – an mir herunterspüre: ein Jucken, ein Kribbeln in der Magengegend, Herzklopfen oder auch ein Gefühl der Mattigkeit oder Frische, die mich ganzheitlich durchströmt, und nicht zuletzt um mich herum Stimmungen und Atmosphären. Der tast- und sichtbare Körper und der gespürte Leib sind aneinandergebunden: Auch der corpus als Leichnam existiert in seiner individuellen Ausprägung nicht ewig weiter. Ist das Leben erst einmal daraus entwichen, setzt der sichtbare Zerfall bald ein. Umgekehrt bedürfen die meisten leiblichen Regungen eines körperlichen Substrats: Die gespürte Räumlichkeit des Leibes beruht auf Struktur und Motorik der einzelnen Körperteile. Und Leiberfahrungen der Engung und Weitung, z. B. beim Einund Ausatmen, zeigen sich im rhythmischen Heben und Senken des Brustkorbs. So sind der tast- und sichtbare Körper und der gespürte Leib aufeinander angewiesen, aber eben nicht kongruent: Das wird schlagartig deutlich am Phantomschmerz, der als leibliches Spüren wahrgenommen wird, wo ein körperliches Substrat gar nicht mehr vorhanden ist. Auch Gefühle in Gestalt der genannten Stimmungen und Atmosphären hören an der Außenfläche der Haut nicht auf, sind vielmehr räumlich-umgreifender Natur. Diese Art der Unterscheidung zwischen Körper und Leib, 13 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
welche die deutsche Sprache anderen europäischen Sprachen voraushat, ist der Schlüssel, mit dem das vorliegende Buch hantiert. Anders gesagt: Durchweg steht die Frage im Raum, welche Bedeutung dem leiblichen Spüren und dem sichtbaren Körper im chinesischen Denken jeweils eingeräumt wird. Dem einen oder anderen Leser, auch dem Chinakundigen, wird Altvertrautes dabei in einem etwas anderen Licht erscheinen. Das soll nicht weiter beunruhigen, denn im Sinne der Perspektivenvielfalt ist dieser neue Zugang gemeint. Er bietet allerdings zwei Vorteile: Erstens sind die Begriffe »Körper« und »Geist« ersetzt durch Begriffe, die der Ganzheit des gespürten Leibes gerecht werden, denn »Körper« und »Geist«, die in Übersetzungen und Abhandlungen figurieren – als verstünde sich das von selbst –, sind im allgemeinen dem europäischen Dualismus verpflichtet und damit mißverständlich. Zweitens unterstellt das vorliegende Buch, daß Philosophen sich nicht beliebig etwas ausdenken, die Welt vielmehr vor jeder begrifflichen Zurechtlegung unwillkürlich erleben, erfahren und spüren, so daß wir zumindest danach fragen sollten, ob sich in ihren Weltdeutungen womöglich Körperund Leiberleben niedergeschlagen hat. Es geht also um die Frage nach dem »Sitz im Leben« von Begriffen und Konzepten. In der Tat haben es die frühen chinesischen Philosophen gut mit uns gemeint, denn durch alle signifikanten Konzepte ihrer Welt- und Selbstinterpretation schimmert »der Boden der Phänomene«, ein ursprüngliches leibliches Berührt- und Betroffensein.
Yīn 陰 und Yáng 陽 Hinter yin und yang steht das qi (jap. Ki), genauer gesagt das yin-qi und yang-qi, das vielen hierzulande als Inbegriff gespürter Lebenskraft und fließender Lebensenergie ebenso vertraut sein dürfte wie das yin-yang-Emblem selbst: Wer kennt nicht von Ohrringen, Armbändern, Hals- oder Fußkettchen die inein14 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
ander verschlungenen »Fische«: ☯ die den meisten Menschen in unserem Land ein Symbol sind für die harmonische Vereinigung von Mann und Frau. Die ansprechende Graphik stammt erst aus dem 10.–13. Jahrhundert, als chinesische Gelehrte begannen, komplizierte kosmische Zusammenhänge in Schemata abzubilden. Die Idee selbst und auch die Zeichen sind sehr viel älter und bereits auf Bronzeinschriften aus dem ersten Jahrtausend vor Christus zu finden. Dort steht yin für Schatten, Dunkelheit, Regenwolken, die Nordseite des Berges und yang für das Gegenteil: Licht, Helligkeit, Sonnenstrahl, die Südseite des Berges. Wenn sich die Menschen im Norden Chinas, die vom Ackerbau lebten, in der langen kalten Winterzeit nach der wärmenden Sonne sehnten, so war ihnen doch bewußt, daß die Regenwolken Fruchtbarkeit spenden, daß Tag und Nacht und die vier Jahreszeiten aufeinander folgen, daß yin und yang also aufeinander angewiesen sind, eines das andere bedingt und hervorbringt, aber auch verdrängt. In der Folgezeit lagerten sich weitere Polaritäten an das Begriffspaar an, wie Ruhe (yin) und Bewegung (yang) das Weiche (yin) und Harte (yang), das Feuchte (yin) und Trockene (yang), das Schwere (yin) und Leichte (yang), das Trübe (yin) und Glänzende (yang), Dichte und Fülle (yin), das Zerstreute und Leere (yang) usw. – bis schließlich die ganze Welt, einschließlich des Menschen, zweiwertig nach yin und yang geordnet war. Die polare Zusammengehörigkeit, die jeden Dualismus ausschließt, macht das yin– yang-Emblem zum Symbol für die Suche nach Ganzheit, dem das chinesische Denken trotz einiger Irrungen treu geblieben ist – bis heute, zumindest in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), in der Kampfkunst, im Qigong und Schattenboxen (Taiji), in zahlreichen Bildern der Sprache und Schrift. Lektürehinweis. Die Umschrift chinesischer Zeichen folgt dem in der VR China geläufigen Hanyu pinyin. Zeichen erscheinen i. A. dann, wenn das betreffende Wort zum ersten Mal genannt ist oder – um Mißverständnissen vorzubeugen. Über das Regi15 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Zur Einführung
ster läßt sich der erste Ort jeweils mühelos finden. Wenn jahrelange oder jahrzehntelange Beschäftigung mit einem Thema bzw. einer Kultur in ein Buch eingeflossen ist, dann läßt sich nicht alles belegen. So sind im ersten Teil des Literaturanhangs nur Texte ausgewiesen, aus denen direkt zitiert wird. Im zweiten Teil folgt Literatur, die diesem Buch gleichermaßen zugrunde liegt und auch den Lesern Anregung sein kann für weiterführende Lektüre. Wenn es – nur im ersten Teil – Überschneidungen gibt zu meinem Buch Leib und Körper, dann hängt das damit zusammen, dass das Yin und Yang-Buch 1999 als Taschenbuch für den C.H. Beck-Verlag konzipiert war und dann doch ein Eigenleben begann. Nach zweimaliger Wiederauflage gab C.H. Beck die Rechte zurück, so daß ich für die vorliegende Publikation im AlberVerlag das ursprüngliche Manuskript vollständig überarbeiten konnte. An einigen Stellen wurde gestrichen, an anderen Neues eingefügt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund jüngerer Publikationen. Danksagung. Auch diese überarbeitete Neuauflage gründet auf zahlreichen Anregungen. Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle meinem Verleger Lukas Trabert für die Ermutigung zu dieser neuen Fassung sowie ihm und Dr. Ulla Ott für sorgfältiges Korrekturlesen. Gudula Linck
Freiburg im Mai 2017
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I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
Die Popularität von Akupunktur, Qigong, Reiki und ostasiatischer Kampfkünste sorgt dafür, daß die fließende Lebensenergie mit China bzw. Japan, d. h. mit dem kulturellen Erbe des Fernen Ostens, verknüpft ist. Lebenskraft als Leitmotiv asiatischen Denkens versteht sich für uns inzwischen von selbst. Anders verhält es sich mit Atmosphäre, die als signifikantes Konzept im chinesischen Kontext neu sein dürfte. Dabei genügt ein Blick hinter die Kulisse der chinesischen Begriffe um festzustellen, daß sich hinter der Lebenskraft qi und deren vielfältigen Manifestationen – allen voran yin-qi und yang-qi, Dunkelheit und Helligkeit, Feuchtigkeit und Trockenheit usw. – nichts anderes verbirgt als kosmische Atmosphären. Diese nehmen wir nicht einfach nur wahr, sondern spüren sie als etwas, das unser leibliches Befinden entscheidend beeinflusst: Dunkelheit kann ängstigen, anhaltende Feuchtigkeit Rheuma verursachen … Ob bei der Entstehung der Welt, als Himmel und Erde sich trennten, ob bei der Beschaffenheit der Welt als einer Welt in Bewegung oder ob im Werden und Sein des Mikrokosmos Mensch – Lebenskraft und Atmosphäre zeigen sich immer wieder als die zwei Seiten einer Medaille. Dabei hat die Atmosphäre eindeutig mit dem gespürten Leib zu tun, während die Lebenskraft im Grunde beides umfaßt: sowohl die tast- und sichtbaren Dinge als auch die gespürten Phänomene, sowohl Körper als auch Leib.
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I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
1. Als Himmel und Erde sich trennten Die Trennung von Himmel und Erde steht womöglich in allen Kosmogonien für den Anfang der Welt. Was das erste Buch Mose von den chinesischen Weltentstehungslehren unterscheidet, ist die Präsenz eines Schöpfergottes hier und ein sich selbst regulierendes Universum dort. Auch finden sich verschiedene Mythenmotive weltweit, so der Urbeginn aus dem kosmischen Ei, die Abstammung von einem mythischen Geschwisterpaar oder auch Vorstellungen vom Urchaos. Mythisches wirkt weiter, wird philosophisch vertieft und zum Heilsweg umgedeutet: heraus aus dem Chaos und wieder hinein. Mit der Abwesenheit eines Schöpfergottes hängt es zusammen, daß nach chinesischer Anschauung der Weltprozeß nichts anderes ist als ununterbrochene Kosmogonie.
a) Pangu, die Flöhe und ein dunkler Ledersack Die Menschen, die in dem heute »China« genannten Raum lebten, waren wie alle anderen Völker bemüht, die Entstehung der Welt, das Geschehen der Vorzeit, die Taten und Erlebnisse mythischer Figuren zu erklären und diese bildhaft und dichterisch auszugestalten. In den chinesischen Mythen zur Weltentstehung dominiert – neben der Geburt der Welt aus dem Weltenei – das Werden der Wesen und Dinge aus den einzelnen Teilen eines Vorzeitwesens. Allen Überlieferungen ist die Thematik der Teilung bzw. Differenzierung sowie der Wandlung gemeinsam. Das Motiv der Wandlung schließt die Überzeugung mit ein, daß der Tod neues Leben hervorbringt. Gleichgültig, ob der Uranfang als Ei oder als Mutterschoß, Kalebasse, Ledersack, Krug oder Höhle gedacht ist – was sich dahinter verbirgt, ist ein in sich geschlossener, dunkler, runder und mit bewegtem Wasser aufgefüllter Embryonalzustand, aus dem heraus die Welt sich entfaltet. 18 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Als Himmel und Erde sich trennten
Im Mythos vom Riesen Pangu sind mehrere mythische Stoffe miteinander verschmolzen: Vor Pangu war das kosmische Ei, das eines Tages aufsprang und sich zerteilte. Die obere Hälfte wurde Himmel, die untere Erde. Zugleich entstieg Pangu dem Ei und wuchs wie der Himmel, der täglich um drei Meter in die Höhe stieg, und wuchs wie die Erde, die täglich um drei Meter in die Breite ging, bis Pangu eine riesenhafte Gestalt annahm. Seiner Größe entsprechend war ihm ein langes Leben vergönnt, denn er soll erst nach 18 000 Jahren gestorben sein. Bei seinem Tod zerfiel seine Gestalt in tausend und abertausend Teile: Sein Kopf brachte Sonne und Mond hervor; sein Blut wandelte sich zu Flüssen und Meeren; seine Stimme ist es, die uns heute noch im Grollen des Donners ertönt; und sein Atem braust durch die Lande als Wind. Ganz zuletzt entstanden die ersten Menschen – aus den Flöhen in seinem Fell! Erstaunlich, wie beiläufig der Mensch in die Welt kam. Erstaunlicher noch, wie er sich in seiner Rolle als Parasit bis heute behaupten kann. Neben Pangu interessiert aus den chinesischen Weltentstehungsmythen eine weitere Gestalt: Hundun – im Grunde nichts weiter als ein dunkler Ledersack, ein Vorzeitwesen ohne Gesicht, ohne Augen, ohne Mund, ohne weitere Körperöffnungen, in sich ruhend, sich selbst genug. Nun steht hùn-dùn 混沌 bzw. hún-dùn 渾沌 in einer Reihe mit anderen chinesischen Wörtern, denen ein analoges Wortbildungsprinzip zugrunde liegt und die mit hun-dun verwandt sind: hú-lú 壺盧 bzw. 葫蘆 hún-lún 渾淪, kūn-lún 崑崙. Deren Bedeutungen reichen von Kalebasse und Ledersack, Krug und Höhle, Wasserstrudel und Chaos – mit den Kennzeichen: rund und vollkommen, in sich geschlossen wie ein Ei, dunkel und verworren, geheimnisvoll – bis hin zum undifferenzierten Zustand von Bewußtlosigkeit oder mystischer Versenkung. Kunlun 崑崙 – so heißt auch ein Berg im Westlichen Ozean: Sitz der Götter; sein Gegenüber im Westlichen Ozean trägt den Namen hú-shān 壺山: Sitz der Unsterblichen. Beide Berge bestehen aus zwei übereinander angeordneten Sphären, ganz wie 19 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
die zweifach gerundete Kalebasse. Ein Berg Kunlun liegt darüber hinaus im menschlichen Kopf; in seinem innersten geheimnisvollen Teil befindet sich eine Höhle. Wer durch mystische Versenkung dorthin gelangen will, durchschreitet zuvor einen Zustand der Verwirrung und Unbewußtheit (hun), der dem kosmischen Urzustand gleicht. Die Annäherungen an das Wortfeld von hun-dun zeigen, daß die wesentlichen Aspekte, von denen in den Vorzeiterzählungen die Rede ist, in diesen Begriffen enthalten sind: das Runde, die Ganzheit, das Dunkle und Verborgene, das ungeteilte Chaos bzw. die erste Zwei-Teilung am Beginn der Welt; auch die reißenden Wasserstrudel fehlen nicht, die zudem in den Schriftzeichen von hun und dun durch das Sinnelement der Wassertropfen angedeutet sind. Personifiziert begegnet uns das Vorzeitwesen Hundun in einer Parabel im Buch Zhuangzi aus dem 4./3. Jahrhundert vor Christus. Hier steht Hundun als Herr der Mitte für den Zustand der Selbstvergessenheit, ohne Außenablenkung durch die Sinnenreize und zugleich als Allegorie für den ungeschiedenen Zustand vor Entstehung der Welt: »Der Herrscher des Südmeeres war der Unachtsame, und der Herrscher des Nordmeeres war der Fahrige; der Herrscher der Mitte war der Ungeschiedene (hundun). Der Unachtsame und der Fahrige trafen sich zuweilen im Land des Ungeschiedenen. Da dieser die beiden sehr zuvorkommend behandelte, beschlossen der Unachtsame und der Fahrige, sich für des Ungeschiedenen Güte dankbar zu erweisen, und sie sagten: ›Alle Menschen haben sieben Öffnungen, um zu sehen, zu hören, zu essen und zu atmen. Dieser allein hat keine einzige. Wir wollen versuchen, sie ihm zu bohren.‹ Täglich bohrten sie eine Öffnung, und nach sieben Tagen war der Ungeschiedene tot.« 4
Der Tod des Ungeschiedenen ist nichts anderes als das Erwachen in die Welt, das die Sinnesöffnungen bewirken. Der Tod, den die Menschen fürchten, so läßt sich umgekehrt schließen, ist dann Heimkehr in die uranfängliche Ungeschiedenheit, in das Urchaos. Der kleine Tod – der Schlaf, erst recht die mystische Ver20 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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senkung – schenken Vorgefühle dieser Heimkehr. Daran gemahnend geistert Hundun durch die Jahrhunderte und galt denen, die der Plackerei dieses Lebens überdrüssig waren, als Pol der Ruhe und Gewißheit. So im Gedicht von Hanshan, buddhistischer Einsiedler vom Kalten Berg, der irgendwann in der Tangzeit (618–906) gelebt haben soll: »Wie wohl es uns zur Zeit des Chaos (Hundun) war! Wir brauchten nicht zu essen, nicht zu pissen. Als einer sich an uns zu schaffen machte, uns die neun Öffnungen zu bohren, begann die Sorge um Kleider und um Essen, tagaus, tagein, um Steuer und um Pacht, jahraus, jahrein! Um einer Kupfermünze willen, schlägt man sich die Köpfe ein, rennt schreiend hinter’m Leben her.« 5
Auch der Mythos von Pangu und den menschlichen Flöhen überlebte die Jahrhunderte als hübsche Geschichte, während die Zweiteilung der Welt in späteren astronomischen Theorien ihren Niederschlag fand, z. B. in der Vorstellung vom Kosmos als Doppelkuppel, die offiziell bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert gültig ist. Demnach ist der Himmel eine hemisphärische Kuppel, umkreist von Sonne, Mond und Sternen. Im Scheitel der Himmelskuppel stehen der Große Bär und der Polarstern. Die zweite Kuppel ist die Erde, unterhalb des Himmels eine umgekehrte Glocke. Die Idee vom Weltenei kam zum Tragen, als im 1. nachchristlichen Jahrhundert Zhang Heng (78–139) die Kuppel-Theorie infragestellte. Seiner Vorstellung nach war der Himmel rund wie das Ei von der Henne und die Erde wie das Eigelb mittendrin. Weniger profan ausgedrückt: Den Himmel trägt ein feines Fluidum, während die Erde auf Wasser schwimmt. Indem Zhang Heng den Ursprungsmythos vom Weltenei favorisierte, weil dieser den Beobachtungen und Be-
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rechnungen entgegenkam, nahm er bereits die Erkenntnis von der Erde als Kugel vorweg. So wirkten die mythischen Stoffe nach, zumal der Uranfang aus dem Ei oder dem – gleich einem Ledersack verschlossenen – Mutterschoß als vertrautes Phänomen der Lebenswelt ohne weiteres gedanklich nachzuvollziehen war. Auch die Vorstellung von der Entfaltung aus dem Chaos heraus hat ihre lebensweltliche, ja leibliche Fundierung, ist jedes Erwachen aus einem beliebigen Dämmerzustand doch nichts anderes als der Beginn differenzierender Objekt- und Selbstwahrnehmung. Der Wunsch, den umgekehrten Weg zurück in die Ganzheit zu suchen, ist in den Mythen noch nicht präsent; er war bereits philosophischer Besinnung entsprungen, und diese setzte Abstandnahme, d. h. Bedrohung der Ganzheit, voraus.
b) Heraus aus dem Chaos und wieder hinein Die kleine Schrift aus 81 Versen oder fünftausend Zeichen, das Daodejing, das dem Laozi zugeschrieben wird, liegt uns heute in drei Varianten vor. 6 Im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert zusammengestellt, speisen sich diese Texte aus unterschiedlichen Quellen. Wie kein anderes Buch veranschaulicht es den fließenden Übergang zwischen mythischem Denken und philosophischer Besinnung. Wer immer diese Spruchweisheit aufgeschrieben haben mag, hier gelang es, das Unsagbare, das Beunruhigende und Beruhigende menschlicher Existenz in prägnanten Bildern und Metaphern auszudrücken – und zwar auf eine Weise, die uns heute, mehr als zweitausend Jahre nach ihrer Entstehung, noch anzurühren vermag. Laozi soll Astronom gewesen sein, der von Amts wegen den Lauf der Gestirne zu erkunden hatte. Vor allem kreiste sein Denken um den Urgrund der Welt, bevor Himmel und Erde sich teilten:
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»Ein Etwas gibt es, chaotisch und ganz; der Entstehung von Himmel und Erde geht es voran. Still und grenzenlos, für sich allein ist es, unwandelbar, kreisend und nie sich erschöpfend. Der Welt Mutter könnte ich es nennen. Ich kenne seinen Namen nicht, ich nenne es dào 道 …« 7
Ist die Entstehung der Welt ein Vorgang der Differenzierung und Individuation, so muß im chaotischen Zustand des dao die Mannigfaltigkeit alles Seienden potentiell enthalten sein: die Fülle in der undifferenzierten Leere. Nur so ist plausibel, daß nach der anfänglichen Teilung von Himmel und Erde die Zehntausend Wesen und Dinge entstehen: »Das dao bringt das Eine hervor, das Eine die Zwei und die Zwei die Drei, die Dreizahl bringt die Zehntausend Wesen und Dinge hervor: die Zehntausend Wesen und Dinge, getragen vom yin, umhüllt vom yang, geeint vom durchdringenden qi.« 8
Hier wird mit dem Werden der Welt deren Beschaffenheit mitgeteilt: In allem Sicht- und Unsichtbaren wirkt die kosmische Lebens- und Schöpferkraft qi. Das qi selbst wirkt aus der Polarität heraus, ist entweder dem yin zugeordnet oder dem yang, entweder der Fülle oder der Leere. Etwa zeitgleich mit dem Daodejing entstand zwischen dem 4. und 2. vorchristlichen Jahrhundert das Buch Zhuangzi. Beide zusammen gelten als die Klassiker des frühen philosophischen Daoismus. Nur die ersten sieben Kapitel des Zhuangzi sind eindeutig dem Zhuang Zhou (4. Jahrhundert vor Chr.) zugeschrieben, dem Aufseher eines »Lackgartens«. 9 Wie Zhuang Zhou selbst schildern auch die nachfolgenden anonymen Autoren des Zhuangzi in immer neuen Geschichten und Parabeln, wie sich ihnen der Urgrund allen Seins offenbart: Das dao wirkt fort – auch nach Entstehung der Welt, »ohne zu tun«, und doch wird 23 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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alles getan. Unsichtbar wirkt es, denn das dao ist »ohne feste Gestalt«; und doch ist Verlaß darauf; der suchende Mensch spürt es als göttlich-numinose Kraft, die ihn umhüllt und trägt. So stark ist die Faszination, daß es als Heilszustand ersehnt und wie eine Rückkehr in den Mutterschoß erstrebt wird. Dabei waren sich diese Philosophen sehr wohl bewußt, wie sonderbar diese Heilssuche auf ihre Mitmenschen wirken mußte. Ja, sie kokettierten damit, indem sie sich selbst als kindlich, töricht, unbedarft stilisierten. Seither zieht sich das Motiv vom Narren als dem eigentlichen Weisen wie ein roter Faden auch durch die Geschichte der chinesischen Philosophie: »Mein Herz ist das Herz eines Toren, verwirrt und trüb (dùn-dùn 沌沌). Die Menge liebt den Glanz. Ich allein liebe das Dahinwähren und Dämmern. Die Menge liebt das Unterscheiden. Ich allein liebe das Unterschiedslose, bewegt wie das Meer, ohne Halt wie der Wind.« 10
Auch im Buch Zhuangzi wird die Heimkehr in den Urzustand des Chaotisch-Mannigfaltigen in immer neuen Bildern und Geschichten beschworen. Im Kapitel 11 geht aus dem Gespräch zwischen den beiden Gestalten Hongmeng und Yunjiang unmißverständlich hervor, was sich an Lebens- bzw. Leiberfahrung hinter dem Wunsch nach Heimkehr verbirgt: der Zustand des Dahinwährens und Dämmerns in gedanken- und absichtsloser Selbstvergessenheit – jedem von uns vertraut vom träumenden Blick aus dem Fenster während der Fahrt in der Eisenbahn, vertraut auch vom Spaziergang »im Walde so für mich hin«, mit anderen Worten, ein Zustand, den jeder kennt vor aller Erfahrung mit mystischer Selbsteinkehr: »Willst du dein Herz nähren, so folge dem nicht-[absichtsvollen] Handeln, dann wandeln sich die Dinge von selbst. Laß fallen deinen Körper. Spuck aus dein Hören und Sehen. Vergiß, was dich an die Dinge bindet … Löse dein Herz, leg’ dein Bewußtsein beiseite … Die Zehntausend Wesen und Dinge kehren zu ihrer Wurzel zurück; sie kehren zu ihrer
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Wurzel zurück und wissen es nicht. Das hùn-hùn dùn-dùn 渾渾沌沌 (s. o.) verläßt sie bis an ihr Lebensende nie.« 11
Hongmeng, der mit diesen Worten jenem Yunjiang die Rückkehr in die Ganzheit aufzeigt, trägt schon im Namen den Hinweis auf den erstrebten Zustand, bedeutet hóng 鴻 doch Tiefe und Weite, Unermeßlichkeit, während méng 蒙 ursprünglich »bedecken« bedeutet und damit einen verborgenen Platz bzw. ein getrübtes Bewußtsein meint. Davon abgeleitet steht meng auch für die tumbe Torheit und das Kompositum hongmeng für das Urchaos hundun. Hongmeng personifiziert hier also die im Urgrund verwurzelte Weisheit des Großen Menschen, der absichtslos wandelt. Daß dies ein Zustand höchster Glückseligkeit sein muß, dürfte Yunjiang auf Anhieb erkannt haben, denn als er Hongmeng begegnete, »klopfte dieser sich auf die Hüfte und hüpfte dabei wie ein Vogel«. Auch hier findet sich das Motiv vom Narren als dem eigentlichen Weisen, der sich bewußt im Kreise dreht, weil sein Lebensweg vorwärts und rückwärts verläuft: einmal heraus aus dem Chaos und wieder hinein.
c) Ununterbrochene Kosmogonie Im Grunde war den frühen Motiven nichts mehr hinzuzufügen. Nach ihrer ersten mythischen Ausgestaltung fanden in den Jahrhunderten vor Christus die beobachteten Phänomene ihren Niederschlag in anspruchsvollen Lehren philosophischer Besinnung. Als sich in der nachfolgenden Epoche der Hanzeit (206 v. bis 220 n. Chr.) das inzwischen gegründete Kaiserreich konsolidierte, blühten die kosmologischen Spekulationen, ja sie wucherten, bis ein dichtes Netz von Wechselwirkungen die ganze Welt überzog, wo alles mit einander klingt und schwingt. Davon blieben auch die alten Kosmogonien nicht unberührt. Das Buch Huainanzi, dessen Autoren sich in guter daoistischer Tradition verstanden, veranschaulicht den Einfluß dieser neuen Sicht der 25 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Dinge und damit auch den für die Epoche charakteristischen Synkretismus. Die Verknüpfung der frühen Weltentstehungslehren mit dem Resonanzdenken der Hanzeit bringt die Vorstellung von einem geordneten Universum hervor, in dem alles aufeinander wirkt, weil alles miteinander in Beziehung steht: die Welt als Resonanz und als Prozeß, der sich unaufhörlich vor unseren Augen vollzieht. Kapitel 3 des Huainanzi stellt uns vor eine Kosmologie, in der atmosphärische Eindrücke von Dingen und Wesen auf eine uns zum Teil befremdende Weise miteinander verwoben sind. Es lohnt sich, diese atemberaubende Aneinanderreihung in ihrer ganzen Länge zu zitieren. Nicht immer sind auf Anhieb die Zuordnungen nachvollziehbar. Aber nach wie vor dominieren die aus den Mythen vertrauten Motive: Chaos und Dynamik, Teilung und Differenzierung sowie die Hervorbringung der Wesen und Dinge durch die Wandlungen des qi, die – aus dem Urgrund wirkend – dafür verantwortlich sind, daß die Welt ununterbrochen neu entsteht: »Als Himmel und Erde noch keine Gestalt angenommen hatten, das war wie Pferdegalopp, wie Flügelschlagen … Das dao begann in Leere und Weite. Leere und Weite brachten Raum und Zeit hervor. Raum und Zeit brachten das ursprüngliche qi hervor. Das ursprüngliche qi fand seine Begrenzung wie das Wasser an seinen Ufern. Aus dem klaren yang-qi stieg ein Fein-Zerstreutes und Flüchtiges hervor und wurde zum Himmel; das Schwere und Trübe gerann, verfestigte sich und wurde zur Erde. Die klaren und feinen Anteile fanden leichter zueinander als das Schwere und Trübe bei seiner Verfestigung. So entstand zuerst der Himmel, dann erst verfestigte sich die Erde. Die geordneten Essenzen von Himmel und Erde sind yin-qi und yang-qi; die besonderen Essenzen von yin-qi und yang-qi bringen die Vier Jahreszeiten hervor; die sich verstreuenden Essenzen der Vier Jahreszeiten bringen die Zehntausend Wesen und Dinge hervor. Das heiße qi des angesammelten yang bringt – wenn das lange so währt – das Feuer hervor; die Essenz des Feuer-qi ist die Sonne. Das kalte qi des gesammelten yin bringt – wenn das lange so währt – das Wasser hervor; die Essenz des Wasser-qi ist der Mond. Die restlichen qi-Essenzen von Sonne und
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Mond bringen die Sterne hervor. So bekam der Himmel die Sonne, den Mond und die Sterne, und die Erde bekam die Wasserfluten und den Staub zugeteilt … Das dao des Himmels ist rund, das dao der Erde – mit seinen vier Himmelsrichtungen – viereckig. Das Viereckige regiert das Dunkle, und das Runde regiert das Helle. Das Helle spuckt qi aus, deshalb dringt Licht aus Feuer und Sonne nach außen. Das Dunkle schluckt qi, deshalb halten Wasser und Mond das Licht im Innern fest. Dasjenige, das qi ausspuckt, erfüllt die Funktion des Zuteilens; dasjenige, das qi schluckt, erfüllt die Funktion des Verwandelns; deshalb teilt yang zu, und yin verwandelt. Entwickelt sich das qi von Himmel und Erde unausgewogen üppig, so entstehen Wind und Sturm; ist das qi von Himmel und Erde nicht in Harmonie, so entsteht Regen. Kommen yin und yang einander zu nahe, reagieren sie miteinander, und es entsteht Donner … Sind yin und yang verwirrt, entsteht Nebel. Überwiegt das yang-qi, zerstreut es sich in Form von Regen und Tau. Überwiegt das yin-qi, gefriert es zu Frost und Schnee. Die behaarten vier- und gefiederten zweifüßigen Wesen bewegen sich laufend oder fliegend fort und gehören damit zum yang; die Muschel- und Schalentiere sind Wesen, die sich verbergen und gehören damit zum yin. Die Sonne wird durch das yang bestimmt; so kommt es, daß im Frühling und Sommer, wenn die Sonne übermäßig brennt, Vierfüßler sterben … Der Mond wird durch das yin bestimmt, so kommt es, daß bei Mangel an Mondlicht das Hirn der Fische abnimmt … Feuer (yang) lodert nach oben, Wasser (yin) fließt nach unten, deshalb fliegen die Vögel nach oben, und die Fische schwimmen nach unten. Dinge, die einander zugehören, wirken aufeinander; Wesen und Erscheinung entsprechen einander. Wenn eine goldene Schale in heißer Sonne auf trockenem Gras steht, entsteht Feuer; wenn eine große Auster Mondlicht empfängt, bilden sich Perlen. Das Brüllen eines Tigers bringt im Tal Wind hervor; hebt ein Drache seinen Kopf, entstehen vielfarbige Wolken. Kämpfe zwischen Einhörnern verursachen Sonnen- und Mondfinsternis. Stirbt ein Wal, so kommt ein Komet hervor. Seidenwürmer, die mit der Seide spielen, bringen die Shang-Saite 12 zum Zerspringen. Das Fallen eines Meteors verursacht Überschwemmung. Der Mensch wird durch Gefühle bestimmt; die steigen zum Himmel hinauf, so daß auf Mord und Gewalt starke Stürme folgen; auf Miß-
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achtung der Gesetze folgen Insektenplagen. Hinrichtungen zur falschen Zeit ziehen Dürrekatastrophen nach sich, und Ungehorsam gegenüber Befehlen führt zu außergewöhnlichem Regenguß …« 13
Dreierlei fällt auf in diesem langen Zitat: erstens die alten Motive: Undifferenziertheit bzw. Gestaltlosigkeit, Unermeßlichkeit, chaotische Raserei im Urzustand und die Entstehung der Welt durch Trennung von yin-qi und yang-qi, Trennung von Himmel und Erde; zweitens das Wirken des qi, der kosmischen Schöpfer- und Lebenskraft, die alles in Gang hält, d. h. Differenzierung und Individuation und danach die erneute Rückführung in den Zustand undifferenzierter Gestaltlosigkeit. So stellen sich Werden und Vergehen als Folge beständiger Wandlung des qi dar zwischen den beiden Polen feinster Zerstreuung (Leere, yang) und extremer Verdichtung (Fülle, yin). Drittens ist bemerkenswert, daß nicht nur das dao selbst eine göttliche Wirkkraft ist; auch yin und yang bzw. qi wirken als kosmisch-numinose Atmosphären, sei es in Gestalt von Sonne, Mond und Sternen, von Tag und Nacht, sei es in der Abfolge der Vier Jahreszeiten. Im Guten wie im Schlechten stehen alle Wesen und Dinge der Welt unter deren Einfluß – darin eingeschlossen der Mensch. Umgekehrt wirkt im alles erfassenden Zusammenhang der Resonanzen menschliches Verhalten und Fehlverhalten auf das Geschehen in der Welt zurück. Spätere Kosmologien zeichnen sich zuweilen dadurch aus, daß sie den Boden der erlebbaren Phänomene verlassen und ins Spekulative abdriften. Doch auch diesen, von der Lebenserfahrung abgehobenen, Varianten gelang es nicht, die alten, den Phänomenen verpflichteten Leitmotive – Lebenskraft und Atmosphäre – aus der Welt zu schaffen. Sie finden sich z. B. bei Zhang Zai (1020–1077), der sich mehr als ein Jahrtausend nach dem Zhuangzi und Huainanzi wiederholt mit dualistischen Gefährdungen im Denken seiner Zeit auseinandersetzt. Sie finden sich noch bei Song Yingxing (geb. 1600), einem spätkaiserzeitlichen Gelehrten, auch wenn für diesen die Entzauberung der 28 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Welt von Göttern und Geistern längst vollzogen ist und er eine Natur im modernen Sinne als alleinigen Grund der Realität gelten lassen will. Beide Gelehrten betrachteten im spontan sich vollziehenden Prozeß der ununterbrochenen Weltentstehung nach wie vor die Wandlungen des qi als das Hin und Her zwischen dem Zustand der Leere – leer von Differenzierung – und dem Zustand der Fülle an differenzierten Phänomenen der Welt. Zunächst soll Zhang Zai zu Worte kommen: »Die große Leere kann nicht ohne qi sein. Das qi kann nicht anders, als sich zu sammeln, und so bringt es die Zehntausend Wesen hervor. Die Zehntausend Wesen und Dinge können nicht anders, als sich zu zerstreuen, und so gehen sie in die große Leere ein. Die Aufeinanderfolge von Eintreten in die Welt und Austreten aus der Welt benötigt kein eigenes Zutun, sondern geschieht von selbst.« 14
Song Yingxing, der 600 Jahre nach Zhang Zai lebte, unterscheidet sich von sämtlichen Vorgängern dadurch, daß es ihm auf die wiederholte aufmerksame Beobachtung der Phänomene ankam, um sinnvolle Zusammenhänge zu formulieren. Bei aller poetischen Anmutung sind Songs Abhandlungen Naturlehre im besten Sinne, die auf Meßbarkeit verzichten kann: »Es ist so, daß das qi aus dem Nicht[differenzierten] kommt. Indem es fortwirkt, entsteht eine Gestalt. Wasser und Feuer z. B. unterscheiden sich durch ihre jeweilige Gestalt … Treffen beide aufeinander, so herrscht wahre Freude, und in dieser Freude gehen beide auf, umarmen sich aus Liebe in ihr, verschlingen sich in ihr, zerstreuen sich in ihr und wandeln sich innerhalb kürzester Zeit zurück ins undifferenzierte qi.« 15
2. Eine Welt in Bewegung Im Zusammenhang mit den Weltentstehungslehren kam die Beschaffenheit der Welt immer wieder einmal in den Blick. In diesem Kapitel steht der dynamische Aspekt im Mittelpunkt. Zunächst ist noch einmal von den Wandlungen des qi die Rede, 29 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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dann vom Wirken göttlicher und anderer Atmosphären und schließlich vom Resonanzgeschehen in der Welt. Wenn Denkfiguren – wie das qi und die Vorstellung von umhüllenden Atmosphären sowie von Resonanzen in der Welt – die Jahrhunderte überdauerten, so ist nicht verwunderlich, wenn die damit verknüpften Lehren sich immer vielfältiger und komplexer gestalteten. Und doch änderte sich das Grundkonzept nicht. Offenbar war die Lehre vom alles durchdringenden qi, dank der die Welt gar nicht anders als dynamisch und einheitlich erscheinen konnte, irgendwann so fest im chinesischen Denken verankert, daß sie, zumindest im vormodernen China, durch nichts mehr wirklich zu erschüttern war.
a) Die Wandlungen des qi Um es frei nach Goethe zu sagen: qi ist das, was die Welt im Innersten zusammen- und in Bewegung hält. Wollte man daraus schließen, qi sei der »Stoff», aus dem die Welt beschaffen ist, so wäre auch das mißverständlich, wenn der Stoff, wie es im uns vertrauten Sprachgebrauch vorkommt, auf eine sicht- und tastbare Materie reduziert ist; einigen wir uns darauf, daß mit Stoff ein räumlich Ausgedehntes gemeint ist – in Begriffen der modernen Physik: ein Festes, Flüssiges und Gasförmiges, dann mag es angehen, qi als den Stoff zu bezeichnen, aus dem die Welt besteht. War seit Demokrit die europäische Philosophie nach vielfältigeren Anfängen vornehmlich mit dem festen Körper befaßt, so blieb das chinesische Denken dieser anfänglichen Vielfalt im Grunde treu. In dieser Hinsicht ist auch die Etymologie des Zeichens qi aufschlußreich: Auf den sogenannten Orakelknochen aus dem 2. Jahrtausend vor Christus findet sich ein Zeichen, das als drei übereinander geschichtete Wolken gedeutet wird. Das heutige Zeichen qi 气, das auf diese drei Linien zurückgreift, ist auf den Orakelknochen selbst nicht nachgewiesen; dafür aber ein gra30 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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phisch identisches Zeichen, das heute ebenfalls qi ausgesprochen wird und erbitten, erflehen, betteln, Almosen bedeutet: 乞. Sein frühester Kontext legt nahe, daß Wolken- und Windgötter im Gebet angefleht und durch Opfergaben beschwichtigt wurden. Für die Verwandtschaft dieser Zeichen in einem göttlich-numinosen Zusammenhang spricht darüber hinaus, daß die beiden Zeichen in der Folge immer wieder vertauscht sind. Noch in vorchristlicher Zeit gesellte sich zum Wolkenzeichen 气 das Zeichen für »Reis« 米:In dieser Schreibung: 氣 bedeutet qi dann »den Gästen Nahrung reichen«.. Bald darauf wurde letzteres 氣 zusätzlich mit dem Zeichen für »Essen, Nahrung« (食) versehen: 餼 und xì ausgesprochen, in dieser Schreibung steht es bis heute für: »Opfertier«, »Proviant« und »Versorgung«. Alle drei Zeichen zusammengenommen zeigen, wie existentiell in dieser frühen Zeit die Anrufung der Götter und Geister für die Menschen war: Immerhin wurden anläßlich der Opferrituale nicht nur dem höchsten Gott Shangdi Hunderte von Schafen, Hunden, Schweinen und Rindern dargebracht, sondern auch den Wind- und Wolkengöttern, dem Erdgott, den Geistern der Berge, der Flüsse und Seen, um Sturm und Regen oder auch Dürre Einhalt zu gebieten. Letztlich ging es also dabei um die Sicherung der Ernte und Nahrung, um die Sicherung der Existenz. So unterstreicht die dreifache Verwandtschaft – Wolken, Nahrung und ein Göttlich-Numinoses – die Manifestationen des qi zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: ein Atmosphärisches, nämlich Wind, Wolken und das nur noch spürbare Wirken der Götter; daneben das handfeste Essen, der dampfende Reis (s. o.), dessen nährende Qualität in Gestalt der Körner aufgenommen wird, aber auch in Form von Geruchs- und Geschmacksatmosphären in die Nase aufsteigt und auf der Zunge zergeht. Aus diesem frühen Bedeutungsfeld heraus entwickelte sich dann in den Jahrhunderten unmittelbar vor Christus die uns aus den Büchern Zhuangzi und Daodejing bereits vertraute, in sich geschlossene Denkfigur qi mit ihren Verpflichtungen nach 31 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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beiden Seiten: zum Pol der Verfestigung und zum Pol feinster Zerstreuung. Um zu veranschaulichen, wie durchgängig das Konzept von den Wandlungen des qi das chinesische Denken prägt, sind im Folgenden aus unterschiedlichen Epochen und unterschiedlichen Traditionen chronologisch Zitate zusammengestellt. Die Angabe vor dem Zitat dient der epochenspezifischen und geistesgeschichtlichen Einordnung; im Anschluß an das Zitat folgt jeweils eine kurze Erläuterung: 4. Jahrhundert v. Chr.; Zuozhuan, Kommentar zum konfuzianischen Klassiker der Frühlings- und Herbstannalen: »Der Himmel verfügt über Sechs qi: yin und yang, Wind und Regen, Dunkelheit und Helligkeit.« 16
Deutlicher geht es nicht: qi ist hier, neben anderen atmosphärischen Phänomenen, umhüllende kosmische Atmosphäre. 4./3. Jahrhundert v. Chr.; Daoismus, Zhuangzi: »yin und yang und die Vier Jahreszeiten bewegen sich kreisend und jedes nach seiner Ordnung. Zuweilen sieht es aus wie Verdunkelung, als ob die Wesen und Dinge verschwänden, und doch sind sie da. Dann wiederum sieht es aus, als ob alles dahinfließt ins Gestaltlose, und doch wirkt es als lebendige Kraft.« 17
Obwohl vom qi an dieser Stelle nicht ausdrücklich die Rede ist, geht es um die Wandlungen in den Aspekten yin und yang und durch die Vier Jahreszeiten hindurch, die auch als die Vier qi bezeichnet werden. Nach Zhuangzi liegt qi also den in der Welt sichtbar gestalteten Erscheinungen ebenso zugrunde wie den unsichtbaren gespürten atmosphärischen Einflüssen. Hanzeit (206 v.–220 n. Chr.); Wang Chong (27–104 n. Chr.), eigenständiger Denker: »Alle Wesen, die leben und atmen, sterben dann, wenn das qi abbricht.« 18
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Aus den Wandlungen des qi kommen Leben und Tod: qi ist Lebenskraft, die sich in den einzelnen Wesen differenziert und individuelle Gestalt annimmt; seine endgültige Verflüchtigung bewirkt den Tod. Hanzeit (206 v.–220 n. Chr.); Liji, konfuzianisches Ritenbuch: »Das qi des Himmels sinkt herab, das qi der Erde steigt auf.« 19
Hier sind Einheit und Polarität der Welt – der Himmel als yang und die Erde als yin – ebenso angesprochen wie die Dynamik, die der polaren Einheit zugrunde liegt: Das eine geht aus dem anderen hervor, das eine wirkt durchdringend auf das andere ein. Beginn der Kaiserzeit (Jahrhunderte um Chr. Geb.); Huangdi neijing, Klassiker der Medizin: »Die Frühlingsmonate bringen Entwicklung und Entfaltung: Himmel und Erde sind gleichermaßen lebendig, und die Zehntausend Wesen und Dinge blühen auf … Die drei Sommermonate bringen Fülle und Pracht: Himmel und Erde tauschen ihr qi miteinander, die Zehntausend Wesen und Dinge blühen fort und treiben schließlich die Frucht hervor …« 20
Die jahreszeitlichen Wandlungen des qi bewirken alles Leben, Wachsen und Reifen. Für die Mittlere Kaiserzeit (10.–13. Jahrhundert) sei stellvertretend auf einen Text von Zhang Zai (1020–1077) verwiesen, der schon an anderer Stelle aufgeführt ist (s. I.1.c). Darin bekräftigt Zhang Zai das Sich-Sammeln und Sich-Zerstreuen des qi und somit die auf dem qi gründende Ganzheit der Welt. Späte Kaiserzeit; Wang Yangming (1472–1529), Hauptvertreter einer eher »mystischen« Richtung, der sogenannten Herzschule: »Wind, Tau und Donner, Sonne, Mond und Sterne, die Gefiederten und die Vierbeiner, Gras und Bäume, Berge und Flüsse, Erde und Felsgestein
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bilden mit den Menschen durch ihren gemeinsamen Ursprung einen Leib. Deshalb können die Fünf Getreidearten, die Gefiederten und Vierbeiner den Menschen ernähren; deshalb können Kräuter und Mineralien die Krankheiten des Menschen heilen. Nur weil alles gleichermaßen aus diesem einen qi besteht, kann es sich wechselseitig durchdringen.« 21
Auch hier wird die Ganzheit der Welt noch einmal bekräftigt, bevor in der nachfolgenden Epoche das traditionelle Weltbild auseinanderfällt. Fassen wir die vorrangigen Eigenschaften des qi zusammen, so kommen wir auf drei: Erstens, qi ist eine dem gesamten Kosmos zugrundeliegende Antriebs- und Lebenskraft. Dies setzt zweitens: Dynamik voraus, mit anderen Worten, die Wandlungen des qi zwischen den Polen Verdünnung/Zerstreuung/Leere auf der einen und Sammlung/Verdichtung/Fülle auf der anderen Seite. Drittens, in der Nähe des yang-Poles (Zerstreuung) ist qi fließend, weich und durchdringend, unsichtbar zwar und doch spürbar präsent; in der Nähe des yin-Poles (Verdichtung) ist qi gestaltete und gefestigte Form, tast- und sichtbar.
