Inseln der Vernunft – Liber Amicorum für Jochen Schneider 9783504380762

Die Beiträge in dieser Festgabe für Jochen Schneider behandeln einen Querschnitt der IT-rechtlichen Themenfelder, die Sc

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German Pages 214 [198] Year 2008

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Inseln der Vernunft – Liber Amicorum für Jochen Schneider
 9783504380762

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Inseln der Vernunft Liber Amicorum für Jochen Schneider

Inseln der Vernunft Liber Amicomm für Jochen Schneider Zum 65. Geburtstag

herausgegeben von

Isabell Conrad SSW Schneider Schiffer WeiharmOller

2008

oUs

Verlag

Dr. OttoSchmidt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221/937 38-01, Fax 0221/9 3738-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06216-3 e2008 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung nach einem Entwurf von: JanP. Lichtenford Satz: A. Qu.ednau, Haan Druck und Verarbeitung: Bookstation, Sipplingen Printed in Germany

Vorwort Mit den folgenden Beiträgen gratulieren Schüler, Kollegen, Weggefährten und Freunde einem unverkrampften Denker, vorbildlichen Wissenschaftler und Anwalt, einem Liebhaber und Geburtshelfer des Informationstechnologie(IT)-Rechts – Prof. Dr. Jochen Schneider – zum 65. Geburtstag. Dies ist eine Festschrift und kein Nachruf. Der Jubilar wäre vermutlich entsetzt, wenn er wüsste, wie sehr und wie lange sein Input weiterhin erhofft und erwartet wird. Die Idee für das Motto dieser Festgabe steht lediglich zeitlich in Zusammenhang mit einem Nachruf. Anfang März dieses Jahres ist Joseph Weizenbaum 85-jährig in Berlin gestorben. Das Liber Amicorum für Jochen Schneider nimmt Bezug auf eine der letzten Veröffentlichungen von Joseph Weizenbaum, die auch auf deutsch erschienen ist mit dem Titel „Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?“ (Herder, Freiburg, 2006). Die folgenden Kurzbeiträge greifen das Motto „Inseln der Vernunft“ auf und geben Beispiele und Leitlinien, wo in den Bereichen Rechtsphilosophie, IT-Recht und/oder IT-Anwaltschaft solche Inseln zu finden sind oder ggf. fehlen. Innerhalb dieses breiten thematischen Spektrums hat jeder Autor weitgehend frei einen aktuellen Standpunkt gewählt. Die Beiträge sind in acht Kapitel aufgeteilt. Das Kapitel A besteht aus Beiträgen zur Rechtsphilosophie/Rechtstheorie und zu den ersten Schritten in der Rechtsinformatik. Damit spiegelt Kapitel A den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Laufbahn von Jochen Schneider wider. Er hatte 1969 bei Prof. Arthur Kaufmann an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Institut für Rechtsphilosophie) ein rechtsphilosophisches und -theoretisches Seminar zum Thema „Recht und Sprache“ belegt. Als Werkstudent bei Siemens hatte sich Jochen Schneider zuvor und gleichzeitig mit der Verarbeitung nichtformatierter Daten (Dokumentationssysteme) im juristischen Bereich befasst. Damals steckten Dokumentationssysteme auch technisch gesehen noch in den Kinderschuhen. 1977 promovierte Jochen Schneider bei Prof. Kaufmann über Voraussetzungen und Wirkungen juristischer Informationssysteme für das Entscheidungsverhalten. Im weiteren Verlauf bereicherte er das Tätigkeitsfeld des rechtsphilosophischen Instituts um den theoretischen Bereich der Informatik im Recht, der dann allmählich Rechtsinformatik genannt wurde. 1982 hat der Jubilar die anwaltliche Laufbahn eingeschlagen und 1984 zusammen mit Ludwig Antoine eine IT-rechtlich ausgerichtete SozieV

Vorwort

tät gegründet. Zu dieser Zeit waren kaum zwei Hand voll Anwälte auf diesem Gebiet tätig. Rechtsanwalt Dr. Jochen Schneider war einer der großen „Entdecker“ des Computers, genauer gesagt des IT- und Softwarevertragsrechts, als neuen Markt für Anwälte. Der Jubilar ist auch weiterhin an der Fortbildung dieses anwaltlichen Beratungsfeldes maßgeblich beteiligt, nicht zuletzt durch den IT-Fachanwalt und neue Auflagen des „Handbuchs des EDV-Rechts“. Seine dogmatischen Wurzeln hat Dr. Jochen Schneider insbesondere im Datenschutzrecht vertieft. Seit 1992 ist er Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diesem Werdegang Schneiders folgend bilden die Beiträge in den Kapiteln B bis H einen Rundgang durch viele aktuelle rechtliche und anwaltliche Fragen mit leichten Schwerpunkten im IT-bezogenen Schuldrecht (Kapitel B bis D) und Datenschutzrecht (Kapitel G). Die Schnittstellen zu Urheber-, Lauterkeits-, Europa-, Kartell- und Vergaberecht werden in den Kapiteln E und F vertieft. Das abschließende Kapitel H behandelt die Anwaltswerbung im Internet und den IT-Fachanwalt – beides relativ neue Betätigungsfelder des Jubilars. Es ist kein Zufall, dass dieser weite Themen-Fächer große Ähnlichkeit mit den umfassenden individuellen Kompetenzen und Interessen des Jubilars aufweist. Ein Kennzeichen der Kapazität Jochen Schneider ist gerade der schier unglaubliche Überblick über alle Verästelungen seines Fachgebiets. Eine strukturelle Klammer zwischen den Beiträgen bildet das Einleitungszitat, das jeder Mitautor frei gewählt hat. Einige Mitautoren ließen sich vom vorgegebenen Motto „Inseln der Vernunft“ inspirieren und wählten ein Weizenbaum- oder ein Kant-Zitat. Kant und Weizenbaum, Kritik der Vernunft und Kritik am Umgang mit Informationstechnologie, bilden durch den Prolog und durch den Schlussbeitrag den thematischen Rahmen für dieses Liber Amicorum. Im Prolog treffen Immanuel Kant und Joseph Weizenbaum in einem fiktiven Dialog aufeinander. Kant, der sich für naturwissenschaftliche Fragen begeistert, erlebt aus einer Beobachterperspektive den Fortschritt der Informationstechnologie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gleichzeitig ist er besorgt um die Errungenschaften der Aufklärung. Kant beschließt, sich mit Weizenbaum auszutauschen. Der Jubilar ist ein hervorragender Lehrer und Dozent. Seine bildliche Darstellung komplexer Zusammenhänge ist sprichwörtlich. Er hat in den letzten Jahren erhebliche Mühen aufgewendet, plakative Überschriften und prosaische Tendenzen in meinen Texten auszumerzen. VI

Vorwort

Diese Festschrift ist nicht als Scheitern seiner Bemühungen zu verstehen. Ich danke allen Mitautoren, die innerhalb einer – wie ein Kollege sagte – „mörderisch kurzen Frist“ sehr kreative und wissenschaftlich interessante Fachbeiträge abgegeben und sich zugleich an eine Liste von inhaltlichen und formalen Vorgaben gehalten haben. Bereits die restriktive Begrenzung der Länge der Beiträge war eine Herausforderung. Für ideelle und materielle Unterstützung danke ich dem Verlag Dr. Otto Schmidt und den Kollegen aus der Kanzlei SSW Schneider Schiffer Weihermüller, allen voran Herrn Rechtsanwalt Ludwig Antoine, der durch seine Initiative und kontinuierliche Ermutigung dieses Projekt ermöglicht hat. München, September 2008

Isabell Conrad

VII

.

Prolog* Professor Immanuel Kant (*1724 in Königsberg, †1804 in Königsberg) hat nicht nur eine Wende in der Philosophiegeschichte einschließlich der Rechtsphilosophie eingeleitet. Er war ebenfalls ein bedeutender Naturwissenschaftler. Neben Philosophie hatte er unter anderem Physik und Mathematik studiert und auch Physische Geographie gelehrt. Seine lebhaften Vorlesungen waren sehr unterhaltsam. Der von der Nachwelt oft als stocksteif überzeichnete Kant wurde von Zeitgenossen als modisch, galant und humorvoll beschrieben. Möglicherweise hätte ihn die rhetorische Einstiegsfrage interessiert, die Joseph Weizenbaum (*1923 in Berlin, †2008 in Berlin) zusammen mit der Journalistin Gunna Wendt im Jahre 2006 im Titel eines Buches1 stellt. Weizenbaum war Informatikprofessor am M.I.T. (Cambridge/USA), einer der Pioniere der Computer-Sprache und der Künstlichen Intelligenz. Zugleich war Weizenbaum einer der bekanntesten Kritiker der gesellschaftlichen Auswirkungen der Computer-Technologie. Seine Kritik war oft in lustig-listige Gespräche mit bitterem Ernst eingebettet. Kant und Weizenbaum haben auch biographische Parallelen, etwa ein religiöses und, im materiellen Sinne, bescheidenes Elternhaus. Kant stammte aus einer streng pietistischen Familie. Der Vater war Riemermeister. Weizenbaums Vater war praktizierender Jude und Kürschnermeister. Kant und Weizenbaum wurden etwa gleich alt und beschäftigten sich bis ins hohe Alter mit großen Fragen ihrer Zeit. Im nun folgenden fiktiven Dialog versuchen sie die Schlucht zwischen ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Ideen zu überbrücken. Weizenbaum (schmunzelnd): Herr Kant, wo sind die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Kant (mit scheinbar ernster Miene, aber leicht amüsiertem Blick): Mein Ort der Vernunft war ein weißes Blatt Papier. Das war meine Haltestelle für Erkenntnis. Weizenbaum: Im Jahr 2008 verschwinden die weißen Blätter zusehends, lieber Herr Kollege. Die Hörsäle der Universitäten stammen

__________ * Von Isabell Conrad, Rechtsanwältin in der Kanzlei SSW Schneider Schäfer Weihermüller München. 1 Joseph Weizenbaum mit Gunna Wendt, Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?, Herder, Freiburg, 2006.

IX

Prolog

zwar häufig noch aus Ihrer Zeit, aber unsere Studenten haben in der Vorlesung mobile Computer vor sich, nicht mehr Papier. Kant: Selbst wenn meine synthetischen Urteile a priori ein bisschen an Papier kleben: Warum soll das einen großen Unterschied machen? Sowohl Papier als auch Computer sind doch lediglich Träger von Informationen! Weizenbaum: Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass ein Computer nichts ist ohne sein Programm. Dieses befähigt ihn praktisch zu autonomem Verhalten. Ich könnte Ihnen zwar erklären, wie man einen Computer baut; auch von Computer-Sprachen könnte ich Ihnen erzählen. Aber die Erfahrung einer technologisierten Welt würde Ihnen fehlen. Kant: Das mag sein, aber mein rein spekulatives Denken wäre doch nicht unfruchtbar. Bei disziplinierter Selbstkritik kann meine Spekulation – auch im Bereich Informationstechnologie – Dogmen in Frage stellen. Auf diese Weise könnte ich zur Anleitung und Ordnung des empirischen Wissens über Informationstechnologie beitragen. Und ich könnte praktische Ziele setzen, wo sicheres Wissen ohnehin nicht möglich ist. Das Recht ist eine Plattform, auf der sich Vernunft und praktische Bedürfnisse miteinander ins Benehmen setzen müssen. Weizenbaum: Vielleicht könnten Sie auch bei der aktuellen Frage weiterhelfen, was den Mensch zum Menschen macht. Ich glaube, ich habe diese Frage durch meine Entwicklung von Eliza, durch die Forschungen an Künstlicher Intelligenz, mit ausgelöst. Ich glaube nicht, dass wir diese Frage vollständig beantworten können, aber wir sollten es versuchen. Kant: Da bin ich ganz Ihrer Meinung. „Was ist der Mensch?“ ist wohl die umfassendste Frage überhaupt. Kann dieser Ansatz nicht auch zum Verständnis der von Menschen gemachten Computersprachen und ihrer Auswirkungen beitragen? Weizenbaum: Ich fürchte, Ihr spekulatives Denken würde irgendwann an seine Grenzen stoßen. Und damit meine ich noch lange nicht „die Dinge an sich“, wie Sie es ausdrücken. Ich meine vielmehr, dass sehr viele IT-Systeme heute so raffiniert, so komplex sind, dass man sie – bei noch so disziplinierter Kritik – nicht mehr durchschauen kann. Weil keiner versteht, wie diese Systeme in allen Einzelheiten und Zusammenhängen funktionieren, kann sie niemand ordnen und beherrschen. X

Prolog

Kant: Und was ist mit dem Baumeister, der das System gebaut hat? Der muss doch – zumindest theoretisch – in der Lage sein, es zu verstehen. Weizenbaum: IT-Systeme sind keine Kathedralen. Es gibt keine Dombaumeister in der Informatik. Standardsoftware ähnelt meistens einem Slum. Überall Wellblechhütten und Kartons. Keiner weiß mit Sicherheit, wie die Gegend einen Tag später aussieht. Schon ein Regenguss kann einen die Orientierung verlieren lassen. Und dieser Slum wird immer größer. Man spricht heute von ubiquitärem Computing. Vielleicht wird bald jeder Gegenstand im IT-Netz durch Draht oder Funk verbunden sein. In den Kanälen dieses Netzes schwimmt eine Datensuppe mit Informationen, von der kaum einer sagen kann, welche Fleischbrocken oder Fettaugen an welcher Stelle auftauchen. Kant: „Zu komplex“, „zu ungeordnet“: komplexer als Galaxien? Das ist doch keine naturwissenschaftliche Begründungsstruktur. Spiralnebel sind ebenfalls komplex und haben keinen menschlichen Baumeister. Und trotzdem habe ich die Entstehung der Himmelskörper aus rotierenden Gasnebeln erklären können. Weizenbaum: Richtig. Und bei anderen Dingen haben Sie sich geirrt. Ich erinnere nur an das Erdbeben von Lissabon. Sie haben geglaubt, in unterirdischen Höhlen würden Feuer lodern, so dass durch Wassereintritt Gase und Dämpfe entstehen, die Explosionen und damit Erdbeben verursachen. Kant: Ich bestreite ja gar nicht die Relativität und Beschränktheit des menschlichen Wissens und der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen. Auch ich habe oft nicht kritisch genug analysiert. Aber bedenken Sie nur, welche Möglichkeiten die IT eröffnet, um den Menschen gerade vor Erdbeben zu warnen! Doch darum geht es jetzt nicht. Wollen Sie behaupten, dass die Entwicklung der IT quasi automatisch abläuft, unabhängig vom Menschen? Wollen Sie sagen, dass IT-Systeme selbst Fehlentscheidungen treffen können, die ein kritischer, vernunftbegabter Mensch nicht vorhersagen kann? Vielleicht sogar die Entscheidung, die Menschheit zu vernichten? Weizenbaum: Das halte ich für möglich. Nach meiner Erfahrung sind die meisten Unternehmen gerade von den größten Software-Flickwerken abhängig. Jeder technische Fortschritt muss ausgenutzt werden, obwohl laufend die Erfahrung gemacht wird, wie fehleranfällig IT-Systeme sind. Trotzdem ist es selbstverständlich geworden, dass Computer bzw. das Internet bei jeder Aufgabe befragt werden. Eine XI

Prolog

weitere Gefahr besteht darin, dass „Performance“, also Leistung, als oberstes Ziel gilt und nicht die Ausarbeitung von Theorien, Vernunft und Recht. Da IT-Systeme scheinbar klare Zahlenwerte für Performance liefern, werden viele Sach- und Personalfragen von Computerauswertungen diktiert. Viele Unternehmen wollen wissen: „Was kostet es, wenn ich gegen das Gesetz verstoße?“ und entscheiden dann rein nach dem Preis, ob sie Illegalität in Kauf nehmen. Beunruhigt es Sie nicht, Herr Kant, dass Performance heute wichtiger ist als Ihre berühmte Frage: „Was soll ich tun?“ Kant: Ich kann die Gefahren Ihrer Datensuppe nachvollziehen, vor allem die Gefahren für die Selbstbestimmung des Menschen. Aber die Technik als potentielles Übel quasi als Kollektivbuße für die mangelnde Strukturierung, für Fehler im Modell? Das erinnert mich zu sehr an die alte Schuld-und-Sühne-Rhetorik. Die IT-Systeme, die Menschen schufen um freier zu werden, schränken die Menschen also zunehmend ein. Aber doch wohl im Sinne einer selbstverschuldeten Unmündigkeit! Computer per se sind nicht böse, auch nicht ihre Vernetzung. Weizenbaum: Keine Wissenschaft – auch nicht die Informatik – ist wertfrei oder autonom. Wo das Gegenteil geglaubt wird, wird früher oder später eine Gewissenlosigkeit eintreten. Kant: Das kann durchaus geschehen, wenn die Motivierung eines Tuns und seine Begründung vermischt werden. Mein erster Eindruck ist, dass durch die zunehmende Vernetzung der IT die Oberfläche der Erdkugel immer kleiner wird. Je enger die Maschen des Netzes sind, umso weniger können die Menschen voreinander ausweichen. Umso mehr kann aus der Datensuppe herausgefischt werden. Diese Dynamik muss das Recht aufgreifen. Ich sehe Lösungsansätze in meiner Metaphysik der Sitten. Vielleicht ist die Computer-Technologie besonders geeignet, um die Notwendigkeit von Tugend, von Achtung, von Menschenwürde zu begreifen. Im Netz darf nicht das Recht des Stärkeren herrschen, egal ob der Stärkere der Staat oder ein potentes Unternehmen ist. Wo Ordnung fehlt und gefordert wird, muss Ordnung hergestellt werden – sei es durch Verträge oder Verfassungen.

XII

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

A. Rechtsphilosophie, Methodenlehre, Rechtsinformatik Lothar Philipps I. Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Ulfrid Neumann II. Das Argument der Wölfe – Eine Skizze zu Naturalismus und Normativismus in der (juristischen) Begriffsbildung . . . . . . . .

10

Ulrich Schroth III. Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsgrenze im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

Hansjörg Geiger IV. Der Weg zur Rechtsinformatik – erste praktische Schritte in den Jahren 1969 bis 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. IT-Vertragstypen, IT-Projekte Michael Bartsch I. Kauf oder Miete von Standardsoftware – eine Risikoanalyse . .

33

Wolfgang Büchner II. Software-Lizenz – quo vadis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Elke Bischof/Michaela Witzel III. Gelungenes Krisenmanagement und Interessenwahrung . . . .

44

Michael Intveen IV. Rahmen-Beratungsverträge mit Software-Unternehmen . . . . .

49

XIII

Inhalt

C. AGB in der IT-Branche, Rechtswahl, Fliegender Gerichtsstand Seite

Matthias Hartmann I. Gute allgemeine Geschäftsbedingungen für die Informationstechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Martin Schweinoch II. Rechtswahl in Allgemeinen Geschäftsbedingungen – Vernunft oder Unvernunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Danielle Hertneck/Frieder Backu III. Die Auswirkungen des fliegenden Gerichtsstandes auf die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

D. Elektronischer Geschäftsverkehr, Informationspflichten, Werbeaussagen Andreas Witte I. Über den Zugang von Willenserklärungen im Zeitalter des Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Stefan Ernst II. Die neue Muster-Widerrufsbelehrung in § 14 BGB-InfoV . . . .

78

Michael Hassemer III. Werbung, Enttäuschung und Information . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

E. Immaterialgüterrecht, Spannungsfelder im Netz Thomas Dreier I. „Inseln“ der „Vernunft“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Frank A. Koch II. Internet-Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Michael Lehmann III. Wettbewerbsrechtliche Verkehrssicherungspflichten und Verletzung von Immaterialgüterrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

Andreas Günther IV. Die Bilanz des Immateriellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

XIV

Inhalt

F. Europarecht, Wettbewerbsrecht, Vergaberecht Seite

Manfred Mayer I. Der (un-)einheitliche Ansprechpartner, die Insel der Vernunft im Strudel der Umsetzung einer EG-Richtlinie über Dienstleistungen im deutschen Binnenmarkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Thomas Hoeren II. Insel und Meer: Das neue UWG und Vertriebsbindungen . . . .

121

Hans-Werner Moritz III. Der EU Microsoft Fall – Auswirkungen auf global agierende High Tech Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Anselm Brandi-Dohrn IV. Das „Mehrangebot“ als Sonderfall des Nebenangebots bei der Vergabe von IT-Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

G. Datenschutz, Persönlichkeitsrecht Holger Zuck I. Die acht Gebote des Datenschutzes und ihre Umsetzung – ein Beitrag zum Verständnis von § 9 BDSG . . . . . . . . . . . . . . .

145

Jürgen Taeger II. Einbindung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten in eine Compliance-Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Alfred Büllesbach III. Verbindliche Unternehmensregeln für den internationalen Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

Hans-Ullrich Gallwas IV. Datenschutzrechtliche Überlegungen zur mutmaßlichen Einwilligung bei klinischen Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

Michael Karger V. Schmerzensgeld bei heimlicher Ausspähung von IT-Systemen durch Unternehmen – Zur Drittwirkung des Grundrechts auf private Datensphäre zwischen Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Helmut Redeker VI. Datenschutz und Anwaltschaft – ein schwieriges Verhältnis. .

175 XV

Inhalt

H. IT-Anwaltschaft, Recht und praktische Vernunft Seite

Ursula Widmer I. Späte Bekenntnisse: Internet-Recht und Anwaltswerbung im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Astrid Auer-Reinsdorff/Peter Bräutigam II. „… von nichts kann nichts kommen … oder wie macht man eine Fachanwaltschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

Bernd Schiffer III. Inseln der Vernunft – Versuch einer rechtsphilosophischen Umrundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194

XVI

I. Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie Lothar Philipps*

„Warum gelten selbst ästhetische Kriterien wie Leonardos Goldener Schnitt nicht mehr als verbindlich?“ Süddeutsche Zeitung „Wer hat Ihnen gesagt, er gelte nicht mehr? Wahrscheinlich ist das Gespür für den Goldenen Schnitt eine Naturkonstante und hängt von unseren Gehirnströmen ab.“ Umberto Eco

Was ist Experimentalphilosophie? Experimental philosophy ist ein sehr junger Versuch, auf philosophische Fragen intersubjektiv gültige Antworten zu finden, und zwar mit einer neuartigen Methode.1 Man legt die Fragen sehr vielen Menschen vor, aus sehr vielen Völkern, Kulturen, Religionen, Schichten und Berufen. Dies beruht auf der Erwartung, dass es Fragen gebe, die von Menschen aus den verschiedensten Kulturen in übereinstimmender Weise beantwortet werden, weil es hier um Denkweisen, Werte und Normen geht, die der menschlichen Natur innewohnen und invariant gegenüber der Kultur sind, man könnte sagen: um Inseln der Vernunft. Ein paar Anmerkungen zu dieser Beschreibung: 1. „Sehr viele Menschen“ bedeutet in der Tat: sehr viele. Als der Bioanthropologe Marc Hauser sein Buch „Moral Minds“ veröffentlichte, hatten an seinem Projekt über moralische Entscheidungen be-

__________ * Lothar Philipps, Prof. (em) an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1 Joshua Knobe & Shaun Nichols (Ed.), Experimental Philosophy, 2008 (Oxford University Press); Kwame Anthony Appiah, Experiments in Ethics, 2008 (Harvard University Press).

3

Lothar Philipps

reits 200.000 Menschen teilgenommen. Dieses Projekt sei hier für experimental philosophy als Beispiel angeführt.2 2. „aus den verschiedensten Kulturen“. Die Fragebögen, die die Teilnehmer beantwortet hatten, wurden außer auf Englisch auch auf Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Indonesisch und Spanisch angeboten; so viel zu den „verschiedenen Kulturen“. Wie sich die Antworten auf die verschiedene Sprachen und Länder verteilen, gibt Hauser leider nicht an. 3. „Eine neuartige Methode“. Bis vor kurzem hätte man sich weltumspannende Projekte dieser Art gar nicht vorstellen können; im Internet lassen sie sich mit verhältnismäßig geringem Aufwand realisieren. 4. „Philosophische Fragen“. In Hausers Projekt geht es um Notstandssituationen, wie sie schon von dem griechischen Philosophen Karneades überliefert sind. Feine Unterscheidungen zwischen ihnen werden von Laien überraschend leicht und klar erkannt; davon habe ich mich in einer Reihe von Gesprächen überzeugt. 5. „Kulturunabhängige, invariante Werte und Normen“. Wenn sich herausstellt, dass es dergleichen gibt, könnte das von ganz erheblicher Bedeutung sein. Man bedenke, wie fundamental die Trennung von verifizierbaren Fakten und nur diskutierbaren Werten in den Wissenschaften ist. 6. „Sehr jung“ ist experimental philosophy in der Tat. Ein bedeutender Experimentalphilosoph avant la lettre war aber Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der seine Studenten in Gemäldegalerien und Bibliotheken geschickt hat, um Bilderrahmen und Bucheinbände auszumessen, mit dem Ergebnis: solche Rechtecke tendieren stark zum Maßverhältnis des Goldenen Schnitts. 7. Das Konzept der Experimentalphilosophie mag auf Kontinentaleuropäer dreist wirken; das kann ich nachempfinden, halte es aber nicht für stichhaltig. Ein Wissenschaftler sollte bereit sein, etwas zu wagen. Allerdings: Die Menschen, von deren Meinungsäußerungen das Konzept lebt, sollten kein Risiko eingehen müssen! Sie werden von Hausers Arbeitsgruppe beispielsweise nach ihrer Religion gefragt und danach, wie stark ihr Glaube sei. Solche Fragen sind sachgerecht. Aber kann man beispielsweise einem Moslem raten, sie ehr-

__________

2 Marc D. Hauser, Moral Minds, How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong. New York 2006 (Harper Collins). Die von Hausers Arbeitsgruppe gestellten Fragen findet man im Internet unter moral.wjh.harvard. edu.

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Iustitia distributiva

lich zu beantworten? Hausers Gruppe sichert den Teilnehmern Anonymität zu. Aber ist sie überhaupt in der Lage, solche Anonymität zu gewährleisten? Zumindest die amerikanische Homeland Security hat da doch wohl ein Wörtchen mitzureden. Fragen des Datenschutzes wird man auch in diesem Zusammenhang durchdenken müssen.

Fragen zur iustistia distributiva Natürlich kann hier und jetzt kein experimentalphilosophisches Projekt gestartet werden. Es gibt aber einen Fragenkomplex, bei dem ich testen möchte, ob gleiche Antworten zu erwarten wenigstens aussichtsreich ist. (1) Das Konservatorium einer kleinen Stadt veranstaltet einen Klavierwettbewerb, und ein musikbegeisterter Bürger hat 5000 Euro gestiftet, für den ersten und den zweiten Preisträger. Wie wird man das Geld gerecht auf die beiden Preise aufteilen? Auf jeden Fall wird man glatte Beträge wählen, am ehesten wohl runde Tausender; ein Preisgeld in Höhe von beispielsweise 2735 Euro würde sonderbar wirken. Dies vorausgesetzt, gibt es zwei Aufteilungen, die den Rangunterschied der Preise zur Geltung bringen: 4 zu 1 3 zu 2 Ich vermute, dass man sich für 3 – 2 entscheiden wird. Ob das zutrifft, darüber möge sich der Leser selber ein Urteil bilden, und er möge nun versuchen, in ein paar einfachen Gedanken- und Wertungsexperimenten, durch die der Ausgangsfall fortgesponnen wird, eine Entscheidung zu treffen. (2) Als Nächstes sei angenommen, ein zweiter Bürger jener kleinen Stadt habe für eine Verdopplung der Summe auf 10.000 Euro gesorgt; die Veranstalter sind sich darüber einig, dass das Geld nunmehr auf drei Preisträger aufzuteilen sei. Mathematisch gesehen sind 4 Aufteilungen (mathematisch: „Partitionen“) möglich, die die Rangordnung zwischen drei Preisgeldern wahren. Ist eine von ihnen gerechter als die anderen? Wenn ja, welche ist die gerechteste? 7–2–1 6–3–1 5

Lothar Philipps

5–4–1 5–3–2 (3) Die großzügigen Spenden zweier Bürger haben einen tiefen Eindruck hinterlassen. Das Konservatorium ruft nun zu weiteren Spenden auf, und die für Preisgelder zur Verfügung stehende Summe beläuft sich bald auf 16.000 Euro. Es gibt 14 Möglichkeiten, 16.000 Euro in rangwahrender Weise auf drei Preise zu verteilen. Wenn eine von ihnen gerechter ist als die anderen 13, welche? 13 – 2 – 1 12 – 3 – 1 11 – 4 – 1 11 – 3 – 2 10 – 5 – 1 10 – 4 – 2 9–6–1 9–5–2 9–4–3 8–7–1 8–6–2 8–5–3 7–6–3 7–5–4 (4) Ein weiterer Bürger legt noch 2.000 Euro hinzu, unter der Bedingung, dass die Anzahl der Preisträger auf vier erweitert werde. Das wird von den Veranstaltern akzeptiert. (Ein junger Mann, der an dem Wettbewerb teilnehmen will, ist ein Neffe des Spenders, und man munkelt, dass auf diese Weise seine Chancen, einen Preis zu gewinnen, verbessert werden sollen.) Es gibt 13 rangwahrende Möglichkeiten, 18.000 Euro auf vier Preisträger zu verteilen. Ist eine die gerechteste? 12 – 3 – 2 – 1 11 – 4 – 2 – 1 10 – 5 – 2 – 1 10 – 4 – 3 – 1 9–6–2–1 9–5–3–1 8–6–3–1 6

Iustitia distributiva

8–5–4–1 8–5–3–2 7–6–3–2 7–5–4–2 7–6–4–1 6–5–4–3

Gerechte Antworten? Ich habe diese vier Fragen an Teilnehmer des „Donnerstag-Seminars“ gemailt, einer Münchner rechtsphilosophischen Diskussionsrunde, und gleich am nächsten Tag erhielt ich die Antwort, die ich erhofft und erwartet hatte:3

__________

3 Dr. Marc Teller, der Einsender, ist in der Bayerischen Versicherungskammer tätig und von daher wohl in der Lage, einer Zahlenfolge mit größerem Mut gegenüberzutreten als die meisten Juristen. Er vertritt trotz aller Übereinstimmung eine andere Theorie als die von mir angedeutete. „Eigentlich finde ich die Idee, experimentell und statistisch Antworten auf philosophische und moralische Fragen zu finden, gut. Ich glaube aber nicht, dass man so tatsächlich einen genetisch verankerten, nicht kulturellen Kern finden kann. Allein schon die Kommunikationsmethode, das Internet, beruht auf einer immensen Infrastruktur, die ein ganz wesentlicher Teil der Kultur ist. Die Tatsache, dass ein großer Teil der Menschheit in der Lage ist, per Internet zu kommunizieren, zeigt, dass wir eine Weltkultur haben, die auf der ganzen Welt Technik, Infrastruktur und Lebensbedingungen vereinheitlicht. Und sicherlich auch die Werte der Menschen beeinflusst. Auch wenn alle Teilnehmer eines solchen Experimentes ähnlich antworten sollten, beweist dies nicht, dass die Antworten nicht kulturell beeinflusst sind.“ Ich finde diesen Einwand beeindruckend, zumal da ich mich noch gut an die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre erinnere, als viele Europäer überzeugt waren, dass nichtabendländische Völker ein prekäres Verhältnis zur Technik hätten. In einer Erzählung von Curzio Malaparte hatten die Russen die Schweiz erobert und Unmengen von Uhren erbeutet. Da diese Uhren aber nicht synchron liefen, war jeder Russe mit dem Phänomen der je eigenen Zeit konfrontiert, und die Sowjetunion brach zusammen. Ernst Jünger hatte eine Zeitungsnotiz gelesen, nach der die kriegführenden Japaner Ballons mit Brandbomben dem Wind anvertrauten, der in Richtung USA wehte, in der Hoffnung, er werde dort Weizenfelder in Brand setzen. Jünger schloss daraus auf eine grundsätzlich andere Einstellung der Asiaten zur Technik. Natürlich war das damals Ideologie, aber diese Ideologie hat Glauben erwecken können; heute wirkt sie nur noch grotesk. Was mich daran hindert, Marc Tellers Gedanken zu übernehmen, sind einige gute Gründe dafür, dass die Zahlenfolgen im Text archetypische Strukturen ausdrücken. RA Georg Jakob, ein anderer Einsender, beruft sich auf Rawls und das Maximin-Prinzip: Man wähle diejenige Verteilung, bei der der Empfänger des niedrigsten Preisgeldes am besten abschneidet. Das Maximin-Prinzip ist zwar für

7

Lothar Philipps

(1) Verteilung von 5(ooo) auf zwei Personen (2) von 10 auf drei Personen (3) von 16 auf drei Personen (4) von 18 auf vier Personen

3–2 5–3–2 8–5–3 8–5–3–2

Was mich besonders freute: Der Einsender hatte die Zahlenfolgen durch reine Wertung gefunden, ohne zu erkennen, dass ihnen ein Algorithmus zugrundeliegt. Tatsächlich handelt es sich um Abschnitte aus der Reihe der Fibonacci-Zahlen, welche folgendermaßen beginnt: 0 – 1 – 1 – 2 – 3 – 5 – 8 – 13 – 21 … Das Konstruktionsprinzip der Reihe ist einfach: Eine Fibonacci-Zahl wird durch die Addition der beiden vorhergehenden Fibonacci-Zahlen gebildet. Ist es nicht seltsam, dass die als gerecht empfundenen Aufteilungen sich aus dieser Zahlenreihe ergeben? Nicht gar so sehr, wenn man weiß, dass Fibonacci-Zahlen die ganzzahligen Schwestern des Goldenen Schnitts sind, bei dem sich ein Kleineres zu einem Größeren so verhält, wie das Größere zum Ganzen. So ist beispielsweise 3 die kleinere Fibonacci-Zahl gegenüber der nächst größeren Fibonacci-Zahl 5, und eben dem entspricht wiederum das Verhältnis von 5 zum Ganzen, zu 3+5, also zur Fibonacci-Zahl 8. Gewiss, 3/5 und 5/8 gleichen einander nur in grober Annäherung (0,6 und 0,6259), doch werden die Annäherungen umso genauer, je höher man in der Skala steigt: Sie nähern sich, oszillierend, der Zahl 0,618033…, einer Irrationalzahl und einer der Ausdrucksformen des Goldenen Schnitts.

__________ Situationen des Handelns unter Ungewissheit erfunden worden, aber warum sollte es nicht auch bei anderen Gelegenheiten passen? Immerhin decken sich Jakobs Resultate in den ersten beiden der vier Fälle mit denen des von mir verwendeten Fibonacci-Algorithmus. Für den vierten Fall gibt Jakob sein Prinzip selber auf, weil er der Ansicht ist, dass die Höhe der Preisgelder nicht kontinuierlich absinken dürfe, sondern gelegentlich – zuerst nach dem Spitzenplatz – ein größerer Sprung abwärts erfolgen müsse. Da hat er auch völlig Recht. Wenn man den Fibonacci-Algorithmus anwendet, sieht man sofort, dass mit zunehmender Anzahl der Preisgelder immer wieder neue Sprünge abwärts erfolgen und die schon vorhandenen sich vergrößern. Herzlichen Dank auch an Dr. Joachim Eiden, der mir eine Liste der für 2008 vorgesehenn Literaturpreise zugemailt hat. Von 26 Ausschreibungen enthalten 12 eine Fibonacci-Trias für die ersten drei Preise. (Eine solche Trias ist „50 – 100 – 150“ ebenso wie „100 – 200 – 300“; es kommt auf die Proportionen an.) Eine völlig fibonaccifremde Trias gibt es in der Liste nur einmal: 1750 – 1000 – 250 („Irseer Pegasus“).

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Iustitia distributiva

Fibonacci-Zahlen und Goldener Schnitt spielen eine große Rolle in Architektur und bildender Kunst, ebenso in der Naturwissenschaft.4 Wie es kommt, dass man diese Maßverhältnisse als schön und richtig empfindet, darüber gibt es eine immense Literatur, die aber das Rätsel nicht völlig löst. Besonders rätselhaft scheint mir freilich, dass die Fibonacci-Zahlen und der Goldene Schnitt in der Rechtsphilosophie bislang nicht aufgetreten sind.5 Von der Platonischen Dreiheit der Guten, Wahren und Schönen her interpretiert, ist hier eine Stelle offen geblieben. Das wird auch noch eine Weile so bleiben, denn Maß wird in unserer Kultur nur noch als Ergebnis von Messungen verstanden und nicht mehr als Eigenwert.

__________ 4 Vgl. dazu Ian Stewart, Die Zahlen der Natur – Mathematik als Fenster zur Welt (Nature’s Numbers), 2001 (Spektrum Akademischer Verlag). Vgl. auch das unglaublich schöne Buch von Friedrich Cramer, Chaos und Ordnung – die komplexe Struktur des Lebendigen, 3. Aufl. 1989 (Deutsche Verlags-Anstalt). 5 Sofern ich von ein paar eigenen Versuchen absehe: Fibonacci und die distributive Gerechtigkeit, Festschrift für Nikolaos K. Androulakis, S. 545–553, Athen 2003 (Ant. N. Sakkoulas); Fibonacci y Kepler: La justicia como armonía y medida sin commensurabilidad, El derecho en red, Estudios en Homenaje al professor Mario G. Losano, Madrid 2006 (Dykinson, S.L.); Räuber und Gerechtigkeit, P.M. Magazin 04/2008 S. 55. Das Auftreten von Fibonacci-Reihen in moralischen Wertungen ebenso wie in der Kunst und in der Natur erkläre ich mir dadurch, dass so in allen diesen Bereichen auf diese Weise ein gutes Arrangement von Spannungen hervorgerufen wird.

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II. Das Argument der Wölfe – Eine Skizze zu Naturalismus und Normativismus in der (juristischen) Begriffsbildung Ulfrid Neumann*

„Und wie steht es denn mit unsern heutigen Begründungen?“ Hermann Kantorowicz 1. Der amerikanische Humorist James Thurber erzählt eine Geschichte von Wölfen, die in das umzäunte Gehege einer Schafherde eingebrochen sind und dort zahlreiche Schafe getötet und gefressen haben. An dieser Geschichte ist zunächst nichts Besonderes. Man weiß, dass Wölfe Schafe fressen, wenn sie Gelegenheit dazu haben, und dass sie dann, wenn sie keine Gelegenheit dazu haben, versuchen, sich eine Gelegenheit zu verschaffen. Das Besondere in Thurbers Geschichte ist aber, dass die Wölfe von den anderen Tieren für diese Tat zur Rede gestellt werden und sich darauf einlassen, auf den Vorwurf eines rechtswidrigen Übergriffs zu antworten. Sie tun das allerdings anders, als man das vielleicht erwarten würde. Sie argumentieren nicht, dass Wölfe eben Wölfe seien und deshalb Schafe fressen müssten, sie verweisen auch nicht auf die Bedingungen des eigenen Überlebens oder berufen sich auf eine akute Notlage oder auch nur auf das Recht des Stärkeren. Sie bestreiten vielmehr die Zuständigkeit der anderen Tiere für diesen Casus. Denn schließlich habe man die Schafe gefressen; und weil man sie gefressen habe, gehe es um eine innere Angelegenheit der Wölfe, in die andere sich nicht einzumischen hätten. Was mich an dieser Geschichte interessiert, ist dieses Argument der Wölfe. Es ist als Argumentationsfigur valide und aus politischen und juristischen Diskussionen vertraut. Und es ist, für sich genommen, ein starkes Argument. Denn eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates wird grundsätzlich nicht toleriert; und dass man in der gleichnishaften Geschichte von Thurber die Wölfe als Repräsentanten eines aggressiven Staatswesens zu decodieren hat, dürfte nicht

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* Ulfrid Neumann, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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Das Argument der Wölfe

zweifelhaft sein. Das Nichteinmischungsprinzip gilt im Grundsatz auch noch in den Zeiten eines zunehmend völkerrechtlich tolerierten Interventionismus. Wer sich über dieses Prinzip hinwegsetzen will, muss dafür gewichtige Gründe haben. Trotzdem ist das Argument der Wölfe im vorliegenden Fall natürlich kein Argument, sondern eine kultivierte Frechheit. Denn ihre Antwort spielt mit einer Doppeldeutigkeit des Begriffs des „Inneren“, der sowohl – naturalistisch – im räumlichen Sinne verstanden werden kann als auch – normativ – im Sinne einer Alleinzuständigkeit und Alleinverantwortlichkeit für die eigene Sphäre. Im letzteren Sinne ist eine innere Angelegenheit eine solche, die die Einmischung eines Dritten ausschließt. Die Ersetzung des normativen Begriffs des Inneren durch einen naturalistischen hat die Konsequenz, dass gerade die Radikalität des Übergriffs auf andere (Auffressen der „Opfer“) die Sache zu einer inneren Angelegenheit der Täter machen, also ihre Verantwortlichkeit gegenüber Dritten ausschließen soll. Es handelt sich um einen exemplarischen Fall verfehlter naturalistischer Begriffsbildung. Das „Argument“ der Wölfe vernachlässigt den normativen Bezug, den der Begriff des „Inneren“ im Kontext des politischen und rechtlichen Topos der „inneren Angelegenheit“ hat. Der Fehler (die Frechheit) liegt also nicht per se darin, dass der Begriff im Zusammenhang mit der Schafe-Mahlzeit naturalistisch verwendet wird. Außerhalb des normativen Kontextes ist es durchaus sinnvoll, in Bezug auf den Bereich, um den es geht, den Begriff des „Inneren“ zu verwenden. Sollte einem der Wölfe die Mahlzeit nicht bekommen, wäre für die genaue Diagnose und die Therapie der Störungen ein Facharzt für innere Medizin zuständig. Der Fehler liegt, wie in den parallelen Fällen einer „naturalistischen“ juristischen Argumentation, ausschließlich darin, dass der Begriff in einem normativen Kontext naturalistisch verwendet wird. Thurber lässt offen, wie die anderen Tiere auf das Argument der Wölfe reagieren. Es liegt aber wohl in der Konsequenz der Geschichte, dass sie, die sich von vornherein wenig engagiert gezeigt haben (die „Drohung“ lautet, dass man sich „möglicherweise“ gegen die Wölfe verbünden würde, wenn diese keine befriedigende Erklärung für ihr Verhalten geben könnten), sich mit der Antwort zufrieden geben. 2. Man kann sich die anderen Tiere natürlich auch als wesentlich entschlossener und gewitzter vorstellen, als Super-Wölfe, die sich nicht nur weigern, sich so abspeisen zu lassen, sondern den Spieß umdrehen. Nehmen wir an, diese Super-Wölfe würden den Wölfen erklären, dass 11

Ulfrid Neumann

man nicht nur das Verhalten der Wölfe in der Angelegenheit mit den Schafen missbillige, sondern ganz generell die Regeln, nach denen das Wolfsrudel das soziale Zusammenleben gestalte. Der Leitwolf müsse demokratisch gewählt werden, es sei unerträglich, dass sich einfach der Stärkere durchsetze. Außerdem habe man gehört, dass schwächliche neugeborene Wölfe einfach ausgesetzt würden, wenn sie nicht überlebensfähig seien. Das könne man nicht hinnehmen. Demokratie und Tierrechte seien unteilbar. In diesen Fragen gebe es deshalb keine inneren Angelegenheiten. Sie, die Superwölfe, seien folglich berechtigt, gewaltsam in das Gebiet der Wölfe einzudringen, sich deren Territoriums zu bemächtigen und der Herrschaft des Leitwolfs ein Ende zu setzen. Auch diese Erklärung wäre nichts anderes als eine kultivierte Frechheit. Argumentationstheoretisch beruht sie auf einer komplementären Reduzierung komplexer Begriffe. Hatten die Wölfe den Begriff des „Inneren“ in einem normativen Kontext rein naturalistisch verwendet, so gebrauchen die Super-Wölfe ihn rein normativ, ohne die deskriptive, sachverhaltsbezogene Komponente des Begriffs zu berücksichtigen. Es wird damit nicht von dem Tatbestand der Norm auf deren Rechtsfolge geschlossen, sondern von der erwünschten Rechtsfolge auf den Tatbestand. Der Schluss lautet also nicht: „Weil es sich um eine innere Angelegenheit der Wölfe handelt, dürfen wir Super-Wölfe nicht intervenieren“, sondern: „Weil wir Super-Wölfe berechtigt sein sollen/ wollen, zu intervenieren, handelt es sich nicht um eine innere Angelegenheit der Wölfe“. Der Begriff der „inneren Angelegenheit“ wird also, unter Vernachlässigung seiner Voraussetzungen (Kriterien), allein über seine Funktion (Rolle) definiert; er wird als reiner Funktionsbegriff verwendet.1 Eine innere Angelegenheit liegt bei dieser Begriffsverwendung dann und nur dann vor, wenn in sie nicht von außen eingegriffen werden darf. Man formuliert also nicht: unter bestimmten Voraussetzungen dürfe trotz grundsätzlicher Geltung des Nichteinmischungsprinzips in die inneren Angelegenheiten eines anderen Gemeinwesens eingegriffen werden. Sondern: es handele sich gar nicht um innere Angelegenheiten, weil Interventionen erlaubt seien. Bei einer solchen Begriffsverwendung

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1 Zur wissenschaftstheoretischen Diskussion näher Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 1975, S. 32 ff. Zur Bedeutung der Unterscheidung zwischen Rolle und Kriterien eines Begriffs und zum Problem funktionaler Begriffsbildung und -interpretation in der Strafrechtsdogmatik näher Neumann, Neue Entwicklungen im Bereich der Argumentationsmuster zur Begründung oder zum Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit, ZStW 99 (1987), S. 567 ff., 570 ff.

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Das Argument der Wölfe

wird die Argumentation vordergründig einfacher, weil man nicht eine Ausnahme von der Regel begründen muss, sondern einfach behaupten kann, dass die Regel gar nicht angetastet werde. Aber das gilt eben nur vordergründig. Ein „ideales Auditorium“ der Tiere würde sich weder von dem Argument der Wölfe noch von dem der Super-Wölfe überzeugen lassen, weil es die strukturellen Defizite auch des Letzteren durchschauen würde. Regeln verlieren jegliche verhaltensleitende Kraft, wenn man die Begriffe auf der Tatbestandsseite nach dem Kriterium der Erwünschtheit bzw. der Unerwünschtheit der Rechtsfolge definiert. Die Frage, zu welchen Entscheidungen das ideale Auditorium als reales Auditorium, die „Insel der Vernunft“ im Meer juristischer Rhetorik, in den beiden Fällen tatsächlich kommen könnte, sollte oder vermutlich kommen würde, reicht über den argumentationstheoretischen Horizont hinaus. Für sie wäre eine „Theorie juristischen Entscheidens“ zuständig, wie Jochen Schneider, dem diese Skizze in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, sie exemplarisch dargestellt hat.2

__________ 2 Jochen Schneider, Theorie juristischen Entscheidens, in: Kaufmann/Hassemer/ Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 348 ff.

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III. Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsgrenze im Strafrecht1

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Ulrich Schroth*

„Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“ J. W. v. Goethe über Juristen Auslegungstopoi formulieren Fragestellungen, die an einen Text gerichtet werden können. Die systematische Auslegung verlangt etwa, Rechtssätze nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teile eines Gesamtkonzeptes zu verstehen. Die grammatikalische Auslegung fordert, sich zunächst mit dem Wortlaut eines Gesetzes zu beschäftigen. Im Strafrecht begrenzt sie gleichzeitig den Strafrichter. Die objektiv-teleologische Auslegungsmethode fordert dazu auf, die Auslegung der Norm an einem objektiven Sinn des Gesetzes zu orientieren. Die Frage ist, wie man den objektiven Sinn des Gesetzes am besten ermittelt, welche Sinndeutung angemessen ist und welche nicht. Im Folgenden soll uns die Argumentationsrelevanz des Auslegungstopos „Wille des historischen Gesetzgebers“ beschäftigen. Bei der Diskussion aller Auslegungstopoi (grammatikalische, systematische, objektiv-teleologische und historische Auslegung) sollten drei Fragen unterschieden werden2. Die drei Fragen bezogen auf den Auslegungstopos „Wille des historischen Gesetzgebers“ lauten wie folgt. Einmal ist zu fragen, was der Auslegungsgegenstand historischer Auslegung ist, was also unter dem Willen des Gesetzgebers zu verstehen ist. Hiervon ist die Frage zu unterscheiden, wie der Wille des Gesetz-

__________ * Prof. Dr. Ulrich Schroth ist Ordinarius in München. 1 Für Jochen, den Methodiker. Der Beitrag knüpft an Diskussionen an, die Jochen Schneider und ich im Rahmen eines DFG-Projektes geführt haben. Auf umfangreichen Fußnotennachweis wurde wegen der Seitenzahlbegrenzung im ganzen Aufsatz verzichtet. 2 Ausführlich hierzu: Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 82 ff. m. w. N.

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Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers im Strafrecht

gebers zu ermitteln, zu rekonstruieren ist. Schließlich ist die Frage zu stellen, inwieweit die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers in einem bestimmten Rechtsgebiet erlaubt und wann diese als verbindlich anzusehen ist. Da diese Frage nicht generell beantwortet werden kann, versuche ich sie hier für das Strafrecht zu thematisieren. Zunächst zu der ersten Frage. Vielfach wird der Topos „Wille des historischen Gesetzgebers“ dahingehend verstanden, dass ein psychisch existenter Wille des historischen Gesetzgebers zu rekonstruieren sei. Es wird der Anschein erweckt, als ob bei historischer Auslegung eine psychische Realität wiederhergestellt werden müsse. Zumeist wird dann dieses Verständnis benutzt, um diesen Auslegungstopos zu kritisieren: Es wird dann die These aufgestellt, einen Willen des historischen Gesetzgebers gebe es gar nicht. Letztere Aussage ist sicherlich richtig, gleichwohl ist die Kritik zu einfach. Ein angemessenes Verständnis des Topos „Wille des historischen Gesetzgebers“ ergibt sich, wenn die methodischen Grundlagen Hecks zugrunde gelegt werden3. Heck geht davon aus, dass Rechtssätze nicht aus der Struktur von Rechtsgebilden abzuleiten sind, sondern aus einer Entscheidung zu einem vom Gesetzgeber gesehenen Interessenkonflikt hervorgehen. Der Inhalt eines Rechtssatzes ist für Heck nicht verstanden, wenn dessen Interessengehalt nicht adäquat wiedergegeben wird. Das Gesetz ist die Kraftdiagonale der in Entsprechung zu bringenden Interessen der Rechtsgemeinschaft. Nach Auffassung von Heck hat historische Auslegung das Werturteil zu erforschen, das einer konkreten Rechtsnorm zugrunde liegt. Die historischen Interessen, die einer Norm zugrunde liegen, sind zu rekonstruieren und das Werturteil, das der Gesetzgeber in diesem Interessenkonflikt gefällt hat, ist festzustellen. In praktischer Interpretation nehmen Argumente, die auf den Willen des Gesetzgebers rekurrieren, Bezug auf unterschiedliche Momente der gesetzgeberischen Handlung: sie interpretieren Zuschreibungen im Gesetzgebungsverfahren; sie erklären Gesetzesnormen aus ihren Normvorläufern, auch Gesetzesentwürfen; sie verstehen die Gesetzesnorm aufgrund spezifischer im Gesetzgebungsverfahren virulent gewordener Problemstellungen, auf die mit dem Gesetz eine Antwort zu geben ver-

__________ 3 Vgl. hierzu etwa Heck, Interessenjurisprudenz und Gesetzestreue, in: Deutsche Juristenzeitung 1905, 1140 ff. und Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914.

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Ulrich Schroth

sucht wurde. Wird der Wille des historischen Gesetzgebers erforscht, wird die transparent gewordene Handlung des Gesetzgebers verstanden, die zu einem Gesetz geführt hat. Diese Handlung wird im Hinblick auf die Norm interpretiert. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass, soweit angemessen mit dem Willen des historischen Gesetzgebers argumentiert wird, der wörtlichen Bedeutung eines Tatbestandes (der semantischen Bedeutung also) eine hiervon verschiedene Äußerungsbedeutung gegenübergestellt wird (die pragmatische Bedeutung also). Die Äußerungsbedeutung ist dabei nicht unabhängig von der wörtlichen Bedeutung, sie kann aber von ihr verschieden sein. Die Paraphrasierung in den Gesetzesmaterialien, die Kenntnis des Problems, das der Gesetzgeber lösen wollte, die Diskrepanz zwischen altem und neuem Gesetz, zwischen Gesetzesentwurf und neuem Gesetz können die wörtliche Bedeutung relativieren und zu einem neuen Verständnis der Norm drängen. Soweit auf den Topos „Wille des historischen Gesetzgebers“ Bezug genommen wird, wird also der wörtlichen Bedeutung eines Tatbestandes eine Äußerungsbedeutung gegenübergestellt4. Nun stellt sich die zweite Frage: Ist es möglich, die Äußerungsbedeutung eines Rechtssatzes zu rekonstruieren? Von einem Willen des Gesetzgebers kann dann gesprochen werden, wenn sich ein gemeinsames Verständnis der Gesetzgebungsmaterialien hinsichtlich eines konkreten Problems herstellen lässt. Allgemeine Interpretationsregeln für Gesetzesmaterialien existieren nicht. Notwendig ist sicherlich, dass die Gesetzesmaterialien vollständig und im Zusammenhang benutzt werden. Aus ihnen muss ermittelt werden, welche Entscheidungssituation der Gesetzgeber vorgefunden und wie er sie interessensmäßig bewertet hat. Die Handlung eines Gesetzgebers ist verstanden, wenn der Interpret die Entscheidungssituation, in der der Gesetzgeber gestanden hat, erfasst und ermittelt hat, welches Werturteil er in der Entscheidungssituation gefällt hat. Bei strafrechtlichen Tatbeständen muss gefragt werden, welcher Rechtsgüterschutz vom Gesetzgeber beabsichtigt war und wie weit der Schutz, die Inanspruchnahme des Bürgers durch Strafen, gehen sollte. Eine weitere

__________ 4 Dass die Äußerungsbedeutung etwas anderes ist, als die semantische Bedeutung, versteht man, wenn man den Sprechakt „Hast du eine Uhr?“ analysiert. Der Fragende will nicht nur wissen, ob der Gefragte Besitzer einer Uhr ist, sondern will zumeist auch die Zeit wissen. Genauso kann die semantische Bedeutung einer Norm von der Bedeutung, die sich ergibt, wenn man die Norm aus der Handlungssituation des Gesetzgebers versteht, verschieden sein.

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Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers im Strafrecht

Möglichkeit, zu einem Willen des Gesetzgebers im Sinne eines Äußerungsverstehens zu gelangen, ist ein Blick auf die kontextuale Formulierung des strafrechtlichen Tatbestandes. Wird beispielsweise in § 259 StGB formuliert, „wer eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft, […], wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahre oder mit Geldstrafe bestraft“, so verlangt der Tatbestand der Hehlerei, dass die Sache unmittelbar aus der Vortat erlangt sein muss. Nur wenn eine Sache als identische Sache aus einem Diebstahl stammt, kann behauptet werden, sie sei gestohlen worden. Für die Surrogate der gestohlenen Sache lässt sich dies nicht behaupten. Verlangt aber das Tatbestandsmerkmal „gestohlen“, dass die Sache unmittelbar aus dem Delikt stammt, um es im strafrechtlichen Sinne hehlen zu können, so kann für das weitere Merkmal dieses Tatbestandes „oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt“ nichts anderes gelten. Derartige Interpretationen zur Fassung eines Tatbestandes begründen ebenfalls einen Willen des historischen Gesetzgebers. Nicht der Kontext an sich spricht für diese Interpretationsaussage, sondern die konkrete gesetzgeberische Handlung, die zu einer spezifischen Ausgestaltung einer Norm geführt hat. Ein Gesetzgeber, der einen derartigen Kontext in einem Tatbestand gesetzt hat, ist eben in dem angegebenen Sinne zu verstehen. Der Wille wird konventional, über Regeln, gedeutet. Negativ formuliert ist die Erforschung des Willens des Gesetzgebers kein subjektives Einfühlen in dessen Willen. Eine andere Möglichkeit, ein Äußerungsverstehen zu begründen, besteht darin, die geltende Fassung eines Gesetzes über ihre Normvorläufer zu erklären. Es wird dabei nicht nur die Diskrepanz von altem und neuem Gesetz erklärt, sondern auch die Diskrepanz des Gesetzes zu den vorangehenden Normentwürfen. Soweit sich hierbei konsensfähige auslegungsrelevante Aussagen treffen lassen, kann ebenfalls von einem Äußerungsverstehen gesprochen werden. Generell kann man wohl davon sprechen, dass die Äußerungsbedeutung eines Tatbestandes verstanden ist, wenn man erkennt, in welcher Entscheidungssituation der Gesetzgeber gestanden hat, wie er die Entscheidungssituation interpretiert hat und inwiefern die konkrete Fassung für ihn eine Lösung der Entscheidungssituation war. Es kann natürlich sein, dass die Lösung misslungen ist. Kommen wir zur dritten Frage. Inwieweit ist die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers erlaubt, inwieweit ist sie verbindlich? 17

Ulrich Schroth

Erlaubt ist die Ermittlung des Äußerungsverstehens immer. Auch die obergerichtliche Rechtsprechung zeichnet sich dadurch aus, dass vielfach mit dem Willen des historischen Gesetzgebers in dem Sinne des Äußerungsverstehens des Gesetzgebers argumentiert wird. In einem Münchner Forschungsprojekt5, in welchem die richterliche Rechtsprechung analysiert wurde, wurde festgestellt, dass gerade bei Rechtsprechungsänderungen vielfach Argumente vorzufinden sind, welche auf den historischen Gesetzgeber Bezug nehmen. Es wird hier nicht nur die wörtliche Bedeutung eines Tatbestands ermittelt, sondern vielfach auch die Äußerungsbedeutung, die sich aus dem Verständnis der gesetzgeberischen Handlung ergibt, die zu einem konkreten Gesetz geführt hat. Die Bezugnahme auf den Willen des historischen Gesetzgebers (die Ermittlung der pragmatischen Bedeutung) ist ein Verdeutlichungsinstrument des Gesetzes und soll Authentizität garantieren. Tatbestände vermitteln den unmittelbarsten Eindruck, wenn man die semantische Bedeutung sowie die Äußerungsbedeutung ermittelt. Welche Verbindlichkeit hat der Wille des historischen Gesetzgebers, die Äußerungsbedeutung, eines Tatbestandes? Es ist illusorisch, strafrechtliche Auslegung alleine an die Zwecke zu binden, die der historische Gesetzgeber verfolgen wollte. Strafrechtliche Auslegung ist mehr als nur Äußerungsverstehen. Wenn strafrechtliche Normen nicht willkürlich sein sollen, so Jakobs6 zu Recht, müssen sie miteinander verbunden sein und in diesem Sinne ein System bilden. Auch muss Wertungswillkür vermieden werden, was nur über Anpassung zu erreichen ist. Gesetze müssen sich auch neuen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen. Gesetzesinterpretationen müssen schließlich immer verallgemeinerungsfähige Aussagen aufstellen. Nur der Rekurs auf Zwecke des historischen Gesetzgebers vermag dies alles nicht zu leisten. Auch strafrechtliche Auslegung ist deshalb nicht alleine auf das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers zu reduzieren. Dies wird zu Recht inzwischen allgemein anerkannt. Die methodische Aussage der überwiegenden Strafrechtsauffassung, die dahin geht, dass der noch mögliche Wortlaut als absolute Grenze der Auslegung im Strafrecht anzusehen ist, ist sicherlich angemessen. Zu Recht sagt Roxin7, der Gesetzgeber könne seine Anordnungen nur in

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5 Laufzeit des Forschungsprojekts war von 1977 bis 1980, Leiter waren der Jubilar sowie Prof. Dr. Neumann und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Arthur Kaufmann. 6 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Kap. 4, Rn. 39. 7 Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 E. mit weiteren umfangreichen Nachweisen.

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Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers im Strafrecht

Worten ausdrücken. Was seine Worte nicht hergeben, sei nicht angeordnet und gelte nicht. Eine den Wortlaut überschreitende Strafrechtsanwendung verstößt daher gegen die staatliche Selbstbindung beim Einsatz der Strafgewalt und entbehrt demokratischer Legitimation. Die Behauptung, eine Auslegungshypothese verstoße gegen den Wortlaut, ist ein Gewinnerargument, d. h., eine Auslegungshypothese ist unzulässig, wenn sie zum Nachteil eines Angeklagten ist und gegen den Wortlaut verstößt. Diese Rolle des Arguments ist gleichzeitig die Schwäche des Arguments. Jeder Diskutant wird nämlich behaupten, dass seine Auslegungshypothese sich noch im Rahmen des möglichen Wortlauts bewegt. Zu konstatieren ist aber, dass im Hinblick auf den Wortlaut (die noch mögliche semantische Bedeutung) eines Tatbestandes – und dies nicht zufällig – viele Streitfragen existieren8. Die Grenze des noch möglichen Wortlauts lässt sich nicht immer konsensfähig feststellen. Sprachregeln sind kulturabhängig, zeitlichen Veränderungen unterworfen, es gibt einen metaphorischen Aspekt von Sprache, vor allem aber existiert die juristische Sprache auch als Fachsprache. Letztere kann sich von der Umgangssprache deutlich unterscheiden9. Es ist daran zu erinnern, dass der Bundesgerichtshof auf die Frage, ob die durch einen autonomen Versuch einer Selbsttötung geschaffene Gefahrenlage ein Unglücksfall ist, unterschiedliche Antworten gegeben hat10. Umstritten ist weiter, ob sprachlich die Verwendung verdünnter Salzsäure bei

__________ 8 Soweit in der juristischen Methodenlehre unterschieden wird zwischen positiven, negativen und neutralen Kandidaten, die unter ein Tatbestandsmerkmal fallen, besticht diese Unterscheidung durch ihre Prägnanz. Positive Kandidaten sind solche, die eindeutig unter einen Begriff fallen, negative Kandidaten solche, die eindeutig nicht unter einen Begriff fallen. Die neutralen Kandidaten sind diejenigen, bei denen unklar ist, ob sie noch unter ein Tatbestandsmerkmal zu subsumieren sind (vgl. hierzu Koch, Einleitung, in Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977). Tatsächlich ist diese Begriffsbestimmung erst dann präzise, wenn es ein intersubjektiv akzeptiertes Verfahren gibt, die unterschiedlichen Kandidaten zu bestimmen. Das Problem ist, dass sich vielfach nicht sagen lässt, ob es mit den Sprachregeln noch verträglich ist, einen Sachverhalt unter ein Tatbestandsmerkmal zu subsumieren. D. h., die Abgrenzung zwischen neutralen und negativen Kandidaten ist besonders unklar. Zum Ganzen vgl. ausführlich Schroth, Fn. 2, Kap. 5.4.2.2., Kritik. 9 Vgl. Neumann, Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 13 ff. Von Fachsprache ist auszugehen, wenn über die Bedeutung eines Begriffes auch juristisches Regelwissen entscheidet. 10 Bejahend etwa GrSenBGH 6, 147; BGHSt 13,162; 32, 375; grundsätzlich verneinend dagegen BGHSt 2, 150: nur unter besonderen Umständen, v. a. bei Geisteskrankheit und Sinneswandel des Mörders soll ein Unglücksfall anzunehmen sein.

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Ulrich Schroth

der Körperverletzung als Waffe angesehen werden kann11 oder ob man das gewaltlose Beibringen eines einschläfernden Mittels sprachlich als Gewaltanwendung definieren kann12. Problematisch ist auch, ob man von einem vollendeten Strafvereiteln sprechen kann, wenn nur eine Vereitelung auf geraume Zeit, etwa 10 Tage, vorliegt13, ob man von einem betroffen werden auf frischer Tat noch sprechen kann, wenn der Dieb das Bemerktwerden durch das Opfer gewaltsam verhindert14 etc. Man kann in all diesen Fällen darüber streiten, ob diese Sachverhalte gerade noch unter den jeweiligen Tatbestand fallen oder ob der Wortlaut bereits überschritten ist. Mit Hassemer und Kargl muss man insoweit von „wortlautferner Gesetzauslegung“15 sprechen. Meines Erachtens ist eine wortlautferne Auslegung, also eine Auslegung, bei der unklar ist, ob sie gegen den noch möglichen Wortlaut verstößt oder nicht, ob also das Analogieverbot greift, nur dann zulässig, wenn sie sich zu Recht jedenfalls auf den Willen des historischen Gesetzgebers, auf die pragmatische Bedeutung beziehen kann. Ansonsten sind wortlautferne Auslegungen im Strafrecht nicht demokratisch legitimiert. Es verstößt gegen die staatliche Selbstbindung, wortlautferne Interpretationen unter einen strafrechtlichen Tatbestand zu subsumieren. Wortlautferne Auslegungshypothesen bedürfen jedenfalls der Legitimation dahingehend, dass sie von einem sinnvollen Verständnis der gesetzgeberischen Handlung getragen sind. Ein Äußerungsverstehen des Gesetzgebers muss für die wortlautferne Interpretation geltend gemacht werden können, um sie zu legitimieren. Die gesetzgeberische Handlung muss deutlich machen, dass von einem InanspruchnahmeInteresse des Gesetzgebers ausgegangen werden kann. Lässt sich eine Auslegungshypothese zu Lasten eines Angeklagten überhaupt nicht mehr unter den Wortlaut fassen, liegt nicht einmal mehr eine wortlautferne Interpretation vor, so kann auch ein Äußerungsverstehen des Gesetzgebers nicht mehr legitimierend wirken. Zur Veranschaulichung der Grenzziehung über das Äußerungsverstehen ein Beispiel aus neuerer Rechtsprechung, das im Strafrecht lange umstritten war. Das Bundesverfassungsgericht war mit folgender Sachfrage konfrontiert16:

__________ 11 12 13 14 15 16

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BGHSt 1, 1. BGHSt 1, 145. BGH wistra 1995, 143. BGHSt 26, 95. Vgl. hierzu NK-Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 92, Bd. 1, 2. Aufl. 2005. BVerfG v. 19.3.2007 – 2 BvR 2273/06, NJW 2007, 1666.

Das Äußerungsverstehen des historischen Gesetzgebers im Strafrecht

Ein Autofahrer hatte bei verbotswidrigem Überholvorgang auf einem Baustellenabschnitt Rollsplitt aufgewirbelt, durch den ein überholtes Kraftfahrzeug beschädigt wurde. An der nächsten Autobahnraststätte wurde der Schädiger angesprochen. Er bestritt den Überholvorgang an sich und dass dieser auch nur möglicherweise ursächlich für einen Schaden des überholten Kfzs war. In einem Strafverfahren konnte ihm nachgewiesen werden, den Schaden verursacht zu haben. Nicht nachgewiesen werden konnte ihm, dass er beim Fahren die Schädigung bemerkt hatte. Das Amtsgericht verurteilte ihn wegen vorsätzlicher Unfallflucht. Er habe seine Pflicht zur unverzüglichen nachträglichen Ermöglichung der Feststellung, die er gemäß § 142 Abs. 2 StGB hat, verletzt. Diese Pflicht treffe dem Wortlaut nach zwar nur unfallbeteiligte Personen, die sich nach einem Unfall im Straßenverkehr nach der Wartezeit entfernen, und Personen, die sich berechtigt und entschuldigt entfernen. Das unvorsätzliche Entfernen sei jedoch dem berechtigten und entschuldigten Entfernen gleichzusetzen. Unvorsätzliches Entfernen kann aber nur gekünstelt als berechtigtes Entfernen verstanden werden. Ein berechtigtes Entfernen ist ein Entfernen, auf das der Unfallbeteiligte ein Recht hat. Auch ein entschuldigtes Entfernen liegt nicht vor. Jemand, der einfach fährt und einen Unfall nicht bemerkt, entfernt sich nicht entschuldigt. Entschuldigt handelt im allgemeinen Sprachgebrauch derjenige, der den Sinngehalt seines Handelns erkennt und sich dann in nicht vorwerfbarer Weise entfernt. Derjenige, der unvorsätzlich wegfährt (d. h. einen Unfall als solchen nicht bemerkt und fährt), macht nur von seinem Recht Gebrauch, sich generell fortbewegen zu dürfen. Bei der Einordnung des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort als berechtigtes oder entschuldigtes Entfernen handelt es sich also um eine wortlautferne Interpretation. Gekünstelt lässt sich zwar unvorsätzlich auch als entschuldigt verstehen. Man kann etwa sagen, Vorsatz hätte etwas mit Schuld zu tun. Eine derartig wortlautferne Interpretation ist dann nicht mehr legitim, wenn sie sich nicht auf das Äußerungsverstehen des Gesetzgebers berufen kann. Sie ist dann nicht mehr authentisch, nicht mehr rückführbar auf die Entscheidung des Gesetzgebers. Selbst wenn es vernünftig sein sollte, jedem Unfallbeteiligten, der sich (nachträglich) entfernt, eine unverzügliche, strafrechtlich garantierte Feststellungspflicht aufzuerlegen, so verhindert doch die Fassung des § 142 Abs. 2 StGB, dass dieser Tatbestand so weit ausgelegt werden darf. Eine derartige Interpretation wäre nur legitim, wenn sie sich auf das Äußerungsverstehen des Gesetzgebers, auf die Materialien oder die Art der Fassung des Gesetzes stützen könnte. Dies ist aber nicht der Fall. Selbst der Hinweis, dass im Gesetzgebungsverfahren darauf hingewie21

Ulrich Schroth

sen wurde, dass die Begriffe berechtigt oder entschuldigt weit auszulegen sind, vermag ein Äußerungsverstehen des Gesetzgebers dahingehend, dass auch ein Entfernen strafbar ist, wenn der Unfallbeteiligte den Unfall gar nicht bemerkt hat, nicht zu begründen. Der Gesetzgeber hat in § 142 Abs. 2 StGB gerade nicht angeordnet, dass als Unfallbeteiligter auch derjenige bestraft werden kann, der sich zunächst straflos (d. h. auch unvorsätzlich oder unwillentlich) vom Unfallort entfernt, dann vom Unfall erfährt und die Feststellung nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht hat. Vielmehr hat er nur angeordnet, dass der Unfallbeteiligte, der sich berechtigt oder entschuldigt entfernt und der Verpflichtung zur nachträglichen Feststellung vorsätzlich nicht nachkommt, sich strafbar macht. Das heißt, die Aufnahme der Begriffe berechtigt und entschuldigt im § 142 Abs. 2 StGB ist begrenzender Natur. Nur so ist die konkrete Fassung des Tatbestandes im Hinblick auf die Entscheidungssituation des Gesetzgebers angemessen zu erklären. Dann ist es aber nicht zulässig, diese Begrenzungsfunktion von Tatbestandsmerkmalen durch Interpretation aufzugeben17. Subsumiert man unvorsätzliches Sich-Entfernen unter § 142 Abs. 2 StGB, so liegt eine nicht demokratisch legitimierte Ausweitung dieses Tatbestandes vor. Das Bundesverfassungsgericht, als Garant rechtsstaatlicher Vernunft, hat dies völlig zu Recht als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG, das Analogieverbot, angesehen. Wortlautferne Argumentationen sind nur dann legitim, wenn sie sich auf ein Äußerungsverstehen des Gesetzgebers stützen können.

__________ 17 Ähnliches lässt sich auch in Hinblick auf den Nötigungstatbestand sagen: Wenn der Gesetzgeber „nur“ die verwerfliche Nötigung mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel unter Strafe stellt, dann erlaubt es das Äußerungsverstehen des Gesetzgebers nicht, den Gewaltbegriff so wortlautfern auszudeuten, dass jedes Nötigen schon als Gewalt anzusehen ist. Die Aufgabe des Gewaltbegriffes verliert nämlich dann jegliche Begrenzungsfunktion. Die Aufgabe von Tatbestandsmerkmalen, begrenzend zu wirken, muss bei der Interpretation gewahrt werden.

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IV. Der Weg zur Rechtsinformatik – erste praktische Schritte in den Jahren 1969 bis 1972 Hansjörg Geiger*

„Die freiwilligen Sklaven machen mehr Tyrannen, als die Tyrannen Sklaven machen.“ Tacitus

1. Entwicklung des Begriffs „Rechtsinformatik“ Beginnend in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten sich erste Autoren dem Thema „Rechtsinformatik“ wissenschaftlich genähert, hatten Probleme verortet, wie etwa eine Informationskrise des Rechts, und so das Thema theoretisch durchdacht und analysiert. Tatsächlich hatten etwa die Professoren Klug, Simitis, Luhmann, Fiedler und Podlech mit vorausschauenden Arbeiten beginnend schon ab 1962 auf die Möglichkeiten einer Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung auf dem Gebiet des Rechts, insbesondere zur juristischen Dokumentation hingewiesen. Damals wurde ganz generell im Zusammenhang mit der allgemein empfundenen Beschleunigung der Lebensvorgänge von einer „Informationslawine“ und „Informationsflut“ gesprochen1. Unter dem Stichwort „Informationskrise des Rechts“ wurde selbst in der Jurisprudenz das rapide Anwachsen von Gesetzgebung, Rechtsprechung und juristischer Literatur verzeichnet. Auch auf vielen juristischen Gebieten werde es immer schwieriger, sich rasch und einigermaßen vollständig über den aktuellen Stand zu informieren2. Simitis begründete damit beginnend bereits 1966 den Wunsch nach einer elektronischen Rechtsdokumentation. „Die fehlende Kenntnis des Rechts“, schreibt Simitis3, „stellt die Dispositionsmöglichkeiten des Einzelnen in Frage. Der uninformierte Bürger ist in seiner Existenz verunsichert und den Zufälligkeiten einer undurchschaubaren Rechtsordnung ausgeliefert.“

__________ * Prof. Dr. Hansjörg Geiger, Staatssekretär a. D. 1 Vgl. Bischof, Die Informationslawine, oder Alvin Toffler, Der Zukunftsschock. 2 Vgl. Fiedler, NJW 1968, S. 273 m. w. N. 3 Simitis, Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung, 1970, S. 48.

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Hansjörg Geiger

Zusammenfassend gab im Jahr 1970 Wilhelm Steinmüller4 die damalige Sicht auf die Notwendigkeit, auch im Bereich des Rechts, und zwar über eine automatisierte Rechtsdokumentation hinaus, Computer einzusetzen, wie folgt wieder: Den zunehmenden und schnellen Wandel in der Gesellschaft mit seinen immer schwerer durchschaubaren Prozessen könne das Recht nur noch steuern, „wenn auch im Rechtsbereich Elektronische Datenverarbeitungsanlagen eingesetzt werden“ … „Das Recht soll dem Computer „verständlich“ werden.“ Zur Wissenschaft dieses neuen Gebiets heißt es: Es geht um die Beziehung zwischen EDV und Recht sowie deren Voraussetzungen und Folgen. „Die Theorie hierüber ist die Rechtsinformatik.“ Der Begriff „Rechtsinformatik“ war keineswegs von Anfang an für dieses Fachgebiet verwendet worden, das anfangs schlicht auch mit „EDV und Recht“ umschrieben wurde5. Noch 1974 erinnert Fiedler6 daran, dass „Rechtskybernetik“, eine von ihm früh verwendete Bezeichnung, eine terminologische Alternative gewesen wäre. Auch „Juristische Informatik“ war zunächst eine Variante7 oder „Recht und Kybernetik“8. Parallel dazu gab es erste praktische Versuche, EDV im Bereich des Rechts einzusetzen. Dies war für die damalige Zeit in der Frühphase der Thematik „EDV und Recht“ nicht ganz untypisch. Denn tatsächlich sind Fragen der Rechtsinformatik zur damaligen Zeit stark von der Praxis geprägt worden, in der die Automation mit Elan betrieben wurde – ungeachtet des Fehlens der theoretischen Aufbereitung durch die Rechtsinformatik. Das wird etwa deutlich an den damals bereits zahlreichen und zum Teil schon fundierten Ausarbeitungen zu den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten des Computers; erstellt von Projektgruppen, von Landesverwaltungen9 sowie insbesondere der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt) oder von den Computerherstellern10. Übrigens auf dem benachbarten Feld der Automatisierung in der öffentlichen Verwaltung hatte sich die EDV schon in der zweiten Hälfte der

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4 Steinmüller, EDV und Recht, Einführung in die Rechtsinformatik, S. 2 ff. 5 Vgl. Geiger/Schneider, Notwendigkeit einer Literaturdokumentation zur Rechtsinformatik, DSWR 1973, S. 21. 6 Fiedler, Die Stellung der Rechtsinformatik zu den Informationswissenschaften, DSWR 1974, S. 116. 7 Fiedler, Automatisierung im Recht und juristische Informatik, JuS 1970, S. 433. 8 Suhr, JuS 1968, S. 351. 9 Vgl. zum Beispiel „Hessen 80, Großer Hessenplan“, Wiesbaden 1970 und „Bayerisches Informationssystem“. 10 Vgl. die zahlreichen Broschüren von IBM und Siemens.

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Der Weg zur Rechtsinformatik

60er Jahre eindeutig durchgesetzt11. So meinte etwa Steinmüller12 im August 1970 bei den Alpbacher Hochschulwochen, dass Deutschland zumindest in dem Teilbereich der integrierten kommunalen Datenverarbeitung in der Welt führend sei. Dies waren auch schon oft EDV-Anwendungen im Recht. Jedoch, führte Steinmüller weiter aus, hätten die Universitäten davon noch kaum Kenntnis genommen. „Der Jurist wird für seine Aufgabe in Staat und Verwaltung im Bereich der juristischen Datenverarbeitung nicht ausgebildet“, beklagte vor diesem Forum nicht nur Steinmüller13. Zu ersten „praktischen Schritten“ in diesem Bereich gehörten die Arbeiten an der Automation des Grundbuches14 und an einer automatisierten juristischen Dokumentation; beginnend im April 1969 im Auftrag der Firma Siemens15.

2. Das juristische Informationssystem/Automatisierte Rechtsdokumentation In Kenntnis der Existenz von JURIS mag man heute darüber lächeln, doch 1969 war die automatisierte Rechtsdokumentation noch in erster Linie Theorie und nicht Praxis. Wie die Theorie das Thema beherrschte, mag auch daran deutlich werden, wie über die Begrifflichkeiten diskutiert wurde; sollte von „elektronischer/automatischer Rechtsdokumentation“, von „juristischem Informationssystem“ oder automatisierter juristischer Dokumentation gesprochen werden16.

__________ 11 12 13 14

Fiedler, NJW 1968, S. 273/278. Steinmüller, JR 1979, S. 1 ff. Steinmüller, JR 1979, S. 1 ff. Auf die Automation des Grundbuches, die selbstverständlich unter Beibehaltung der grundlegenden Regeln der Grundbuchordnung, also des Verfahrensrechts, und natürlich auch des materiellen Immobilienrechts im BGB erfolgen sollte, kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingegangen werden; vgl. aber Geiger, JVBl 1970, S. 26 ff. 15 Siemens hatte gerade die ersten Schritte auf dem Gebiet der EDV gemacht. Die damaligen Siemens „Grosscomputer“ der Serie 4004 wurden noch von der amerikanischen Firma UNIVAC produziert, weil Siemens damals noch das nötige Know-how fehlte. Die Hauptspeicher der damaligen Siemens Computer hatten die aus heutiger Sicht geradezu lächerliche Kapazität von 128 KB und 256 KB. Das alles waren nicht gerade optimale Voraussetzungen für diese in der damaligen Zeit ambitionierten EDV-Projekte; vgl. auch Geiger/Schneider, Das Computergrundbuch, Siemens-Schriftenreihe 1970. 16 Vgl. etwa bei Fiedler, JuS 1970, S. 604 f.; Haft, Elektronische Datenverarbeitung im Recht, S. 102.