b) Göttliche und andere Atmosphären Der weitere Verlauf der Begriffsgeschichte von qi erweckt den Eindruck, als stünde die atmosphärisch-fließende Beschaffenheit des qi im Vordergrund – ganz im Sinne der frühesten Abbildung auf den Orakelknochen in Form der drei Wellenlinien, die im Deutschen sehr schön mit dem Wort »Wallen« umschrieben ist. Zur vorwiegend atmosphärisch-flüchtig-fließenden Manifestation des qi gehören metaphorische Umschreibungen, wie das »Wandernde und Treibende«, »das Umherstreunende«, »das fließende Wasser« und »das wilde Pferd«. Nicht zuletzt gilt der Wind, Atmosphäre par excellence, als Urahn des qi. Verfolgen wir noch einmal den Weg zurück von dem Zeit34 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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punkt, da qi als philosophisches Konzept Gestalt annahm, bis hin zu den Inhalten der Orakel-Inschrift, so stellt sich sehr schnell heraus, daß in frühgeschichtlicher Zeit »Atmosphäre« nicht auf die reine Naturerscheinung beschränkt war, wie wir sie in der Moderne verstehen. Die in der Etymologie von qi angedeuteten und später mit dem qi assoziierten Phänomene: Wolken, Regen und Wind stellten sich in dieser frühen Zeit als Manifestationen von Göttern und Geistern heraus. Ihnen fühlten sich die Menschen einerseits ausgeliefert, andererseits vertrauten sie sich ihnen an. Erst mit zunehmender Selbstbehauptung des Menschen gegenüber den göttlich-numinosen Mächten verblassten die Götter- und Geistergestalten. In der Folge, so scheint es, schmolzen sämtliche göttlich-atmosphärischen Aspekte der frühchinesischen Glaubensvorstellungen in dem einen uns bereits vertrauten qi-Begriff zusammen: qi wurde zur treibenden Kraft einer sich selbst bewegenden Welt, die personifizierter Götter im Grunde nicht bedurfte. Darum sollten wir uns, wenn von traditionellen Konzepten die Rede ist, vor einem reduktionistischen Verständnis hüten, etwa im Sinne einer rein energetischen Interpretation, auf der das heutige Qigong, Reiki oder die Akupunktur gegründet sind. Vielmehr legen die Beschreibungen des qi und seiner Wirkungen – im Daodejing oder im Zhuangzi und noch bei Zhang Zai (s. I.1.c) – Zeugnis ab von einer Ergriffenheit, die nur aus der Erfahrung einer mächtigen numinosen Atmosphäre herrühren kann. Nicht nur die personifizierten Götter und Geister, sondern auch qi und die polaren Aspekte yin und yang sind als numinose Atmosphären gedacht, welche die Menschen in ihrem Befinden und Handeln maßgeblich beeinflussen: Wenn wir heute die dem yin-qi und yang-qi zugeordneten Erscheinungen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Hitze und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit usw. als tages-, jahreszeitliche oder klimatische Atmosphären deuten, so sollten wir dessen eingedenk sein, daß »Atmosphäre« hier den unbedingten Ernst einer göttlichen 35 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Wirkkraft mit umfaßt. Dies trifft auch auf die mächtigen Gefühlsatmosphären zu, die mit Musik und Ritus verbunden sind. So warnte der Philosoph Xunzi (298–238 v. Chr.) vor der unberechenbaren Wirkmacht der mit Göttern und Geistern verknüpften Musik. Daß im religiösen Zeremoniell die Götter und Geister atmosphärisch präsent waren, versteht sich von selbst. Aber auch die politischen Atmosphären im Lande waren numinos durchtränkt, denn von der Wirkkraft des Herrschers als dem Mittler zwischen Himmel und Erde hingen Wohl und Wehe der Gemeinschaft ab. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn man bedenkt, daß für die rechte Aufeinanderfolge der jahreszeitlichen qi der Herrscher verantwortlich war. Wie lange der göttlich-numinose Anspruch durch die Jahrhunderte hindurch diesen Atmosphären anhaftet, ist schwer auszumachen – zumal sich einzelne Gelehrte schon früh vom Götter- und Geisterglauben distanzierten. Doch hüteten sie sich, das Kind mit dem Bade auszuschütten, d. h. mit dem Numinosen alle Atmosphären zu verabschieden. Womöglich hatte dies auch mit der spezifischen Ausprägung der chinesischen Gelehrtenkultur zu tun, die im ersten nachchristlichen Jahrtausend in Erscheinung trat: Danach war jeder Angehörige der Elite nicht nur Beamter oder General, sondern zugleich Dichter, Maler und Kalligraph und als solcher Meister im Erfahren und Schaffen von Atmosphären. So wesentlich gehörten diese Künste zum Selbstverständnis der chinesischen Gelehrten, daß sie davon überzeugt waren, durch Atmosphären die eigene Lebenskraft zu nähren: qi und qi gesellt sich gern. Neben künstlerischer Betätigung dienten ausgedehnte Spaziergänge in der Natur ebenso wie die Gestaltung der Wohn- und Gartenräume dem Erspüren harmonisierender Stimmungen (s. III.1.c). 22 Dieses Bedürfnis auf rein ästhetischen Genuß zu verengen oder als modischen Edelspuk abzutun, wäre mit Sicherheit fehl am Platz. Namentlich in der chinesischen Dichtkunst wird immer wieder an das Unsagbare menschlicher Existenz gerührt. Zwar wurde das dao als Urgrund allen Seins nicht immer beschworen. 36 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Doch das Motiv der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, das die Dichtkunst der Tang- (618–906) und Songzeit (960–1278) prägt, zeigt Spuren einer ursprünglichen kosmischen Dynamik, wenn nicht Spuren einer Grundgegebenheit, der sich keine Menschenseele zu entziehen vermag, d. h. Spuren numinoser Atmosphären. Bei einem Gedicht wie dem folgenden von Su Shi (1037–1101) spürt man das unwiderstehliche Wirken des qi, sieht man das »wilde Pferd« den Staub der Welt aufwirbeln: Nichts bleibt, wie es ist, und was ist, entpuppt sich als ein verwehendes Nichts: »Verwehendes Nichts Die Spinne, die am bemalten Vordach ihr Netz webt, die Brücke über die Milchstraße, von Elstern erbaut, die staubbedeckten Blätter des Ölbaums im Regen, die reifbeflogenen Zweige der Weiden im Wind, der Rest von gefrorenen Tautropfen in der Morgenröte, verbleichendes Sternenlicht am blauen Gewebe des Himmels: verwehendes Nichts …« 23
Noch Song Yingxing (geb. 1600) (s. o.), der, was immer er beobachtet, nüchtern und praxisnah zu erklären versucht, zeigt sich angerührt vom Unsagbaren des qi: »… das größte Wunder des qi der Erde, mit anderen Worten, die Fähigkeit der Erde, das Leben aller Wesen zu beginnen: Die Ursachen dafür kennen wir nicht.« 24 Liang Qizhao (1873–1929) hingegen, einem modernen, bereits westlich beeinflußten, aufgeklärten Philosophen im Übergang von der Kaiserzeit zur Republik, scheint ein Göttlich-Numinoses nicht mehr selbstverständlich gewesen zu sein. Doch auch er achtet auf das Ergriffensein des Menschen durch Atmosphären der Natur, wobei ihm an der je subjektiven und situativen leiblichen Erfahrung gelegen ist: »Hundert Personen an dieser Stelle, angerührt von diesem Berg, diesem Strom, diesem Frühling, diesem Herbst, diesem Wind, diesem Mond, dieser Blume, diesem Vogel: … die daraus aufsteigenden Stimmungen sind unübersehbar an der Zahl.« 25
37 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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c) Das Resonanzgeschehen in der Welt: gǎn-yīng 感應 Der Vorstellung vom alles durchdringenden qi ist es zu verdanken, daß sich der philosophische Blick nicht verengte. Anders in Europa, wo man sich daran gewöhnte, die Wesen und Dinge einseitig in ihrer tast- und sichtbaren Vereinzelung zu betrachten. Schon Aristoteles spielte die festen Körper als Dinge an und für sich gegen das Miteinander der Dinge aus. Die Wissenschaft vom Seienden nennt das später: »Auszeichnung der Substanz (Sein-für-sich) vor der Relation (Sein-für-anderes).« 26 Auch Merkmale (Akzidens), die nach europäischer Sicht nicht wesenhaft einer Sache zukommen, sondern nur oberflächlich und austauschbar an den massiven Körpern haften, wie Farbe oder Rundung, stehen in der Bedeutung vor der Relation. Noch Kant hielt an dieser Rangfolge »Substanz – Akzidens – Relation« fest und behauptete sogar, daß Relation bzw. der Kontext (respectum) auf das Wesen der Sache selbst keinen Einfluß habe: »Außer Substanz und accidente kann man sich noch etwas Positives gedenken, nämlich den respectum … Das Wesen der Dinge ändert sich durch ihre äußeren Verhältnisse nicht.« 27 Uns heutigen Menschen mutet das rigoros und verkürzt an: Haben wir nicht im Laufe des 20. Jahrhunderts gelernt, »systemisch« zu denken? Den Geiz eines Ehemannes z. B. mit dem Verschwendungsdrang seiner Ehefrau in Verbindung zu bringen?! Oder am Baum vor dem Fenster nicht nur Wurzel, Stamm, Zweige, Krone und Blätter zu unterscheiden, sondern darüber hinaus das Miteinander des Baumes wahrzunehmen mit vielen kleinen Einzel-Lebewesen, vom Borkenkäfer bis zum Eichhörnchen?! Oder auch seinen jahreszeitlichen Austausch mit Luft und Wasser je anders zu registrieren und vor allem anders zu empfinden?! Die alten Chinesen bedurften der Systemtheorie nicht, sie hatten sie längst – und mehr! Denn ihnen lag das Miteinander der Wesen und Dinge am Herzen. So wichtig waren die Stellung im Gesamtzusammenhang und die wechselseitigen Wirkungen, 38 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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daß das Wesen der Sache selbst davon nicht unberührt sein konnte. Diese unterschiedliche Gewichtung, d. h. die im Vergleich zu Europa umgekehrte Auszeichnung des Kontextes vor der Substanz, durchzieht alle Bereiche der vormodernen chinesischen Kultur von der Grammatik über Malerei und Medizin bis hin zur Ordnung der Gesellschaft: So kennt das klassische Chinesisch im Grunde keine Wortarten, allein die Funktion im Satzgefüge entscheidet darüber, ob ein Zeichen als Substantiv, Adjektiv, Verb oder Adverb aufzufassen ist. In der chinesischen Landschaftsmalerei wiederum ist es die Leere, die mit der geringen Bedeutung fester Körper zu tun hat und dem Betrachter die atmosphärisch intensive Weite erschließt; erst auf den zweiten Blick nehmen wir Leute wahr, die vom Dorf unterhalb eines Felsvorsprunges einen Weg heraufkommen; die Leute, die Häuser, der alte Fischer im Boot – alles fügt sich in diese Landschaft ein als ein Teil von ihr. Im Bereich der Traditionellen Chinesischen Medizin äußert sich der Vorrang des Kontextes im sogenannten funktional-systemischen Denken, das der kausalanalytischen Methode der naturwissenschaftlichen westlichen Medizin gegenübergestellt wird: Nicht das Organ Lunge oder Herz als anatomisches Substrat interessiert, sondern die Funktion im Gesamtsystem, die Wechselwirkung zwischen den Organsystemen und anderen Teilen von Körper und Leib. So kommt es, daß bei Ohrenschmerzen durchaus nicht das Ohr, sondern unter Umständen der Fuß behandelt wird. Auf die Gesellschaft bezogen bedeutet das, daß der Einzelne seine individuelle Persönlichkeit nicht in erster Linie aus sich selber schöpft, sondern aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und im Rahmen dieser Gruppe aus der Stellung in der Alters-, Generations- und Geschlechtshierarchie. Diese Welt im Ganzen ist als philosophisches Konzept eine Hervorbringung der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) und vor allem mit dem Namen des Gelehrten Dong Zhongshu (um 179 – um 104 v. Chr.) verknüpft. Zu Dongs Zeiten hatte sich die Lehre von den Ordnungsprinzipien yin und yang in der Wahrnehmung 39 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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der Welt bereits bestens bewährt. Rezenter war die Lehre von den Fünf Elementen, die – ebenfalls der menschlichen Lebenswelt abgeschaut – einem gewissen Zou Yan (um 300 v. Chr.) zugeschrieben wird. Aus der Verknüpfung der beiden Lehren entstand ein höchst kompliziertes System, in dem alles Geschehen in Natur und Menschenwelt wie in einem kosmischen Konzert miteinander korrespondiert. So passt denn auch unser Wort »Resonanzdenken« ausgezeichnet, denn das Denken in »Entsprechungen« oder auch »Verschränkungen« berücksichtigt nicht, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile. Daß Dong als Staatsmann nicht zuletzt daran gelegen war, mit der Verknüpfung von Makro- und Mikrokosmos die HanDynastie zu legitimieren, kann uns hier gleichgültig sein. Auch interessiert an dieser Stelle nicht, daß die postulierte Einheit der Welt bereits nicht mehr so selbstverständlich war, so daß das Pochen darauf der Selbstvergewisserung diente und schon lange nicht mehr Ausdruck einer naiven Weltsicht war. Doch Dongs Welterklärung war so prägend, daß dieser sogenannte Universismus zeitweise mit dem chinesischen Denken schlechthin gleichgesetzt wurde. Das mag auch damit zusammenhängen, daß wir ihre Spuren in der noch heute praktizierten Traditionellen Chinesischen Medizin ausmachen können. Deren Vorläufer hatte sich der Wechselwirkung von Mikro- und Makrokosmos angenommen, wenn auch bereits gereinigt von allen geschichtsphilosophischen und religiös-spekulativen Anwandlungen der ersten Stunde. Die Lehre von den Resonanzen besagt, daß alle Wesen und Dinge bzw. Phänomene der Welt dem yin und yang und zugleich den Fünf »Elementen« Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser zugeordnet sind. Mit anderen Worten yin und yang und die »Elemente« sind charakterprägend: Mit Charakter ist hier ein starker und zugleich vielsagender Eindruck gemeint, der zwar diffus bleibt und doch die Sache irgendwie trifft: So gehört Glänzendes dem yang zu und Mattes dem yin; eine quirlige oder aufgeregte Person steht für yang, ein träger oder gesetzter Zeit40 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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genosse hingegen für yin, die Morgenstunde, da das Leben erwacht, hat yang im Munde, während sich die Abenddämmerung dem yin zuneigt. Das Charakterprägende der Fünf »Elemente« hat sich auch die chinesische Physiognomik zunutze gemacht, um vom atmosphärischen Eindruck einer Person auf ihren Charakter zu schließen: Danach korrespondiert der Metalltyp mit einer quadratischen Erscheinung, der Wassertyp mit Fettleibigkeit, der Feuertyp mit scharfen Gesichtszügen, der Erdtyp mit einer stämmigen Festigkeit und der Holztyp mit einer hageren Gestalt. Der vielsagende Eindruck läßt z. B. bei einem Holztyp auf hektisches Gebaren und eine nörgelnde, unfreundliche Art schließen. Solche Eindrucksanalogien sind uns durchaus nicht fremd, auch wenn wir heute spielerisch damit umgehen – etwa in einer Annonce »Stier sucht Waage« oder im Fingerzeig auf die schmalen Lippen, die Ehrgeiz oder Verklemmtheit verraten sollen. Nun prägen yin und yang und die Fünf »Elemente« nicht nur die Beschaffenheit, das Temperament bzw. die Gestimmtheit der Wesen und Dinge. Eingedenk der Dynamik der Welt durchlaufen alle Phänomene den Kreislauf von yin und yang sowie den Fünfer-Zyklus. Deshalb sollte auch besser von den »Fünf Wandlungsphasen« die Rede sein, zumal diese Übersetzung dem chinesischen Ausdruck wǔ-xíng 五行 entspricht. Demnach folgt eine Phase auf die andere. Für die Komplexität der Welt sind nicht zuletzt diese Wandlungsphasen verantwortlich: Erstens sind sie ihrerseits auf yin und yang bezogen und zweitens lösen sie einander in mehreren Reihenfolgen ab; davon gelten als die wichtigsten die Reihe der gegenseitigen Hervorbringung und die der gegenseitigen Überwindung. Daß auch dieses philosophische Konzept seinen Sitz im Leben nicht verleugnet, leuchtet unmittelbar ein, wenn wir uns z. B. die Reihe der gegenseitigen Hervorbringung vor Augen halten: Holz bringt Feuer hervor, Feuer bringt Erde (Asche) hervor, Erde bringt Metall hervor, Metall bringt Wasser (Flüssiges) hervor 41 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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(wenn Metall schmilzt), Wasser bringt Holz hervor. Umgekehrt lautet die Reihe der gegenseitigen Überwindung: Wasser überwindet Feuer, Feuer überwindet Metall, Metall überwindet Holz, Holz überwindet Erde, und zum Damm aufgehäufte Erde überwindet Wasser. Das Resonanzgeschehen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos Mensch soll die folgende Tabelle veranschaulichen, bevor im nächsten Kapitel der Mensch selbst in Augenschein genommen wird: Tab. 1 Makro-Mikrokosmos Wandlungsphasen
Holz
Jahreszeit
Feuer
Erde
Metall
Wasser
Frühling Hochsommer
Nachsommer
Herbst
Winter
Fünf Temperaturausstrahlungen
Wind
Hitze
Feuchtig- Trockenkeit heit
Kälte
Geschmack
sauer
bitter
süß
scharf
salzig
Öffnungen des Körpers
Augen
Zunge
Mund
Nase
Ohr
Palastorgane
Gallenblase
Dünndarm Magen
Dickdarm Blase
Speicherorgane
Leber
Herz
Milz
Lunge
Niere
Emotionen
Wut
Freude
Nachdenken
Trauer
Furcht
3. Mikrokosmos Mensch Schon mehrfach ist der Mensch als Teil des Universums im Blickfeld aufgetaucht, und so eng sind Welt und Mensch miteinander verknüpft, daß man die chinesische Philosophie als eine Anthropo-Kosmologie bezeichnet hat. Wenn die Wandlungen des qi für alles Seiende verantwortlich sind, so trifft das auch 42 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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auf den Menschen zu. Die Menschwerdung des qi steht im ersten Abschnitt zur Debatte, d. h. der Anteil des qi und seiner Varianten am Werden, Wachsen und am Aufbau des Menschen. Der zweite Abschnitt ist mit den Körper- und Leibbildern befaßt, deren je spezifische Ausgestaltung in den Jahrhunderten unmittelbar vor und nach Christi Geburt uns noch einmal bildhaft den umgrenzten und zugleich eingebundenen Mikrokosmos Mensch vor Augen halten. Die Vorkehrungen auf ein langes Leben und womöglich auf Unsterblichkeit werden uns im dritten Abschnitt ebenso faszinieren wie altchinesische Vorstellungen vom Tode.
a) Die Menschwerdung des qi Die philosophisch prägnanteste Formulierung über das Werden des Menschen findet sich im Buch Zhuangzi. Sie liest sich wie eine Fortsetzung des schon zitierten Verses 42 aus dem Daodejing. Verweilt Laozi bei den Zehntausend Wesen und Dingen, so ist die Passage im Zhuangzi mit dem Menschen selbst befaßt, mit seinem Werden und Vergehen: »Das Leben des Menschen ist Sammeln von qi; sobald es sich sammelt, gilt das als Leben; sobald es sich zerstreut, gilt das als Tod.« 28 Hinter dem Sammeln und Zerstreuen steht das philosophische Konzept von Fülle und Leere, die als Seinszustände von yin-qi und yang-qi aufeinander folgen, einander hervorbringen bzw. überwinden. Auf die Menschwerdung bezogen ist mit Sammeln und Auffüllen die Individuation gemeint und mit Leeren und Zerstreuen die Auflösung einer individuellen Existenz. Sammeln bedeutet aber auch Verfestigung zum Sicht- und Tastbaren, das sich im menschlichen Körper als Knochen, Muskeln und Sehnen, als Fleisch, Haut und Blut manifestiert. Dies so Gesammelte und Verdichtete steht den unsichtbaren, aber spürbaren Regungen, einschließlich der Geistes- und Bewußtseinsregungen, gegenüber. 43 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Das Blut repräsentiert den Doppelaspekt des qi, denn einerseits ist es noch tast- und sichtbar, andererseits in seiner flüssigen Konsistenz bereits auf dem Weg zur fließend-atmosphärischen Manifestation des qi. Da qi häufig mit seinem atmosphärischenergetischen Aspekt in eins gesetzt wird, kann auch die Wortverbindung »Blut-und-qi« (xuè-qì 血氣) für die Lebenskraft eines Menschen stehen. Das Kompositum findet vor allem in den frühen Schriften der konfuzianischen Tradition Verwendung, während Daoisten mit Vorliebe auf qi als Inbegriff der Lebenskraft zurückgreifen. Das folgende Zitat aus den Gesprächen des Konfuzius (551– 479 v. Chr.), die uns seine Schüler überlieferten, zielt auf die altersspezifische Ausprägung der Lebenskraft, die sich im unterschiedlich intensiven Aufwallen von »Blut-und-qi« manifestiert: »Der Edle hüte sich vor dreierlei: in der Jugend, wenn die Lebenskraft (xue-qi) noch ungefestigt, hüte er sich vor Sinnlichkeit; erreicht er das Alter, wo sich die Lebenskraft in voller Stärke zeigt, hüte er sich vor Streit; im Alter, wenn die Lebenskraft geschwächt, hüte er sich vor Geiz.« 29
In anderen zeitgenössischen Textstellen steht qi schlicht für die Atemkraft; so gilt auch Reden als »Ausstoßen von qi« in Gestalt der Wörter. Vor diesem Hintergrund leuchtet es unmittelbar ein, wenn davor gewarnt wird, zu viel zu reden, bedeutet dies doch Verlust von Atem- und Lebenskraft – eine Warnung an alle, die glauben, um ihr Leben reden zu müssen. Konfuzius verwendet qi darüber hinaus in der Bedeutung von Geschmacksatmosphären, die von Nahrungsmitteln aufsteigen: Er ließ es nicht zu, so heißt es, daß der Geschmack von Fleisch »das qi des restlichen Essens überlagert«. 30 Aufschlußreich für den Unterschied zwischen daoistischer und konfuzianischer Sicht im frühen Verständnis von qi sind Aussagen der Philosophen Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr.), die sich beide in der Nachfolge des Konfuzius 44 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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verstehen: Aus dem Bemühen heraus, Verhaltensregeln für ein harmonisches Zusammenleben zwischen den Menschen aufzustellen, kommt es beiden darauf an, die ungebändigte Lebenskraft qi dem Willen unterzuordnen. Gleichwohl ist auch ihnen an der Schonung der Lebenskraft gelegen; und doch sieht diese Unterordnung ganz nach einem Eingriff in das unvermittelte leibliche Spüren aus, das in seiner Spontaneität und Absichtslosigkeit den Daoisten wiederum als lebenserhaltend gilt: »Es gibt keine gefährlichere Waffe als den Willen; auch das schärfste Schwert kommt ihm nicht gleich.« 31 So gesehen, stehen die späteren Adepten der Lebenspflege, die sich zwar auf die daoistische Tradition berufen, den beiden frühen Konfuzianern sehr viel näher als den frühen Daoisten selbst: Die Techniken der Körper- und Leibbemeisterung, Inbegriff der frühkaiserzeitlichen Lebenspflege, setzen die Vorstellungskraft voraus, wenn nicht Willenskraft, die willentliche Manipulation des qi: Ganz im Sinne dieser bewußt betriebenen Selbstdisziplin und Leibmeisterung ist Qìgōng 气功, seit den 1950er Jahren Sammelbegriff für die Praktiken chinesischer Lebenspflege, wörtlich übersetzt: »gekonnter« oder auch »effektiver« Umgang mit dem qi. Parallel zur Kunst der Lebenspflege entwickelten sich in der Frühen Kaiserzeit komplexere medizinische Vorstellungen, nicht zuletzt auch von der Entstehung menschlichen Lebens. Sie zeichnen sich durch ihre Nüchternheit aus und grenzen sich als Teil der Entsprechungsmedizin ganz entschieden gegenüber früheren Beschreibungen von Zeugung, Empfängnis und Schwangerschaft ab, die von Magie und Analogiezauber geprägt sind. Nunmehr stand im Mittelpunkt das qi in seinen verschiedenen Manifestationen. Folgende Zusammenhänge dürften während des ersten Jahrtausends nach Christus zum Allgemeinwissen der Elite gehört haben, während in der übrigen Bevölkerung nach wie vor magische und dämonologische Vorstellungen im Umlauf sind:
45 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
Während der Vereinigung von yin und yang, d. h. von Frau und Mann, kommt es zur Aufnahme von qi. Durch Verdichtung bzw. Sammeln von qi bereitet sich im mütterlichen Schoß ein neues Leben vor. Wachsen bedeutet Anfüllen und Nähren mit immer differenzierterem qi. Das trifft auf die Zeit vor und nach der Geburt zu. Während der Schwangerschaft sorgt qi nacheinander für die Herausbildung der menschlichen Gestalt, der Knochen und Sehnen, der Haut und Haare, der Fünf Sinnesöffnungen und nicht zuletzt der Speicher und Palastorgane (s. Tab. I.2.c). So entstand zuerst der sicht- und tastbare Körper. Erst in den späten Schwangerschaftsmonaten steigt ein besonders feiner yangAspekt des qi vom Himmel herab und geht in das werdende Leben ein: shén 神 – im allgemeinen als »Geist« übersetzt – zugleich aber auch Inbegriff der leiblichen Grunddisposition eines Menschen, seiner Vitalität und Individualität im umfassenden Sinne. Im zehnten Monat ist dann qi ausreichend aufgefüllt, so daß das neue Leben sich anschickt, den Mutterschoß zu verlassen. Wachstum bis zur Geschlechtsreife im 12. bis 14. Lebensjahr bedeutet weiteres Auffüllen mit qi; Altern bedeutet Verminderung, und Tod bedeutet die endgültige Zerstreuung von qi. 32
Der Doppelaspekt des qi zwischen Leere/Zerstreuung und Fülle/ Verdichtung zeigt sich deutlicher noch, wenn wir uns nunmehr der Struktur von Körper und Leib zuwenden. Auch hier wird deutlich, daß die alten Chinesen vor allem am gespürten Leib interessiert waren, ohne den sichtbaren Körper zu unterschlagen. Das folgende Diagramm enthält mehrere Begriffe, die sämtlich als verschiedene Aspekte des qi zu interpretieren sind. In Übereinstimmung mit dem frühen Verständnis von der Ordnung der Welt sind sie jeweils dem Leib-Außen und Leib-Innen zugeordnet. Leib-Außen entspricht in diesem Fall dem yin und dem kosmischen Aspekt Erde, Leib-Innen dem yang und kosmischen Aspekt Himmel. Leib-Innen bzw. Leib-Außen sind nicht identisch mit dem sichtbaren Körper bzw. gespürten Leib, denn Sichtbares findet sich auch im Innern, und Gefühle werden nicht nur innerlich vom eigenen Leib gespürt, sondern als Gefühlsatmosphären auch als körperlich und räumlich übergreifend erlebt. 46 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Eine Welt in Bewegung
Tab. 2 Menschwerdung des qì yīn Erde Leib – Außen Gestalt
Struktur
Rumpf
陰 陽 yáng (阴) (阳) Himmel
Leib – Innen 神 心 精
shén xīn jīng
Geist Herz Essenz
xíng
形
tǐ
體
氣
心 xīn Herz 神 shén Geist 精神 jīng-shén Feinstessenz
shēn
身
qi
心 xīn Herz 神 shén Geist 精神 jīng-shén Feinstessenz 質
Gestalt – Struktur xíng-tǐ 形體
zhì
Wesensbeschaffenheit
shēn 身 Leib, Gesamtpersönlichkeit
Die wichtigsten, der Außenseite zugeordneten Begriffe sind xing, ti und shen, denen auf der Innenseite shen, xin und jing bzw. jing-shen genüberstehen, zuweilen in unterschiedlicher Rangfolge; xing ist die sichtbar gestaltete Form: »Gestalt«, die, wie es im Buch Zhuangzi heißt, ein Inneres schützend umfaßt, nämlich shen (s. II.3.a). Der Begriff xing erscheint in den Texten vor und nach Gründung des Kaiserreiches, also um die Zeitenwende herum, immer polar auf die genannten Innenaspekte bezogen, was die ganzheitliche Verfassung des Menschen unterstreicht. Damit ist offensichtlich ein dualistischer Körperbegriff fehl am Platz. Im Sinne der Ganzheit der beiden Aspekte Körper und Leib bietet sich der zugegebenermaßen etwas schwerfällige, dafür umso präzisere Ausdruck »körperlicher Leib« bzw. »Körperleib« an. Analoges gilt für den zweiten Begriff ti. Das linke Zeichenelement »Knochen« verweist eindeutig auf den tast- und sicht47 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
baren Körper; auch im rechten Zeichenelement, das ein »Ritualgefäß« zeigt, ist der sichtbar gegliederte Körper angedeutet, denn das Ritualgefäß gilt als Hinweis auf die geordnete Aufeinanderfolge der einzelnen Körperteile – analog zu den geordnet aufeinanderfolgenden Ritualhandlungen: Auf den Menschen bezogen ist damit z. B. die Anordnung der großen und kleinen Knochen gemeint, die als Hartes dem weichen Fleisch gegenüberstellt sind, oder auch die Außen- und Innenseite der Haut, das Blut usw. Hier handelt es sich also um eine tast- und sichtbare Struktur, weshalb im modernen China die Wortverbindung aus ròu 肉 (Fleisch) und ti 體 (体) eindeutig für den tast- und sichtbaren Körper steht. Trotz dieser Fokussierung auf das Tast- und Sichtbare wäre es im vormodernen Kontext auch im Falle von ti falsch, den bloßen Körper zu unterstellen; denn erstens ist in den Textstellen, wie im Falle von xing, der polare Bezug zu den Innenaspekten immer gegeben; zweitens verweisen zwei weitere gängige Wortverbindungen über den bloßen Körper hinaus auf eine den Menschen übergreifende religiöse Dimension, die ja auch mit dem Ritualgefäß assoziiert ist: sì-tǐ 四體 (das Vierfache ti) und sein Synonym sì-zhī 四支 (die Vier Abzweigungen), stehen nämlich für den Menschen in seiner räumlichen, horizontalen und vertikalen, Ausdehnung. Gemeint ist der Mensch als Mikrokosmos, wobei die Vier Gliedmaßen den Vier Himmelsrichtungen entsprechen und der Mensch auf diese Weise dem kosmischen Aspekt Erde zugeordnet ist. Die zweite Wortverbindung tǐ-dào 道體 bzw. tǐ-tiān 體天 (sich das dao bzw. den Himmel einverleiben), verweist noch offensichtlicher auf das Spüren kosmischnuminoser Atmosphären, etwa in der Meditation. So haben wir auch im Begriff ti die sicht- und spürbare Verfassung menschlicher Ganzheit vor Augen: den »körperlichen Leib«. Der dritte Begriff shēn 身 läßt sich noch weniger auf die tastund sichtbare, anatomische Realität des Menschen reduzieren, auch nicht auf seine Außenseite. Die graphische Etymologie zeigt eine Person mit vorgestelltem Fuß und einem inhalts48 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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schweren Bauch: eine schwangere Frau. Es handelt sich also um den lebendigsten Leib, den wir uns vorstellen können, den Leib, der mit werdendem Leben schwanger geht. Darüber hinaus ist shen eindeutig der gespürte Leib, denn, so heißt es in einem frühen Lexikon, wo mit der Gleichlautung chinesischer Wörter gespielt wird: »shēn 身 (Leib) kommt von shēn 申 (sich strekken); shēn 身 (Leib) kann qū 屈 (sich zusammenkrümmen) und shēn (sich strecken).« 33 In diesem Zitat sind die grundlegend den gespürten Leib strukturierenden Dimensionen der Weitung und Engung explizit ausgesprochen, wie wir sie beim Ausatmen (Weitung) und Einatmen (Engung), beim Einschlafen (Weitung) sowie beim Ausdruck von Gefühlen wie Zorn und Freude (Weitung), Angst und Trauer (Engung) erleben. Wie im Falle von xing und ti ist auch bei shen, wenn es auf der Außenseite zu stehen kommt, der polare Bezug zu den Innenaspekten mitgedacht. Es sei denn das Wort steht, was allerdings selten der Fall ist, für ein tast- und sichtbares einzelnes Körperteil, den Rumpf – etwa bei der Körperreinigung, im Unterschied zu den Gliedmaßen und zum Gesicht. Am häufigsten ist mit shen die individuelle Persönlichkeit eines Menschen in ihrer Gesamtheit gemeint. In diesem Sinne bedeutet der Ausdruck »sein shen pflegen« (xiū-shēn 修身) Selbsterziehung/ Selbstkultivierung, ursprünglich als politische Bildung gedacht zur Menschenführung 34, in der Kaiserzeit dann in einem umfassenderen, auch moralischen Sinne. Wenn es stimmt, dass xiushen ursprünglich die rituelle Reinigung vor dem Zeremoniell bedeutet, so verweist auch die religiöse Herkunft auf mehr als die rein körperliche Sauberkeit. Zu dieser umfassenden Vorstellung von shen paßt es, daß das Wortzeichen in zahlreichen Textpassagen mit »Ich« zu übersetzen ist, nicht zuletzt im religiösen Sinne: »Ich als Zweig [am Baum] der [Ahnen und] Eltern«. 35 Auf der Innenseite des Menschen finden wir zunächst shén 神, das mit dem soeben erläuterten shēn 身 nur die Lautung, nicht aber Ton und Zeichen, gemeinsam hat. Im allgemeinen wird 49 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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shén 神 mit »Geist« übersetzt. Das mag angehen, wenn man sich gleichzeitig gegen einen Dualismus von Körper und Geist verwahrt. Zahlreiche Sprichwörter belegen nämlich, daß unser Wort Geist ebenso vielseitig sein kann wie das chinesische shen: Mit Geist kann ein Gespenst bzw. der Totengeist gemeint sein; Geist zielt auf Vitalität, Lebenskraft – ganz im Sinne der Lebensgeister, die sich nach langer Krankheit wieder einstellen; auch die schöpferische Phantasie kann im deutschen Wort »Geisteskraft«, frz. esprit, ebenso enthalten sein wie Persönlichkeit und Charakter – etwa im Sinne des Hamlet-Zitates »Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört«. Nicht zuletzt verweist auch das deutsche Wort »Geist« auf ein Numinoses, den Heiligen Geist. Diese vielfältigen Übereinstimmungen mögen es rechtfertigen, das Wort »Geist« beizubehalten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, biete ich drei Übersetzungsvorschläge an, manchmal alle drei zusammen: Lebenskraft, Bewußtsein und Geisteskraft, denn shen ist eine an die Individuation gebundene, aktive, initiierende Kraft, die kurz vor der Geburt vom Himmel herabsinkt, in den werdenden Menschen eingeht, lebenslang bei ihm verweilt als dessen individuelle leibliche Disposition, Bewußtsein und Geisteskraft, um sich – bei dessen Tod – wieder himmelwärts zu verflüchtigen. Der zweite Begriff auf der Innenseite, jīng 精, enthält – wie das Zeichen für qi – den Reis 米 als sinngebendes Element und bedeutet in den frühesten Kontexten »feiner, reiner Reis«, davon abgeleitet »Essenz«, »ausgezeichnet« sowie »männlicher Samen«. Der lautangebende Teil suggeriert die Frühlingsfarbe Grün 青, eine blühende Vegetation bzw. des Himmels Blau und ist damit wie shen ebenfalls mit dem yang-Aspekt des qi verknüpft; jing ist also die Bezeichnung für den schöpferischen Aspekt, der beim Zeugungsvorgang dem männlichen Partner zugeschrieben wurde: Damit steht es nachvollziehbar für die lebensspendende Samenflüssigkeit. So verbirgt sich auch hinter dem Begriff jing kein Geist im dualistischen Sinne; jing hat vielmehr eine fundamentale stoff50 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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lich-körperliche Bedeutung (Nahrung = Reis, Sperma) und bezieht sich zugleich auf das Feinste vom Feinen, die Essenz gespürter menschlicher Schöpferkraft, Bewußtseins- und Geisteskraft. Aus letzterem ergibt sich die Wortverbindung jing-shen. Mit dem dritten Begriff auf der Innenseite tritt ein besonders sensibler menschlicher Regungsherd in Erscheinung, das Herz xīn 心. Selbst ohne den polaren Bezug mit den Außen-Begriffen veranschaulicht die Mehrfachfunktion des Herzens auf einen Blick die Ganzheit menschlicher Existenz: Das Herz ist als ausgezeichneter Sitz der Lebenskraft, des Denkens und Wollens, der Erinnerung, der Moral, der Gefühle und nicht zuletzt einer mit dem Numinosen verknüpften Geisteskraft. Uns westliche Menschen, die wir traditionell Bewußtsein dem Kopf und Gefühle dem Herzen zuweisen, mag befremden, daß alle diese Regungen, vor allem Verstand und Gefühl, hier zusammengespannt sind: Das Bewußtsein im Sinne differenzierender Erkenntnis setzt nach traditionell-chinesischer Vorstellung die Zusammenarbeit zwischen Herz und den Fünf Sinnesöffnungen voraus. Gleichzeitig fungiert das Herz sozusagen als sechster Sinn für das Spüren numinoser und anderer Atmosphären. Treibt das Herz »frei und ledig wie ein losgelöster Kahn auf den Wellen«, so ist damit ein Zustand gelassener Heiterkeit gemeint – der Idealzustand in der chinesischen Gelehrtenkultur, der sich beim Betrachten chinesischer Landschaftsbilder mit ihren schaukelnden (Fischer)booten unmittelbar aufdrängt. Für den Bedeutungspol Gefühl sei der Leser auf zahlreiche heute noch gängige Redensarten verwiesen, z. B. vom Herzen, das »sich [vor Freude] öffnet« oder das vor Aufregung »in die Mundhöhle hüpft«. Selbst wenn die gefühlsmäßigen und vernünftigen Regungen des Herzens miteinander im Widerstreit liegen, selbst wenn Begehren und Moral einander das Leben schwermachen, so ist das damit verknüpfte Spüren doch immer am eigenen Leib lokalisierbar, und zwar in der Brustgegend, wo es sich bei jedem Menschen besonders oft und intensiv bemerkbar macht. In unserer 51 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
Tradition kam dem Herzen einseitig das im Vergleich zur Vernunft niedere Erkenntnisvermögen zu: das Empfinden. Gleichzeitig sind im dualistischen Denken Gefühl und Geist auf der einen Seite vom physischen Körper auf der anderen getrennt. Dies klingt noch an, wenn man beides durch Wortbildungen wie psycho-somatisch wieder zusammenbringen will, weil alles für diese Einheit spricht. Soviel zum Unterschied zwischen Ost und West, zwischen ganzheitlicher und dualistischer Sicht. Noch einmal wird uns die chinesische Vorstellung vom Herzen beschäftigen, wenn es um Differenz und Antagonismus geht und die damit verbundene Gefahr für die Ganzheit menschlicher Selbstwahrnehmung. Fassen wir die Menschwerdung des qi zusammen, so fällt auf, daß die vormoderne chinesische Anthropologie zwar zwischen Innen und Außen unterscheidet, aber nicht begrifflich präzise zwischen dem tast- und sichtbaren Körper und dem gespürten Leib; auch wenn letztlich der Kontext entscheidet, im allgemeinen handelt es sich um die Einheit des körperlichen Leibes. Zwar wurden Körperteile differenziert, und chinesische Ärzte nahmen auch, wie mehrfach belegt, Leichensektionen vor: an Kriegen, Seuchen und Hinrichtungen mangelte es nicht. Auch enthält das Huangdi neijing, der Klassiker der chinesischen Resonanzmedizin, Passagen mit genauen Angaben zum Gewicht, Durchmesser, Umfang und Fassungsvermögen der einzelnen Organe. Damit waren diese Mediziner gar nicht weit vom westlichen Organ- und Körperbegriff entfernt. Doch blieben solche Vorstellungen im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin nur marginal. Im Menschenbild galten nicht die meßbaren Größen, sondern Konzepte einer nicht-meßbaren, im leiblichen Spüren begründeten Lebenskraft. Wie wenig die chinesische Anthropologie in der Tat am festen Körper interessiert war, bestätigen daoistisch inspirierte Leibbegriffe aus der Frühen Kaiserzeit: Als Grundlage menschlicher Existenz und als Voraussetzung für die Einverleibung des dao sind nur drei Wirkkräfte genannt, die uns bereits bestens 52 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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vertraut sind: erstens shén 神, womit in diesem Kontext allerdings weder Lebenskraft noch Geist oder Bewußtsein gemeint ist, sondern das Heer der im Menschen zeitweise residierenden Mini-Gottheiten; zweitens qi und drittens jing, die Essenz. Was über diese atmosphärisch-fließenden Wirkkräfte hinaus den Menschen kennzeichnet, sind nur Flüssigkeiten, und zwar Blut, Schweiß und Tränen, Speichel und Nasenschleim, Säfte und Knochenmark. Noch in einem medizinischen Werk des 18. Jahrhunderts sind als die drei wichtigsten Bestandteile, aus denen menschliches Leben aufgebaut ist, qi, Blut und jing genannt, d. h. auch hier wiederum Atmosphärisches und Fließendes. 36
b) Körper- und Leibbilder In der nachfolgenden Epoche der beginnenden Kaiserzeit (ab 3. Jahrhundert v. Chr.) entwickeln sich über begriffliche Unterscheidungen hinaus vielsagende Leibschemata. In ihrer Komplexität spiegeln sie eine im Vergleich zu vorher sehr viel differenziertere Gesellschaft. Das Interesse an einer Ganzheit, deren Einzelteile harmonisch miteinander in Wechselwirkung stehen, hatte viel mit dem geeinten Kaiserreich zu tun, das nunmehr von einer starken Zentralgewalt regiert und bürokratisch verwaltet wurde. So gesehen, dienten die betreffenden Leibvorstellungen nicht zuletzt der Legitimation der neuen Staatseinheit. Ob sich der Mensch nun als Staat im Kleinen, als Universum en miniature, als Landschaft im Leibesinnern oder als Abbild einer himmlischen Hierarchie darstellt, immer handelt es sich um einen abgegrenzten Mikrokosmos aus einem Kontext von Bezügen, der zugleich mit anderen Mikrokosmen und dem Makrokosmos in ununterbrochener und folgenreicher Wechselwirkung steht. Der Mensch als Universum en miniature kommt in zwei Versionen vor. Die eine stammt aus dem 7. Kapitel des Buches
53 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
Huainanzi, dem wir auch die eingangs ausführlich zitierte Kosmogonie verdanken (s. I.1.c): »Das Runde des Kopfes ähnelt dem Himmel; das Viereckige der Füße ähnelt der Erde. In Übereinstimmung mit den Vier Jahreszeiten, den Fünf Wandlungsphasen, den Neun Himmelstoren und 366 Tagen hat der Mensch Vier Gliedmaßen, Fünf Speicher, Neun Körperöffnungen und 366 Gelenke … Augen und Ohren entsprechen Sonne und Mond …; Blut und qi entsprechen Regen und Wind.« 37
Die verfeinerte Variante dieser Sichtweise wurde Grundlage der Resonanzmedizin und ist uns bereits vertraut: Mensch und Makrokosmos sind gleichermaßen belebt durch das qi. Nun unterscheidet die Medizin neben dem Ursprünglichen qi (yuán-qi 元氣), das der Mensch als Vorrat mit in die Welt bringt, folgende Sonderformen, die für das menschliche Leben bedeutsam sind: das dem yang zugeordnete wéi-qì 圍氣, das schädliche Einflüsse abwehrt; das dem yin zugeordnete yíng-qì 營氣, das eine schützende Funktion erfüllt; die wǔ-qi 五氣 (Fünf Temperaturausstrahlungen oder Atmosphären), durch die der Himmel den Menschen nährt, während die Erde ihn mit Hilfe der wǔ-wèi 五 味 (Fünf Geschmacksatmosphären) am Leben erhält (s. Tabelle in I.2.c). Die seit der Gründungszeit des Kaiserreiches behauptete Analogie zwischen Mensch und Staat war nicht ganz neu. Schon Xunzi (298–238 v. Chr.) hatte das menschliche Herz als Fürsten bezeichnet, eine politische Instanz, die unter der Oberherrschaft des Königs den einzelnen Lehensstaaten vorstand. Wie im Großen so hatte im Kleinen die Zentralgewalt an Macht hinzugewonnen, was nunmehr im Bild vom Herzen als Herrscher zum Ausdruck kommt. Die im Leibesinnern gespürten Regungsherde bzw. Organsysteme wurden als Paläste und Speicher wahrgenommen. In den Palastorganen, die dem yang zugeordnet sind (Galle, Dünndarm, Magen, Dickdarm und Blase), wird konsumiert; in den Speicherorganen, dem yin zugeordnet (Leber, Herz, Milz, Lunge und Nieren), befinden sich die lebens54 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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wichtigen Vorräte. Dient das kaiserliche Transportsystem aus Flüssen, Kanälen und Straßen dazu, Paläste und andere Orte mit Nahrungsmitteln aus den Getreide-Speichern zu versorgen, so entspricht dem beim Menschen das Netz der Leitbahnen und Verästelungen, in denen qi fließt, während sich das Blut in den Adern und deren Verästelungen fortbewegt. Dem Herzen als Herrscher stehen die beiden Lungenflügel als Minister zur Linken und zur Rechten zur Seite; die Leber wiederum ist der für Strategie und Lebensplanung verantwortliche General – auch unser Wort Leber hat mit Leben zu tun; die Blase sorgt für die Verwaltung der Städte und Landkreise, und der Dickdarm ist verantwortlich für das so lebenswichtige Transportsystem im Sinne des Durchgangs bei der Verdauung und Ausscheidung. Sogar die Fünf Sinnesöffnungen sind als Beamte gedacht, als Grenzbeamte zwischen Innen und Außen. Wie im Großen so im Kleinen kommt es zu Störungen, wenn das Transportsystem versagt, so daß der ungehinderte Fluß von qi und Blut blockiert ist. Neben der Blockade führen auch Mangel oder Leere in Speichern oder Palästen ebenso wie Überfülle und Exzeß zu Schwierigkeiten im System. Die Staat-MenschAnalogie, die übrigens auch die europäische Tradition kennt, war genau dem gleichen Drang entsprungen, aus dem heraus wir im Zeitalter des Computers etwas »abspeichern«, das wir uns merken wollen, oder uns »vernetzen«, wenn wir uns miteinander austauschen. So bringt jede Zeit ihre eigenen Denkmuster und Sprachbilder hervor. Vergleichen wir die Staat-Mensch-Analogie mit dem weiter unten erläuterten Bild vom Innern des Menschen als einer Landschaft, so mag ersteres eher nüchtern anmuten. Und doch handelt es sich auch bei der Staatsmetaphorik 38 um eine Vergegenständlichung, wo leibliches Spüren nach wie vor durch die Konzepte und Begriffe hindurchschimmert. So verbergen sich hinter den Extremzuständen in den Speichern: Fülle, Überfluß und Exzeß auf der einen und Mangel und Leere auf der anderen Seite die leiblichen Dimensionen Enge/Engung und 55 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Weite/Weitung. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Einbettung des Mikrokosmos Mensch in den übergeordneten Mikrokosmos Staat noch etwas von einer atmosphärischen Umhüllung an sich hat: Der Herrscher an der Spitze des Staates ist aufgefordert, als »Sohn des Himmels« die kosmische Ordnung aufrechtzuerhalten, indem er überall »unter dem Himmel« für Harmonie und die rechte Aufeinanderfolge sorgt. Entspricht er diesem »Mandat des Himmels« nicht, kommt es zu Unordnung und moralischem Verfall und in der Folge zu Dürre- und Überschwemmungskatastrophen, Feuersbrunst und Erdbeben als Strafmaßnahmen des Himmels. Auch merkwürdige Ereignisse, Krankheiten und Seuchen werden als Ausdruck verlorener Harmonie gedeutet, der einen Mandatswechsel in Aussicht stellt. In diesem Sinne heißt es in den schon genannten Frühlings- und Herbstannalen des Lü Buwei aus dem 3. Jahrhundert: »Unter den Menschen verkehrter Zeitalter gibt es Riesen und Zwerge und schlimme Mißgeburten aller Art. Unter den Leuten gibt es viel Ruhrkrankheit, und auf den Straßen sieht man allenthalben Mütter mit ihren Kindern auf dem Rücken heimatlos wandern. Es gibt Blinde, Kahlköpfige, Bucklige und Krüppel, und es kommt zu allen möglichen Seltsamkeiten.« 39
Wurden solche Zustände und Ereignisse auf moralisches Fehlverhalten am Kaiserhof zurückgeführt, so kommt auch hier noch einmal die Legitimationsfunktion des Resonanzdenkens zum Vorschein. Nun ist auch die Leib-Staat-Analogie in mehreren Varianten überliefert. Die geschilderte Version liegt mit Abwandlungen bis heute der Traditionellen Chinesischen Medizin zugrunde. Eindeutig daoistischen Kreisen entsprungen ist die Vorstellung von einer Landschaft im Innern, die von Mini-Göttern und Mini-Geistern bevölkert ist und in der sich der Adept während der Meditation ergeht. Auch hier schoß die Phantasie ins Kraut: Wie unterschiedlich die Geographie des Leibes auch ausfallen mochte, immer kam es und kommt es heute noch darauf 56 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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an, den Leib durchwandernd zu erspüren. Dabei bietet sich dem Adepten die Gelegenheit, mit anwesenden Mini-Göttern ins Gespräch zu kommen und Seite an Seite mit ihnen bestimmte Orte aufzusuchen, die besonders gefährdet oder besonders lebenswichtig sind. Auch Sterngottheiten lassen sich im Innern des Menschen nieder, insbesondere der Große Bär, der für Schicksal und Lebensdauer zuständig ist. Nur zum Teil ist die innerlich vorgestellte Landschaft eine vom Menschen unberührte Natur aus Gebirgen wie dem Kunlun (s. I.1.a), aus Wasserfluten, wie das Meer des qi, aus Sonne und Mond, die das Innere erleuchten. Daneben finden sich Requisiten, welche die Kultivierung der Natur durch die Menschen voraussetzen: Pagoden, Türmchen und Brücken, Maulbeerbäume, das Wasserrad, das Webermädchen und der Hirtenknabe. Das weiterführende Ziel der Meditation war das ins Kosmische gesteigerte Verströmen in Weite als Einheit mit dem dao. Diese Einheit visualisiert der Adept auch in Gestalt von drei Gottheiten, die er vom Himmel in seinen Leib herabsteigen läßt. Als in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Beijing der daoistische Tempel der Weißen Wolken renoviert wurde, kam eine Stele aus dem Jahre 1886 zum Vorschein, auf der eine Variante dieser inneren Landschaften eingraviert ist. Auf der Abreibung des sogenannten Inneren Diagramms (Neijingtu, s. Abb. 1) lassen sich folgende Einzelheiten erkennen: Die Augen stellen sich als Sonne und Mond dar, die das Innere des Kopfes ausleuchten. Das Gebirge in der Schädelgegend ist der heilige Berg Kunlun (s. I.1.a). Seine Ausläufer setzen sich entlang der Wirbelsäule als Bergkette nach unten fort. Am Fuße des Kunlun ruht ein See. Links thront eine Gestalt: Laozi, der in der Hanzeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) vergöttlicht wurde. Am unteren Ufer des Sees öffnet sich ein Tal, das der Nasengegend entspricht und dessen Eingang zwei hohe Türme, die Ohren, markieren. Im Tal fließt ein Fluß, der den großen See mit einem kleineren verbindet, der für Mund und Speichelfluß steht. Eine Brücke, die Zunge, führt zur zwölfstöckigen Pagode, eine Alle57 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
gorie der Luftröhre. Der Mönch links neben der Brücke breitet die Arme aus – dem Laozi zugewandt. Die Luftröhre trennt zugleich die obere Leibregion vom mittleren Bereich, in dem, anderen Diagrammen zufolge, die beiden Brüste, hier nicht eingezeichnet, als Sonne und Mond erscheinen. Die Lungengegend wiederum ist als Labyrinth gezeichnet bzw. als das Mittlere Zinnoberfeld. Auf dem hier abgebildeten Neijingtu ist ein Kind hier zugange, Münzen zur Form des Großen Bären aufzufädeln, wodurch die Verlängerung der Lebensspanne angedeutet ist, eine Wirkung u. a. der Meditation. An der Grenze zur unteren Leibregion markiert ein Maulbeerhain mit dem Sternbild der Weberin die Position des Herzens. Auf anderen Darstellungen ist hier die Leber angedeutet, während das Herz oberhalb davon als rot umflammtes Gebäude erscheint. Dem Webermädchen ist, wie im gleichnamigen Sternenmythos 40, der Hirtenknabe beigesellt, der eindeutig im unteren Leibbereich angesiedelt ist und auf unserem Diagramm auch nicht für Viehzucht steht, sondern – ganz chinesisch – seinen Acker pflügt, d. h. seine Lebenskräfte »kultiviert«. Hier repräsentiert er das untere Zinnoberfeld. In der unteren Leibregion stehen die beiden Nieren für Sonne und Mond. Unterhalb des Hirtenknaben erstreckt sich das »Meer des qi«; an dessen tiefster Stelle ist eine Öffnung gedacht, aus der menschliche Lebenskraft tröpfchenweise entweicht. So kommt es bei der Meditation auch darauf an, das Tor verschlossen zu halten, um kein qi zu verlieren. Dieses sollte vielmehr im Leib ungehindert kreisen. Zu diesem Zwecke sind auf unserem Diagramm zwei Kinder einbestellt, die sich, die Wassermühle tretend, eifrig bemühen, das qi in Bewegung zu halten bzw. nach oben zu pumpen. Auf diesem Wege gelangt es zunächst in den Schmelztiegel: auf dem Diagramm durch die vier yin-yang-Embleme angedeutet. Hier wird es im Feuer einer Reinigung und Verwandlung unterzogen. Die gereinigte und verfeinerte Lebenskraft gelangt dann über die Wirbelsäule in Kopf und Gehirn. Dort ist auf anderen Diagrammen der Embryo der Un58 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Abb. 1 Neijingtu
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sterblichkeit eingezeichnet, weshalb in China eine hohe Stirn nicht Intelligenz verrät, sondern auf langes Leben hoffen läßt. In dem hier abgebildeten Diagramm ist der Leib insgesamt als Embryo gestaltet. 41 Manches wirkt ungereimt, wenn wir die verschiedenen aus der Geschichte überlieferten Leib-Landschafts-Diagramme miteinander vergleichen. Dennoch ist das Innere des Menschen klar strukturiert: Kopf, Brust und Unterleib bilden zusammen ein Ganzes; gleichzeitig stellt jeder Bereich für sich einen Mikrokosmos dar, zumal wesentliche Elemente, wie Sonne und Mond, das Gebirge Kunlun und die Zinnoberfelder in allen drei Regionen anzutreffen sind. Das Begehen der inneren Landschaft ist nicht nur ein Begehen des dao, sondern auch ein Begehen des Leibes von Laozi, der Anfang der Kaiserzeit den ungeahnten Aufstieg vom vermeintlichen Autor des Daodejing zu einer hochverehrten Gottheit erlebt. Zuweilen verschmilzt dieser vergöttlichte Laozi mit Pangu, dem riesenhaften Vorzeitwesen, aus dem die Welt entstand (s. I.1.a): So soll aus Laozis linkem Auge die Sonne, aus seinem rechten Auge der Mond hervorgegangen sein; sein Kopf wandelte sich zum KunlunGebirge, und aus seinem Bart sprossen die Planeten und himmlischen Wohnsitze der Götter; aus seinen Knochen gingen Drachen hervor; sein Fleisch gebar die Vierfüßler, und seine Gedärme wurden zu Schlangen. Wir vermissen die Flöhe in Pangus Fell, die sich zu Menschen »mauserten« – womöglich weil diese Herkunft einem Menschengeschlecht nicht anstand, das inzwischen zu einem enormen Selbstbewußtsein gefunden hatte. Wie kein anderes Leibdiagramm zielt dieses ins Mystische verklärte Bild auf Selbsterweiterung und Selbsterhöhung, auf das Eintauchen in göttlich-numinose Atmosphären. Das vierte und letzte Leibschema, Abbild einer himmlischen Hierarchie, wird ebenfalls dem religiösen Daoismus zugeschrieben. Hier erscheint die Welt der staatlichen und auch kirchlichen Hierarchie in den Himmel projiziert, wo analog zur weltlichen Bürokratie ein Pantheon von Göttern über das rechte Verhalten 60 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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der Menschen wacht. So erweisen sich die damit verknüpften Vorstellungen ebenfalls als ein Kind ihrer Zeit, als Spiegel des neu entstandenen bürokratischen Einheitsstaates. Wie im LeibLandschafts-Schema geht es um die Kommunikation mit den Göttern, denen bestimmte Leibregionen zugeordnet sind. Die Kommunikation erfolgt auch hier durch Meditation, die dem Herbeirufen desjenigen Gottes dient, dessen der Adept aufgrund bestimmter Beschwerden gerade besonders bedürftig ist. Sich des Beistandes der Götter zu vergewissern, war umso dringlicher, als nach dieser Sicht im Innern des Menschen allerlei bösartige Elemente ihr Unwesen treiben – eine antagonistische Vorstellung, die uns noch im zweiten Teil dieses Buches zu beschäftigen hat. Besonders heimtückisch gebärden sich im Innern des Menschen drei schlechte Qualitäten des qi, die man sich entweder als Drei Würmer oder Drei Leichname in Gestalt kleiner Kinder ausmalte. Diese Bösewichter setzen alles daran, um ihrem Wirt zu schaden; ja sie wollen ihm ans Leben, um ihrerseits so schnell wie möglich das Gefängnis der Individuation zu verlassen und dahin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Um schneller an ihr Ziel zu gelangen, verlassen sie an bestimmten Tagen ihren menschlichen Wirt und finden sich mit einer mehr oder weniger willkürlichen Klage vor der himmlischen Bürokratie ein in der Hoffnung, eine Verkürzung der Lebensspanne des Betreffenden zu erreichen. In solch kritischen Zeiten tut der Mensch gut daran, auch die Nacht über auf der Hut zu sein; überhaupt soll er Körner meiden, denn davon nähren die Drei Würmer Lebenskraft und Angriffslust. Den Drei Würmern und Leichnamen wesensverwandt sind die Sieben pò 魄, die uns in anderen Kontexten als harmlose leibliche Regungsherde oder als dem yin zugeordnete Wirkkräfte begegnen. Auch die Sieben po haben in ihrer böswilligen Ausprägung nichts anderes im Sinn, als Dämonen auf ihren Wirt zu hetzen, da sie – wie die Würmer und Leichname – nur danach streben, alsbald ins dunkle Erdreich heimzukehren (s. II.3.c). 61 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Im Zustand akuter Krankheit kann allein die Wirkkraft der im Leib anwesenden Mikrogottheiten helfen. Um diese zu aktivieren, braucht der Betreffende die Vermittlung eines daoistischen Priesters, »eines Stellvertreters des dao auf Erden«, denn wer hat schon Namen und Zuständigkeiten der über tausend himmlischen Würdenträger parat?! Der Priester hingegen verfügt über die entsprechenden Handbücher, in denen z. B. folgende Zusammenhänge vermerkt sind: »Bei Schmerzen in der Brust und aufsteigendem Atem: Rufe den Herren des nördlichen Viertels mit seinen einhundertzwanzig Beamten und Generälen an. Er ist zuständig für den [Sternenpalast] Große Waage [und die entsprechende Leibregion]. Er kontrolliert die Hustendämonen und den aufsteigenden Atem, das Erbrechen in Blau, Gelb, Rot und Weiß, die fünf Pestarten, akute magische Infektionen und die sechs Durstgeister. Den Geistern müssen Besen, Papier und Pinsel geopfert werden … Bei Magenbeschwerden und starken Unterleibsschmerzen sind die zwölf Fengli-Herren anzurufen. Sie kontrollieren die Dämonen, welche die zwölf Arten der Erkrankung des Unterleibs verursachen …« 42
Das Eingreifen des Priesters besteht nun darin, in seinem Innern eine kleine Reisetruppe von gutwilligen Geistern zusammenzustellen, Manifestationen seiner eigenen Lebenskraft. Bevorzugte Boten, die mit der Bittschrift an der richtigen Stelle in der weitläufigen Himmelsregion vorstellig werden, sind z. B. der Herr der Drachen zur Linken, der Herr der Tiger zur Rechten und der Weihrauch-Gesandte. Die Bittschrift wird verbrannt, damit die verändernde Kraft des Feuers sie in eine gigantische außerirdische Schrift verwandelt. Ist die Botschaft angekommen, so ruft der Priester seine Boten zurück. Nun ist es an den Göttern zu handeln, indem sie ihre himmlischen Heerscharen herunterschicken, um die für die Krankheit verantwortlichen Dämonen zu bekämpfen und zu vertreiben. Auffallend an diesem vierten und letzten Leibschema ist die Feindseligkeit, die mit dem Wunsch nach Einheit und Harmonie in den anderen Leibbildern kontrastiert; sie verweist bereits auf 62 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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den Antagonismus, welcher der Ganzheit gefährlich werden konnte (s. Teil II). Doch allen geschilderten Leibschemata ist gemeinsam, daß der sicht- und tastbare Körper zum Zuge kommt; auch gerät bei aller Fokussierung auf das Innere des Menschen das Leib-Außen zuweilen in den Blick. Im Mittelpunkt aber steht das Erspüren des inneren Raumes, sei es durch das Kreisen des qi oder durch die bewußte Aktivierung bestimmter Leibpartien. Nie geht es nur um Leben und Gesundheit im modernen verengten Sinne. Vielmehr ist der Mensch als Mikrokosmos eingebettet in religiös überhöhte Sinnzusammenhänge, so daß sich Krankheit zeigt als eine Störung makro-mikrokosmischer Harmonie.