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Hansjörg Geiger

Bei Siemens gab es damals ein erstes Information-Retrieval-System, „GOLEM“, das Basis für eine juristische Dokumentation werden sollte. Ziel war es, durch Eingabe von Suchworten, „Deskriptoren“ genannt, gespeicherte juristische Texte zu finden. Ein wirkliches Vorbild gab es in Deutschland nicht. Die private JURADAT GmbH stellte sich erst im März 1970 vor. Sie wollte wohl nur obergerichtliche Entscheidungen speichern und sich in erster Linie an Rechtsanwälte wenden. Bereits Ende März 1973 wurde das Unternehmen jedoch wieder eingestellt. Das belgische CREDOC System beschränkte sich angeblich auf die Angabe von Fundstellen. Von den technischen und organisatorischen Problemen im Jahr 1969 beim Aufbau einer kleinen juristischen Datenbank (Speicherplatzproblem etc.) will ich gar nicht im Detail sprechen. Als noch viel schwieriger stellte sich die Vergabe der Deskriptoren heraus. Es ging zunächst einmal darum, die im Text vorhandenen Begriffe als Deskriptoren „manuell“ herauszusuchen. Doch bald wurde klar, dass die im Text verwendeten Wörter für eine spätere erfolgreiche Recherche nicht ausreichten. Es galt bei der Vergabe von Deskriptoren oder besser Suchworten sich in den Kopf dessen hinein zu versetzen, der das Dokument – ohne es zu kennen – für die Lösung eines Problems suchen würde. Es ging also schlicht darum, Deskriptoren zu vergeben, die ein Suchender möglicherweise als Suchwort gebrauchen würde. Das verlangte eine tiefere Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text. Da für eine erfolgreiche Recherche die richtigen Suchworte entscheidend sind, wurde wiederum schnell deutlich, wie subjektiv das Deskribieren geschieht. Der scheinbar objektiv arbeitende Computer wurde also vom bei der Vergabe der Stichworte höchst subjektiv arbeitenden Menschen quasi „verseucht“ oder, anders ausgedrückt, mit den menschlichen Unzulänglichkeiten kontaminiert. Ein Thesaurus der juristischen Fachbegriffe, den eine sachgerechte Dokumentation voraussetzt, lag damals nicht vor. Selbst Synonyme mussten noch manuell eingegeben werden. Ein funktionsfähiges automatisches System zur Deskriptorenvergabe, wie später zum Beispiel „Passat“ von Siemens, gab es damals noch nicht. Auch das in der Wissenschaft bereits andiskutierte Risiko der Petrifizierung der Rechtsprechung und damit möglicherweise des Rechts wurde schnell deutlich, wenn die als Treffer ausgeworfenen Urteile, insbesondere solche oberer Gerichte, den suchenden Juristen veranlassen, das eigene juristische Problem mit dem aufgefundenen Material zu lösen und auf die gedankliche Suche nach neuen, dem Problem mög26

Der Weg zur Rechtsinformatik

licherweise adäquateren Lösungsansätzen zu verzichten. Das könnte die Rechtsfortbildung beeinträchtigen. Eine andere damals erörterte Sorge war eine durch die automatisierte Rechtsdokumentation zu befürchtende Entwicklung hin zu einem dem kontinentalen Rechtskreis fremden „case law“.

3. Deutscher Juristentag 1970 – ein Durchbruch Der 48. Deutsche Juristentag 1970 in Mainz hat mit seiner Sonderveranstaltung „Datenverarbeitung im Recht“ für einen ersten Durchbruch bei den ersten „praktischen“ Schritten gesorgt. Mir war die Möglichkeit eingeräumt worden, meine Projekte im Rahmenprogramm vorführen zu dürfen und damit einer breiteren juristischen Öffentlichkeit praktische EDV-Anwendungen zu demonstrieren. Dieses Thema hatte lebhaftes Interesse bei den Teilnehmern gefunden, wie Weber17 in seinem Tagungsbericht für die JuS berichtet. Übrigens hatte der Deutsche Juristentag bereits 1968, und auch das gehört zu den ersten praktischen Schritten, eine „Kommission für Datenverarbeitung“ gegründet und somit vergleichsweise früh Weitsicht bekundet. Allerdings bestand unter den versammelten Juristen des Juristentages eine gehörige Portion Skepsis. Sollte der Richter vielleicht in Zukunft durch einen „Richterautomat“ ersetzt werden? Auf das damals teilweise noch recht gestörte Verhältnis zwischen Justiz und Technik weist im selben Jahr auch Kerkau18 hin. Die Dokumentare bei den obersten deutschen Gerichten hatten die Grenzen ihrer manuellen Erschließung der juristischen Dokumente erkannt und waren für neue Lösungsansätze offen. 450.000 Karteikarten als Findmittel beim Bundesverwaltungsgericht zeugen von den Grenzen der damaligen manuellen Zugangsmöglichkeiten allein auf eine Spezialmaterie wie das Sozialrecht. Diese Karteien wurden später dann durch Überführung in Juris dessen erste große Datenbasis19.

4. Von den Versuchen zur wirklichen Praxis der EDV im Recht Der nächste Durchbruch erfolgte mit dem Beschluss der Konferenz der Justizminister (wohl 1970) neben Grundbuchwesen, Mahnverfahren, Kosten- und Kassenwesen, die juristische Dokumentation und das

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17 Weber, JuS 1970, 644 (649). 18 Kerkau, Automatisierte Datenverarbeitung – Kybernetik in Rechtswissenschaft und Praxis, 1970, S. 3. 19 Heußner, in: DSWR 1971, S. 14.

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Hansjörg Geiger

zentrale Strafregister auf ihre Automationseignung prüfen zu lassen. Mit diesem Beschluss begann eine neue praktische Phase der „EDV im Recht“. Das Bundesministerium der Justiz bildete eine Bund-LänderKommission, der fünf Sachkommissionen zu den einzelnen Fachthemen zugeordnet waren. In kurzer Folge erschienen die ersten IstAnalysen, gefolgt von Rahmen-Soll-Konzepten. Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz widmeten sich besonders der Grundbuchautomation. Das Bundesjustizministerium bearbeitete vorrangig die juristische automatisierte Dokumentation. Spätestens Ende 1970 war damit auch in Deutschland für die automatisierte Rechtsdokumentation das Stadium des ernsthaften Experimentierens erreicht. Es lagen ja bereits Studien für ein juristisches Informationssystem vor. Zu nennen sind etwa der „Vorbericht über eine Juristische Datenbank“ von Fiedler, Klug und Simitis aus 1969 sowie ein Bericht der Arbeitsgruppe für Datenverarbeitung im Bundesministerium der Justiz20. Und 1972 lag ein umfassendes Systemkonzept, das 487 Seiten umfasste, zum Juristischen Informationssystem vor. Die Grundlage für JURIS war gelegt.21 Was den Einsatz der EDV im Bereich der Justiz angeht, gehörte Österreich von Anfang an zu den führenden Ländern.

5. Praktische Schritte an den Universitäten Prof. Simitis hatte, wie bereits ausgeführt, schon 1966 und 1967 zum Thema der juristischen Dokumentation publiziert. „Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung“ aus dem Jahr 1970 war ein erster Bestseller und brachte die Problematik breiteren Juristenkreisen näher. Simitis gründete an der Universität Frankfurt/Main die „Zentralstelle für maschinelle Dokumentation“. Diese wurde dann auch zu einer der Keimzellen des Datenschutzes. Dass das Land Hessen das weltweit erste Datenschutzgesetz (7.10.1970) hat, war maßgeblich dem Drängen von Prof. Simitis zu verdanken. Die Universität München stelle ich beispielhaft für universitäre Bemühungen der damaligen Zeit vor: Die juristische Fakultät richtete 1971 eine „Arbeitsgruppe Rechtsinformatik“ ein mit dem Auftrag, die Möglichkeiten der Forschung und Lehre auf diesem Gebiet zu er-

__________ 20 Beilage zum Bundesanzeiger 41/1970 vom 28.2.1970. 21 Zu weiteren EDV-gestützten Rechtsdokumentationen am Anfang der 70er Jahre siehe Berger in: DSWR 1973, S. 336 f.

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Der Weg zur Rechtsinformatik

mitteln. Mitglieder waren Kaufmann, Hassemer, Hopt, Kolle und Schneider. Bereits im Sommersemester 1971 fand ein erstes rechtstheoretisches Seminar zur Rechtsinformatik statt. Im folgenden Wintersemester gab es dann eine Ringvorlesung mit Informatikern, Rechtswissenschaftlern aus Bonn, Frankfurt und München sowie Verwaltungspraktikern, die wie damals üblich in einem Sammelband ihren Niederschlag fand (Kaufmann, Münchener Ringvorlesung). Außerdem wurde eine Einführungsvorlesung „Rechtsinformatik“ angeboten. Die juristische Fakultät war sich bezüglich der Zuordnung der Rechtsinformatik zu einem der etablierten Rechtsgebiete noch nicht im Klaren und beauftragte deshalb die Professoren Ulmer (Urheberrecht), Steindorf (Gesellschaftsrecht) und Kaufmann (Rechtsphilosophie) mit der Prüfung, ob ein Institut für „Rechtsinformatik“ zu gründen sei und welchem Rechtsgebiet dies angegliedert werden sollte. Seit 1. Oktober 1971 wurde die einschlägige Literatur systematisch erfasst und eine eigene kleine Bibliothek eingerichtet. Das alles waren Signale für eine erste Etablierung dieses neuen Faches „Rechtsinformatik“. An der Universität Regensburg hatte Prof. Steinmüller einen Kreis junger dynamischer Juristen versammelt, hierzu zählten unter anderen Malte von Berg, Hansjürgen Garstka, Bernd Lutterbeck und Christoph Mallmann. Mit dem JA-Sonderheft „EDV und Recht, Einführung in die Rechtsinformatik“ hatte diese Gruppe schon 1970 eine frühe Zusammenfassung der damaligen Diskussion vorgelegt und besonders verdienstvoll den Begriff „Rechtsinformatik“ etabliert. Vorlesungen zum Thema Rechtsinformatik hielt Steinmüller schon ab WS 1970/71. Zwischen den „Rechtsinformatikern“ aus München und Regensburg entspannen sich erste Kontakte, die dann zur Gründung einer informellen „München – Regensburger Arbeitsgemeinschaft“ führten. Die Gespräche dienten zunächst dem Brainstorming. Deren Ergebnisse finden sich im Sammelband (Gesetzesplanung in Heft 4 der Reihe „EDV und Recht“). Einer der besonders frühen Akteure der „juristischen Informatik“ war Prof. Fiedler an der Universität Köln bei Prof. Klug, dann Bonn, der auch in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) tätig war. Er regte an, „für den juristischen Bereich eine anwendungsorientierte Strukturtheorie der Informationsverarbeitung als eigene systematische Einheit zu postulieren“. „Im Postulat der Rechtsinformatik als Disziplin liegt die Feststellung, dass es heute nicht mehr um die Sammlung einzelner Anwendungsgebiete der Datenverarbeitung in Recht und Verwaltung geht, sondern um eine in sich geschlossene Methodik“ (Fiedler, JuS 1970, S. 433). 29

Hansjörg Geiger

Im März/April 1970 veranstaltete das Deutsche Rechenzentrum in Darmstadt einen „Spezialprogrammierkurs für nichtnumerische Probleme unter besonderer Berücksichtigung der Rechtswissenschaften“. Die Ergebnisse der dabei angefallenen Gedankengänge hat Suhr veröffentlicht (Computer als juristischer Gesprächspartner, Berlin 1970). An der Freien Universität Berlin setzte sich 1970 eine Arbeitsgruppe mit Fragen automatisierter juristischer Dokumentation, insbesondere mit dem privaten Projekt JURADAT kritisch auseinander. Diese hatte frühe Kontakte zu Steinmüller in Regensburg. Nach einem Beschluss des Fachbereichs Rechtswissenschaft an der FU aus Januar 1973 bestand der Plan, die Fächer Rechtstheorie und Rechtsinformatik in Lehre und Forschung zu einem Schwerpunktgebiet zu machen.22 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Jahre 1969 bis 1972, was die ersten praktischen Schritte einer Einführung der EDV im Bereich des Rechts anbelangt, eine besonders fruchtbare Zeit waren und zu einer beginnenden theoretischen Auseinandersetzung mit den sich daraus ergebenden Rechtsfolgen führten. Daran wird deutlich, dass auch praktische Versuche nutzbringend und somit Inseln der Vernunft für die theoretische Auseinandersetzung mit Fragen der Rechtsinformatik sein können.

__________ 22 Auch der Gesetzgeber reagierte auf den EDV-Einsatz. Frühe Beispiele sind das Gesetz über die Datenzentrale Schleswig-Holstein vom 2.4.1968 sowie das Gesetz über die Errichtung der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) und Kommunale Gebietsrechenzentren (KGRZ) vom 16.12.1969. Dass die damaligen Gedankengänge der jungen Rechtsinformatik selbst vom Gesetzgeber in einer heute sehr selten anzutreffenden Schnelligkeit aufgegriffen wurden, zeigen das „Gesetz über die Organisation der elektronischen Datenverarbeitung im Freistaat Bayern“ (EDVG) vom 12.10.1970 oder das Hessische Datenschutzgesetz vom 7.10.1970. Die damals diskutierten Risiken einer Verschiebung in der Gewaltenteilung bei einer Nutzung der EDV durch die Exekutive und damit für die Rolle des Parlaments wurden im bayerischen EDVG durch die ausdrückliche Beteiligung von Landtag und Senat beantwortet (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 EDVG) und im HDSG (§ 10 Abs. 2) als Prüfauftrag formuliert. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Bekanntmachung der bayerischen Staatsregierung über „Vorläufige Grundsätze für das automationsgerechte Abfassen von Vorschriften“ vom 27.8.1969; veröffentlicht im Bayerischen Staatsanzeiger Nr. 36 (5.9.1969).

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I. Kauf oder Miete von Standardsoftware – eine Risikoanalyse Michael Bartsch*

„Es erben sich Gesetz’ und Rechte / Wie eine ew’ge Krankheit fort / … / Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage / Weh dir, daß du ein Enkel bist!“ So kennen wir es aus dem Faust. Aber junge Leute, die heute IT-Vertragsrecht betreiben, müssen rufen „Wohl mir, daß ich ein Enkel bin“, Enkel von Jochen Schneider und seinem außerordentlichen Werk, grundlegend im wörtlichen Sinne. Und sie werden, klassisch gebildet und weiterhin aus dem Faust zitierend, mit einer kleinen Abweichung gegenüber dem Original hinzusetzen: „O glücklich, wer nun hoffen kann / Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!“

1. Der Fall Auf einer größeren Konferenz hatte ich direkt nach Jochen Schneider zu referieren. Ich hatte vor, die Vermietung von Standardsoftware als die optimale Überlassungsform darzustellen, und mir hierfür weithintragende Argumente ausgedacht. Jochen Schneider aber schloss seine Rede mit einer kurzen Bemerkung des Inhalts: Sollte jemand je auf den närrischen Gedanken kommen, Software zu vermieten, so möge er doch besser sein Geld in den Gully werfen, das ginge schneller, sei nervenschonender und führe wirtschaftlich zum selben Ergebnis. Und was sollte ich dann sagen? Die Sache endete nicht in Gelehrsamkeit, sondern natürlich in allgemeiner Heiterkeit, eine Stimmungslage, die in Jochen Schneiders Nähe ohnehin gern aufritt. Aber im Ernst: Wie stellen sich für das Softwarehaus die Risiken dar? Wir nehmen folgenden Fall:

__________ * Professor Dr. Michael Bartsch ist Partner der Kanzlei Bartsch und Partner in Karlsruhe.

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Michael Bartsch

Der Unternehmer U braucht vom Softwarehaus S Standardsoftware. Die Investition rechnet sich für U nur bei einer Nutzungsdauer von fünf Jahren. U kann die Software kaufen und zusätzlich einen Pflegevertrag schließen. Die Software kann praktisch ohne Pflege nicht eingesetzt werden. Oder er mietet die Software. Der Mietvertrag ist um die für Softwarepflege typischen Leistungen (Hotline, fortentwickelte Programmstände) erweitert. Der Mietzins wird so kalkuliert, dass der Kaufpreis einschließlich Zinsen mit Ablauf von fünf Jahren amortisiert ist. Üblicherweise gelten Formularverträge des Softwarehauses, die beim Kauf eine Gewährleitungszeit von einem Jahr vorsehen und für Miete und Pflege eine Kündigungsmöglichkeit von drei Monaten zum Quartalsende. Miet- und Pflegevertrag haben eine Mindestlaufzeit von zwei Jahren. Welche der Überlassungsformen bietet für das Softwarehaus die geringeren Risiken? Die rasche Kündbarkeit der beiden Dauerschuldverhältnisse ist AGBrechtlich zulässig. Für den Mietvertrag gilt die 3-Tages-Frist des § 580a Abs. 3 Nr. 2 BGB. Wegen der Vergleichbarkeit der mietrechtlichen Instandhaltungspflicht und der zentralen Pflicht aus einem Pflegevertrag wird man dies für den Pflegevertrag genauso sehen. Der Kunde muss also durch Individualvereinbarung Vorsorge treffen, wenn er eine längere Kündigungsfrist oder Vertragsdauer sichern möchte. Auftraggeber versäumen regelmäßig die Sicherung der Softwarepflege für die geplante Nutzungsdauer; deshalb wird der Fall hier so gebildet. Der Softwarekaufvertrag benennt zwar eine Gewährleistungszeit von einem Jahr. Wie üblich enthält die Klausel jedoch nicht die notwendigen Vorbehalte für die Fälle, in denen die Verkürzung der Gewährleistungszeit unzulässig ist (z. B. Schadensersatz bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit). Also ist die Klausel unwirksam; es gilt eine Gewährleistungszeit von zwei Jahren.

2. Verzug mit der erstmaligen Leistung Unabhängig vom Vertragstyp gerät S in Verzug (sei es durch Mahnung, sei es durch Überschreiten einer vereinbarten Lieferfrist). U hat Anspruch auf Erstattung seines Verzögerungsschadens (z. B. nutzlose Anschaffung von Hardware). Ungeklärt ist, ob das Ausbleiben der betriebswirtschaftlichen Vorteile der Software schon als Schaden gilt. Ich 34

Kauf oder Miete von Standardsoftware – eine Risikoanalyse

halte einen solchen Ersatzanspruch für richtig. U beschafft sich die Software, um einen über Abschreibung und Finanzierungsaufwand hinausgehenden wirtschaftlichen Vorteil zu haben und darf, wo dieser Vorteil zeitweise ausbleibt, Ersatz erwarten. Im unternehmerischen Verkehr muss die geplante Rentabilität der Investition über Kosten und Abschreibung hinaus auch schadensrechtlich gesichert bleiben. U kann die Beschaffungsverträge über § 323 BGB oder § 281 BGB beenden; dem Pflegevertrag geht die Geschäftsgrundlage verloren. Beim Modell Kauf ist der Schadensersatz der volle Nichterfüllungsschaden. U hatte die Berechtigung zur dauerhaften Softwarenutzung erworben. Seinen Mehraufwand bei Ersatzbeschaffung kann er geltend machen. Allerdings kann er nur so abrechnen, als endete der Pflegevertrag zum Ablauf der zwei Jahre, denn zum Ablauf dieser Zeit kann S durch Kündigung des Pflegevertrages die praktische Nutzbarkeit der Software beenden. Kann U dem die Treuwidrigkeit einer solchen Kündigung entgegenhalten? Dies wurde in der Literatur ausführlich diskutiert und abgelehnt; zu Recht. Wo die AGB-Kontrolle versagt, haben Treuwidrigkeitsargumente nur in besonderen Einzelfällen einen Anwendungsbereich. Beim Modell Miete wird S entgegnen, er sei berechtigt gewesen, den Mietvertrag zum Ablauf von zwei Jahren zu kündigen. Damit nimmt er dem U das Argument eines Amortisationszeitraumes von fünf Jahren. Auch hier kann U dem nur die Treuwidrigkeit einer solchen Kündigung entgegenhalten, was zu keiner anderen Abwägung als beim Pflegevertrag (wie eben dargestellt) führt.

3. Nutzungsausfall während der ersten zwei Jahre Die zwei Jahre entsprechen der Mindestdauer von Miet- und Pflegevertrag und der Gewährleistungsdauer des Kaufvertrages. Mit Nutzungsausfall ist gemeint, dass U die Software nicht weiterbetreiben kann (z. B. schwerer Mangel oder Ausbleiben aktualisierter Softwarefassungen). Beim Mietvertrag ist U von der Pflicht zur Mietzinszahlung bis zum Ende der Störung frei (§ 536 Abs. 1 Satz 1 BGB). Der Anspruch auf Selbstbeseitigung (§ 536 a Abs. 2 BGB) ist bei Standardsoftware leer, weil U mangels Quellprogramms den Mangel nicht beseitigen kann. Der Anspruch auf Erstattung des Verzögerungsschadens ist nicht anders als bei der eben diskutierten Situation. 35

Michael Bartsch

Auch beim Kaufvertrag hat U bei verzögerter Behebung des Nutzungsausfalls einen Schadensersatzanspruch aus Verzug. Auch hier besteht die Frage, ob der entgangene Gebrauchsvorteil ein Schaden ist (wofür ich stimme). Die Vergütung aus dem Pflegevertrag muss für die Zeit der Störung nicht gezahlt werden. U kann den Mietvertrag aus wichtigem Grund kündigen (§ 543 BGB). Sein Schadensersatzanspruch für den Fortfall des Vertrages folgt aus § 280 BGB. S wird U allerdings entgegenhalten, dass U sich in relativ kurzer Zeit (je nachdem, welcher Anteil der zwei Jahre noch offen ist) ohnehin hätte die Software neu beschaffen müssen, weil S auf diesen Zeitpunkt ordentlich kündigen durfte. Beim Kaufvertrag hat S den gewährleistungsrechtlichen Rücktrittsund Schadensersatzanspruch; den Pflegevertrag wird er aus wichtigem Grund kündigen. Für die Berechnung des Schadens steht auch hier nur ein Amortisationszeitraum bis zum Ablauf der zwei Jahre zur Verfügung. Die Schadensberechnungen bei kauf- und mietvertraglichen Modellen werden sich im Ergebnis nicht sehr unterscheiden. In die Gesamtberechnung ist beim Kaufvertrag die Abschreibung über fünf Jahre einzustellen, beim Mietvertrag der ersparte Mietzins. Entschädigung für den Nutzungsausfall gibt es bei beiden Modellen nur für den Zeitraum der zwei Jahre.

4. Nutzungsausfall nach Ablauf der zwei Jahre Kaufrechtliche Gewährleistungsansprüche stehen nicht mehr zur Verfügung. Sowohl beim Mietvertrag als auch beim Pflegevertrag führt der Fortbestand des Mangels spätestens ab einer Mahnung zum Verzug (der bei sachgerecht formulierten Verfügbarkeitsklauseln ohne Mahnung eintreten kann). Die kleine Arabeske beim Mietvertrag, wonach für anfängliche Mängel verschuldensfreie Haftung gilt, können wir beiseitelassen. Denn das Softwarehaus kann den nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB notwendigen Entlastungsbeweis praktisch ohnehin nicht führen. Dass beim Mietvertrag der Anspruch aus § 536 a BGB und beim Pflegevertrag aus § 280 BGB folgt, ist für das Ergebnis ebenfalls ohne Bedeutung. Der Verzögerungsschaden ist damit gesichert. U kann einen Miet- und einen Pflegevertrag aus wichtigem Grund kündigen. Die Formulierungsunterschiede für die Entbehrlichkeit der 36

Kauf oder Miete von Standardsoftware – eine Risikoanalyse

Fristsetzung in § 323 Abs. 2 BGB (auf den § 314 Abs. 2 Satz 2 BGB verweist) und in § 543 Abs. 3 BGB ist nur unzureichende gesetzliche Redaktion und schafft keine praktischen Unterschiede. Weil die Nutzungsmöglichkeit der Software für U ohnehin durch die rasche Beendbarkeit des Mietvertrages ungesichert ist, kann der Nichterfüllungsschaden nur die wirtschaftlichen Nachteile einer Überbrückung bis zu diesem nahen Zeitpunkt erfassen.

5. Ergebnis Wollte man die Konstellationen im Detail schulmäßig durchprüfen, so käme man auf weitere kleine Unterschiede, aber nicht auf große Konzeptunterschiede. Ob U die Software kauft und pflegen lässt oder ob U die Software mietet, ist aus unternehmerischer Sicht primär eine Frage der Unternehmensfinanzierung. Das Recht bildet diesen Tatbestand durch relativ parallele Konsequenzen bei Leistungsstörungen ab. Aber wie viele Details sind unklar! Unklar ist vor allem die Frage, ob die Unbenutzbarkeit eines Investitionsgutes zum Ersatz des Betrages führt, den der Unternehmer mit dem Investitionsgut erwirtschaften wollte. Fern hinter dem Horizont vermuten wir Inseln der Vernunft, die sich in strahlendem Licht aus einem blauen Meer erheben. Vernunft ist, wie wir bei Kant lernen können, „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“. Wir Juristen müssen uns in nebligen Niederungen zurechtfinden und wären schon froh, hätten wir rechtliche Vorgaben, die sich unter einfache Verstandesregeln subsumieren lassen.

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II. Software-Lizenz – quo vadis? Wolfgang Büchner*

„Das herkömmliche Anwendungsgeschäft ist tot.“ Mark Benjow, CEO von salesforce.com zur Zukunft des Softwarevertriebs am 7./8.5.2008 in London, zitiert nach CW Nr. 20 vom 16.5.2008, S. 6 Es gab Zeiten, da konnte man die IT-rechtliche Welt noch als Insel der Vernunft begreifen mit klar geordneten Strukturen. Wir Juristen konnten unserer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, rechtlich zu beurteilende Sachverhalte fein säuberlich in unterschiedlichen Schubladen zu kategorisieren und hieran unsere dogmatischen Folgerungen zu knüpfen. Sehr klar konnten Hardwarevertrieb, Softwarelizenzierung, Hardwarewartung, Softwarepflege und sonstige Services voneinander abgeschichtet und einer rechtlichen Lösung zugeführt werden. Speziell die Frage der rechtlichen Einordnung des Vertriebs von Standardsoftware bewegte dabei über viele Jahre die Gemüter. Es steht außer Frage, dass Jochen Schneider die rechtliche Aufarbeitung und die Fortentwicklung der Rechtsanwendung in diesem Bereich maßgeblich mitgeprägt hat. Doch nun tauchen dunkle Wolken über dieser Insel auf. Nachdem wir nach Jahren heißer Auseinandersetzungen über diverse dieser Schubladen allmählich glaubten, uns auf einem durch Wissenschaft und Rechtsprechung abgesicherten dogmatischen Fundament bewegen und beispielsweise davon ausgehen zu dürfen, dass eine auf einem Datenträger verkörperte Software eine Sache im Sinne von § 90 BGB ist1 oder die Einordnung der Softwareüberlassung als Kauf oder Miete klaren und nachvollziehbaren Kriterien folgt2, brachten die GPLund ähnliche Lizenztypen für Open-Source-Software neuen dogmatischen Zündstoff3, dessen praktische wirtschaftliche Bedeutung sich dann aber doch als weniger brisant erwies, als ursprünglich angenommen.

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* Prof. Dr. Wolfgang Büchner ist Rechtsanwalt der Sozietät Lovells in München. 1 So z. B. BGH, NJW 1993, 2436, 2438. 2 Hierzu ausführlich Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Auflage, D. Rn. 166 ff. u 197 ff.; ferner Bartsch, in diesem Werk, S. 33 ff. 3 Vgl. Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Auflage, C. Rn. 95.

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Software-Lizenz – quo vadis?

Ein weiteres Mal kochte die Diskussion um die rechtliche Behandlung und Einordnung von Softwarelizenzen bei dem Thema Handel mit Gebrauchtsoftware hoch4. Alles soll hier von der feinsinnigen Unterscheidung abhängen, ob Software per Online-Download angeboten wird oder auf einem Datenträger verkörpert ist; Letzteres soll die Erschöpfungswirkung gemäß § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG herbeiführen und den Vertrieb von Gebrauchtlizenzen sanktionieren, Ersteres nicht5. Dies alles war indessen nur Geplänkel im Vergleich zum Umbau der IT-Landschaften, der sich gegenwärtig – von vielen unbemerkt – abzeichnet und der viele unserer überkommenen dogmatischen Errungenschaften in Frage stellt. Worum geht es hierbei? Um nicht weniger als dass traditionelle Vertriebskonzepte für Hardware und Software jedenfalls im B2B-Bereich schon bald komplett überholt sein könnten. Der Paradigmenwechsel begann fast unmerklich mit so genannten Application Service Providing (ASP-)Angeboten, die darauf ausgerichtet sind, dass der Anwender seine Softwareapplikationen nicht mehr selbst erwirbt, sondern diese bei einem Provider gehostet werden und der Kunde auf diese nur noch temporär über seinen Webbrowser zugreift6. Er zahlt dann auch nur entsprechend der tatsächlichen Nutzung. Der BGH wendet auf solche Konstellationen Mietrecht an, mit Blick auf den Umstand, dass auf eine auf einem Datenträger verkörperte Standardsoftware und damit auf eine bewegliche Sache zugegriffen wird7. Diese Auffassung wird in weiten Teilen der Literatur geteilt8. Die fast noch wichtigere Frage ist allerdings die rechtliche Einordnung der diversen mit dem Angebot verknüpften Zusatzleistungen des ASPAnbieters, etwa die Zurverfügungstellung von Speicherplatz, Softwarepflege, Übermittlungsleistungen, Zugangsvermittlung zum Internet oder auch Datensicherung für den Anwender. Erst diese Zusatzleistungen machen das ASP-Angebot sinnvoll bzw. möglich9. Hier muss wohl im Sinne eines Typenkombinationsvertrages die jeweilige spezifische

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4 Vgl. hierzu etwa OLG München, Urteil vom 3.8.2006; Schuppert/Greissinger, CR 2005, 81. 5 Vgl. LG München I, K&R 2008, 387 f.; OLG Hamburg, MMR 2007, 317; Stögmüller, K&R 2008, 428. 6 Vgl. Marly, Softwareüberlassungsverträge, 4. Auflage, Rn. 557 ff. 7 BGH, Urteil vom 15.11.2006, K&R 2007, 91. 8 Vgl dazu. Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Auflage, M. Rn. 25; Marly, Softwareüberlassungsverträge, 4. Auflage, Rn. 567. 9 Vgl. Pohle/Schmeding, Anmerkung zum BGH-Urteil vom 15.11.2006, K&R 2007, 385.

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Wolfgang Büchner

Eigenart der Leistung gesondert betrachtet und eingeordnet werden. Einer sorgfältigen Vertragsgestaltung kommt dabei zur Vermeidung von Überraschungen erhebliche Bedeutung zu. Man kann ASP als eine spezielle Art des IT-Outsourcing betrachten10. Wie sich mittlerweile herauskristallisiert, stellt dies allerdings den Anfang einer Entwicklung dar, die weit darüber hinausgeht: sie führt weg von einer Betrachtung von Software als Betriebsmittel hin zu einem Verständnis von Software als „Dienstleistung“. Dieser Trend setzt sich nun fort und verstärkt sich in Form neuer Konzepte von On-Demand Software bzw. Software as a Service („SaaS“). Anders als bei herkömmlichen ASP-Angeboten wird hier von dem Anbieter nicht mehr für jeden Kunden eine eigene Installation betrieben. Vielmehr wird der Dienst auf der Basis einer einheitlichen Softwareplattform und Datenbank erbracht, über die eine Vielzahl von Kunden parallel bedient wird11. Dies erst ermöglicht eine wirklich effiziente Nutzung von Skalen-Vorteilen, die Etablierung nutzungsabhängiger Vergütungssysteme und eine beliebige, auch kurze Befristung von Laufzeiten. Denn substantielle Investments für einen einzelnen Kunden finden in der Regel nicht mehr statt. Im Rahmen eines generell wachsenden Kundenaufkommens müssen lediglich kontinuierlich Rechner- und Speicherkapazitäten ausgebaut werden. Da der Kunde nicht auf „seine“ Softwareapplikation und nicht auf für ihn reservierte Serverkapazitäten zugreift, sondern nur Mitbenutzer einer Applikation ist, die einer Vielzahl von Kunden gleichzeitig zur Verfügung gestellt wird, stellt sich natürlich die Frage, ob die mietrechtliche Einordnung von ASP-Verträgen ohne weiteres eins zu eins auch auf SaaS-Konzepte übertragen werden kann. Hier wird nicht mehr eine Software „vermietet“, der Kunde erwirbt lediglich Zugang zu einer Dienstleistung. Der Vergleich zur Benutzung eines Mietwagens im Verhältnis zur Benutzung des Massentransportmittels Bahn drängt sich auf. Diese Entwicklung ist zweifellos noch lange nicht am Ende. Wohin sie uns führen kann, zeigt die Diskussion um „Cloud-Computing“ und „GRID-Computing“. Hiermit wird das Application-On-Demand Konzept konsequent weitergedacht. Basis für On-Demand Leistungen soll nicht mehr nur ein großes Rechenzentrum eines Providers sein, sondern ein im Zweifel globales, überaus leistungsfähiges Netzwerk verschiedener Rechensysteme, so genannter „Rechner-Wolken“, deren

__________ 10 So z. B. Gründer, IT-Outsourcing in der Praxis, S. 89 ff. 11 http://de.wikipedia.org/wiki/Software_as_a_Service.

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Software-Lizenz – quo vadis?

Rechen- und Speicherkapazitäten bedarfsgerecht akkumuliert werden. Diese können einem Provider gehören, aber auch im Zusammenwirken verschiedener Diensteanbieter betrieben werden12. Der Begriff des GRID-Computing beschreibt dabei virtuelle Netzwerke, die zur Lösung bestimmter Aufgaben softwaregesteuert zusammengeschaltet werden. Nach Durchführung einer bestimmten Aufgabenlösung können solche GRIDs jeweils wieder neu konfiguriert oder auch wieder getrennt werden. Erreicht wird dadurch ein hocheffizientes temporäres Ressourcen-Sharing, mit dem Rechner- und Speicherkapazität nachfragegerecht und effizient zur Verfügung gestellt werden kann13. Maßgebliche Vertreter der IT- und Internetgemeinde gehen davon aus, dass tatsächlich nur eine kleine Anzahl dominanter Technologiekonzerne letztlich derartige „Rechnerwolken“ betreiben und die IT-Landschaft über kurz oder lang unter sich aufteilen wird. Amazon hat insoweit eine Vorreiterrolle eingenommen. Viele hunderttausende Internetseiten sind heute bereits auf Rechnern gespeichert, die Amazon zur Verfügung stellt und die ursprünglich für seinen eigenen Internetshop aufgebaut wurden. Die Zurverfügungstellung solcher Ressourcen für Kunden ist dadurch ein neues Geschäftsfeld für Amazon geworden. Google und Microsoft sind ebenso wie IBM, SAP oder Oracle dafür prädestiniert, ebenfalls solche Rechnerwolken aufzusetzen. Der Unterschied zu bereits etablierten SaaS- oder On-Demand-Modellen, beispielsweise dem von salesforce.com, ist eher ein gradueller als ein qualitativer; durch Cloud- und GRID-Lösungen werden die gebrauchsabhängig zur Verfügung gestellten und abzurechnenden Applikationen, Serverkapazitäten und Speicherplätze nahezu unbegrenzt und damit für die Verarbeitung und Speicherung großer und größter Datenmengen geeignet. Vorausgesetzt, der nachgefragte Rechenprozess ist aufspaltbar, was regelmäßig der Fall sein dürfte, kann er künftig parallel auf Rechnern in Europa und z. B. Indien durchgeführt werden, je nachdem, wo gerade entsprechende Kapazitäten frei sind. Man könnte auch von der Globalisierung der IT-Welten sprechen. Folge dieses Trends ist nicht mehr und nicht weniger als eine völlig neue Art und Weise, wie Computer benutzt und eingesetzt werden14.

__________ 12 Vgl. Söbbing, MMR 2008, XII. 13 Vgl. Koch, Weltweit verteiltes Rechnen im GRID-Computing, CR 2006, 42. 14 So Steve Ballmer, CEO von Microsoft, Inc. zitiert nach Schmidt, CloudComputing – Internetgiganten kämpfen um die Wolke, FAZ.net vom 5.5.2008.

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Wolfgang Büchner

Den enormen Effizienz- und Skalierungsvorteilen der beschriebenen Modelle stehen erkennbar immanente Risiken in Bezug auf sensible Unternehmens-, Mitarbeiter- oder Kundendaten gegenüber, die dem externen Provider überlassen werden müssen, der sie in geeigneter Form vor Missbrauch und dem Zugriff Unbefugter schützen muss. Datenschutz und Datensicherheit sind also die eigentlichen Herausforderungen solcher neuen IT-Strukturen, wobei geeignete Lösungen hierfür unabdingbare Voraussetzung für eine breite Akzeptanz solcher Angebote sind. Nachdem das Thema „Konvergenz der Medien“ in den letzten Jahren in aller Munde war und seinen Niederschlag in hybriden Angeboten wie Voice-over-IP oder IPTV gefunden hat, stehen wir offensichtlich vor einem neuen Konvergenzschub, nämlich der Konvergenz der ITLandschaften, in denen Hardwarebeschaffung, Zurverfügungstellung von Applikationen, Speicherplatz, Datenbanken und begleitende Services verschmelzen. Eine andere Konvergenz erscheint allerdings noch wesentlicher: den neuen Konzepten scheint die Konzentration auf einige wenige enorm marktstarke Unternehmen immanent zu sein, die über riesige Datenmengen verfügen werden. Was sind nun die strukturellen und sozialen Folgen, wenn sich solche Modelle auf breiter Front durchsetzen? Die eigene Infrastruktur von Unternehmen verliert an Bedeutung. Das hat natürlich nachhaltige Auswirkungen auf den Hardwaremarkt. Erhebliche Rechnerkapazitäten werden seitens vieler Unternehmen nicht mehr benötigt. Die Kompetenzen und Zuständigkeiten von CIOs (Chief Information Technology Officers) und der von ihnen geleiteten IT-Abteilungen stehen möglicherweise auf dem Prüfstand. Und auf der anderen Seite akkumulieren sich bei wenigen Providern unglaubliche Rechner- und Speicherkapazitäten und damit natürlich auch enorme Datenbestände ihrer Kunden, was einerseits zu MachtOligopolen und andererseits zu erheblichen Abhängigkeiten der Kunden führt und große Gefährdungspotenziale mit sich bringt. Wie dunkel nun die aufkommenden Wolken tatsächlich sein werden, hängt nicht zuletzt davon ab, wie wir diesen Risiken tatsächlich und rechtlich Rechnung tragen können. Für den Juristen bedeutet es, dass er seine angestammte Insel der Vernunft gegen eine neue eintauschen muss, in der die verschiedenen Elemente von IT-Landschaften enger zusammenrücken und es unvermeidbar wird, unsere Denkschubladen zu öffnen und uns einer ganz42

Software-Lizenz – quo vadis?

heitlichen Betrachtung zuzuwenden. Erster Schritt wird wohl sein zu untersuchen, ob das Handwerkszeug, das in der traditionellen IT-Welt entwickelt worden ist, noch tauglich ist, um den neuen technischen und kommerziellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Viel wichtiger aber wird sein, geeignete Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass den riesigen Effizienzpotenzialen, die gehoben werden können, nicht das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geopfert wird. Denn die Vorstellung, dass einige wenige globale Konzerne in der Lage sind, beliebige Nutzerprofile über große Teile der Weltbevölkerung zu erstellen und zu verwerten, ist nicht nur beunruhigend, sie lässt die Vision „Big Brother is watching you“ in ganz neuem Licht erscheinen. Nicht mehr der Staat, sondern mächtige Privatunternehmen stellen die eigentliche Bedrohung dar. Datenschutz und Datensicherheit werden also eine ganz zentrale Rolle auch in der juristischen Aufarbeitung spielen müssen. Ich würde mich sehr wundern, wenn nicht Jochen Schneider als einer der Pioniere des Datenschutzes und der IT-Vertragsrechtler wieder zu denen gehören würde, die insoweit die Trends für die weitere Rechtsentwicklung setzen werden.

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III. Gelungenes Krisenmanagement und Interessenwahrung Elke Bischof/Michaela Witzel*

„Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab.“ Die Weisheiten der Dacota-Indianer Jeder will ein erfolgreiches IT- Projekt – die Realität sieht jedoch anders aus. Nach den Schätzungen der Gartner Group geraten 50 % aller Softwareprojekte wenigstens einmal während der Laufzeit in die Schieflage. Aus den regelmäßigen Reports der Standish Group über den Erfolg von IT-Projekten ergibt sich beispielsweise für das Jahr 2000, dass 28 % der Projekte als „suceeded“, 23 % als „failed“ und 49 % als „challenged“ eingestuft werden. Eine der wesentlichen Herausforderungen eines IT-Anwalts besteht darin, solche Krisen zu meistern und für alle Beteiligten Lösungswege zu finden, denn: Gerichtliche Auseinandersetzungen führen nur selten dazu, dass der Auftraggeber das zugesprochen erhält, was er sich vorgestellt hat. Zudem muss er weitere Zeit, Energie und Geld auf die Fertigstellung des Projekts mit Dritten verwenden, wenn nicht gar ein vollständiger Neubeginn ansteht. Daher lässt sich effizientes Krisenmanagement als eine Insel der Vernunft im juristischen Leben bezeichnen, die der verehrte Jubilar („unser Prof.“) den beiden Autorinnen in der langjährigen Zusammenarbeit nahe gebracht hat. Aus unserer Sicht: „… He’s the one you call for trouble shooting …“ Viele Auftraggeber stehen vor der Situation, dass ihre Projekte sehr zeitkritisch sind und zudem dass von der Einführung des Systems nicht nur Optimierung und verbesserte Prozesse abhängen, sondern die Fortführung des Unternehmens. Bei der Gestaltung der vertraglichen Vereinbarungen wird daher besonderes Augenmerk auf den Regelungen zu Terminen, Meilensteinen und Pönalen liegen. Darüber hinaus müssen jedoch die vertraglichen Regelungen für ein Worst Case Szenario „Handwerkszeug“ bieten. Es geht nicht allein darum, Regelungen zu Terminen und Sanktionen zu treffen, sondern zudem Vorgaben zur Pro-

__________ * Elke Bischof und Michaela Witzel, LL.M., sind Rechtsanwältinnen der Kanzlei SSW Schneider Schiffer Weihermüller in München.

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Gelungenes Krisenmanagement und Interessenwahrung

jektleitung, -durchführung und -kommunikation sowie für das Krisenmanagement vorzusehen, die auch unter Zeitdruck einhaltbar sind. Die im Projekt gelebte Kommunikation muss zu den vertraglichen Regularien passen und einerseits der Problemlösung dienen, andererseits der Wahrung finanzieller und rechtlicher Interessen. Was aber tun, wenn allein vertragliche Regelungen nicht weiterhelfen, sondern der Auftragnehmer schlichtweg nicht mehr leisten kann, weil ihn beispielsweise auf einen Schlag alle Mitarbeiter verlassen haben oder der Eindruck entsteht, der Auftragnehmer will nicht mehr leisten (aus welchen Gründen auch immer)? Welche Möglichkeiten hat ein Auftraggeber, der bis zum Jahreswechsel ein neues System produktiv setzen muss, das die Grundlage seines kompletten Geschäftsmodells ist, wenn der Auftragnehmer nach einigen Monaten der gemeinsamen Zusammenarbeit im Frühjahr unvorhersehbar nicht mehr in der Lage ist, weiterzuentwickeln, weil er kein Entwicklungsteam mehr hat? Welche Möglichkeiten bestehen, wenn der Auftragnehmer schlicht nicht mehr reagiert? Dieses Problem zeigt sich in der Praxis deutlich mit solchen oder ähnlichen Schreiben, die in der dann bereits eingetretenen Krise auf Geschäftsleitungsebene versandt werden: „… Wir sind in großer Sorge, nachdem bereits mehrfach die Projektrettungs-AG und die Wege-aus-der-Krise GmbH für Leistungen, die gemäß Vertrag von Ihrem Hause zu erbringen sind, eingesprungen sind, ob Sie den Vertrag noch erfüllen können.“ „… Wir haben erhebliche Zweifel daran, dass Sie sich ernsthaft mit den Problemen unseres gemeinsamen Projekts auseinandersetzen. Diese Zweifel werden täglich dadurch bestärkt, dass Ihrerseits nicht mehr auf unsere Mängelmeldungen reagiert wird, die zudem noch seit langem bekannt sind. Wir sehen nicht, wie auf diese Weise ein erfolgreicher Projektabschluss erreicht werden kann.“ Nach § 649 S. 1 BGB ist der Auftraggeber jederzeit zur Kündigung berechtigt. Die Kündigungserklärung im Sinne des § 649 BGB kann nach der Rechtsprechung auch konkludent erfolgen, beispielsweise indem der Auftraggeber durch sein Verhalten den Wunsch nach Vertragsbeendigung eindeutig zum Ausdruck bringt, z. B. die ausstehenden Leistungen selbst ausführt1, anderweitig vergibt2 oder ausführen lässt3.

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1 BGH, WM 1972, 1025. 2 OLG Düsseldorf, BauR 2002, 336. 3 OLG Koblenz, NJW-RR 2004, 1670.

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Die Möglichkeit des § 649 BGB nutzt dem Auftraggeber bei einem zeitkritischen Projekt nur bedingt. Er kann zwar den Vertrag beenden, muss dann aber nach § 649 S. 2 BGB die vereinbarte Vergütung bezahlen. Ein funktionierendes System hat der Auftraggeber jedoch nicht – dies wird er dann nur mit einem anderen Auftragnehmer und entsprechender Vergütung erhalten. Die Kündigung nach § 649 BGB verwehrt ihm jedoch die Geltendmachung von Mehraufwänden. Allein mit der Vertragsbeendigung ist dem in Nöten befindlichen Auftraggeber also nicht geholfen. Zu allem Überfluss muss er auch noch aufpassen, dass ihm seine Verhaltensweisen nicht im Nachhinein als solche Kündigung ausgelegt werden. Überträgt er die Leistungen an Dritte, kann dies nach der Rechtsprechung als Kündigung eingestuft werden, wenn der Auftraggeber nicht schriftlich deutlich macht, dass eine solche Kündigung gerade nicht gewollt ist. Welche anderen Optionen gibt es? Nach altem Schuldrecht blieb dem Auftraggeber der Schadensersatz wegen Nichterfüllung gem. § 326 BGB a. F. Nach neuem Schuldrecht bleiben dem Auftraggeber nebeneinander der Rücktritt gem. § 323 BGB und der Schadensersatz statt der Leistung gem. § 281 BGB (§ 325 BGB). Verlangte § 326 BGB a. F. ausdrücklich eine Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung, reicht nach den neuen Bestimmungen allein eine Fristsetzung. Für den Auftraggeber stellt sich aber selbst ohne die besonderen Formalia des § 326 BGB a. F. ein erhebliches Dilemma: Muss er seinem Auftragnehmer, der kein Entwicklungsteam mehr hat und der demzufolge nicht in der Lage ist, die vereinbarten Leistungen zu erbringen, noch über eine Fristsetzung eine letzte Chance zur Leistung geben? Droht dem Auftraggeber eine Auslegung seines Verhaltens als Kündigung gemäß § 649 BGB, wenn er – angesichts dieser wenig aussichtsreichen Situation – keine Frist setzt und Dritte als Helfer in der Not mit der Erbringung der Leistungen beauftragt? Der Auftraggeber hat sehr plastisch nur die Wahl zwischen Skylla und Charybdis: „Wir bitten des weiteren, die grundsätzliche Strategie zu entscheiden und dabei zu berücksichtigen, ob es (im Moment) besser erscheint, (bei Wahl zwischen zwei Übeln) die Leider-Nicht-Mehr-Leistungsfähig-und-Leistungsbereit GmbH & Co. KG möglichst noch im Vertrag zu halten und dabei sogar Gefahr zu laufen, ihr das Projekt aus der Hand zu nehmen, oder sie mit Fristsetzungen aus dem Projekt und dem Vertrag auszuschließen mit der Folge und Gefahr, dass sie nicht 46

Gelungenes Krisenmanagement und Interessenwahrung

mehr den vertraglichen Bindungen unterliegt und das Projekt dann anderweitig zur Fertigstellung gebracht werden muss.“ Die genannten gesetzlichen Bestimmungen werden der Interessenlage des Auftraggebers nicht gerecht. Der Auftraggeber muss sich einerseits darum bemühen, dass Dritte bei einem Ausfall eines Vertragspartners (etwa auch bei Insolvenz) einspringen. Er muss vertragliche Konditionen unter Zeitdruck mit den Dritten verhandeln und dafür Sorge tragen, dass das Projekt operativ weiterläuft. Daneben soll er andererseits trotz offensichtlicher Leistungsunfähigkeit seines Vertragspartners zur Sicherung seiner Ansprüche noch gezwungen sein, Fristen zu setzen, die vorhersehbar ins Leere laufen, um nicht den Folgen der für ihn ungünstigen Bestimmung des § 649 BGB ausgesetzt zu sein. Der anwaltliche Berater steht also vor der Herausforderung, die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen. Es wird also höchste anwaltliche Kunst sein, den Auftraggeber auf dieser Gratwanderung zu unterstützen. Sämtliche Maßnahmen, die vor allem dazu dienen, das Projekt faktisch am Laufen zu halten, müssen einer späteren juristischen Bewertung standhalten. Rettungsversuche dürfen nicht dazu führen, dass sie im Nachhinein als einvernehmliche Aufhebung der gegenseitigen Vereinbarungen oder als Änderungsvereinbarung gewertet werden. Der Auftragnehmer ist ggf. auch dann noch formell in Verzug zu setzen, wenn längst klar ist, dass vereinbarte Termine nicht gehalten werden können. Ist das Projekt nicht zu retten, wird es Aufgabe des Anwalts sein, den Auftragnehmer auf die Erklärung der Leistungsverweigerung zuzutreiben. Nach § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB muss keine Fristsetzung mehr erfolgen, wenn der Auftragnehmer die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert. Mit dieser Regelung wurde die BGH-Rechtsprechung4 zum alten Recht kodifiziert. Hat der Auftragnehmer seine Erfüllungsverweigerung dokumentiert, wird dem Auftraggeber auch die Beauftragung eines Dritten nicht mehr als konkludente Kündigungserklärung ausgelegt werden können. So kann sich der Auftraggeber seine Ansprüche gegenüber dem Auftragnehmer sichern. Es droht dann keine spätere Bewertung durch die Gerichte, die sämtliche Bemühungen zunichte macht. Wenn allerdings die Erfüllungsverweigerung nicht klar zu Tage tritt, besteht diese Auslegungsgefahr der Gerichte zu Lasten des Auftraggebers, was häufig daran liegt, dass in der Rückschau kaum mehr bewertet werden kann, welchen Fertigstellungsgrad ein Projekt zu einem

__________ 4 BGHZ 2, 312; BGHZ 49, 60; BGH, NJW 1982, 2316; BGH, NJW 1992, 971.

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Elke Bischof / Michaela Witzel

bestimmten Zeitpunkt hatte. Hinzu kommt, dass selbst der Zeitdruck im Nachhinein schwer vermittelbar ist und nur selten dargelegt werden kann, was genau wann hätte fertig sein müssen. Diese Untiefen des Sachverhalts können vermieden werden, wenn der Auftragnehmer durch geschicktes Agieren und Taktieren so weit getrieben ist, seine mangelnde Leistungsfähigkeit einzugestehen. Hierzu ist allerdings auch ein langer Atem des Auftraggebers erforderlich. Es gibt keinen in allen Situationen passenden Königsweg aus der Krise. Nicht jedem Projekt kann zum Erfolg verholfen werden – nicht jedes Scheitern lässt sich vermeiden. Anwaltliche Beratung darf sich nicht nur an den vertraglichen und rechtlichen Vorgaben orientieren, sondern muss den Vertragspartnern pragmatische und konstruktive Strategien zur Bewältigung der Krise bieten, die immer auch vorausschauend und an der Interessenlage beider Vertragspartner orientiert sein sollten. Fairness und Partnerschaftlichkeit sollten auch in der Krise nicht aus den Augen verloren werden – von keinem der Beteiligten. Dies soll jedoch nicht dazu führen, in wenig aussichtsreichen Situationen, auf die berechtigten Ansprüche zu verzichten, vor allem wenn obige Mühen zur Schaffung einer positiven Ausgangslage für eine Auseinandersetzung auf sich genommen wurden und sich ein künftiger, noch oder weiterhin gemeinsamer Weg nicht mehr finden lässt.

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IV. Rahmen-Beratungsverträge mit Software-Unternehmen Michael Intveen*

„Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bessres findet.“ in Anlehnung an Friedrich von Schiller Das IT-Projekt ist erfolgreich umgesetzt, die Software (im Wesentlichen) vertragsgemäß und mangelfrei eingeführt. Der Software-Pflegevertrag ist bereits in Kraft getreten, Mängelansprüche hinsichtlich der gelieferten Software sind noch nicht verjährt. Und schon treibt es Anwender und Lieferant in neue gemeinsame Software-Projekte. Hierzu wird dann häufig ein sog. „Rahmen-Beratungsvertrag“ abgeschlossen. Da der Lieferant durch einen solchen Rahmenvertrag die „Kundenbindung“ stärkt und der Anwender dadurch in eine verstärkte und langfristige „Abhängigkeit“ gerät, sollten vor Abschluss eines derartigen Rahmenvertrages einige wesentliche rechtliche Fragestellungen bedacht werden, auf die (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nachfolgend aus Sicht des Anwenders eingegangen wird. Im späteren gemeinsamen Projektgeschäft soll nämlich ein solcher Rahmenvertrag als „Insel der Vernunft“ möglichst rechtliche Auseinandersetzungen (und damit auch den Einsatz von internen und externen Rechtsberatern) im „Tagesgeschäft“ vermeiden (helfen).

1. Rechtsnatur von Rahmen-Beratungsverträgen In der Regel – mit Ausnahme von Großunternehmen und der öffentlichen Hand, die auch in diesem Bereich ganz überwiegend eigene „Vertragsmuster“ als Auftraggeber zum Einsatz bringen – legt der Software-Lieferant ein Vertragsmuster für einen solchen Rahmen-Beratungsvertrag vor. Hierbei handelt es sich ganz überwiegend um Allgemeine Geschäftsbedingungen im gesetzlichen Sinne. Insbesondere die Inhaltskontrolle derartiger Bestimmungen richtet sich dann im Zusam-

__________ * Michael Intveen ist Rechtsanwalt bei Schindler Rechtsanwälte in Düsseldorf.

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menhang mit deren Wirksamkeit und Transparenz sowie einer etwaigen (unangemessenen) Benachteiligung des Vertragspartners des Verwenders nach § 307 BGB. Dies veranlasst Software-Unternehmen als Verwender von solchen Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Verkehr zwischen Unternehmen zunehmend, durch „verstärkte Verhandlungsaktivitäten“ letztlich der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB entzogene „Individualvereinbarungen“, also solche Vertragsbedingungen, die zwischen den Parteien im Einzelnen ausgehandelt sind, zu treffen. Aus Sicht des Anwenders der Software ist hiergegen dann nichts einzuwenden, wenn die zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelten Vertragsbedingungen den Anwender der Software nicht unangemessen benachteiligen und die Bestimmungen die „erforderliche Transparenz“ aufweisen. Ferner sollten die Bestimmungen dann auch mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der u. U. abgewichen wird, vereinbar sein und wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, nicht so einschränken, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Naturgemäß lässt sich aus dem Abschluss eines Rahmenvertrages keine ausnahmslose Verpflichtung der beteiligten Parteien herleiten, bestimmte „Einzelverträge“ abzuschließen. Allerdings wird sich gerade der Auftragnehmer bei entsprechenden „Einzelaufträgen“ des Auftraggebers nur „mit gutem Grund“ einer entsprechenden Einzelbeauftragung verweigern können (z. B. wenn die im Rahmen eines etwaigen Einzelvertrages zu erbringenden Leistungen für den Auftragnehmer technisch/fachlich nicht umsetzbar und/oder nicht wirtschaftlich durchführbar sind). Jedenfalls auf Auftraggeberseite dürfte durch den Abschluss eines sog. Rahmen-Beratungsvertrages ein „gewisser Vertrauenstatbestand“ dahin geschaffen werden, dass der Auftragnehmer etwaigen Einzelbeauftragungen dann nachkommt, wenn die vorgenannten „Hinderungsgründe“ nicht vorliegen.

2. Rechtsnatur der vertragsgegenständlichen Leistungen Bei von Software-Unternehmen formularmäßig verwendeten Verträgen fällt – auch bei sog. „Rahmen-Beratungsverträgen“ – immer wieder auf, dass durch bestimmte „Begriffe“ bzw. „Regelungen“ der Versuch unternommen wird, die vertragsgegenständlichen Leistungen möglichst einheitlich und vollständig dem Dienstvertragsrecht zuzuordnen. Die – insbesondere mehrfache – Verwendung von Formulierungen wie „Beratung, Unterstützung, Hilfestellung, Bemühung, Dienstleistung, Service, Mitwirkung“ im Zusammenhang mit den vom Auftragnehmer 50

Rahmen-Beratungsverträge mit Software-Unternehmen

zu erbringenden Leistungen soll erkennbar dazu dienen, die auf der Grundlage eines solchen Rahmenvertrages abgeschlossenen „Einzelverträge“ nach Möglichkeit (und dann auch einheitlich) dem Dienstvertragsrecht zu unterwerfen. Auch soll die „Projektverantwortung“ beim Auftraggeber liegen. Offenkundig unberücksichtigt bleibt bei einer derartigen Vertragsgestaltung zunächst, dass Gegenstand eines Werkvertrages sowohl die Herstellung oder Veränderung einer Sache als auch ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg sein kann (§ 631 Abs. 2 BGB). Unberücksichtigt bleibt weiter, dass nach der maßgeblichen Rechtsprechung (insbesondere derjenigen des Bundesgerichtshofs) gerade bei komplexen IT-Projekten die „Projektverantwortung“ in aller Regel beim Auftragnehmer/Lieferanten liegt. Insoweit lässt sich auch vermehrt feststellen, dass Software-Unternehmen beispielsweise die Neuentwicklung von Software („IndividualSoftware“) oder auch die umfängliche und kundenspezifische Anpassung von Standard-Software nicht in solchen „Beratungsverträgen“, sondern auf einer gesonderten vertraglichen Grundlage zu regeln beabsichtigen. Jedenfalls aus Sicht des Auftraggebers und Anwenders der Software macht eine solche „vertragliche Trennung“ keinen besonderen Sinn, und zwar nicht nur im Hinblick auf eine auch unter praktischen Gesichtspunkten anzustrebende „Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit“ des Vertragswerkes. Anderenfalls wären u. a. spätere „Unstimmigkeiten“ zwischen den Parteien im Hinblick auf die dann jeweils relevanten vertraglichen Grundlagen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert. Bemerkenswert sind „Muster-Beratungsverträge“ von Software-Unternehmen, die möglichst auf dienstvertraglicher Basis abgeschlossen werden sollen, jedenfalls dann, wenn dort – zumindest auch – Regelungen zur Überprüfung und Abnahme der „vertragsgegenständlichen Leistungen“ sowie Regelungen über die Haftung des Auftragnehmers für Sach- und Rechtsmängel enthalten sind. Eine Zuordnung von Leistungen, die einer Abnahme unterworfen werden sollen und für die auch eine Sach- und Rechtsmängelhaftung des Lieferanten gelten soll, unter das Dienstvertragsrecht dürfte damit bereits ausgeschlossen sein.

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Michael Intveen

3. Rechte an den „Arbeitsergebnissen“ Ganz vermehrt lässt sich in Musterverträgen von Software-Unternehmen – auch bei sog. „Rahmen-Beratungsverträgen“ – die Tendenz feststellen, dass sämtliche Rechte an den vertragsgegenständlichen Leistungen („Arbeitsergebnissen“) im Verhältnis zum Auftraggeber ausschließlich dem Auftragnehmer zustehen sollen, insbesondere das Urheberrecht sowie (weitergehende) Nutzungs- und Verwertungsrechte. Dem Auftraggeber soll lediglich ein einfaches/nicht ausschließliches Nutzungsrecht eingeräumt werden, häufig dann auch mit der (zusätzlichen) Einschränkung, dass der Auftragnehmer die „Arbeitsergebnisse“ ausschließlich für eigene Zwecke bzw. seine internen Geschäftsvorfälle einsetzen darf, und zwar selbst dann, wenn die „Arbeitsergebnisse“ auf Vorgaben und/oder der Mitarbeit des Auftraggebers beruhen. Jedenfalls für solche „Arbeitsergebnisse“, die entweder vollständig oder ganz wesentlich auf den Vorgaben des Auftraggebers beruhen, oder insbesondere für ausschließlich auftraggeberspezifische Neuentwicklungen von Software, für die der Auftraggeber dann auch noch den gesamten „Planungs- und Entwicklungsaufwand“ des Auftragnehmers zu vergüten hat, erscheinen derartige „Rechteregelungen“ aus Auftraggebersicht doch als „über das Ziel hinausgeschossen“. Aus Auftraggebersicht sollten die Nutzungs- und Verwertungsrechte an derartigen „Arbeitsergebnissen“ dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer zumindest gleichermaßen zustehen, wobei es sich hier letztlich (auch) um „Rechtspositionen“ handelt, die beispielsweise im Rahmen der zu vereinbarenden Vergütung „adäquate“ Berücksichtigung finden sollten.

4. Haftung des Auftragnehmers Haftungsregelungen in Rahmenverträgen bergen häufig ein besonderes Risiko aus Sicht des Auftraggebers in sich, zumal dann, wenn – wie regelmäßig feststellbar – summenmäßige Haftungsbegrenzungen in dem vom Auftragnehmer vorgelegten Vertragsmuster enthalten sind. Sollten sich nämlich – beispielsweise aufgrund umfänglich geführter Vertragsverhandlungen – die zunächst als AGB vorgelegten Regelungen letztlich in Individualvereinbarungen „verwandeln“, würden für jeden Einzelvertrag die betreffenden Haftungsregelungen „wirksam“ vereinbart sein. Dies würde dann natürlich insbesondere auch für etwaige Haftungshöchstsummen gelten. 52

Rahmen-Beratungsverträge mit Software-Unternehmen

Bei der Bemessung von Haftungshöchstbeträgen in Rahmenverträgen ist jedenfalls aus Auftraggebersicht zumindest nicht auf das „jährliche Honorarvolumen“ abzustellen, das der Auftragnehmer bei dem „erwarteten Beauftragungsvolumen“ während eines Vertragsjahres zu vereinnahmen hofft. Auch sollte aus Sicht des Auftraggebers keinesfalls auf den jeweiligen „Vergütungsumfang“ eines Einzelvertrages abgestellt werden, zumal die zu zahlenden Vergütungen bei Vorliegen mehrerer Einzelverträge variieren werden. Ganz vorrangig ist aus Sicht des Auftraggebers bei Abschluss eines sog. „Rahmen-Beratungsvertrages“ auf das vertragstypische Risiko abzustellen, das sich im Rahmen der jeweiligen Einzelverträge und der daraus resultierenden Leistungen des Auftragnehmers verwirklichen kann. Andererseits ist das „angebotene/übernommene“ Haftungsrisiko des Lieferanten auch Teil seines „betriebswirtschaftlichen Angebots“, so dass eine darüber hinausgehende Haftung des Auftragnehmers dann wohl auch im Rahmen der zu vereinbarenden „Gesamt-Vergütung“ Berücksichtigung finden könnte.

5. Laufzeit und Kündigung Auch wenn sich die „Einzelheiten“ der jeweiligen Beauftragungen (letztlich) aus den zwischen den Parteien auf der Grundlage des Rahmenvertrages abgeschlossen Einzelverträgen ergeben, sollten aus Sicht des Auftraggebers – insbesondere bei einer beabsichtigten längerfristigen Zusammenarbeit mit dem Auftragnehmer und einem langfristig geplanten Einsatz der Software – möglichst „ausreichende“ Laufzeitund Kündigungsregelungen vereinbart werden, und zwar sowohl für den Rahmenvertrag als auch für die in Betracht kommenden Einzelverträge. Aber auch dies würde letztlich nicht das „Risiko“ für den Auftraggeber ausschließen, dass der Auftragnehmer den Rahmenvertrag irgendwann ordentlich kündigt und nach Ablauf der Kündigungsfrist keine Einzelverträge mehr mit dem Auftraggeber auf der Grundlage des (bisherigen) Rahmenvertrages abschließt.

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I. Gute allgemeine Geschäftsbedingungen für die Informationstechnologie Matthias Hartmann*

„There is no power in the tongue of man To alter me: I stay here on my bond.“ William Shakespeare, The Merchant of Venice Für die mehr als 140.000 zugelassenen Rechtsanwälte1 ist die Gestaltung von Vertragsverhältnissen ein wichtiger Bestandteil der täglichen Arbeit. In einem bemerkenswerten Missverhältnis steht dazu die Theorie. Inseln der Vernunft sind eingehende Mustersammlungen und zahlreiche Aufsätze zur konkreten Vertragsformulierung. Zum methodischen Vorgehen bei der Erstellung guter AGB gibt es hingegen wenig.2 Dabei könnte gute Vertragsgestaltung das Justizsystem um manchen Prozess entlasten. Erkennbar werden Vorbehalte der Wissenschaft, sich mit den Niederungen der Vertragspraxis zu befassen. Dies wird vor allem zwei Ursachen haben. Zum einen erscheint die Arbeit des Vertragserstellers interessengetrieben3 und nicht dem Ziel purer Erkenntnis verpflichtet.4 Zum anderen ändert der Vertrag die Wirklichkeit, ist aber zugleich einer sich ändernden und nicht beherrschten Wirklichkeit unterworfen, sodass die wissenschaftlich erforderlich erscheinende Unterscheidung zwischen Objekt und Beobachter verschwimmt. Die Erstellung von allgemeinen Geschäftsbedingungen ist besonders.5 Ohne Verhandlung des Inhaltes werden die Texte im Interesse einer Seite vorgegeben. Die „Richtigkeit“ kann nicht im Verfahren des Diskurses gewonnen werden. Vertragsbedingungen der Informationstech-

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* Matthias Hartmann ist Rechtsanwalt bei HKZ Rechtsanwälte in Berlin. 1 Quelle: BRAK.de. 2 Von den neueren Werken: Heussen, Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, 3. Aufl.; Ritterhaus/Teichmann, Anwaltliche Vertragsgestaltung; Langenfeld, Vertragsgestaltung, 2. Aufl. 3 Siehe auch Ritterhaus/Teichmann, Rn. 93 und 138. 4 Die anwaltliche Tätigkeit scheint auf der Ebene der Interessenvertretung nicht dem Anspruch auf Richtigkeit verpflichtet. 5 Vgl. Ritterhaus/Teichmann (s. o.), Rn. 35 f.

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nik zeichnen sich dadurch aus, dass sie in vielen Teilen durch das materielle Recht nicht vorgegeben sind, beispielsweise die Projektorganisation. Wie erstellt man nun gute AGB für die Informationstechnologie? „Gut“ lässt sich in Anlehnung an den Begriff der Qualität bestimmen als hohe Übereinstimmung des Sachverhaltes mit Anforderungen, die sich aus der Eignung für bestimmte Zwecke oder aus einem allgemeinen Verständnis bei der Bewertung solcher Sachverhalte ergeben.6 Die Begrifflichkeit erinnert nicht zufällig an das Mangelrecht und deutet hin auf die Wechselbeziehung zwischen der Qualität von AGB und Mangelhaftung für die anwaltliche Erstellungsleistung.7 Gute Bedingungen lassen sich nur in Relation zu Vorgaben entwickeln. Zu finden ist also der Maßstab für die Gestaltung eines Vertrages. Hier gibt es verschiedene Ansätze, die sich im Ergebnis wohl nicht allzu sehr unterscheiden: Zum einen kann aus der tatsächlichen Bearbeitung von Fällen eine „Best Practice“ ermittelt werden.8 Hierfür werden die typischen Inhalte und Gestaltungen aus der Praxis entnommen, mit den Mitteln des rationalen Diskurses bewertet und in einem neuen Iterationsschritt erprobt.9 Dieses Spiralmodell dürfte die gängigste Methode der Entwicklung von Verträgen sein, und es ist kaum ein Zufall, dass die Softwareerstellung als regelgebundenes Sprachwerk dieses Vorgehensmodell ebenfalls kennt. Die Sein-Sollen-Dichotomie setzt der Verbindlichkeit der in der Praxis gefundenen Muster allerdings eine Grenze. Als Zweites lassen sich Vorgaben aus der Aufgabe des Anwalts als Vertreter der Interessen seines Mandanten gewinnen. Allerdings bleibt die Methodik in das Beliebige des jeweiligen Mandatsverhältnisses gestellt. Um dies zu vermeiden, werden Maßgaben des Rechtssystems wenig überzeugend dadurch eingebunden, dass die Stellung des Rechtsan-

__________ 6 DIN EN ISO 9000 (2005) definiert Qualität als „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“. 7 Siehe dazu auch Ritterhaus/Teichmann (s. o.), die aus der Haftung des Anwalts für sein Vertragswerk wesentliche Aspekte der Methodik ableiten, Rn. 131, 194, 241. 8 Als Beispiel sei auf die abschließende Auflistung der Regelungsgegenstände der Abnahme bei Bartsch, CR 2006, 7 ff. verwiesen. 9 Siehe auch das Beispiel der topischen Diskussion bei Langenfeld, Vertragsgestaltung, 2. Aufl. Rn. 26.

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walts als Organ der Rechtspflege betont10 oder der Anspruch auf Richtigkeit postuliert wird.11 Schließlich kann versucht werden, Anforderungen an Verträge aus den Prinzipien des Rechtssystems abzuleiten. Naheliegender Ansatzpunkt ist der Vertrag selbst. Ein Vertrag kommt zustande, wenn mehrere Personen sich über die Begründung oder Änderung eines Schuldverhältnisses einigen. Unmittelbar wirkt der Vertrag auf die Rechtsverhältnisse der Beteiligten, vielleicht sogar Dritter ein. Beispielsweise entstehen Ansprüche, § 194 Abs. 1 BGB. Darin erschöpft sich die Wirkung jedoch nicht. Das Recht der Parteien, sich nach eigenem Belieben zu verpflichten, wäre wenig hilfreich, stünde nicht das Rechtssystem bereit, die sich aus der Einigung ergebenden Regelungen mittels staatlicher Gewalt auch gegen den Willen des Vertragspartners durchzusetzen. Die Privatautonomie ist notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen, denkt also die justitielle Realisierung gleichsam mit und damit eine rechtsstaatliche Ausgestaltung der Privatrechtsordnung.12 Der Rechtsstaat darf sich nicht zur Durchsetzung unrechtmäßiger privater Zwecke andienen, sondern er bleibt an seine Grundwerte gebunden.13 Wenn also das Rechtssystem Auswüchsen der Vertragsgestaltung Einhalt gebietet, so stellt dies keine Einschränkung, sondern die Ausgestaltung der Privatautonomie dar. Oft wird übersehen, dass Privatautonomie sich nicht in der Tatsache eines unter welchen Umständen auch immer geäußerten Willens erschöpft, sondern in dem Ziel der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben besteht.14 Eine Aufgabe der Privatrechtsordnung ist also die Gewährleistung selbstbestimmter Entscheidungen beim Vertragsschluss. Dies kann einerseits durch entsprechende Anforderungen an die Situation des Vertragsschlusses sichergestellt werden und andererseits durch rückwirkende

__________ 10 Ritterhaus/Teichmann (s. o.), Rn. 138 entwickeln daraus sogar ein „ethisches Dilemma“. 11 Der Richtigkeitsanspruch erscheint als Hauptpfeiler des juristischen Diskurses (s. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl, S. 165 ff., 264 ff., 351 f., 428 f.; zum Wandel der Vertragstheorie MüKo-Kramer, Vor § 145 Rn. 3 ff. m. w. N.; Ziel der materiellen Vertragsgerechtigkeit als Organisationsaufgabe des Gesetzgebers: Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8 (11); Vertragsgerechtigkeit durch Orientierung an Vertragstypen: Langenfeld (s. o.), Rn. 417 ff., 522 ff.). 12 BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36 (38); Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8 (10) spricht vom Organisationsauftrag an den Zivilrechtsgeber. 13 Siehe auch die Entscheidung des New Jersey Supreme Court, Hennigsen v. Bloomfield Motors, Inc. bei Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 23 f. 14 BVerfG a. a. O. m. w. N.

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Korrektur der Ergebnisse. Die retrospektive Abänderung von Verträgen wegen unzulässiger Beeinträchtigung der Privatautonomie des Vertragspartners soll hier nicht weiter vertieft werden. Jede Einigung zu einem Vertrag dürfte aber graduell durch ungleiche Verhandlungsmacht beeinflusst sein. Fälle von „echtem“ Zwang sind einfach zu handhaben. Geboten ist aber auch die Korrektur typischer Fälle struktureller Unterlegenheit.15 Autonomie beim Vertragsschluss bedeutet die Freiheit von Fremdbestimmung16 und Ermöglichung einer Entscheidung nach den eigenen Interessen.17 Gleichheit der Verhandlungsmacht lässt sich selten herstellen, sodass hier nur die spätere Korrektur bleibt. Inhaltliche Autonomie setzt voraus, dass die Vertragspartner erkennen können, was sie erklären. Ein idealer Vertrag führt daher den Vertragspartnern die Erklärungsinhalte vor Augen, indem diese vollständig, klar und verständlich niedergelegt sind: – Alle regelungsbedürftigen Punkte sollten angesprochen sein. – Alle Regelungen sollten so formuliert sein, dass den Vertragspartnern die wesentlichen Inhalte erkennbar werden und sowohl die Vertragspartner als auch spätere Rechtsanwender denselben Inhalt ermitteln. Formulierungskunst und sprachliche Technik werden in der Rechtswissenschaft vorausgesetzt, aber selten systematisch dargestellt.18 Vollständigkeit der regelungsbedürftigen Punkte lässt sich wohl nur durch Beobachtung und Systematisierung anstreben, wie dies etwa Schneider in seinem Standardwerk seit 1990 leistet, insbesondere hinsichtlich der methodologischen Strukturierung.19 Nur das Sammeln der tatsächlich vorkommenden Vertragsgestaltungen und ihre Bewertung anhand allgemeiner Kriterien erscheint geeignet, einen Kanon zweckmäßig zu

__________ 15 BVerfG a. a. O. 16 Hier bereits lauern unlösbare Schwierigkeiten, stellte man auf den Nachweis theoretischer Willensfreiheit ab. 17 Siehe MüKo-Kramer Vor § 145 Rn. 8 zu den weiteren Formen neben Abschluss- und Gestaltungsfreiheit. 18 Vgl. Langenfeld (s. o.), Rn. 213 ff.; Egon Schneider, Logik für Juristen, 5. Aufl., S. 17 ff. zum „Begriff“ und 131 f. mit Schlüssen aus unvollständigen „Verträgen“; Heussen, Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, 3. Aufl., Rn. 279 ff. 19 Siehe die Systematisierungen in A III und D I, bezeichnend der Wandel von der „Praxis“ zum „Handbuch“ des EDV-Rechts.

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Gute allgemeine Geschäftsbedingungen für die Informationstechnologie

regelnder Punkte zu erstellen.20 Solche Sammlungen stellen also die notwendige, Wissen schaffende Voraussetzung für die Entwicklung idealer Verträge dar, gerade wenn Vertragsthemen wie oft bei Informationstechnologie nicht rechtlich, sondern tatsächlich regelungsbedürftig erscheinen. Aus dem Zweck, vertragliche Regelungen gerichtlich durchsetzen zu können, wird sich als weiteres Kriterium des idealen Vertrages seine Rechtskonformität ergeben:21 – Bestimmungen sollten während der Vertragsdauer voraussichtlich wirksam sein. Demgemäß gebildete ideale Verträge kommen nur in Betracht, soweit keine einseitige Gestaltung notwendig ist.22 Denn das Prinzip der Privatautonomie steht in Wechselwirkung mit anderen Prinzipien. Insbesondere lässt sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit ableiten, dass die Verfolgung eigener Interessen zum Nachteil des Vertragspartners zulässig ist. Das Sachinteresse des Vertragsstellers wird sogar meist erfordern, vom idealen Vertrag abzuweichen. Inwieweit das zulässig ist, bestimmt das Rechtssystem. Jedenfalls bleibt der ideale Vertrag die Ausgangsbasis. Auf seiner Grundlage befähigt die Kenntnis der typischen oder konkreten Interessen dazu, einen Vertrag sachgerecht zu erstellen oder einen Entwurf der Gegenseite zu bewerten.23 Das Interesse des Verwenders besteht nicht in der Verwirklichung der Privatautonomie des Vertragspartners und muss nicht einmal die gerichtliche Durchsetzbarkeit aller Regelungen umfassen. Auf diese Weise kann ein Vertrag unwirksame Klauseln zur Haftung enthalten24 oder Mitwirkungsleistungen des Kunden intransparent regeln und dennoch gute anwaltliche Kunst darstellen. Es mag sogar manchmal gelingen, unwirksame Regelungen so zu verschleiern, dass sie „wirksam“ werden.

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20 Als Beispiel diene wieder Schneiders Handbuch des EDV-Rechts mit der bereits der ersten Auflage als Faltblatt zugrunde gelegten Systematisierung der Vertragsthemen. Vgl. Langenfeld (s. o.), Rn. 230 ff.; Ritterhaus/Teichmann (s. o.), Rn. 180 ff., 294 ff. 21 Notwendig ist das nicht. Ein Vertrag kann gültig bleiben, auch wenn die Parteien eine unwirksame Regelung bewusst aufgenommen haben, § 139 BGB, oder eine Partei durch Drohung zum Abschluss bestimmt wurde, § 123 Abs. 1 BGB. 22 Notarielle Verträge etwa oder beim Auftrag zur Erstellung „fairer“ Bedingungen. 23 Siehe vor allem Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, ab der 2. Auflage Rn. 55 ff. 24 Schneider/Hartmann, CR 1998, 517 (519).