c) Leben und Sterben Womöglich ist es die Betroffenheit beim Tode eines nahen Menschen, die den Zurückbleibenden nahelegt, zwischen Außen und Innen zu unterscheiden: Beim Anblick der leblosen äußeren Hülle stellt sich auch uns nach wie vor die Frage, wo denn nun Lebenskraft und Wesen des Betreffenden geblieben sind. Aus der Begegnung mit dem Tod und der Gewißheit des eigenen Sterbens entstand der Wunsch nach Lebensbewahrung, Langlebigkeit und Unsterblichkeit. Da über das Schicksal nach dem Tode eigentlich nichts mit Bestimmtheit gewußt werden kann, sind den damit verknüpften Vorstellungen keine Grenzen gesetzt. Der Glaube an die Fortwirkung der verstorbenen Ahnen gehört mit Sicherheit bereits in die Anfänge der chinesischen Kultur. Bis heute ging er nicht verloren, wenn auch durch die Jahrhunderte eine konfuzianisch orientierte Elite sich im Blick auf das »Danach« eher zurückhaltend verhielt: Schon Konfuzius hatte gemahnt: »Wer vom Leben nichts weiß, wie sollte der den Tod kennen?!« 43 Dennoch legten Konfuzius und seine Nachfolger großen Wert auf Opferriten für die Ahnen. So kommt es auch, daß die 63 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Verehrung der Ahnen mit der konfuzianischen Tradition verknüpft ist. Hinzu kommt, dass sich hierarchische Ordnungskonzepte nach Alter und Geschlecht durch den patrilinearen Ahnenkult hervorragend rechtfertigen ließen. Nach der Entstehung des Kaiserreiches hinterließen die schon angedeuteten Antagonismen auch im Ahnenkult ihre Spuren: Bald wimmelte es nur so von hilfreichen Totengeistern auf der einen und bösartigen Dämonen auf der anderen Seite, welche die Menschen für gute Taten belohnten und für schlechte bestraften. Die Warnung des Konfuzius, sich von Göttern und Geistern fernzuhalten, war ungehört verhallt, denn die Lebenden standen in regem Verkehr mit den Toten. Auch blieben fatale Mißverständnisse nicht aus, die uns in zahlreichen Geistergeschichten mit moralisierendem Unterton überliefert sind. Die Wirkung dieser Gespenstergeschichten auf die Entwicklung einer kollektiv verbindlichen Moral kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Nicht ganz unschuldig an diesem Phänomen war der Buddhismus, genauer gesagt, die Lehre von der Seelenwanderung, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten als altindisches Gedankengut mit dem Buddhismus nach China gekommen war. In der Folge ging das Prinzip der Vergeltung mit altchinesischen Geister- und Dämonenvorstellungen eine Verbindung ein, so daß es dem chinesischen Denken ohne weiteres einzuverleiben war. Anders als Konfuzius hatten die frühen Daoisten mit Göttern nichts im Sinn. Leben und Tod war ihnen nichts weiter als eine ununterbrochene Wandlung von Formen und Gestalten. Diesem Gedanken ist im Buch Zhuangzi die schöne Parabel vom Schmetterlingstraum gewidmet: »Woher weiß ich, ob unsere Lehre vom Leben nicht eine Illusion ist und der Haß auf den Tod nicht der Irrweg eines jungen Menschen, der nicht weiß, daß er heimkehrt … Woher weiß ich, daß die Toten ihr früheres Hängen am Leben nicht bereuen? … Das große Erwachen wird kommen. Und dann werden wir wissen, daß dieses hier ein langer Traum war … Einst träumte ich, Zhuang Zhou, und ich war ein Schmetterling,
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flatterte hin und her ganz wie ein Schmetterling und spürte, wie wohl mir war. Ich wußte dabei nicht, daß ich Zhou bin, der bloß träumte! Plötzlich erwachte ich und war wieder Zhou. Jetzt weiß ich nicht, war ich Zhou, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich der Schmetterling, der träumt, er sei Zhou. Zwischen Zhou und dem Schmetterling muß es einen Unterschied geben. Diesen nenne ich die Wandlung der Dinge.« 44
Immer wieder kommen die verschiedenen Autoren des Zhuangzi auf dieses Thema zurück, vor allem Zhuang Zhou (4./3. Jahrhundert v. Chr.) selbst, dem die ersten sieben Kapitel des Buches zugeschrieben sind: ob beim Tod seiner Frau oder im Gespräch mit dem Totenschädel, der ihm unterwegs als Ruhekissen dient. Er gab sich alle Mühe, dem Tod den Schrecken zu nehmen und ihn als natürliche Folge von Leben zu begreifen, ja ihn als Anlaß zur Freude den Menschen nahezubringen. Daß auf das Leben der Tod folgt und der Tod zu neuem Leben führt, d. h. der Tod als der große Verwandler war als Motiv bereits in den Vorzeiterzählungen enthalten (s.1). Der frühe Daoismus griff diesen Gedanken auf und stellte ihn in den Mittelpunkt seiner philosophischen Besinnung über Woher, Wohin und Wozu des Menschen. In diesem ewigen kosmischen Kreislauf zählten die einzelnen rasch verwehenden Gestalten nicht viel. Unzählige chinesische Dichter und Denker versuchten in der Nachfolge der frühen Daoisten, ihr Leben und Sterben den Wellen der Großen Wandlung anzuvertrauen. Manch einer ging sehr verspielt mit dem Sterben um, wie Zheng Quan, ein hoher Würdenträger im Dienste des Herrschers von Wu (181–252): Dem Wein zu Lebzeiten nicht abgeneigt, soll er, als er den Tod nahen fühlte, die Seinen gebeten haben, ihn in der Nähe einer Töpferwerkstatt zu begraben: »In hundert Jahren könnte ich in Erde verwandelt sein, und wenn ich Glück habe, macht der Töpfer aus mir einen Weinkrug. Das würde in der Tat mein Herz erfreuen.« 45 Solchen Gleichmut bringt nicht jeder auf. Von den Kaisern der Qin- (220–206 v. Chr.) und Han-Dynastien (206 65 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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v. Chr. – 220 n. Chr.) wissen wir, daß sie sich nicht zufrieden gaben mit der Heimkehr ins undifferenzierte dao. Vielmehr setzten sie alles in Bewegung, unsterblich zu werden, und zwar an Körper und Leib: Expeditionen wurden ausgesandt, um das Lebenselixier zu suchen; Totenhemden aus Jade und Gold sollten den Körper vor Zersetzung bewahren. In diesem Glauben ordneten sie noch zu Lebzeiten an, nach ihrem Hinscheiden die Neun Körperöffnungen mit Gold- und Jadeplättchen zu verschließen. Was dem Kaiser recht, war den anderen billig: In den Jahrhunderten, die auf die Reichsgründung folgten, scheinen große Teile der chinesischen Gelehrten geradezu besessen gewesen zu sein vom Wunsch nach Langlebigkeit und ganzheitlicher Unsterblichkeit. Fieberhaft suchten Alchimisten und Adepten nach dem Lebenselixier und fanden bei ihren Experimenten ironischerweise nicht selten einen frühen Tod: »… Wo sind die alten Freunde? Tot, heim und hinab zu den Gelben Quellen. Han Yu schluckt Schwefel, wird krank und nie wieder gesund. Yuan Zhen schmilzt rosa Smaragd, stirbt jung an Jahren. Meister Du, im Besitz des Lebenselixiers, verzichtet ganz … auf Fleisch und Fisch. Und Herr Cui im Glauben an die Wirkmacht seiner Droge verweigert das gefütterte Winterkleid. Alle wurden krank oder starben einen schlimmen Tod.« 46
Unbestritten ist, daß die vormoderne chinesische Wissenschaft der Alchimie wertvolle Beobachtungen, Entdeckungen und Erfindungen verdankt. Vertrauten sich die einen dem Lebenselixier oder der Wirkung von Drogen an, so scheuten die anderen keine Mühe, durch verschiedene Leibpraktiken das Leben zu verlängern oder Unsterblichkeit zu gewinnen. Die erwähnte Pflege des Lebens umfasste neben einer spezifischen Ernährung: rituelles Fasten, Massage, die Einnahme pflanzlicher und mineralischer Wirkstoffe, Sexualpraktiken, Gymnastik und Atemübungen und 66 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Eine Welt in Bewegung
nicht zuletzt die Meditation. Lebenspflege in diesem Kontext bedeutete: Nähren und Anhäufen von qi, so daß der Adept eines Tages als verfeinerter qi-Leib zu den Unsterblichen aufsteigen würde – wie ein Kranich, der seine Flügel ausbreitet und auffliegt zur Insel der Seligen östlich von China im Meer. Zwar wird diese Art qi- und Lebenspflege, die auch dem heutigen Qigong und Taiji zugrundeliegt, der daoistischen Tradition zugerechnet. Doch scheint die willentliche Einflußnahme auf das qi vom absichtslosen Wandeln eines Laozi oder Zhuang Zhou weit entfernt, hüteten diese sich doch, in den Lauf der Dinge einzugreifen. So verwundert auch nicht, wenn im Buch Zhuangzi eine Passage enthalten ist, welche die Praktiken zeitgenössischer Anhänger der Lebensverlängerung für ebenso absurd hält wie den Rückzug in die Einsiedelei oder das Reden des Konfuzius über Loyalität und Pflichtgefühl: »Blasen und inhalieren, einatmen und ausatmen, das Alte ausspucken und das Neue aufnehmen, tappen wie ein Bär und sich strecken wie ein Vogel – dies alles nur um der Langlebigkeit willen! Dies mögen diejenigen tun, die ihren Atem führen und leiten, und diejenigen, die Körper und Leib nähren (yǎng-xíng 養形), um so alt zu werden wie Pengzu.« 47
Die Vorstellung von Leben und Tod als Wandlung des qi hatte sich vor allem eine philosophische Richtung zu eigen gemacht, der Chan-Buddhismus (jap. Zen), eine bis heute faszinierende Synthese aus daoistischer und buddhistischer Philosophie, die uns die Einheit mit der Welt immer wieder vor Augen führt. In der selbstvergessenen Versunkenheit, Inbegriff chan-buddhistischer Lebenssteigerung, ist kein Raum für Differenzierungen, auch nicht für den Unterschied zwischen Leben und Tod. Das Motiv vom Zauber der Vergänglichkeit, das wie kein anderes die chinesische Dichtkunst durchzieht, ist unmittelbar der Einsicht geschuldet, daß Leben und Sterben nur die zwei Seiten sind ein und desselben qi:
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I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive
»Des Menschen Dasein in der Welt, womit vergleich’ ich dies? Mit einem Schwan, der auf den Schnee, den Schlamm sich niederließ. Da watet er, tritt eine Spur, wie sie der Zufall fügt. Und wieder schwingt er hoch hinauf, sorglos, wohin er fliegt. Verstorben ist der alte Mönch, er ward ein steinern’ Mal. An dem zerfallenen Mauerwerk schwand unser Vers im Saal. Gedenkst du jener Reise noch, da Steig um Steig sich hob? Lang war der Weg, ermüdet wir, mein lahmes Maultier schnob.«48
Lebenskraft und Atmosphäre als die Leitmotive chinesischen Denkens herauszustellen, darauf zielte dieser erste Teil des Buches. Als Denkfiguren, die vor allem dem leiblichen Spüren gerecht werden, sind sie zugleich Konzepte, denen die Einheit des Universums und Ganzheit des Menschen zugrunde liegen.
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Differenzwahrnehmung auf allen Ebenen: zwischen Innen und Außen, dem Sichtbaren und Unsichtbaren, zwischen Mensch und Natur steht am Beginn jeder philosophischen Besinnung, die immer zugleich Abstandnahme ist. Das Bemerken von Differenz kann, aber muß nicht umschlagen in Dualismus. In China jedenfalls wurde im Verlauf der Jahrhunderte aus der Differenz heraus Antagonismus, ja Reduktionismus und in Ansätzen auch ein Dualismus formuliert. Die Gründe dafür liegen zum Teil in gesamtgesellschaftlichen Vorgängen und deren Rückwirkungen auf das Selbstverständnis. Zum Teil sind sie im Prozeß menschlichen Sich-Besinnens angelegt und dem damit verbundenen Wunsch entsprungen, die Welt und auch sich selber besser zu beherrschen. Gleichzeitig fällt auf, daß Gefahr für die Ganzheit immer dann drohte, wenn die erlebte Wahrnehmung der Dinge zugunsten von lebensfernen Konstruktionen in den Hintergrund trat oder, anders gesagt, wenn im Zuge der Vergegenständlichung der Sitz im Leben abhandenkam. Das erste Kapitel faßt das sich wandelnde Verhältnis von Mensch und Natur in den Blick. Es beginnt mit der Klage im Buch Zhuangzi, daß die Einheit zwischen Mensch und Universum verlorengegangen sei. Der Verlust wird auf absichtsvolles und gewaltsames Eingreifen des Menschen in die Natur zurückgeführt. Die Zivilisationsschübe der chinesischen Gesellschaft, deren Kulturleistungen wir heute noch bewundern, vergrößerten zweifellos die Kluft zwischen Mensch und Umwelt. Im zweiten Kapitel sind wir dem chinesischen Herzen auf der Spur. Der Weg seiner Selbstbehauptung, ja Machtergreifung ist 69 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
zugleich der Weg von der Ganzheit hin zu einem Antagonismus zwischen einer höheren Einsicht und Moral auf der einen Seite, den menschlichen Begehrlichkeiten und Emotionen auf der anderen. Auch das dritte Kapitel Seele oder Lebenskräfte? verfolgt die Geschichte von Begriffen: die von shén 神 (Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft) und die von hún 魂 und pò 魄, die in Übersetzungen als Hauch- und Körperseele figurieren. Die Gefahr, die diesen anfänglichen Lebenskraftkonzepten drohte, hatte neben den genannten Faktoren nicht zuletzt mit dem Einfluß altindischer Gedanken zu tun, die mit dem Buddhismus ins Land gekommen waren.
1. Mensch und Natur Nur zum Teil decken sich die verschiedenen chinesischen Begriffe, die wir mit »Natur« übersetzen, mit unserer modernen Vorstellung von Natur – zumal auch wir uns fragen müssen, was denn die Natur der modernen Naturwissenschaften, die uns inzwischen auf dem Bildschirm in Gestalt von Meßdaten und Kurven entgegentritt, mit anderen Anschauungen von Natur zu tun hat, etwa mit der Natur als Lebenswelt der Forst- und Landwirte oder mit Natur, die wir sonntäglich durchstreifend erleben. Ein gemeinsamer Nenner zwischen Ost und West, Früher und Heute könnte die Selbstorganisation des Universums sein: »Das von selbst so Seiende« (zì-rán 自然) stünde dann dem von Gott oder dem Menschen Gemachten gegenüber. Dabei sollten wir dessen eingedenk sein, daß über lange Strecken der chinesischen Geschichte hinweg Natur in einer kosmisch-numinosen Dimension begriffen wurde. Als solche war zì-rán auch synonym mit dao, dem Weltengrund, sowie mit tian (Himmel) oder tiān-dì 天地 (Himmel-und-Erde). In diesem Kapitel interessiert u. a., wie im Zuge menschlicher Selbstbehauptung dieser numi70 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Mensch und Natur
nose Aspekt abgestreift und Natur damit dem Menschen immer mehr verfügbar wird. Einen Bruch zwischen Mensch und Natur konstatierten als erste wohl die Autoren des Buches Zhuangzi (4./3. Jahrhundert v. Chr.). Von den Klagen über die vielfältigen Übergriffe gegen Umwelt und Natur und den Einheitswünschen, die daneben umso eindringlicher anmuten, soll im ersten Abschnitt die Rede sein. Lang war der Weg, der die Entzauberung der Welt von Göttern und Geistern bewerkstelligen sollte, wenn überhaupt von einem Ende des Weges die Rede sein kann – angesichts der »Wiederkehr der Götter« in der Volksrepublik China. Er wird im zweiten Abschnitt verfolgt. Zwar ging mit der Entzauberung Gewalt gegen Umwelt und Natur einher, aber die Einheit der Welt selbst war nie wirklich infrage gestellt. Gefahr für erlebte Ganzheit drohte von anderer Seite, als sich das Nachdenken über die Welt von den leiblich gespürten Phänomenen zu lösen begann. Das Absehen von unmittelbarer Lebenserfahrung führte zu einem Reduktionismus, der im Falle des Zhu Xi (1130–1200) in einen Dualismus von Welt und Prinzip umschlagen konnte. Davon soll im dritten Abschnitt die Rede sein.
a) Wunsch und Klage »Die Besinnung des Menschen auf sein Sich-Finden in der Welt«, die eine gewisse Distanz voraussetzt, wird häufig als schmerzhaft empfunden und mobilisiert sofort Wunschträume: wie es einmal war und wie es wieder sein könnte. So wird im Kapitel 9 des Zhuangzi das Zeitalter »höchster Wirkkraft« als ein paradiesischer Zustand der Ganzheit vorgeführt, in dem die Menschen einander zugetan sind und mit den anderen Wesen der Welt friedvoll zusammenleben:
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
»Damals führten keine Wege über die Berge, und keine Boote setzten über das Wasser … Die Zehntausend Wesen lebten in Gemeinschaft, und ihre Wohnstätten lagen nahe beieinander. Die Gefiederten und die Vierfüßler vermehrten sich zahlreich, und die Gräser und Bäume wuchsen üppig und lang … Im Zeitalter Höchster Wirkkraft lebten die Menschen mit den Gefiederten und den Vierfüßlern zusammen und waren ihnen gleichgestellt. Und woher hätten sie den Unterschied wissen sollen zwischen Edlen und Niederen unter ihresgleichen?!« 49
Im weiteren Verlauf des Textes und an zahlreichen anderen Stellen im Buch Zhuangzi ebenso wie in dem zweiten daoistischen Klassiker, dem Daodejing, folgt diesen rückwärtsgewandten Utopien auf dem Fuße die Klage über die konfuzianischen Heiligen, die sie für die Unterscheidung der Dinge verantwortlich machten: Mit der Bewertung nach Rang und Nutzen hätten diese Urteil und Vorurteil, Absicht und Vorliebe in die Welt gesetzt, so daß das absichtslose Verweilen im dao verlorenging. Tröstlich die Vorstellung, daß eine Rückkehr nicht ausgeschlossen ist: »Auf Trennung folgt Vereinigung; auf Vereinigung folgt Auflösung. Alle Wesen können erneut zur Einheit gelangen, unabhängig vom jeweiligen Zustand der Vereinigung oder Auflösung. Doch nur die Weitreichenden wissen, zum Einssein vorzudringen.« 50
Daß Meditation als »Sitzen und Vergessen« eine Möglichkeit eröffnet, wenigstens für eine Weile den Bruch zwischen Mensch und Kosmos zu überwinden, die Unterschiede zwischen den Wesen und den Dingen hinter sich zu lassen und einzutauchen in die All-Einheit, machte den Vertretern des frühen philosophischen Daoismus das »Sitzen in Stille« unentbehrlich. Gleichzeitig stellten sie resigniert fest, daß die Mehrheit ihrer Zeitgenossen davon nichts wissen wollte: Lieber pochen die Menschen auf Werturteil und Unterschied, und »ihre Worte schnellen davon wie Pfeile, als wüßten sie, was richtig und falsch ist« 51, verharren in Ängsten und Absichten, hetzen und jagen nach Ruhm und Ehre und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel. So entstünden die vielfältigen Schädigungen an der äußeren Natur und an der Natur des Menschen selbst: 72 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Mensch und Natur
»Was Natur (tiān 天) und was Mensch bedeute, wollte der Flußgott weiter wissen. Ruo, das Nordmeer, gab zur Antwort: ›Daß Rinder und Pferde vier Beine haben, das heißt Natur. Den Kopf des Pferdes unter das Zaumzeug zu zwingen und die Nase des Rindes für den Ring zu durchbohren, das heißt der Mensch.‹ Deshalb sage ich: Zerstöre die Natur nicht durch menschliches Zutun! Mache deine dir zugeteilten Gaben nicht durch Absichten zunichte! Opfere deine natürlichen Gaben nicht dem Ruhm, sondern bewahre sie sorgfältig und gehe ihrer nicht verlustig! Das nennt man die Rückkehr zum wahren Selbst.« 52
Auch das im Buch Zhuangzi wiederkehrende Motiv vom Nutzen der Nutzlosigkeit ging gegen die wertenden Unterscheidungen an. In diesem Sinne steht der krumme und knorrige Baum für Lebenserhalt, wird er doch als unbrauchbar vom Menschen verschont, während der gerade Baum vor Vollendung seiner natürlichen Lebensspanne fällt. Jeder Schub an zivilisatorischen Errungenschaften führte zu erneuten Plünderungen der Umwelt. Mit anderen Worten, die Kehrseite der chinesischen Kulturleistungen sind die Übergriffe auf die Natur. Bereits in der Epoche der Reichseinigung waren die Schädigungen so konkret und offensichtlich, daß Philosophen im Umkreis des Prinzen Liu An (179–122 v. Chr.), anknüpfend an die Tradition der frühen Daoisten, mahnten: »Ganze Wälder wurden um der Jagd willen niedergebrannt, wobei die mächtigen Baumstümpfe verglühten und verkohlten. Blasebälge wurden gefertigt, um Luft durch die Rohre zu schicken und Bronze und Eisen zu schmelzen. Metalle wurden in verschwenderischer Weise ausgehoben, um zu härten und zu schmieden – die Arbeit ruhte nicht einen Tag. Auf den Bergen blieben keine hohen Bäume mehr zurück; die Seidenwurm-Eiche und der Lindera-Baum verschwanden von den Grabhügeln. Unglaubliche Mengen von Holz wurden verbrannt, um Holzkohle zu produzieren, und riesige Mengen Pflanzen wurden in Pottasche verwandelt, so daß Anis und Jasmin nie zur Reife gelangten. Über uns verdunkelte Rauch das Licht des Himmels, unter uns wurden die Reichtümer der Erde vollständig erschöpft. Diese ganze Verwüstung geschah wegen der verschwenderischen Verwendung von Brennholz.« 53
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Selbst jene, die ein Eingreifen in Natur und Umwelt zum Wohle des Menschen sehr wohl befürworteten, fühlten sich aufgefordert, entschieden vor Plünderung und Raubbau zu warnen. So formulierte auch Han Yu (768–824), der eigentlich dem konfuzianischen Lager und damit einer kulturstolzen Tradition zuzurechnen ist, seine Betroffenheit darüber, daß der Mensch immer wieder yin und yang schädige, indem er in den Tälern den Boden pflüge, auf den Bergen die Bäume fälle, Brunnen bohre und Gräben aushöhle, »gewaltsam dringt er vor, zerstört und vernichtet unaufhörlich.« 54 Auch die chinesische Volkskultur kennt Glaubenspraktiken, welche die Einheit der Welt beschwören: die chinesische Geomantik z. B., das fēng-shuǐ 風水, das heute noch beim Bau von Banken und Versicherungsgebäuden in Hongkong und Peking Pate steht und bei der Anlage von Wohnungen und Gräbern, wo Chinesen leben, seine Geltung bewahren konnte: »Eine zu Bewässerungszwecken angebrachte Veränderung des Laufes eines Gewässers oder der bisherigen Kontur einer Anhöhe durch eine neugebaute Hütte und ähnliche geringfügige Anlässe können ernstlich das Feng Shui von Landschaften schädigen, was sich durch schlechte Ernten, sinkenden Wohlstand und Unglücksfälle jeglicher Art kennbar macht.« 55
In diesen Glaubenskomplex gehörten auch Vorstellungen von der »Mutter Erde«, die man nicht ungestraft ausloten und ausbeuten darf. Hier galt Natur nicht als das schlechthin Umzugestaltende, sondern als eine Wesenheit, die den Menschen hervorbringt und ihn am Leben erhält. So gesehen, wirkten die verschiedenen Einheitspostulate als Gewissensinstanz, welche die drohenden Gefahren sehr wohl registrierte und die Einheit von Mensch und Kosmos immer wieder in Erinnerung rief. Daß sie die Raubzüge gegenüber der Natur aber nicht aufhalten konnten, ist durch den Gang der Geschichte bis in die jüngste Vergangenheit vielfach belegt. Appelle und darauffolgende Regelungen und Gesetze nutzten nicht viel. Der Siegeszug der chi74 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Mensch und Natur
nesischen Zivilisation schritt voran und hinterließ vor allem in den Kerngebieten, erst recht um die jeweiligen Hauptstädte herum, eine zerstörte und gestörte Natur, so daß sich auch in vormoderner Zeit so manche Naturkatastrophe bei genauerem Hinsehen als vom Menschen gemacht herausstellt.
b) Die Entzauberung der Welt Wenn wir den Botschaften auf den Orakelknochen Glauben schenken können, so scheint die Welt an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend vor Christus noch in Ordnung gewesen zu sein: Der Mensch fühlte sich grundsätzlich aufgehoben inmitten unsichtbarer und doch spürbar anwesender numinoser Wesenheiten, Götter und Geister der Verstorbenen. Zwar mußte mit der Gründung des Zhou-Staates im elften vorchristlichen Jahrhundert der höchste Gott und Urahn der besiegten Shang-Yin-Dynastie abtreten. An seine Stelle trat eine anthropomorphe Himmelsmacht, tiān 天 genannt, von der man glaubte, daß sie die Menschen für gute Taten belohne und für Fehlverhalten bestrafe. Doch es dauerte nicht lange, bis Unmut und Zweifel an der Gerechtigkeit dieser Himmelsmacht aufkamen. Zahlreiche Gesänge im Buch der Lieder, einem der ältesten Dokumente der chinesischen Kultur, spiegeln diesen Bruch zwischen Mensch und jener göttlichen Macht: »Der große, weite Himmel übt seine Tugend nicht, schickt nur Tod und Hungersnot und allen Staaten Schlacht und Krieg. Der weite Himmel, gnadenlos, kennt Überlegung nicht noch Plan, läßt die Schuldigen laufen, verdeckt noch ihre Taten! Doch all jene ohne Schuld läßt er im Leid.« 56
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Bald machten Klage und Selbstmitleid der Ernüchterung Platz: »Der Himmel ist fern, die Menschen sind nah; da ist nichts, wodurch Himmel und Mensch einander erreichen würden!« 57 Auf Ernüchterung folgte Selbstbehauptung, und bald war es der Götter- und Geisterglaube selbst, der für den Niedergang des Staates verantwortlich gemacht wurde: »Wenn der Staat aufstreben soll, dann muß man auf das Volk hören; wenn er untergehen soll, dann höre auf Götter und Geister.« 58 Im Grunde sind alle Positionen, die für die weitere Geschichte chinesischen Denkens prägend sind, in dieser ersten großen Achsenzeit menschlicher Selbstbesinnung bereits vorhanden: auf der einen Seite der bis heute anhaltende Glaube an Götter und Geister, insbesondere an die Geister der Verstorbenen, auf der anderen die Absage an persönliche jenseitige Instanzen, die sehr wohl mit dem Urvertrauen in einen kosmischen Sinnzusammenhang vereinbar war. Der herausragende Vertreter der zuletzt genannten Position war Xunzi (298–238 v. Chr.), der Himmel/ Natur (tiān 天) als eine sich selbst regulierende kosmische Realität begreift und sich gleichzeitig im dao aufgehoben weiß: »Wenn Sterne vom Himmel fallen und Bäume heulen, fürchten sich die Menschen im Land und fragen, was das zu bedeuten hat. Ich sage Euch: Nichts hat das zu bedeuten! Das sind die Wandlungen von Himmel und Erde, die Wandlungen von yin und yang. So etwas geschieht hin und wieder. Ihr könnt Euch darüber verwundern, aber fürchten sollt Ihr Euch nicht! Sonne und Mond erleben ihre Finsternis, Wind und Regen geschehen manchmal nicht zur rechten Zeit, und seltsame Sterne erscheinen bisweilen am Himmel … Ihr könnt Euch darüber verwundern, aber fürchten sollt Ihr Euch nicht!« 59
Zwischen Götterglaube und nüchterner Aufklärung stand die Vorstellung von einer Himmelsmacht, die immer noch anthropomorphe Züge trug. Mengzi (372–289 v. Chr.) z. B. unterstellte dem Himmel ein moralisches Bewußtsein, das ihn zum Eingreifen in menschliches Geschehen bewegen konnte: »Der Himmel redet nicht; nur durch sein Verhalten und Tun gibt er seinen Willen kund.« 60 76 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Mensch und Natur
Die frühe Selbstbehauptung des Menschen und nüchterne Aufklärung gründeten in einer Reihe von Entdeckungen und Erfindungen, von denen nur einige zu nennen sind: Messung der Positionen von Sonne, Mond und Sternen, so daß eine präzisere Bestimmung von Tag und Nacht und der vier Jahreszeiten möglich war; Kanalbau und Bewässerung; Nutzung der Eisenpflugschar; Einsatz von Eisenwaffen; chirurgische Eingriffe; Anästhesie und Pulslehre. Zugleich erlaubte die Reichseinigung, vor allem die damit verbundene Vereinheitlichung der Schrift, die Anhäufung und Verbreitung von Erfahrungswissen, worauf wiederum neue Entdeckungen folgten. Unter der Vielzahl der hanzeitlichen Neuerungen (206 v.–220 n. Chr.) ragen hervor: die Wassermühle, der Schubkarren, die Kartographie und der Kompaß, ein Wagen, der die zurückgelegten Entfernungen maß, der Seismograph zur Ankündigung von Erdbeben, die Erfindung des Papiers, der Himmelsglobus, die Erkenntnis, daß der Mond sein Licht von der Sonne borgt und daß der aus qi bestehende Raum unendlich sein muß! Mit den Fortschritten in der Himmelskunde hingen die Errungenschaften der Mathematiker zusammen, welche die vier Grundrechenarten und das Rechnen mit positiven und negativen Zahlen beherrschten. Angesichts dieser beeindruckenden Leistungen wäre ein Schub an menschlicher Emanzipation gegenüber Kosmos und Natur im Denken nicht weiter verwunderlich gewesen. Das Gegenteil aber war der Fall: eine Remystifizierung, die zu Beginn unserer Zeitrechnung einsetzte, als habe die fortschreitende Trennung von Mensch und Kosmos/Natur die Sehnsucht geweckt, sich der Einheit aufs Neue zu vergewissern: Nicht nur Laozi, auch Konfuzius wurde vergöttlicht, und zahllose Tabuvorschriften, die Prophezeiungen der Wahrsagebücher und Stern- und Traumdeuter, das Schafgarbenorakel und die Zahlenspekulation, Bittgebete und Austreibungsrituale, Geomantik und Ahnenkult machten das Leben der Menschen zwar komplizierter, verhalfen ihnen gleichzeitig aber zu Sinndeutungen und 77 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Selbstvergewisserung im Alltag und in Extremsituationen. Magier und Heiler zogen durch die Lande und wirkten entlastend mit. In den Kreisen der etwas nüchterner gestimmten konfuzianischen Gelehrten hielt man sich lieber an die alte Vorstellung des Mengzi, der den Himmel mit moralischem Bewußtsein ausgestattet hatte. Nach wie vor war der Mensch – dank der Lehre der kosmologischen Resonanzen – in eine komplexe Welt von Wechselwirkungen eingebunden, in der er sich aufgehoben fühlte: »Auch der Himmel hat Gefühle wie Freude und Wut und ein Herz voll Kummer oder Heiterkeit. Mensch und Himmel sind einander zugeordnet, durch Mannigfaltiges miteinander verbunden; Himmel und Mensch sind eine Einheit (tiān-rén-yī 天人一). Katastrophen sind der Vorwurf des Himmels, Merkwürdigkeiten sind [der Beweis] seiner Macht.« 61
Nur eine verschwindend kleine Minderheit unter den Gelehrten, wie z. B. Wang Chong (27–104 n. Chr.) 62, hielt es mit Xunzi (298– 238 v. Chr.), der wie die frühen Daoisten alle Phänomene der Welt auf den sich selbst regulierenden Kosmos zurückführen wollte. Die ersten Jahrhunderte nach dem Untergang des mächtigen Han-Reiches (206 v.–220 n. Chr.) brachten den Zerfall des Zentralstaates mit sich in zunächst drei, dann zahllose Kleinstaaten, die einander unablässig bekriegten. Innenpolitisch war es die Zeit der Willkürherrschaft großer Clans und zugleich die Zeit zahlloser und häufig wechselnder Fremdherrschaften. Die mit den Unwägbarkeiten verbundene Sinnkrise verlangte mehr denn je nach Vergewisserung, so daß Heilserwartungen und Erlösungsversprechen auf fruchtbaren Boden fielen. Zu Magiern, Heilern und den Angeboten von Sekten gesellten sich die Alchimisten auf ihrer Suche nach Lebensverlängerung und Unsterblichkeit. Nicht zuletzt war dem Buddhismus und – in seinem Windschatten – anderen indischen Glaubenslehren ein wahrer Siegeszug beschieden. 78 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Mensch und Natur
So läßt sich alles in allem die Geistesgeschichte der knapp fünfhundert Jahre anhaltenden Teilungsperiode als eine Epoche kennzeichnen, in der die Einheit des Kosmos nicht grundsätzlich in Frage gestellt war – aller zivilisatorischen Selbstbehauptung und aller damit verbundenen tatsächlichen Schädigung an der Natur zum Trotz. Nicht einmal die kleine Schar von Aufklärern, die gegen Götter und Geister ebenso zu Felde zog wie gegen die stets wachhabende strafende Himmelsmacht, fühlte sich hinausgeworfen in eine bodenlose Menschenwelt, sondern setzte den umgreifenden Sinnzusammenhang voraus. Die Gefahr, die aus der Entzauberung für das Wissen um die Ganzheit der Welt hätte erwachsen können, blieb zunächst gebannt.
c) Welt und Prinzip lǐ 理 Das änderte sich, als im 3./4. Jahrhundert nach Christus eine Generation von Gelehrten von sich reden machte und sich anschickte, die Klassiker neu zu interpretieren. Nunmehr zeichneten sich die Gefahren ab, die im Schoß der Philosophie selbst für das alte ganzheitliche Weltbild entstanden. Fragen wir nach dem Warum, so sind zwei Faktoren mit Bestimmtheit auszumachen, die einander überlagerten und verstärkten. Zum einen verraten die Begriffe und Konzepte dieser spekulativen Strömung, die im Nachhinein als die »Lehre vom Dunkeln« bezeichnet wurde, eine Distanz zur unmittelbaren Erfahrung der Lebenswelt; gleichzeitig machte sich bereits der Einfluß einer im Gefolge des Buddhismus nach China einströmenden indischen Gelehrsamkeit bemerkbar: Spekulativ und hochkomplex behauptete sie neben ganzheitlichen Sichtweisen den Dualismus von Welthaftigkeit und Transzendenz, wenn sie die Realität der Welt nicht sogar gänzlich leugnete. Die Vertreter der Lehre vom Dunkeln selbst hielten zwar an Einheit und Dynamik des Weltgeschehens fest. Doch sie bereiteten den Boden für den späteren neokonfuzianischen Dualis79 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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mus zwischen qi und Prinzip (lǐ 理), indem sie bestimmte Konzepte neu erläuterten. Zur Bezeichnung des Urzustandes verwendete z. B. Wang Bi (226–249) vier Begriffe: das Von-selbstso-Seiende (zì-rán 自然), das Eine (yī 一), der große Pol (tài-jí 太極) und das Prinzip (lǐ 理). Vom dao als einer göttlich-numinosen Atmosphäre, die als umhüllende All-Einheit leiblich erfahren wird, war an dieser Stelle keine Rede mehr. Reduziert auf ein abstraktes Etwas, wodurch das Von-selbst-so-Seiende zu wirken vermochte, spielte der vormals zentrale Begriff chinesischer Weltdeutung nunmehr eine untergeordnete Rolle. Einschneidender noch war die Umdeutung des Begriffes wú 無. Hatten die frühen Philosophen mit diesem Wort den undifferenzierten Urzustand, das Chaotisch-Mannigfaltige, bezeichnet, so macht Wang Bi (226–249) aus dem Nicht-Differenzierten ein abstraktes Nichts, das dem Urzustand vorausgegangen war. Erinnern wir uns an den schon zitierten Vers 42 aus dem Daodejing (s. I.1.b), der die Welt aus dem einheitlichen undifferenzierten dao über verschiedene Etappen entstehen lässt: über die Zweiteilung und Dreiteilung bis zur Entfaltung der Zehntausend Wesen und Dinge. Wang Bis Kommentar zu eben dieser Laozi-Stelle liest sich wie ein abstraktes Zahlenspiel: »Alle Dinge und Gestalten gehen auf Eins zurück. Woraus wird Eins bewirkt? Aus Nichts heraus. Aus Nichts und Eins: Darf man Eins Nichts nennen? Nennt man es schon Eins, wie kommt es dann zu dem Wort Nichts? Es hat ein Wort, und es hat Eins und Eins von Etwas: wenn nicht Zwei, was dann? Es hat Eins und hat Zwei, so entsteht es dann in Drei. Hierin sind die Zahlen von Nichts zu Etwas vollendet.« 63
Demnach entstand das Universum aus dem Widerspruch zwischen dem Nichts und seiner Negation, dem Etwas. Auf diese Weise war das Postulat von der Einheit der Welt immerhin gefährdet, wie ein späterer Denker, Zhang Zai (1020–1077) vermerkt: »Dies läuft auf die … Lehre hinaus, nach der das Sein (yǒu 有) aus dem Nicht-Sein (wú 無) entsteht, und das widerspricht dem grundlegenden
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Prinzip von der Einheit des differenzierten Seienden und des NichtDifferenzierten (wú 無).« 64
Mit der gleichen Zahlenspekulation begründet Wang Bi darüber hinaus die (buddhistische) Idee von der Welt als Illusion, indem er behauptet, daß sich alle Differenzierung nur im begriffssetzenden Bewußtsein des Menschen abspielt: Eins ist das Nichts, und Zwei ist der für das Nichts gesetzte Begriff. Durch die Namhaftmachung verändert sich jedoch das ursprüngliche Nichts, so daß das nunmehr begrifflich gefaßte Nichts als die Zwei neben dem ursprünglichen unfaßbaren Nichts zu stehen kommt. In der Drei erkennt das ursprüngliche Nichts sich selbst und erschafft dadurch die Welt. Solcherlei Zahlenspiele hatte Zhuang Zhou selbst (4./3. Jahrhundert) schon ironisiert: »Von da kann man weitermachen, dass auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wie viel weniger die Masse der Menschen.« 65 Gewiß waren auch die frühen Philosophen nicht mehr fest und fraglos dem Seienden verhaftet, war doch ihre Selbstbesinnung gerade Folge von Differenz-Erfahrung und Abstandnahme. Und doch schimmerten durch ihre Begriffe und Konzepte: dao, qi, yin und yang noch die am eigenen Leibe erfahrenen Phänomene und Atmosphären. Anders die Vertreter der Lehre vom Dunkeln, die eine neue Art von Abstraktions- und Setzungsvermögen unter Beweis stellten und sich damit von der in leiblicher Betroffenheit wahrgenommenen Lebenswelt lösten. Die gleiche Neigung zu Distanz und Reduktion kennzeichnet die folgende Epoche der Mittleren Kaiserzeit (10.–13. Jahrhundert), insbesondere das Gedankengebäude des Zhu Xi (1130– 1200), der als Hauptgestalt des songzeitlichen Neokonfuzianismus in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Offensichtlich zehrte er von einer Reihe von Vordenkern, u. a. von der Lehre vom Dunkeln, ohne sie jedoch dankbar zu erwähnen. Auch der unverkennbare buddhistische Einfluß wird nicht offen thematisiert. Mit Zhu Xi geschah nun etwas für das chinesische Denken Neuartiges: Er machte sich den schon genannten Begriff 81 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
lǐ 理 zu eigen, der in vorchristlicher Zeit Muster, Maserung bedeutete und seit der Lehre vom Dunklen bereits eine komplexe Begriffsgeschichte hinter sich hatte. Damit bezeichnete er das der Welt innewohnende moralische Strukturprinzip »oberhalb aller Formen«, d. h. losgelöst und unsichtbar. Dem li gesellte er qi bei, das die vorgegebenen ewigen Strukturprinzipien in den Dingen der Welt in Erscheinung zu bringen hatte, und zwar diesseits bzw. »unterhalb aller Formen«, d. h. gebunden an die Gestalthaftigkeit. Reduziert auf ein bloßes Instrument, ein Gerät, Werkzeug oder Gefäß zur Sichtbarmachung der ewigen Strukturprinzipien, war in Zhu Xis Überlegungen von der umfassenden kosmischen Lebens- und Schöpferkraft qi nicht mehr viel übrig. Diesen Begriffswandel veranschaulicht sehr schön die altchinesische Metapher vom Blasebalg: War qi zuvor der Kraftstrom, der den Blasebalg mit Leben erfüllt, so war davon nur noch der aufgeblasene Balg zurückgeblieben, ein Schlauch mit einer gewissen Struktur bzw. Formbarkeit, jedoch ohne wesenhaften Bezug zu seinem Inhalt. Zhu Xis Gedanken zeigen zugleich, wie Reduktionismus, d. h. das Absehen von der Lebens- und Leiberfahrung, ohne weiteres in Dualismus umschlagen kann: »Was Prinzip (li) und was qi genannt wird, sind zwei voneinander unterschiedliche Wesenheiten. Vom Standpunkt der Dinge aus, müssen diese zu einer Einheit verschmelzen und lassen sich nicht trennen … Vom Standpunkt des Strukturprinzips aus, stand li schon für die Dinge bereit, bevor diese existierten.« 66
Doch damit nicht genug: qi wurde nicht nur in seiner Funktion herabgewürdigt, sondern auch in seiner Beschaffenheit verengt: Im Unterschied zum ewigen, reinen und unsichtbaren Prinzip kennzeichnete Zhu Xi das qi als endlich, grob und unrein. Damit war qi auf der einen Seite verstümmelt, denn der flüchtige, atmosphärisch spürbare Aspekt war ihm genommen; qi stellte sich nunmehr tendenziell als eine tast- und sichtbare Materie dar. So führte Zhu Xis Reduktionismus zu einer dualistischen und zu82 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Die Selbstermächtigung des Herzens
gleich materialistischen Sicht der Welt. Zu keinem Zeitpunkt war das chinesische Denken dem europäischen Dualismus und dem damit verbundenen Leitbild der festen Körper so nah gekommen wie hier. Wenn auf Dauer dieser Weltsicht in China kein Erfolg beschieden war, so hing das nicht zuletzt auch mit der Sinisierung des indischen Gedankenguts zusammen, wobei in gewisser Weise »der chinesische Vitalismus über den indischen Spiritualismus triumphierte« 67. Rufen wir uns noch einmal die Gefahren in Erinnerung, die der anfänglichen Vorstellung von der Ganzheit der Welt in China hätten bedrohlich werden können, so hat es den Anschein, als ob sowohl die Entwicklung in China selbst als auch Einflüsse aus Indien am Werke waren. Letztere liegen auf der Hand. Aber auch die binnenchinesische Entwicklung ist durchaus nicht spezifisch chinesisch, denn die Selbstbehauptung des Menschen gegenüber dem Numinosen und der Natur findet sich ebenso in unserer Zivilisation. Auch das europäische Denken veranschaulicht die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem Sitz der Begriffe und Konzepte im Leben, sobald Konstruktion und Spekulation im philosophischen Diskurs überhandnehmen. Wenn in China allen antagonistischen Tendenzen und dualistischen Ansätzen zum Trotz an der Einheit von Mensch und Natur, Mensch und Welt festgehalten wurde, so war dies letztlich dem Konzept qi zu verdanken, das als gespürte Wirkkraft seinen Sitz im Leben offenbar immer wieder neu behauptete.
2. Die Selbstermächtigung des Herzens »Zum Lichte des Verstandes können wir immer gelangen, aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben.« Einen Satz wie diesen aus Goethes Wilhelm Meister ins Chinesische zu übersetzen, dürfte schwierig sein, da in diesem Denken beide Arten menschlicher Regung im Herzen angesiedelt sind. Noch der moderne Sprachgebrauch legt davon Zeugnis ab: Das Herz ist 83 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
»vernarrt« und »verstrickt ins Netz der Gefühle«. Als Instanz der Vernunft und des Verstandes begegnet es uns in gängigen Redewendungen, denn »kleines Herz« bedeutet nicht nur »vorsichtig«, sondern auch »engstirnig«; Kopfrechnen ist im Chinesischen »Herzrechnen«! Jemandem, der über einen klaren Durchblick verfügt, bescheinigen die Chinesen, daß er »Zahlen im Herzen« hat; und wo uns ein Licht aufgeht, hat sich bei ihnen »im Herzen ein Fenster geöffnet«. Auch die volkstümliche Tradition Europas kennt die Vorstellung vom Herzen als Sitz des Denkens, liegt es doch nahe, diesem sensiblen leiblichen Regungsherd sämtliche Regungen zuzuschreiben. Den Kopf spüren wir im allgemeinen nur, wenn uns etwas Kopfschmerzen bereitet, und es erfordert bereits eine gewisse Abstraktion vom leiblichen Spüren, um die Vernunft im Gehirn anzusiedeln, wenn auch vier der Fünf Sinnesöffnungen am Kopf lokalisiert sind. Die europäische Philosophie hat dies seit Platon getan und auf diese Weise Vernunft und Herz getrennt und gegeneinander ausgespielt. Nun ist aber auch die Geschichte des chinesischen Herzens nicht frei von solchen trennenden Anwandlungen und somit ebenfalls geeignet zu veranschaulichen, wie Polarität in Antagonismus und Einheit in Spaltung umschlagen kann. Der Weg vom ungeteilten zum gespaltenen Herzen vollzieht sich in drei Etappen: Er beginnt mit der Feststellung von Differenz im frühen Daoismus und dem Versuch, diese wieder rückgängig zu machen durch das Bemühen um das entleerte Herz. Doch schon im Buch Xunzi, im 3. vorchristlichen Jahrhundert, hatte das Herz begonnen, sich als Fürst zu gebärden, um nach der Reichseinigung unmittelbar zum Herrscher aufzusteigen. Zur Herrschermetapher gesellte sich in der Mittleren Kaiserzeit dann die Kampfmetapher, die den Boden bereitet für eine spätkaiserzeitliche Spaltung des Herzens.
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Die Selbstermächtigung des Herzens
a) Die Suche nach dem leeren Herzen Mit der Erfahrung, daß als Folge der Zivilisationserscheinungen Mensch und Natur durchaus getrennte Wege gehen, hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß auch die menschliche Natur von Differenz und Trennung gezeichnet sei. Bereits im Zhuangzi wird unterschieden zwischen zwei Herzen. Das eine war, vermittelt über die Sinnesöffnungen, den Verlockungen und Verstrickungen der Außenwelt ausgeliefert: »Hat der Mensch einmal seine fertige Gestalt erhalten und verliert sie nicht, könnte er getrost das Ende abwarten. Doch zwangsläufig gerät er mit den Dingen aneinander wie Messerklingen und in wechselseitige Zerstörung. Des Menschen Gang gleicht einem Pferdegalopp, und nichts vermag ihn anzuhalten. Ist das nicht traurig! Bis an sein Lebensende rackert er sich ab, ohne einen Erfolg zu sehen. Mühselig tut er seine erschöpfende Arbeit, ohne zu wissen, wohin er gehört. Wie könnte man darüber nicht bekümmert sein?! Selbst wenn ein Mensch sagt, er werde nicht sterben, was nützt es ihm?! Seine Gestalt verwest, und mit ihr verwest auch sein Herz. Kann man das nicht großen Kummer nennen?« 68
Das andere Herz nennt Zhuang Zhou (4./3. Jahrhundert v. Chr.) das »vollkommene Herz«, das allen – den Klugen wie den Dummen – als Lehrer und Ratgeber dienen könne. Das vollkommene Herz ist gegen Versuchungen der Außenwelt gefeit, bleibt frei von Absichten und Wünschen. Folgt der Mensch diesem Herzen, so vermag er sich in meditativem Spüren der doppelten Einheit zu vergewissern, der Einheit mit dem Kosmos und der eigenen Ganzheit. Frei zu sein von Absichten und Wünschen, Urteilen und Vorurteilen, gelingt, sobald das Herz »leer« und »still« ist. Dies nennt Zhuang Zhou »Fasten des Herzens«. Wie das geschieht, wird mehrfach in beiden Klassikern des frühen Daoismus erläutert. So im Daodejing, wenn mehrfach vom »Verschließen der Sinnesöffnungen« die Rede ist, wie in Vers 12:
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II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
»Farbenpracht blendet das Auge. Klangreichtum betäubt das Ohr. Feinschmeckerei verdirbt den Geschmack. Hetzen und Jagen verwirren das Herz. Seltene Güter führen zu Verbotenem. Darum sorgt der Weise für den Bauch, nicht für das Auge, für das, nicht für dies.« 69
Wer das Verschließen der Sinne mit einer frühangelegten Körper- und Leibfeindlichkeit gleichsetzt, dürfte in Schwierigkeiten geraten, wenn er das Füllen des Bauches erklären soll. Den Bauch zu füllen, bedeutet meines Erachtens, den Bauch mit qi zu füllen, da die Rückkehr ins undifferenzierte selbstvergessene Sein über die von tiefer Atmung begleitete Meditation geschieht. Mit anderen Worten, das meditative Versinken zielt nicht auf eine irgendwie geartete geistige, vom Körper losgelöste Verklärung, wie es der europäischen Mystik zuweilen zugeschrieben wird. Der im Ein- und Ausatmen gespürte Leib steht im Zentrum der Meditation. Wie ernst das von jeder Regung »leere Herz« gemeint ist und welche tragende Bedeutung dem Atem beim »Sitzen und Vergessen« zukommt, geht aus der folgenden Passage hervor: »Auf das Eine richte deinen Willen. Versuche nicht, es mit deinem Ohr zu hören, sondern [eher] mit deinem Herzen. Beschränke dich auch nicht darauf, es mit deinem Herzen zu hören. Vernimm es mit deinem Atem. Das Hören bleibt bei den Ohren stehen. Das Herz bleibt beim Prüfen des Willens stehen. Der Atem aber ist leer und so für alle Dinge empfänglich: Nur in der Leere sammelt sich das dao.« 70
Dem oben geschilderten Zeitalter der Höchsten Wirkkraft, als die Zehntausend Wesen und Dinge »rein und unverdorben« im Einklang miteinander lebten, entsprach im Menschenleben die Phase der frühen Kindheit, die der Verfasser des Daodejing immer wieder als vorbildlich für den Weisen beschwört: Werdet wie die Kinder!
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Die Selbstermächtigung des Herzens
»Wer die Fülle der Wirkkraft in sich birgt, gleicht dem Säugling. Wespen, Skorpione, Nattern und Schlangen stechen es nicht, das Raubtier schlägt es nicht, der Raubvogel hackt es nicht … Ungeschwächt in ihm ist der Einklang.« 71
Diesen Einklang als erwachsener Mensch wiederzufinden, setzt also voraus, im ungeteilten Spüren in den Zustand des undifferenzierten dao, in den Zustand der Leere, zurückzukehren.
b) Das Herz – Fürst und Herrscher Hegten die Verfasser des Daodejing und des Zhuangzi aus der Erfahrung der Differenz heraus All-Einheitswünsche, so waren andere Zeitgenossen sehr viel engagierter mit der Frage befaßt, wie ein friedliches Zusammenleben der Menschen »unter dem Himmel« ganz praktisch zu führen sei: Von einem seiner Schüler nach der Weisheit befragt, soll Konfuzius geantwortet haben: »Seine Pflicht erfüllen; Geister und Götter ehren und ihnen doch fernbleiben, das mag man Weisheit nennen.« 72 Die Devise, seine Pflicht zu erfüllen in einem der Welt zugewandten und doch demutsvollen Leben, machten sich denn auch in der Nachfolge des Meisters die Philosophen Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr.) zu eigen. Daß dem Herzen dabei als Instanz der Selbstkontrolle eine wichtige Funktion zukam, verstand sich für beide von selbst. Mengzi war allerdings der Meinung, das menschliche Herz sei von Natur aus gut, denn durch das Herz spricht der Himmel: »Wer sein Herz ergründet, der kennt seine menschliche Natur, wer seine menschliche Natur kennt, der kennt den Himmel. Wer sein Herz bewahrt und seine menschliche Natur nährt, dient dem Himmel.« 73 Das Herz als Sachwalter einer verbindlichen jenseitigen moralischen Autorität erweist sich somit als Restinstanz einer moralischen Macht, die von Mengzi offensichtlich noch als gött87 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
lich-numinose Atmosphäre »mit unbedingtem Ernst« erfahren wurde. Anders Xunzi, der den Himmel als eigengesetzlich wirkende Naturmacht verstand und den Menschen als »von Natur aus schlecht« erlebt. Das Schlechte am Menschen rührt nach Xunzi daher, daß der Mensch stets dazu neige, Begehrlichkeiten und verstrickenden Emotionen nachzugeben. Somit sei er denkbar untauglich für ein geordnetes und harmonisches Zusammenleben in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Insofern sei er schlecht! Um Begehren und Verstrickung nicht hilflos ausgeliefert zu sein, bedarf der Mensch ganz entschieden der Erziehung und Selbsterziehung. Diese verantwortungsvolle Aufgabe teilt Xunzi nun dem Herzen zu, das in voller Bewußtseinsklarheit Gefühl und Begehren regeln und lenken soll. Dabei könne das Herz – so Xunzi im Vorgriff auf das Leib-Staat-Bild (s. I.3.b) – auf seine Autorität als Fürst zurückgreifen: »Das Herz ist der Fürst von Körper und Leib und sorgt für die Klarheit des Bewußtseins … Es erteilt Befehle, empfängt keine Befehle … Der Mund kann von ihm gezwungen werden, dann ist er entweder still oder er redet; der Körper kann von ihm gezwungen werden, dann zieht er sich entweder zusammen oder streckt sich.« 74
Begehren im Übermaß und die auf das Begehren folgenden Emotionen werden maßgeblich durch die Reize seitens der Außendinge geweckt, denen die Sinnesöffnungen Einlaß gewähren. Dem Herzen obliege es gleich einem Fürsten, der souverän sein Land verwaltet, besonnen zwischen Begehren und Gefühlen seine Auswahl zu treffen, d. h. zu unterscheiden, ob diese sinnvoll und nutzbringend sind oder ob sie den Betreffenden selbst schädigen und das Gemeinschaftsleben untergraben. Die Karriere des chinesischen Herzens, d. h. der Aufstieg vom Lehrer bei Zhuang Zhou zum Fürsten bei Xunzi, ist damit nicht zu Ende. Die nächste Etappe seiner Machterweiterung fällt nicht von ungefähr mit der Gründung des zentralisierten Kaiserreiches zusammen: 88 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Die Selbstermächtigung des Herzens
»Das Herz ist der Herrscher … Wenn der Herrscher erleuchtet ist, dann bedeutet das Frieden für die Untertanen. Wer auf dieser Grundlage sein Leben nährt, dem ist Langlebigkeit sicher … Wer auf dieser Grundlage das Reich regiert, der wird es zu großer Blüte erheben.« 75
Die Herrschermetapher war zwar nicht neu, doch nunmehr ein gesellschaftstragendes Konzept: Zum einen stand dahinter die Analogie eines mächtigen Kaisers; zum anderen machte sich im Prozeß der Zivilisation vermehrt das Bedürfnis bemerkbar, die eigene unbändige Natur in den Griff zu bekommen, Affekte und Triebe zu regulieren – umso notwendiger, als immer mehr und mehr Menschen in einem erweiterten Friedensgebiet zusammenlebten. Die Metaphorik des Herzens als Herrscher überdauerte die Zerfallsperiode von vierhundert Jahren, welche die Han-Dynastie (206 v.–220 n. Chr.) ablöste. In der Folge wurde zuweilen eine bisher ungekannte Härte gegen Emotionen und Begehren gefordert – z. B. in den Traktaten zur Erneuerung in Krisenzeiten aus dem sechsten Jahrhundert, die einem Meister Liu zugeschrieben sind. Zwar spricht auch dieses Buch nur von Mäßigung, doch verrät seine Sprache den Machtzuwachs des Herzens, hatte es der Herrscher offenbar nunmehr mit einem raffinierten Feind zu tun: Im zweiten Kapitel des Buches, das den bezeichnenden Titel trägt »Dem Begehren wehren«, sind die allzu menschlichen Wünsche, Absichten und Willensregungen mit gefräßig-gefährlichen Borkenkäfern gleichgesetzt und das Herz aufgefordert, besonders streng die Fünf Pforten der Wahrnehmung – Einlaßstellen und Depots für Lüste und Vorlieben – zu bewachen und zu kontrollieren. Die vermehrte Selbstermächtigung des Herzens ging Hand in Hand mit einer Verinnerlichung und Zentrierung der Gefühle, die, solcherart fokussiert, womöglich umso besser zu kontrollieren waren. Auch dieser Prozeß setzte in vollem Umfang erst in der Frühen Kaiserzeit ein, und zwar nach der Jahrtausendwende: Alle einschlägigen Textstellen aus den Jahrhunderten davor sie89 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
deln das Empfinden zwar im Menschen an, betonen aber gleichzeitig, daß es von außen atmosphärisch bewirkt sei. Dies galt für das leibliche Spüren von Kälte und Hitze, Feuchtigkeit und Trockenheit, Helligkeit und Dunkelheit, die als tages- oder jahreszeitliche Manifestationen des qi vom Himmel oder von der Erde aus auf den Menschen einstrahlten, ebenso wie für die Wahrnehmung von Stimmungen, die sich bei Musik und Tanz und während der gemeinschaftlich erlebten Rituale einstellten. Auch Gefühle im engeren Sinne drängten sich dieser frühen Sicht zufolge von außen auf: »… diese sechs Äußerungen (Kummer, Heiterkeit, Lust, Zorn, Ehrfurcht, Liebe) sind nicht etwas Angeborenes; sie sind vielmehr die Folge einer Bewegung, die durch die Außendinge bewirkt ist. Darum waren die früheren Könige vorsichtig mit Beziehung auf das, was sie bei den Menschen an Empfindungen weckten.« 76
Noch unterstellt die Lehre von den kosmologischen Resonanzen um den Menschen herum ein Feld von atmosphärischen Einflüssen und Wechselwirkungen. Doch bereits in der Hanzeit (206 v.–220 n. Chr.) macht sich verstärkt die Tendenz bemerkbar, die Gefühle nach innen zu verlagern: Das Liji, ein Ritualbuch der Epoche, läßt die Töne im Herzen der Menschen entstehen, und Lü Buwei, der Verfasser der schon zitierten »Frühlings- und Herbstannalen des Herrn Lü« (Lüshi chunqiu) behauptet, die Trauer nage im Herzen. Einen Schritt weiter gehen die Verfasser des Huainanzi, waren sie doch davon überzeugt, daß äußere Atmosphären wie Musik oder zwischenmenschliche Stimmungen nichts gegen eine innere Traurigkeit auszurichten vermöchten: »Wer bekümmert ist, wird weinen, auch wenn er fröhliche Lieder hört; wer fröhlich ist, wird lachen, auch wenn er einen weinenden Menschen sieht.« 77 In der verstärkten Anbindung der Gefühle an das Innere des Menschen kommt zweierlei zum Ausdruck: eine zunehmende Ich-Behauptung gegenüber den sich äußerlich aufdrängenden Atmosphären sowie die höher gesteckten Erwar90 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Die Selbstermächtigung des Herzens
tungen an die Selbstkontrolle. Beides hatte mit den Zivilisationsschüben unter der vierhundert Jahre anhaltenden Han-Dynastie zu tun. Auch der Buddhismus mit seinem ausgeprägten Bestreben nach individueller Erlösung vermochte das Ich-Bewußtsein zu stärken, obwohl – oder gerade weil – als Ziel die Ich-Auflösung vor Augen stand. Nicht zuletzt mögen Rückzugsbewegungen von Teilen der chinesischen Elite aus Gesellschaft und Politik bei diesem Zugewinn an personaler Emanzipation eine Rolle gespielt haben. Diese speisten sich nicht zuletzt aus dem Bedürfnis nach Individualität und Originalität. Am klarsten äußern sich zur Verinnerlichung der Gefühle die Vertreter der schon erwähnten Lehre vom Dunkeln, allen voran Xi Kang (223–262), der die traditionelle Sicht von der Außenanregung der Gefühle als »absurde Aufzeichnungen gewöhnlicher Gelehrter« kritisiert. Dem setzt er seine Sicht entgegen, wonach die Gefühle Freude, Zorn, Heiterkeit, Liebe, Haß, Scham und Schrecken untrennbar dem Ich des Menschen angehören: »Wenn ich einen, der klug ist, im Herzen liebe und einen, der dumm ist, im Gefühl verabscheue, so gehören Liebe und Abscheu selbstverständlich zu mir und Klugheit und Dummheit zu jenen. Wie kommt es, daß wir einen, weil wir ihn lieben, einen lieben Menschen und den anderen, weil wir ihn verabscheuen, einen abscheulichen Menschen nennen; den Geruch, über den wir uns freuen, als erfreulich und den, über den wir uns ärgern, als Ärgernis bezeichnen? So gesehen, läßt sich behaupten, daß Innen und Außen jeweils anders zu verwenden und Jenes und Ich unterschiedlich zu benennen sind. Selbst wenn Töne von sich aus ein Gutes oder Schlechtes zum Prinzip haben sollten, so hat das mit Trauer und Heiterkeit nichts zu tun. Da Trauer und Heiterkeit auf Gefühlen beruhen, sind sie nicht an Töne geknüpft.« 78
Auch die Resonanzmedizin, deren Klassiker seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert kompiliert wurden, siedelt die Gefühle im Inneren des Menschen an. Doch nach wie vor werden hier die atmosphärischen Einflüsse als krankmachende Faktoren berücksichtigt. Im Gegensatz zu den Philosophen, welche die Gefühle tendenziell im Herzen konzentrieren, lassen die Medi91 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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zintheoretiker es bei der Verinnerlichung der Gefühle bewenden und verzichten auf Zentrierung. Noch heute ordnet die Traditionelle Chinesische Medizin die Gefühle den einzelnen Organsystemen zu: So sitzt Zorn bzw. Wut in der Leber, Freude bzw. Lust im Herzen; das Nachdenken bzw. Grübeln in der Milz, die Trauer in der Lunge und die Angst in den Nieren. Unsere Tradition kennt ebenfalls die dezentrale Sicht von einem Konzert der Regungsherde, die sich in Sprachbildern noch erhalten hat, etwa, wenn jemandem eine Laus über die Leber gelaufen ist oder uns das Herz vor Freude hüpft oder uns die ganze Welt ver»gällt« ist. Verinnerlichung und Zentrierung der Gefühle laufen auf ein und dasselbe hinaus: auf eine vermehrte Selbstbehauptung gegenüber den ergreifenden Atmosphären, dem aufdringlichen Begehren und beunruhigenden Emotionen. Ein analoger Vorgang im Interesse der Selbstbeherrschung dürfte sich in Europa im griechischen Denken zur Zeit von Demokrit (um 460 – um 370 v. Chr.) und Platon (427 – um 348 v. Chr.) abgespielt haben. Hier wurde der Ursprung der vernünftigen Regungen ins Gehirn verlegt, wo sie im allgemeinen nicht spürbar auszumachen sind, es sei denn, sie verursachen Kopfzerbrechen. Die Gefühle hingegen wurden in der Folge in der »Seele« verstaut, einer Konstruktion, von der wir nicht genau wissen, wo wir sie leiblich spürbar lokalisieren könnten – am ehesten mit Goethe in der Brust, wo sie aber dem Konzept des Herzens verdächtig nahekommt. So müßten wir den chinesischen Gelehrten bescheinigen, daß sie den menschlichen Regungsherden und damit den spürbaren Phänomenen immerhin treu geblieben sind. Die einander widerstrebenden Neigungen im Herzen anzusiedeln, deckte sich mit der ganzheitlichen Sicht des Menschen, die sämtliche Bewußtseinsregungen, die emotionalen wie die vernünftigen, als Aktivitäten ein und desselben qi begreift. Da aber auch die äußeren Atmosphären gleichermaßen als Manifestationen des qi wahrgenommen wurden, verwundert es nicht, wenn diese nach wie vor sowohl in der Medizin als auch 92 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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in der chinesischen Gelehrtenkultur sehr ernst zu nehmen waren: Warnten die Mediziner vor den krankmachenden atmosphärischen Einflüssen in der Abfolge der Jahreszeiten, so wollten chinesische Gelehrte die harmonisierenden Atmosphären in Natur und Landschaft, aber auch in der häuslichen Wohnung und zwischen den Menschen bewußt pflegen und hegen.
c) Das gespaltene Herz Hält die Medizin bis heute an der ganzheitlichen und harmonischen Verfassung des Menschen sowie an der dezentralen Anordnung der Gefühlsregungen fest, so setzt sich in der Philosophie unter dem Zeichen der Herrscher-Metapher eine antagonistische Sicht menschlicher Regungen durch. Sie begegnet uns ganz ausgeprägt im Neokonfuzianismus, der Schule des lǐ 理, die sich als eine Mischung aus konfuzianischem, buddhistischem und daoistischem Gedankengut in der Songzeit (960– 1278) formiert. Nahezu ein Jahrtausend lang stellt diese Strömung die Grundlage der chinesischen Gesellschaftsordnung dar und wirkt bis in die Gegenwart fort. Eindeutig ist das Herzverständnis einiger Neokonfuzianer, allen voran Zhu Xi (1130–1200), dem Philosophen Mengzi (372–289 v. Chr.) verpflichtet, der das menschliche Herz als Restinstanz einer moralisch Einfluß nehmenden Himmelsmacht verstand. An die Stelle des Himmels (tian) setzen die Neokonfuzianer nunmehr li, das als moralisches Prinzip (s. II.1.c) den gesamten Kosmos strukturiert und insofern auch dem Menschen im Herzen angeboren ist. Demnach ist der Mensch ursprünglich gut. Sein Dilemma rührt einzig und allein daher, daß die Herzensklarheit immer wieder durch Emotionen und Begehren getrübt ist, so wie sich das klare Wasser durch das Aufwühlen des Schlammes trübt. Für die Herzenswallungen finden die Neokonfuzianer Sprachbilder, die verraten, wie sehr sie ihnen zu schaffen machten: 93 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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»Die selbstsüchtigen Wünsche verwunden mehr als ein zweischneidiges Schwert und brennen heißer als das heißeste Feuer … Die Gewalt des Begehrens ist schlimmer als Pferde, die durchbrennen, und Achtsamkeit heißt, sie mit dem Lasso einzufangen. Die Wildheit des Begehrens ist schlimmer als überflutender Strom, und Achtsamkeit ist wie der Deich, der ihn eindämmt.« 79
So ist nunmehr Kampf angesagt, der umso strenger zu führen war, je heftiger die menschlichen, allzu menschlichen Bedürfnisse empfunden wurden. Die von alters her geforderte Selbstkontrolle, eher dem Weg der Mitte verpflichtet, nahm Züge einer verbissenen Selbstüberwältigung an. Das Herz war sich selbst zum Feind geworden: »Menschliches Begehren verletzt den Menschen, deshalb gebraucht man die Worte ›erobern‹ und ›bezwingen‹; hier ist die Sprache der Kriegsführung angebracht, denn menschliches Begehren ist der Feind des Menschen.« 80
Das Bild vom Messer und der Schärfe des Messers diente dazu, das Dilemma des Herzens zu veranschaulichen: Die Grundlage (tǐ 體), d. h. das Messer, war zu unterscheiden von dessen Gebrauch, dessen Funktion (yòng 用), d. h. der Schärfe des Messers. Auf den Menschen bezogen entsprach der Grundlage das angeborene gute Herz. Der Gebrauch des Herzens konnte dieser Grundbeschaffenheit angemessen sein oder in der situativen Hingabe an Emotionen und Begehren davon abweichen. Auch begrifflich unterschieden die Neokonfuzianer zwischen dem »mit Tugendkraft ausgestatteten Herzen« und einem »menschlichen, allzu menschlichen Herzen«, »… je nachdem, ob das Handeln aus der Eigensucht entsteht … oder ob es seinen Ursprung im richtigen angeborenen Tugendverhalten hat … Wenn diese beiden im menschlichen Herzen vermengt werden und wir nicht wissen, wie wir sie kontrollieren können …, dann wird es nicht möglich sein, mit dem himmlischen Prinzip den Egoismus menschlichen Begehrens zu überwinden.« 81
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Die Selbstermächtigung des Herzens
Diese Herzvorstellung, die durch Berufung auf das ti–yongKonzept zwar begrifflich noch der Ganzheit verpflichtet war, scheint doch Welten entfernt vom Herzen eines Zhuang Zhou (4./3 Jahrhundert v. Chr.), dessen Herzfasten und Herz-Leere den gespürten Leib voraussetzen. Sie hatte auch keine Ähnlichkeit mehr mit dem Herzen als Fürsten, der noch im Menschenbild des Xunzi (298 – 238 v. Chr.) als primus inter pares seine Wirkung entfaltet. Nicht einmal vom Herzen des Mengzi war viel übrig, bezog dieser doch sein Wissen um Richtig und Falsch aus seiner leiblichen Verbundenheit mit der göttlich-numinosen Wirkkraft des Himmels. Fragen wir nach dem Ursprung dieser Lebensverneinung und Leibfeindlichkeit, so bietet sich am ehesten das altindische Asketentum an, denn Buddha selbst hatte, wie die chinesische Gelehrtenkultur auch, den Weg der Mitte propagiert; erst recht kennt der Chan/Zen-Buddhismus diese Extreme nicht. Auf die indische Herkunft weist nicht zuletzt das Bild vom Herzen in einer spätkaiserzeitlichen Form der Meditation. Hier ist die Spaltung des Herzens inzwischen auch räumlich vollzogen, indem unterschieden wird zwischen einem »himmlischen Herzen« und »einem fleischernen Herzen«. Ersteres sitzt im Kopf, und zwar zwischen den Augen, während letzteres, von der Größe eines Pfirsichs, mit dem Herzen selbst identisch ist. Das fleischerne Herz ist demnach in höchstem Maß den Verführungen der Außenwelt und emotionalen Verstrickungen ausgeliefert: »Wenn man auch nur einen Tag nichts ißt, so fühlt es sich äußerst unbehaglich; wenn es etwas Erschreckendes hört, klopft es, wenn es etwas Erzürnendes hört, stockt es; wenn es sich dem Tod gegenüber sieht, wird es traurig. Wenn es etwas Schönes sieht, wird es verblendet. Aber das himmlische Herz im Kopf, wann hätte das auch nur sich im mindesten bewegt! … Am besten freilich ist es, wenn das Licht sich schon zu einem Geistleib verfestigt und allmählich … die Triebe und Bewegungen durchdringt.« 82
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In der weiteren Erläuterung geht es um eine sich verklärende Lichtexistenz, wobei die vertrauten Herrscher- und Kampfmetaphern erneut in unverminderter Schärfe in Erscheinung treten: »Das untere Herz bewegt sich wie ein starker mächtiger Feldherr, der den himmlischen Herrscher ob seiner Schwäche mißachtet und die Führung der Staatsgeschäfte an sich gerissen hat. Wenn es aber gelingt, das Urschloß zu festigen und zu wahren, so ist es, wie wenn ein starker und weiser Herrscher auf dem Thron sitzt. Die Augen bringen das Licht in Kreislauf wie zwei Minister zur Rechten und zur Linken … Wenn so die Herrschaft im Zentrum in Ordnung ist, so werden alle jene aufrührerischen Helden mit umgekehrter Lanze sich einfinden, um ihre Befehle entgegenzunehmen.« 83
Mit der räumlichen Trennung war gewiß die Spaltung des Herzens vollzogen. Und doch ist das himmlische Herz noch leiblich fundiert, denn jener Ort zwischen den Augen entpuppt sich als das Ajna-Chakra, eines der Energiezentren, die in indischen Leibesübungen als Regungsherde besonderer Art zu aktivieren sind. In der chinesischen Lebenspflege von Taiji und Qigong entspricht dem »Dritten Auge« das obere Zinnoberfeld, wo qi zum Zwecke der Lebensverlängerung zu sammeln ist. Auch setzen die in dem zitierten Handbuch erläuterten Atemtechniken die Ganzheit voraus, denn das qi kreist ungehindert als Lichtenergie bzw. als Wärmestrom im menschlichen Leib. So ist noch diese spätkaiserzeitliche Zuspitzung eines Antagonismus zwischen Einsicht und Gefühlsbegehren verschieden vom radikalen Körper-Seele- bzw. Körper-Geist-Dualismus der traditionellen europäischen Philosophie, wo selbst die mystische Verschmelzung mit Gott vielfach auf den reinen Geist abzielt und Körper und Leib dabei zurückzulassen sind.
3. Seele oder Lebenskräfte? Neben dem Herzen sind andere chinesische Denkfiguren geeignet, den Wandel von Differenz zu Antagonismus, von Ganzheit 96 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
zur Spaltung zu veranschaulichen: Allen voran der Begriff shén 神, der wie qi in seiner Vielgestaltigkeit mit einem einzigen deutschen Wort nicht zu erfassen ist, geschweige denn mit einem so vieldeutigen, wenn nicht mißverständlichen Wort wie »Geist« oder gar »Seele«. Und doch hat es den Anschein, als ob shen das einzige chinesische Konzept sei, dessen Begriffsgeschichte ein echtes dualistisches Verständnis zu bieten hat, nämlich im Rahmen einer Kontroverse, die im 6. Jahrhundert relevant wird; dabei geht es um die Frage, ob shen vergänglich oder unvergänglich sei. Nicht zuletzt interessiert das Wortzeichenpaar hún 魂 und pò 魄. Auch dessen Begriffsgeschichte kann den Glauben an die Ganzheit menschlicher Existenz ebenso vor Augen führen wie antagonistische Tendenzen.
a) Die Vielgestaltigkeit von shén 神 Daß es problematisch sein kann, shen mit dem deutschen Wort »Geist« zu übersetzen, hat uns schon an anderer Stelle beschäftigt (s. I.3.a). In diesem Zusammenhang kamen alternative Übersetzungsvorschläge zur Sprache: Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft. Die Etymologie des Zeichens dürfte diese Vorschläge stützen, verweist sie doch auf zweierlei Bedeutungen, die in früher Zeit ohnehin nicht zu trennen sind: shen als göttlich-numinose Macht und shen als feine spezifische Manifestation der Lebens- und Schöpferkraft qi. So ist shen die Lichtkraft des Himmels, insbesondere der Sonne, des Mondes und der Sterne: Das linke Element von shen 示 enthält fünf Striche, von denen die beiden oberen, als altes Zeichen für »Oben« gedeutet, den Himmel repräsentieren; die drei unteren Striche stehen für die Strahlen von Sonne, Mond und Sternen – in alter Zeit wie der Himmel selbst als göttliche Wirkkräfte gedacht. So verweist das aus diesen fünf Strichen zusammengesetzte Zeichenelement noch heute in allen Wortverbindungen auf ein Numinoses. Eine andere Etymologie zeigt in dieselbe Richtung, wenn alle fünf 97 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Striche als Einflüsse gedeutet werden, die vom Himmel herunterkommen; noch ihre Erklärung als Schafgarbenstengel gehört in diesen Deutungszusammenhang, dienten die Schafgarbenstengel doch zum Orakeln und damit zur Kommunikation mit göttlich-numinosen Mächten. Nun gehört shen zugleich in die Reihe der Zwölf Erdzweige, die – mit den Zehn Himmelsstämmen kombiniert – den Sechziger-Zyklus der vormodernen Jahres- und Tageszählung bilden. Nach diesem Verständnis sind die Zwölf Erdenzweige den zwölf Himmelsrichtungen zugeordnet, um die sich eine dritte etymologische Überlegung rankt: shen ist in dieser kosmischen Konstellation der Südwestecke zugeordnet, mit der die schöpferischen Lebensprozesse verknüpft sind: »Wenn die Sieben Sterne des Großen Wagens nach Südwesten zeigen, dann ist die Deichsel genau nach Nordosten gerichtet …; dann herrscht Frühling in der Welt; dann setzen die schöpferischen qi-Bewegungen ein: Himmel und Erde bringen die Zehntausend Wesen und Dinge hervor. Das, das die Wesen und Dinge ausrichtet, nennt man die Schöpferkraft shen.« 84
So laufen alle etymologischen Erläuterungen auf ein und dasselbe hinaus: Der linke Zeichenbestandteil von shén 神, sein Sinnelement 示, suggeriert das Wirken einer göttlich-numinosen Kraft, die alles Lebendige in der Welt, einschließlich des Menschen, initiiert und beeinflußt. Vom rechten Zeichenbestandteil 申, der hier die Aussprache angibt, war ebenfalls schon die Rede: Dessen Grundbedeutung »(sich) strecken, dehnen, weiten« verweist auf die leibliche Richtung der Weitung: »Wenn qi sich weitet, so ist das shen 申; wenn qi sich zusammenkrümmt, so ist das guǐ 鬼.« 85 Da uns gui weiter unten zu beschäftigen hat, interessiert hier zunächst nur, daß der leibliche Vorgang der Weitung mit shen verknüpft ist, daß Weitung dem qi entspricht, wenn es sich zerstreut, und damit dessen yang-Aspekt. So ist shen ein im doppelten Sinne leiblich Gespürtes: gött98 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
lich-numinose kosmische Atmosphäre, die den Menschen umhüllt und durchdringt, und zugleich leibliche Regung, die als leibliche Weitung auch die Öffnung dem Göttlich-Numinosen gegenüber begleitet. Als aktive und initiierende Kraft des Himmels spielt shen bei der Menschwerdung des qi eine entscheidende Rolle. Angesichts der leiblichen Fundierung von shen ist auch diese zentrale chinesische Denkfigur nicht anders als ganzheitlich zu verstehen – als die Dreifaltigkeit aus Lebenskraft, Geisteskraft und Bewußtsein. Im Sinne der Lebenskraft/Vitalität findet shen vor allem in medizinischen Texten Verwendung. Von der Vitalität, der leiblichen Disposition eines Menschen, ist es dann nur ein kleiner Schritt zur leiblich vermittelten Persönlichkeit, die wir modern auch als Ausstrahlung bezeichnen würden. In religiösen Texten ist shen im allgemeinen mit Geisteskraft zu übersetzen – im Sinne eines spirituellen Vermögens. Auch in der Bedeutung von Bewußtsein ist shen ganzheitlich zu verstehen, umfaßt shen doch sämtliche Bewußtseinsregungen – von den Gefühlen über Willenskraft und Erinnerungsvermögen bis hin zu Reflexion und Selbstreflexion, Wissen und Urteilskraft. Im Verlauf seiner weiteren Begriffsgeschichte änderte sich nichts an den anthropologischen und kosmisch-atmosphärischen Inhalten von shen, und wir tun gut daran – mögen wir uns nun für Lebenskraft, Bewußtsein oder Geisteskraft entscheiden –, die anderen Bedeutungen jeweils mitschwingen zu lassen, um dem Ganzheitskonzept gerecht zu werden. Im Kontext des Ahnenkultes setzte allerdings ein Bedeutungswandel ein, in welchem die Entwicklung von Polarität zu Antagonismus zum Vorschein kommt: Zu shen gibt es – dem obigen Zitat zufolge – das Pendant guǐ 鬼. Beide Wortzeichen sind bereits in Texten aus vorchristlicher Zeit als Synonymkompositum shen-gui geläufig, und zwar in der allgemeinen Bedeutung für Götter und Geister, die den Menschen sowohl Glück als auch Unglück bringen. Angesichts der alles überlagernden yin-yang-Polarität wun99 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
dert es nicht, wenn die beiden Konzepte aufeinander bezogen wurden, wobei shen dem yang/Himmelaspekt und gui dem yin/Erdaspekt angehört. Auf eben diese Polarität zielt das obige Zitat, dem zufolge shen auf die leibliche Dimension Weite und gui auf die der Enge verweist. Sogar als Totengeist steht gui im Zeichen der Polarität: Nicht nur die leibliche Engung, auch der Rückzug ins Schattenreich des Todes (yin), wird als ein Sichzusammen-krümmen erlebt, während shen für die Entfaltung des Lebens (yang) steht. Nun hat es den Anschein, als ob sich mit Entstehung und Konsolidierung des Kaiserreiches ein Antagonismus durchzusetzen begann, in welchem shen und gui in zwei Wesenheiten auseinanderfallen; in der Folge sind die Elemente des Begriffspaares nicht mehr zwangsläufig komplementär aufeinander bezogen; vielmehr wirken beide Wesenheiten immer öfter gegeneinander: Als gutwilliger Ahnengeist tritt shen auf die Bühne – im Gegensatz zu gui, einem Dämon, der Angst einflößt und Schaden stiftet. Wenn auch die anderen Bedeutungen über die Jahrhunderte hinweg daneben fortbestehen, so ist der Antagonismus in diesem Begriffspaar doch als Tendenz deutlich auszumachen. Mehrere Faktoren mögen diese Entwicklung befördert haben, allen voran die Versuche des Einheitsstaates, nicht nur Maße und Gewichte, Sprache und Schrift, sondern auch die Kulte zu vereinheitlichen bzw. zu monopolisieren. In dem Maße, in dem sich der Konfuzianismus als offizielle Lehre seinen Einfluß im Ritualbereich sichern konnte, wurden die lokalen Götter und Geister dämonisiert und energisch vom Staat bekämpft. Auch die im Gefolge der Reichseinigung zunehmende Innen-Außen-Kontrastierung mag dabei eine Rolle gespielt haben: Innen stand als Friedensgebiet dem feindlich gesonnenen Barbarenland gegenüber, zumal traditionell an den Außenrändern der von Chinesen bewohnten Welt die Dämonen angesiedelt sind und ganz aktuell in dieser Epoche die Stämme der xiōng-nú 匈奴, die den Chinesen an den Nordgrenzen immer wieder zu schaffen machten. 100 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
b) Vergänglich oder unvergänglich Unter dem Einfluß des Buddhismus nahm die Begriffsgeschichte von shen in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten dann eine dualistische Wendung: Die Vorstellung von shen als Individualseele, die nach dem Tode weiterexistiert, hing mit dem Glauben an die Wiedergeburt nach dem Prinzip der Vergeltung zusammen. Dieser ursprünglich vorbuddhistische Karma-Gedanke, der auch in Indien immer wieder umstritten war, gehört schon bald untrennbar zum chinesischen Volksbuddhismus. Aber auch buddhistisch-gläubige Mitglieder der chinesischen Gelehrtenschicht liebäugeln, und sei es nur spielerisch, mit der Lehre von der Wiedergeburt. So führt Yuan Mei (1716–1797) das Desinteresse seiner Söhne an Büchern und Gelehrsamkeit explizit nicht auf sein eigenes pädagogisches Versagen zurück, sondern auf deren »Karma aus früheren Leben«. Für sich selbst will er – im Zwischenraum zwischen Leben und Tod – auf der Hut sein, damit das Rad des Schicksals ihn nicht fortreißt, »so dass ich immer und ewig ein Dichter sei«. 86 Andere Gelehrte polemisierten entschieden gegen die Seelenwanderung, so daß im 5./6. Jahrhundert eine Diskussion entbrannte, in der Fan Zhen (450–510) eine herausragende Rolle spielte. In seiner Abhandlung »Über die Vergänglichkeit von shen« (Shenmielun) triumphiert der alte chinesische Standpunkt, der sich wie folgt zusammenfassen läßt: Ob nun als Ahnengeist, als yang-Aspekt menschlicher Lebenskraft oder als Bewußtsein und Geisteskraft – über kurz oder lang würde sich shen nach dem Tod des Betreffenden himmelwärts verflüchtigen und zerstreuen. Bei aller Wahrnehmung von Differenz war also im alten chinesischen Denken ein shen ohne seine tast-, sichtund spürbare Behausung, Körper und Leib, nicht denkbar. Um sein Verhältnis zum Körper bzw. Leib zu veranschaulichen, stand die Metapher von der Kerze mit ihrer Flamme zur Verfügung, die bereits in der Hanzeit der Himmelskundler Huan Tan (gest. 56 n. Chr.) wie folgt formuliert: 101 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
»Das feine Bewußtsein (jing-shen) wohnt im Körperleib (xing-ti); es ist wie die Flamme, die auf der Kerze brennt … Erschöpft sich die Kerze, wie sollte die Flamme allein in die Leere eingehen?!« 87
Fan Zhen seinerseits zog die w. o. schon erläuterte Metapher vom Messer und des Messers Schärfe als Bild vor und griff dabei auf eine Denkfigur zurück, die sich schon im Buch des Xunzi findet: die Unterscheidung zwischen zhì 質, einem Grundlegenden, Substantiellen, d. h. dem Messer auf der einen Seite, und yòng 用, seiner Wirkung, Funktion, Fähigkeit, d. h. des Messers Schärfe auf der anderen. Der Mensch gleiche dem Messer, sein Bewußtsein, als eine Wirkung des lebendigen Menschen, sei wie des Messers Schärfe. So war es gelungen, die Differenz auf den Begriff zu bringen, ohne die Ganzheit zu verabschieden, denn das eine ist per definitionem ohne das andere nicht denkbar. Daß im Wortfeld von shen die Bedeutung »Wirkkraft« bzw. »Lebenskraft« immer mitschwingt, mag dafür verantwortlich sein, wenn so entschieden an der lebendigen Ganzheit festgehalten wurde. Doch bietet sich eine weitere Erklärung an, wenn man die chinesische Lehre vom Seienden mit der europäischen vergleicht: Letzere, so sie sich dem Leitbild der festen Körper verschrieben hatte, unterschied an den Dingen zuallererst die Substanz, dann deren Eigenschaften (Akzidens) und zuletzt die Stellung im Gesamtzusammenhang (Relation), die aber – wie noch Kant behauptete – ohne Auswirkung auf das Wesen der Sache selbst bleibt (s. I.2.c). Im chinesischen Denken verhielt es sich genau umgekehrt: An erster Stelle interessierte die Relation, d. h. die Funktion im Gesamtzusammenhang, die ganz entscheidend das Wesen der Sache selbst prägt: Eine Kerze ist nur Kerze, weil ihre Flamme Licht verbreitet, und ein Messer ist nur Messer, wenn es schneidet. Auch andere Eigenschaften, wie rund oder viereckig, rot oder weiß, sind nach altchinesischer Sicht nicht bloß zufälliges und damit austauschbares Zubehör (Akzidens). Sie gehören vielmehr wesensmäßig einer Sache an, so wie das gestreifte Fell
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Seele oder Lebenskräfte?
den Tiger ausmacht, so wie das Runde dem yang bzw. dem Himmel und das Viereckige dem yin bzw. der Erde angehören; so wie die Farbe Rot mit folgenden Phänomenen eine Wesenskategorie bildet und analoge Wirkungen entfaltet: Feuer, Herz, Zunge, Dünndarm, Freude, Hitze, Sommer usw. (s. Tabelle in I.2.c). So hatte jedes Weltbild, das europäische wie das chinesische, seine eigene in sich stimmige Logik: Das Leitbild der festen Körper stützte sich auf das An-und-für-sich-Sein der Dinge, deren Substanz, und wirkte damit trennend. Das Leitbild des Atmosphärisch-Fließenden und Durchdringenden stützte sich auf das Dazwischen, auf das Sein-für-anderes, auf Relation, Situation, Kontext, achtete auf das, was verbindet: die Funktion im Gesamtzusammenhang. So kam es, daß im Rahmen der chinesischen Philosophie die Denkfigur ti-yong bzw. zhi-yong – ein Grundlegendes und seine Funktion – die Bedeutung gewann, die dem Drei-Stufenschema (Substanz, Akzidens, Relation) der europäischen Ontologie zugesprochen wird. Da die Wirkung von der Sache selbst nicht zu lösen ist, ist auch dieses Konzept Ausdruck ganzheitlichen Denkens. Halten wir fest, daß der Begriff shen als einzige der signifikanten chinesischen Denkfiguren eine dualistische Wendung erfuhr – und zwar im Kontext des chinesischen Buddhismus. Doch große Teile der chinesischen Elite verteidigten die alt überlieferte ganzheitliche Sichtweise. Sie überlebt bis heute in der Traditionellen Chinesischen Medizin, deren Organsysteme mit der Vorstellung der modernen westlichen Medizin von substanziellen Organen kontrastieren.