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II. Rechtswahl in Allgemeinen Geschäftsbedingungen – Vernunft oder Unvernunft? Martin Schweinoch*

„Das müssen Sie erklären wie in der Klippschule.“1 Jochen Schneider Die Rechtswahl in Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird oft stiefmütterlich behandelt. Einerseits werden dort häufig Formulierungen über die Geltung deutschen Rechts stereotyp gegenüber jedem Geschäftspartner verwendet, nicht selten mit ergänzendem Ausschluss der Anwendung des Wiener UN-Übereinkommens über Verträge über den internationalen Warenkauf, ohne Grundlagen und Wirkungen zu hinterfragen. Auch die Vertragsanbahnung und das Prozedere für den Vertragsabschluss verlaufen dann typischerweise in „deutschen Bahnen“ nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB. Andererseits hat die Schuldrechtsmodernisierung den Wunsch der Anbieter gesteigert, erweiterten Rechten der Abnehmer – etwa der möglichen Kumulation von Minderung oder Rücktritt mit Schadensersatz – durch ein Ausweichen auf andere Rechtsordnungen zu entgehen. Eine flächendeckende Umsetzung solcher Ziele kann in der Praxis nur durch Rechtswahlklauseln in AGB erfolgen, wenn nicht der Sitz des Anbieters gleich in das Ausland verlagert werden soll. Eine Flucht aus zwingendem EU-Verbraucherschutzrecht durch Wahl eines Nicht-EU Rechts (etwa der Schweiz) ist nicht möglich (Art. 29a Abs. 1 EGBGB), die EU-Verbraucherschutzvorschriften bleiben anwendbar. Das Verbraucherschutzrecht des gewöhnlichen Aufenthaltsstaats eines Verbrauchers bleibt auch außerhalb der EU-Harmonisierung maßgeblich (Art. 29 Abs. 1 EGBGB). Für die Formgültigkeit des Verbrauchervertrages und einer Einbeziehung von AGB einschließlich

__________ * Martin Schweinoch ist Seniorpartner der Kanzlei Schwarz Kelwing Wicke Westpfahl und koordiniert deren überörtliche Practice Group IT, Internet & E-Business. 1 Freundlicher Hinweis eines Meisters der langen Sätze.

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Rechtswahl in Allgemeinen Geschäftsbedingungen

der dort getroffenen Rechtswahl gilt für Verbraucher oft das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsstaats2 (Art. 29 Abs. 3 EGBGB) anstelle des bei Unternehmern anzuwendenden gewählten Vertragsstatuts (Art. 31 Abs. 1 EGBGB). Unabhängig von Verbrauchergeschäften sehen ausländische Rechtsordnungen selbst bei einer anderweitigen Rechtswahl die Geltung bestimmter eigener Vorschriften international zwingend vor („Eingriffsnormen“). Das wird oft im Rahmen der Rechtswahl durch AGB nicht näher geprüft. Die Effekte sind dann unvorhergesehen, teilweise sogar verblüffend3. Dasselbe gilt spiegelbildlich im deutschen Recht: Deutsche Eingriffsnormen setzten sich selbst bei wirksamer Wahl ausländischen Rechts durch (Art. 34 EGBGB). Einer Nichtanwendung der ausländischen Rechtsnorm wegen Verstoß gegen den deutschen ordre public (Art. 6 EGBGB) bedarf es dazu nicht. Zunächst muss ein anderes nationales Recht wirksam vereinbart werden. Zwar lässt Art. 27 EGBGB auch eine konkludente Rechtswahl zu, für die Umstände bei Vertragsabschluss mit heranzuziehen sind. Darauf kann bei einem generellen Geltungsanspruch von AGB aber kein Verlass sein, da stets gleichförmige Umstände für Vertragsanbahnung und -abschluss in jedem Einzelfall nicht prognostisch unterstellt werden können. Dieser Unsicherheit für den konkreten Vertrag soll die Rechtswahlklausel in AGB vorbeugen. Ein hohes Risiko besteht für die Wahl eines „Rechts am dritten Ort“ ohne Bezug zu den Vertragsparteien oder der Vertragsdurchführung auch gegenüber Unternehmern. Sie wird nicht selten als überraschend (§ 305c Abs. 1 BGB) nicht in den Vertrag einbezogen. Es verbleiben als Wahlmöglichkeiten in AGB die Rechtsordnungen der Staaten der Vertragspartner oder der Vertragsdurchführung. Im Geschäft via Internet lässt sich davon mit hinreichender Sicherheit nur der Sitz des Anbieters vorweg bestimmen. So reduziert sich der Gestaltungsspielraum des Anbieters faktisch häufig auf das Recht an seinem Sitz. Überraschend

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2 Siehe OLG Düsseldorf, Urteil vom 14.1.1994 – 17 U 129/93; ZIP 1994, 288 auch zur Überraschungswirkung der Wahl ausländischen Rechts nach dem damaligen § 3 AGBG, für dessen Anwendung wiederum die Geltung deutschen Rechts erforderlich war. 3 So bestimmt etwa Section 67 des australischen Trade Practices Act 1974 die zwingende Anwendung seiner relativ umfassenden Verbraucherschutzvorschriften in Division 2 („Conditions and Warranties in Consumer Transactions“) auch bei abweichender Rechtswahl, wenn ohne Rechtswahl australisches Recht gelten würde. Vorrangig wäre also Letzteres nach australischem Recht zu prüfen.

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kann diese Rechtswahl kaum sein, denn ohne Rechtswahl führt die Vermutung des Art. 28 Abs. 2 EGBGB ebenfalls zur Anwendung dieses Rechts. Für sachenrechtliche Vorschriften ist allerdings keine Rechtswahl möglich, sie unterliegen stets der lex rei sitae, dem Recht am Ort der belegenen Sache. Gilt im internationalen Geschäft deutsches Recht, ist bei Kaufgeschäften das Wiener UN-Übereinkommen über den internationalen Warenkauf4 (CISG) vorrangig (Art. 1 Abs. 1 lit. b CISG). Es gilt unabhängig von einer Kaufmanneigenschaft der Parteien im unternehmerischen Geschäftsverkehr. Allerdings ist dessen Anwendung nicht schon dann ausgeschlossen, wenn ein Verbraucherkauf nach § 474 Abs. 1 BGB vorliegt. Das BGB stellt nur darauf ab, dass faktisch ein Verbraucherkauf vorliegt. Das CISG nimmt von seinem Anwendungsbereich aber nur Käufe aus, bei denen der Verkäufer um die Verbraucherrolle des Käufers wusste oder wissen musste (Art. 2 lit. a CISG). Hier verbleibt bei Geltung des CISG also eine potentielle Regresslücke zwischen dem Einkaufsvertrag für Waren des Wiederverkäufers, der selbst faktisch kaum ausschließen kann, auch an Verbraucher zu verkaufen. Für dessen Einkaufsvertrag könnte das CISG ohne den Regress der §§ 478, 479 BGB gelten, für dessen Weiterverkauf dagegen deutsches Verbraucherschutzrecht. Diese Regresslücke lässt sich durch einen Hinweis an den Erstverkäufer auf einen Weiterverkauf an Verbraucher nicht vermeiden, da Art. 2 lit. a CISG isoliert nur darauf abstellt, ob ein unternehmerischer Kauf des Wiederverkäufers vorliegt. Als Lösungsmöglichkeit verbleibt, das CISG ganz abzubedingen. Bei typischer Klauselgestaltung in AGB (Geltung deutschen Rechts unter Ausschluss des CISG) ist dafür zunächst nach deutschem Recht zu prüfen, ob die AGB wirksam in den Vertrag einbezogen wurden. Zwischen Unternehmern genügt dafür nach § 310 Abs. 1 S. 1 BGB ein unwidersprochener Verweis des Verwenders auf die Geltung seiner AGB vor Vertragsabschluss. Eine Übersendung der AGB ist nicht erforderlich, umso weniger deren Kenntnisnahme durch den Verwendungsgegner. So kann AGB-konform deutsches Recht vereinbart werden, nach dem für unternehmerische Kaufgeschäfte vorrangig das CISG gilt. Das CISG ist dann auch gesetzliches Leitbild gemäß § 307 Abs. 2 BGB. Die weitere Frage lautet, ob in AGB im Widerspruch zu § 307 Abs. 2 BGB das gesetzliche Leitbild CISG quasi im Ganzen abbedungen wer-

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4 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods vom 11.4.1980, Bekanntmachung der Gültigkeit für Deutschland (alte Bundesländer): BGBl 1990 Teil II, 1477.

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Rechtswahl in Allgemeinen Geschäftsbedingungen

den kann. Dies bejaht Art. 6 CISG pauschal, der das CISG für vollständig dispositiv erklärt, ohne zwischen Individualvertrag und AGB zu differenzieren. Das gesetzliche Leitbild CISG stellt sich also selbst gänzlich zur Disposition. Nur damit lässt sich die Abdingbarkeit des CISG im Ganzen sogar durch AGB begründen. Eine wesentliche Benachteiligung des Verwendungsgegners kann so nicht eintreten, da dann die für Inlandsgeschäfte maßgeblichen Regelungen des BGB (wieder) gelten. Allerdings genügt für eine „Abwahl“ des CISG auch im unternehmerischen Verkehr nicht die bloße Bezugnahme auf einen AGB-Text mit entsprechender Klausel. Der Ausschluss des CISG muss auch konform zu Art. 6 CISG erfolgen, bei dessen Auslegung die Grundsätze des guten Glaubens im internationalen Handel gelten (Art. 7 Abs. 1 CISG). Danach kann sich ein AGB-Verwender nicht auf AGB-Texte berufen, die ein Verwendungsgegner nicht erhalten hat oder die diesem nicht zugänglich gemacht wurden5. Für eine wirksame Abbedingung des CISG ist auch unter Geltung deutschen (AGB-)Rechts also grundsätzlich die Übersendung der entsprechenden AGB-Texte an den Verwendungsgegner vor Vertragsabschluss erforderlich. Eine Vorgehensweise in „deutschen Bahnen“ durch bloße Bezugnahme auf einen dem Verwendungsgegner nicht vorliegenden und nicht zugänglich gemachten AGB-Text genügt dafür nicht. Gerade hier bestehen in der Praxis wohl erhebliche Defizite. Mit der Maßgabe, dass die AGB-Texte zur Abbedingung des CISG dem Verwendungsgegner vorliegen müssen, stellt sich diese Lösung im Ergebnis als Insel der Vernunft im nicht leicht durchschaubaren Dickicht des internationalen Privatrechts dar. Einem ausländischen Verwendungsgegner, der möglicherweise die Geltung des für ihn tendenziell günstigeren CISG erwartet, wird nichts „untergeschoben“. Er kann gegenüber dem CISG erhöhte Risiken kalkulatorisch berücksichtigen. Dem deutschen Verwender von AGB wird ein inhaltlicher Gleichklang mit dem modernisierten deutschen Kaufrecht einschließlich des zwingenden Verbraucherkaufs in der Praxis zumindest juristisch möglich. Und schließlich konnte sich lange vor der Schuldrechtsmodernisierung ein kleiner Referendar darüber freuen, mit der Abdingbarkeit des CISG durch AGB eine Flasche Champagner von einem renommierten Professor zu gewinnen. Der inzwischen nicht-mehr Referendar würde sie auch heute gerne redlich teilen.

__________ 5 BGH, Urteil vom 31.10.2001 – VIII ZR 60/01; NJW 2002, 370.

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III. Die Auswirkungen des fliegenden Gerichtsstandes auf die Rechtsfortbildung oder die Frage, warum sich eine klägerfreundliche Auffassung durchsetzt oder die Abkehr vom Grundsatz „actor sequitur forum rei“1 1

Danielle Hertneck/Frieder Backu*

„Ibi fas ubi proxima merces.“ Lucan Wo der Gewinn am höchsten, da ist das Recht – es ist zu hoffen, dass der Ausspruch des römischen Dichters Lucan2 nicht auf das Institut des „fliegenden Gerichtsstandes“ Anwendung findet, wenngleich zu befürchten ist, dass „derjenige, der Unheil ausbrütet, es auch fliegen lässt“.3 Internetuser werden geplagt durch Abmahnwellen und deren gerichtliches Nachspiel. Gerichte erachten sich bei Internetsachverhalten automatisch für zuständig. Dies gilt es zu hinterfragen.

1. Zum fliegenden Gerichtsstand Rechtsprechung und Literatur gehen bei Wettbewerbs-, Urheber- oder Markenverletzungen im Internet meist von einem „fliegenden Gerichtsstand“ aus. Grundlage sind die §§ 32 ZPO, 14 Abs. 2 UWG oder 17 UrhG.4 Abgestellt wird auf den Tatort bzw. den Handlungs- oder Erfolgsort. Das Institut des fliegenden Gerichtsstandes scheint sich so weit durchgesetzt zu haben, dass Gerichte sich bei Online-Sachverhalten mitunter automatisch für örtlich zuständig halten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen ist die Ausnahme.

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* Danielle Hertneck und Frieder Backu sind Rechtsanwälte der Kanzlei SSW Schneider Schiffer Weihermüller in München. 1 Der Kläger muss dem Gerichtsstand des Beklagten folgen. 2 Marcus Annaeus Lucanus (39–65 n. Chr.), bekannt als Lucan, römischer Dichter und Neffe Senecas des Jüngeren. 3 Wilhelm Raabe, deutscher Schriftsteller, 1831–1910. 4 Ausführlich hierzu Danckwerts, GRUR 2007, 104 ff.

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Die Auswirkungen des fliegenden Gerichtsstandes auf die Rechtsfortbildung

Eine Prüfung wird lediglich insoweit vorgenommen, als die beanstandete Rechtsverletzung durch einen bestimmungsgemäßen Abruf erfolgt sein muss oder die Auswirkungen der Rechtsverletzungen bestimmungsgemäß auch im Gerichtsbezirk des angerufenen Gerichts eingetreten sein müssen.5 Die Konsequenz ist, dass sich ein Kläger das ihm genehme Gericht aussuchen kann. Hierbei handelt es sich um eine Abweichung von dem allgemeinen Grundsatz, wonach der Beklagte aus Gründen der Waffengleichheit an seinem Sitz in Anspruch genommen werden soll („actor sequitur forum rei“). Dies ist der Ausgleich dafür, dass der Kläger das Ob, den Zeitpunkt und die Art seines Angriffs bestimmen kann.6

2. Ausnutzung des fliegenden Gerichtsstandes Das Internet bietet Recherchemöglichkeiten, die bei offline-Sachverhalten nicht existieren. Mit Hilfe von Suchmaschinen kann das Internet weltweit und mehrsprachig nach Rechtsverletzungen durchforstet werden. Dies ermöglicht eine gerichtliche Verfolgung von Rechtsverletzungen, die früher oder außerhalb des Cyberspace unentdeckt und ungeahndet geblieben wären. Es profitiert der klagende Rechtsinhaber. Er argumentiert, dass sich die beanstandete Internetseite bestimmungsgemäß an deutsche Nutzer richte und deshalb die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte zu bejahen sei. Da die Internetseite bestimmungsgemäß auch im Gerichtsbezirk des angerufenen Gerichts aufgerufen werden kann, könne der Rechtsinhaber jedes sachlich zuständige Gericht für seine Klage oder seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auswählen. Zwar wird nicht zu beanstanden sein, wenn ein Kläger das Gericht mit den besten Erfolgsaussichten auswählt. Sein Anwalt wird ihn hierauf sogar pflichtgemäß hinzuweisen haben. Allerdings stößt die unreflektierte Bejahung der Zuständigkeit auf der Grundlage des fliegenden Gerichtsstandes nicht selten an die Grenze des Willkürverbotes. Das nach dem Willen des Gesetzgebers sorgfältig austarierte Gefüge der §§ 12 ff. ZPO, das ein Gleichgewicht der Kräfte des Klägers und Beklagten herstellen soll, wird zu Lasten des Beklagten gestört.

__________ 5 BGH, GRUR 2006, 513 – Arzneimittelwerbung im Internet; BGH, GRUR 2005, 431 – Hotel Maritime. 6 Danckwerts, a. a. O. m. w. N.

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Der fliegende Gerichtsstand hat in den letzten Jahren einige fragwürdige Phänomene begünstigt. Abmahnwellen rollten und rollen durch die Republik. Teilweise entsteht der Eindruck, dass es weniger um die Verfolgung von berechtigten Interessen, sondern eher um die hierbei generierten Gebühren geht. Bei unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Rechtsprechung kann zunächst getestet werden, welches Gericht der eigenen Auffassung folgt. Ist dies ausgelotet, werden dort massenhaft Gerichtsverfahren eingeleitet. Erinnert sei in diesem Zusammenhang mit Schrecken an das amtliche Muster einer Widerrufsbelehrung. Forum Shopping kann auch insoweit betrieben werden, als Gerichte so lange abgeklappert werden, bis eines dem Antrag endlich stattgibt. Für die Klagepartei hat dies den Vorteil, dass sie stets das Heimatgericht anrufen kann. Für den Fall, dass dieses eine unpassende Rechtsauffassung vertritt, wird ein anderes Gericht ausgewählt. Gerade in Konstellationen, in denen es um geringe Gegenstandswerte geht und die Reisekosten im Verhältnis zu den übrigen Gebühren hoch sind, werden zur Einschüchterung des Beklagten die entlegensten Gerichte bemüht. Der Beklagte soll durch den unwirtschaftlichen zeitlichen und kostenmäßigen Aufwand von der Durchführung des Verfahrens abgehalten werden. Das Ergebnis ist: Gerichtsverfahren landen immer bei denselben klägerfreundlichen Gerichten. Beklagtenfreundliche Gerichte werden gemieden. Deren abweichende Rechtsauffassung geht unter. Der Beklagte hat meist keine Möglichkeit, den Rechtsstreit im Wege der negativen Feststellungsklage an ein solches Gericht zu verlagern.

3. Konsequenzen Die Ausnutzung des fliegenden Gerichtsstandes begünstigt die Herausbildung einer klägerfreundlichen herrschenden oder vermeintlich herrschenden Meinung. Eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof findet spät oder gar nicht statt, sei es, dass die Revision nicht statthaft ist, nicht zugelassen wird oder der Instanzenzug gescheut wird. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass Gerichtsentscheidungen immer öfter im Internet veröffentlicht werden, idealerweise gleich durch die Klagepartei. Hier schließt sich der Kreis. Die klägerfreundlichen Entscheidungen sind mit wenigen Klicks im Internet abrufbar und sind bereit, zitiert zu werden.

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Die Auswirkungen des fliegenden Gerichtsstandes auf die Rechtsfortbildung

4. Korrekturbedarf und Ansätze Es ist gelinde gesagt unvernünftig, wenn der Ausgang eines Rechtsstreits alleine davon abhängt, bei welchem Gericht er ausgetragen wird und der Kläger dies determinieren kann. Vernünftiger erscheinen hingegen erste Ansätze der Rechtsprechung auf dem Weg zu einer Einschränkung des fliegenden Gerichtsstandes für Internetsachverhalte. Beispielsweise nimmt das KG Berlin in Fällen, in denen der Kläger ohne sachliche Gründe zu Lasten des Beklagten ein weit entferntes Gericht aussucht, einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Rechtsmissbrauch an.7 Das OLG Hamburg verneint die Dringlichkeit im Falle eines missbräuchlichen ForumShoppings, wenn hintereinander mehrere Gerichte angerufen werden.8 Nach Auffassung des LG Krefeld reicht die Abrufmöglichkeit der rechtsverletzenden Internetseite alleine nicht zur Begründung der örtlichen Zuständigkeit. Abzustellen sei vielmehr darauf, ob sich die Verletzungshandlung im Bezirk des angerufenen Gerichts im konkreten Fall bestimmungsgemäß auswirken sollte. Der Wirkungskreis sei anhand der Darstellung und des Inhalts der Internetseite zu bestimmen.9 Auch wird darauf abgestellt, dass eine bloß zufällige Kenntnis der Rechtsverletzung im Bezirk des erkennenden Gerichts nicht ausreiche, um eine Zuständigkeit zu begründen.10 Derartige Ansätze durch die Rechtsprechung und ein zurückhaltender Gebrauch des § 32 ZPO sind zu begrüßen. Die Ausnahmevorschrift § 32 ZPO beruht auf dem Gedanken der größeren Sachnähe des Gerichts, in dessen Bezirk die unerlaubte Handlung begangen wurde. Bei offline-Sachverhalten ist dies nachvollziehbar. Am Begehungsort kann die Sachaufklärung und Beweiserhebung am besten erfolgen. Hieraus und aus der geringeren Schutzwürdigkeit des Verletzers folgt die Berechtigung, dem Kläger ein Wahlrecht einzuräumen und von dem Grundsatz der §§ 12 ff. ZPO abzuweichen. Nun stammt die Formulierung des § 32 ZPO aber aus einer Zeit, als Computer und Internet noch Science Fiction waren. Daher ist die Übertragung der Gedanken zum Ort der unerlaubten Handlung auf Internetsachverhalte zu hinterfragen. Die Abrufbarkeit

__________ 7 KG Berlin, Beschluss vom 25.1.2008 – 5 W 371/07; ähnlich LG Magdeburg vom 3.5.2007 – 7 O 2325/06, 7 O 383/07. 8 OLG Hamburg, Urteil vom 6.12.2006, ITRB 2007, 231. 9 LG Krefeld, Urteil vom 14.9.2007 – 1 S 32/07. 10 AG Luckenwalde, Beschluss vom 16.4.2007 – 12 C 19/07.

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einer Internetseite im Bezirk eines bestimmten Gerichts begründet keine größere Sachnähe ausgerechnet dieses Gerichts. Im Gegenteil: Die Sachnähe ist bei allen Gerichten gleich. Jedes Gericht und jede Partei kann innerhalb von Deutschland dieselben Internetseiten abrufen. Jedem Gericht stehen im Erkenntnisverfahren theoretisch dieselben Mittel zur Aufklärung von Online-Sachverhalten zur Verfügung. Es fehlt die Rechtfertigung für eine Abweichung von der Grundregel der §§ 12, 13 ZPO. Etwas anderes kann nur für Fälle gelten, in denen auch bei OnlineSachverhalten ausnahmsweise ein bestimmter örtlicher Bezug vorhanden ist, der sich in greifbar besseren Möglichkeiten der Gewinnung von Erkenntnissen niederschlägt. Diese Kriterien durch die Rechtsprechung ausfüllen zu lassen, würde einen Weg in die Rechtsunsicherheit bedeuten, der erneut Forum Shopping provozieren würde. Der schnellste Weg zu einer einheitlichen und „vernünftigen Insellösung“ werden daher Korrekturen durch den Gesetzgeber oder die Schaffung eines besonderen Gerichtsstandes für Internetsachverhalte sein.

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I. Über den Zugang von Willenserklärungen im Zeitalter des Internet Andreas Witte*

„Es hört doch jeder nur, was er versteht.“ J. W. v. Goethe Auf einer pazifisch zentrierten Weltkarte sind Europa, Afrika und Asien in der linken Hälfte abgebildet, während Amerika in der rechten Ecke erscheint. Sie ist seitlich so versetzt, dass nicht wie üblich der Pazifik durch den linken und rechten Rand zerschnitten ist. Vielmehr klafft in der Mitte, also zwischen der asiatischen Ost- und der amerikanischen Westküste ein riesiger Kontinent aus Wasser, der mit winzigen Punkten, den Atollen der pazifischen Inselstaaten übersäht ist. Die äußeren Grenzen dieser riesigen Fläche werden durch geotektonische Zonen definiert, also beispielsweise im Westen den St. Andreas Graben, im Norden die Aleuten und im Osten Kamchatka und die japanische Ostküste1. Die Abgeschiedenheit der Inselreiche und auch ihre geografische Distanz untereinander lassen darauf schließen, dass die Bewohner entweder unter sich bleiben2 oder, etwa in einem Inselverbund, viel Zeit für ihre insulane Kommunikation aufbringen3. Das Problem ist, dass es zwischen Information und Zeit einen Zusammenhang zu geben scheint. Sind beide nicht fein aufeinander abgestimmt, tendiert der Wert einer Nachricht gen Null oder schadet gar. Der Börsianer ist mit diesem Problem bestens vertraut, trotz vorhandener Realtimesysteme und Hedgingstrategien. Wie verhält es sich aber dort, wo die Raffinessen der Informationstechnologie und Telekommunikation bestimmte Inseln unberührt lassen?

__________ * Andreas Witte ist Rechtsanwalt in der Rechtsanwaltskanzlei Witte in München. 1 Typenbezeichnung: US DoD Series 1145 Edition 3-NIMA. 2 So auch heute noch das gesellschaftliche Grundkonzept der Republik Malediven im indischen Ozean. 3 Die zu Neuseeland gehörende Insel Tokelau wurde erst 1995 an das internationale Telefonnetz angeschlossen; Satellitentelefone sind für die meisten Bewohner der Pazifikinseln bis heute unerschwinglich.

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Als Beispiel dient ein deutscher Sportsegler, der mit seinem Einhandsegelschiff einen Törn durch die pazifischen Inseln plant. Er hat ein vitales Interesse an aktuellen Informationen über bevorstehende Katastrophen wie Seebeben, Vulkanausbrüche und dergleichen. Er hat sich rechtzeitig auf den kostenlosen Mailverteiler des Pacific Tsunami Warning Center setzen lassen und kann bei Vorhaltung der geeigneten Empfangstechnik (es reicht bei Vorhandensein eines GSM-Netzes ein RSS-feed-taugliches Handy, ansonsten ist ein Satellitentelefon erforderlich) die Warnmeldungen empfangen, um sich je nach Beschaffenheit der Insel auf einen Vulkan oder zumindest auf eine Palme zu retten4. Nach deutschem Recht gilt, dass derjenige, der moderne Kommunikationssysteme einsetzt, das Risiko trägt, dass ihm Willenserklärungen nicht rechtzeitig zur Kenntnis gelangen, z. B. weil er nicht regelmäßig sein Faxgerät auf neu eingegangene Faxe kontrolliert. Eine Willenserklärung gilt immer dann als zugegangen, wenn sie theoretisch hätte abgerufen werden können5. Zuvor, und dafür ist gerade die arbeitsrechtliche Rechtsprechung6 sehr lehrreich, gesellen sich dazu allerlei Fehlerquellen beim Versand. Der Gekündigte kann einwenden, er habe nichts erhalten. Der Zugangsnachweis, wenigstens bis zum Mail-Server des Empfängers, obliegt dem Erklärenden7. Der Empfänger kann weiter einwenden, im Umschlag sei „nichts drin“ gewesen, dieser habe leider eine falsche Erklärung beherbergt, oder eben Verfristung. Für den deutschen Segler kann es fatale Auswirkungen haben, wenn die als Warn-E-mail gekennzeichnete Nachricht keinen Text enthält oder den fälschlicherweise zugestellten privaten Gruß eines Insulaners oder wenn die Nachricht fälschlicherweise nur für den indischen Ozean ausgegeben wird oder erst nach dem Tsunami eintrifft, quasi als Entwarnung. Im E-Mail-Verkehr wird eine Willenserklärung nach Absendung der Mail zunächst in einem elektronischen Serversystem gespeichert. Die

__________ 4 Das Pacific Tsunami Warnung Center wird von den USA betrieben. Zur Zeit der Abfassung dieses Textes konnte man sich über diesen link auf den entsprechenden Mailverteiler setzen lassen: http://www.prh.noaa.gov/pr/ptwc/ subscribe.php. 5 BGH, Urteil vom 21.1.2004 – XII ZR 214/00, BayVerfGH, NJW 1993, 517 ff., Palandt/Heinrichs, 66. Aufl., § 130 Rz. 6. 6 Vgl. Dörner/Luczak/Wildschütz, Handbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl., D.62, S. 1013 ff. 7 BGH, Urteil vom 7.12.1994, NJW 1995, 665, a. A. OLG München, Beschluss vom 8.10.1998 MDR 1999, 286.

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wohl überwiegende Ansicht geht nun davon aus, dass der Zugang erst dann erfolgt, wenn der Empfänger die Mail von diesem System abruft. Da im Einzelfall nicht ermittelt werden kann, wann die E-Mail tatsächlich abgerufen wurde, wird der Zugang allgemein zu dem Zeitpunkt angenommen, in dem der Empfänger üblicherweise die Daten abruft, ganz zu schweigen von den technischen Problemen, die beim Provider oder auf dem Weg zum Laptop/Handy des Einhandseglers auftauchen können und deren Zuordnung zur Risikosphäre des einen oder anderen Kommunikationswilligen erforderlich ist, wenn Übermittlungsprobleme auftreten. Die Üblichkeit ist, selbst bei objektivierter, auf einzelne Verkehrskreise (hier also der Verkehrskreis der deutschen Sportschiffer) zugeschnittener Betrachtung ein dehnbarer Begriff. Als Lösungsansatz für Verständnisprobleme in einem inhomogenen Verkehrskreis setzen die Insulaner im pazifischen Raum, vor allem in Papua-Neuguinea, auf die einfache, englisch basierte Kreolsprache8, Tok Pisin, zuweilen auch Pidgin-Englisch genannt, die eine Weiterentwicklung des melanesischen Pidgin ist9. Sie dient hauptsächlich der Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften und ist so erfolgreich, dass sie auf Kosten anderer PidginVarianten, die zeitgleich aussterben, sogar eine steigende Zahl von muttersprachlichen Sprechern aufweisen kann. Sie kommt mit einer simplen Grammatik aus. Es gibt weder Konjugation noch Deklination. Es gibt nur zwei Vergangenheitsformen und ein Futur, wobei sich das Verb nicht ändert, sondern die Zeit durch ein voran- oder nachgestelltes Wort ausgedrückt wird. Man staune, denn die Sprache setzt sich nicht nur aus englischen und melanesischen Elementen zusammen, sondern es gibt auch (noch) große deutsche Einflüsse, die auf die frühere deutsche Präsenz in der Südsee zurückgehen10. Es handelt es sich dabei nicht um eine Variante oder um den Dialekt einer Weltsprache, sondern um eine eigenständige Sprache, die hauptsächlich drei Grundregeln folgt, nämlich vorhandenen Kategorien in den Muttersprachen,

__________ 8 (ISO 639-2: (B) tpi (T) SIL/ISO 639-3: PDG. 9 Blanz, Fritz/Wendt, Wolfgang, Tok Pisin bilong Papua Niugini. Das Pidgin von Papua-Neuguinea. Eine Einführung. Hrsg. v. Missionswerk der Evang.Luth. Kirche in Bayern. Neuendettelsau: Selbstverlag der Medienstelle des Missionswerks der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, 1997. (Maschinenschriftl. Entwurf). 10 Prof. Dr. Hermann Hiery, Das Deutsche Reich in der Südsee (1900–1921), Göttingen 1995.

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Bestrebungen nach Sprachökonomie und universellen Tendenzen des Sprachwandels11. Auf diese Weise konnten sich vermutlich schon vor hundert Jahren die Besatzungen polynesischer Schiffe über Landesgrenzen hinweg einigermaßen verständigen, wobei der Wortschatz des Tok Pisin zwar beschränkt ist, aber die Sprache trotz vordergründiger „Formenarmut“ eine selbständige, sehr effektive Verständigungsmöglichkeit bietet. Diese Effektivität der Verständigungsmöglichkeit ist bei E-Mail selbst dann nicht immer gewährleistet, wenn der Zugang einer E-Mail ordnungsgemäß erfolgt ist, wenn also die Mail im Postfach des Empfängers angekommen ist. Fragen wirft etwa der Widerruf der Erklärung durch den Absender auf. Der Widerruf einer Willenserklärung (etwa ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages) muss nach § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB bis zum Eingang derselben erfolgt sein, um noch rechtzeitig zu sein. Wenn aber die Annahme einer solchen Angebotserklärung durch den Verkäufer einer Ware ebenfalls via E-Mail erfolgt, muss unter obiger Prämisse von einer Zeitgleichheit von Zugang und Annahme der Willenserklärung ausgegangen werden. Denn bei der Entnahme der E-Mail aus dem Postfach, sollte sie denn gelingen, ist es in diesem Fall bereits für einen Widerruf zu spät. Unter diesen Umständen ist ein Widerruf von via Internet abgegebenen Willenserklärungen jedenfalls bei Vertragserklärungen außerhalb von Fernabsatzgeschäften praktisch unmöglich. Mit Tok Pisin wird zwar nicht das Zeitproblem gelöst, wenn es darum geht, Informationen möglichst schnell auszutauschen. Es ist aber gelungen, eine Kommunikationsschnittstelle so zu harmonisieren, dass eine Verständigung über einen weiten Teil unabhängiger Pazifikstaaten möglich ist, ohne dass eine bestimmbare Institution oder gar eine Rechtschreibreform die Sprache vorgegeben hätte. Die Sprache Tok Pisin verändert sich dabei von selbst so schnell, dass bisweilen die Verständigung zwischen den Generationen und zwischen ländlichen Gebieten und städtischen Ballungszentren erschwert wird. Der Fremde ist nur so lange fremd, solange er nicht verstanden wird. Ist es zu aufwändig, eine neue Hochsprache, möglicherweise mit einer anderen Logik als der gewohnten, zu erlernen, bietet sich eine einfache Sprache an, die mit den wichtigsten Vokabeln und Formen auskommt.

__________ 11 Jan Wohlgemuth, Grammatische Kategorien und ihre Ausprägungen im Tok Pisin von Papua-Neuguinea, 1999, Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster.

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Über den Zugang von Willenserklärungen im Zeitalter des Internet

Technische Probleme der Übermittlung und der Geschwindigkeit lassen sich damit nicht lösen, wohl aber die Schnittstellenproblematik. Jochen Schneider erklärte einmal ein juristisches Problem am Beispiel einer alten Weltkarte. Dort, wo die Grenzen der Rechtswissenschaft erreicht seien, befinde sich regelmäßig der Vermerk „hic sunt leonis“. Heute wissen wir mehr über fremde Länder und über uns selbst. Die Südsee ist keine terra incognita, sondern sie beherbergt die Inseln der Vernunft.

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II. Die neue Muster-Widerrufsbelehrung in § 14 BGB-InfoV Stefan Ernst*

„Wer mehr als zwanzig Prozent markiert, braucht eigentlich gar nichts zu unterstreichen.“ ein ungenannter Gymnasiallehrer 1. Seit dem 1. April 2008 ist die Dritte Verordnung zur Änderung der BGB-Informationspflichten-Verordnung (BGB-InfoV) in Kraft.1 Mit dieser sollen die Muster für Belehrungen noch klarer gefasst werden, die Unternehmer Verbrauchern über ihre Widerrufs- und Rückgaberechte erteilen müssen.2 Für Belehrungen, die den bislang gültigen Mustern entsprechen, gilt noch eine Übergangsfrist bis zum 1. Oktober 2008. Das Leitbild der Verbraucherpolitik ist der mündige Verbraucher. Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung sind wichtige Stichworte. Aber auch die Belange der Wirtschaft müssen und sollen angemessen berücksichtigt werden. Rechtsänderungen sollen für den Verbraucher Rechtssicherheit und Transparenz erhöhen, es aber gleichzeitig auch vermeiden, die Wirtschaft mit unverhältnismäßigen Auflagen zu belasten.3 Diese Gratwanderung ist nicht immer einfach, wie das Beispiel der Musterwiderrufsbelehrung zeigt. Dieser Beitrag will ein paar kleine Denkanstöße hierzu geben. 2. Vorweg ein paar Worte zur Entstehung und zum Nutzen der bis zum 31. März 2008 im Annex zu § 14 BGB-InfoV befindlichen Vorversion der neuen Musterbelehrung. Diese alte Fassung wurde im Verlauf ihrer Geltungsdauer von einer Reihe von Gerichten nicht nur für unbrauchbar, sondern ihre Verwendung sogar für wettbewerbswidrig erachtet.4 Ungeachtet der offenbaren Rechtstreue ihrer Verwender wurden sie also teuer bestraft. Dass dies nicht von allen Gerichten geteilt wurde5,

__________ * 1 2 3 4

Dr. Stefan Ernst ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Dr. Ernst in Freiburg/Br. BGBl. I 2008, 295 v. 12.3.2008. BMJ PM v. 12.3.2008. Vgl. BMJ PM v. 14.3.2008. Z. B. OLG Hamm, CR 2007, 387. LG Koblenz, MMR 2007, 190; LG Halle, MMR 2006, 772. 5 Vgl. OLG Hamburg, MMR 2008, 44; OLG Köln, CR 2008, 44.

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Die neue Muster-Widerrufsbelehrung in § 14 BGB-InfoV

ist angesichts der Möglichkeit zum Forumshopping bei Wettbewerbsklagen wegen Online-Verstößen unerheblich.6 Die Literatur äußerte sich schnell sehr kritisch und verlangte eine baldige Korrektur seitens des BMJ. Hoeren7 bemängelt gar, dass seiner Ansicht nach die alte Musterbelehrung „offensichtlich nicht von einem Rechtskundigen“ und allenfalls „eventuell von einem Referendar“ verfasst wurde. Die amtliche Begründung zur jüngsten Änderung der BGBInfoV bekräftigte dann zwar – nach einigem Zuwarten –, dass man dort weiterhin davon ausginge, dass die Musterbelehrungen den richtig verstandenen gesetzlichen Vorgaben genügten. Gleichwohl wurde – und nur darauf kommt es an – gehandelt und die überarbeitete Fassung veröffentlicht.8 3. Aus Sicht eines Rechtsanwenders ohne juristische Vorbildung fällt zunächst der schiere Umfang des Textes auf. Die Widerrufsbelehrung nimmt mit Anmerkungen zwei volle Seiten im Bundesgesetzblatt ein, zusammen mit der Rückgabebelehrung sind es mehr als dreieinhalb Seiten. Dabei ist zu beachten, dass die amtlichen Anmerkungen in Fußnotengröße verfasst wurden. Dies wäre im Prinzip unproblematisch, wenn er diesen Text nur einfach übernehmen könnte. Dies ist jedoch nicht möglich, weil die Musterbelehrung in Alternativen formuliert und fallbezogen angepasst einzusetzen ist. Es gibt nur eine Basisformulierung, die aber eben nicht für den Normalfall des Online-Shops gilt. Die Widerrufsbelehrung besitzt zunächst elf Anmerkungen. Diese Anmerkungen unterteilen sich zuweilen wiederum in bis zu einem halben Dutzend Unterfälle, die ihrerseits auch wieder mehrere Varianten haben können. Ein Nichtjurist kann diese Fälle dabei kaum unterscheiden, denn die Varianten nehmen ohne weitere Erläuterungen unmittelbar Bezug auf Rechtsnormen, die ihrerseits wieder erklärungsbedürftig sind und deren Auslegung zum Teil in der Fachliteratur umstritten ist. Selbst Fachjuristen diskutieren schon jetzt kontrovers über die richtige Anwendung der neuen Musterbelehrung im Kontext des Fernabsatzund E-Commerce-Rechts. Ein gewöhnlicher Unternehmer ist mit dieser Form der „Handreichung“ völlig überfordert. Er ist quasi gezwun-

__________ 6 Daher ist auch die gewährte Übergangsfrist eigentlich nicht von Nutzen. 7 OLG Hamm, EWiR § 312c BGB 1/07, 393 (Hoeren). 8 Dass auch an dieser bereits vielfach inhaltliche Kritik geübt wird, sei vorliegend nur am Rande bemerkt; z. B. Lejeune, CR 2008, 227; Faustmann, ZGS 2008, 147; Masuch, NJW 2008, 1700.

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gen, sich einen spezialisierten Juristen hinzuzuziehen, der ihm die für seinen Online-Shop korrekte Fassung der Widerrufsbelehrung erstellt. 4. Verbraucherschutz bedeutet in der EU fast stets die Einführung neuer Informationspflichten und weiterer Widerrufsrechte. Es ist richtig, dass der mündige Verbraucher Informationen benötigt. Zu klären ist jedoch, über wie viele Einzelheiten jeweils informiert und belehrt werden muss. Der Verfasser erlaubt sich, vorsichtig einmal die grundsätzliche Frage zur Diskussion zu stellen, ob und inwieweit derartig umfangreiche Belehrungswerke generell dem Verbraucherinteresse dienen können und ob nicht vielmehr das Gegenteil bewirkt wird. Im Wettbewerbsrecht hat es eine langjährige (und europäisch geprägten) Entwicklung gebraucht, bis sich das bei der Feststellung von irreführender Werbung prozessentscheidende Verbraucherleitbild weg vom „flüchtigen“ oder „unkritischen“ Adressaten hin zum durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher entwickelt hatte.9 Es hat fast den Eindruck, als könnte diese Tendenz im Verbrauchervertragsrecht, das über § 4 Nr. 11 UWG gerade wieder Lauterkeitsbezug hat, umgekehrt verlaufen. Der Sinn von Vorschriften zur Kennzeichnung der Ware selbst (z. B. LMKV, TKV, HWG) soll nicht in Frage gestellt werden. Erste Grenzen finden sich aber schon bei Belehrungen zum richtigen Umgang mit Verpackungsresten.10 Hier wäre zu entscheiden, ob eine Belehrung über die vielfältigen Details eines Widerrufsrechts, wie sie in diesen Musterbelehrungen erfolgt, wirklich sinnvoll ist. Eine Erklärung, die vom Verbraucher nicht wahrgenommen wird und mit deren Erstellung der Unternehmer überfordert ist, erscheint kaum sinnvoll. Welche Blüten diese Diskussion über Belehrungspflichten treiben kann, zeigte die auch schon aufgeworfene Frage, ob der Unternehmer den Verbraucher auch noch über die Einzelheiten des gesetzlichen Gewährleistungsrechts aufklären müsse. Es kann nicht mehr Sinn der Sache sein, dem Unternehmer eine Rechtsberatungspflicht allgemeiner Art aufzubürden. Allgemeine Geschäftsbedingungen werden nicht gelesen; Widerrufsbelehrungen dieser Art auch nicht. Der Verfasser erlaubt sich, die Frage aufzuwerfen, ob hier nicht eine erheblich kürzere Belehrung nur über die wirklich essentiellen Punkte des Widerrufsrechts den Anforderungen des Verbraucherschutzes eher Genüge tun würde. Dann könnten

__________

9 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, § 1 Rn. 18 ff.; § 5 Rn. 1.46 ff. 10 Vgl. Ernst, CR 2008, R39 ff.

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alle anderen Anforderungen aus Gesetz und Belehrung herausfallen, was diese nicht nur übersichtlicher, sondern die dann entstehende Musterbelehrung auch leicht verständlich und für Geschäftsleute ohne anwaltliche Hilfe verwendbar macht. Man könnte auch daran denken, den Unternehmern lediglich einen allgemeinen Hinweis auf das Bestehen eines Widerrufsrechts aufzuerlegen, verbunden mit einem Link auf die Webseite des BMJ, auf der dann alle Rechtsfragen ausführlich erläutert würden. Wäre eine solche Site nicht ein echtes Leuchtturmprojekt, quasi eine Insel der Vernunft im Meer des Abmahnunwesens? Was die neue Musterbelehrung vom 1. April 2008 angeht, bleibt zu hoffen, dass deren Verwendung das Wohlwollen der Wettbewerbsgerichte finden wird (und sei es mit Hilfe des „Kunstgriffs“ Bagatellklausel § 3 UWG) – selbst wenn immer noch nicht alles hundertprozentig stimmen sollte. Ich schließe es nicht völlig aus, dass der Jubilar, der sich stets als ein praktisch, effektiv und ergebnisorientiert denkender Jurist hervorgetan hat, mir im Ergebnis zustimmen könnte.

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III. Werbung, Enttäuschung und Information Michael Hassemer*

„Mit der Schuldrechtsmodernisierung sollte alles einfacher werden.“ Jochen Schneider1 „Und alles wird leichter.“ Microsoft/Windows XP 2001

1. Das Zusammentreffen verschiedener Leichtigkeitsversprechen Das Betriebssystem Windows XP2 und das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz3 kamen gegen Ende des Jahres 2001 nahezu zeitgleich über das Land: Beide mit dem Heilsversprechen zunehmender Leichtigkeit, wie sich aus den eingangs angeführten Zitaten – ebenfalls mit Leichtigkeit – ersehen lässt4. Rasch zeichnete sich allerdings ab, dass die Gleichzeitigkeit von so viel Leichtigkeitsversprechen eine weitere Koinzidenz mit sich brachte – im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz fand sich nämlich die für das deutsche Recht seinerzeit neue Haftung des Verkäufers für Werbeangaben5, und so bot sich in der Werbung für das Betriebssystem Windows XP gleich das erste Beispiel für eine mögliche Anwendung dieses neuen Gewährleistungsrechts6: Hätte Microsoft aufgrund des Werbeslogans

__________ * Prof. Dr. Michael Hassemer ist Ordinarius an der Technischen Universität Kaiserslautern. 1 Schneider, IT-Vertragsrecht – Ein schuldrechtsmodernisierter Rück- und Überblick zu den Problemen mit den Vertragstypen des BGB, CR 2005, 695. 2 Oktober 2001. 3 Vom 26. November 2001, in Kraft getreten zum 1. Januar 2002. 4 Und nicht nur hieraus, vgl. Däubler-Gmelin, NJW 2001, 2281 (2289): „Mit dem Entwurf wird das deutsche Kauf- und Vertragsrecht auf den Stand des UN-Kaufrechts gebracht. (…) Das wird den Rechtsanwendern das Leben sehr erleichtern (…)“. 5 § 434 I 3 BGB. 6 Sofort aufgeworfen von Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl. Köln 2003, D. 1335.

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nach neuem Schuldrecht dafür einzustehen gehabt, dass möglicherweise doch nicht „alles leichter“ wurde? Im Falle von Windows XP war die Diagnose relativ leicht zu treffen und zudem vorhersehbar – natürlich wurde nicht alles leichter: Deutlich erhöhte Hardware-Systemvoraussetzungen, ein Aktivierungszwang und die unterbliebene Behebung alter Word-Fehler (um nur einige Beispiele zu nennen) führten seinerzeit eher zu Erschwernissen7 für die Anwender als zu allgemeiner Erleichterung8.

2. Vertrauen in Werbung? Unrichtige Versprechungen, seien sie nun Werbeangaben für ein Betriebssystem oder Ankündigungen einer Gesetzesmodernisierung, enttäuschen den Anwender von Recht (insbesondere den Rechtsanwalt9) ebenso wie den Anwender eines Produktes. Zu Hilfe kommt das Recht allerdings nur Letzterem. Er kann sich seit dem 1. Januar 2002 auf die – ihm vom Verkäufer nicht versprochene! – erwartbare Beschaffenheit eines Produkts berufen, und in seine berechtigte Erwartung soll dasjenige einfließen dürfen, was die Werbung ihm vor dem Kauf suggeriert hat. Hinter diesem Mechanismus steht vordergründig die Erkenntnis, dass der Käufer zumindest beim Gattungskauf (und für Gattungen wird gemeinhin geworben) heutzutage wesentlich durch Werbebotschaften beeinflusst ist10. Es scheint also um Vertrauen in Werbung zu ge-

__________ 7 Vgl. hierzu eingehend Nebelo/Hüskes/Brors, Neuer Lack, alte Macken – Die Final-Version von Office XP, c’t 2001, Heft 12, S. 192 ff.: „Altbekannte Fehler, die schon seit vielen Versionen in Word schlummern, finden sich auch im neuen Paket wieder.“ 8 Windows XP machte zumindest denjenigen „alles leichter“, die – aus welchen Gründen auch immer – an Nutzerdaten interessiert waren. Der integrierte Media Player übermittelte diese Nutzerdaten nämlich „brühwarm“ an eine von Microsoft administrierte Datenbank; vgl. Heise Online News vom 21. Februar 2002. Datenschutzrechtliche Gesichtspunkte sollen im vorliegenden Beitrag nicht weiter verfolgt werden. 9 Beispielhaft Schneider, IT-Vertragsrecht – Ein schuldrechtsmodernisierter Rück- und Überblick zu den Problemen mit den Vertragstypen des BGB, CR 2005, 695. 10 Glinski/Rott, Umweltfreundliches und ethisches Konsumverhalten im harmonisierten Kaufrecht, EuZW 2003, 649 (652).

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hen11. Interessant ist hierbei, dass gar nicht der Mangel der Kaufsache an erster Stelle steht; unmittelbar haftungsauslösend ist vielmehr der „Mangel“ der Werbeangabe. Damit lässt sich vermuten, dass der Gesetzgeber12 weniger das Produkt als die Information über das Produkt im Auge hatte. Es ginge bei der Haftung für Werbeangaben somit nicht um die Behebung von Produktmängeln, sondern von Informationsdefiziten. Solche Informationsdefizite beim Kauf sind in der Realität des Gattungskaufs13 tatsächlich kaum zu bestreiten. Der Käufer einer nur der Gattung nach bestimmten Sache kennt deren Qualität nur noch in Ausnahmefällen. Er mag der Werbung vertrauen und als konkreten Anreiz in erster Linie den Kaufpreis wahrnehmen; über die Eigenschaften der Kaufsache, insbesondere ihre Funktionsfähigkeit, weiß er jedoch oftmals nicht Bescheid; erst wenn er das Gut besitzt und ggf. in Betrieb nimmt, erschließt sich ihm dessen Tauglichkeit14. Dieser Ansatz – der eines Informationsdefizits hinsichtlich der Produktqualität – kann zum Verständnis der Haftung für Werbeangaben jedoch nicht unmittelbar nutzbar gemacht werden. Denn eine echte Informationspflicht (vergleichbar z. B. mit den vertriebsrechtlichen Informationspflichten in den §§ 311 a ff. BGB) erlegt das Kaufrecht dem Verkäufer gerade nicht auf. Sie wäre beim Letztverkäufer, der für Werbung in den allerwenigsten Fällen selbst verantwortlich ist, zudem auch vollständig fehl am Platz.

__________ 11 Die Gesetzesbegründung zum deutschen Schuldrechtsmodernisierungsgesetz nannte im Jahr 2001 noch beispielhaft die Hersteller- oder Verkäuferangaben zum Kraftstoffverbrauch bei Neuwagen. Vor der Schuldrechtsreform hierzu BGHZ 132, 55 (60 ff.): Prospektangaben über den Kraftstoffverbrauch bilden, auch wenn in ihnen keine Garantie (Zusicherung) liegt, die Grundlage zur Ermittlung der Sollbeschaffenheit. Eine Tatbestandsvoraussetzung, die sich zumindest in Deutschland allgemein herausgebildet zu haben scheint, ist die der „hinreichenden Bestimmtheit“ von öffentlichen Äußerungen, die dann nicht gegeben sein soll, wenn es sich bei den Werbeangaben nur um „allgemeine Anpreisungen“ handelt; MünchKomm/ Westermann, § 434 Rn. 22; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 Rn. 82. 12 Ursprünglich ist dieser „Gesetzgeber“ natürlich der Europäische Richtliniengeber; auf Fragen der Umsetzung und der je verschiedenen gesetzgeberischen Intentionen soll hier nicht eingegangen werden. 13 Hierzu ausführlich Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, Tübingen 2007, S. 88 ff. 14 Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung, 1981, S. 178, 217.

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Der nach der Schuldrechtsreform fortgeltende subjektiv-objektive Mangelbegriff15 soll vielmehr einen mittelbaren Informationsanreiz bewirken. Hiernach wird der Verkäufer, der vor der Alternative steht, entweder eine Beschaffenheitsvereinbarung zu treffen oder der Haftung für die erwartbare Qualität der Kaufsache ausgesetzt zu sein, sich aus haftungsrechtlichem Eigennutz für die Beschaffenheitsvereinbarung entscheiden. Dieser sanfte Druck soll damit eine Informationsobliegenheit für den Verkäufer bewirken, die mittelbar auch der Aufklärung des Käufers dient16. In optimistischer Interpretation lässt sich ein derartiger Mechanismus als Instrument zur Abmilderung von bestehenden Informationsasymmetrien verstehen17. Dies führt einstweilen zu dem Zwischenergebnis, dass das neue Kaufrecht mit seiner Haftung für Werbeangaben also gar nicht so sehr das Vertrauen „in die Werbung“ zum Gegenstand hat, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Es geht viel weniger um ein (ohnehin nur schwer dingfest zu machendes) „Werbevertrauen“ als um die Ersetzung des Vertrauenssubstrats: An die Stelle der Werbung sollen die verlässlicheren, individuellen Beschaffenheitsvereinbarungen treten.

3. Anreize Diese schöne Theorie (der Anreiz für den Verkäufer, sich im Eigeninteresse um sachliche Information des Käufers zu bemühen) stößt jedoch an eine ganze Reihe von Grenzen. Zum ersten besteht ein grundsätzlicher systematischer Einwand: Passen Gattungskauf und Beschaffenheitsvereinbarung wirklich zusammen? Ist nicht die Beschaffenheitsvereinbarung das Instrument für das individuelle Gespräch, und ist nicht das individuelle Gespräch dort angebracht, wo man es mit einem Stück zu tun hat? Wer möchte denn

__________ 15 Dies betrifft die in § 434 BGB niedergelegte lex lata; an ihrer Richtlinienkonformität gemeinsam zweifelnd Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl. Köln 2003, D. 1352, Schneider, CR 2005, 695 (696), und Hassemer, Kaufverträge nach der Schuldrechtsreform, ZGS 2002, 95 (96); a. A. statt Vieler MünchKomm/Westermann, § 434 Rn. 5; Palandt/Weidenkaff, § 434, Rn. 25, 31. 16 Riesenhuber, Party Autonomy and Information in the Sales Directive, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Eds.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, S. 348 (353, 358, 360). 17 Drexl, Zwingendes Recht als Strukturprinzip des Europäischen Verbrauchervertragsrechts?, in: Coester u. a. (Hrsg.), Privatrecht in Europa, Festschrift für Sonnenberger, 2004, S. 771 (781).

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individuelle Vereinbarungen über im Vertragsschluss noch nicht individualisierte Güter treffen? Hieraus folgt im Weiteren, dass Beschaffenheitsvereinbarungen im heutigen Massen- (und Gattungs-!)geschäft die seltene Ausnahme sind. Dies wird gemeinhin auf organisatorische und logistische Realitäten zurückgeführt18, liegt im Kern aber an den gerade angedeuteten Besonderheiten von Stück- und Gattungskauf. Weiterhin liegen die Qualitätsinformationen, selbst wenn der Verkäufer sich darauf einstellen würde, Beschaffenheitsvereinbarungen zu treffen, auf seiner Seite oft gar nicht vor. Dies gilt umso mehr, wenn im Rahmen der üblichen unternehmerischen Arbeitsteilung nicht der Letztverkäufer (Unternehmer) selbst, sondern seine Erfüllungsgehilfen (Angestellten) gegenüber dem Käufer tätig werden. Diese Gehilfen haben außerdem kein genuines eigenes Interesse an der Erfüllung von Informationsobliegenheiten, deren Nutzen, wenn überhaupt, in erster Linie ihrem Arbeitgeber zugute kommt19. Das Bild von der eigennützigen Erfüllung einer Informationsobliegenheit durch den Verkäufer ist darum in personaler Hinsicht dort zu schlicht, wo die Käuferinformation nicht dem Letztverkäufer selbst, sondern seinen Angestellten obläge, und diese Situation ist im gewerblichen Handel nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Beschaffenheitsvereinbarungen sind zudem, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde20, mit erheblichen Vertragsrisiken behaftet („zweischneidiges Schwert“), da sie die Gefahr beinhalten, als Garantieübernahmen21 interpretiert zu werden. Sollte eine Vereinbarung als Garantie ausgelegt werden, drohen dem Verkäufer nicht nur die verschuldensunabhängige Schadensersatzpflicht22, sondern auch die längere allgemeine Verjährungsfrist23 sowie die Unmöglichkeit jeglichen

__________ 18 Riesenhuber, Party Autonomy and Information in the Sales Directive, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Eds.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, S. 348 (351); Schulte-Nölke, Anforderungen an haftungseinschränkende Beschaffenheitsvereinbarungen beim Verbrauchsgüterkauf, ZGS 2003, 184 ff. 19 Hierbei handelt es sich im Grunde um nichts anderes als eine Randkonsequenz des moral hazard in der Principal-Agent-Theorie; vgl. Welge/ Al-Laham, Strategisches Management, 5. Aufl. 2008, S. 53. 20 Hassemer, Kaufverträge nach der Schuldrechtsreform, ZGS 2002, 95. 21 §§ 276, 444 BGB. Vor dem Jahr 2002 hätte man von „Eigenschaftszusicherungen“ gesprochen. 22 §§ 276, 280, 281, 283, 311 a) BGB. 23 §§ 443, 195, 199 BGB.

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Haftungsausschlusses24. Dieses Risiko dürfte wohl nur dadurch zu vermeiden sein, dass Garantieübernahmen und Beschaffenheitsvereinbarungen vertraglich klar voneinander abgegrenzt werden, was wiederum nur möglich ist, wenn ein Vertrag tatsächlich auch Garantien enthält. Ratsam könnte es also sein, Garantien zu geben, um deren klare Abgrenzung von Beschaffenheitsvereinbarungen zu erreichen und schließlich dafür zu sorgen, dass Beschaffenheitsvereinbarungen als solche erkannt werden. Das Anreizsystem geht somit einen wesentlich längeren und gewundeneren Weg, als es auf den ersten Blick schien: Um die Haftung für die berechtigten Käufererwartungen zu vermeiden, sollten Beschaffenheitsvereinbarungen getroffen werden, und um zu vermeiden, dass diese nicht von Garantien abzugrenzen sind, müssten Garantien gegeben werden. Das Kaufrecht scheint dem Verkäufer somit den Anreiz zu setzen, im Wege der Beschaffenheitsvereinbarung Informationen zu erteilen, über die er entweder nicht verfügt oder aber über die seine Leute nicht verfügen bzw. nicht verfügen wollen. Diese Beschaffenheitsvereinbarungen können ihn auf Umwegen sogar dazu bewegen, Garantien abzugeben, wo er das gar nicht möchte. Betrachtet man dies unter dem Gesichtspunkt, dass das AnreizTheorem ja ein rationales ist, also vom vernunftgesteuerten Akteur ausgeht25, so ist eine Insel der Vernunft auch mit einem guten Feldstecher nur schwerlich zu erkennen. Für das modernisierte Kaufrecht lässt sich zumindest in dieser Hinsicht konstatieren: Es ist nicht „alles leichter“, sondern einiges schwerer geworden, und hiermit schließt sich der Kreis um das beworbene Betriebssystem Windows XP und die Schuldrechtsmodernisierung.

__________ 24 § 444 BGB. 25 Hierzu Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, Tübingen 2007, S. 232 ff.

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I. „Inseln“ der „Vernunft“? Thomas Dreier*

„Das Internet – ein rechtsfreier Raum?“ Rigo Wenning, 1997 „Internet ist kein rechtsfreier Raum.“ Till Kreutzer, 2007 Bilder insinuieren Sachverhalte, legen Beziehungen nahe. Wo das Bild einer Insel vorgestellt wird, da wird zwangsläufig ebenfalls das Meer benannt, denn schon rein begrifflich setzt eine Insel das sie umgebende Wasser voraus. Zugleich evozieren verbale auch visuelle Bilder. Je nach assoziativer Prädisposition des Lesers bzw. Hörers wird die Insel vor dessen geistigem Auge entweder als palmenbeschatteter Südseestrand erscheinen, der sich sanft über türkisblauem Wasser wölbt, oder als schroffes Felseiland in gischtiger Brandung, vielleicht auch einfach als das Gefühl, Brite zu sein und zum Kontinent zu blicken, der gemeinhin als „Europe“ bezeichnet wird. Welche dieser Assoziationen im Einzelfall beim Kommunikationspartner hervorgerufen wird, darauf hat, wer von einer Insel spricht, ohne näheren Kontextbezug regelmäßig keinen weiteren Einfluss. Vorliegend allerdings wird die „Insel“ durch das Genitivattribut der „Vernunft“ spezifiziert. Der Vernunft, also dem obersten Erkenntnisvermögen, ohne die sich der Mensch gänzlich der gefühlsmäßigen Beliebigkeit überlassen müsste, ist jedoch nicht nur die Tradition westlicher Philosophie verpflichtet, sondern auch der juristische und rechtsphilosophische Diskurs. Stammen die Adressaten aus dem Umfeld des Letzteren, so steht also eine positive Besetzung des Begriffs der „Insel“ zu erwarten. So wie die „Insel“ und das sie umgebende „Meer“ antithetisch aneinander gebunden sind, so ist auch in der Metapher der „Insel der Vernunft“ der diese Insel umgebende Raum zwangsläufig ein „Meer der Unvernunft“. Das Thema „Inseln der Vernunft“ in Bezug auf das IT-Recht legt mithin nahe: dass es sich dabei um eine Welt handle, in der „vernünftig“

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* Prof.; Dr. iur. Thomas Dreier M.C.J. (New York University) ist Leiter des Instituts für Informationsrecht, Universität Karlsruhe (TH)/Karlsruhe Institute of Technology (KIT) und Honorarprofessor an der Universität Freiburg.

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und „unvernünftig“ auf gleichsam manichäische Weise strikt voneinander geschieden seien; damit auch, dass es Orte allein der Vernunft und Orte allein der Unvernunft gebe, sowie weiterhin, dass der Anteil vernünftiger Regelungen an der gesamten Regelungsmaterie des ITRechts – Orte der Vernunft sollen Inseln und nicht etwa Kontinente sein – weit geringer sei als der Anteil unvernünftiger Regelungen. Ob dem tatsächlich so ist, werden die einzelnen Beiträge dieser etwas ungewöhnlichen Festschrift erweisen. Gewisse Zweifel an einer solchen Sichtweise dürften allerdings schon deshalb bestehen, da die gegenwärtigen Regeln des IT-Rechts von (so sollte man jedenfalls annehmen) rational denkenden und handelnden Akteuren entworfen und im Wege rationaler Verfahren (der politischen Entscheidungsfindung, der selbstorganisierenden Konsensbildung unter den Bedingungen des Marktes) von den Beteiligten akzeptiert worden sind. Was wiegt dagegen das eigene, individuelle und mithin notwendig subjektive Vernunfturteil? Nach welchen Kriterien soll hier die Vernunft der rechtlichen Regelungen beurteilt werden? Vernünftig ist, was sinnvoll ist, im Bereich des Rechts also, was als gerecht erscheint. Doch was ist in dem vom IT-Recht erfassten Bereich schon „gerecht“ unter dem Blickwinkel sowohl der iustitia distributiva als auch der iustitia commutativa, der austeilenden wie der ausgleichenden Gerechtigkeit? Angesichts des Fehlens über Jahrhunderte erprobter Gerechtigkeitsvorstellungen in Bezug auf immaterielle Güter und insbesondere in Bezug auf „Informationen“ bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als sich auf den etablierten und zumindest in Fachkreisen akzeptierten Kanon von Leitkriterien zu verlassen, die als Garanten vernünftiger rechtlicher Regelungen anerkannt sind. Dazu zählt aus der Sicht vornehmlich der akademischen juristischen Dogmatik zunächst die normative Widerspruchsfreiheit des Regelungssystems. Aus der Sicht des Anwalts und des Richters zählt dazu ebenfalls die praktische Handhabbarkeit der betreffenden Normen. Ergänzt werden Systemgerechtigkeit und Praktikabilität im Weiteren durch Interessengerechtigkeit und vor allem durch Technikadäquanz. Vermögen die ersten drei der genannten Kriterien in allen Rechtsgebieten als Leitlinie zu dienen, so ist es vor allem die Technikadäquanz, der im Bereich des IT-Rechts im Vergleich zu den traditionellen Rechtsmaterien eine besondere Rolle bei der Beurteilung der Vernunftqualität der jeweiligen rechtlichen Regelung zukommt. IT-Recht als Teil des Informationsrechts erscheint hier im weiten Sinn als Teil des Technikrechts – dessen Besonderheiten und Strukturmerkmale im juristischen Bereich bislang allerdings nach wie vor viel zu wenig berücksichtigt und untersucht werden. 92

„Inseln“ der „Vernunft“?

Auch wenn hier also gewisse Zweifel an einer in jeder Hinsicht eindeutigen Verifizierbarkeit des Vernunftcharakters von Regelungen im Bereich des IT-Rechts geäußert werden, so lassen sich doch Strategien, die vernünftige Ergebnisse zu erzielen versprechen, ebenso ausmachen wie – nachfolgend anhand zweier Beispiele für das Urheberrecht skizziert – Konglomerate rechtlicher Einzellösungen, die zumindest nach der Mehrheit der genannten Kriterien als vernünftig erscheinen dürften. Als vernünftige Strategie erscheint zunächst, dass das Recht dem simplifizierenden und populistischen Slogan vom „Internet als rechtsfreiem Raum“ keine Folge geleistet hat. Zwar mögen rechtliche Ge- und Verbote im grenzüberscheitenden, verteilten und häufig anonymisierten Cyberspace mitunter schwerer durchzusetzen sein als im analogen Bereich. Doch schon die gleichzeitig wachsende Sorge in Bezug auf die durch dieselbe Technik ermöglichte jederzeitige Beobacht-, Speicherund Verfolgbarkeit einzelner Handlungen im Netz zeigt, dass es sich insoweit um eine allzu rasche und in ihrer Pauschalität unzulässige Verallgemeinerung handelt. Ebenso wie der reale Weltenraum ist jedoch auch der Cyberspace ein Raum, in dem Menschen agieren und mit ihren Wünschen, Interessen und Handlungen aufeinander stoßen. Auch hier für einen gerechten Interessenausgleich zu sorgen, Handlungsrechte gegeneinander abzugrenzen und individuelle Freiheitsräume abzusichern ist jedoch die ureigenste Aufgabe des Rechts. Manche Einzelheiten mögen bislang freilich allzu detailliert ausgefallen und in ihrer Regelungsstruktur wie auch in ihrem Regelungsgehalt noch allzu sehr Denkvorstellungen der analogen Welt verhaftet sein. Darunter mag die Handhabbarkeit einstweilen ebenso leiden wie eine technikadäquate Regulierung. Doch ändert dies nichts grundsätzlich daran, dass die Entscheidung, den Cyberspace nicht dem freien Spiel des Marktes und der technischen Kräfte zu überlassen, richtig gewesen ist. Auch die Art und Weise, in der die von den Informations- und Kommunikationstechnologien aufgeworfenen Fragestellungen durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur in einem im Wesentlichen rechtsgeleiteten Diskurs aufgearbeitet werden, folgt bewährten und letztlich vernünftigen Mustern. Dabei werden traditionelle Instrumente der Gesetzgebung um neuere Formen der Regulierung ergänzt. Insoweit kann die Normsetzung im IT-Bereich in vielerlei Hinsicht an die übergreifende Governance-Forschung anknüpfen und von dieser profitieren, wie sie umgekehrt zu dieser wertvolle Erkenntnisse beizusteuern vermag. Eine interdisziplinäre Zusammenführung des juristischen 93

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Diskurses mit den technischen, ökonomischen und sozialpolitischen Ansätzen ist dazu unabdingbar und bedarf sicherlich noch der Verstärkung. Es steht zu hoffen, dass auf diese Weise Probleme der Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung und der gleichzeitigen Konvergenz ebenso gelöst werden können wie Fragen der Massenhaftigkeit individueller Transaktionen und deren Automatisierung. Vor allem aber lässt sich durch diese Art und Weise des Vorgehens sicherstellen, dass die grundlegenden Wertentscheidungen, anhand derer die entscheidenden Weichen gestellt werden, nicht einseitig durch technische Vorgaben, Marktmacht oder sonstige einseitige Interessen bestimmt werden. Die Antwort auf die Probleme der Maschine lässt sich zwar häufig mit den Mitteln der Maschine selbst lösen („The answer to the machine is in the machine“, Charles Clark), doch wie die Antwort im Einzelnen ausfallen soll, ist eben gerade keine Frage, die technisch, sondern eine Frage, die gesellschaftspolitisch zu entscheiden ist. Hier vermag der juristische Diskurs nach wie vor als Bindeglied zwischen tatsächlicher Lebenswelt und gesellschaftspolitischer Willensentscheidung zu fungieren. Was vernünftige Einzelnormen anbelangt, sei abschließend nur kurz auf zwei Beispiele aus dem Bereich des Urheberrechts hingewiesen. Zum einen ist der Gesetzgeber des ersten wie auch des zweiten Korbes zweifellos gut beraten gewesen, das bestehende Urheberrecht nicht einseitig auf die digitale Welt hin auszurichten. Auch hat der Gesetzgeber auf Initiative insbesondere des Bundesjustizministeriums der Versuchung widerstanden, die Freiheit der Privatkopie gänzlich zu beseitigen, handelt es sich bei dieser doch um mehr als eine bloße Regelung des Marktversagens, die durch digitales Rechtemanagement beseitigt werden könnte. Zwar mag von Seiten der Industrie insoweit ein zu geringes Niveau von Anreizen für die Entwicklung von DRM-Systemen beklagt werden, doch sollten sich entsprechende Systeme auch ohne bzw. nicht allein aufgrund flankierender rechtlicher Unterstützung bei den Verbrauchern durchsetzen (was sie bei entsprechend attraktiven Geschäftsmodellen in der Praxis ja auch tun). Ein gewisses Problem stellt im gegenwärtigen Gesetzestext des Urheberrechts allerdings noch die mit der weiteren Differenzierung einhergehende Komplexität der Regelung der Privatkopie dar, die in der Praxis (Stichworte: CD-Münzkopierer, Personal Online Videorecorder) zu nicht unerheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten führt. Das legt die Vermutung nahe, dass auf nationaler wie insbesondere europäischer Ebene Raum für eine hinreichend flexible Schranke nach dem Muster des „fair use“ zu schaffen wäre.

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„Inseln“ der „Vernunft“?

Zum anderen hat auch die Rechtsprechung Grundpfeiler der Vernunft ins Urheberrecht eingezogen. Genannt seien hier vor allem die Entscheidung des EuGH, sich abzeichnende Wucherungen des Datenbankschutzes sui generis sowohl hinsichtlich der Schutzvoraussetzungen als auch hinsichtlich des Schutzumfangs auf ein Normalmaß zurückzuschneiden. In Deutschland hat der I. Zivilsenat des BGH in einer Reihe von Entscheidungen zu den informationellen Mehrwertdiensten zu Recht mit dem historisch überkommenen Grundsatz aufgeräumt, dass Schrankenbestimmungen immer eng auszulegen seien, und damit im Rahmen des ihm als Gericht gegenüber dem Gesetzgeber Möglichen einen Freiraum für nützliche medienadäquate Dienstleistungen geschaffen, ohne darüber die berechtigten Partizipationsinteressen der Urheber zu vergessen. So wie deren Schaffen die Grundlage für darauf aufsetzende Dienstleistungen ist, blieben die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der gegenwärtigen Informationstechnologie ohne derartige Freiräume für wettbewerbliches Handeln Dritter doch unausgeschöpft. All dies kann an dieser Stelle freilich nur knapp skizziert werden. Von Nöten wäre vor allem eine genauere Untersuchung der einzelnen Regelungen auf die genannten Kriterien der Rechtssystematik, der praktischen Handhabbarkeit, der Interessengerechtigkeit und der Technologieadäquanz. Aber auch ohne derart vertiefende Studien lassen sich auf dem zu kartographierenden „Meer“ in Umrissen Zusammenballungen vernünftiger Normen erkennen, wenn man so will eben „Inseln“, noch nicht immer fix abgegrenzt gegenüber dem umgebenden Meer und auch nicht statisch, sondern – hoffentlich – in dynamischer Ausdehnung begriffen.

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II. Internet-Öffentlichkeit Herrn Prof. Dr. Jochen Schneider zum fünfundsechzigsten Geburtstag Frank A. Koch*

„Datenschutz kann nicht existieren, wenn nicht gleichzeitig das Bewusstsein für Privatheit besteht.“ Spiros Simitis1 Je mehr Nutzungen im Internet als öffentliche gelten, desto stärker werden Nutzerrechte auf nichtöffentliche Werknutzung (Urheberrecht) und Schutz der Privatsphäre (Datenschutz) reduziert. Der klassische Öffentlichkeitsbegriff erfährt eine fast inflationäre Ausweitung und Ausdünnung bis herunter auf Zweipersonenrelationen, während sich zugleich die Grenze zur Privatsphäre aufzulösen beginnt.

1. Urheberrecht Jochen Schneider hat sich schon frühzeitig mit der Online-Nutzung von Inhalten befasst und das Downloading aus auch öffentlichen Informationsdatenbanken behandelt (so in seinem grundlegenden „Handbuch des EDV-Rechts“, 1990 in der Erstauflage noch unter dem Titel „Praxis des EDV-Rechts“ erschienen). Dieser Zugriff aus der Öffentlichkeit wurde mittlerweile zum Regelfall, die Nutzung im Rahmen nichtöffentlicher, d. h. persönlich verbundener Nutzung zur Ausnahme.2 Für jede öffentliche Wiedergabe von Werken in unkörperlicher Form (§ 15 Abs. 2 UrhG), im Internet wesentlich durch Senden (mittels IP-

__________ * Dr. Frank A. Koch ist Rechtsanwalt der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Frank A. Koch in München. 1 Spiegel Special Nr. 3/2007, Leben 2.0 – Wir sind das Netz. Wie das neue Internet die Gesellschaft verändert, 57. 2 Loewenheim/Hoeren, Handbuch des Urheberrechts, § 21 Rn. 21; Haberstumpf, Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl. 2000, Rn. 244 (sehr „weitherzige“ Auslegung des Öffentlichkeitsbegriffs durch die Rechtsprechung).

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Internet-Öffentlichkeit

TV, § 20 UrhG) oder durch Zugänglichmachen für Einzelabrufe (Downloading, § 19 a UrhG), muss der „Werkverwerter“ (i. S. v. § 15 III S. 2 UrhG) die entsprechenden Nutzungsrechte erworben haben, also etwa auch, wenn er fremde Werke in seine Webseiten, Blogs oder Podcasts aufnimmt. Gerade für die Werkwiedergabe im Web ist damit die Abgrenzung des Begriffs der „Öffentlichkeit“ zentral, jedoch bisher nur in einigen Grundzügen erfolgt. Als „öffentlich“ gilt die Wiedergabe, wenn sie für eine Mehrzahl3 von Personen bestimmt ist (§ 15 III UrhG), im Umkehrschluss als „nichtöffentlich“ nur dann, wenn sie gegenüber Personen erfolgt, die durch persönliche Beziehungen untereinander oder mit einem Werkverwerter verbunden sind (oder beides). Derartige persönliche Verbundenheit wird durch vertrauten persönlichen bzw. familiären oder privaten Kontakt begründet, aber auch durch einen sonstigen engeren gegenseitigen Kontakt und ein hieraus begründetes Bewusstsein aller Beteiligten, persönlich miteinander verbunden zu sein. Dieses Bewusstsein kann bereits innerhalb größerer Unternehmen zu verneinen sein, auch in größeren unternehmens- oder konzernweiten Intranets4 oder bei Nutzung größerer LANs oder WLANs5 (insbesondere bei für Dritte offenen Hotspots), ebenso bei Hochschulvorlesungen im Massenbetrieb6 oder bei Lesern einer (Online-)Zeitung. Mit einem Unternehmen als juristischer Person kann es keine persönliche Verbundenheit geben, sondern allenfalls mit den für das Unternehmen handelnden natürlichen Personen.7 Automatisierter Download insbesondere von Massensoftware von Anbieter-Websites schafft i. d. R. keine solche persönliche Verbundenheit, und zwar auch nicht bei Nennung von Geschäftsführern oder Vertriebsbeauftragten in der Anbieterkennzeichnung nach § 5 TMG. Persönliche Verbundenheit kann aber zwischen einer User Group für eine bestimmte Software-Anwendung und dem diese Gruppe betreuenden Mitarbeiter des Anbieters bestehen (und bei Personenwechsel entfallen), ebenso in Entwickler-

__________ 3 Die aus zwei Personen bestehen kann (BGH GRUR 1996, 875 f.; Schricker/ v. Ungern-Sternberg, Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 15 Rdnr. 67), wodurch eine Vielzahl von Klein(st)gruppen-Öffentlichkeiten im Internet (und sogar im selben größeren Betrieb) entsteht. 4 Loewenheim/Hoeren, Handbuch des Urheberrechts, § 21 Rn. 26. 5 Redeker, IT-Recht, 4.Aufl. 2007, Rn. 62 b. 6 OLG Koblenz, NJW-RR 1987, 286. 7 BGH, GRUR 1975, 33, 34 – Alterswohnheim; Schricker/v.Ungern-Sternberg, Urheberrecht, § 15 Rn. 73; Dreier/Schulze, UrhG, § 15 Rn. 43.

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gemeinschaften für ein Software-Projekt oder sonst in kleinen Arbeitsgruppen.8 Persönliche Verbundenheit setzt nicht Anwesenheit am selben Ort voraus, sondern kann grundsätzlich auch durch Online-Kommunikation hergestellt werden, wenn ein Bewusstsein persönlicher Verbundenheit bei allen Teilnehmern entsteht. Eine bloß gemeinsame technische Beziehung reicht hierfür nicht aus,9 damit auch nicht das Downloading einer Software für Plattformen wie MySpace oder File-SharingSysteme,10 ebenso wenig die bloße Registrierung als Nutzer bei einer Online-Community. Persönliche Verbundenheit kann aber in Webforen oder RSS-Feeds zu Blogs themenspezifisch und sogar zeitlich begrenzt entstehen. Allerdings dürfen die Zeiträume nicht zu kurz sein, denn das Entstehen von persönlicher Verbundenheit setzt nun einmal eine gewisse Stetigkeit der persönlichen Kontakte voraus. Flüchtige Chat-Kommunikation, auch mit persönlichsten Inhalten (etwa Lehrerbewertungen durch Schüler), genügen also nicht, sondern bleiben öffentlich. Nur tatsächlich bestehende persönliche Kontakte können persönliche Verbundenheit begründen und einen Personenkreis bestimmt abgrenzen,11 nicht hingegen die bloße Möglichkeit zu solcher Kontaktaufnahme. Deshalb scheidet auf Plattformen wie MySpace mit weltweit etwa 180 Millionen Mitgliedern persönliche Verbundenheit zwingend aus, auch wenn jeder Teilnehmer mit jedem kommunizieren kann. Nichtöffentlicher Adressatenkreise bleiben hier grundsätzlich auf einige kleine Inseln persönlicher Verbundenheit reduziert.

2. Datenschutzrecht Im Internet reduziert Öffentlichkeit zunehmend die private Schutzsphäre gegenüber personenbezogener Datenverarbeitung. Bereits 1978 diagnostizierte Jochen Schneider (in der Einleitung zum Kommentar „Datenschutzrecht“ von Gallwas/Geiger/Schneider/Schwappach/ Schweinoch) hier ein durch eine rein verfahrensorientierte Datenschutzkonzeption nicht zu lösendes Grundproblem des Verhältnisses von Individuum und Öffentlichkeit, das unverändert im Verhältnis

__________ 8 KG, ZUM 2002, 828; Schricker/v.Ungern-Sternberg, Urheberrecht, § 15 Rn. 76; Redeker, IT-Recht, Rn. 62 b. 9 Begr. Regierungsentwurf, BT-Ds 15/38,17. 10 Dreier/Schulze, UrhG, § 15 Rn. 43. 11 Loewenheim/Hoeren, Handbuch des Urheberrechts, § 21 Rn. 22.