c) hún 魂 und pò魄 Die beiden Zeichen von hun und po, beide mit dem Sinnelement Totengeist/Dämon 鬼 geschrieben, unterscheiden sich nur durch den lautangebenden Bestandteil, der zumindest im Falle von hun ebenfalls bedeutungsträchtig ist: Dieser stellt nämlich 103 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
eine Wolke 云 dar und verweist somit auf ein Flüchtig-Atmosphärisches am Himmel. Demnach sind hun und po zuallererst Aspekte des yang-qi und yin-qi und somit in ihrer Polarität dem Himmel bzw. der Erde zugeordnet: »Das Himmels-qi ist hun, das Erd-qi ist po.« 88 Dem entspricht die Zuordnung zu einem weiteren Begriffspaar: hun zu shen, der Wirkkraft des Himmels, und po zu líng 靈, einem alten Begriff aus der Welt der Magie und des Shamanismus, der im yin-yang-Denken die Wirkkraft der Erde (yin) repräsentiert. 89 Doch damit nicht genug der Zuordnungen: hun und po entsprechen den Totengeistern shen und gui, die ja ebenfalls der Polarität von yang und yin verpflichtet sind: Tab. 3 Zuordnungen zu hún und pò yīn 陰(阴)
yáng 陽(阳)
guǐ 鬼
shén 神
líng 靈
shén 神
pò 魄
hún 魂
Anders als shen, das in der Welt auch als kosmische Schöpferkraft wirkt, sind hun und po ausschließlich an die Individuation des Menschen gebunden. Sie finden sich in den späteren Schwangerschaftsmonaten ein, verweilen bei ihrem Wirt ein Leben lang, um sich nach dessen Tod auf und davon zu machen. Zieht po sich in die Erde zurück und zersetzt sich allmählich mit dem sichtbaren Körper, so hält sich hun eine Weile noch in der Nähe der Heimstatt des Toten auf, bis sich auch diese Wirkkraft ebenfalls irgendwann verflüchtigt hat – ein schönes Bild für die atmosphärische und damit leiblich spürbare Anwesenheit eines Verstorbenen, der uns lieb und nahe war. Zu Lebzeiten des Menschen interessieren hun und po als Wirkkräfte bzw. Funktionen, die leiblich spürbar zu lokalisieren sind: So schreibt die chinesische Medizin das Weinen und Saugen eines neugeborenen Kindes, die unwillkürlichen Bewegun104 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
gen der Gliedmaßen und nicht zuletzt die Hellhörigkeit der Ohren (yin) den Wirkungen von po zu; hun hingegen sorgt für die Klarsicht der Augen (yang). Heute noch begegnet uns hun zusammen mit der líng-Wirkkraft 靈 (灵) in der Wortverbindung línghún 灵魂 und bezeichnet dann eine Regung, die wir als die schöpferische Geistes- und Antriebskraft eines Menschen, seine Phantasie und Auffassungsgabe, seine Anpassungsfähigkeit und Sensibilität ausmachen können; darüber hinaus steht das Kompositum heute für Seele im Sinne der europäischen Philosophie und dann dem Körper aus ròu 肉(Fleisch) und tǐ 體 90 (s. I.3.a) gegenüber. Wenn hun für die Sehkraft und po für die Hörfähigkeit verantwortlich sind, so erscheinen sie als Manifestationen des Leber- und Lungen-shen bzw. als Wirkungskräfte von Leber und Lunge, da in der Entsprechungsmedizin die Leber den Augen und die Lunge den Ohren zugeordnet sind. Auch die Leiblichkeit des Traumes läßt sich mit hun bzw. shen erklären, wobei vom Empfinden einer leiblichen Weitung beim Einschlafen offenbar auf den Traumzustand selbst geschlossen wurde: hun oder shen, so erfahren wir, fliegen im Traum »wie Schmetterlinge« 91 davon. Die Angst, sie könnten sich zu weit entfernen und den Träumer auf diese Weise in Gefahr oder gar zu Tode bringen, ist vielfach belegt, vor allem im Krankheitsfall bei Fieberträumen. Diese Charakterisierung von hun und po mag genügen, um zu zeigen, wie mißverständlich Übersetzungen sind, in denen hun und po als »Seelen« erscheinen – es sei denn, man hält es mit Seelen-Vorstellungen der europäischen Volkskultur: Hier wurde nämlich bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die Seele mit der Lebenskraft identifiziert, wie noch der Ausdruck, »seine Seele aushauchen« belegt. Die Seelenvorstellung und die Übersetzung von hun als »Hauch- oder Atemseele«, von po als »Körper-, Vital- oder Erdseele« entstammen dem Konzept des Animismus, das um die Jahrhundertwende in der Völkerkunde herumspukte. Damals waren Ethnologen davon überzeugt, sogenannte Naturvölker 105 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
glaubten an eine Art inneren Doppelgänger. Dieser löse sich in Traum-, Ohnmachts- oder ekstatischen Zuständen von seiner körperlichen Behausung, um in fernen Weltengegenden umherzuirren und sich in höchste Gefahr zu bringen. Ein chinesischer Ritus, den der Missionar de Groot im 19. Jahrhundert vielfach erlebte und beschrieb, schien die Animismusthese auch für China zu bestätigen, obwohl man »das Reich der Mitte« eigentlich nicht zu den »Naturvölkern« zählte. Dieser Ritus, bekannt als das »Zurückrufen des hun« (zhāo–hún 招魂), war der Befürchtung entsprungen, der »Lebensgeist« eines Kranken könnte sich vor der Zeit davonmachen. Auch bei Eintritt des Todes versuchten die Angehörigen, hun zurückzuhalten. In Form eines Gedichtes ist dieser Ritus sogar für das 3./2. Jahrhundert vor Christus belegt und mit dem Namen eines der berühmtesten chinesischen Dichter verknüpft: Nachdem Qu Yuan sich, aus Enttäuschung über politische Intrigen gegen seine Person, ins Wasser gestürzt hatte, versuchte sein Neffe ihn mit Hilfe einer Schamanin ins Leben zurückzurufen: »Da unten ist ein Mensch, dem wünsche ich zu helfen; sein hun und po haben sich zerstreut … Oh, hun, kehre zurück! Du hast deinen gewohnten Stamm verlassen. Was treibst du dich in den Vier Weltengegenden herum?! Du hast deine heitere Heimstatt aufgegeben um anderer vermeintlich glückverheißender Orte willen!« 92
Es folgt eine anschauliche Schilderung der schrecklichen Ungeheuer und vielfältigen Gefahren, die in den einzelnen Himmelsrichtungen auf hun lauern, um daraufhin immer wieder die eindringliche Beschwörung des »Kehre zurück!« erklingen zu lassen: »Unsicher umherirrend hast du nichts, worauf du dich stützen kannst. Die große Weite hat keine Begrenzung! Kehre zurück! Kehre zurück! … Steige du nicht zum Himmel empor!« 93 Auch ohne die Animismusthese zu bemühen, von der die Ethnologie ohnehin längst abgerückt ist, läßt sich dieser Ritus aus der Leibperspektive als eine Erfahrung erklären, die uns allen wohlvertraut ist: Das Einschlafen erleben wir als leibliche Wei106 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
tung, als Entgrenzung aus der Enge des Körpers. Auch Tiefenentspannung oder Meditation sind ebenso wie die gefürchtete Autobahn-Trance, die manchmal, kaum schlüssig, als Geschwindigkeitsrausch erklärt wird, Beispiele für diese Entgrenzung bzw. Ausleibung. In der weiteren Begriffsgeschichte von hun und po wiederholt sich die Entwicklung von der Polarität zum Antagonismus, die wir bereits vom Begriffspaar shen und gui kennen. Zunächst aber wandelt sich die Zweisamkeit in eine Vielgestaltigkeit, so daß bald Drei hun und Vier po ihr Wesen treiben, zuweilen sogar Sieben po. Mit der Vervielfältigung geht Hand in Hand die Personalisierung von hun und po. In Texten der Frühen Kaiserzeit, die im Daozang, dem daoistischen Kanon, zusammengestellt sind, zeigt sich deutlich der Antagonismus, wenn die Drei hun als wohlmeinende Gestalten in Erscheinung treten, die Sieben po jedoch als ganz ungemütliche Gesellen abgebildet sind. Diese warten nur darauf, daß der Mensch in seiner Achtsamkeit nachläßt, um sein Ende zu beschleunigen und selbst, so rasch es nur möglich ist, in die Erde zurückzukehren. Mit anderen Worten, die Vier bzw. Sieben po sind Wirkkräfte, die auf die Auflösung der Individuation, auf den Tod hinarbeiten. Dabei gehen ihnen die schon geschilderten Drei Leichname und Drei Würmer (s. I.3.b) zur Hand – gleichermaßen zerstörerische Wirkkräfte, die als leiblich spürbare Regungsherde sogar zu lokalisieren sind: die Drei Leichname in den drei Lebenszentren von Kopf, Brust und Rumpf, die an die Energiezentren der indischen Anthropologie erinnern und an die Drei Erwärmer der Traditionellen Chinesischen Medizin bzw. Zinnoberfelder der chinesischen Lebenspflege. Dort machen sie sich als Bestrebungen bemerkbar, die den Betreffenden in moralisch fragwürdige Versuchung führen, wie die Gier nach materiellem Wohlstand, Völlerei und Wollust. Auch die Sieben po stehen für leibliche Regungen, die zwar nicht örtlich festzumachen sind, die wir uns aber nicht verwerflich genug und damit als lebensbedrohlich ausmalen können: Ihre Verbildlichung und die dazu genannten 107 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit
Namen sprechen eine deutliche Sprache: Hundekadaver, Schlabberpisse, Vogelpenis, klebriger Dieb, fliegender Fisch, Dreck [skerl] und stinkende Lunge. Schon die Begriffsgeschichte von shen und gui warf die Frage auf nach dem Warum und Woher dieses Antagonismus: Neben den bereits genannten Faktoren der Dämonisierung der Volkskulte und der Entwicklung eines ausgeprägten Feindbildes an den Nordrändern des geeinten Reiches ist die Überformung des altchinesischen Geister- und Dämonenglaubens durch buddhistische Höllenvorstellungen zu nennen. Hinzu kamen gesellschaftliche Aspekte, welche die menschliche Lebenswelt ungewiß und feindselig erscheinen ließen: Nachdem das mächtige Hanreich in den Wirren des 3. nachchristlichen Jahrhunderts zerfallen war, herrschten weiterhin chaotische Zustände bis zum Ende des 6. Jahrhunderts. So lange war China politisch zerrissen, von Fremddynastien aus den nördlichen Steppengebieten besetzt, von Kriegen verwüstet. Das Leben des einzelnen Menschen, ob arm oder reich, in hoher oder niedriger Stellung, war ständig gefährdet und von kurzer Dauer. Auch derlei gesellschaftspolitische Zustände mögen sich in den antagonistischen Leibvorstellungen niedergeschlagen haben. Dafür spricht, daß zu anderen Zeiten dieser Antagonismus nicht im Vordergrund steht oder ganz fehlt, wie in der folgenden Abbildung aus dem 17. Jahrhundert. Hier haben sich offenbar Drei hun und Sieben po als friedliche und vornehme Persönlichkeiten zusammengefunden, um einvernehmlich die wichtigsten Leibbegriffe zu definieren. Aus dem Begleittext geht unmißverständlich hervor, daß noch in der Späten Kaiserzeit hun und po als leibliche Wirkkräfte verstanden wurden, die sich mit anderen Wirkkräften zu einem Konzert der Regungsherde zusammenfinden. Daß Gefahr für die Ganzheit auch in China an verschiedenen Stellen durchaus im Anzug war, ist also nicht von der Hand zu weisen. Das Material, das in diesem zweiten Teil ausgebreitet wurde, gab zugleich darüber Auskunft, woher die Gefahren drohten. 108 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Seele oder Lebenskräfte?
Abb. 2 Hunpotu, ca. 1615
Und doch zeigt sich über alle Zweifel erhaben, daß die Wahrnehmung von Mensch und Welt als Einheit ebenso fest im chinesischen Denken verwurzelt war wie die ganzheitliche Verfassung des Menschen selbst. 109 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Standen im ersten Teil des Buches als Leitmotive chinesischen Denkens Lebenskraft und Atmosphäre zur Debatte, so war der zweite Teil den Gefahren auf der Spur, die dem ganzheitlichen Welt- und Menschenbild drohten. In diesem dritten Teil kehren wir noch einmal zu den Leitmotiven zurück – wenn auch beide ausschließlich auf den Menschen und sein Umfeld bezogen bleibt. Als Wirkung von Lebenskraft und Atmosphäre begegnet uns der Vorrang des gespürten Leibes auf Schritt und Tritt, wenn wir an ausgewählten konkreten Beispielen das erkunden, was im chinesischen Kontext als das Schöne galt und zum Teil noch gilt. Zweifellos gehört zum gespürten Leib der Umgang mit den Grundbedürfnissen Essen, Trinken und Sexualität, die im zweiten Kapitel zu betrachten sind. Den Gefühlen und Emotionen ist dann das dritte und letzte Kapitel des Buches gewidmet. In allen drei Kapiteln interessiert weniger die philosophische Besinnung als vielmehr die sozialgeschichtliche Einbettung der genannten Lebensaspekte. Dabei wird sich im Sinne der Ganzheit zeigen, daß die chinesische Kultur eine Reihe von Techniken entwickelte, um leibliches Spüren bewußt zu kultivieren. Aber auch die Sozialgeschichte Chinas weiß von den Gefahren für die Ganzheit zu berichten, wenn sie als »Prozeß der Zivilisation« im Ringen um den Weg der Mitte einem körperund leibfeindlichen Moralismus entgegenkam. Wie bei der Philosophie sind auch die hier ausgewählten sozialen Felder durchdrungen vom polaren Denken in yin und yang, auch wenn dieser Aspekt im Folgenden nicht im Mittelpunkt steht: Mit dem yin-yang-Emblem verbinden wir im 110 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Wege zum Schönen
Westen spontan das Weibliche (yin) und das Männliche (yang). Darüber hinaus ist qi als gespürte Lebenskraft zentrale Kategorie der chinesischen Ästhetik. Aus der Makrobiotik wiederum kennen wir die Einteilung der Nahrungsmittel in yin und yang und deren Zuordnung zu den Fünf Wandlungsphasen. Sämtliche Gefühle und Emotionen gelten als Manifestationen des qi in seiner Fülle oder auch seinem Mangel: Noch heute bedeutet shēng-qì 生氣 (wörtl. qi hervorbringen) »wütend sein«.
1. Wege zum Schönen Was ist das Schöne im chinesischen Denken? Anstatt uns theoretische Erörterungen zum Thema zuzumuten, scheint es verlockender, an drei konkreten Beispielen vor Augen zu führen, worin die besondere Wirkung jener Atmosphären bestand, die man in China als schön, womöglich sogar als erhaben erlebte. Zunächst geht es um die Schönheit von Frauen und Männern. Im zweiten Abschnitt steht eine spezifische chinesische Kunstform im Mittelpunkt, die Kalligraphie. Der dritte Abschnitt befaßt sich mit der chinesischen Kunst des Wohnens, Teilgebiet der chinesischen Geomantik fēng-shuǐ 風水.
a) Augen wie Lacktupfen, Hüften wie ein Bündel Seide Welchem Typ Männer die Frauen in Europa und USA auf keinen Fall widerstehen können, will 1997 der Evolutionsbiologe Thornhill herausgefunden haben: der symmetrische Mann, bei dem Augen und Ohren und Mundwinkel auf imaginären Linien liegen und bei dem auch der restliche Körper spiegelbildlich harmoniert. Inwieweit diese und ähnliche Untersuchungen, die sich z. T. auf millimetergenaue Messungen der kleinen Finger, Armund Fußgelenke stützen und damit Schönheit und Anziehungskraft auf den sichtbaren Körper reduzieren, unserer eigenen Le111 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
benserfahrung entsprechen, können die Leser jeweils für sich entscheiden. In China galten jedenfalls etwas andere Kriterien, und zwar durchgängig, wie die folgenden Passagen aus unterschiedlichen Epochen nahelegen. Bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert meldete sich die Philosophenrunde um den Prinzen Liu An (179–122 v. Chr.) 94 zum Thema weiblicher Schönheit, wobei sie beides im Blick hatte: den sichtbaren Körper, einschließlich des schmückenden Zubehörs, ebenso wie den atmosphärischen Gesamteindruck. Da ist vom Teint die Rede, vom charmanten Lächeln, dem verschwommenen Blick und von kleinen Schritten beim Gehen; darüber hinaus wird auf Kleidung, Ohrschmuck, Jaderinge und Fächer Wert gelegt; vor allem der Vergleich mit Naturphänomenen wie Pflaumenblüten und zartem Gras rührt an die atmosphärische Gesamtwirkung. Auch die frühkaiserzeitlichen Schilderungen der Göttin vom Luo-Fluß, die als Inbegriff weiblicher Schönheit galt, machen ausgiebig Gebrauch von der spielerischen Identifizierung mit Naturphänomenen, die zu einer suggestiven atmosphärischen Situation verschmelzen: »Wer mochte das sein – eine so schöne Frau an einem so einsamen Ort? … Leicht wie ein Vogel, der fliegt, zart wie eine Regenelfe beim nächtlichen Spiel; ein Leuchten – heller noch als das Gelb der Sonnenblumen im Herbst, als das Grün der Kiefern im Frühling. Nur schemenhaft zu erkennen wie eine Federwolke, die quer liegt über dem Mond … Die Schultern – wie gemeißelt, die Hüfte – wie ein Bündel Seide …« 95
Ein späterer Text aus dem 15. Jahrhundert, dessen Verfasser den Blick vom Schopf bis zu den Füßen wohlgefällig schweifen läßt, beschert uns eine ebenso reiche blumige Metaphorik: »Wolkengleiche Frisur: … voll kühlem Salbenglanz, wie Rabenfedern, wie Zikadenflügel … Weidenblattgleiche Brauen: … gewölbt wie Frühlingshügel. Sandelholzroter Mund: … die Worte atmen leichten Jasminduft … Die Zähne: ebenmäßig weiß wie die Kerne der Melone …
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Wege zum Schönen
Milchweiße Brüste: … nach dem Bade ein Ort zarten Spiels für den Geliebten; kühl wie betaute Blumen mit purpurner Beere. Schlanke Figur: biegsam zart wie weiche Jade. Zarte Füße: … Doch wann zeigen sich die Füße, da gar zu lang der schmetterlingsbestickte Rock?« 96
Die drei Textstellen aus ganz unterschiedlichen Jahrhunderten zeichnen sich dadurch aus, daß konkrete Details des sichtbaren Körpers genannt sind: die Frisur, die Augen und die Augenbrauen, die Zähne, die Brüste, Schultern, Hüfte und Füße; und doch überwiegt der durch Naturmetaphern beschworene atmosphärische Gesamteindruck. Was an Frauen vor allem aufmerken ließ, war die gespürte Aura, die Ausstrahlung, die im Chinesischen mit dem Wort für »Wind« (fēng 風 bzw. 风) oder auch mit qi wiedergegeben wird: Noch heute stehen Wortverbindungen mit einer atmosphärischen Grundbedeutung für Anmut und Charme oder die individuelle Gestimmtheit und Wirkung einer Person: fēngzī 风姿 (Wind und Aussehen), fēngdù 风度 (Wind und Ausmaß), qìxiàng 氣象 (qi und Erscheinung). Für die Epoche der Späten Kaiserzeit bestätigt Li Yu (1611– 1670) das Gespür für das Atmosphärische. Li Yu, Verfasser von Theater- und Prosastücken, Leiter einer Theatertruppe aus den Frauen seines Haushaltes, Verleger und nicht zuletzt Gartenarchitekt, war schon zu Lebzeiten eine bekannte Persönlichkeit. Und – er äußerte sich einschlägig zum Thema weiblicher Schönheit: »Worauf beruht weibliche Schönheit? Ich meine, sie beruht einzig und allein auf Anmut. Die gewöhnlichen Menschen wissen das nicht und verwechseln Anmut mit äußerer Schönheit. Sie wissen nicht, daß äußere Schönheit, so schön sie auch sein mag, doch ein Äußerliches ist. Wie kann äußere Schönheit ausreichen, um Menschen zu bestricken? Erst wenn die Anmut sich hinzugesellt, liegt wahre Schönheit vor. Wenn jemand behauptet, ein schönes Äußeres mache die Schönheit aus und vermöchte Menschen zu bestricken, so halte ich ihm folgendes entgegen: Warum sieht man nirgendwo, daß die aus Seide gefertigten Frauenfiguren, die man heutzutage überall findet, und die auf Gemälden abgebildeten schönen Frauen niemanden für sich einnehmen und
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
bei niemandem Liebessehnsucht entfachen, so daß einer davon schwermütig und krank würde – obwohl diese doch zehnmal schöner sind als lebendige Wesen?! Dies macht deutlich, daß Anmut auf keinen Fall fehlen darf. Die Anmut eines Menschen ist wie die Flamme eines Feuers, wie der Lichtschein einer Lampe, wie das wunderbare Glänzen von Perlen, Gold und Silber.« 97
Hier zielt die Metaphorik von Licht und Glanz auf die atmosphärische Ausstrahlung. Auch in anderen Textpassagen unterscheidet Li Yu klar zwischen äußerer, körperlicher Schönheit, die er als (schöne) Farbe oder als Außending umschreibt, auf der einen Seite und jener leiblich gespürten zwischenmenschlichen Faszination auf der anderen. Zweifellos gab er letzterer als der wahren Schönheit den Vorzug. Der Blick auf die Schilderungen männlicher Schönheit bestätigt diese etwas andere chinesische Sicht: Die Faszination, die von einem Menschen ausgeht, ist eindrucksvoll gespürte Wirkkraft. Xi Kang (223–262), einer der Sieben Weisen vom Bambushain, muß eine imposante Erscheinung gewesen sein, denn er »stand gewaltig wie eine Kiefer«; Wang Gong wiederum, Schwager des Kaisers Xiaowu (373–396), schilderten die Mitmenschen als »leuchtend wie eine Weide unter dem Frühlingsmond«. Von zwei unzertrennlichen Schwurbrüdern heißt es, sie traten auf wie »innig verbundene Jadescheibchen«. Daß die Ausstrahlung eines Menschen als unbestimmt ergossene Atmosphäre anrühren und das eigene Lebensgefühl steigern kann, zeigt das folgende Zitat: »Als ich klein war, hatte ich einmal im Palasthof Gelegenheit, den Kanzler Wang Dao zu Gesicht zu bekommen. Es war mir, als ob eine erfrischende Brise mich gestreichelt hätte.« 98 Wie die atmosphärische Ausstrahlung eines Menschen ein Gegenüber geradezu in Bann schlagen kann, so daß die eigene Selbstmächtigkeit ein Stück weit abhandenkommt, ist mit dem Bild von der Magnetwirkung umschrieben. Wir sprechen in solchen Fällen vom Charisma:
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Wege zum Schönen
»Wang Na war wohlgestaltet und schön von Angesicht. Zugleich verfügte er in der Gegend seiner vollkommenen Brust über eine Magnetkraft. Sollte er sich diese bewahren und zunutze machen, so wird ihm alles Mögliche gelingen.« 99
Wenn beim männlichen Geschlecht Einzelheiten des Körpers genannt sind, dann Gesicht und Gestalt oder die Augenbrauen, die als schön gelten, wenn sie scharf geschnitten sind »wie die Ecken eines Amethysts«; und der Blick eines Mannes entfaltete Wirkkraft, wenn die Augen glänzten wie »schwarze Lacktupfen« – ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel zwischen dem sichtbaren Körper und dem gespürten Leib. Die hier zitierten Passagen sind einer Sammlung von biographischen Notizen entnommen, die im 5. Jahrhundert entstand. Sie bestätigen, daß in der Frühen Kaiserzeit männliche Schönheit hoch rangierte, erst recht gepaart mit Begabung und Originalität. Doch auch in China änderten sich die Zeiten: In der Späten Kaiserzeit muß ein Mann überhaupt nicht mehr schön sein. Im Gegenteil, im Selbstverständnis der Elite herrschte die Befürchtung, männliche Schönheit könnte Charakter und Moral untergraben. Für eine vorbildliche eheliche Verbindung, wie sie für die Kurzgeschichten der Epoche charakteristisch ist, reicht es aus, wenn der Mann durch eine Begabung glänzt, die Amt und Würden verspricht. Insgesamt wird in den chinesischen Quellen durchgängig weniger Aufhebens von männlicher als von weiblicher Schönheit gemacht; aber auch letzterer begegnete man – aus Angst vor den Gefahren für Zucht und Moral – zunehmend mit Argwohn. Da weibliche und männliche Schönheit ganz entscheidend mit der atmosphärischen Ausstrahlung verknüpft sind, ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß den chinesischen Malern und Bildhauern wenig an der Darstellung des nackten Körpers lag. Nacktheit war im chinesischen Verständnis ein Kennzeichen für Wildheit oder Armut und galt schon von daher als »häßlich«. Hinzu kommt, daß die standesgemäße Kleidung ganz wesentlich zur Identität einer Person beitrug. Kleidung und Ähn115 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
liches, das wir hier und heute als beliebig austauschbares Zubehör (Akzidens) deuten – wie den Ohrschmuck, die Jaderinge und den Fächer im oben erwähnten Kriterienkatalog der frühkaiserzeitlichen Philosophenrunde –, sind in vormoderner chinesischer Sicht Teil der leiblich gespürten Ausstrahlung. Anders in der europäischen Kunst, wo seit der Renaissance die Skizze mit dem Körperbau (Substanz) beginnt und die Kleidung als Zubehör (Akzidens) aufgetragen wird.
b) Qìgōng 氣功 mit dem Pinsel Im Selbstverständnis chinesischer Kalligraphen der Vergangenheit wie der Gegenwart setzt die Kunst der Pinselschrift (shū-fǎ 書法) Konzentration, Bewußtheit, das Finden von Mitte und Stille, den Fluß des qi und Rhythmus voraus. Damit ist sie bereits als Körper- und Leibesübung ausgewiesen: als Qigong, d. h. als wirkungsvolle Arbeit am qi – mit Pinsel, Tusche, Wasser und Papier. Die folgenden Überlegungen dienen dazu, dies für Angehörige unserer Kultur nachvollziehbar zu machen, zumal wir dem Kunstschaffenden eine geistig-seelische Einbildungskraft unterstellen, die wir Intuition nennen oder Kreativität. Aber Körperlichkeit, Leiblichkeit?! Dem Kunstbetrachter wird ohnehin kritische Distanz empfohlen: Sein Blick soll seit Kants Kritik der Urteilskraft reduziert sein auf abstandnehmende Wahrnehmung, weil die Hingabe an die Wirkung von Bildern als »bloß« subjektiv und emotional nicht ernst zu nehmen sei. Die chinesische Sichtweise, die nicht nur der Pinselkunst zugrunde liegt, sondern auch der Malerei, Musik und Dichtung, unterstellt ganz anderes: erstens, daß ein Kunstschaffender in erster Linie ein Meister sei im Schaffen von Atmosphären, und zweitens, daß ein Kunst-betrachter gewillt sein soll, in die Atmosphäre des Kunstwerks einzutauchen, sich ihr anzuvertrauen, ja auszuliefern, um zum Nacherleben bereit zu sein. 100 116 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Wege zum Schönen
Im Folgenden wollen wir uns auf vier verschiedenen Wegen der Körper- und Leibverbundenheit der chinesischen Kalligraphie nähern, denn auch in diesem Feld traditioneller chinesischer Kunst und Kultur sind Körper und Leib präsent – bei allem Vorrang des gespürten Leibes. Zunächst sind Körper- und Leibbegriffe vorzustellen, die in der Theorie der Pinselschrift eine Rolle spielen. Im Anschluß daran geht es um den Einsatz von Körper und Leib beim Schreiben sowie um die Rückwirkung auf Körper und Leib des Kalligraphen. Zuletzt verfolgen wir die Gestaltverläufe der Tuschezeichen als möglicher zündender Funke zwischen der leiblichen Gestimmtheit des Schreibers und der des Betrachtenden. Körper- und Leibbegriffe. Der sichtbare Körper beweist seine Präsenz bereits in der Beschreibung des Pinsels, dessen Haarteil sich aus einem Herz, einem Bauch und einem Rücken zusammensetzt. Zu dieser Metaphorik paßt es, wenn sich die Tuscheflüssigkeit als das Blut in den Hohlräumen von Herz, Bauch und Rücken verteilt, ehe sie zu Papier gebracht wird. Auch die Schriftzeichen werden in Begriffen des Körpers erfaßt, wenn Anfang und Ende eines Pinselstrichs als Sehnen bzw. Muskeln und die Pinselstriche selbst als Knochen gelten mit mehr oder weniger Fleisch. Mit der Rede von den Adern erscheinen die Pinselstriche als die sichtbaren Bahnen, in denen das Blut fließt. Von der Menge der Tuscheflüssigkeit hängt es unter anderem ab, ob das Blut feucht ist, die Knochen fest sind oder ob die Schrift zu viel Fleisch hat. Wie das Ergebnis jeweils zu bewerten ist, bereitet dem Kalligraphen Xu Hao (703–782) keine Schwierigkeit, als er die vier großen Schriftmeister der frühen Tangzeit (618–906) in folgende Rangordnung brachte. Dabei schwebte ihm die Schrift des Altmeisters Wang Xizhi (geb. 307) als Maß aller kalligraphischen Künste vor: »Die Leute sagen, Yü habe Sehnen; Ch’u Fleisch, Ou Knochen … Es stimmt doch, dass Adler ein schmuckloses Federkleid tragen, aber ihre Schwingen tragen sie hoch zum Himmel hinauf …, denn ihre Knochen sind stark, und ihre Lebenskraft ist wild. Fasane hingegen sind farben-
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
prächtig, aber flattern nur hundert Schritt weit, weil ihr Fleisch fett ist und der Mangel an Kraft sie niedersinken läßt. Nur wessen Handschrift ebenso schmuckvoll wie hochfliegend ist, wird wie Wang Xizhi ein Phönix der Kalligraphie. Ou und Yü sind höchstens Adler, Ch’u und Hsieh nur Fasane.« 101
In diesem Zitat wird neben den Körperbegriffen »Knochen« und »Fleisch« auch der chinesische Leibbegriff par excellence genannt: die Lebenskraft, das qi. In kalligraphischen Texten zielen qi und andere Wendungen auf die von den Schriftzeichen aufsteigenden Atmosphären – ganz offensichtlich, wenn von »Kraft«, »Spannung«, »Haltung«, »Gelassenheit«, »Anmut«, »anmutiger Schönheit«, »schöner Faszination«, »subtiler Lebendigkeit«, von einem »fließenden« oder »heroisch bewegten Rhythmus« die Rede ist. Erst recht, wenn die Wirkung einer Kalligraphie in Schnellschrift (s. u.) als »Atmosphäre wie Wirbelwind« umschrieben wird. Ausdrücke wie »knochiges qi« oder »knochige Ausdruckskraft« bzw. »Knochenkraft« beziehen sich auf Pinselstriche, die sich durch wenig »Fleisch« auszeichnen, d. h. auf Pinselstriche, bei denen eine Maserung, eben die Kraft versprechende Knochenstruktur, erkennbar ist. Ob sich eine solche Kennzeichnung nun auf den Charakter der Schrift bezieht oder auf das leibliche Befinden des Kalligraphen selbst, ist dabei gleichgültig, denn das eine hängt mit dem anderen zusammen. Damit sind wir bei der Frage nach dem Einsatz von Körper und Leib beim Schreiben. Schon die aufrechte Körperhaltung erinnert augenfällig daran, daß körperliche Bewußtheit Voraussetzung für den künstlerischen Vorgang ist: die Wirbelsäule aufgerichtet, die Brust zum freien Durchatmen geöffnet, der ausführende Arm frei in der Luft schwebend, so daß sich »unter den Ellbogen Wind erhebt« … Ein solcherart koordiniertes Sitzen sorgt dafür, daß Pinselachse, Schriftzeichenachse und die verschiedenen Körperachsen aufeinander bezogen sind: Der Pinsel in der Senkrechten steht parallel zur Wirbelsäule, der Arm in der Horizontalen parallel zu den Schriftzeichenkolonnen. Wenn der gesamte Körper – 118 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Wege zum Schönen
über den frei beweglichen Arm und das Handgelenk – seine Bewegungen der Pinselspitze mitteilt, so gelingt es, die komplexe dreidimensionale Bewegung umzusetzen in zweidimensionale Zeichengestalten. Diese wirken dank der Farbabstufungen zwischen dem reinen Schwarz und dem reinen Weiß jedoch ausgesprochen räumlich: Was wir auf dem Papier vorfinden, sind also nicht schwarze Striche oder weiße Flächen, sondern Gestalten in einem Raum, in dem auch der Kalligraph sich bewegt. Daß im vormodernen chinesischen Denken Körper und Leib gar nicht auseinanderzudividieren sind, legt die soeben beschriebene Körperhaltung nahe, denn aufrechtes und koordiniertes Sitzen ist Voraussetzung für den freien Fluß des Atems, der Lebens- und Schöpferkraft qi. Demnach ist der kalligraphische Schaffensvorgang letztlich ein Spiel mit kosmischer Energie, die im Menschen zum Fließen und Spüren gebracht wird. Da qi über die Lebenskraft hinaus für Gefühle und Stimmungen und sämtliche Bewußtseinsregungen – vom Willen über die Moral bis hin zur Selbst- und Welterkenntnis – verantwortlich ist, verbindet sich das kosmische qi mit der Gestimmtheit des Künstlers und strömt über dessen Körperleib, Arm und Handgelenk in den Pinsel und auf das Papier. Darauf spielt Sun Guoting (um 648 bis um 700) an, wenn er im Traktat über die Schriftkunst vermerkt: »So kann der Schreiber mit Hilfe der Schriftkunst seinem Charakter Ausdruck verleihen und seinem jeweiligen Gemütszustand Gestalt geben.« 102 In Übereinstimmung mit dem Weg der Mitte, dem Lebensideal der chinesischen Gelehrtenkultur, kommt es dabei auf die Ausgewogenheit zwischen Konzentration und Gelöstheit an: Die Konzentration soll nicht Anspannung, und die Gelöstheit soll nicht Nachlässigkeit sein; das Pendeln um die Mitte zwischen beiden ist im Vergleich mit einem edlen Pferd sehr anschaulich ausgedrückt: »Sein Gang ist ungezwungen, so dass es weder der Peitsche noch des Zügels bedarf.« 103 Zur gespürten Lebenskraft gehört unvermeidlich das Gegensatzpaar Leere (yang) und Fülle (yin). Ob qi im schreibenden 119 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Arm üppig oder schwach präsent ist, entscheidet jeweils über den kräftigen bzw. zurückgehaltenen Pinselansatz. Der Pinsel ist somit – wie der Geigenbogen beim Musizieren – kein mechanisch manipuliertes Werkzeug, sondern eine leibliche Fortsetzung des Kalligraphen. Das Phänomen der Einleibung des Pinsels scheint dem Kalligraphen Huang Tingjian (1045–1105) schlagartig bewußt geworden zu sein, als er einmal Bootsleute beim Rudern betrachtete. Ein ähnliches Erlebnis wird dem Kalligraphen Zhang Xu (um 700–750) nachgesagt: Nachdem er mehrfach die Dame Gong Sun beim Schwerttanz beobachtet hatte, soll seine Schriftkunst deutlich besser geworden sein, ist doch die gekonnte Handhabung des qi mit Schwert, Ruder oder Pinsel alles eins. Wenn Pinselstriche also nicht bloße Pinselstriche sind, sondern Bewegungen und Regungen von Körper und Leib, dann ist das kalligraphische Kunstwerk ein vom Körper getragenes und vom Leib inspiriertes Gebaren: »ein in feste Form geronnener Tanz« 104. Und so wie der Tanz Hingabe an das Leben ist und damit lebenssteigernd, so nährt die Kalligraphie die Lebenskraft und heilt alle Krankheiten – davon waren und sind jedenfalls die chinesischen Schriftkünstler überzeugt: »Wer sich künstlerisch vervollkommnet, der sorgt für Langlebigkeit und Lebensfreude.« 105 »Mit dem Pinsel zu schreiben, bedeutet, etwas loszuwerden, sich zu befreien; es ermöglicht uns, Launen, die sich angesammelt haben, hinauszuwerfen, und das zu zerstreuen, was uns im Bewußtsein lastet. Aus diesem Grunde werden Kalligraphen nicht von Krankheiten heimgesucht, und sie leben lang.« 106
Zum Schluß der Blick auf die Gestaltverläufe der Kalligraphie: Wie kommt es, daß Menschen, die des Chinesischen nicht mächtig sind, dieser fremden Kunstform etwas abgewinnen können? Was spricht sie da an? Die Bedeutung der einzelnen Zeichen kann es nicht sein. Ist es deren Wohlgestalt, die aufmerken läßt, oder darüber hinaus eine spezifische Anmutung, welche die Be120 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Wege zum Schönen
findlichkeit des Betrachtenden modifiziert? Lassen wir zunächst einmal, zur Einschätzung der verschiedenen Stilarten die chinesische Seite zu Wort kommen:
Abb. 3 Kalligraphische Varianten von qì 氣 bzw. 气 (links: Grasschrift; Mitte: die alten Piktogramme, Mitte oben: große Siegelschrift, Mitte unten: kleine Siegelschrift; rechts oben: Normalschrift, rechts Mitte: Kanzleischrift, rechts unten: Kursivschrift)
Man hat die Grasschrift, die als ausgesprochen künstlerisches Ausdrucksmittel gilt und die selbst für nicht »eingeweihte« Chinesen schwer zu entziffern ist, mit einem »davoneilenden Boten« verglichen, die Kursivschrift, in der Briefe gehalten sind, mit einem Spaziergänger und die Normalschrift, eine Art Druckschrift, mit einem Menschen im ruhigen Stand. Die große Siegelschrift, die heute noch gern auf Stempel und Siegel Verwendung findet, wirkt – so möchten wir hinzufügen – wie ein Mensch, feierlich vertieft in ein Ritual oder Zeremoniell. Auf Anhieb leuchtet ein, daß der Kursivstil in seiner Bewegtheit, erst recht der unruhige Grasstil sich vor allen anderen Stilarten anbietet, wenn ein Gedicht über die Flüchtigkeit mensch121 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
lichen Lebens, die Unwägbarkeit des Schicksals zu schreiben ist oder wenn Lebensfreude wie ein Funke überspringt: »Wenn man innerlich still geworden ist und einige Dutzend oder Hundert Zeichen in Normalschrift geschrieben hat, spürt man den inneren Frieden und fühlt sich als Meister seiner selbst. Wer die Kursivschrift praktiziert und sich dabei ganz der Bewegung überläßt bis zur Selbstvergessenheit und Trunkenheit, der spürt, wie die eigene Energie überschäumt.« 107
Der überlieferte Vergleich der Schriftstile mit einem stehenden, gehenden oder davoneilenden Menschen bringt das Gegensatzpaar Ruhe und Bewegung in Erinnerung – im chinesischen Denken ebenso wichtig ist wie das Begriffspaar Leere und Fülle und ebenso Konkretisierung von yin und yang. Um Bewegtheit zu umschreiben, hält die chinesische Schrifttheorie eine Reihe von Metaphern bereit, die sich durch ständigen Gebrauch zu echten topoi entwickelt haben. Da ist von Zeichen die Rede, wie »aufgestörter Sand, der jählings dahinfliegt«; wie »verwaister oder tanzender Brombeerflaum«; wie »Steine, die splittern«, und »Quellwasser, das fliegt«. 108 In solchen Metaphern schwingt die Schwerelosigkeit der Zeichen, die leibliche Weitung unterstellen und für Kursiv- und Grasschrift charakteristisch sind. In anderen Metaphern dominieren leibliche Richtungen bzw. Richtungsänderungen, wenn sich die Zeichen z. B. verhalten wie »Vögel, die vom Hain auffliegen«, »wie Schlangen, die aufgeschreckt ins Gras flüchten«, »wie ein Felsblock, der von hoher Klippe stürzt«. 109 Auch der Rhythmus kennzeichnet einen bewegten Stil – schon vorgegeben durch das Ein- und Ausatmen und analog das Auf und Ab des Pinsels: so in der Aufforderung, die Zeichen anzuordnen wie eine »Schlachtreihe von Wolken« oder »als ob eine Hundert-Pfünder-Armbrust losgeht«. Hier ist der Rhythmus gepaart mit Wucht und Intensität. Wenn es stimmt, daß den kalligraphischen Zeichen leibliche Weitung, Richtung, Rhythmus und Intensität eigen sind, dann 122 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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kommt es nicht von ungefähr, wenn die Gestaltverläufe den Betrachtern unter die Haut gehen und sie auffordern zum Mitvollzug im eigenen leiblichen Spüren. So gesehen, entpuppt sich die chinesische Kalligraphie nicht nur als Körper- und Leibesübung, sondern als kommunikatives atmosphärisches Geschehen.
c) Wind und Wasser und die Kunst des Wohnens »Wind und Wasser« lautet die Übersetzung für fēng-shuǐ 風水, das als »chinesische Geomantik« inzwischen auch hierzulande nüchterne Architekten und Ingenieure zu interessieren vermag – obwohl das ausgesprochen vielfältige Angebot auf EsoterikRegalen in Buchläden zuweilen den Eindruck erweckt, als handele es sich um okkulte Praktiken und magische Rituale. Wenn dort fragwürdige Zusammenhänge präsentiert werden, die durch den Verweis auf die »ach, so alte chinesische Tradition« an Glaubwürdigkeit gewinnen sollen, muß uns das hier nicht weiter stören. Der Ausdruck »Wind und Wasser« steht für den Charakter einer Landschaft, der als eine spezifische räumlich ergossene Atmosphäre wahrnehmbar ist: Dies macht schon die Präsenz des Windes deutlich, der im chinesischen Denken – neben dem qi – als Atmosphäre ausgezeichnet ist. In nämliche Richtung weisen die chinesischen Wörter für Landschaft, so die Zusammensetzungen fēng-jǐng 风景 (Wind und Lichtverhältnisse) oder fēng-mào 风貌 (Wind und Aussehen). Auch wir pflegen Landschaften Gefühlsatmosphären zuzuschreiben, die wir am eigenen Leibe spüren. So unterscheiden wir z. B. eine heitere von einer romantischen, eine sanft-melancholische von einer düsteren Landschaft. Wir tun das, auch wenn Befürworter einer radikal konstruktivistischen Sicht der Dinge uns diese Erfahrung absprechen und allein die ordnende Funktion der Blicke gelten lassen und damit die Welt reduzieren auf »Welten im Kopf«. Ganz anders die chinesische Lehre vom Wind-und-Wasser, die 123 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
in der sinnlich-leiblichen Erfahrung mit Umwelt gründet. So enthält sie auch konkrete Anweisungen, wie die affektive Aufladung einer Landschaft für das Befinden zu nutzen und wie der Alltag, einschließlich der Kultur des Wohnens, atmosphärisch zu gestalten sei. Der Umgang mit Atmosphären, mit dem »Atem von Himmel und Erde« in konkreten Situationen setzt beziehungsreiche Fachkenntnisse voraus. So war es Sache des feng-shui-Meisters, die Einflüsse von Himmel- und Erd-qi, von Sonne (yang), Mond (yin) und Sternen beim Bau von Häusern, Mauern, Brücken, Gräbern oder einer ganzen Siedlung in Rechnung zu stellen, um ungünstige Wirkungen von vornherein auszuschließen. Seine Rolle war so tragend, daß man die feng-shui-Literatur konsultieren muß, wenn man etwas über Architektur und Praxis des Bauens im vormodernen China erfahren will. Nach wie vor sind der rechte Standort in der Landschaft, der angemessene Grundriß des Hauses sowie deren Abstimmung auf die günstigen Himmelsrichtungen über ein kompliziertes Ritual mit dem Spezialkompaß zu berechnen; dabei wurde und wird notfalls auch kräftig manipuliert. Daraus jedoch zu schließen, das Haus hätte genauso gut ohne das »Wind und Wasser«-Ritual gebaut werden können, scheint mir ebenso abwegig zu sein wie die Behauptung, daß es beim Bau eines Hauses vor allem darauf ankam, sich ein Dach über dem Kopf zu beschaffen. Gewiß, das Dach über dem Kopf ist existentiell, um »Sonnen- und Mondschein abzuschirmen und Wind und Regen fernzuhalten« 110 schon erkennbar in den chinesischen Zeichen für Haus und Anwesen, in welchen das Dach 宀 als Sinnelement figuriert. So ist es auch kein Wunder, wenn das Dach als das wichtigste und teuerste Bauelement galt, das ein Bauherr, der es sich leisten konnte, mit farbigen Schnitzereien und Ziegeln aus gelber oder jadegrüner Glasur aufs Schönste verzieren ließ. An jeder beliebigen traditionell-chinesischen Malerei können wir uns davon überzeugen, daß die in schwungvoller Rundung nach oben gebogenen Giebel, die sich seit der 124 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Wege zum Schönen
Songzeit (960–1278) durchsetzen, mit den Gestaltverläufen von Bäumen, Bächen und Hügeln der umgebenden Natur vollendet harmonieren. So zeigt sich schon in dieser Art Ästhetisierung die Bedeutung der Sinnlichkeit. In China wie in jeder anderen Kultur, einschließlich der unseren, ist Wohnen nämlich zugleich auch eine Kultur der Atmosphären. Wenn im Daodejing in Vers 11 weder Dach noch Wände als der eigentliche Nutzen des Hauses genannt sind, sondern der leere Raum dazwischen, so mag dies – über die numinose Bedeutung der Leere hinaus – auch ganz vordergründig dazu auffordern, den leeren Raum zu füllen mit der lebendigen Atmosphäre seiner Bewohner: »Dreißig Speichen zusammen und eine Nabe. Wo nichts ist, liegt der Nutzen des Wagens; aus Ton formt der Töpfer ein Gefäß. Wo nichts ist, liegt sein Nutzen. Man bohrt Türen und Fenster und schafft damit Raum. Wo nichts ist, liegt der Nutzen des Raumes …« 111
Schauen wir uns das traditionelle »Schöner Wohnen« à la chinoise einmal genauer an, so fällt schon in den Anfängen die U-Form auf, sei sie nun rund oder rechteckig: Zu Beginn chinesischer Baukultur steht nämlich die Höhle, auf die bienenkorboder backofenartige Hütten folgen. Noch in der Tangzeit (618– 906) erscheinen letztere auf Gemälden als Behausung der ärmeren Bevölkerung, während die Oberschicht das nach Süden hin offene Rechteckhaus auf festgestampfter Erde bevorzugt. Wo mehrere Häuser gruppiert sind, etwa im Wohnkomplex einer erweiterten Familie oder in den Park- und Gartenanlagen reicher Zeitgenossen, dominiert ebenfalls die U-Form. Sogar die H-Form, die allein sechzehnmal auf dem berühmten Gemälde des Wang Ximeng (um 1113) »Tausend Meilen Ströme und Berge« zu finden ist, läßt sich offensichtlich auf zwei U-förmige Gebilde reduzieren.
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Das U, das in umgekehrter Form dem alten Schriftzeichen für Dach 宀 entspricht, beherrscht nun bezeichnenderweise auch die modernen feng-shui-Handbücher, die darüber aufklären, wo Schlaf- und Arbeitsplatz, wo die gemütliche Ecke einzurichten ist oder wo man sich am besten niederläßt, wenn man einen fremden Raum betritt. Ausschlaggebend für das Wohlbefinden sind neben dem ungehinderten Fluß des qi die spezifischen Einflüsse der vier Himmelsrichtungen, die ja nichts anderes sind als spezifische qi-Manifestationen, wobei Osten und Süden dem yang, Westen und Norden dem yin zugeordnet sind. Demnach sitzen, stehen, liegen wir am günstigsten im U, das mit Hilfe der wirkkräftigen Tiere ausgestaltet ist: Hinter uns beschützt die dem Norden zugeordnete Schildkröte, auch der »dunkle Krieger« genannt und Symbol für unwandelbare Festigkeit und Langlebigkeit; als ihr Panzer fungiert im Raum z. B. eine Wand, die wir schützend im Rücken spüren. Nach vorne in südlicher Richtung soll der Blick in die Weite schweifen, damit der rote Phönix, von dem die Tradition annimmt, er sei ein Windtier, ohne Hindernisse auf- und davonfliegen kann – unbegrenzt wie das Ausatmen selbst. Zur Rechten bewacht uns die gesammelte Kraft des weißen Tigers 112, der den Westen repräsentiert; auch hier ist eine relativ stabile Vorrichtung angemessen: ein Schrank oder ein Tisch. Zur Linken soll der blaugrüne Drache, Hüter des Ostens und regenerierender Kraft, einerseits abschirmen, andererseits doch auch Spielraum lassen für vielfältige positive Einflüsse; hier könnte, den Handbüchern zufolge, eine größere Pflanze stehen … Halten wir Ausschau nach dem U in unserer eigenen Wohnkultur, so ist der Sessel mit Armlehne nach wie vor Inbegriff von Gemütlichkeit – allen postmodernen Designer-Möbeln zum Trotz: »Der bequeme, ruhige Sitz im Sessel … ist in diesem Zusammenhang besonders günstig, weil er schon von sich aus eine nahezu vollständige Umfriedung mit sich bringt: Rückenlehne, Sitzfläche und Armstützen umhegen den Rumpf nach allen Seiten außer nach vorn.« 113
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Ein Sessel ist also ausgesprochen feng-shui-gerecht, und es leuchtet unmittelbar ein, daß dieses Möbelstück als Urform des Wohnens gelten kann, wenn Wohnung nichts anderes ist als »Umfriedung in einem Gefühlsraum«. Schließen wir nun, im Sessel sitzend, die Augen, so wird statt der äußeren eine innere Weite freigesetzt: »Der Leser sitze entspannt … auf einem Sessel, er lege das Buch zur Seite und schließe die Augen. Die Umwelt, in der er mit den Körpern zusammenlebte, ist ihm mit einem Schlag entschwunden; ein andersartiger Bereich tritt ruckartig an ihre Stelle, fast so etwas wie eine neue Welt … Es melden sich Erinnerungen, Anmutungen, Versuchungen, Mahnungen, zarte Atmosphären, leibliche Regungen als eine zunächst höchst vage gegliederte unübersehbare Fülle, wie ein Konzert, das sonst in der Botmäßigkeit des extravertierten optischen Kontakts kaum zur Geltung kommt. Das spürbare leibliche Befinden steht dabei im Vordergrund, aber mehr ganzheitlich als in Gestalt der Fragmente, Schmerz, Kitzel … Es macht mich, wenn ich so die Augen geschlossen habe, mehr als sonst auf mich aufmerksam und zeigt mir, wie es gerade um mich steht … Zugleich wird es nachhaltiger durchlässig oder durchsichtig für die Gefühle und erregenden Mächte, die mit ihm vermischt an mich herantreten und durch es hindurch weit eindringlicher und radikaler, als es das bloße leibliche Befinden vermöchte, mich angehen und ergreifen.« 114
Das Sitzen mit geschlossenen Augen liefert uns nicht hilflos den »Wellen des Inneren« aus. Vielmehr eröffnen sich Chancen der Sammlung. Genau das zeichnet das Sitzen aus und unterscheidet es vom Stehen, das immer zugleich Aufbruch und Aktivität ankündigt, aber auch vom passiven Liegen, wo Glieder und Gedanken unmittelbar auseinanderlaufen, wenn die Weite überhandnimmt und der Schlaf uns übermannt. Steht der Sessel also für das Ganze, die Wohnung, dann könnten wir die Kultur des Wohnens auch als Kunst der U-Befindlichkeit bezeichnen. Mit anderen Worten, es handelt sich um die Fähigkeit, sich gegen das abgründige und uferlose Draußen zu schützen und im geschützten Raum Atmosphären der 127 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Behaustheit und Vertrautheit zu hegen und zu pflegen: »Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«. 115 Die zahlreichen chinesischen Gedichte über Heimat und Fremde würdigen den umfriedeten Raum und die daran geknüpften Gefühle von Geborgenheit: »Aus meinem Heimatdorf kamst du gegangen, mußt wissen, was daheim im Dorf geschieht: War an dem Tage, da du gingst, vor meinem Fenster der alte Pflaumenbaum schon aufgeblüht?« »… Die Männer türmen feste Wälle, auf hundert Längen geht’s hinaus. Ob sie sich müh’n, ob sie sich plagen: Am Ende winkt ein friedlich’ Haus.« 116
Einblicke in die Kunst des traditionellen chinesischen Wohnens gewähren auch Grabbeigaben in Form von Terrakotta-Hausmodellen sowie Fresken, vor allem die zahlreichen Bilder der chinesischen Malerei. Schon das vergängliche Baumaterial – Holz, Bambus, Stroh, Lehmziegel und Keramik – verhinderte den Erhalt alter Bausubstanz. Kriege und Rebellionen zerstörten sie. Hinzu kamen Brandkatastrophen, die im Handumdrehen ganze Dörfer und Stadtviertel in Schutt und Asche legten. Prägende Aspekte chinesischer Baukunst haben sich über Japan erhalten, so die verschiebbaren Türen und Fenster mit der charakteristischen Holzverstrebung und der Verkleidung aus Ölpapier, das Blumenarrangement und die Teezeremonie, die sparsam an den Wänden angebrachten Kalligraphien und Landschaftsbilder, die jahreszeitlich auszutauschen sind, und nicht zuletzt die Erweiterung des Hauses durch den ebenfalls nach feng-shui-Regeln angelegten Garten. Spätestens seit der Tangzeit (618 bis 960) sind in China Wohnund Gartenkunst untrennbar miteinander verbunden. Ein Sechstel des Grundstücks sollte der Garten ausmachen, während ein Drittel den Bambuspflanzungen und die Hälfte den Teichen und 128 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
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Seen vorbehalten war. So manches Familienoberhaupt legte ein Vermögen dafür hin, unter Aufbietung aller Raffinessen den Innen- und Außenräumen eine intensive und nuancenreiche Atmosphäre umgrenzter Behaglichkeit abzugewinnen. Wenn Atmosphären als Nahrung für die Lebenskraft ebenso wichtig waren wie das Essen selbst, so sollten wir uns hüten, Li Yu (1611–1680), den schon erwähnten Schriftsteller, Theaterdirektor und Gartenarchitekten (III.1.a), vorschnell zu verurteilen, wenn er seiner Familie erklärt, es sei eine Zumutung für ihn, auch nur eine Saison auf Narzissen zu verzichten. Daß er seinen Frauen und Kindern offenbar zumutete, diese Vorliebe zu teilen, steht auf einem anderen Blatt: »Von Natur aus mag ich Blumen und Bambus; wenn ich aber keine Mittel hatte, sie zu erwerben, ließ ich notwendig Frau und Kinder mehrere Tage Hunger leiden oder einen Winter Kälte ertragen, sparte am Unterhalt von Mund und Körper, um Ohr und Auge zu erfreuen.« 117
Auch Wang Shimou (um 1587), der etwas vor Li Yu lebte, bekennt im Vorwort zu seiner Schrift über Garten- und Landschaftsgestaltung, daß er zu seinem täglichen Glück nichts weiter brauche als in der Vase einen blühenden Zweig. Wer sich von der Atmosphäre dieser chinesischen Wohnkultur anwehen lassen und sich nicht mit Gemälden begnügen will, der sollte nach Suzhou reisen und die historischen Gärten aufsuchen: Keine Inneneinrichtung in einem vornehmen Haus ohne die kunstvollen Holzschnitzereien, die farbenprächtigen Truhen, die raffinierten Muster auf Fußböden und Matten, zierliche Wandtischchen und Regale, auf denen Antiquitäten oder anderes geschmackvoll arrangiert sind – wie Öllämpchen, Räucherwerk, Teegerät 118 und Fächer, wo Musikinstrumente bereitliegen – wie Flöte, Zither und Pipa – oder auch die Vier Kostbarkeiten der Schreibstube: Pinsel, Tusche, Reibstein und Papier. Kein Garten ohne Aussichtspunkte und Verweilstätten auf Felsen, in Grotten, zwischen gewundenen Gewässern; kein Ufer ohne Sandbank, ohne Ranken, Stauden und Gräser; kein Pavil129 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
lon, von dem aus man nicht den Mond betrachten, den Duft der Blumen atmen und dem Zwitschern der Vögel lauschen kann. Wenn Li Yu als Innen- und Gartenarchitekt die »Nahrung für Auge und Ohr« beschwor, meinte er nicht Luxus und Verschwendung, auch nicht Gefälligkeit und schnörkelreiche Brillanz, sondern bei aller Verfeinerung Bescheidenheit und Schlichtheit. Auch beschränkte er sich nicht auf die Sinnesöffnungen Auge und Ohr; ihm war es schon, wie bei der menschlichen Schönheit (s. III.1.a), um die volle Sinnlichkeit zu tun, einschließlich des Empfindens von Atmosphären. Sonst wäre nicht allenthalben die Rede von der Lebenskraft qi und anderen Atmosphären: von den Licht- und Temperaturverhältnissen, vom Glanz der Sauberkeit und vielfältigen Arrangements. Schon im Titel seines Hauptwerkes Xianqing ouji klingt an, daß es ihm bei der Planung von Wohnung und Garten um das Schaffen von Gefühlsatmosphären ging, bedeutet xián 閑 119 doch Muße und qíng 情 die gefühlsmäßig aufgeladene Situation. Auch das Vorwort seines jüngeren Bruders, nimmt darauf Bezug, wobei dieser sich auf die »Riten der Zhou« beruft, einen der konfuzianischen Klassiker aus vorchristlicher Zeit: »Die ›Riten der Zhou‹ sind ureigener Ausdruck des königlichen Weges und mit allem Möglichen befaßt: vom Brunnenfeldsystem über die Armee und den Staat im Großen bis hin zu den Feinheiten von Wein, Saucen, Türflügeln und Schuhen. Nichts, was nicht minutiös und sorgfältig darin enthalten ist und die ihm angemessene Stellung einnimmt. Daher heißt es: ›Der königliche Weg wurzelt in den menschlichen Gefühlen-und-Situationen (qíng 情)‹ … Von alters bis heute haben verdienstvolle Leistungen und wahre Schriften nie die menschlichen Gefühle-und-Situationen (qing) außer Acht gelassen.« 120
Daß die Kultur des Wohnens in unserer Tradition selten von Philosophen als ernstzunehmendes Thema aufgegriffen wurde, 121 ist verwunderlich, handelt es sich dabei doch um eine Weise des Daseins in der Gegenwart. Wenn chinesische Gelehrte in diesem Aspekt des alltäglichen Lebens den Primat der Gegenwart zu schätzen wußten, so war das letztlich dem Vorrang des 130 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Trinken, Essen, Mann und Frau
Leibes zu verdanken, denn Verweilen im leiblichen Spüren ist der unverwechselbare volle Augenblick. So zeigt sich beim Abschreiten dieser drei Wege des Schönen jedes Mal der Vorrang des gespürten Leibes – bei allem Respekt, der auch den sichtbaren, festen Körpern gezollt wurde. Der Umgang mit dem Schönen im chinesischen Kontext ist demnach nicht mit mehr oder weniger kritischen Geschmacksurteilen gleichzusetzen, die bei uns häufig ins Feld geführt werden, sobald das Schöne zu definieren ist. Wenn in allen Fällen – sei es beim Anblick eines schönen Menschen, beim Betrachten eines kalligraphischen Kunstwerks, einer ansprechenden Inneneinrichtung – eine Steigerung des Lebensgefühls empfunden wird, so demonstriert das die Wirkung intensiver Atmosphären als ergreifende Gefühlsmächte.
2. Trinken, Essen, Mann und Frau »Trinken, Essen, Mann, Frau – das sind die großen Begehrlichkeiten (yù 欲) des Menschen«. 122 So differenziert das hanzeitliche Buch der Riten menschliches Begehren, nicht ohne an dieser und anderen Stellen eindringlich zur Mäßigung zu raten. Das chinesische Wort, das im allgemeinen mit Begehrlichkeit, Begehren, Begierde oder Trieb übersetzt wird, bezeichnet in seinen frühesten Kontexten unbändigen Wunsch oder heftiges Verlangen. Ist es näher bestimmt, so bezieht es sich insbesondere auf Eß- und Trinklust, Habgier und sexuelles Begehren. Damit kommt es dem griechischen Wort eros nahe, einer erregenden Triebmacht, in der Antike zuweilen als unheimlich empfunden: mit einer »ausgeprägten Realisierung im Geschlechtsleben, dem aber viele andere Felder der Wirksamkeit … (als Hunger, Durst, Habsucht, Zerstörungswut, Todesverlangen, Heim- oder Fernweh, Kleptomanie usw.) zur Seite stehen.« 123 Neben Gefühlswallungen ist kein Thema besser geeignet, die chinesische Variante einer im »Prozeß der Zivilisation« zuneh131 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
menden Triebverdrängung zu veranschaulichen. Wollten Moralapostel Lebensgenuß aus der Tradition verbannen, so meldeten sich doch auch deren Gegner immer wieder zu Wort: »Nutzlos zügelt man Ohren und Augen und achtet auf Recht und Unrecht der Triebe des Leibes. So bringt man sich um den höchsten Genuß der Gegenwart.« 124 Auch unter dem Einfluß eines asketischen Buddhismus machte sich eine Lebens- und Lustfeindlichkeit breit, die z. B. in der Grabinschrift des Dichters Wang Ji (585–655) besonders drastisch zum Ausdruck kommt: »Das Leben erschien ihm wie eine vorstehende Beule, wie ein hängendes Geschwür, der Tod wie das Abfallen dieses Geschwüres, wie das Platzen einer Schwäre.« 125 Das Erbe eher leib- und lebensfeindlicher Positionen traten in der Mittleren Kaiserzeit gestrenge Vertreter des Neokonfuzianismus an. Doch auch deren Morallehre konnte sich erst in der Folgezeit so richtig entfalten. Hinter dem Zitat von Fang Xiaoru (1357–1402) steht die Auffassung von der ursprünglich guten, d. h. li-gerechten Natur des Menschen (s. II.1.c), die durch das Begehren verunreinigt wird: »Der Freude, die man aus der Befriedigung der Begierden (yu) zieht, folgt der Kummer auf den Fuß. Richte deine Anstrengungen auf das dao und wirf die Begierden von dir, kehre zu dir selbst zurück!« 126
Zwischen beiden extremen Positionen stand das Plädoyer für den Weg der Mitte, d. h. für einen bewußten Umgang mit Begehr und Gefühl. Wenn auch das Ringen um das rechte Maß im Prozeß der Zivilisation in diesem und im nächsten Kapitel im Mittelpunkt steht, so gilt unser Augenmerk doch nach wie vor auch den atmosphärischen Verlockungen, die Gefühl und Begehren stets begleiten. Im ersten Abschnitt geht es um den Wandel chinesischer Trinkgewohnheiten, d. h. um den ausgiebigen Genuß von Wein, der schließlich der Vorliebe für grünen Tee weicht. Der zweite Abschnitt handelt von der atmosphärischen Ausgestaltung der 132 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Trinken, Essen, Mann und Frau
Lust am Essen, die sehr schön umschrieben ist mit dem Bild von den aromatischen Wolken, die begehrliche Gaumen kitzeln. Im dritten Abschnitt stehen dann Aspekte des chinesischen Umgangs mit Erotik und Sexualität zur Debatte.
a) Vom Kornwein zum flüssigen Nephrit Wer chinesische Gäste zu bewirten hat, muß darauf gefaßt sein, daß sie Wein und Bier, erst recht Schnäpse, dankend ablehnen – aus Furcht vor rotem Kopf, Bewußtseinstrübung und Verlust der Selbstkontrolle. In früheren Zeiten jedoch war Alkohol ein hochgeschätztes Getränk der chinesischen Elite-Kultur. Bei keiner religiösen und rituellen Veranstaltung durfte er fehlen, von der Frühjahrs-Aussaat bis zur Herbsternte, von der Großjährigkeit bis zum Bestattungszeremoniell, erst recht nicht bei Anlässen geselligen Beisammenseins. Viele Kunstwerke, Gedichte und Kalligraphien wären ohne die verzaubernde und lockernde Wirkung von Kornwein und Kornschnaps nie zustande gekommen. Unbeschwerter Genuß alkoholischer Getränke, die aus Hirse, Gerste, Weizen, Mais und später Reis gebraut und gebrannt wurden, spricht aus den frühen Versen im Buch der Lieder: »Es quillt in Üppigkeit der Tau, Wird trocken nicht, bevor der Tag beginnt. So trinkt in Fröhlichkeit die ganze Nacht! Wir geh’n nach Hause nicht, bevor wir trunken sind. Es quillt in Üppigkeit der Tau, liegt auf den fetten Gräsern fahl. So trinkt in Fröhlichkeit die ganze Nacht, versammelt in der Ahnen Saal …« 127
Ein solches Schwelgen in naiver heiterer Gegenwart lassen die Weingedichte späterer Epochen vermissen. Zahlreiche Exemplare dieser lyrischen Gattung aus der Frühen Kaiserzeit sind nur vordergründig rein genüßlich und nur scheinbar dem vollen Le133 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
ben zugewandt. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich dahinter Gefühle von Resignation und Weltflucht – aus Selbstschutz vor den politischen Wechselfällen der Zeit. Auch Verachtung von Konvention und Sitte ließ zum Becher greifen, erst recht das Verlangen nach Vergessen in Rausch und Ekstase, erschien doch das menschliche Dasein so hoffnungslos beiläufig. Ein solcher Gemütszustand spricht aus dem folgenden Gedicht von Tao Yuanming (356–427), »Beim Weintrinken«: »Was mir behagt, die Freunde schätzen’s auch: Hier kommen sie, in ihrer Hand der Krug. Wir breiten Spreu zum Sitz am Fuß der Kiefer, und größer wird der Rausch bei jedem Zug. Die greisen Männer halten wirre Reden; die Regel ist beim Schänken schon verkehrt. Da wir nicht wissen, ob es gibt ein Ich, kennt ohnehin kein Mensch der Dinge Wert.« 128
Tao Yuanming war sich der gesundheitlichen Folgen seiner weinfreudigen Ausschweifungen sehr wohl bewußt, denn unter den zahlreichen Wein-Gedichten findet sich eines mit dem Titel: »Schluß mit dem Wein«. Diese Selbstaufforderung konnte nicht eindringlich genug sein, denn in jeder Verszeile (!) erklingt das energische »Schluß damit«. Ein meisterhafter Könner im Einfangen einer mit Weingenuß verbundenen heiteren carpe-diem-Stimmung war Li Taibo (701–762), dessen Verse zur Weltliteratur gehören. Eingedenk der Vergänglichkeit pflegte er des Lebens Würze in vollen Zügen zu genießen. Der Legende nach soll er über Bord gefallen und ertrunken sein, als er im weinseligen Zustand das Spiegelbild des Mondes im Wasser zu fassen versuchte. Der Titel des folgenden Gedichtes lautet »Vor uns ein Becher Wein«: »… Da sind die Blüten, von Wirbelgewalt entführt, zu Boden gegangen, mein schönes Mädchen ist trunken bald mit ihren geröteten Wangen.
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Trinken, Essen, Mann und Frau
Am blauen Gaden 129 der Pfirsichbaum, weißt du, wie lange der blüht? Ein zitterndes Leuchten ist es, ein Traum, er täuscht uns nur und entflieht. Komm, auf zum Tanz! Die Sonne verglüht! Wer nie voll drängenden Lebens war und toll war in jungen Tagen, der wird vergebens, wenn erst das Haar weiß ist, seufzen und klagen.« 130
Die Dichtung der nachfolgenden Epoche – der Mittleren Kaiserzeit – scheint bereits geprägt von einer gewissen Leib- und Lusthemmung. Man hat den Eindruck, als enthielte sie vergleichsweise weniger Verse über Wein, und wenn, so muten diese distanzierter an. So ist z. B. eher vom Rausch eines anderen die Rede als vom eigenen. Abgeklärter wirken sogar die Wein-Gedichte des Lu You (1125–1210), der immerhin wegen häufiger Trunkenheit des Amtes verwiesen worden war. Dennoch feiert Lu You in seinen Versen nicht den ekstatischen Rausch, sondern stellt darin Reflexionen an, z. B. darüber, ob der vor ihm stehende Wein »wässrig« oder »schwer« sei oder ihn wohl »in Trance versetzen kann«. Zuweilen verfällt Lu You geradezu ins Sentimentalische, ist ihm der Weingenuß doch Anlaß zur weitläufigen philosophischen Betrachtung – über längst vergangene Zeiten, den Weltenlauf, die politischen Zustände, die verflossene Jugend, die versäumten Schlachten gegen die Steppenbarbaren, Anlaß zu distanzierter Beobachtung auch, etwa wenn der kleine Sohn Wein verschüttet und ihn die Gewißheit tröstet, daß ja im Krug noch Wein vorhanden sei; Anlaß auch zu Selbstironie, wenn er in »sein langes Gewand mit dem purpurnen Kragen« schlüpft, bevor er sich aufmacht zum »Alt-Männer-Gelage«. Und dort überkommt ihn kein Rausch, sondern ein Hauch von Glück – nicht einmal beim Weingenuß selbst, sondern beim Geräusch des Wein-Auspressens, das erst den künftigen Genuß verspricht. Jedes einzelne seiner mindestens fünfzehn Weingedichte könnte als Ausdruck von Vorfreude für sich stehen und damit 135 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
gelebte Leiblichkeit bezeugen. Wenn sich jedoch bei ihm und anderen Zeitgenossen Genußaufschub und abstandnehmende Betrachtung häufen, so mag das Botschaft genug sein – erst recht, wenn diese mit den großen Entwicklungen zivilisatorischer Trieb- und Affektregulierung übereinstimmt. Daß solchen Entwicklungen zum Trotz der Kornwein nicht ganz in Vergessenheit geriet, belegt ein »Weinklassiker« der Späten Kaiserzeit. Demnach sollte, wie eh und je, das religiöse Zeremoniell grundsätzlich von einem Weinopfer begleitet sein. Auch galt es als großzügig und hochherzig, in Geselligkeit Wein anzubieten. Wenn Einzelne für sich allein dem Alkohol zusprachen, so konnte das – diesem Weinklassiker zufolge –, in der Spätphase der vormodernen chinesischen Zivilisation, nur aus Enttäuschung über den Gang der Welt und damit verbundene Schicksalsschläge sein. Die Markennamen, die in diesem Weinklassiker versammelt sind, lassen aber erahnen, was man sich über den Trost hinaus an leiblichen Wirkungen vom Weingenuß versprach: Einheit mit der Natur stellte z. B. ein Huālu 花露 (Blumentau) in Aussicht; Verständnis versprach ein Yùyǒu 玉友 (jadefarbener Freund); Weisheit verhieß ein Xiànrén 賢人 (kluger Mensch), und für leibliches Wohlbefinden sorgte ein Pòmēnjiàng 迫悶將 (Beklemmung-vertreibender-General). Auch die hier zitierten Sprichwörter veranschaulichen analoge leibliche Befindlichkeiten, denn dem Wein wird bescheinigt, daß er »das Herz weitet«, »die Eingeweide fröhlich macht« und »shen (Lebenskraft, Bewußtsein, Geist) harmonisiert«. Und wenn es heißt: »Vom Wein beflügelt das große dao durchdringen und vonselbst-so-sein« 131, dann verspricht das Selbstvergessenheit im Zustand leiblicher Weitung. Gleichzeitig versäumt der Verfasser nicht, vor den gesundheitlichen, moralischen und gesellschaftlichen Folgen eines ungebührlichen Weingenusses zu warnen, indem er Sprichwörter zitiert, die alle möglichen Krankheiten und den Verlust von Hab und Gut an die Wand malen. Kein Wort von einer vergrößerten 136 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Trinken, Essen, Mann und Frau
Leber, denn wie beim Lob des Weines wird auch bei der Aufforderung zur Mäßigung leiblich argumentiert: Bewirkte ein mäßiger Weingenuß wohlige Weitung, so bestand bei ungezügeltem oder notorischem Alkoholkonsum Gefahr, daß Weitung überhandnimmt, so daß der Betreffende Halt und Begrenzung verliert. Als jener Weinklassiker erschien, hatte sich der Genuß von grünem Tee als Lieblingsgetränk der chinesischen Elite längst etabliert. Tee, als Strauchgewächs auch in Südchina heimisch, diente lange Zeit nur als Heilpflanze. Mit der Ausbreitung des Buddhismus gewann die aus den Blättern gewonnene nephritfarbene Flüssigkeit neue Bedeutung: Als erfrischendes und belebendes Getränk vermochte der grüne Tee den Mönchen während der Meditation die Schläfrigkeit zu vertreiben. Alchimisten hielten Tee sogar für einen Bestandteil des Lebenselixiers. Bis heute gilt grüner Tee, der z. B. »Stockung vertreibt und Verstopfung auflöst« als der Gesundheit höchst zuträglich. Seit Mitte des 8. Jahrhunderts liegt der dreibändige Klassiker vom Tee vor – verfaßt von dem Dichter Lu Yu (733–804), nachdem zahlreiche Dichter vor ihm und nach ihm den »Schaum von flüssigem Nephrit« in Versen und Liedern besungen hatten. Daß auch der grüne Tee, wie Drogen und Wein, einen Zustand mystischer Schwerelosigkeit und Weitung hervorrufen konnte, ist vielfach belegt, u. a. in den ekstatischen Worten des Dichters Luo Dong, der ebenfalls in der Tangzeit (618–906) lebte: »Die erste Tasse feuchtet mir Lippen und Kehle. Die zweite löst meine Einsamkeit, die dritte dringt mir ins unfruchtbare Gedärm, um dort nichts zu finden als einige fünftausend Bände wunderlicher Ideogramme. Die vierte Tasse bringt mich leicht in Schweiß – das ganze Unrecht dieses Lebens zieht durch die Poren ab. Bei der fünften Tasse ist die Reinigung vollzogen; die sechste Tasse ruft mich in die Regionen der Unsterblichkeit. Die siebente Tasse – ach, ich kann nicht weiter trinken. Ich liebe den kühlen Windhauch, der meine Ärmel hebt. Wo ist Penglai – die Insel der Seligen? Laßt mich auf diesem lieblichen Winde fahren und dorthin entschweben.« 132
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Trotz dieser Beweise ekstatischer Anwandlungen galt Tee – im Gegensatz zum einlullenden Alkohol – als bewußtseinschärfendes Getränk. Hinzu kamen gesundheitliche Erwägungen. Die Abkehr vom Wein, die sich im Alltag der Elite seit dem 11./12. Jahrhundert vollzog, hatte verschiedene Gründe. Neben Gewohnheiten, Einsichten und Bekehrungen von Einzelpersonen dürften die philosophischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Mittleren Kaiserzeit entscheidend gewesen sein. Ob buddhistische und neokonfuzianische Leib- und Lusthemmung, ob Bevölkerungswachstum und Urbanisierung – auch der chinesische Prozeß der Zivilisation lief darauf hinaus, das Begehren zu hemmen. So ist in den schon mehrfach zitierten kernigen Sätzen des Neokonfuzianers Fang Xiaoru (1357– 1402) auch der Weingenuß nicht ausgespart. Bei ihm findet sich kein ausgewogenes Für und Wider, und mit keinem Wort erwähnt er die Annehmlichkeiten, die Wein und Geselligkeit mit sich bringen. Kategorisch lautet sein Urteil: »Der Wein ist von Übel. Den Vorsichtigen macht er unvorsichtig, den gestandenen Mann macht er zum überschäumenden Jüngling, den Vornehmen macht er gemein, und was bestehen soll, bringt er zum Untergang. Haus- und Landesväter also mögen vor dem Wein sich immer hüten!« 133
Diese Einstellung wirkt unter neokonfuzianischem Einfluß bis in die Gegenwart nach, gilt doch auch uns bisher Tee und nicht Wein oder Schnaps als Nationalgetränk der Chinesen.
b) Aromatische Wolken kitzeln begehrlichen Gaumen Wer China einmal bereist hat oder regelmäßigen Kontakt zu Chinesen pflegt, weiß ein Lied davon zu singen, welche Bedeutung das richtig zubereitete Essen zum richtigen Zeitpunkt hat. Unvorstellbar, eine Mahlzeit auszulassen! Ein Genuß, allein schon über das Essen zu reden! Kein Familienfest, keine religiö138 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Trinken, Essen, Mann und Frau
se Zeremonie, keine politische Begegnung, keine Betriebsbesichtigung, keine geschäftliche Abwicklung, ohne daß nicht zuvor ein üppiges Mahl die Beteiligten in geselliger Runde vereint. Ihren westlichen Verhandlungspartnern machen Chinesen gern den Vorwurf, immer gleich »zur Sache zu kommen«. Den Westlern diene Essen allenfalls als krönender Abschluß nach erfolgreichen Gesprächen. Chinesen hingegen bedürften des gemeinsamen Essens zur atmosphärischen Einstimmung – womöglich ein schwaches Nachleuchten eines alten Ritus, bei dem sich die Fürsten der einzelnen Lehensstaaten zusammenfanden, Lieder vortrugen, um wechselseitig den jeweiligen »Herzenssinn zu erkunden«. 134 Im Vergleich hierzu ist das bei uns so beliebte Geschäftsessen eine Zumutung, da die Mahlzeit zur bloßen Beiläufigkeit degradiert ist. Hinzu kommt, daß eine solche Kombination als ungesund empfunden werden könnte, denn Essen bedeutet, daß qi hinein, und Sprechen bedeutet, daß qi hinaus will – zwei einander widersprechende Bewegungen der Lebenskraft! Sprichwörter wie »Wer ißt, ist ein König« oder »Dem Volk ist Essen der Himmel« belegen die anhaltende Gewichtung des Essens im Tagesverlauf ebenso wie eine Reihe von Sprachbildern, in denen ausgiebig auf orale Metaphorik zurückgegriffen wird. So begrüßt man sich z. B. im Südosten Chinas und auf Taiwan nicht mit »Wie geht’s?«, sondern mit den Worten: »Hast Du schon gegessen?«, worauf der Angesprochene bejahend zu nikken hat, sonst könnte der Fragende sich bemüßigt fühlen, ihn einzuladen, um das Versäumte nachzuholen. »Einen Job haben«, bedeutet wörtlich »auf Körner beißen«, während das Gegenteil, »seinen Job verlieren«, durch das Bild vom »zerbrochenen Reisnapf« umschrieben ist. Schicksalsschläge aller Art werden mit »Verluste essen« umschrieben, und sollte jemand im Gefängnis eine Strafe absitzen, so heißt das »bei der Behörde essen«, so dass das Gefängnis auch Vorteile haben kann. Rauchen wird mit »Rauch essen« übersetzt, Geschlechtsverkehr mit »Tofu essen«, Stottern mit »Zunge essen« usw. 139 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Auch beim Ausdruck von Gefühlen und Befindlichkeiten, die wir in andere Bilder kleiden, wird ausgiebig von der Metaphorik des Essens Gebrauch gemacht: So heißt eifersüchtig sein: »Essig essen«, sich erschrecken: »Schrecken essen«, im Elend leben: »Bitterkeit essen«; Alltagsroutine wird mit »zu Hause stets Reis« umschrieben und Langeweile mit »es schmeckt wie Beißen auf Wachs«; für geteiltes Glück und Unglück durch dick und dünn steht der Spruch »Geteilte Süße und gemeinsame Bitterkeit«; wer sich selbst in die Tasche lügt, »malt Pfannkuchen, um den Hunger zu stillen«; nicht zuletzt gelten Nichtigkeiten und Nebensächlichkeiten des Lebens als »kleines Gemüse auf dem Teller«. 135 Daß die Hochschätzung des gemeinsamen Essens in der chinesischen Kultur eine lange Tradition aufzuweisen hat, bestätigen zahlreiche Gedichte aus dem Buch der Lieder, bis zu den Größen chinesischer Dichtkunst. Das folgende Gedicht aus dem 3. Jahrhundert vor Christus tischt uns z. B. ein ganzes Menu auf, so daß einem womöglich schon bei der Lektüre das Wasser im Munde zusammenläuft: »Reis …, erlesener junger Wein, gemischt mit gelber Hirse. Intensiv sind die Geschmäcker: Bitter, Salzig, Sauer, Scharf und Süß vertreten. Das Muskelfleisch des fetten Ochsen ist wohlriechend und weich. Saueres und Bitteres richtig dosiert, bereitet man die Suppe von Wu. Brühe von Zuckerrohr reicht man zu Schildkröte, weich gegart, und zu Lamm, in der Haut gekocht. Dann folgen saure Suppe von Schneegans und Wildente sowie Wildschwan und Kranich, gebraten. Das wilde Geflügel, die Schildkrötensuppe sind stark, aber geschmacklich nicht verdorben. Zuletzt: Mehlreis- und Honigkuchen! Und süßes Brot dazu. Das jadefarbene Getränk, mit Honig versetzt, füllt den Flügelbecher …: Der neue Wein ist kühl und klar.« 136
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Trinken, Essen, Mann und Frau
Abb. 4 Chinesische Küche
Während dem Alkohol, wenn auch in Form von Traubenwein, in deutschen Anthologien ebenfalls ausgiebig gehuldigt wird, fällt im Vergleich dazu das Lob des Essens in deutscher Dichtkunst auffallend mager aus. Nur Wilhelm Busch und Hans Sachs 141 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
waren sich nicht zu schade dafür, während Ludwig Uhland glaubte, sich für sein »Metzelsuppenlied« sogar entschuldigen zu müssen: »Ihr Freunde, tadle keiner mich, daß ich von Schweinen singe! Es knüpfen Kraftgedanken sich oft an geringe Dinge …« 137
Weil ein köstliches Mahl die Lebenskraft ebenso zu stärken vermag wie jede andere Kunst, waren sich die chinesischen Dichter, allen voran Li Taibo (701–762) und Bo Juyi (772–846), nicht zu schade, in kunstvollen Versen auf erlesene Früchte, Bambussprossen und rotgesottenen Hummer ein Loblied zu singen, erst recht auf das heiße Gebäck von der Straße, das an frostigen Wintermorgen »leere Mägen, klappernde Zähne und zitternde Knie« ins Lot zu bringen vermag. Wie wenig es auch hier nur um das Auffüllen von Nahrung und Kalorien ging, kommt ebenfalls in diesen Gedichten zum Ausdruck. Immer lag den Feinschmeckern ebenso viel an dem atmosphärisch-sinnlichen Genuß, der schon beim Zubereiten des Mahles die Sinne verwirrt: »Die Sprossen im irdenen Topf, erhitzt mit siedendem Reis: Brechen die purpurnen Schalen, gleichen sie altem Brokat, bersten die weißen Hüllen: leuchten sie wie Perlen …« 138
Auch beim Genuß der Lichi-Frucht, »der Königin aller Süße«, betören die aus der Nahrung aufsteigenden Geschmacks- und Geruchsatmosphären: »… Süße Säfte erfüllen den Mund, sanfte Düfte umhüllen den Geist. Alle Aromen sind hier vereint, doch keines herrscht vor: hundert verschiedene Wohlgerüche!« 139
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Trinken, Essen, Mann und Frau
Dem folgenden Gedicht mit seiner üppigen Metaphorik ist der Titel dieses Kapitels entnommen: »… Was gibt es Besseres als heißes Gebäck? Duftender Wolkenflaum im Frühling, weißer als frische Seide im Herbst! In dichten Schwaden entquillt der Dampf, schwillt an, steigt empor und verweht. Aromatische Wolken durchhauchen die Luft, gleiten in Wirbeln fort mit dem Wind, kitzeln begehrliche Gaumen …« 140
Auch die gesellig-entspannte Atmosphäre beim gemeinsam genossenen Mahl, die beflügelnde Stimmung eines Festessens wußten die Dichter zu preisen – erst recht, wenn wie im folgenden Gedicht die aktuellen Lebensumstände solche Gelegenheit im allgemeinen versagten. Es entstand aus Dankbarkeit, nachdem Zhao Wannian (ca. 1169 – ca. 1210), Berufsoffizier der Song-Dynastie, in der hoffnungslos belagerten Stadt überraschend zum Essen geladen worden war: »Vor den Dachrändern Pfirsichblüte auf Pfirsichblüte, Blatt auf Blatt. Der Mund ist uns wässrig über dem fetten Mandarin-Fisch aus dem Han-Fluß. Nachdem wir mit Tung-Baum-Rinde die hungrigen Mägen gesättigt, ist es, als ob Elitetruppen eingetroffen, die uns befreiten von der Umzingelung durch die Barbaren.« 141
Nicht nur in Extremsituationen waren die Vertreter der Gelehrtenkultur durchgängig den Gaumengenüssen zugetan, auch wenn Mäßigung gefordert war. Daß sie sich dabei durchaus im Sinne des Konfuzius verhielten, zeigt der folgende Rückblick auf die von seinen Schülern gesammelten Gespräche: »Beim Essen verschmähte er nicht das Feinste, beim Hackfleisch verschmähte er nicht das Erlesene. Was verdorben war und schlecht, Fisch, der alt, und Fleisch, das madig war, aß er nicht. Was eine schlechte Farbe hatte, aß er nicht. Was einen schlechten Geruch hatte, aß er nicht. Was
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
nicht mit der richtigen Sauce angerichtet war, aß er nicht. Auch wenn genügend Fleisch vorhanden war, ließ er es nicht zu, daß es den Geschmack (qi) der anderen Speisen überdeckte. Allein beim Wein legte er sich kein Maß auf, doch ließ er sich davon nicht verwirren. Gekauften Wein und Trockenfleisch vom Markt nahm er nicht zu sich. Es gab stets Ingwer beim Essen. Er aß nicht viel …« 142
Rechtes Essen mußte, Konfuzius zufolge, demnach erstens der Gesundheit zuträglich und zweitens richtig zubereitet sein. Auch die Freude am Kulinarischen kam nicht zu kurz. Dennoch hielt er nichts von Luxus und Übermaß, denn »er aß nicht viel« und war davon überzeugt: »Auch im Essen grober Gemüsespeise, im Trinken von Wasser, im Schlafen mit dem Arm als Kissen – auch darin ist Freude.« 143 Maß und Mitte beim Essen lag auch der chinesischen Diätetik zugrunde, die sich unter dem Einfluß des Resonanzdenkens seit der Frühen Kaiserzeit entwickelte. Wenn Krankheit als eine Störung der Harmonie zwischen Makro- und Mikrokosmos galt, so kam es darauf an, durch richtige Ernährung die kosmischen Einflüsse des yin-qi und yang-qi bzw. des qi der Fünf Wandlungsphasen in Körper und Leib harmonisch zur Geltung zu bringen. Im allgemeinen waren Getränke dem yang und Eßbares dem yin zugeordnet. Doch innerhalb des Eßbaren wurde weiter unterschieden: Zum yang gehörten die Fleischgerichte, zum yin Getreide und Reis. Bei der Einteilung der Nahrungsmittel nach den Fünf Wandlungsphasen spielte auch deren Farbe und Geschmack eine Rolle: So gehörten Gelbes und Süßes – wie Honig und gelbe Rüben – zur Erde, Grünes und Saures zum Holz, Rotes und Bitteres zum Feuer, Weißes und Scharfes zum Metall und alles Salzige zum Wasser (s. Tabelle in I.2.c). Die makrobiotische Kochkunst Ostasiens, die auch bei uns unter Gourmets ihre Anhänger findet, gründet ebenfalls in dieser kosmischen Relevanz traditioneller chinesischer Küche, in der sich Mäßigung und subtile Genußfähigkeit allein deshalb nicht ausschließen, weil hier mit vielfältigen Atmosphären gekocht, serviert und verzehrt wird. 144 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Trinken, Essen, Mann und Frau
c) Das Spiel von Drache und Phönix In diesem Abschnitt geht es um das drängende Begehren zwischen Mann und Frau. Zwei gegensätzliche Interpretationen liegen zu diesem Thema im chinesischen Kontext vor. Die eine behauptet, die Chinesen seien in vormoderner Zeit geradezu von Sex besessen gewesen; die andere hält die chinesische Kultur für ausgesprochen unerotisch. Für beide lassen sich gewichtige Argumente ins Feld führen, für erstere eine ganze Gattung von Sexualhandbüchern, in denen die verschiedensten Aspekte der sogenannten Schlafzimmerkünste bis ins Detail geschildert sind – vom Liebesvorspiel, den erotischen Stellungen, verschiedenen Stoßtechniken über die Reaktionen der Frau, den Gebrauch von Aphrodisiaka bis hin zu Anweisungen, wie der Penis zu vergrößern und die Vagina zu verkleinern sei. Für das ausgeprägte Interesse an dieser Art zwischenmenschlicher Begegnung spricht auch die Existenz von erotischen Gedichten und Sexualwitzen, die allerdings von Unkundigen nicht unbedingt als solche zu erkennen sind: So verweist ein harmloses Wort wie »Frühling« oder »fließender Wind« im entsprechenden Kontext auf eine erotische Situation ebenso wie die »Weide«, denn Frauen haben »weidengleich biegsame Hüften«; deshalb steht auch die »Weidengasse« für das Freudenhaus. Ist von »gelöstem Haar« die Rede, so deutet das auf eine Liebesnacht, und wer hätte gedacht, daß die im folgenden Gedicht genannten Fähigkeiten allesamt Metaphern für den Geschlechtsakt sind: »Das alte Weib vom Schmied versteht es, Nägel zu schmieden. Die Alte des Polizeibeamten, versteht es, Leute zu verhaften. Das Mädchen auf dem Fischerboot versteht es, mit Vögeln umzugehen. Die Alte in der Färberei versteht es, Stoffe zu färben.« 144
Verdeckte Metaphorik kennzeichnet vor allem die Gedichte von Angehörigen der Elite, die vielfach den Vorgang nur andeuten und dessen Ausgestaltung der Phantasie ihrer Leser überlassen. 145 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Anders die Volkslieder, die deutlich und deftig ihre Worte setzen. Da ist offen die Rede von ungeduldigen jungen Mädchen, ausschweifenden Frauen und gehörnten Ehemännern, lüsternen Nonnen und Mönchen, die den Idealbildern von Mann und Frau geradezu entgegengesetzt sind: »Ich bin wie eine aus den Tempeln und Klöstern, die jedem Bettelmönch, der zur Speisehalle kommt, seinen Anteil gibt. Meine Liebhaber gleichen den Stocherkahnbrüdern – jeder hat seinen eigenen Weg, jeder rudert für sich.« 145
Auch die Verfasser von Kurzgeschichten und Romanen schildern, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, das ausschweifende Liebesleben ihrer Helden und Heldinnen. Trotz dieser schlagkräftigen Argumente hat die gegenteilige Behauptung, die chinesische Kultur kenne keine Erotik, ebenfalls einiges für sich: So stimmt es, daß die chinesische Tradition keine auf Eros und Erotik spezialisierten Göttergestalten vorzuweisen hat, wie Aphrodite und Eros bzw. Venus und Amor. Sexualhandbücher wurden verboten oder gerieten in Vergessenheit, so daß nur ein einziges frühes Exemplar aus dem 10. Jahrhundert – und auch nur auf dem Umweg über Japan – erhalten ist. Oder sie wurden durch Selbstzensur bis zur Unkenntlichkeit entstellt: Zeichneten sich frühkaiserzeitliche Exemplare durch üppige Metaphorik aus, als ginge es im Beischlaf darum, eine Landschaft zu erkunden mit Felsen und Schluchten, Wasserfällen oder einem »Strom, der sich ins tiefe Tal ergießt«, so wirken spätkaiserzeitliche Versionen dagegen ausgesprochen kämpferisch, ja, sie erwecken den Eindruck, als hätten sie die Zensur nur überlebt, weil sie sich wie Kriegshandbücher lesen: »Ein großer General wird, wenn er sich über den Feind hermacht, zuerst alle seine Kräfte konzentrieren, um den Feind aus seiner Reserve zu locken, um sozusagen die feindlichen Kräfte aufzusaugen. Er nimmt eine höchst gelassene Haltung ein und scheint einem Manne gleich, der in absoluter Gelassenheit die Augen schließt.« 146
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Trinken, Essen, Mann und Frau
Um den Widerspruch zwischen beiden Ansichten aufzulösen, genügt es, eine epochen- und schichtspezifische Perspektive einzunehmen: Der »Prozeß der Zivilisation« als Prozeß zunehmender Triebregulierung und -verdrängung erklärt zumindest das Bemühen der herrschenden Elite, die Sexualität zu kanalisieren und alles Unberechenbare zwischenmenschlicher Beziehungen – Eros und Erotik gehören zweifellos dazu – im Verlauf der Jahrhunderte aus dem geduldeten Verhalten zu eliminieren. So ist es nachvollziehbar, wenn frühkaiserzeitliche Texte das MannFrau-Begehren entweder in einem kosmisch-religiösen Kontext feiern oder, wie in den frühen Sexualhandbüchern, einer Sexualität zum Zwecke der Lebenspflege das Wort reden ohne jeden lüsternen Unterton. Die spätkaiserzeitlichen Exemplare erotischer Literatur sowie zeitgenössische bildliche Darstellungen auf sogenannten Frühlingsbildern erweisen sich dagegen als epochenspezifische Selbstbehauptung einer städtisch-aufgeklärten Gesellschaft gegen den offiziellen Moralismus der niedergehenden Ming-Dynastie (1369–1644). Fragen wir nach der Besonderheit chinesischen Umgangs mit Erotik und Sexualität, so führt uns Foucault auf die richtige Spur, wenn er zwischen scientia sexualis und ars erotica unterscheidet. Ersteres zielt auf ein Macht-Wissen, das der französische Philosoph im europäischen Diskurs über Sexualität zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert zu entdecken glaubt: ein Wissen, das hin und her schwankt zwischen wissenschaftlich verbrämten Verdunkelungsmanövern und dem Versuch, etwas Verbotenes und Abscheuliches durch Geständnis und Inquisition an den Tag zu bringen. Um Macht-Wissen handelt es sich insofern, als es darum ging, auf repressive Weise »die physische Kraft und die moralische Sauberkeit des gesellschaftlichen Körpers zu erhalten«. 147 Der scientia sexualis stellt Foucault die etwas andere Art im Umgang zwischen den Geschlechtern gegenüber, die ars erotica, die er in den Traditionen Chinas, Indiens, Japans, Roms sowie in der arabisch-islamischen Welt verwirklicht sah: ein von Lehrer 147 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
zu Schüler vermitteltes Initiationswissen mit dem Ziel, eine Wandlung des Initiierten zu erreichen durch »absolute Körperbeherrschung, einzigartige Wollust, Vergessen der Zeit und der Grenzen« – kurz, ars erotica als »Elixier des Lebens«! 148 Fügen wir hinzu, daß es neben der Körperbeherrschung vor allem der Meisterschaft im leiblichen Spüren bedurfte, um jenen Zustand des Verströmens in Weite und ekstatischer Glückseligkeit zu erreichen, von dem hier die Rede ist. Auch das »Elixier des Lebens« trifft ins Schwarze, denn als Liebeskunst diente der Beischlaf vor allem in daoistischen Kreisen dazu, die Lebenskraft zu nähren, das Leben zu verlängern. Eine Variante dieser ars erotica brachte unter daoistischem Einfluß die chinesische Gelehrtenkultur hervor, die auch in diesem Lebensbereich durch Mäßigung, d. h. durch bewußte Kontrolle des wilden und ungehemmten Begehrens, eine sublime Sinnlichkeit anstrebte. Daß sublime Sinnlichkeit sublime Leiblichkeit ist, können folgende Gedichte veranschaulichen. Hier stellen sich Liebe und Eros als anspruchsvolle Atmosphären dar; darüber hinaus legen sie Zeugnis ab von den – Liebeskummer und Liebessehnsucht begleitenden – leiblichen Dimensionen der Enge/Engung bzw. Weite/Weitung. Nicht zuletzt zeigt sich in der chinesischen Metaphorik des Begehrens die Vorliebe für Atmosphärisches, indem üppig Gebrauch gemacht wird von eindrucksvollen Naturanalogien. Liebe und Eros als anspruchsvolle Atmosphären. Anspruchsvoll soll bedeuten, daß Liebesgefühle und das Begehren zwischen Mann und Frau eine Macht ausüben, der sich die Betroffenen kaum entziehen können, sei es beflügelnd oder auch beunruhigend. Die Macht, ja Übermacht sehnsüchtigen Verlangens, kommt sehr schön in den Zeilen zum Ausdruck, die zwei Frauengedichten aus der Tangzeit (618–906) entnommen sind: »Bet’ ich zum Neuen Mond, bezwing ich doch nicht die Gefühle …« 149 »Unwillkürlich seufze ich – so viele Gefühle sind nur satt von Traurigsein.
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Trinken, Essen, Mann und Frau
Daß auch jetzt noch Wind und Mond die Höfe mit Herbst erfüllen …« 150
Zur anspruchsvollen Atmosphäre trug nicht wenig der atmosphärisch getönte Raum bei. Die genannten Frühlingsbilder der Späten Kaiserzeit, auf denen alle Arten von Beischlaf-Szenen abgebildet sind, lassen eine in diesem Sinne durchstilisierte Umgebung erkennen. Dabei spielten Blumen, Düfte, Seidengewänder, ritualisierte Handlungen, Musik und die menschliche Stimme eine wichtige Rolle. Nebenfrauen, Kurtisanen und Prostituierte lernten nicht nur raffinierte Beischlaftechniken, sondern erwiesen sich – dank ihrer manchmal herausragenden Fertigkeiten in Musik, Dichtkunst, Malerei und Kalligraphie als Meisterinnen im Schaffen anspruchsvoller Atmosphären; auch verfügten sie über Grundkenntnisse in den Klassikern, die sie im rechten Augenblick zu zitieren wußten. Das Erleben von Engung und Weitung, das jeder tiefe Liebesseufzer beschert, ist in den Gedichten unmittelbar ausgesprochen oder metaphorisch angedeutet. Schon die Sehnsucht ist leibliche Richtung aus der Enge in die Weite. Sehnsuchtsgefühle konnten sich ungehindert entfalten, wenn die daheimgebliebenen Frauen den Turm bestiegen, um von dort ihre Gedanken zum geliebten Mann in die Ferne schweifen zu lassen: »Die Träume der Verlassenen gehen so weit, wie Straßen lang sind, die zur Grenze führen.« 151 »… Ich denk an dich, wie gleichen die Gefühle dem Westfluß, seines Wassers Lauf. Sie strömen Tag und Nacht nach Osten fort und hören keinen Augenblick mehr auf.« 152
Das Verströmen in Weite beim Geschlechtsakt mögen die folgenden Zeilen andeuten. Sie entstammen dem Gedichtzyklus vom Orchideenpavillon, einer Sammlung von 34 Gedichten, die zum Anlaß eines Festes homosexueller Lebenspflege im Jahre 353 entstanden. Dabei handelte es sich um einen Kreis ange149 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
sehener Männer, die sich mit ihren Söhnen, insgesamt 42 Personen, zusammengefunden hatten, um in mystischer Ekstase ihr »qi zu vereinen«: »… Federnkind seufzt unter dem aufgerichteten Bambus. Der hochfliegende Fisch löst eine Flutwelle aus …« 153
Als Beispiel für das Erleben leiblicher Engung in der Liebe im Folgenden eine Aneinanderreihung von Enge-Metaphern (kursiv gesetzt, G.L.), mit denen die Prostituierte Guan Panpan (618 bis 906) Gefühle der Enttäuschung und Verlassenheit offenbart: »Oben im Turm die verlöschende Lampe begleitet den Frost der Dämmerung … Pinien und Zedern am Nodmangberg eingeschlossen von Nebeln des Grams … Jaspiszither und Jadeflöte verstummten von selbst, bedeckt von Spinnennetzen bedeckt vom Staub.« 154
Sigmund Freud hätte seine Freude gehabt, was alles hinter den poetisch anmutenden Bildern chinesischer Sexualsprache zum Vorschein kommt. Der folgende Überblick veranschaulicht zugleich zwei Weisen leiblichen Spürens, die für die menschliche Wahrnehmung konstitutiv sind, weil sie zu einer spielerischen Identifizierung zwischen Mensch und Umwelt verleiten: die vor jeder Vergegenständlichung mögliche Wahrnehmung von ganzheitlichen Eindrücken und suggestiven Gestaltverläufen. Mit Vorliebe dienten Metaphern aus der Natur dazu, das Werkzeug des Mannes zu umschreiben: allen voran »das Ding aus yang«, das auch als Berg, Inselberg, Jadestengel, Jadezweig, Jadebaum und Orchidee in Erscheinung tritt. An Metaphern aus der Tierwelt finden sich Aal, Schlange, Schildkrötenkopf, Pferd, Spatz, kleiner Affe. Auch fehlt es nicht an Metaphern aus der
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Trinken, Essen, Mann und Frau
vom Menschen gemachten Welt: Kahlkopf, Kanone, Nagel, Pinsel, Staubwedel, Waschklöppel, Feuerbohrer, Turm und Pavillon. Das entsprechende Körperteil beim weiblichen Geschlecht wird als Jadetor oder als dunkles Tor umschrieben. Die Farbe Rot figuriert in Ausdrücken wie rote Päonie und rote Kammer. Weitere häufige Metaphern sind Brunnen, Tal, »die heiligen Gefilde größter Freuden« sowie »warmes und weiches Dorf«; auch der Mund kann für diesen Körperteil stehen ebenso wie die Umschreibung als Pfanne. Der Vergleich mit der Muschel, wie in dem folgenden Lied, dürfte universal sein: »Ein Mädchen wäscht am Fluß frischen Ingwer. Da kommt die kleine Krabbe gelaufen und kriecht in ihre Lende hinein. Das Mädchen fragt: Krabbenbrüderchen, was willst du denn da? Die Krabbe antwortet: Der Fluß ist ausgetrocknet, das Wasser ist seicht, da will ich mit deiner Muschel die Lage besprechen.« 155
Für einzelne Regionen der weiblichen Körper-Landschaft stehen z. B. die Jadeterrasse oder die Saite einer Laute für die Klitoris, Pfingstrose für die Vulva, schwarze Rose, duftendes Gras, heiliges Haar und Moos für die Schamhaare, Dampfnudeln für die Brüste, Datteln für die Brustwarzen und Gewürznelken für die Zunge einer Frau. Auch hier vermischen sich oraler und sexueller Genuss. An Metaphern für den Geschlechtsverkehr seien noch aufgeführt: das Spiel von Wolken und Regen, die Biene rufen, den Schmetterling herbeiführen, Tofu essen, Kirschen essen, die Mandarinenenten fliegen, Wind und Mond lieben, den Zimtzweig brechen, den Drachen besteigen, gebratenes Schweinefleisch essen, Fisch und Wasser kommen zusammen, mit Jade spielen, die Flöte blasen oder auch der Stich in die Blumenmitte. Für den Verkehr mit Kurtisanen und Prostituierten stehen folgende Ausdrücke zur Verfügung: Blumen suchen oder Blumen gießen, unter Blumen schlafen, mit dem Mond spielen, den
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Weidenbaum befragen, unter Weiden liegen oder auch Hasen jagen. Der Verkehr zwischen männlichen Homosexuellen wird in Anspielung auf historische Persönlichkeiten mit Pfirsich teilen bzw. Ärmel abschneiden angedeutet, da einer der Kaiser den Pfirsich teilte mit seinem Liebesgefährten, während der andere den seinigen beim frühen Aufstehen nicht hatte wecken wollen. Auch die dreißig Stellungen, die in den Sexualhandbüchern erläutert sind, tragen poetische Namen, deren Bewegungsanmutungen für sich sprechen: Phönix ergeht sich in der Purpurschlucht, schreiender Affe umklammert den Baum, springender weißer Tiger, die Bergziege starrt auf einen Baum, das Streitroß verfällt in schnellen Galopp … Angesichts einer im zeitgenössischen China verbreiteten rigiden Sexualmoral, die sich offiziellen Statistiken zufolge vielfach in Sexualstörungen niederschlägt, mag diese phantasievolle vormoderne Beschäftigung mit Erotik und Sexualität überraschen. Doch ist der heutige Umgang mit Eros und Sexualität nicht zuletzt das Ergebnis jenes Zivilisierungsprozesses, der im Umgang mit allen drei großen Feldern des Begehrens – Trinken, Essen, Erotik und Sexualität – im kollektiven Gedächtnis tiefe Spuren hinterließ.