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Bürger – Staat fortbesteht und nicht ohne sorgfältige Abwägung fallspezifisch zu lösen ist (Stichwörter: Vorratsdatenspeicherung, OnlineDurchsuchung). Das Web ermöglicht den Betroffenen, nun selbst ihren eigentlich privaten Bereich zum öffentlichen zu machen. Dies zeigt ein kurzer Blick auf die Empirie der Netznutzung: Neu ist der Wunsch nach medialer Darstellung nicht. Goethes Wilhelm Meister strebt (in den „Lehrjahren“, 1795/1796) danach, „eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken“. Für die heutigen Wilhelm Meisters gelingt dies durch das Web 2.0 einfacher denn je. Als Schüler lassen sie sich in SchülerVZ registrieren, als Student in StudiVZ (oder in Facebook) und als Führungskräfte in xing.com. Sie können weltweit im Web-Kreis digitale Urlaubsfotos in flickr.com und Videos als Podcasts in youtube.com oder in der podshow.com zum Download präsentieren, Kontakte zu anderen Usern in myspace.com oder in unddu.de suchen, die Nachbarn oder Prominente in deren Gärten mittels Google Earth beobachten oder ihre Fotos mittels GPS-Handy und Geotagging-Software datieren und lokalisieren und so ihr Bewegungsprofil selbst ins Web stellen und sich schließlich über twitter.com mitteilen, ob sie ihren Espresso gerade verschüttet haben. Sie schlagen im Internet-Lexikon Wikipedia.org nach und schreiben an diesem mit, verfassen persönliche „Blogs“ und treten als „Bürgerjournalist“ (wikinews.org/wiki) oder Anbieter von InternetRadio/TV auf oder schaffen sich in „Second Life“ eine eigenständig handelbare Zweitidentität (Avatar). Die klare Abgrenzung der Öffentlichkeit im herkömmlichen Sinn12 löst sich so zunehmend auf und macht Privates öffentlich. User wählen eine (sich teilweise sozialem Druck verdankende) fast rückhaltlose, bis ins Intime gehende Selbstpräsentation im Web, die bisherige Albträume der Datenschützer weit übertrifft. Persönliche Daten scheinen hier mittlerweile primär vor ihren eigenen Trägern geschützt werden zu müssen, damit sich Letztere nicht selbst zu gläsernen Surfern machen. Zu wenigen Nutzern scheint bewusst zu sein, dass „das Web kein Vergessen kennt“ und sich negative Eintragungen, etwa in Blogs und in Internet-Archiven wie der „Wayback Machine“ nur schwer (oder überhaupt nicht) korrigieren lassen (und für Personalleiter möglicher künftiger Arbeitgeber zugreifbar sind). Ein Verfallsdatums für Daten (Mayer-Schönberger) mag helfen, wird aber wohl nicht durch staatliche Stellen oder Provider festgelegt werden dürfen, sondern nur durch die

__________ 12 Grundlegend Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962.

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Betroffenen selbst, soll deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht verletzt werden. Datenverwerter dürfen freilich aus verbreiteter Unbedachtheit der Web User nicht deren Verzicht auf bestehende Datenschutzrechte im Web ableiten. Öffentliche Stellen sind ohnehin bereits bei der Datenerhebung auf den für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Umfang beschränkt (§ 13 I BDSG), dürfen Daten also nicht anlassunabhängig und umfassend quasi auf Vorrat sammeln. Nichtöffentliche Stellen können zwar (auch außerhalb bestehender Vertragsbeziehungen) personenbezogene Daten erheben, verarbeiten und nutzen, wenn diese Daten allgemein zugänglich (§ 28 I S. 1 Nr. 3 BDSG), also etwa im Internet frei herunterladbar sind (damit bereits dann nicht, wenn sich der Datenverwerter vor dem Download selbst als Plattformteilnehmer mit eigenen Profildaten registrieren lassen muss), aber nur, wenn das schutzwürdige Interesse der betroffenen Nutzer nicht das berechtigte Interesse der verantwortlichen Stelle offensichtlich überwiegt. Rechtswidrig ist deshalb eine nicht nach Verwendungsintentionen differenzierende Übernahme kompletter Datenbestände, da die Freistellungsregelung des § 28 I S. 1 Nr. 3 BDSG nur die Verwendung bestimmter Einzeldaten(typen) rechtfertigt,13 was Data Mining ausschließt. Auf einen personalen Verwendungskontext (etwa eine Plattform wie StudiVZ) bezogene Nutzerdaten können nämlich leicht in anderen Verwendungskontexten verfälschende Bezüge erhalten.14 Grundsätzlich erfordert das (im nichtöffentlichen Datenverarbeitungsbereich jedenfalls mittelbar drittwirkende15) Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung,16 diese Regelung der Verwendungsfreistellung dergestalt teleologisch reduzierend auszulegen, dass aus spezifischen Verwendungszusammenhängen gewonnene Daten, auch wenn sie frei abrufbar sind, nicht für beliebige andere Verwendungen genutzt werden dürfen.17 Selbst bei zulässiger Verarbeitung und Nutzung allgemein zugänglicher Daten muss der Datenverwerter die Betroffenen bei Erstspeicherung ihrer personenbezogenen Daten benachrichtigen (§ 19 a BDSG). Zwar kann diese Unterrichtung bei unverhältnismäßigem Aufwand entfallen (§ 19 a II S. 1 Nr. 2 BDSG), doch wird dieser Aufwand meist überschau-

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13 Simitis/Simitis, Komm. zum BDSG, § 28 Rn. 199; Bergmann/Möhrle/Herb, BDSG, § 28 Rn. 118. 14 Simitis/Simitis, a. a. O., § 28 Rn. 187 f., 199, 200. 15 BVerfGE 7, 198. 16 BverfG, NJW 1988, 3009; BGH, GRUR 1994, 913. 17 Simitis/Simitis, a. a. O., § 28 Rn. 199, 200.

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bar und verhältnismäßig sein, wenn der Datenverwerter die Betroffenen über deren eigenen oder pseudonymen Alias-/Chat-Namen direkt (und automatisiert) anmailen kann.

3. Öffentlichkeit im Internet Auch im Internet ist Öffentlichkeit im demokratietheoretischen Sinn18 möglich. Das Ausweiten des Kreises der urheberrechtlich zustimmungspflichtigen Werknutzung auf fast alle Netznutzer (nur einige isolierte Kleinstgruppen ausgenommen) oder das Einstufen von Datenkatalogen als allgemein zugänglich können aber als rein legistisches Handeln keine Öffentlichkeit in jenem Sinn konstitutieren, sondern nur ein ausgedünntes Öffentlichkeitssurrogat bilden. Andererseits verharren die sich durch ihre Zahllosigkeit gegenseitig neutralisierenden Selbstrepräsentationen der Nutzer im Web weitgehend beliebig und austauschbar in ihrer selbsterzeugten und -bezogenen Exklusion. Öffentlichkeit bleibt hier auf die technische Vermittlung von Kommunikation beschränkt. Emphatisch verstanden ist Öffentlichkeit hingegen spätestens seit John Stuart Mill19 ein Medium der kollektiven und freiheitsbegründenden Selbstverständigung und Selbstaufklärung,20 in dem themenzentriert Debatten möglich werden und hieraus (zumindest in lokalen informellen Öffentlichkeiten21) Inseln der Vernunft als Ausprägungen partizipatorischer Demokratie22 entstehen können.

__________ 18 S. etwa Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, Neuausgabe 2002, 117. 19 John Stuart Mill, Die Freiheit 1973, 134. 20 Peters, Deliberative Öffentlichkeit, in: Wingert/Günther, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit 2001, 655. 21 Peters, a. a. O., 655, 677. 22 Höffe, a. a. O.

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III. Wettbewerbsrechtliche Verkehrssicherungspflichten und Verletzung von Immaterialgüterrechten Michael Lehmann*

Wie erklärt Professor Jochen Schneider seinen Studenten das schwierige Problem „nulla exceptio ex jure tertii“ (vgl. dazu Canaris, FS Larenz 1973, zum Bereicherungsausgleich im Dreiecksverhältnis): „Du Bauer, sagt die Bauersfrau zu ihrem Mann, weißt Du schon, dass die Zensi, unsere Magd, schwanger ist? Bauer: Ja, des is doch Ihr Bier … Bauersfrau: Du Bauer, die im Dorf erzählen aber, sie sei mit dir schwanger … Bauer: Ja, des is doch mei Bier … Bauersfrau: Sag a mal, spinnst Du, was soll ich denn jetzt machen … Bauer: Ja Frau, des is dei Bier!“

1. Dedikation Rechtsanwalt Prof. Dr. jur. Jochen Schneider, dem diese Zeilen in freundschaftlicher Verbundenheit dediziert werden, war und ist stets um einen sachgerechten Interessenausgleich bemüht gewesen, um die immer wieder auftretenden Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts, die häufig traditionsbedingten Ecken und Kanten, aber auch Lücken normativer Regelungen abzurunden und angemessen für die Praxis systemtauglicher werden lassen sollte. Bekanntlich fahren viele Juristen mit dem, vielleicht auch ausbildungsbedingten, Blick in den Rückspiegel der Institutionengeschichte durch unsere moderne, sich auch technologierelevant ständig fortentwickelnde Wirtschaftslandschaft, sodass jeder Wirtschaftsjurist und Praktiker des Informationstechnologierechts häufig erst das richtige Verständnis der Modernität und der dynamischen Entwicklung in der digitalen Welt und ganz allgemein im Computerrecht für sich und für viele andere erarbeiten muss. Jochen Schneider war von Anfang der 70er Jahre an mit dabei als Wissenschaftler und Rechtsanwalt, auch wenn sein opus magnum in 1. Auf-

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* Michael Lehmann ist Universitätsprofessor in München.

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Wettbewerbsrechtliche Verkehrssicherungspflichten/Immaterialgüterrechte

lage erst 1990 erschienen ist, das „Handbuch des EDV-Rechts“1. Gleich ob es sich um aktuelle Fragen des Technologierechts aus den Gebieten des Strafrechts, des Datenschutzrechts, des zivilrechtlichen Vertragsrechts (insbesondere des AGB-Rechts oder der escrow-Verträge) oder des Insolvenzrechts handelte, Haftungsfragen spielten dabei immer eine bedeutende Rolle, sodass die aktuelle Fortschreibung der Rechtsprechung durch den I. Senat des BGH zum Störer- und Täterbegriff im Netz, die mutige Neuentwicklung von „wettbewerbsrechtlichen Verkehrssicherungspflichten“ unser aller besondere Aufmerksamkeit zu beanspruchen vermag.

2. Haftung im Netz Der seit den 60er Jahren existierende technologische Rückstand Europas auf dem Gebiet der Computer- und Software-Entwicklung sowie ganz allgemein in der digitalen Welt des „Cyberland“ veranlasste die Kommission der EU den Versuch zu wagen, mit der Initiierung der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr2 zumindest auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts Schritt zu halten und vielleicht sogar für Europa einen regelrechten Sprung nach vorne zu machen, um im internationalen Wettbewerb des globalen „Electronic Commerce“ besser als bislang bestehen zu können. Als geradezu industriepolitisch angedachte Förderung der Internet-Service-Provider, der gewerblichen Hauptakteure im Internet, entwickelte daher die Kommission, in partieller Abstimmung mit den USA, eine weitgehende Haftungsfreistellung für diese Wirtschaftssubjekte, die Art. 12–15 (Verantwortlichkeit für die Vermittler)3 dieser Richtlinie 2000/31/EG. Der Grundgedanke war dabei, diesen Unternehmen im Cyberland möglichst keinerlei Überwachungspflichten (vergleiche Art. 15 der Richtlinie und jetzt § 7 Abs. 2 Telemediengesetz) aufzuerlegen, also Wirtschaftsförderung durch Haftungsprivilegierung4.

__________ 1 Nunmehr in 3. Aufl., Köln 2003 (die 4. Auflage steht kurz vor Erscheinung). 2 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs im Binnenmarkt, vom 8.6.2000, ABl.EG L178 (vom 17.7.2000, S. 1 ff.). 3 Zur Entstehungsgeschichte vergleiche Maennel, zur Umsetzung in das deutsche Recht Tettenborn, in: Lehmann (Hrsg.), Electronic Business in Europa, München 2002, S. 44 ff.; S. 69 ff. 4 Kritisch dazu Lehmann, a. a. O. Fn. 3, S. 96 ff., 104 ff.; Lehmann, EuZW 2000, 517 ff.; Lehmann, ZUM 1999, 180 ff.

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Michael Lehmann

3. Die Richtlinie Urheberrecht in der Informationsgesellschaft Was Unterlassungsansprüche betrifft, hat demgegenüber die Richtlinien, 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft5 als „lex posterior“ in Art. 8 Abs. 3 für das Urheberrecht bestimmt, dass diese Ansprüche auch gegen Vermittler beantragt werden können, deren Dienste von Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts verwendet werden; dies betrifft insbesondere Service-Provider, die ihre Hosting- oder Caching-Dienste im Internet anbieten.

4. Wettbewerbliche Verkehrssicherungspflichten Mit der Entscheidung „Jugendgefährdende Medien bei eBay“6 hat der BGH eine relativ neue Grundlage für wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche gemäß § 3 UWG geschaffen, nachdem zuvor auch schon Veranstalter von Internet-Auktionen (wieder eBay) wegen markenrechtlicher Verletzungen („gefälschte ROLEX-Uhren“) zur Unterlassung und Beseitigung sowie zur Einführung künftiger Kontrollmaßnahmen verurteilt worden waren7; danach gilt die jetzt im Telemediengesetz niedergelegte Haftungsprivilegierung von Host-Providern nur für die strafrechtliche Verantwortlichkeit und die Schadenersatzhaftung, nicht aber für Unterlassungsansprüche. Verkehrspflichten8 wurden bislang primär im Zusammenhang mit dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit deliktsrechtlichen Tat- und Unterlassens-Verhaltens gemäß § 823 BGB diskutiert. Von dort konnten sie also unschwer in das gleichermaßen deliktsrechtlich orientierte Wettbewerbsrecht (UWG) transferiert werden, soweit es sich um die Sanktionierung von Verstößen gegen eine Rechtspflicht zum Tätigwerden handelt. Konsequenterweise müssen aber diese Verkehrspflichten nicht nur zur Bekämpfung des Vertriebs jugendgefährdender Medien-

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5 Vom 22.5.2001, ABl. EG L 167/10 (vom 22.6.2001) = GRUR Int. 2001, 745; vgl. dazu Lehmann, in: Lehmann/Meents (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Informationstechnologierecht, Köln 2008, S. 63 ff. 6 Vom 12.7.2007, CR 2007, 728 mit Anm. Härting = GRUR 2007, 890; vgl. dazu Köhler, GRUR 2008, 1 ff. 7 Vgl. BGH vom 11.3.2004, CR 2004, 763 = NJW 2004, 3102 – Internet-Versteigerung; vom 19.4.2007, CR 2007, 523 = GRUR 2007, 708 – InternetVersteigerung II; bestätigt nunmehr auch durch BGH vom 30.4.2008 – I ZR 73/05, ITRB 2008, 121; Pressemitteilung des BGH Nr. 87/2008; vgl. dazu Rössel, CR 2007, 527; Spindler, MMR 2007, 511; Volkmann, CR 2004, 769 ff. 8 Vgl. grundlegend RGZ 102, 372, 375: „Verkehrssicherungspflichten“; vgl. von Bar, Verkehrspflichten, 1980; von Bar, JuS 1988, 169 ff.

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Wettbewerbsrechtliche Verkehrssicherungspflichten/Immaterialgüterrechte

produkte, sondern auch bei der Verletzung aller Immaterialgüterrechte, einschließlich des Geistigen Eigentums, aktiviert werden, zum Beispiel zur Verfolgung der Produktpiraterie oder bei Patentverletzungen. Verstöße gegen diese Property Rights stellen gleichermaßen eine Verletzung der wettbewerbsrechtlichen Verkehrspflichten dar, sodass ähnlich wie bei Verstößen gegen das AGB-Recht9 eine Konkurrentenklage in der Regel eröffnet werden sollte; dies entspricht auch den Art. 41 ff. der TRIPS („Durchsetzung der Rechte des Geistigen Eigentums“), der Enforcement-Richtlinie10 und deren Umsetzung in das deutsche Wirtschaftsrecht11, also Rechtsvorschriften, die samt und sonders der Aufrechterhaltung und dem Funktionieren einer legalen Wettbewerbsordnung zu dienen bestimmt sind. Wettbewerbsrechtliche Verkehrspflichten müssen die Aufrechterhaltung der „par conditio concurrentium“, der Chancengleichheit im Wettbewerb, verfolgen. Dies alles ist freilich ein weites Feld, das im Detail vor allem von einem wissenschaftlich besonders qualifizierten Rechtsanwalt, wie Jochen Schneider dies hervorragend repräsentiert, erst noch unter den Pflug genommen werden muss. Nicht allein dazu wünschen wir ihm weiterhin gute Gesundheit und viel Glück!

__________ 9 Vgl. ausführlich Köhler, H., Konkurrentenklage gegen die Verwendung unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedinungen, NJW 2008, 177 ff. 10 Richtlinie 2004/48/EG vom 29.4.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl. EG L195/16 (vom 2.6.2004). 11 Vgl. Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des Geistigen Eigentums vom 7. Juli 2008, BGBl. 2008, I Nr. 28, S. 1191 ff. Das Tribunal de Commerce de Paris hat eBay am 30. Juni 2008 zu rund 6 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt, weil es als „courtier“ gefälschte Waren von Dior vermittelt hat.

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IV. Die Bilanz des Immateriellen Andreas Günther*

„Der meiste Schaden, den der Computer potentiell zur Folge haben könnte, hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt.“ Joseph Weizenbaum, 1972 Jochen Schneider hat immer beides im Blick – die Fähigkeiten und die Gefahren der Computer, die Möglichkeiten und die Probleme ihres Einsatzes.1 „Dass die Fehleinschätzungen bzw. die Folgen des Computer-Einsatzes erst spät und dann nur sehr vage bemerkbar sind, liegt an dem immateriellen Charakter der vom Computer heimlich deformierten Information und Kommunikation zu Daten und Datenverarbeitung.“2 Computerrecht ist als das Recht des Immateriellen bezeichnet worden, in dem der Begriff der Information zunehmend als Leitmotiv auftritt.3 Und die immateriellen Komponenten eines Computersystems gehören zur Software, der „gefrorenen Idee“4, die als „virtuelle Maschine“ Computerdaten unmittelbar „handlungsfähig“ macht.5 Jochen Schneider hat sich dadurch nicht beirren lassen. Sein Handbuch des EDVRechts6 „versucht nicht, eine eigene Theorie der Information, der Rechtsnatur der Software (…) zu entwickeln“7, sondern will vor allem die EDV-Vertragspraxis darstellen und analysieren. Das Motto der drit-

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* Dr. jur. Andreas Günther, LL.M. (London), Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth) ist Regierungsdirektor im Bundesministerium der Justiz, Berlin. Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder. 1 Siehe z. B. Geiger/Schneider, Der Umgang mit Computern, München 1975; 2. Aufl. Köln, 1981. 2 Schneider, Die asozialen Tyrannen, Buchreport zu Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, DSWR 1979, 70. 3 Vivant, The Challenge of Computer Law, in: Vandenberghe (Hrsg.), Advanced Topics of Law and Information Technology, Deventer 1989, S. 15, 20. 4 Heussen, GRUR 1987, 779, 781. 5 Sieber, NJW 1989, 2569, 2573. 6 Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl. Köln 2003. 7 Schneider, Vorwort zur ersten Auflage, Praxis des EDV-Rechts, Köln 1990.

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ten Auflage seines Handbuchs ist „IT-Recht im Wandel“. Daher seien ihm ein paar bilanzierende Gedanken zu Wandlungen im Recht des Immateriellen gewidmet.

1. Software als Immaterialgut Unsere Informationsgesellschaft ist durch die zunehmende Bedeutung von Immaterialgütern und deren Schutz als „geistiges Eigentum“ gekennzeichnet. Informationstechnik und Software sind da ein Kristallisationspunkt. Sie haben dem Gesetzgeber einige Entscheidungen zum Immateriellen abgerungen; zu vielen Fragen hat er bislang aber geschwiegen und die Antworten zunächst den Gerichten und der Rechtswissenschaft überlassen.8 Nachdem Software seit Ende der sechziger Jahre zunehmend von der Hardware losgelöst vertrieben wurde, stellte sich die Frage nach dem „Eigentumsschutz“. Im Rahmen eines Kartellrechtsstreits entschied sich IBM 1969 dafür, Software als eigenständiges Wirtschaftsgut zu vermarkten und sich zum Schutz nicht auf Patente, sondern auf Copyright und Nutzungslizenzen zu verlassen. Mitte der achtziger Jahre war dann auch in Deutschland endgültig klar: Computerprogramme genießen Urheberrechtsschutz (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG). Dies gilt – nach anfänglichem Zögern der Rechtsprechung in Deutschland – auch für die sog. „kleine Münze“. Mit Umsetzung der europäischen Softwareschutzrichtlinie9 sind 1993 Sondervorschriften für Computerprogramme geschaffen worden. Umfang und Grenzen hat die Rechtsprechung inzwischen weiter geklärt. Einige Fragen sind aber, auch unter Berücksichtigung kartellrechtlicher Aspekte, noch nicht endgültig beantwortet – z. B. rund um vertragliche und technische Nutzungsbeschränkungen, OEM- und CPU-Klauseln, die Erschöpfung des Verbreitungsrechts bei Online-Vertrieb und Gebrauchtsoftware.10 Daneben haben der europäische und der deutsche Gesetzgeber neue Schutzrechte sui generis geschaffen, das Halbleiterschutzrecht11 und das Datenbankschutzrecht12. Weitere Anpassungen des Urheberrechts an die Informationsgesellschaft – insbesondere im Hinblick auf Ver-

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8 Bartsch/Dreier, CR 2005, 690; Schneider, Einführung zur Textsammlung ITund Computerrecht, 8. Aufl. München 2007; Taeger, NJW 2007, 3326; jeweils m. w. N. 9 Richtlinie 91/250/EWG vom 14.5.1991; §§ 69a bis 69g UrhG. 10 Hoeren, CR 2006, 573; Grützmacher, CR 2007, 549; Spindler, CR 2008, 69. 11 Richtlinie 87/54/EWG vom 16.12.1986; Halbleiterschutzgesetz. 12 Richtlinie 96/9/EG vom 11.3.1996; §§ 87a bis 87e UrhG.

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vielfältigungsrechte, Schrankenbestimmungen und technische Schutzmaßnahmen – hat die europäische Infosoc-Richtlinie13 gebracht, die inzwischen in deutsches Recht umgesetzt worden ist.14 Weitgehend der Rechtsprechung überlassen hat der Gesetzgeber allerdings die Voraussetzungen und Grenzen des Patentschutzes für Software. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 PatG, Art. 52 Abs. 3 EPÜ werden Programme für Datenverarbeitungsanlagen als solche zwar nicht als schutzfähige Erfindungen angesehen. Das hat die deutsche und europäische Rechtsprechung jedoch nicht davon abgehalten, softwarebezogenen Erfindungen Patentschutz zu gewähren. Zentrales Problem ist der Begriff der Technik in Verbindung mit Computerprogrammen. Gesetzgeberische Klarstellungen bleiben vorerst aus. Ein Vorschlag für eine Richtlinie über die Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen ist im Europäischen Parlament 2005 endgültig gescheitert. Eine klare Entscheidung des Gesetzgebers gegen Patentschutz für Software ist das allerdings nicht. Die Kontroverse, wann Software doch ein technischer Schutzgegenstand ist, wird weiterhin vor den Gerichten ausgetragen.15 Der Gesetzgeber und die Gerichte müssen hier ein Gleichgewicht zwischen Innovations- und Imitationsschutz auf der einen und Informationsfreiheit auf der anderen Seite gewährleisten. Immaterialgüterrecht ist das Sachenrecht des 21. Jahrhunderts. Und während das Bürgerliche Gesetzbuch aus den Umständen des 19. Jahrhunderts entstanden ist und auf Wurzeln bis ins römische Recht zurückgreifen kann, entwickeln sich die Immaterialgüterrechte auf internationaler, europäischer und nationaler Bühne erst seit einigen Jahrzehnten im grellen Scheinwerferlicht der demokratischen Entscheidungsfindung im modernen Rechtsstaat. Da es dabei oft um grundlegende wirtschaftliche Interessen ganzer Branchen und Industriezweige geht, fällt der Diskurs hin und wieder recht heftig aus. Dies zeigt beispielsweise die „Open Source“-Bewegung, die unter anderem zum endgültigen Scheitern der Softwarepatentrichtlinie führte und auch das Urheberrecht unter dem Stichwort „copyleft“ vor Herausforderungen stellt.16 Das Urheberrecht muss sich über die Diskussion um

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13 Richtlinie 2001/29/EG vom 22.5.2001. 14 Erstes und Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft, BGBl. 2003 I, 1774 und BGBl. 2007 I, 2513; Grützmacher, ITRB 2007, 276; Scheja/Mantz, CR 2007, 715 m. w. N. 15 Junker, NJW 2006, 2819, 2822; Taeger, NJW 2007, 3326, 3328; KiesewetterKöbinger, JurPC Web-Dok. 100/2008; jeweils m. w. N. 16 Grützmacher, ITRB 2006, 108; Gerlach, CR 2006, 649.

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ein „Recht auf Privatkopie“ hinaus auch Grundsatzkritik stellen.17 Vereinzelt wird versucht, einen Gegensatz zwischen dem traditionellen Recht des geistigen Eigentums und dem Informationsrecht heraufzubeschwören.18 Dabei handelt es sich um zwei Seiten einer Medaille, auch wenn das Pendel mal in die eine und mal in die andere Richtung ausschlägt.

2. Software als Informationsgut Im Immaterialgüterrecht würde keiner auf die Idee kommen, Software als oder wie eine Sache zu schützen. Im Vertragsrecht tobte hingegen ein Streit, ob Software eine bewegliche Sache sei oder zumindest wie eine bewegliche Sache zu behandeln sei. Dies ist von Bedeutung unter anderem für die vertragstypologische Einordnung der Softwareüberlassung und eine Reihe von daran geknüpften Rechtsfolgen.19 Die Kontroverse um die Einordnung von Software im Zivilrecht ist so alt wie das Computerrecht. Die Frage, ob Software eine Sache im Sinne von § 90 BGB ist, führt aber nicht weiter. Sie kann sinnvoll nur lauten, wie weit das Recht Software und andere Informationsgüter überhaupt wie eine Sache behandeln soll. Die Antwort fällt für einzelne Regelungsbereiche unterschiedlich aus. Der BGH hat beispielsweise entschieden, dass eine auf einem Datenträger verkörperte Standardsoftware als bewegliche Sache anzusehen ist, auf die je nach der vereinbarten Überlassungsform Miet- oder Kaufvertragsrecht anzuwenden ist.20 Ein allgemeiner Trend zu weitgehender Behandlung von Software als Sache, wie er teilweise behauptet worden war,21 ist in Deutschland aber nicht erkennbar.22 Der Gesetzgeber hat die Frage auch anlässlich der Schuldrechtsmodernisierung 2002 nicht ausdrücklich geregelt. Für einen Standardsoftwarekauf spielt sie aufgrund von § 453 BGB zwar keine Rolle; bei der Individualsoftwareerstellung und -anpassung hat § 651 BGB aber inso-

__________ 17 Vgl. z. B. Hilty, GRUR Int. 2006, 179; Lessig, Freie Kultur: Wesen und Zukunft der Kreativität, München 2006. 18 Vgl. Hoeren, NJW 1998, 2849; ders., KUR 2003, 128. 19 Schneider, CR 2005, 695; Redeker, CR 2005, 700; jeweils m. w. N. 20 BGH, CR 2007, 75 m. w. N. 21 Taeger, CR 1996, 257, 260. 22 Junker, NJW 1993, 824 und NJW 1999, 1294, 1299: Lehre von der Qualifikation von Computerprogrammen als Sachen i. S. v. § 90 BGB als „Theorie in Liquidation“.

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weit zu neuen Abgrenzungsproblemen zwischen Kaufvertrag und Werkvertrag geführt, die Rechtsprechung und Literatur beschäftigen.23 Die Einordnung von Informationsgütern im Haftungsrecht – mit Fragen wie Software als Produkt oder Dienstleistung? Datenlöschung als Sach- oder Vermögensschaden? – hat in der Gerichtspraxis hingegen bislang weit weniger als erwartet eine Rolle gespielt.24 Schon früh hat der deutsche Gesetzgeber aber in den neunziger Jahren im Zuge des beginnenden Internetzeitalters ausdrückliche Haftungsprivilegierungen für Tele- und Mediendienste und Internet-Provider geschaffen,25 die dann auch Pate für die europäische E-Commerce-Richtlinie26 gestanden haben. Das Lizenzrecht ist eher ein Stiefkind der Zivilgesetzgebung und überzeugende Lösungen entwickeln sich erst langsam. Angepackt hat der Gesetzgeber nun aber im Gefolge einer BGH-Entscheidung27 die Insolvenzfestigkeit von Lizenzverträgen: Mit einem neuen § 108a InsO soll dem Interesse des Lizenznehmers am Bestand eines Lizenzvertrages auch bei Insolvenz des Lizenzgebers Rechnung getragen werden.28 Dies soll den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland stärken und wird auch im Bereich der Softwareüberlassung mehr Rechtssicherheit schaffen.

3. Software als immaterieller Vermögensgegenstand Der Stärkung des Innovationsstandortes Deutschland dient auch eine Aufwertung immaterieller Vermögensgegenstände im Zuge der aktuellen Modernisierung des Bilanzrechts. Weitgehend unstreitig ist die Einordnung von Software als immaterielles Wirtschaftsgut im Sinne des Steuerrechts bzw. als immaterieller Vermögensgegenstand im Sinne des Bilanzrechts.29 Dies führt nach § 248 Abs. 2 HGB und § 5 Abs. 2

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23 BGH, CR 2002, 93; Schneider/Bischof, ITRB 2002, 273; Bräutigam/Rücker, CR 2006, 361; Taeger, NJW 2007, 3326, 3329 m. w. N. 24 Vgl. Günther, CR 1993, 544; ders., Produkthaftung für Informationsgüter, Köln 2001; Schneider/Günther, CR 1997, 389; Spindler, CR 2005, 741; jeweils m. w. N. 25 IuKDG vom 22.7.1997 mit § 5 TDG; heute §§ 7 bis 10 TMG. 26 Richtlinie 2000/31/EG vom 8.6.2000. 27 BGH, CR 2006, 151; Grützmacher, CR 2006, 289; Berger, CR 2006, 505; Junker, NJW 2006, 2822, 2824; Taeger, NJW 2007, 3326, 3330 m. w. N. 28 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/7416 vom 5.12.2007. 29 Ständige Rechtsprechung seit BFH, CR 1987, 576 und CR 1987, 760. Haase/ Agardi, K&R 2005, 451; Backu/Reitsam, ITRB 2006, 143 und ITRB 2007, 211 m. w. N.

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EStG bei Softwareproduzenten bislang zu einem Aktivierungsverbot, soweit es sich um selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens handelt. Dies wird zwar steuerlich eher als Vorteil empfunden, da sich die Entwicklungskosten als Aufwand sofort gewinnmindernd auswirken und Erträge erst besteuert werden, wenn sie durch entgeltliche Veräußerung realisiert werden. Daran soll sich steuerrechtlich auch in Zukunft nichts ändern. In der Handelsbilanz können Softwareproduzenten aber ihre Entwicklungen und deren Potential dadurch nicht zeigen, was vor allem bei KMUs und Start-ups die Eigenkapitalbasis belastet und die Kapitalbeschaffung erschwert. Das handelsrechtliche Aktivierungsverbot soll nach dem Entwurf eines Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes daher aufgehoben werden.30 In Zukunft sollen – wie nach internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS 38) und US-GAAP üblich – die bei der Entwicklung selbst geschaffener immaterieller Vermögensgegenstände des Anlagevermögens anfallenden Herstellungskosten in der Handelsbilanz aktiviert werden (§ 255 Abs. 2a HGB-E). Dies gilt für Software, soweit sie als Vermögensgegenstand einzeln verwertbar ist.

4. Bilanz Moderne Informationstechnik war und ist Anlass für Träume und Befürchtungen. Nicht alle Träume haben sich erfüllt, nicht alle Befürchtungen sind eingetreten. Auch wenn Computer nicht alle Eigenschaften haben können oder sollten, die wir ihnen vielleicht zuschreiben; unser Leben wird durch Informationstechnik nicht erst in virtuellen Räumen zunehmend von Immateriellem geprägt. Gesetzgeber und Gerichte reagieren auf die neuen Herausforderungen für die Rechtsordnung punktuell. Auch in der Rechtswissenschaft haben sich bislang keine einheitlichen Begriffe und Behandlungen des Immateriellen oder der Information herausgebildet. Es gibt keine einheitliche Rechtstheorie der Information oder der Rechtsnatur von Software. Auch ein „allgemeiner Teil des geistigen Eigentums“31 ist noch nicht erkennbar. „Informationsrecht“ ist eine Überschrift, unter der

__________ 30 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/10067 vom 30.7.2008; www.bmj.bund.de/bilmog. 31 Ohly, JZ 2003, 545.

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verschiedene Phänomene der Informationsgesellschaft abgearbeitet werden;32 theoriebildende Kraft hat der Begriff noch nicht entwickelt. Der Dialog zwischen Gesetzgeber, Gerichten und Rechtswissenschaft in den letzten Jahren hat viele praxisrelevante Einzelfragen geklärt. ITRecht wird sich weiter wandeln. Hier bedarf es weiterhin praxisorientierter Rechtswissenschaftler und Berater, die für den rechtlichen Umgang mit dem Immateriellen Inseln der Vernunft entwickeln. Denn: „Wo das Gesetz nicht hilft, da muss die Klugheit raten.“33

__________ 32 Vgl. Sieber, NJW 1989, 2569; Druey, Information als Gegenstand des Rechts, Zürich 1995; Hoeren, NJW 1998, 2849; Hoeren, JuS 2002, 947; Kloepfer, Informationsrecht, München 2002; Taeger/Wiebe (Hrsg.), Informatik – Wirtschaft – Recht, Regulierung in der Wissensgesellschaft (FS Kilian), BadenBaden 2004. 33 Goethe, Brief an den Verleger Cotta vom 25. März 1816, Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV, 36, S. 308 (Reprint München 1987).

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I. Der (un-)einheitliche Ansprechpartner, die Insel der Vernunft im Strudel der Umsetzung einer EG-Richtlinie über Dienstleistungen im deutschen Binnenmarkt? Manfred Mayer*

„Einen Elefanten kann man nur scheibchenweise verspeisen.“ Afrikanisches Sprichwort Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben am 12. Dezember 2006 eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt1 verabschiedet, die, bestehend aus 118 Erwägungsgründen und 46 Artikeln, am 28. Dezember 20062 in Kraft getreten ist. Die Mitgliedstaaten müssen nunmehr die EG-Dienstleistungsrichtlinie (EGDLR) so rechtzeitig in nationales Recht umsetzen, dass sie bis spätestens ab dem 28. Dezember 2009 dieser Richtlinie „nachkommen“3 können. In der laufenden Umsetzungsdiskussion spielen insbesondere sog. „einheitliche Ansprechpartner“4 eine zentrale Rolle, über die die Dienstleistungserbringer ihre Formalitäten und Genehmigungen auch elektronisch abwickeln können.

1. Freien Verkehr von Dienstleistungen fördern Der EG-Gesetzgeber will mit der Richtlinie einen Binnenmarkt für Dienstleistungen verwirklichen, die sog. „Lissabon“-Strategie5 unterstützen, bürokratische Hindernisse bei der Niederlassungs- und Dienst-

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* Prof. Dr. Manfred Mayer ist Leiter des Referats für eGovernment in der Bayerischen Staatskanzlei und Honorarprofessor an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg. 1 Richtlinie 2006/123/EG, ABl. L376/36. 2 Vgl. Art. 45 EG-DLR. 3 Vgl. Art. 44 Abs. 1 S. 1 EG-DRL. 4 Vgl. Art. 6 EG-DLR. 5 Unter der Lissabon-Strategie (auch Lissabon-Prozess oder Lissabon-Agenda) versteht man ein auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 in Lissabon verabschiedetes Programm, das zum Ziel hat, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.

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leistungsfreiheit abbauen helfen und den grenzüberschreitenden Handel sowie die europäische Verwaltungszusammenarbeit fördern. Auf diese Weise will die EU einen Beitrag zur Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt erreichen, dessen Bedingungen demjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahe kommen. Dabei bildet der freie Verkehr von Dienstleistungen6 als Grundfreiheit für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen einen Pfeiler des Binnenmarktes.

2. Anwendungsbereich der EG-DLR Die Richtlinie richtet sich zwar zunächst an EU-ausländische Dienstleistungserbringer, findet aber zur Vermeidung einer sog. Inländerdiskriminierung auch auf inländische Dienstleister Anwendung7. Die Dienstleistungserbringung im Sinne des Art. 50 EG-Vertrag (EGV) umfasst insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. Die EG-DLR findet aber für bestimmte Dienstleistungen, z. B. für Banken, elektronische Kommunikationsnetze, Leiharbeitsagenturen und Gesundheitsdienste, keine Anwendung8. Die Richtlinie umfasst alle Verfahren und Formalitäten, die die Aufnahme oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit betreffen, also den gesamten „Lebenszyklus“ des Unternehmens. Dagegen ist nicht abschließend geklärt, welche öffentlich-rechtlichen Normen in den Anwendungsbereich fallen. Die EG-DLR, die als Richtlinie von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen ist, betrifft in Deutschland alle Verwaltungsebenen, d. h. den Bund, die Länder, die Kommunen und die Tätigkeiten der Kammern, wie IHK usw. Im Rahmen eines sog. „Normenscreenings“ prüfen nach Art. 5 EG-DLR die Mitgliedstaaten die für die Aufnahme und die Ausübung der Dienstleistungstätigkeit geltenden Verfahren und Formalitäten mit dem Ziel der Vereinfachung und Optimierung der Verfahren, sowie daraufhin, ob sie notwendig, verhältnismäßig und diskriminierungsfrei sind9. Dabei geht es insbesondere um eine erleichterte Anerkennung ausländischer Dokumente, Übersetzungen und Beglaubigungen, vereinfachte Regelun-

__________ 6 Art. 49–55 EG-Vertrag. 7 Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz vom 14.6.2007, Ziff. 2, S. 2, http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/B/beschluss-der-wirtschaftsmini sterkonferenz-eisenach. 8 Vgl. Art. 2 Abs. 2 EG-DLR. 9 Vgl. Art. 14 ff. EU-DLR.

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gen zu Genehmigungsverfahren, inhaltliche Anforderungen für die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit usw.

3. Einheitlicher Ansprechpartner Nach Art. 6 EG-DLR stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Dienstleistungserbringer alle Verfahren und Formalitäten, die für die Aufnahme ihrer Dienstleistungstätigkeiten erforderlich sind, neben der Inanspruchnahme der zuständigen Behörde (optional) auch über einen einheitlichen Ansprechpartner abwickeln können. Dies lässt die Verteilung von Zuständigkeiten und Befugnissen zwischen Behörden innerhalb des deutschen nationalen Systems unberührt10. Weiterhin müssen die Behörden über den einheitlichen Ansprechpartner den Dienstleistungserbringern und -empfängern Informationen11 zur Verfügung stellen. Dabei geht es vor allem um Verfahren und Formalitäten für die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit sowie um Angaben über die zuständigen Behörden bzw. Verbände und Organisationen, die den Dienstleister praktisch unterstützen. Schließlich müssen die Verfahren auf Wunsch des Dienstleisters sowohl über den einheitlichen Ansprechpartner als auch über die zuständigen Behörden auch elektronisch abzuwickeln12 sein.

4. Vorgaben zur Vereinfachung der Genehmigungen Alle Verfahren und Formalitäten, die die Aufnahme oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit betreffen, müssen problemlos aus der Ferne und elektronisch über den einheitlichen Ansprechpartner oder bei der zuständigen Behörde abgewickelt werden können13. Die Genehmigungsverfahren und Formalitäten müssen im Voraus bekannt gemacht und so gestaltet sein, dass eine objektive und unparteiische Behandlung der Anträge gewährleistet ist14. Außerdem ist sicherzustellen, dass die vollständig eingereichten Anträge unverzüglich und in jedem Fall binnen einer vorab festgelegten und bekannt gemachten angemessenen Frist bearbeitet werden. Beantwortet die Behörde den Antrag nicht binnen der festgelegten oder verlängerten Frist, so gilt die Genehmigung als erteilt15.