3. Konzert der Gefühle Die Versuche, die Natur des Menschen zu beherrschen, machten nicht beim Begehren halt; sie erstreckten sich ebenso auf Gefühle und Emotionen, die nach chinesischer Ansicht entweder dem Menschen von Natur aus eigen sind oder sich aus dem Kontakt mit der Außenwelt ergeben, d. h. im Zusammenspiel von Innen und Außen. Von den eher spontanen Gefühlen sind grundsätzlich die im Verlauf der Sozialisation erworbenen moralischen Gefühle zu unterscheiden. Wenn hier das chinesische Wort qíng 情 einmal mit dem neutralen Wort »Gefühl«, ein anderes Mal mit »Emotion« übersetzt 152 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
wird, so geschieht das mit Bedacht. Auf diese Weise läßt sich in der deutschen Sprache differenzieren, was im Chinesischen nicht begrifflich getrennt ist: Die chinesische Sprache unterscheidet nämlich nicht zwischen Gefühlen, die man sehr wohl gelten lassen wollte, ja als harmonisierende Stimmungen und Gefühlsatmosphären hegen und pflegen sollte auf der einen Seite und den – Gleichmut und Zwischenmenschlichkeit störenden – Gefühlen auf der anderen. Mit Emotionen (von lat. emotio Aufruhr) werden im Folgenden letztere, die als störend empfundenen Gefühle, bezeichnet, während das Wort Gefühl im erstgenannten Sinne, aber auch als Oberbegriff stehen kann. Dafür unterstreicht das chinesische Wort qing den atmosphärischen Aspekt von Gefühlen bzw. Emotionen, den wiederum der deutsche Sprachgebrauch unterschlägt; qing bedeutet nämlich von Anfang an auch Situation, insbesondere die gefühlsbeladenen zwischenmenschlichen Umstände (rén-qíng 人情). Daß leibliche Regungen am eigenen Leib empfunden werden, ist unbestritten. Daß darüber hinaus Gefühle zwischen den Menschen ebenfalls am eigenen Leib wahrgenommen werden, hängt mit dem Vorrang der Relation zusammen, dem Vorrang der Kontexte (s. I.2.c). Auch wenn das vorliegende Kapitel bloß diejenigen Gefühle und Emotionen zur Sprache bringt, die den Chinesen entweder besonders zu schaffen machten oder ihnen besonders am Herzen lagen, so kann selbst dies nur in groben Zügen geschehen. 156 Neben der kulturspezifischen Sichtweise auf die Gefühle als qi-Geschehen in den Yin- und Yang-Organen sollte in der Einzelbetrachtung wenigstens der jeweilige leibliche und atmosphärische Aspekt zum Ausdruck kommen. Die Regulierung bzw. Hemmung der Gefühle und Emotionen ist dann Thema im letzten Abschnitt »Weg der Mitte«.
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
a) Spontane Gefühle Die Kennzeichnung von Freude, Trauer, Zorn, Furcht, Liebe als spontane Gefühle entspricht insofern der chinesischen Sicht, als diese Emotionen unwillkürlich entstehen, gegebenenfalls zu lenken und zu kontrollieren sind. Ehe wir einzelne Gefühle und Emotionen betrachten, ist es ratsam, sich zunächst einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Art von Gefühlen in den chinesischen Quellen überhaupt genannt sind. Im Buch der Lieder, einem der ältesten schriftlichen Dokumente, sind in regelmäßiger Wiederkehr Furcht und Einsamkeit, Trauer und Leid, Freude und Liebe, Zorn und Ärger dichterisch gestaltet. Im Zuozhuan, einem frühen Geschichtswerk 157, ist von Sechs Willensregungen die Rede, die wie folgt aufgeschlüsselt sind: Zuneigung hào 好, Abneigung wù 惡, Freude xǐ 喜, Zorn nù 怒, Kummer āi 哀 und Heiterkeit lè 樂. Sie entstehen, dem Autor zufolge, aus den Sechs qi: yin und yang, Helligkeit, Dunkelheit, Wind und Regen, sind also erstens leibliche Entsprechungen kosmischer Atmosphären und damit von außen angeregt, und zweitens sind Gefühle und Emotionen Manifestationen des alles durchdringenden qi. In dieser Liste lassen sich Zuneigung und Abneigung als die zwei Uraffekte ausmachen, aus denen heraus sich die anderen Regungen entfalten. Dafür spricht auch, daß sie in den späteren Gefühlstheorien nicht mehr erscheinen. Mit anderen Worten, Zuneigung spaltet sich auf in Freude, Lust, Heiterkeit und Liebe; Abneigung in Trauer, Kummer, Furcht und Zorn. Obwohl sich die Fünferzahl durchsetzt, ist immer wieder einmal von Sechs, vor allem Sieben Emotionen die Rede. So antwortet das Buch der Riten auf die Frage: »Was nennt man die menschlichen Gefühle? Freude/Lust xǐ 喜, Zorn nù 怒, Kummer āi 哀, Furcht jù 懼, (fürsorgliche) Liebe ài 愛, Haß wù 惡, Begehren yù 欲. Das kann man, ohne es zu lernen.« 158 Die einheitliche Fünferzählung, die in Analogie zu den Fünf Wandlungsphasen entstand, liegt vor allem der Resonanzmedi154 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
zin zugrunde. Danach sind es folgende Emotionen, die sich störend auf das Wohlbefinden der Menschen auswirken und Krankheiten verursachen: Freude xī 喜, Zorn nù 怒, Grübeln sī 思, Trauer yōu 憂 und Kummer āi 哀. Ist im medizinischen Kontext von Sieben Emotionen die Rede, so erscheinen neben den genannten: Schrecken jīng 驚 und Unruhe bzw. Schwermut yù 郁, die sich in der Fünferreihe ohne weiteres der Trauer bzw. der Furcht zuordnen ließen. Fast alle oben genannten Begriffe haben ihre Synonyme, so daß selbst innerhalb der Fünfer- oder Siebenerreihe die Auflistung nicht einheitlich ist. In medizinischen und philosophischen Texten handelte es sich vor allem um ein Zuviel des Guten, auch wenn dies im allgemeinen nicht explizit zum Ausdruck kommt. Zuviel Gefühl, also Emotion im oben definierten Sinne, liegt vor, wenn Fülle im Sinne des Überschäumens herrscht; aber auch die Dauer des Zustandes im Sinne eines anhaltenden Verharrens in einem Gefühl kann neben der Intensität des Ausbruchs schädlich oder störend sein. Das Gegenteil, eine Gefühlsanämie, scheint die Gefühlstheoretiker weniger bekümmert zu haben, allenfalls im Zusammenhang mit dem Mitleid, das als moralisches Gefühl im nächsten Abschnitt zu behandeln ist. Wenn Angehörige unserer Kultur mit Experten der Traditionellen Chinesischen Medizin zu tun haben, die vor Freude xī 喜 und Heiterkeit lè 樂 warnen, reagieren sie vielleicht mit verständnislosem Kopfschütteln. Uns fällt es in der Tat schwer, an Freude und Heiterkeit etwas Beunruhigendes oder gar Krankmachendes zu entdecken, halten wir es doch lieber mit dem Arzt und Dichter Ernst Freiherr von Feuchtersleben (1806–1849), der davon überzeugt war, daß Heiterkeit, »einfach kein Übermaß haben kann«, sie »ist immer von Gutem, dagegen die Traurigkeit ist immer vom Übel«. 159 Vielleicht hilft es weiter zu erfahren, daß schon in frühester Zeit zwischen Heiterkeit und Heiterkeit unterschieden wurde. So ist im Zhuangzi die gelassene Heiterkeit, die dem Menschen durch seine Verbindung mit dem dao beschieden ist, der dies155 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
seitigen Freude gegenübergestellt, erst recht der ausgelassenen Heiterkeit. Doch wäre es ein Mißverständnis, von daher auf ein »Credo der Apathie« oder gar auf eine Leib- und Lebensfeindlichkeit jener Epoche zu schließen. Wenn die Autoren des Zhuangzi für Gelassenheit plädieren, dann, weil sie vor Augen haben, wie die Jagd nach Lust und weltlichen Freuden die Zeitgenossen leidvoll verstrickt. Die heitere Gelassenheit, die dem im dao Wandelnden eigen ist, strömt aus der Akzeptanz des »Von-selbst-so-Seins« und dem Prinzip, »nicht absichtsvoll in den Lauf der Dinge einzugreifen«. Beides erwächst ihm aus dem Spüren kosmischer Zusammenhänge, aus der Einheit mit dem dao. In der Nachfolge dieser daoistischen All-Einheitserfahrung steht die Glückseligkeit, die auf meditativen Bergwanderungen zu finden ist. Vor allem der Chan/Zen-Buddhismus – dem daoistischen Bedürfnis nach Einklang mit der Natur ebenso zugewandt wie der Zurücknahme des Ich in der Tradition des Buddha – pflegt diese Art freudvoller Lebensintensivierung im unmittelbaren Genuß des Augenblicks. Daß sich solcherart Präsenz in allen Bereichen des menschlichen Lebens, erst recht im scheinbar grauen Alltag, verwirklichen ließ, sollen vier Verszeilen aus verschiedenen chinesischen Gedichten veranschaulichen: »Der Südwind huscht durchs Gartentor und blättert in meinem Buch.« »Vom Tempel der Ton einer Glocke, der im Smaragdgrün der Berge versinkt.« »Ein Becher Wein: Schon steigt mir der Frühling ins Gesicht.« »Als ich aufwache in der Nacht, liegt der Mond auf der anderen Hälfte der Bettstatt.« 160
Wie das Zhuangzi unterscheidet auch die konfuzianische Tradition zwischen einer gewöhnlichen und einer höheren Form der Freude bzw. Heiterkeit; und auch hier sind beide Formen als lè 樂 bezeichnet. In medizinischen Schriften ist vor allem von xī 喜 die Rede, ein Wortzeichen, das ebenfalls als Freude oder auch als
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Konzert der Gefühle
Lust zu übersetzen ist. Im Übermaß oder anhaltend genossen, führt xi – so erfahren wir – zu Störungen im Fluß des qi, insbesondere zur Schädigung des Herzens oder der Lunge, die sich z. B. in trockener Haut und mangelnder Konzentration äußern oder gar zu Verrücktheit führen könnten. Daß Freude zugleich Mit-Freude ist, belegt die Etymologie der beiden Wortzeichen lè 樂 und xī 喜: In beiden Fällen zeigen die frühen Piktogramme Musikinstrumente: einen Schellenbaum bzw. eine Trommel. Da Musik, Gesang und Tanz in früher Zeit gemeinschaftlich veranstaltet und erlebt wurden, verweist die Etymologie auf die in geselliger Atmosphäre erlebte Freude. Fragen wir nach dem leiblichen Ausdruck von Freude und Heiterkeit und ihrer Steigerung zur Glückseligkeit, so ist leibliche Weitung im Spiel, die sich in Beschwingtheit und Leichtigkeit äußert. Dabei »hüpft« nicht nur »das Herz vor Freude«, sondern der ganze Mensch wird davon erfaßt: Noch im modern-chinesischen Wortzeichen für »froh«: gāoxìng 高兴 verbirgt sich leibliche Weitung, setzt es sich doch aus »hoch« (gāo 高) und »Erhebung«, »Aufbruch« (xìng 兴) zusammen. Das leibliche Gegenteil von Freude ist Trauer (yōu 憂 bzw. bēi 悲), die mit Kummer (āi 哀) verwandt ist: Geht Freude mit leiblicher Weitung und Leichtigkeit einher, so äußern sich Trauer und Kummer sowie Angst durch Enge-Gefühle und ein Insich-Zusammensinken. Der Umgang der Daoisten mit Kummer, besonders in seiner extremen Form der Trauer über den Tod eines geliebten Menschen, war – wie nicht anders zu erwarten: Akzeptanz und Gelassenheit. Zhuang Zhou (4./3. Jahrhundert v. Chr.) geht einen Schritt weiter, indem er den Schrecken des Todes in sein Gegenteil verkehrt: Sterben ist ihm als Heimkehr ins dao Anlaß zur Freude. Anders die Konfuzianer, die den Ausdruck von Trauer befürworten. Doch soll Trauer vom Ritual begleitet und auf diese Weise kanalisiert sein, um nicht ins Maßlose zu entgleiten. Ungebührliches Weinen und Klagen verletzen nicht nur Würde und Selbstachtung, sondern schaden auch Körper und Leib – 157 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
veranschaulicht in der Geschichte des Zixia, eines Schülers von Konfuzius, der sich gegen das rechte Maß verging, indem er sich in Trauer um seinen Sohn im wahrsten Sinne des Wortes die Augen ausweinte, d. h. sein Augenlicht darüber verlor. Schon der Ahnenkult sorgt im vormodernen China dafür, daß niemand in seiner Trauer allein gelassen ist, denn jedes Trauerzeremoniell, da gemeinschaftlich veranstaltet, ist geteilte Situation – kein individueller Ausnahmezustand mit besonderen innerpsychischen Anwandlungen, wie wir das heute im Westen vielfach erleben. Zorn, die dritte Emotion nach Freude und Trauer, mit der sich die Philosophen und Pädagogen ausgiebig befassen, ist – leiblich gesehen – das Gegenüber der Scham, die zusammen mit dem Mitleid im nächsten Abschnitt ausführlicher zur Sprache kommt. Zorn und Scham sind insofern komplementäre Emotionen, als sie entgegengesetzte leibliche Richtungen repräsentieren – wie Freude und Trauer auch: Scham bewirkt Engung bis hin zum Wunsch nach Schrumpfung und Selbstauflösung, während Zornesfülle die Weite sucht, angedeutet z. B. in der eindrucksvollen Redewendung von der »anschwellenden Kappe, wenn der Zorn ausfährt«; auch bei uns suchen die Haare, die uns zu Berge stehen, die Weite, wenn alles nach Entladung drängt. Aus einem weiteren Grund können Zorn und Scham als komplementäre Emotionen gelten, denn das eine kann in das andere übergehen: Chinesische Texte belegen zuhauf, wie Menschen sich schämen, wenn sie sich von Zorn oder Wut haben hinreißen lassen, und umgekehrt, daß Beschämung statt in Reue auch in Zorn umschlagen kann. Wurde und wird Scham oder vielmehr die Angst vor Beschämung in China gutgeheißen, so war zornige Ichbehauptung stets sanktioniert. In einer Gesellschaft, in welcher der Einzelne nur als Glied einer Gemeinschaft Daseinsberechtigung hat und soziale Identität genießt, kann es sich niemand leisten, diese gemeinsame Situation leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Im allgemeinen wird Zorn im Chinesischen mit dem Wortzeichen nù 158 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
怒 ausgedrückt, das in den frühesten Textstellen über Zorn und Wut hinaus »heftig«, »lebenskräftig«, »üppig wuchern« bedeutet. Neben dem darin angedeuteten Bild der Fülle wird zugleich Weitung suggeriert, z. B. im Bild der »Flamme, die zornig bzw. heftig auflodert«. Auch im Blick, den das »zornige Auge ausschickt«, ist leibliche Richtung angedeutet, die aus der Enge in die Weite führt. Neben Freude, Trauer und Zorn standen Furcht (jù 懼) und Angst (kǒng 恐) ganz oben im Katalog der spontanen Gefühle. Beide Wortzeichen sind im Chinesischen synonym gebraucht. Die auf Kierkegaard zurückgehende Unterscheidung zwischen Furcht, die sich auf etwas Bestimmtes bezieht, auf der einen Seite und einer existentiellen Ich-Angst auf der anderen macht im Kontext des vormodernen China wenig Sinn. Neben der Furcht vor Beschämung beunruhigte offenbar die Angst vor falschen Entscheidungen. Aus diesem Grunde soll der Philosoph Mozi (5./4. Jahrhundert v. Chr.) geweint haben, als er an einem Scheideweg stand. Auch das heute noch gängige Sprichwort »Der Vorsichtige wird nichts Falsches tun« ist in diesem Sinne gemeint. Furcht und Vorsicht liegen also nah beieinander, und die Vorsicht rangiert so hoch im vormodernen chinesischen Denken, daß Draufgängertum und Heldentum nur selten verherrlicht sind. Furcht vor Göttern und Geistern, vor Krankheit und Tod, vor wilden Tieren, vor dem Krieg und nicht zuletzt die Furcht, von den Seinen getrennt zu sein, ist immer wieder Thema der schönen Literatur. Im Folgenden ein Vers aus dem Buch der Lieder. Aus dem Kontext eines Feldzuges zu schließen, geht es hier um eine Furcht, die sich aus mannigfaltigen Gefühlen speist. Die Metaphorik spricht zugleich für Verhaltenheit bzw. leibliche Engung, die Furcht und Angst begleiten – auch unser Wort Angst kommt von Engung: »So geht es zitternd, bänglich leis Als wäre man am tiefen Abgrund Als schritte man auf dünnem Eis …« 161
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
b) Moralische Gefühle Unter den moralischen Gefühlen finden sich im offiziellen traditionellen Wertesystem Scham und Mitleid an erster Stelle. Im Gegensatz zu den spontanen Gefühlen setzen diese in der individuellen Entwicklung bereits Ichbewußtsein im Sinne subjektiver Betroffenheit voraus, aber auch eine gewisse Erfahrung mit den Werten der Gemeinschaft. Zunächst zu Scham und Schuld, die im chinesischen Kontext nicht in der Weise zu differenzieren sind, wie das in den dreißiger und vierziger Jahren von westlichen Ethnologen getan wurde; diese siedelten nämlich – eurozentrisch und reduktionistisch – die Schuld im Innern der Psyche an, während Scham bzw. Beschämung eine bloß äußerliche Angelegenheit sei. Im Folgenden herrscht eine andere Sichtweise vor: Wie alle anderen bisher erläuterten Gefühle äußerten sich auch Scham- und Schuldgefühle als leibliche Regungen, in diesem Fall: Engung, so daß sie schon dadurch als räumlich erlebte Gefühle ausgezeichnet sind; darüber hinaus sind Scham und Schuld gleichermaßen Gefühlsatmosphären, betreffen doch beide als moralische Empfindungen das Relationale, die Zwischenmenschlichkeit. Scham und Schuld haben mit Angst und Furcht insofern zu tun, als jede Person Sorge zu tragen hat, durch ihr Verhalten weder die Gefühle der anderen noch die Interessen der Gemeinschaft zu verletzen. Angst vor Stigma, Furcht vor Verstoßung sind demnach Vorgefühle von Scham und Schuld. Auch im analogen leiblichen Spüren zeigt sich, daß Angst und Scham zusammengehören: So äußern sich Scham- und Schuldgefühle in leiblicher Engung, die etymologisch ja auch unserem Wort Angst zugrunde liegt. Zugleich ist das Empfinden leiblicher Engung verantwortlich für die mit Scham verbundenen Hitzewallungen und Schweißausbrüche. In der heute noch gängigen chinesischen Redewendung »Rotwerden bis zu den Ohrwurzeln« ist die mit Hitzewallung einhergehende Rotfärbung aus Scham angedeutet, die uns ja auch nicht fremd ist. Die Schamesröte bis 160 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
über die Ohren mag auch der Schreibweise des häufigsten Zeichens für Scham chǐ 恥 zugrunde liegen, setzt es sich doch aus einem Ohr 耳 und dem Herzen 心 als Sitz der Gefühle, des Denkens und Urteilens zusammen. Daneben schildern die chinesischen Quellen als leiblichen Ausdruck von Scham das In-sich-Zusammenfallen und das Sich-Verstecken-wollen – beides leiblicher Ausdruck des Gefühls, in die Enge getrieben zu sein: »Selbst wenn hundert Generationen darüber hingehen, meine Schande wird nur immer noch größer werden. Dies sind die Gedanken, die mich neunmal am Tag bedrängen … Ununterbrochen muß ich über meine Schändung nachgrübeln, der Schweiß tritt immer wieder hervor auf meinem Rücken und benetzt mir die Gewänder … Ach, wenn es mir doch vergönnt wäre, mich aus allem herauszuziehen und mich fernab in einer Felsenhöhle zu verkriechen!« 162
So schrieb der Historiograph Sima Qian (um 145–90 v. Chr.), der als Opfer eines Mißverständnisses zur Strafe kastriert worden war, weil er glaubte, dadurch Schande über seine Vorfahren gebracht zu haben. Andere gravierende Formen der Fluchtbewegung aus Scham, welche die Texte nennen, sind Gedächtnisverlust, Todessehnsucht, Selbstmord und plötzlicher Tod. Typische Schamsituationen stellen sich ein, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, z. B. bei Mißerfolg – gleichgültig, ob selbst verschuldet oder unverschuldet: so die Niederlage im Krieg oder das Nichtbestehen der Beamtenprüfung. Hierzu ein hübsches Gedicht von einer Frau, die im 7. Jahrhundert lebte und ihrem Ehemann, der wieder einmal durch die Prüfung gefallen war, folgenden Vers zukommen ließ: »Du hast ein seltenes Talent, mein kluger Mann! Wie kommt’s, daß man dich Jahr für Jahr erneut nach Hause schickt? Wenn du dich schämst, mir ins Gesicht zu sehen, dann komm doch, wenn du kommst, beim Nah’n der Dunkelheit.« 163
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Neben der Nichterfüllung von Erwartungen ging es in Schamsituationen immer auch um herrschende Werte und Normen, wie mangelnde Loyalität dem Herrscher gegenüber, kindliche Pietät, pflichtbewußtes, überhaupt zwischenmenschlich rechtes Handeln. Aber auch die Einhaltung der guten Sitten gehörte zum rechten Tun – vom Hofzeremoniell über die Riten des Ahnenkultes, die Feierlichkeiten im Lebenszyklus bis hin zur bloßen Etikette formaler Höflichkeit. Ein gravierender Verstoß gegen die Loyalität war es z. B., wenn ein hoher Beamter nicht einem, sondern zwei Herrschern treu ergeben war. In dieser Hinsicht war Yan Zhitui (531–590), Beamter und Gelehrter, vom Pech verfolgt, lebte er doch in einer Zeit, wo Dynastien einander nur so jagten. Nicht weniger als vier Dynastien hatte er gedient. Seine Lebensbetrachtung, in der er von eindrucksvollen Metaphern der Engung und Hitze Gebrauch macht, beginnt mit folgenden Worten: »Ein einziges Leben war mir bloß gegeben, aber drei Umstürze habe ich in ihm erfahren, in denen mir die Bitternis der Saudistel und die Schärfe des Knöterichs zuteil wurden. Ein Vogel bin ich, dem man seinen Wald verbrannt und dessen Flügel man gestutzt hat, ein Fisch, dem man das Wasser genommen hat und dessen Schuppen nun in der Sonne dörren. Ach, so wild und weit ist die Welt – ich schäme mich, keinen Ort gefunden zu haben, um meinen Leib zu bergen.« 164
Die dritte große Kategorie von Schamsituationen – neben Nichterfüllung von Erwartungen und Verstoß gegen Werte und Normen – umfaßt alle Formen mangelnder Selbstbeherrschung, wie Völlerei und Trinklust, Profitgier und Geschwätzigkeit. Letzteres galt bei Frauen sogar als Scheidungsgrund. Mangelnde Selbstbeherrschung verrieten vor allem die Ausbrüche von Eigensinn und Jähzorn, von denen schon die Rede war. Selbstkritisch äußert sich dazu Wu Yupi, ein Gelehrter, der im 15. Jahrhundert lebte: »Jedesmal, wenn meine gute Natur wieder durchkam, war ich so entsetzt über mich, daß ich kaum mehr wußte, wo ich mich in meiner Scham verstecken sollte.« 165 Hier
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Konzert der Gefühle
stand Selbstachtung auf dem Spiel, die in der chinesischen Gelehrtenkultur so hoch rangierte, daß nur aufmerksame Selbstbeobachtung und Selbstkultivierung 166 die persönliche Würde zu garantieren vermochte: der achtsame Umgang mit sich selbst als das »Tragen eines randvollen Gefäßes«. Wenn Fehlverhalten so heftige Schamreaktionen auslösen konnte, so ist es kein Wunder, daß man versuchte, Schamsituationen tunlichst zu vermeiden. Genau darum ging es, denn das Vorgefühl der Scham, die Furcht und die damit verbundene Zurückhaltung dienten letztlich dazu, das rechte zwischenmenschliche Tun zu gewährleisten, während Scham und Sühne nach getaner Tat die gute Ordnung wiederherstellten. Wie Scham- und Schuldempfindungen sind Mitleid und Mitgefühl komplexe Regungen, die sich im Verlauf der Sozialisation während der ersten Lebensjahre herausbilden. Im Gegensatz zu Xunzi (298–238 v. Chr.), dessen Gedanken um die spontanen Gefühle kreisen, ist Mengzi (372–289 v. Chr.) mehr mit den moralischen Gefühlen befasst: mit Scham und Mitleid, Bescheidenheit und Sinn für Angemessenheit, die er sämtlich für angeborene Herzensbestrebungen hält. Daraus leitet er auch die gute Natur des Menschen ab. Mengzis Theorie des Mitleids wirkte bis in das 20. Jahrhundert hinein nach. Ist in den Gesprächen des Konfuzius allgemein von der Liebe (aì 愛) zu den Menschen und vom rechten zwischenmenschlichen Verhalten (rén 仁) die Rede, so führt Mengzi gleich mehrere Begriffe ein für Mit-Leid als einer besonderen Form der Menschenliebe. Wendungen wie »ein Herz, das Schmerz/Trauer beherbergt« (cè-yǐn-zhī-xīn 惻隱之心), »ein Herz, das [die Leiden anderer] nicht erträgt« (bù-rěn-zhī-xīn 不忍之心) sowie die Abkürzung »nicht ertragen« (bù-rěn 不忍) sind Umschreibungen, die sich als feste Begriffe für Mitleid und Mitgefühl durchgesetzt haben. Im frühdaoistischen Kontext (im Daodejing) findet sich, das Wortzeichen Barmherzigkeit cí 慈, im Buddhismus dann das aus Barmherzigkeit und Trauer zusammengesetzte Kompositum: cí-bēi 慈悲. Das im heutigen China für Mitleid und Mitgefühl 163 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
geläufige tóngqíng 同情 bedeutet wörtlich »gemeinsame Situation« bzw. »einträchtig«. So sind auch in dieser modernen Zusammensetzung Mitleid und Mitgefühl als relationale Empfindungen ausgezeichnet: als Atmosphäre, welche die Menschen teilen – wie es auch im deutschen Präfix »mit« angedeutet ist. So gesehen, dürften Mit-Leid und Mit-Gefühl mit leiblicher Weitung verknüpft sein, und die gemeinsame – Subjekt und Objekt übergreifende – Situation stellt sich als eine Form wechselseitiger Einleibung dar. Die leibliche Richtung von Mitgefühl ist also Weitung. Als Aufforderung an Herrscher und Beamte zieht sich das Mitleid wie ein roter Faden durch die politische Geschichte Chinas. Ein typischer Vertreter der konfuzianischen Elite, dessen Leben und Wirken diesem Ideal des mitfühlenden Beamten gehorchte, war der Reformer Fan Zhongyan (989–1052). Folgende Passage aus seiner Abhandlung »Aufzeichnungen vom Yueyang-Turm« ist darüber hinaus von Bedeutung, weil hier wiederum die aus dem Mitgefühl gewonnene höhere Freude angesprochen ist: »Die Menschen des Altertums waren Menschen, die sich an äußeren Dingen erfreuten und sich auch nicht über das eigene Schicksal bekümmerten: Als hohe Würdenträger am Hofe waren sie um das Wohlergehen ihres Volkes besorgt, unterwegs auf fernen Flüssen und Seen um das Wohl ihres Herrschers besorgt. So waren sie immer besorgt, ob im Amt oder im Rückzug vom Amt. Und wann empfanden sie Freude? Die Antwort darauf sollte wie folgt lauten: ›Sie sorgten sich schon, bevor das Reich sich sorgte; sie freuten sich erst, nachdem das Reich sich freute.‹« 167
Die letzten Zeilen verwendete dann auch der Song-Gelehrte Ou-yang Xiu (1007–1072) in seiner Grabinschrift für Fan Zhongyan; noch heute sind sie als sprichwörtliche Redensart jedem gebildeten Chinesen ein Begriff. Mitgefühl und Mitleid erfuhren eine neue Dimension, da der in der frühen Kaiserzeit nach China einströmende Buddhismus die Tugend der Barmherzigkeit über die Menschen hinaus auf 164 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
alle Lebewesen ausdehnte. Die Liebe zu allem, was »da kreucht und fleucht«, zeigte sich nicht zuletzt in der seit der Mittleren Kaiserzeit innerhalb der Gelehrtenkultur verbreiteten vegetarischen Ernährungsweise. Damals war es dann auch der Neokonfuzianer Zhang Zai (1020–1077) (s. I.1.c), der das auf den Menschen bezogene Mitleid auf alle Wesen übertrug. Ein Erbe seines erweiterten Mitleidsgedankens in der Späten Kaiserzeit wurde Wang Yangming (1472–1529). Ihm war das durch Mengzis Brunnenparabel veranschaulichte spontane Mitleiden und Mitfühlen Ausdruck für das intuitive Wissen aus dem Gefühl der Gemeinsamkeit mit allem Seienden heraus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden im Rückgriff auf Mengzi Mitleid und Mitgefühl noch einmal neu thematisiert. Es begann mit der Feststellung der Zeitgenossen, daß die chinesische Bevölkerung kalt und egoistisch sei, unempfindlich gegen die Leiden anderer – eine Feststellung, die in jener Zeit auch von westlichen Reisenden aus dem Land der Mitte nach Hause getragen wurde. Die konstatierte Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer verwundert nicht vor dem Hintergrund der chaotischen Verhältnisse zur Zeit eines allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenbruchs seit Mitte des 19. Jahrhunderts, der häufig mit dem Ausdruck »Wirren im Innern und Unheil von Außen« gekennzeichnet wird. Chinesen selbst führten die Gleichgültigkeit allerdings auf die traditionelle Tugend der Duldsamkeit zurück, welche die Menschen von klein auf dazu abrichtete, alles ertragen zu können. Das Kultbuch zum Thema Mitleid und Mitgefühl wurde der Roman Lao Can youji (Tagebuch des Lao Can) von Liu E (1857– 1909); er wollte »die Menschen aufwühlen, berühren, betroffen machen, anstecken, damit sie mitleidvoll werden«. 168 In Liu Es Fußstapfen traten im 20. Jahrhundert die Protagonisten der Neuen Literaturbewegung (1917–1942). Auch sie trachteten danach, die Emotionslosigkeit und Grausamkeit ihrer Mitmenschen zu überwinden, indem sie das Leiden und Mit-Leiden in 165 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
der Umgangssprache literarisch gestalteten. Bewußt knüpften sie an Mengzis Mitleidsbegriff an und ersetzten so in gewisser Weise die Riten und die Musik, mit denen die frühen Konfuzianer die Menschen moralisch zu beeinflussen suchten, durch Romane und Kurzgeschichten. Die gegenwärtige Entwicklung in China scheint der Tugend des Mitleids auch keine goldenen Tage zu bescheren. Zwar funktionieren nach wie vor die Werte innerhalb von Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und unter Arbeitskollegen, d. h. in den elementaren Solidargemeinschaften. Im Gegensatz dazu ist der Umgang in der anonymen Gesellschaft in einem erschreckenden Maße von Gleichgültigkeit, wenn nicht Feindseligkeit gekennzeichnet.
c) Der Weg der Mitte Es ist gut möglich, daß keine Gesellschaft so entschieden auf die Wirkung von Erziehung und Selbsterziehung vertraute wie die chinesische: »Der Meister sprach: Von Natur aus sind die Menschen ähnlich; die Gewohnheiten bewirken die Unterschiede.« 169 Gerade die Philosophen in der Tradition des Konfuzius, denen am rechten Zusammenleben der Menschen gelegen war, konnten nicht anders, als der Erziehung und Selbsterziehung größte Aufmerksamkeit zu schenken. So ist denn auch das allererste Kapitel im Buch Xunzi mit »Aufforderung zum Lernen« überschrieben. Das »Lernen wozu?« erläutert Xunzi (298–238 v. Chr.) im zweiten Kapitel, das den Titel »Selbstkultivierung« 170 trägt. Bei diesem Diskurs, der wie ein Grundmuster die Philosophiegeschichte bis in die Gegenwart hinein durchwirkt, deutet viel darauf hin, daß es den großen Philosophen nicht so sehr um Beherrschung und Selbstbeherrschung im Sinne einer Gängelung und Unterdrückung ging. Ihre Gedanken drehten sich vielmehr um Selbstkultivierung – aus Selbstachtung heraus, aber auch im Sinne eines friedlichen Miteinander, d. h. im Sinne einer auch ethisch verstandenen Zivilisierung. Gleichzeitig hat 166 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
es den Anschein, als übten sie Selbstbeschränkung um einer subtileren Genußfähigkeit willen. Genau darin lag nicht zuletzt der Wert der Riten und Musik, die als gestaltete Gefühlsmächte die Befindlichkeit der Menschen zu heben und zu harmonisieren vermochten. Auf die Nahrung bezogen, heißt das, nicht nur zu essen um des Essens, sondern auch um des feinen Schmeckens willen. Die Wertschätzung des Essens war umso selbstverständlicher, als die vielfältigen Geschmacks- und Geruchsatmosphären als Manifestation des qi nicht zuletzt an dessen kosmische Herkunft gemahnten. Selbstbeschränkung bedeutete, so gesehen, also nicht Verzicht, sondern umgekehrt höheren Genuß. Analoges gilt für Farben und Töne sowie für Erotik und Sexualität. Da der Mensch nun einmal ohne diese vielfältigen Wünsche nicht leben kann, geht es nicht darum, ihm die Wünsche auszutreiben, sondern ihn »richtig wünschen zu lehren«. 171 Ziel der Selbstkultivierung war es also, über die Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung dao zu einer verfeinerten Sinnlichkeit zu gelangen. Askese und Selbsterniedrigung um der Askese willen war den frühen Konfuzianern nämlich sehr wohl verhaßt; deshalb wäre es auch fehl am Platz, ihnen Körper- und Leibfeindlichkeit zu unterstellen. Mengzi (372–298 v. Chr.) verhöhnte z. B. einen gewissen Zhongzi, der sich eben dadurch einen Namen gemacht hatte: »So jemand wie Zhongzi muß sich erst in einen Erdwurm verwandeln, bevor er seine Prinzipien verwirklichen kann.« 172 Zu Beginn der Reichsgründung erfuhr die Tradition des Konfuzius eine Wiederbelebung, denn das geeinte und bürokratisch verwaltete Kaiserreich, als erweitertes Friedensgebiet, konnte Werte wie Harmonie und Rücksichtnahme auf Dauer hervorragend gebrauchen. So ist es kein Wunder, wenn im Buch der Riten dieser Idee ein ganzes Kapitel gewidmet war: Schon im Titel »Zhong-yong« erklingt die Aufforderung nach der Praxis der Mitte zhōng 中. Danach ist die Mitte der Zustand, in dem sich kein beunruhigendes Begehren und keine störenden Emo167 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
tionen breitmachen. »Zustand« ist schon unangemessen als Begriff, denn es geht nicht um Verharren, sondern um situatives Austarieren und ein Immer-Wieder-Finden der Mitte. Im 7. Kapitel des Buches Huainanzi, das aus dieser Epoche stammt, ist das Freisein von Emotionen ein Merkmal des Heiligen Menschen. Da sich die Verfasser des Huainanzi der daoistischen Tradition verpflichtet fühlten, ist es zugleich ein Zeugnis dafür, daß der Weg der Mitte auch in diesen Kreisen gepflegt wurde – bei allem Lob der Spontaneität und des Von-selbst-soSeins. Zwar suchten die Daoisten die Mitte nicht um der guten Gesellschaftsordnung willen, sondern aus dem Bedürfnis, eins zu sein mit dem dao, einer Befindlichkeit, in der mit aller Differenzierung auch das Begehren entfiel. Aus einer solchen Einstellung heraus war die eigene Mitte identisch mit der großen Gelassenheit von Kosmos und Natur. In der nachfolgenden Epoche der Frühen Kaiserzeit setzte sich der Diskurs über den Weg der Mitte geradlinig fort. Nach wie vor galt die selbstauferlegte Entbindung von Begehren und Emotionen als das Kriterium, das den wissenden Menschen vom gewöhnlichen unterschied. Und nach wir vor wurde darüber gestritten, ob Askese und kühle Entrücktheit den Weg der Vollendung begleiten oder ob diese als Rigorismus abzulehnen seien. Auch im Sinne der Lebensverlängerung war der Weg der Mitte dringend geboten. Ihr herausragender Vertreter war Ge Hong (um 280–340), der in Philosophie ebenso bewandert war wie in Medizin und Alchimie. Seine Vorstellungen vom Vollkommenen Menschen kreisten ebenfalls um das Eintauchen in kosmische Weite und die Einheit mit dem dao, die man sich durch emotionale Verstrickung und Geschäftigkeit nur selbst verstellt: »Der Vollkommene Mensch übt sich im Nicht-absichtsvollen Eingreifen in den Lauf der Dinge (wú-wéi 無為). Dabei verweilt seine Lebens-/ Geisteskraft in der weiten Leere. Da er nicht hinter Lohn und Profit herjagt, reichen Verlust und Ungnade nicht an ihn heran … Viele Wün-
168 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Konzert der Gefühle
sche zu haben, verdirbt die Ausgewogenheit, deshalb läßt er ohne Bedauern ab von den Angelegenheiten der Welt. Wer nach hoher Stellung strebt, wird sich viel Kummer einhandeln. Deshalb wendet der Vollkommene Mensch Macht und Profit den Rücken und will davon für sich nichts haben.« 173
Die gesundheitsschädigende Wirkung von übermäßigem Begehren und aufwühlenden Emotionen ist als ein wichtiges Thema auch in den Texten der Resonanzmedizin gegenwärtig: Fülle von qi im Sinne eines »Zuviel« stört die leibliche Ökonomie und Harmonie ebenso wie Leere, Mangel an qi. Emotionen als Ausdruck eines aus dem Gleichgewicht geratenen qi sind also besser zu vermeiden: »Der Mensch hat fünf Speicherorgane; diese wandeln die Fünf qi um und bringen so Freude, Zorn, Trauer, Melancholie und Furcht hervor … Die hundert Krankheiten entstehen im qi. Bei Zorn steigt qi auf, bei Freude erhitzt es sich, bei Trauer verflüchtigt es sich, bei Furcht sinkt es ab, bei Schrecken gerät es durcheinander, bei übermäßigem Nachdenken verknotet es sich.« 174
Der Zusammenhang zwischen Emotionen und den einzelnen Speicherorganen (yin), mit anderen Worten die Gefahr der Zusammenballung, Verknotung und Stauung von qi ist im folgenden Passus aus dem Klassiker des Gelben Kaisers (Huangdineijing) angesprochen: »Verdichtet sich das essentielle qi im Herzen, dann entsteht Freude. Verdichtet es sich in der Lunge, dann entsteht Trauer. Verdichtet es sich in der Leber, dann entsteht Kummer; verdichtet es sich in der Milz, dann entsteht Furcht und Scheu. Verdichtet es sich in den Nieren, dann entsteht Angst. Das sind die Fünf Verdichtungen.« 175
Im philosophischen Daoismus wurde die Vermeidung der Extreme als willkommene »Fadheit« 176 gefeiert. Auch der Ausdruck »Geschmack des Schmacklosen« 177 trifft das Ideal der bescheidenen Mitte. Auf die Selbstkultivierung bezogen bedeutet Fadheit, ein unaufdringliches und schlichtes Wesen zu pflegen bis hin zum Ideal der Unbeholfenheit. Im gesamten autobiographischen 169 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
Schrifttum der Frühen Kaiserzeit kehrt diese Art der Selbststilisierung immer wieder. Sie kennzeichnet auch die chinesische Tusche-Malerei, die in jener Epoche Abschied nimmt von der Farbe, weil die Schattierungen zwischen Weiß und Schwarz Ausdruck der angestrebten »Schmacklosigkeit« sind. Daß auch die neokonfuzianischen Philosophen den Weg der Mitte beschritten, zeigt sich spätestens, als Zhu Xi (1130–1200) das entsprechende Kapitel »Zhongyong« aus dem Buch der Riten zu einem eigenständigen Klassiker im konfuzianischen Kanon erklärt. Darüber hinaus verdankt die Selbstkultivierung dem Neokonfuzianismus eine weitere Note, die im Buch der Riten bereits angekündigt war: Nicht mehr nur der Edle und der Herrscher waren aufgefordert, die Mitte zu suchen: Jeder konnte und sollte in diesem Sinne ein »Berufener« sein: »Vom Himmelssohn bis hin zum einfachen Menschen gilt die Pflege der Persönlichkeit als Grundlage des Lebens. Wer seine Persönlichkeit pflegen will, der mache zuerst sein Herz richtig. Das nennt man auch Selbstachtung.« 178
So gesehen, ließe sich das neokonfuzianische Ideal der Selbstüberwindung in der Tat als Ausdruck von Selbsteinkehr und Selbstachtung verstehen, so daß es, wie in den vorangegangenen Diskursen, letztlich um das richtige Haushalten mit der eigenen Lebens-, Bewußtseins- und Geisteskraft ging. Diese wurde je nach Kontext mehr philosophisch oder moralisch, mehr religiös oder mehr medizinisch begründet. Und doch sprechen die Quellen auch eine andere Sprache. Die Merksätze eines gestrengen Neokonfuzianers vom Schlage des schon zitierten Fang Xiaoru (1375–1402) muten lebensfeindlich und lebenshemmend an: »Wenn dich die Leute loben, so hüte dich, darüber Freude zu empfinden. Denn die Freude über das Lob macht dich hochnäsig und deine Tugendkraft täglich geringer … Wodurch entsteht wahre Freude? Durch Freisein im Herzen von Gewissensbissen und Scham! Wodurch entsteht Kummer? Durch leichtfertiges Beginnen und viele Wünsche..!
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Konzert der Gefühle
Freust du dich in deinem Herzen, so sollst du doch darum nicht lachen …!« 179
Daß es sich dabei nicht um die Bärbeißigkeit eines misanthropischen Sonderlings handelte, sondern durchaus dem Geist einer im Prozeß der Zivilisation fortgeschrittenen Zeit entsprach, bestätigt der Reformer Fan Zhongyan (989–1052): Vor dem Hintergrund seiner Auffassung von Mitte mißfiel ihm nämlich das »Nähren von qi«, eine inzwischen fest etablierte ästhetische Figur der Gelehrtenkultur, die auch die Landschaftsmalerei, die Kalligraphie, die Musik, Dicht- und Gartenkunst seiner Epoche beflügelte. 180 Hier wurden Moral auf der einen Seite und Lebenskraft als Ausdruck leiblichen Wohlbefindens auf der anderen auseinanderdividiert: Fan Zhongyan hielt das Ideal der ungerührten und damit freudlosen Mitte jener Empfindsamkeit entgegen, die auf das Atmosphärische einer Landschaft reagierte und sich davon zu Bildern und Versen hinreißen ließ. Nun mag man den Verfechtern von Maß und Mitte zugutehalten, daß es der Lehre selbst nicht anzulasten ist, wenn mancher Neokonfuzianer bei dieser Idee dann doch vom Weg der Mitte abkam und abglitt in Strenge und Selbstgerechtigkeit. Doch gerade das Gedankengebäude des Zhu Xi (1130–1200) hielt Konzepte bereit, die diese Einseitigkeit philosophisch untermauerten. Es gab also nicht nur die dogmatischen Anwender von »Mitte und Beständigkeit«, auch die neokonfuzianische Philosophie befürwortete Leib- und Lebenshemmung – zumindest eine Richtung, und zwar genau die des Zhu Xi, der als einziger eine in Ansätzen reduktionistische und dualistische Weltsicht formulierte, wenn auch nicht durchgängig und konsequent. In jedem Fall hat die Nachwelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zhu Xis Variante des Neokonfuzianismus für Leib- und Lebensfeindlichkeit verantwortlich gemacht, allen voran der schon erwähnte Liu E (1857–1909):
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III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes
»Die drei Geschäfte (Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus) stellen Gemischtwarenhandlungen dar, wo jeder Brennholz, Reis, Öl und Salz kaufen kann … Im Konfuzianismus finden wir die Brüderlichkeit und Selbstlosigkeit in ihrer höchsten Gestalt … Zhu Xi kam aus diesem engen Denkschema nicht mehr heraus … Er vollbrachte … die glorreiche Tat, die Aussage von Konfuzius’ Lehrgesprächen bis hin zur Unkenntlichkeit zu verdrehen … Konfuzius hat einmal gesagt: ›Was ist aufrichtiges Denken? Es bedeutet, sich selbst nicht zu belügen. Es ist wie der Ekel vor schlechtem Geruch oder wie die Zuneigung zu einem anmutigen Mädchen!‹ Aber er hat auch gesagt: ›Man soll die Tugend lieben, wie man eine Frau liebt.‹ Die Konfuzianer der Songzeit dagegen predigten allein die Liebe zur Tugend, von der anderen Liebe sollen wir, so scheint es, lassen. Ist das nicht ein eklatanter Selbstbetrug … Konfuzius hat die Gefühle und guten Sitten einander gegenübergestellt, doch einen solchen Gegensatz der Begriffe Prinzip und Begierde finden wir bei ihm nicht.« 181
Der Gerechtigkeit halber sollte betont werden, daß nicht Zhu Xi allein, nicht einmal nur der Neokonfuzianismus, die alleinige Schuld an der zunehmenden Leib- und Lebenshemmung trug. Die emotionslose Gelassenheit, welche die Daoisten pflegten, hatte ihren Anteil daran ebenso wie die Lebensüberwindung des chinesischen Buddhismus. Letztlich strickten alle drei großen Traditionen an demselben Muster, so daß der Weg der Mitte – allzu rigoros verfolgt – zu jener Gefühlserstarrung führen konnte, die noch im 20. Jahrhundert die Vertreter der Neuen Literaturbewegung (1917 bis 1942) beklagten und zu überwinden suchten.
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Schlußwort
Das vorliegende Buch hat sich zur Aufgabe gemacht: erstens die für das vormoderne China konstatierte ganzheitliche Sicht auf Mensch und Welt einmal ganz anders zu erklären, nämlich vom gespürten Leibe her; zweitens die Gefahren zu erkunden, die dieser Ganzheit drohten. Wenn am Ende des Buches eine Bilanz zu ziehen ist, so könnten es folgende zehn Thesen sein: 1. Die ganzheitliche Sicht auf Mensch und Welt war von Anfang an kein naiver Glaube, denn jede philosophische Besinnung setzt das Erleben von Differenz voraus: zwischen Mensch und Welt, zwischen abstandnehmendem Selbst und spontanen leiblichen Regungen. 2. So gesehen, ging es vor allem darum, sich immer wieder aufs Neue der bedrohten Ganzheit zu vergewissern, immer wieder Einheit zu beschwören und zu suchen. 3. Unter den philosophischen Begriffen und Konzepten ragt eine signifikante Denkfigur heraus, die dafür verantwortlich ist, dass die Vorstellung und Praxis von Ganzheit letztlich nicht verlorenging: die Lehre vom qi, das im vorliegenden Buch nicht nur als Lebenskraft, sondern auch als Atmosphäre gedeutet wird. 4. Das bedeutet zugleich, daß die chinesische Ontologie und Anthropologie unter den festen, flüssigen und gasförmigen Phänomenen der Welt letztere erwählte, also dem FließendAtmosphärischen den Vorzug gab, ohne die sicht- und tastbaren Festkörper zu unterschlagen. 5. So erklärt sich auch, warum das Augenmerk vor allem auf das Dazwischen gerichtet war: auf die Wirkung der Kräfte, auf das Relationale, den Kontext, auf das Sein-für-anderes, auf Resonanz und die geteilten Situationen – und warum die Sache 173 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Schlußwort
selbst von der Funktion im Gesamtzusammenhang entscheidend geprägt war. 6. Dieser Sichtweise entspricht eine weitere Denkfigur, das Verhältnis zwischen der Grundgegebenheit ti und der Funktion yong, die mit den Metaphern vom Messer und des Messers Schneide, von der Kerze und der Flamme die Ganzheit begrifflich festmachen konnte. 7. Neben Begriffen und Konzepten dienten bestimmte Kulturtechniken und Leibübungen im weitesten Sinne des Wortes dazu, die Einheit von Mensch und Welt ebenso in der Lebenspraxis zu verankern wie die ganzheitliche Verfassung des Menschen. Davon kamen zur Sprache: die Vorstellungen von weiblicher und männlicher Schönheit, Kalligraphie als Lebenspflege und Geomantik als Kunst des Wohnens im umfriedeten Raum. 8. Der Vorrang der Atmosphären – einfach nur genossen oder ganz bewußt hervorgebracht – bestimmte auch den Alltag, beim Essen und Trinken, im Garten und Wohnbereich, bei Liebe, Erotik und Sexualität. 9. Am spezifischen Habitus der chinesischen Gelehrtenkultur, der im leiblichen Spüren gründete, zehrten verschiedene gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sowie die wachsende Selbstbehauptung des Menschen gegenüber Kosmos und Natur wie auch gegenüber der eigenen Spontaneität. 10. Gefahr für die Ganzheit drohte, so hat es den Anschein, wenn die Begriffe und Konzepte sich vom Boden der Phänomene lösten und das Spekulieren überhandnahm.
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Anhang Zeittafel
Die Frühe Hochkultur Shang/Yin
ca. 18.–12. Jh. v. Chr.
»Feudalzeit« Zhou
ca. 12. Jh. bis 221 v. Chr.
Frühe Kaiserzeit Qin Han Drei Reiche Jin Westl. Jin Östl. Jin Süd- und Norddynastien Sui Tang
221 bis 207 v. Chr. 206 v. Chr. bis 220 220 bis 265 265 bis 420 265 bis 317 317 bis 420 420 bis 581 581 bis 618 618 bis 906
Mittlere Kaiserzeit Fünf Dynastien und Zehn Staaten Song Nördl. Song Südl. Song Jin (Jurchen)
907 bis 960 960 bis 1279 960 bis 1127 1127 bis 1279 1115 bis 1234
Späte Kaiserzeit Yuan (Mongolen) Ming Qing (Mandschu)
1271 bis 1368 1368 bis 1644 1644 bis 1911
Republik China
1911
Volksrepublik China
1949 175
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Endnoten
Zur Einführung 1
In der philosophischen Diskussion auch unter dem Stichwort »LeibSeele-Problem« behandelt; vgl. Metzinger 1995. 2 (S. 11) Man denke nur an die Verkrüppelung der Füße, die in China bis ins 20. Jahrhundert hinein kleinen Mädchen angetan wurde. 3 (S. 12) Vgl. Schmitz, System der Philosophie 1964–1980; Großheim/Volke 2010; Werhahn 2003. (S. 10)
I. Lebenskraft und Atmosphäre: Die Leitmotive 4
Zhuangzi, Kap. 7.7 »Yingdiwang«, Legge o. J., S. 315. Zur Textgeschichte und einer »ausgewählten problemorientierten« neuen Übersetzung vgl. Kubin 2013. 5 (S. 21) Hanshan, Gedicht Nr. 73, Red Pine 1983, übers. in Anlehnung an Schuhmacher 1980, S. 81. 6 (S. 22) Zur Textgeschichte vgl. Simon 2009, S. 266 ff. sowie Kubin 2011, S. 10 ff. 7 (S. 23) Daodejing, Vers 25, Legge o. J., S. 111; vgl. Simon 2009, S. 84 sowie Kubin 2011, S. 50. 8 (S. 23) Ebd., Vers 42, Legge o. J., S. 133; vgl. Simon 2009, S. 132. 9 (S. 23) Zur Textgeschichte s. Kubin 2013, S. 11 ff. 10 (S. 24) Ebd., Vers 20, Legge o. J., S. 111; vgl. auch Schwarz 1980, S. 70 sowie Simon 2009, S. 66. 11 (S. 25) Zhuangzi, Kap. 11.5 »Zaiyou«; Legge o. J., S. 350; Huang Jinhong 1974, S. 145; vgl. Wilhelm 2008, S. 135. 12 (S. 27) Die Shang-Saite: im Zyklus der Fünf Wandlungsphasen dem Metall zugeordnet. 13 (S. 28) Huainanzi, Kap. 3 »Tianwenxun«, S. 18–19. 14 (S. 29) Zhengmeng, Kap. 11.1, Zhangzi quanshu, S. 11. 15 (S. 29) Lunqi, zit. in freier Übersetzung nach Kubny 1995, S. 482–483. 16 (S. 32) Zuozhuan, Zhaogong 1. Jahr; Legge 1991, Vol. V, S. 573. 17 (S. 32) Zhuangzi, Kap. 22.2 »Zhibeiyou«, Legge o. J., S. 501. 18 (S. 32) Lunheng, Kap. »Daxu«, Bd. 2, S. 422. (S. 20)
176 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten 19
Liji, Kap. »Yueling«, S. 0288 a. Huangdi neijing suwen, Kap. 1.2 »Siqi tiaoshen dalun«, Bd. 1, S. 21; vgl. Unschuld 1980, S. 222. 21 (S. 34) Wang Yangming chuanxilu, Kap. 3, S. 95 a. 22 (S. 36) Vgl. Linck 2013, III. Teil. 23 (S. 37) Übers. Günter Eich, zit. in Gundert u. a. 1952, S. 357. 24 (S. 37) Lunqi, übers. Kubny 1995, S. 491. 25 (S. 37) Lun ziyou, zit. n. Pang Xuequan 1994, S. 7. 26 (S. 38) Drei-Stufenschema bei Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humain, Buch II, Kapitel XII, § 3; zum Drei-Stufenschema bei Locke vgl. Christian Wolff, Deutsche Metaphysik § 307. 27 (S. 38) Kant, I., Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe IV 439 Z., S. 20 f. 28 (S. 43) Zhuangzi, Kap. 22.1 »Zhibeiyou«, Legge o. J., S. 499 sowie Huang Jinhong 1974, S. 253; vgl. Kubin 2013, S. 64. 29 (S. 44) Lunyu 16.7 Zhuzi jicheng, Bd. 1, S. 203; vgl. Wilhelm 1985, S. 167 und Kubin 2011, S. 194. Zur Textgeschichte und »ausgewählten problemorientierten« neuen Übersetzung vgl. letzteren. 30 (S. 44) Lunyu yizhu 1980, 10.8, S. 102; vgl. Wilhelm 1985, S. 108. 31 (S. 45) Zhuangzi, Kap. 23.2 »Geng Sang Chu«; vgl. Huang Jinhong 1974, S. 270; vgl. Wilhelm 2008, S. 253. 32 (S. 46) Lu, Yali 1992. 33 (S. 49) Shiming, Congshu jicheng xinbian, Bd. 38, S. 411. 34 (S. 49) Vgl. Kubin 2014, S. 115. 35 (S. 49) Liji, S. 0849b; vgl. Wilhelm 1981, S. 231. Zu weiteren altchinesischen Körper- und Leibbegriffen vgl. Linck 2015, S. 36–38. 36 (S. 53) Das alte Europa kannte durchaus ähnliche Vorstellungen: Das Fließende erinnert an die altgriechische Säftelehre, das Atmosphärische an das Bemerken ganzheitlicher Eindrücke bei Parmenides. 37 (S. 54) Huainanzi, Kap. »Jingshen«, S. 55. 38 (S. 55) Messner 2016 zieht in ihrem Buch »Metonymie« dem Begriff der »Metaphorik« vor, um zu unterstreichen, dass es sich gerade nicht um bloße Metaphorik oder Symbolik handelt, sondern um eine Weise gelebter Wirklichkeit. 39 (S. 56) Lüshi chunqiu, Buch VI »Jixiaji«, vgl. Wilhelm 1979, S. 79. 40 (S. 58) Das Webermädchen entspricht der Wega im Sternbild der Leier und der Hirtenknabe dem Atair im Sternbild des Adlers. Weil sie sich verliebt und darüber ihre Pflichten vernachlässigt hatten, verbannte der Himmelsherrscher sie auf die beiden Seiten der Milchstraße. Nur einmal im Jahr, und zwar am 7. Tag des 7. Monats, dürfen sie zueinanderkommen. 41 (S. 60) Vgl. die Erläuterungen von Schipper 1987. 42 (S. 62) Zit. n. Strickmann 1985, S. 190. 20
(S. 33) (S. 33)
177 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten 43
Lunyu 11.12, S. 243; vgl. Wilhelm 1985, S. 115 sowie Kubin 2011, S. 27. 44 (S. 65) Zhuangzi, Kap. 2.9 u. 2.12 »Qiwulun«; Legge, o. J., S. 242–243, 245; Wilhelm 1992, S. 50 u. 52; vgl. Jäger 2003, S. 49 ff. 45 (S. 65) Sanguozhi, Bd. 5 Wushu, Kap. 2 »Wuzhuzhuan«, S. 1129. 46 (S. 66) Altersgedicht von Bo Juyi (772–846) mit dem Titel »Denken an Früher (sī-jiù 思舊)«, übs. in Anlehnung an Cheng/Collet 2011, S. 62. 47 (S. 67) Zhuangzi, Kap. 15.1 »Keyi«, Legge o. J., S. 412; vgl. Huang Jinhong, 1974, S. 191–192. Pengzu: der chinesische Methusalem. 48 (S. 68) Su Shi (1037–1101), »He Ziyou mianchi huanjiu«, Sushi shiji, S. 96; übers. Debon 1988, S. 262. (S. 63)
II. Differenz und Antagonismus: Gefahr für die Ganzheit 49
Zhuangzi, Kap. 9.2 »Madi«, Legge o. J., S. 326. Ebd., Kap. 2.4 »Qiwulun«, Legge o. J., S. 232; vgl. Huang Jinhong, 1974, S. 62; vgl. die etwas abweichende Übersetzung von Wilhelm 2008, S. 57. 51 (S. 72) Ebd., Kap. 2.2 »Qiwulun«, S. 227; vgl. Huang Jinhong 1974, S. 60– 61 sowie Wilhelm 2008, S. 54. 52 (S. 73) Ebd., Kap. 17.6 »Qiushui«; vgl. Huang Jinhong 1974, S. 201 sowie Wilhelm 2008, S. 196. 53 (S. 73) Huainanzi, Kap. 8, S. 65. 54 (S. 74) Han Yu, zit. in: Liu Zongyuan, Tianlun, übers. Franke 1983, S. 64. 55 (S. 74) De Groot 1918, S. 377. 56 (S. 75) Shijing, Lied Nr. 194 »Yuwuzheng« (Der ausbleibende Regen), übers. in Anlehnung an Strauß 1969, S. 203. 57 (S. 76) Zuozhuan, Zhaogong 18. Jahr, Legge 1991, vol. V, S. 669. 58 (S. 76) Ebd., Zhuanggong 32. Jahr, Legge 1991, vol. V., S. 119. 59 (S. 76) Xunzi, Kap. »Tianlun«, Bd. 2, S. 313. Zu Textgeschichte, -kritik und einer ausgewählten problemorientierten neuen Übersetzung vgl. Kubin 2015. 60 (S. 76) Mengzi, Buch V »Wanzhang« 1.5, Legge 1991, vol. I–II, S. 355; vgl. Wilhelm 1982, S. 414. 61 (S. 78) Chunqiu fanlu, Kap. 8.4, S. 40. 62 (S. 78) Lunheng, Kap. »Ziran«, Bd. 2, S. 1085. 63 (S. 80) Zit. nach Friedrich 1984, S. 38. 64 (S. 81) Zhengmeng, Zhangzi quanshu, Kap. 1, S. 11. 65 (S. 81) Zhuangzi, Kap. 2.6 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, S. 64; vgl. Wilhelm 2008, S. 60. 66 (S. 82) Zhuzi quanshu, 49, Kap. 5b; zit. n. Kubny 1995, S. 23. 67 (S. 83) Hoffmann/Hu 1997, S. 30. 50
(S. 72) (S. 72)
178 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten 68 (S.
85) Zhuangzi, Kap. 2.2 »Qiwulun«, Legge, o. J., S. 228; vgl. Huang Jinhong 1974, S. 61 sowie Wilhelm 2008, S. 55. 69 (S. 86) Daodejing, Vers 12, Legge o. J., S. 103; vgl. Schwarz 1980, S. 62; s. auch Vers 56, Legge o. J., S. 148; vgl. Simon 2009, S. 40–41 bzw. 172– 173. 70 (S. 86) Zhuangzi Kap. 4.1 »Renjianshi«, Huang Jinhong 1974, S. 83; vgl. Wilhelm 2008, S. 75. 71 (S. 87) Daodejing, Vers 55, Legge o. J., S. 147; vgl. Simon 2009, S. 168– 169; vgl. Kubin 2011, S. 65–67. 72 (S. 87) Lunyu 6.22, Zhuzi jicheng Bd. 1; vgl. Wilhelm 1985, S. 78 sowie Kubin 2011, S. 28. 73 (S. 87) Mengzi, Buch VI »Jinxin« 1.1, Legge 1991, vol. I-II, S. 448–449; vgl. Wilhelm 1982, S. 184. 74 (S. 88) Xunzi, Kap. 21 »Jiebie«, S. 397–398; vgl. Knoblock 1994, vol. III, S. 105. 75 (S. 89) Huangdi neijing suwen, Bd. 1, Kap. 8 »Linglan midian lun«, S. 131; vgl. Unschuld 1980, S. 62. 76 (S. 90) Liji, Kap. »Yueji«, S. 0663 a; vgl. Wilhelm 1981, S. 75. 77 (S. 90) Huainanzi, Kap. 11 »Qisu«, S. 96. 78 (S. 91) Xi Zhongsan ji, S. 14a, zit. n. Friedrich 1984, S. 58. 79 (S. 94) Zhen Dexiu, Xishan wenji; zit. n. de Bary 1981, S. 81 bzw. 79. 80 (S. 94) Ders., Daxue yanyi II: II b; zit. n. de Bary 1981, S. 120. 81 (S. 94) Zhu Xi, Zhongyong zhangju; zit. n. de Bary 1981, S. 74. 82 (S. 95) Zit. n. Wilhelm/Jung 1986, S. 79 f. 83 (S. 96) Ebd., S. 80. 84 (S. 98) Shuowen jiezi, zit. n. Zhu, Wenfang 1987, S. 19. 85 (S. 98) Zhengzitong, zit. n. Zhongwen dazidian, Bd. 6, S. 25211.IV. 86 (S. 101) Zit. n. Collet/Cheng 2011, S. 257 u. 246–247 87 (S. 102) Zit. n. Wang, Yousan 1982, S. 58. 88 (S. 104) Huainanzi, Kap. 9 »Zhushuxun«, S. 67. 89 (S. 104) In der modern-chinesischen Hochsprache wird unser Verständnis von Seele mit líng-hún 靈魂 ausgedrückt. Auch die modern japanische Wortschöpfung Reiki 灵气 (chin. líng-qì) greift auf líng (als Kurzzeichen) zurück. 90 (S. 105) Als Kurzzeichen: 体 91 (S. 105) Hongmingji, Kap. 9; zit. n. Wang, Yousan 1982, S. 131. 92 (S. 106) Zit. n. Erkes, E., Das ›Zurückrufen der Seele‹ des Sung Yüh. Leipzig 1914, S. 14. 93 (S. 106) Ebd.
179 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten
III. Körper und Leib: Der Vorrang des gespürten Leibes 94
Liu An nannte sich auch Huainanzi, so dass das gleichnamige schon mehrfach zitierte Buch dieser Philosophenrunde zugeschrieben wird, vgl. auch. I.1.c sowie II.1.a. 95 (S. 112) Zit. n. Hay 1994, S. 46–77. 96 (S. 113) Li Changji, übers. v. Bauer/Franke 1959, S. 300–301. 97 (S. 114) Xianqing ouji, Kap. 3, »Shenrongbu«, S. 106–107; vgl. die etwas freiere Übersetzung v. Eberhard 1963, S. 18. 98 (S. 114) Shishuo xinyu, Kap. 14.25, S. 340; vgl. Mather 1976, S. 314. 99 (S. 115) Ebd., Kap. 14.21, S. 338; vgl. Mather 1976, S. 312. 100 (S. 116) Vgl. dazu Obert 2007. 101 (S. 118) Fashu yaolu; zit. in Anlehnung an Debon 1978, S. 51. 102 (S. 119) Shupu, zit. n. Goepper 1974, S. 115. 103 (S. 119) Zhonguo xueshu mingzhu, zit. n. Debon 1978, S. 53. 104 (S. 120) Schmitz 1987, S. 77. 105 (S. 120) Huang Kuangsu, Oubeiyihua, zit. n. Billeter 1989, S. 168. 106 (S. 120) He Quaofan, Xinshupian, zit. n. ebd. 107 (S. 122) Zhou Xinglian, zit. ebd., S. 174. 108 (S. 122) Sämtliche Beispiele verstreut in: Debon 1978 . 109 (S. 122) Ebd. 110 (S. 124) Wang Yun, zit. n. Ruitenbeek 1993, S. 158. 111 (S. 125) Daodejing, Vers 11, vgl. Simon 2009, S. 38. 112 (S. 126) Man beachte den Unterschied zu den Zuordnungen der einzelnen Tierspiele, wo der Tiger dem Norden und Winter angehört – ein weiterer Beleg für das situative vormoderne chinesische Denken. 113 (S. 126) Schmitz 1977, S. 210–211. 114 (S. 127) Ebd., S. 207–208. 115 (S. 128) Ebd. 116 (S. 128) Wang Wei, »Frage«, zit. n. Debon 1988, S. 227. 117 (S. 129) Xianqing ouji, zit. n. Stocken 1997, S. 1. 118 (S. 129) Auch die Teezeremonie hat sich über Japan erhalten; vgl. V. Heubel 2014. 119 (S. 130) Das Zeichen für xian im Titel des Buches findet sich nicht in meinem chinesischen Zeichensatz. Es schreibt sich mit dem Sinnelement Mond 月 im Tor 門. So steht hier aus der Not heraus das Zeichen mit dem Sinnelement Baum 木: 閑. Die beiden Zeichen sind austauschbar. 120 (S. 130) Xianqing ouji, zit. n. Stocken 1997, S. 13–14. 121 (S. 130) Vgl. dazu Guzzoni 2017. 122 (S. 131) Liji, Kap. »Liyun«, S. 0431 b; vgl. Wilhelm 1981, S. 64. 123 (S. 131) Schmitz 1993, S. 19. 124 (S. 132) Liezi, Kap. VII.7 »Yang Zhu«, S. 38, zit. n. Wilhelm 1974, S. 137. (S. 112)
180 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten 125
Zit. n. Bauer 1990, S. 162. Vgl. Zhuangzi, Kap. 6.4, übs. Wilhelm 2008, S. 103. 126 (S. 132) Zit. in Anlehnung an Epping-von-Franz 1983, S. 15. 127 (S. 133) Lied Nr. 174, zit. n. Debon 1988, S. 118. 128 (S. 134) Zit. n. Debon ebd., S. 119. 129 (S. 135) Gaden: in der Baukunst ein Haus mit nur einem Zimmer. 130 (S. 135) Übers. Von Debon 1976, S. 21. 131 (S. 136) Ling Li 1990, S. 112. 132 (S. 137) Zit. n. Okakura 1988, S. 25. 133 (S. 138) Zit. n. Epping-von-Franz 1983, S. 14. 134 (S. 139) Aus dem Großen Vorwort zum Shijing, zit. n. Röllicke 1992, S. 65–66. 135 (S. 140) Alle diese Wendungen verdanke ich Jing Bartz. 136 (S. 140) Übers. in Anlehnung an Erkes, zit. n. Böttger 1977, S. 132. 137 (S. 142) Reiners, L., Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung, München 1979, S. 626. 138 (S. 142) Bo Juyi, »Genuß von Bambussprossen«, zit. n. Hansen/Draeger o. J., S. 21. 139 (S. 142) Wang Yi, »Der Lichi-Baum«, zit. n. ebd., S. 23. 140 (S. 143) Shu Xi, »Heißes Gebäck«, zit. in etwas freier Übersetzung n. ebd., S. 15. 141 (S. 143) Zit. in etwas freier Übersetzung n. Franke 1986, S. 86. 142 (S. 144) Lunyu 10.8; vgl. Wilhelm 1985, S. 108. 143 (S. 144) Ebd., 7.15; vgl. Wilhelm 1985, S. 85. 144 (S. 145) Feng Menglong, »Die Fähigkeiten«, zit. n. Töpelmann 1973, S. 232. 145 (S. 146) Ebd. »Kokett«, ebd., S. 89. 146 (S. 146) Bo-zhan bi zheng, zit. n. van Gulik 1971, S. 346. 147 (S. 147) Foucault 1983, S. 70. 148 (S. 148) Ebd., S. 74–75. 149 (S. 148) Aus dem Gedicht der Zhang Furen (2. Hälfte des 8. Jhs.), übers. Chen 1996, S. 53. 150 (S. 149) Ein Gedicht der Nonne Yu Xuanji (844–868), übers. Chen ebd., S. 60. 151 (S. 149) Aus einem Gedicht der Prostituierten Xue Tao (768–831?), übers. Chen 1996, S. 33. 152 (S. 149) Aus einem Gedicht der Nonne Yu Xuanji, übers Chen ebd., S. 56. 153 (S. 150) Übers. Bischoff 1985, S. 114. 154 (S. 150) Aus einem Gedicht der Prostituierten Guan Panpan (8./9. Jh.), übers. Chen ebd., S. 27. 155 (S. 151) Feng Menglong, »Beim Ingwerwaschen«, zit. n. Töpelmann 1973, S. 289. (S. 132)
181 https://doi.org/10.5771/9783495813621 .
Endnoten 156
Zur Geschichte der Gefühle in der Späteren Kaiserzeit vgl. Santangelo 2003 sowie Messner 2016. 157 (S. 154) Genau gesagt, handelt es sich um den Kommentar zu einem frühen Geschichtswerk, den Frühlings- und Herbstannalen des Staates Lu, ebenfalls aus vorchristlicher Zeit. 158 (S. 154) Liji, Kap. »Liyun«, S. 0431 b; vgl. Wilhelm 1981, S. 63. 159 (S. 155) Zit. n. Schipperges 1989, S. 13. 160 (S. 156) Der Reihe nach: Yuan Mei (1716–1797), Qi Wujian (692–749), Bo Juyi (772–846), zit. n. Cheng/Collet 2001, S. 104 bzw. 10 bzw. 35 sowie 48. 161 (S. 159) Lied Nr. 195, zit. n. v. Strauß 1969, S. 319. 162 (S. 161) Eine verbitterte Reaktion auf die Aufforderung eines Freundes, sich wieder mehr am geselligen Leben zu beteiligen; zit. n. Bauer 1990, S. 83. (Hervorhebung G.L.). 163 (S. 161) Gedicht der Geborenen Liu (8./9. Jh.), übers. Chen 1996, S. 48. 164 (S. 162) Zit. n. Bauer 1990, S. 178 (Hervorhebung G.L.). 165 (S. 162) Ebd., S. 391. 166 (S. 163) Schmücker und Heubel (Hg.) 2013. 167 (S. 164) Zit. n. Lang-Tan 1995, S. 233. 168 (S. 165) Zit. n. Lang-Tan 1995, S. 83. 169 (S. 166) Lunyu 17.2; vgl. Wihelm 1985, S. 171. 170 (S. 166) Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in Schmücker und Heubel 2013. 171 (S. 167) Zur Selbstkultivierung im frühen Konfuzianismus vgl. Heubel 1995, Jäger 2010, Kubin 2011, 2012 und 2015 sowie Schmücker/Heubel 2013. 172 (S. 167) Mengzi 6.10; vgl. Wilhelm 1982, S. 110. 173 (S. 169) Baopuzi, Waibian, Kap. 1, S. 104. 174 (S. 169) Huangdi neijing suwen, Kap. 2.5 »Yinyang yingxiang dalun«, S. 75; vgl. Unschuld 1980, S. 226–227. 175 (S. 169) Zit. in Anlehnung an Messner 2016, S. 191. 176 (S. 169) Vgl. Jullien 2009. 177 (S. 169) Vgl. Debon 1978. 178 (S. 170) Lu Dalin, S. 23. 179 (S. 171) Zit. n. Epping-von-Franz 1983, S. 76, 24, 15. 180 (S. 171) Vgl. Linck 2015. 181 (S. 172) Zit. n. Kühner 1989, S. 128–133. (S. 153)
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(Chinesische Wortzeichen, Personennamen, Sachwörter) Achsenzeit 76 accidente 38 Ahnenkult 64, 77, 99, 158, 162 āi 哀 (Kummer) 154 ff., 157 aì 愛 (fürsorgliche Liebe) 154 ff., 163 Ajna-Chakra 96 Akupunktur 17, 35 Akzidens 38, 102–103, 116 Alchimie 66 f., 168 Altershierarchie 39 Analogiezauber 45 Animismus 105–106 Antagonismus 52, 69, 84–96, 99 ff. Anthropo-Kosmologie 42 Apathie 156 Architektur 124 ff. ars erotica 147 ff. Askese 167 f. Ästhetik 111 Atemtechniken 96 Atmosphären (kosm.) 17, 28 ff., 60, 124, 154 Aufklärung 76 Aura 113 Autobahn-Trance 107 Bär 67 Baumaterial 128 Begabung 115 Begehren 11 f., 88 ff., 145 ff. Beschämung 158 ff., s. Scham, s. chǐ Bewußtsein 24 f. 50 ff. 81, 97 ff. 120, 170, s. Geist
Blockade 55 Blut 19, 43 f., 53 ff. 117, s. xuè Bo Juyi 142 Brunnenparabel 165 Buch Mose 18 Buddhismus 64, 101 ff., 132 ff. 163, 172 s. Zen bù-rěn 不忍 (Mitleid/Mitgefühl) 163 bù-rěn-zhī-xīn 不忍之心 (Mitleid/ Mitgefühl) 163 Busch, Wilhelm (1832–1908) 141 carpe diem 134 cè-yǐn-zhī-xīn 惻隱之心 (Mitleid/ Mitgefühl) 163 Chakren 96 chán 禪, s. Zen-Buddhismus Chaos, s. Urchaos Charakter, Moral 98 chǐ 恥 (Scham/Beschämung) 161 cí 慈(Mitgefühl) 163 cí-bēi 慈悲 (Barmherzigkeit) 163 corpus 12 ff. Dämonen 61 ff., 100 ff., s. guǐ dào 道 23 ff., 48, 57 ff. 70 ff., 132, 167 Daoismus –, philosophischer 23 –, religiöser 60 ff. Demokrit (460–370 v. Chr.) 10, 30, 92 dì 地 (Erde) 26 ff.
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Diätetik 144 Differenz 52, 69 ff. Differenzierung 12, 23 ff., 67, 81 Disposition 46 ff., 99 Dong Zhongshu 39 Doppelkuppel-Theorie 21 Drache 27, 60, 126, 145, 151 Drei Leichname 61, 107 Drei Würmer 61, 107 Drittes Auge 96, s. Ajna-Chakra Drogen 66, 137 Druckschrift 121 Dualismus 10 ff., 50, 69 ff., 82 ff. dùn-dùn 沌沌 (verwirrt, trüb) 24 ff. Edler (jūn-zi 君子) 44, 72, 170 Eindrucksanalogien 41 Eine, das, s. dào Einleibung 120, 164 Embryo der Unsterblichkeit 48 ff. Emotionen 42, 70, 88 ff., 110, 152, 168 ff. Enge/Engung 13, 49 ff. 100, 148 ff. Entdeckungen 66, 77 Entgrenzung 107 Entsprechungsdenken 40, s. Resonanzdenken Entsprechungsmedizin, s. Resonanzmedizin Entzauberung der Welt 71, 75 ff. Erde 18 ff. 26 ff. 40 ff. s. dì, s. Himmel Erdseele 105, s. Körperseele Erfindungen s. Entdeckungen eros 131, 146 ff. Erotik, s. Sexualität Esoterik 123 Erziehung 49, 88, 163 ff. s. Selbstkultivierung esprit 50, s. Geist Essen 31, 44, 138 ff. –, Metaphorik 139 ff. Essenz 26, 47 ff., s. Feinstessenz
Fadheit 169 Fan Zhen (450–510) 101 ff. Fan Zhongyan (989–1052) 164 ff. Fang Xiaoru (1357–1402) 132 ff., 170 Feinstessenz 47, s, jing-shen fēng 風 (风) (Wind) 113 fēngdù 风度 (atmosphärische Erscheinung, Ausstrahlung) 113 fēngjǐng 风景(Landschaft) 123 fēngmào 风貌 (Stil, Gepräge, Ausstrahlung) 123 fēng-shuǐ 風水 (Wind und Wasser, Geomantik) 74, 113, 123 ff. fēngzī 风姿 (Erscheinung, Gestus) 113 Feuchtersleben, Freiherr von 155 Foucault, Michel (1926–1984) 147 Freud, Sigmund (1856–1939) 150 Freude 42 ff., 120 ff. 151 ff., s. xǐ 喜 Frühlingsbilder 147 Fülle/Überfülle 15, 22 ff. 43 ff., 86, 119 ff. 155 ff. Fünf Elemente 40, s. Fünf Wandlungsphasen Fünf qi 169, s. wu-qi Fünf Wandlungsphasen 41 ff., 111, 144, 154 Fürst 54, 84 ff. 139 funktional-systemisches Denken 39 ff., 144 Furcht 42, 154 gǎn-yīng 感應 (Resonanz) 38 ff. Garten 23, 36, 123 ff., 128 ff. Ge Hong 163 Gefühle 46 ff., 88 ff., 148 ff., s. qíng –, moralische 160 ff. –, spontane 154 ff. Gefühlsatmosphären 36 ff., 123 ff., 153 ff. Gehirn 58, 84, 92
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Geist/Geisteskraft 10, 43, 96 ff., s. shén Geister, s. Götter und Geister, s. Dämonen Generationshierarchie 39 Geomantik 74, 77, 123 ff., s. fēngshuǐ Geruchs- und Geschmacksatmosphären 31, 142, 167 Geschlechterhierarchie 39 Geschlechtsakt 145 ff. , s. Sexualität, s. Mann-Frau Gespenstergeschichten 64 Gestaltverläufe 109, 120 ff., 150 Goethe (1749–1832) 30, 83 Götter und Geister 31 ff., 75 ff., 99 f. –, Göttin vom Luo-Fluß 112 Gold 66 Grammatik 39 Grasschrift 121 f. Großer Bär 21, 57 Grübeln 92, 155, s. sī 132 Guan Panpan 150 guǐ 鬼 (Geister, Dämonen) 98 ff. Han Yu (768–724) 66, 74 Hanshan (Tang-Zeit) 21 hào 好 (Zuneigung, Liebe) 154 Harmonie 56, 144, 169, s. Weg der Mitte Haß wù 惡 154 ff. Hauch- und Atemseele 105, s. hún und pò Heilige Menschen 168 Heiliger Geist, s. shén Heilserwartung bzw. Heilszustand 24, 78 Heiterkeit 51, 90 ff., s. Freude, s. lè 樂 Herrschermetapher 84 ff. Hervorbringung 41, s. Wandlungsphasen Herz 83–96, s. xīn
Herzfasten 95 Herzschule 33 Himmel 18 ff. 46 ff., 70 ff.,170, s. tīan, s. Natur –, Strafe des Himmels 75, 79 Himmelsrichtungen 48, 126 Hirtenknabe 57 f. Höllen 108 hóng (weit) 鴻, s. Hongmeng Hongmeng 鴻蒙 (Urchaos) 24, s. méng hú-lú 壺盧bzw. 壺蘆 bzw.葫蘆 (Kalebasse) 19 hú-shān 壺山 (Berg im Osten) 19 Huālu 花露 (Blumentau, Weinbezeichnung) 136 Huan Tan (gest. 56 n. Chr.) 101 Huang Tingjian (1045–1105) 120 hún-lún 渾淪 (Urchaos) 19 hún und pò (leibl. Wirkkräfte) 103 ff.. hùn-dùn 混沌bzw. hún-dùn 渾沌 (Urchaos) 19 f. Hundun 渾沌 (Der Ungeschiedene) 19 ff. hùn-hùn-dùn-dùn 渾渾沌沌 25 Individuation 23, 28, 43 ff. 104 Inneres Diagramm 57 ff., s. Neijingtu Insel der Seligen 67, 137, s. Penglai Intensität 122, 155 Jade 66, 114, 150 f. jīng 精 (Essenz, männl. Samen) 47 jīng 驚 (Schrecken) 155 jīng-shén 精神 (Feinstessenz) 47 jù 懼(Furcht) 154 ff. jūn-zi 君子,s.Edler Kalligraphie 116 ff. Kampfkunst 6, 15, 17 Kampfmetaphorik 83 ff.
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Kant, Immanuel (1724–1804) 38, 102, 116, 99 Kanzleischrift 121 ff. Karma 101 Katastrophen 28, 56, 78, 128 kausal-analytisches Denken 39 Kerze 101 f., 174 Kierkegaard, Sören (1813–1855) 159 Knochenmark 53 Körper 12 ff., 30, 38 ff., 110 ff., s. Leib –, Körper- und Leibfeindlichkeit 86, 167 –, Körper- und Leibbilder 53 ff. –, körperlicher Leib 47 ff. –, Körperöffnungen 19 –, Körpersäfte 53 Körperseele 105, s. pò Kompaß 77, 124 Konfuzius 63 ff. 143 f., 158, 166 ff. kǒng 恐 (Angst) 159 Kornwein 133 ff., s. Wein Korrespondenzen, s. Resonanzdenken Kosmogonie 18, 25, 54 kūn-lún 崑崙 (Berg im Westen) 19, 57 Kursivschrift 121 ff. Kurtisane 149 ff., s. Prostituierte Landschaft im Innern 56 Laozi 22, 43, 57 ff., 60 ff., 77 ff. lè 樂 (Heiterkeit, Freude) 154 ff. Lebenselixier 66 ff., 137 Lebenskraft 30 ff., s. qì, s. shén Lebenspflege 47 ff., 67, 107, 147 ff. Leere 23 ff., 102, 38, 46, 102, 168, s. Fülle Lehre vom Dunkeln 79 ff. Leib 12 ff., 110 ff. Leibpraktiken 66 Leibschemata 53 ff.
Leichnam 13, 66, Leichensektionen 52 lǐ 理 (moralisches Prinzip) 79 ff. –, Schule des lǐ 93 Li Taibo (701–762) 134, 142 Li Yu (1610–1680) 113 ff., 129 f. Liang Qizhao 37 Lichi-Frucht 142 Lichtmetaphorik 96 Liebe (ài 愛) 90 ff., 145 ff., 154 ff. líng 靈 (Wirkkaft der Erde) 104 líng-hún 靈魂 (Seele) 179 líng-qì 靈氣 (Wirkkraft der Erde, Reiki) 179 Liu An (?175–122 v. Chr.) 73, 112 Liu E (1857–1909) 165, 171 Liuzi (Meister Liu) 89 Loyalität 67, 162 Lü Buwei (gest. 235 v. Chr.) 56, 90 Lu You (1125–1210) 135 Lu Yu (733–804) 137 Luo-Fluß 112, s. Göttin vom Luo Dong (Tang-Zeit) 137 Lust 89 ff., 131 ff., 145 ff. 154 ff., s. Freude Lusthemmung 135 Magie 45, 104 Magier und Heiler 78 Magnetwirkung 114 f. Makrobiotik 111 Makro-Mikrokosmos 42 ff., 144 –, Mikrokosmos Mensch 35 ff., 44 ff. Malerei 39, 116, 124, 149, 170 Mandat des Himmels 56 Mangel, s. Leere Mann-Frau 131 ff., s. Sexualität Materialismus 82 f. Meditation 47, 73, 91, 104 Medizin, s. Resonanzmeditin, s. Trad. Chin. Medizin Meer des qì 57 f.
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Meister Liu 89 méng 蒙 (töricht, trüb) 25, s. Hongmeng Mengzi 44, 76 ff. 87 ff., 163 ff. Mensch, s. Mikrokosmos Mensch Mensch-Staat-Analogie, s. StaatMensch-Analogie Messer 94 ff. Metzelsuppenlied, s. Uhland mǐ 米 (Reis) 31 Mikrokosmos Mensch 17, 42 ff., 53 Mini-Götter 56 f. Mitgefühl s. Mitleid Mitleid 155, 160–166 Mitte –, Herr der 20 –, Maß und 116, 144 –, Weg der 94, 110 ff., 132, 166 ff. Mönch 58, 68, 137, 146 Moral 12, 49 ff., 76 ff., 160 ff., s. lǐ Mozi 159 Musik 36, 90, 116, 149, 157, 171 Mutter Erde 74 Mystik 86 Mythen 18 ff., 26 Nacktheit 115 Narr 24 f. Nasenschleim 53 Natur 70 ff., s. tiān Neijingtu, s. Inneres Diagramm Neokonfuzianismus 81 ff., 93, 132, 170 ff. Nephrit 133 ff. Neue Literaturbewegung 172 Nonne 146 Normalschrift 121 ff. nù 怒 (Zorn) 154 Numinose, das 24–34 ff., 50 ff., 70 ff., 97 ff. Nutzen der Nutzlosigkeit 73
oberhalb bzw. unterhalb der Formen, s. Zhu Xi Orakelwesen 30 ff., 75 ff., 98 Orchideenpavillon 149 Organsysteme 39 ff., 54, 92 ff., 34, 37, 43–45, 78 Originalität 91, 115 Ouyang Xiu (1007–1072) 164 Paläste 54 f., s. Organsysteme Pangu 18 ff., 60 Penglai, s. Insel der Seligen Pengzu (chines. Methusalem) 67 personale Emanzipation 91 Pferd 26, 119, –, das wilde Pferd 34, 37 Pfirsich 95, 135, 143, 152 Phönix 126, 145 ff. –, der Kalligraphie 118 Physiognomik 41 Pinselschrift, s. Kalligraphie Platon (427–?348 v. Chr.) 10, 84, 92 pò 魄 103 ff., s. hún Polarität 6, 15, 23, 33, 99 ff. Pòmēnjiàng 迫悶將 (Weinbezeichnung) 136 Priester 62 Prinzip 71, 79 ff., 93–94, 172, s. lǐ Prostituierte 149–150 f. Prozeß der Zivilisation 12, 131 ff., 171, s. Zivilisationsschübe qì 氣 (气) (Lebenskraft) 30 ff., 43 ff., 121, s. Meer des qi –, Etymologie 30 f. –, Metaphorik 34, 37 qǐ 乞 (erflehen, erbitten) 30 Qìgōng 气功 35, 45, 67, 96 –, Qigong mit dem Pinsel, s. Kalligraphie qíng 情 (Gefühl, Situation, Emotion) 130, 152 ff.
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qì-xiàng 氣象 (atmosphärische Erscheinung) 113 qū 屈 (sich zusammenkrümmen) 49 Qu Yuan (3./2. Jh. v. Chr.) 106 Reduktionismus 69, 71 ff. Regungsherde 54, 61, 92 ff. Reichseinigung 73 ff. Reiki 17, 35, 179, s. líng-qì Relation 38, 102 f., 153 ff. Remystifizierung 77 rén-qíng 人情 (zwischenmenschliche Situation) 153 rén 仁 (Zwischenmenschlichkeit) 163 rěn 忍 (ertragen), s. Mitleid Resonanzdenken 26, 40, 56, 144, s. gǎn-yīng Resonanzmedizin 45, 52 ff., 91, 115, 169 respectum 38 Rhythmus 116 ff. Richtung, leibliche 98, 122, 149, 158 ff. Ritual 31, 48, 77, 90, 123 ff., 149 Ritus 31–48, 106, 139 ròu 肉 (Fleisch) 48 ròu-tǐ 肉体 (tast- und sichtbarer Körper) 48, 105 Ruhe und Bewegung 6, 122 Sachs, Hans (1494–1576) 141 Samen, männlicher 50, s. jīng Sammlung, s. Verdichtung, s. Zerstreuung Scham 91, 158 ff., s. chǐ Schildkröte 126, 140, 150 Schmacklosigkeit 170, s. Fadheit Schmetterling 64, 105, 151 Schönheit 111 ff. Schrecken 65, 91, 140, 155, s. jīng 驚
Schuldgefühle 160 Schwangerschaft 45 f., 104 Schweiß 53, 137, 160 f. Schwermut (yù 郁) 155 Schwerttanz 120 scientia sexualis 147 Sechs Willensregungen 154 Sechster Sinn 51 Seele 10, 92, 96 ff. Seelenwanderung 64, 101 Sehnsucht 114, 148 f. 161 Selbstachtung 157 ff., 166 ff. Selbstbehauptung 35, 69 ff., 147, 174 Selbstkontrolle 87, 91 ff., 133 Selbstkultivierung 49, 163 ff. Sessel 126 f. Sexualität 110, 147 ff., s. MannFrau Shang-Saite 27 shén 神 (Götter) 46 ff., 97 ff., 88, s. guǐ –, s. Geist/ Bewußtsein/Lebenskraft) 43, 50 –, Etymologie 97. shēn 身 (Leib, Gesamtpersönlichkeit) 47 ff.. shēn 申 (s. strecken) 49, 98 shēng-qì 生 氣 (wütend sein) 111 shū-fǎ 書法 (Kalligraphie) 116 sī 思 (Grübeln) 155 sì-tǐ 四體 (Vier Gliedmaßen) 48 sì-zhī 四支 (Vier Abzweigungen) 48 Sieben pò 61, 107–109, s. pò Sieben Weisen vom Bambushain 114 Siegelschrift 121 ff. Sima Qian (?145–90 v. Chr.) 161 Sinnesöffnungen 20, 46 ff., 84 ff., 130 Sitzen und Vergessen 72, 86, s. Meditation
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Solidargemeinschaft 166 Song Yingxing ( ca. 1600) 28 f., 37 Speichel 53, 57 Speicher 54 f., 169, s. Organsysteme Spekulationen, kosmologische 25, 77, 81 ff. Staat-Mensch-Analogie 54 f. Stoff 30, 50 Su Shi (1037–1101) 37 sublime Sinnlichkeit 148 Substanz 38 f., 102 f., 116 Sun Guoting (?648–?700) 119 Suzhou 129 tàijí 太極 (der Große Pol) 80 Tàijí 太極 15, 67, 96 Tanz 9, 90, 120 ff. 157 f. s. Schwerttanz Tao Yuanming (356–427) 134 Tee 133 ff. Teezeremonie 128 ff., 133 ff. tǐ 體(体)(Grundlegendes) 94, s. tǐyòng tǐ 體(体)(körperlicher Leib) 47 ff., 105, s. Körper tǐ-dào 體道/ tǐ-tiān 體天 (s. das dao bzw. tian einverleiben) 48 tiān 天(Himmel/Natur, anthropomorpheHimmelsmacht) 73 ff. tiān-dì 天地 (Himmel und Erde, Welt, Kosmos) 70 tiān-rén yī 天人一 (Himmel und Mensch sind eins) 78 Tiefenentspannung 107 Tiger 27, 62, 103, 126, 152 tǐ-yòng 體用 (Grundlegendes und seine Funktion) 94 ff. Töne 91 f., 167 Töpferwerkstatt 65 Tod und Sterben 18 ff., 43 ff., 62 ff., 132 f., 157 ff.
tóng-qíng 同情 (Mitleid/Mitgefühl) 160 ff. Tote –, Totengeister 50, 64 ff., 100, 103 ff. –, Totenhemd 66 –, Totenschädel 65 Tränen 53 Traditionelle Chinesische Medizin 15, 52, 92, 103 ff. s. Resonanzmedizin Trauer yōu 憂 90 ff., 154 Trinken 131 ff. U-Form 125, s. Geomantik Überfülle 55, s. Fülle Überwindung 41 ff., s. Fünf Wandlungsphasen Uhland, Ludwig (1787–1862) 142 Universum en miniature 53 Unruhe 155, s. Schwermut Urchaos 18–25 Ursprüngliches qì 54 Verdichtung 28, 34, 46, 169 Verdünnung und Verdichtung 28, 34, 46, 169, s. Zerstreuung Vergänglichkeit 37, 67, 101, 134 Vier Gliedmaßen 48 ff., s. sì-tǐ, sìzhī Von-selbst-so-Sein 80, 156, 168, s. zì-rán Wandlungen des qi 26–34, 42 Wang Bi (226–249) 80 f. Wang Chong (27–104 n. Chr.) 32, 78 Wang Dao (276–338) 114 Wang Gong (gest.) 114 Wang Ji (?240–?285) 132 Wang Na (ca. 310) 115 Wang Shimou (ca. 1587) 129 Wang Ximeng (ca. 1113) 125
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Wang Xizhi (ca. 307) 117 f. Wang Yangming (1472–1529) 33, 165 Webermädchen 57 f. Weg der Mitte 94 f., 166 ff. Wein 133 ff. wéi-qì 圍氣(Abwehr-qi) 54 Weiße-Wolken-Tempel 57 Weite/Weitung 13, 49 ff., 98 ff., 122, 136 ff., 148 ff., 157 ff. Welt, Beschaffenheit 18 –, Dynamik 26 –, Entstehung 17 ff. –, Entzauberung 28, 75 ff. Weltenei 18 ff. Weltflucht 134 Wilhelm Meister 83 Wind 19, 27, 31 ff., s. fēng Wind und Wasser 123 ff., s. fēngshuǐ Wind und Wolken 31 ff. Wirren im Innern, Unheil von außen 165 Wolken 15, 30 ff., 112, 122, 138, 151 wú 無 (das Nichtsein, das NichtDifferenzierte) 80 f. wù 惡 (Haß, Abneigung) 154 Wu Yupi (15. Jh.) 162 wǔ-qì 五氣 (Fünf Temperaturausstrahlungen) 54, s. qì wǔ-wèi 五味 (Fünf Geschmäcker) 54 wú-wéi 無為 (Nicht-absichtsvoll handeln) 168 Würmer, s. Drei Würmer –, Seidenwürmer 27 xǐ 喜 (Freude, Lust) 154 ff. Xi Kang (223–262) 91, 114 xián 閑 (müßig) 130 Xiànrén 賢人 (Weinbezeichnung) 136
xīn 心 (Herz) 51, s. Herz xíng 形 (Gestalt) 47 xíng-tǐ 形體 (köperlicher Leib) 47 Xiōngnú 匈奴100 xiū-shēn 修身 (Selbstkultivierung) 49 Xu Hao (703–782) 117 xuè 血氣 (Blut) 44 xuè-qi 血氣 (Blut und qì, Lebenskraft) 44 Xunzi (298–238 v. Chr.) 36, 44, 76, 84 ff. 102, 163 ff. Yan Zhitui (531–590) 162 yáng-qì 陽氣, s. yīn 陰und yáng 陽 yī 一 (das Eine) 80, s. dào yīn 陰und yáng 陽 14 ff., 23 ff., 32, 74, 100, 110, 150, 153 ff. yīn-qì 陰氣 s. yīn 陰und yáng 陽 yíng-qì 營氣 (nährendes qi) 54 yòng 用 (Gebrauch/Funktion) 94, 102, s. tǐ-yòng yǒu 有 (Sein/Vorhandensein) 80, s. wú (Nichtsein) yōu 憂(Trauer) 155 ff. yù 欲 (Begehren) 131, 154 yù 郁 (Schwermut) 155 Yùyǒu 玉友 (Weinbezeichnung) 136 yuán-qì 元氣 (Ursprüngliches qì) 54 yún 雲 (云) (Wolke) 104 Yunjiang 19 s. Hongmeng 24 f. Zehntausend Wesen und Dinge 23 ff., 80, 86, 96 Zen-Buddhismus 95, 156, s. chán Zerstreuung und Sammlung 28 ff. s. Verdünnung Zhang Heng (78–139) 21 Zhang Xu (?700–750) 120 Zhang Zai (1020–1077) 28 ff., 80, 165
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zhāo-hún 招魂 (Zurückrufen des hún) 106 Zhao Wannian (?1169–?1210) 143 Zheng Quan (ca. 3. Jh.) 65 zhì 質 (Beschaffenheit, Grundlegendes) 102 Zhongzi 167 Zhu Xi (1130–1200) 71, 81 f., 93, 170–172 Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr.) 23, 64 ff., 81 ff., 157
Zhuangzi (Meister Zhuang) s. Zhuang Zhou Zinnoberfeld 58 ff., 96 ff. zì-rán 自然 (von-selbst-so-sein) 70, 80 Zivilisationsschübe 69, 91, s. Prozeß der Zivilisation Zorn nù 怒 49, 90 ff., 153 ff. Zou Yan (ca. 300 v. Chr.) 40 Zunge 31, 42, 57, 103, 139, 151
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Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Tab. 1 Makro-Mikrokosmos 42 Tab. 2 Menschwerdung des qì 47 Tab. 3 Zuordnungen zu hún und pò 104 Abb. 1 Neijingtu 59, aus: Hildenbrand u.a. 1998, S. 293 Abb. 2 Hunpotu 109, aus: Needham 1985, vol. V, S. 91 Abb. 3 Kalligraphische Varianten von qì 氣 bzw. 气 121, in der Handschrift von Wang Dongling, Kiel 1995 Abb. 4 Chinesische Küche 141, aus: Böttger 1977, S. 135
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