__________ 10 11 12 13 14 15

Vgl. Art. 6 Abs. 2 EG-DLR. Vgl. Art. 7 Abs. 1 EG-DLR. Vgl. Art. 8 Abs. 1 EG-DLR. Vgl. Art. 8 Abs. 1 EG-DLR. Vgl. Art. 13 Abs. 1 EG-DLR. Genehmigungsfiktion nach Art. 13 Abs. 4 Satz 1 EG-DLR.

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5. Der (un-)einheitliche Ansprechpartner Auf den ersten Blick wird klar, dass die Väter dieser Richtlinie bei der Kreation der neuen Figur eines einheitlichen Ansprechpartners, neben und nicht anstelle der für die für einen Dienstleistungserbringer notwendigen Formalitäten und Genehmigungen zuständigen Behörde, vorrangig einen zentralistischen, also im Idealfalle mit einem Ansprechpartner pro Mitgliedstaat, und keinen föderalistischen Staatsaufbau im Auge hatten. Offensichtlich beflügelt von den aus Nutzersicht nachvollziehbaren Gedanken eines „one-stop-government“ oder eines „oneface-to-the-customer“-„Schlachtrufs“ wurde nicht Rücksicht genommen auf die ausgefeilte und wohl austarierte Aufgabenverteilung durch das Grundgesetz und die Länderverfassungen zwischen dem Bund, den 16 Ländern, den bis zu vier kommunalen Ebenen16 sowie der Aufgabenwahrnehmung durch berufsständische Kammern. Die Herausforderung besteht nun darin, die Richtlinie bis zum 28. Dezember 2009 in einer Weise in nationales Recht umzusetzen, die den bewährten föderalen Strukturen in Deutschland und der kommunalen Selbstverwaltung entspricht. Überraschenderweise hat sich, noch bevor überhaupt Gedanken oder Entwürfe für eine Umsetzung der Richtlinie in nationales Fach- und Verfahrensrecht bekannt geworden waren, die Diskussion in allen Ebenen in Deutschland gerade auf die Beantwortung der Frage konzentriert, wo der oder die einheitlichen Ansprechpartner durch eine Entscheidung jeweils des zuständigen Stadtstaats oder eines Landes am besten zu „verorten“ sind. Auffällig rankt sich dabei die rechtliche Diskussion um den einheitlichen Ansprechpartner, wie um eine scheinbare Insel der Vernunft, die es zu erreichen gilt, wobei sich ein weiter Bogen spannt, von dem, was für vernünftig gehalten wird, von einer eher evolutionären Umsetzung der Richtlinie im Verhältnis 1:1 bis zu der größten „Revolution der Verwaltung“ seit der der Grafen Stein, Hardenberg oder Montgelas17. Dabei bleiben die meisten anderen Rechtsprobleme, wie Identizitätsprüfung des Dienstleisters über das Internet, Fragen der qualifizierten Signatur nach deutschem Recht auch für EU-Ausländer, Probleme der Haftung und der Genehmigungsfiktion, die automatische Erstreckung einer nach dem Recht eines Landes erteilten Genehmigung für die Ausübung einer

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16 Z. B. in Bayern: Bezirke, Städte, Landkreise und Gemeinden. 17 Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757–1831) und Karl August Freiherr von Hardenberg (1750–1822) gelten als die Hauptinitiatoren der Preußischen Staats- und Verwaltungsreformen. Bayern verdankt Maximilian Carl Joseph Franz de Paula Hieronymus Graf von Montgelas (1759–1838) seinen modernen Staat.

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Der (un-)einheitliche Ansprechpartner

Dienstleistung auf alle anderen Länder des Mitgliedstaats Deutschland18 usw. in den Hintergrund gedrängt. Für die Übernahme der Aufgabe eines einheitlichen Ansprechpartners scheinen sich alle in Frage kommenden Institutionen, wie Kammern, Kommunen, staatliche Behörden usw. für geeignet zu halten. Ob nun ein Anstalts-, Kammer-, Mittelbehörden- oder Privatisierungsmodell oder eine Mischung aus den unterschiedlichen Modellen bei der Verortungsentscheidung das Licht der Welt erblickt, wird jedes Land im Rahmen seiner föderalen Selbstständigkeit nach eigenen Prioritäten entscheiden. Allein schon auf Grund der strukturellen Unterschiede z. B. zwischen Stadtstaaten, bei denen kommunale und die staatliche Ebene zusammenfallen, den Ländern, die teilweise auf eine Mittelebene, wie z. B. Regierungen, verzichten, oder als Flächenland neben der staatlichen noch vier kommunale Ebenen benötigen, werden sich auch als Ausfluss eines gelungenen Wettbewerbsföderalismus unterschiedliche einheitliche Ansprechpartner ergeben. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es in Deutschland wohl den „uneinheitlichen“ Ansprechpartner geben wird.

6. Umsetzung des einheitlichen Ansprechpartners in nationales Bundes- und Landesrecht In einem ersten Schritt haben Bund und Länder auf Arbeitsebene einen Musterentwurf für ein Gesetz zur verwaltungsverfahrensrechtlichen Umsetzung der EG-DLR erarbeitet19, der als wortgleiche Vorlage für eine im Verwaltungsverfahrensrecht bewährte Parallelgesetzgebung dienen soll. Darin wird interessanterweise nicht der Begriff des „einheitlichen Ansprechpartners“ aus dem Wortlauf der Richtlinie übernommen, sondern ein Abschnitt über ein Verfahren über eine „einheitliche Stelle“20 eingefügt werden, wobei es jeweils der Fachgesetzgebung überlassen bleibt, ob überhaupt ein Verfahren über eine einheitliche Stelle abgewickelt werden kann. Welche Fachverfahren auf Bundesoder Landesebene die Option „einheitliche Stelle“ enthalten werden, wird in einem weiteren Schritt an Hand der Richtlinie zu prüfen sein.

__________ 18 Vgl. Art. 10 Abs. 4 EG-DLR. 19 Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften (4.VwVfÄndG), Stand 13. August 2008 in www.bmi. bund.de, Gesetze und Verordnungen, Gesetzes- und Verordnungsentwürfe. 20 §§ 71a-e 4.VwVfÄndG-E.

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7. Die Insel der Vernunft Liegt nun trotzdem die Insel der Vernunft im Meer der rechtlichen Fragen bei der Umsetzung der EG-DRL bei einem einheitlichen Ansprechpartner? Diese Frage wird man guten Gewissens verneinen können. Man kann getrost den Kurs ändern und als Dienstleistungserbringer die erste Option als direktes Ziel, nämlich jeweils die für die Anzeige- und Genehmigungsformalitäten zuständige Behörde ansteuern. Das dürfte auch eher der Geschäftswirklichkeit entsprechen, dass der Dienstleister vor Ort den Markt prüft, Kunden wirbt, Geschäftsräume anmietet und Mitarbeiter einstellt, als alles aus der Ferne über das Internet zu versuchen. Auch die ins Auge gefasste voll-elektronische Abbildung aller mit dem Lebenszyklus einer Dienstleistungsausübung verbundenen Verwaltungsablaufprozesse bedarf nicht nur einer technischen, sondern auch einer rechtlichen Umsetzung, die nur „scheibchenweise“ zu erledigen sein wird. Der Autor, dem Jubilar seit Anfang der 80er Jahre in freundschaftlicher Weise verbunden, verdankt dem „Papst“ im deutschen IT-Recht das frühzeitige Interesse an der sich inzwischen als eigenes Fachgebiet etablierten Materie. Als Wissenschaftler und Gutachter, zuletzt auch im Rahmen der Föderalismusreform II, der genial die Möglichkeiten der Computertechnik in einen dafür notwendigen rechtlichen Rahmen einzuordnen vermag, wie auch als Mensch und Mentor, dient er als Vorbild. Ad multos annos!

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II. Insel und Meer: Das neue UWG und Vertriebsbindungen Thomas Hoeren*

„IT-Recht im Wandel: dies war das Motto.“ Jochen Schneider, Vorwort zur 3. Aufl. des Handbuchs EDV-Recht, Köln 2003, S. V Als „eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn“ soll der Schweizer Theologe Karl Barth in den 50er Jahren die „Blätter für Deutschlands internationale Politik“ bezeichnet haben. Auch wenn entsprechende Quellenangaben nicht zu finden sind, könnte das entsprechende Diktum tatsächlich von Barth kommen, zeichnet es sich doch durch den typischen Dualismus des alten Barth aus. Für ihn war die Welt aufgeteilt in gut und böse, unerreichbarer Gott und böse Welt. Doch gibt diese Sentenz auch die Lebensphilosophie von Jochen Schneider wider? Dies scheint mir nicht der Fall zu sein, Barth und Schneider dürften in ihrem Lebensbild kaum etwas gemein haben. Jochen Schneider habe ich über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg als bajuwarisch-selbstkritischen Tüftler kennen gelernt, der mit sich selbst ringt, sich durch einen Wust von Literaturstimmen durchwütet, immer auf der Suche nach der nie erreichbaren Wahrheit. Schneider ist kein Dualist, keiner, der für sich in Anspruch nehmen würde, die Insel der Vernunft zu vertreten. Er ist neugierig, offen für Neues, diskussionsfreudig, differenziert. Gerade deshalb gratuliere ich dem Jubilar von Herzen zu seinem Geburtstag und dieser Festschrift und möchte die Gelegenheit gleich nutzen, ihm eine neue Idee vorzutragen, die ihn sowohl als IT-Rechtler wie auch als Kartellrechtsexperte interessieren dürfte.1 Seit dem 12. Dezember 2007 gilt in Deutschland im Wege der europarechtskonformen Auslegung die neue EU-Richtlinie über den Schutz

__________ * Prof. Dr. Thomas Hoeren ist Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM) der Universität Münster. 1 Siehe dazu Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl. Köln 2003, C 344 ff.

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gegen unlautere Geschäftspraktiken.2 Diese Richtlinie ist in einen Regierungsentwurf vom 21. April 2008 eingeflossen; das schon längst überfällige Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende 2008 abgeschlossen sein. Zu Recht gehen zahlreiche Gerichte davon aus, dass seit Dezember 2007 die Richtlinie wegen der genannten richtlinienkonformen Auslegung schon längst in das noch bestehende UWG einfließen muss.3 Zu den zahlreichen Änderungen durch die Richtlinie4 zählt auch die Einbindung von Verhaltenskodizes in das System des UWG. So findet sich in Art. 6 Abs. 2 lit. b ein Hinweis darauf, dass ein Verstoß gegen das UWG auch darin bestehen kann, auf die Einhaltung eines Verhaltenskodizes als Unternehmer im Verhältnis zu Verbrauchern zu verweisen, obwohl dies nicht zutrifft. Im Regierungsentwurf findet sich ein entsprechender Passus im § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6. Das UWG wird künftig auch in eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie einen Annex enthalten, der absolute Verbote von geschäftlichen Handlungen enthält. In Nummer 1 des Annex ist es verboten, unwahre Angaben darüber zu machen, zu den Unterzeichnern eines Verhaltenskodizes zu gehören. Ferner fallen auch unter das Absolutverbot unwahre Angaben eines Unternehmers im Verhältnis zu Verbrauchern, ein Verhaltenskodex sei von einer öffentlichen oder anderen Stelle gebilligt. Mit dieser Regelung tragen Richtlinie und neues UWG Vorgaben insbesondere aus Skandinavien, Großbritannien und den Niederlanden Rechnung, wo das Lauterkeitsrecht sehr stark durch Verhaltenskodizes einzelner Wirtschaftsverbände gesteuert wird. Insofern klingt das neue UWG aber nicht spannend, da das deutsche Recht diese starke Bindung an Selbstregulierungsmodelle nicht kennt. Lediglich im Bereich des Jugendschutzes und bei stark kartellierten Wirtschaftszweigen (wie etwa Banken, Versicherungen oder der Presse) bestehen entsprechende Regelwerke. Das Spannende des neuen UWG liegt meines Erachtens in der Definition des Verhaltenskodizes. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 des Regierungsentwurfs umfasst ein Verhaltenskodex aller Vereinbarungen oder Vorschriften, auf die sich Unternehmer in Bezug auf einzelne geschäftliche Handlungen über Wirtschaftszweige verpflichtet haben und die sich nicht bereits aus Gesetzes- und Verwaltungsvorschriften ergeben. Der

__________ 2 Richtlinie 2005/29/EG vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, Amtsblatt L 149/22 vom 11.6.2005. 3 Siehe dazu z. B. Kammergericht Urteil vom 25.1.2008 – 5 W 244/07; ähnlich Köhler, WAP 2007, 1393, 1394; Köhler, NJW 2008, 177, 178. 4 Dazu allgemein Hoeren, BB 2008,1182 ff.

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Insel und Meer: Das neue UWG und Vertriebsbindungen

Begriff ist daher weit gefasst.5 Er umfasst eben auch Vereinbarungen von Unternehmern mit etwa Lieferanten und Händlern. Insofern sind auch Vertriebsbindungssysteme ein Verhaltenskodex. Auch umfasst sind vertragliche Regelungen für einen selektiven Vertrieb, Fachhändlerbindungen oder F&E-Verträge. Es kommt für die Definition auch nicht darauf an, ob sich die Vereinbarungen auf das Verhalten von Verbrauchern auswirken. Jede B2B-Vereinbarung zwischen Unternehmern mit Bezug auf geschäftliche Handlungen oder Wirtschaftszweige fällt unter die Definition. Dass solche Vereinbarungen sich natürlich nach den Vorgaben des europäischen Kartellrechts richten und insbesondere die Vorgaben einzelner Gruppenfreistellungsverordnungen beachten, schließt die Anwendung der Definition nicht aus. Denn die entsprechenden Vereinbarungen selbst sind in solchen Fällen nicht bereits aus Gesetzesvorschriften vorgegeben. Auch die Freistellungsverordnungen lassen Spielraum für vertragliche Gestaltungen. Insofern spielt die kartellrechtliche Zulässigkeit eines Regelwerkes nur eine Bedeutung als Vorfrage, schließt aber die Anwendung des UWG und seine Regelung zum Verhaltenskodex nicht aus. Dann wird allerdings das UWG künftig mit einem ganz neuen Ansatz zu tun haben. Nach dem alten UWG ist es nicht möglich, den Verstoß oder die Nichteinhaltung von selektiven Vertriebsbindungssystemen als UWG-Verstoß anzusehen.6 Das neue UWG macht Verstöße gegen solche vertraglichen Bindungen automatisch auch zu einem Verstoß gegen das UWG. Wirbt z. B. ein Händler damit, dass er Fachhändler oder Teil eines selektiven Vertriebssystems sei gegenüber Verbrauchern, kann er nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 UWG in Anspruch genommen werden, wenn er tatsächlich den Fachhändler – oder den sonstigen Vertriebsvertrag nicht einhält. Nach dem Annex Nr. 1 wäre er auf jeden Fall unabhängig von Wesentlichkeitsfragen in Anspruch zu nehmen, wenn er unwahr behauptet, Fachhändler oder Teilnehmer an einem selektiven Vertriebssystem zu sein. Dies wird gerade auch für den IT-Bereich von erheblicher Bedeutung sein, da es den IT-Herstellern erlaubt, entsprechende Vertriebsbindungen vertraglich mit ihren Händlern vorzusehen und darauf zu achten, dass diese Bindungen auch korrekt im B2C-Bereich verwendet werden.7 Aber auch für den B2BBereich kommt diese Regelung zur Anwendung. Anders als die Richt-

__________ 5 Siehe dazu auch Dreyer, WRP 2007, 1294, 1295 ff. 6 Siehe dazu BGH, GRUR 2000, 724, 726 – Außenseiteranspruch II; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2003, 89. 7 Zu den Vertriebsvertragstypen Schneider, Praxis des EDV-Rechts, 3. Aufl. Köln 2003, D 327 ff.

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linie selbst haben sich nämlich das Ministerium und die Koalition im Regierungsentwurf für einen so genannten integrierten Ansatz entschieden, was § 5 UWG angeht. Im Rahmen von § 5 UWG wird nicht mehr unterschieden, ob eine Irreführung im Verhältnis B2B oder B2C vorgenommen wird. Insofern wäre auch im rein gewerblichen Bereich die Nichteinhaltung eines Vertriebsvertrages durchaus als irreführende geschäftliche Handlung ahndbar. Allerdings verweist § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 darauf, dass der Händler auf die entsprechende vertragliche Bindung hinweisen muss. Der Begriff des Hinweises wird nicht näher konkretisiert. Man wird darunter wohl eine geschäftliche Handlung mit Außenwirkung verstehen müssen, die einen Marketingeffekt hat. Insofern kommt der Wettbewerbsverstoß nur zum Tragen, wenn der Händler in seiner Außenwerbung darauf verweist, Mitglied eines Vertriebssystems zu sein und trotzdem entsprechende Bindungen vertraglicher Art nicht einhält. Dabei reichen auch konkludente Handlungen aus, wie etwa die Verwendung von Fachhändlersiegeln oder der Vertrieb von Produkten, die der Geschäftsverkehr besonderen Händlergruppierungen zuweist. Den Herstellern bleiben jedenfalls nach dem neuen UWG neue Möglichkeiten, gegen Freerider vorzugehen, die marketingmäßig sich als Handelspartner eines Herstellers gerieren. Das ist neu und wird sicherlich in Zukunft für einige Diskussionen sorgen. Man kann auch davon ausgehen, dass die entsprechende Botschaft noch nicht in den Wirtschaftskreisen angekommen ist, wird doch über den Begriff der Verhaltenskodizes in der Literatur zum neuen UWG kaum diskutiert. Aber gerade hier passt das Thema zu Jochen Schneider, einem Geist, der für neue Denkansätze offen ist, die das IT-Vertriebsrecht radikal verändern können. Insofern freue ich mich auf viele Publikationen, Diskussionen und Begegnungen mit einem der (menschlich und fachlich) ganz Großen des IT-Rechts.

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III. Der EU Microsoft Fall – Auswirkungen auf global agierende High Tech Unternehmen Hans-Werner Moritz*

„Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt.“ Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluss a. E.

1. Die Microsoft-Entscheidung der Kommission Am 24.3.2004 hat die Kommission entschieden, dass Microsoft die in der EU geltenden Wettbewerbsvorschriften aus zwei Gründen verletzt habe: Zum einen wegen der Verweigerung der Offenlegung von Interoperabilitätsinformationen und ihrer Nutzung zum Zwecke der Entwicklung und Vermarktung von Betriebssystemen für Arbeitsgruppenserver und zum anderen wegen unerlaubter Koppelung des „Windows Media Player“ („WMP“) mit dem „Intel-kompatiblen“ Client-PC-Betriebssystem Windows („Windows“).1 In ihrer Entscheidung vom 24.3.2004 verhängte die EU-Kommission gegen Microsoft ein Rekordbußgeld von 497,2 Mio. Euro. Im Juli 2006 belegte die Kommission Microsoft mit einem Zwangsgeld von 280,5 Mio. Euro, weil Microsoft Wettbewerbern nicht fristgemäß Interoperabilitätsinformationen zur Nutzung offen gelegt hatte.2 Am 27.2.2008 belegte die Kommission Microsoft mit einem weiteren Zwangsgeld von 899 Mio. Euro, weil Microsoft für die Zeit vom 21.6.2006 bis zum 21.10.2007 zu hohe Lizenzgebühren für die Interoperabilitätsinformationen gefordert hatte.3

2. Der U.S. Microsoft-Fall4 Am 3.4.2000 erließ der U.S. District Court of Columbia ein Urteil, worin festgestellt wurde, dass Microsoft den Tatbestand der „mono-

__________

* Dr. Hans-Werner Moritz ist Rechtsanwalt im Büro von Jones Day, München. 1 Case COMP/C-3.37.792 – Microsoft, ABl. 2007 L 32, 23 = WuW 2004, 673 ff. – Microsoft. 2 C (2006) 3143. 3 C (2008) 764. 4 Vgl. Fleischer/Doege, WuW 2000, 705 ff.

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Hans-Werner Moritz

polization“ und des „illegal tying“ erfüllt hatte. Das Gericht ordnete an, dass Microsoft in zwei selbständige Teile aufgespalten werden sollte, wobei der eine Teil das Betriebssystem und der andere Teil andere Software-Komponenten herstellen sollte. Am 28.6.2001 hob der U.S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit das Urteil des District Court auf, soweit es das „illegal tying“ mit dem Internet Explorer verboten hatte, hielt jedoch den Vorwurf der „monopolization“ aufrecht.5 Im November 2001 erzielte Microsoft mit dem U.S. Justizministerium einen Vergleich, wonach Microsoft für einen Zeitraum von fünf Jahren zwei Verpflichtungen einging: a) verpflichtete sich Microsoft, Spezifikationen für die Kommunikationsprotokolle zu erstellen, die von Windows Betriebssystemen für Arbeitsgruppenserver für das Zusammenarbeiten („to interoperate“) verwendet werden, und diese Spezifikationen an Dritte nach definierten Bedingungen zu lizenzieren. b) verpflichtete sich Microsoft, OEMs (original equipment manufacturers) und Endnutzern zu erlauben, den Zugang zu seinen Middleware Produkten (zu denen der Internet Explorer und der WMP gehören) zu aktivieren oder zu schließen. Diese Verpflichtungen wurden am 1.11.2002 vom District Court genehmigt (Final Judgement).6 U.S.-amerikanische Juristen und Ökonomen sehen keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, wenn ein marktbeherrschendes Produkt mit einem anderen gekoppelt wird, es sei denn, die Koppelung wird gezielt unternommen, um ein bestehendes Monopol auf andere Märkte zu übertragen. Auch marktbeherrschenden Unternehmen müsse es erlaubt sein, innovative Produkte auf den Markt zu bringen. Das durch den WMP erweiterte Windows sei ein solches innovatives Produkt. Im Gegensatz dazu hat die Europäische Kommission entschieden, dass die Koppelung des WMP mit Windows einen Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht darstellt. Sie ging sogar so weit festzustellen, dass jede Erweiterung eines marktbeherrschenden Produktes um

__________ 5 WuW 2004, 691 ff. – United States/Microsoft Corp. 6 http://www.usdoj.gov/atr/cases/f2004 57.htm.

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Der EU Microsoft Fall

neue Funktionalitäten schon vom Ansatz her einen Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht darstellt, sofern es Wettbewerber gebe, welche entsprechende Funktionalitäten anböten.

3. Die prozessualen Schritte von Microsoft Gegen die Entscheidung der Kommission vom 24.3.2004 hatte Microsoft Nichtigkeitsklage erhoben und zusätzlich die Aussetzung der Durchführung der Interoperabilitätsverfügung bis zur Entscheidung in der Hauptsache beantragt. Am 22.12.2004 hat der Präsident des EuG den Aussetzungsantrag von Microsoft mangels Dringlichkeit vollumfänglich zurückgewiesen.7

4. Das Microsoft Urteil des EuG In seinem Urteil vom 17.9.20078 hat das EuG die mit der Nichtigkeitsklage von Microsoft vorgebrachten Argumente gegen die Anordnung der Offenlegung von Interoperabilitätsinformationen und das Verbot der Koppelung in allen Punkten zurückgewiesen. Microsoft hat am 22.10.2007 bekannt gegeben, keine Revision gegen das Urteil des EuG zum EuGH einzulegen und dass Microsoft die Anordnungen in der Entscheidung der Kommission vom 24.3.2004 voll erfüllen werde. Das EuG bestätigte im Wesentlichen die Feststellungen der Kommission wie folgt: a) Weigerung der Offenlegung von Interoperabilitätsinformationen Die Informationsverweigerung von Microsoft führe zu einer Einschränkung der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher, was insbesondere gegen Art. 82 b EG verstieße. Diese außergewöhnlichen Umstände rechtfertigten die Schlussfolgerung, dass Microsoft mit der Verweigerung der Informationen seine beherrschende Stellung unter Verstoß gegen Art. 82 EG missbraucht,

__________ 7 Case T-201/04 R- Microsoft v. Commission, [2004] ECR II – 4463 = WuW 2005, 197 ff. – Microsoft/Kommission. 8 WuW 2007, 1169; CRi, Issue 5, 15 October 2007, 148 ff.

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sofern dies nicht sachlich gerechtfertigt ist. Eine derartige sachliche Rechtfertigung sei jedoch Microsoft nicht gelungen. Insbesondere sei die Inhaberschaft geistiger Schutzrechte und deren Geltendmachung keine sachliche Rechtfertigung. Das EuG bezog sich insoweit insbesondere auf zwei Urteile des EuGH, nämlich Magill9 und IMS Health10. Es fasste diese Rechtsprechung wie folgt zusammen, um festzulegen, welche Umstände insbesondere gegeben sein müssen, damit außergewöhnliche Umstände angenommen werden können: (1) die Weigerung bezieht sich auf ein Erzeugnis oder eine Dienstleistung, das/die unerlässlich ist, um auf einem benachbarten Markt eine bestimmte Tätigkeit auszuüben; (2) die Weigerung ist geeignet, jeglichen wirksamen Wettbewerb auf diesem benachbarten Markt auszuschließen; (3) die Weigerung verhindert das Entstehen eines neuen Erzeugnisses, für welches eine potentielle Nachfrage der Verbraucher besteht. b) Produktkoppelung Das EuG bestätigte die Feststellung der Kommission, dass Microsoft durch die Koppelung des WMP an Windows gegen Art. 82 d) EG verstößt. Die Missbräuchlichkeit dieses Verhaltens ergebe sich aus den nachstehenden 4 Gründen: (1) verfügt Microsoft auf dem Markt „Intel-kompatibler“ Client-PCBetriebssysteme über eine marktbeherrschende Stellung; (2) handelt es sich bei Windows und dem WMP um zwei separate Produkte; (3) gibt Microsoft seinen Kunden nicht die Möglichkeit, Windows ohne den WMP zu erwerben; (4) wird durch diese Koppelung der Wettbewerb eingeschränkt. Das Vorbringen von Microsoft, dass der WMP integraler Bestandteil von Windows sei, hat das EuG zurückgewiesen. Es gebe eine Reihe von Anbietern, die Medienprogramme entwickeln und einzeln vertreiben.

__________ 9 EuGH, Urt.v. 26.4.1995 – Magill, Slg. 1995, I-743. 10 EuGH, Urt.v. 29.4.2004 – Rs. C-418/01 = GRUR 2004, 524 ff.

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Der EU Microsoft Fall

Nicht zuletzt entwickle und vertreibe Microsoft selbst Versionen seines WMP für andere PC-Betriebssysteme. Das EuG teilt die Ansicht der Kommission, dass wesentlicher Bestandteil des Koppelungsvorwurfs der Umstand war, dass Microsoft seinen Kunden keine Möglichkeit gab, Windows ohne WMP zu erwerben. Die Koppelung mit Windows verschafte WMP eine beispiellose weltweite Omnipräsenz bei „Intel-kompatiblen“ Client-PCs. Andere alternative Verteilungskanäle seien nach den gesammelten Erkenntnissen zweitrangig. Mit der Koppelung garantierte Microsoft den Inhalteanbietern und Softwareentwicklern, dass sie praktisch alle „Intel-kompatiblen“ Client-PC-Nutzer weltweit erreichen können, wenn sie Microsofts Medientechnologie unterstützten. Das EuG verwirft auch das von Microsoft vorgebrachte Argument, wonach die WMP-Koppelung durch Effizienzgewinne gerechtfertigt sei. Microsoft habe keinerlei technische Effizienzvorteile angeführt, die nachweislich die „Integration“ des WMP in das Betriebssystem voraussetzen würden. Microsoft bot innerhalb der gesetzten Frist (90 Tage) eine Version von Windows mit und eine ohne den WMP zum gleichen Preis11 an.

5. Negative Folgen für globale Unternehmen Es liegt auf der Hand, dass auf Grund der Entscheidung der Kommission und des EuG sowie der Entscheidung des Microsoftfalles in den USA globale IT-Unternehmen in den USA und in der EU in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht unterschiedlich behandelt werden. Dies kann in der Zukunft eine Bedrohung für global agierende Unternehmen darstellen. Sollen diese z. B. in den USA andere Produkte vertreiben als in der EU?

6. Ausblick Was kann getan werden, um die unterschiedliche Anwendung vergleichbarer wettbewerbs-rechtlicher Eingriffsnormen in den USA und in der EU zu verhindern? Insoweit kann einiges erhofft werden von

__________ 11 Kritisch insoweit Moritz, CR 2004, 321, 323.

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dem seit 2001 bestehenden International Competition Network (ICN),12 dem mittlerweile mehr als 100 staatliche und nicht-staatliche Organisationen, die sich mit dem Wettbewerbsrecht befassen, angehören. ICN ist nicht „a priori“ eine kartellrechtliche Insel der Vernunft. Doch solange die Bereitschaft zum gegenseitigen Lernen im ICN vorhanden ist, ist zu hoffen, dass diametral entgegengesetzte Positionen in einer globalisierten Welt zukünftig zumindest nicht leichtfertig eingenommen werden.

__________ 12 Vgl. Böge, WuW 2005, 590-595-.6.

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IV. Das „Mehrangebot“ als Sonderfall des Nebenangebots bei der Vergabe von IT-Leistungen Anselm Brandi-Dohrn*

„Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt.“ Hermann Hesse Zu den rechtsdogmatischen „Wüsten“ gehört (noch) das recht junge Vergaberecht – die Bestimmungen, die den Ablauf des Auswahlverfahrens beim Beschaffen von Gütern und Leistungen durch die öffentliche Hand regeln. Hier sind Nebenangebote keine Eigenheit spezifisch von IT-Vergabeverfahren. Aber im Hard- und Softwarebereich treten aufgrund des raschen Produktwandels solche von der Leistungsbeschreibung abweichende Angebote besonders häufig auf – denn der Auftraggeber hat oft keinen hinreichenden Überblick über die denkbaren technischen Alternativen und Neuerungen. Da Nebenangebote gesetzlich nur lückenhaft geregelt sind, stellt die Zulässigkeit und die Wertung von Nebenangeboten den Auftraggeber häufig vor Probleme. Dieser Beitrag soll in der Weite der dogmatischen Wüste des Vergaberechts eine kleine Insel/Oase der Vernunft anlegen für den in der Praxis häufigen Fall des „reinen Mehrangebots“ und seine Probleme.

1. Die Begriffe „Nebenangebot“, „Änderungsvorschlag“, „Variante“, „Mehrangebot“ Im Begriff des „Nebenangebots“ ging in der VOL/A 2006 der Begriff des „Änderungsvorschlags“ aus den früheren Ausgaben der VOL/A auf. Schon unter der früheren Rechtslage wurde aber meist davon ausgegangen, dass der Begriff des „Änderungsvorschlags“ keine eigenständige Bedeutung neben dem (Ober-)Begriff des „Nebenangebots“ habe1.

__________ * Dr. Anselm Brandi-Dohrn, Maître en Droit ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz in der Kanzlei v. Boetticher Hasse Lohmann in Berlin. 1 Vgl. Kulartz/Marx/Portz/Prieß (Hg.), Kommentar zur VOL/A, 2007, VOL/A, § 17 Rn. 60 unter Verweis auf die Erläuterungen des DVAL; vgl. auch Hertwig, Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe, 3. Aufl., 2005, Rn. 136.

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Des Weiteren stellt der Begriff des „Nebenangebots“ die nationale Umsetzung des in den europäischen Richtlinien und Verordnungen verwendeten Begriffs der „Variante“ dar (vgl. etwa Art. 24 VKR2, Art. 36 SKR3, §§ 17 Nr. 3 Abs. 5, 25b Nr. 4 Abs. 1 VOL/A). Als „Mehrangebot“ soll hier ein Angebot bezeichnet werden, das nicht qualitativ vom Verlangten abweicht, sondern ausschließlich quantitativ. Weder die VKR oder die SKR noch die Normen zum deutschen Vergaberecht definieren den Begriff des „Nebenangebotes“ (bzw. der „Variante“). Das kann für den Bieter, der eine von der Leistungsbeschreibung abweichende Lösung anbieten möchte, fatal sein. Zwar sind Nebenangebote „wie Hauptangebote“ zu werten – aber nur, wenn sie zugelassen sind (§ 25 Nr. 4 VOL/A) und auch dann nur, wenn sie gleichwertig sind bzw. den gestellten Mindestbedingungen genügen (§ 9a Nr. 2 VOL/A). (1) Als herrschend – wenngleich nicht unbestritten – kann in Rechtsprechung und Literatur die streng formale Definition gelten, wonach ein Nebenangebot bei jeder Abweichung vom geforderten Angebot vorliegt4 – wobei sich die inhaltliche Abweichung auf alle Aspekte, insbesondere die Leistung selbst, die Rahmenbedingungen des Vertrages oder die Art und Weise der Abrechnung beziehen kann5. Das ist deutlich strenger als nach der Intention von Nebenangeboten notwendig wäre: Geht man von dem allgemeinen Verständnis aus, dass Nebenangebote dem Zweck dienen, das Ausschreibungsziel in technisch besserer und/oder wirtschaftlicherer Weise zu erreichen, so gäbe es z. B. keinen Anlass, ein in einzelnen Anforderungen das Geforderte schlicht übersteigendes (Mehr-)angebot (z. B. geforderte Prozessortaktung 250 Mhz, angeboten wird ein Prozessor mit 300 Mhz) nicht als Hauptange-

__________ 2 „Vergabekoordinierungsrichtlinie“, Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. EG v. 30.4.2004, L 134/114 ff. 3 „Sektorenkoordinierungsrichtlinie“, Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, ABl. EG v. 30.4.2004, L 134/1 ff. 4 BGH, VergabeR 2002, 463, 465; Stolz, VergabeR 2008/Sonderheft 2a, 322, 334; Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 63, mit Verweis auf die amtlichen Erläuterungen des DVAL zu § 17 Nr. 3 Abs. 5 VOL/A; 1. VK Bund, Beschluss vom 17. Juli 2003, VK 1 - 55/03; Hopf, Vergabemanagement bei öffentlichen Aufträgen, 2002, S. 140. 5 Vgl. dazu Schalk, Nebenangebote im Bauwesen, S. 40 ff., insbesondere 55, m. w. N.; Schaller, VOL, 4. Aufl., § 21 VOL/A, Rn. 23.

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„Mehrangebot“ bei der Vergabe von IT-Leistungen

bot anzusehen. Diese strenge Auffassung erklärt sich aber mit dem Grundsatz, es solle dem Ausschreibenden überlassen bleiben, welche Leistung er vergeben will; auch soll eine vollständige Vergleichbarkeit der (Haupt-)angebote gewährleistet sein, um intransparente oder willkürliche Bewertungen zu verhindern. Als überholt kann eine in der älteren Literatur teils vertretene Ansicht gelten, wonach ein Nebenangebot zumindest die Änderung „ganzer Abschnitte“ der Leistungsbeschreibung verlange6. Diese Ansicht geht von Formulierungen früherer Ausgaben der VOL/A aus; damals wurden teilweise Nebenangebote noch von den „Änderungsvorschlägen“ unterschieden: Letztere lagen schon bei der Änderung einzelner Leistungsteile vor, Erstere nur bei der Änderung ganzer Abschnitte der Leistungsbeschreibung. Demnach umfasst der Begriff des „Nebenangebots“ alle Fälle der Leistungsänderung. (2) Eine neuere Ansicht7 bewertet Angebote auch dann als „Hauptangebot“, wenn sie (lediglich) bzgl. der „technischen Spezifikationen“ von der Leistungsbeschreibung abweichen. Denn nach § 8a Nr. 2 VOL/A dürfen Angebote, die eine verlangte „technische Spezifikation“ nicht einhalten, dann nicht abgelehnt werden, wenn der Bieter mit dem Angebot nachweist, dass sie den Anforderungen der technischen Spezifikation „(gleichermaßen) entsprechen“. Da der Begriff der „technischen Spezifikationen“ im Anhang TS zur VOL/A sowie im Anhang IV zur VKR weit über den technischen Bereich hinausgehe und sich auf sämtliche in der Leistungsbeschreibung enthaltenen Vorgaben/Anforderungen beziehe, seien sämtliche von Merkmalen der Leistungsbeschreibung abweichenden Angebote immer schon dann als Hauptangebot zu werten, wenn nachgewiesen wird, dass die angebotene Alternative den Anforderungen gleichermaßen entspricht. Diese Ansicht verkennt aber wohl, dass die Vorschriften zu „technischen Spezifikationen“ erkennbar auf vorbestehende Normungswerke gemünzt sind8 – es soll verhindert werden, dass Bieter, die an bestimmte Normungswerke gewöhnt sind, diskriminiert werden. Dies gilt umso mehr, als der Auftraggeber solche von ihm gewünschten Spezifikationen ansonsten gar nicht mehr verbindlich vorgeben könnte. Zum anderen zwingt die Ansicht von

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6 Vgl. etwa Weyand, § 10 VOB/A, Rn. 3587, unter Verweis auf VK Brandenburg, Beschluss vom 26.3.2002, VK 4/02. 7 Stolz, VergabeR 2008/Sonderheft 2a, 322, 331 ff. 8 Ähnlich OLG München, VergabeR 2006, 119, 123; OLG Düsseldorf, VergabeR 2005, 188: „technische Spezifikationen“ sind nicht die individuellen und auf das konkrete Vorhaben bezogenen technischen Vorgaben, die der Auftraggeber seiner Ausschreibung zu Grunde legt.

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Stolz keineswegs, die Definition des „Hauptangebotes“ zu ändern – der von ihm vorgeschlagene Weg, andere technische Lösungen zuzulassen, wenn sie der Ausschreibung „entsprechen“, bedeutet inhaltlich nichts weiter, als diese Alternativen nach den Regeln für Nebenangebote zu werten. Dann besteht aber kein Anlass, sie als Hauptangebot zu bezeichnen. (3) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass auch das „Mehrangebot“ ein Fall des Nebenangebotes ist. So z. B., wenn der Bieter statt der geforderten 5 Prozessoren 7 anbietet, der angebotene Prozessor statt der geforderten 250 Mhz mit 300 Mhz getaktet ist. Erst recht gilt das, wenn die „Mehrleistung“ zu technisch oder wirtschaftlich negativen Konsequenzen führt, etwa wenn die höhere Prozessortaktung eine aufwendigere Kühlung und höheren Stromverbrauch bedingt. Das Ergebnis mag vielen Auftraggebern unerfreulich erscheinen, insbesondere wenn sie zunächst Nebenangebote ausgeschlossen hatten und anschließend feststellen, dass sie für die eingeplanten Haushaltsmittel mehr angeboten erhalten, als sie ursprünglich erwartet hatten. Es ist aber das alleinige Recht und das Risiko des Auftraggebers festzulegen, welche Leistung er ausschreiben will. Will der Auftraggeber sich solche Mehrangebote offen halten, kann er dies im Angebot vorsehen: Verlangt er im obigen Beispiel eine Prozessortaktung von „mindestens 250 Mhz“, so stellt das Angebot eines 300 Mhz-getakteten Prozessors ein Hauptangebot dar. Gibt die Ausschreibung ein Leitprodukt vor und enthält diesbezüglich den Zusatz „oder gleichwertig“, so liegt ebenfalls kein Nebenangebot vor, wenn der Bieter im Rahmen der Erweiterung „oder gleichwertig“ anbietet, da er sich insoweit im Rahmen der geforderten Leistung bewegt, mithin ein Hauptangebot abgibt9.

2. Fall 1: Das reine Mehrangebot, wenn Nebenangebote ausdrücklich ausgeschlossen sind Auch dieser Fall ist – wenn nach dem oben Gesagten die Einstufung als „Nebenangebot“ einmal korrekt vorgenommen worden ist – einfach zu lösen. Im Unterschwellenbereich stellt ein solches Abweichen vom geforderten Angebot eine „Änderung der Verdingungsunterlagen“ i. S. d. § 21

__________ 9 Vgl. z. B. Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 63; OLG Schleswig, Beschluss v. 15.2.2005, 6 Verg 6/04.

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„Mehrangebot“ bei der Vergabe von IT-Leistungen

Nr. 1 Abs. 4 VOL/A dar. Eine solche „Änderung“ wird von der ganz herrschenden Meinung ähnlich wie das „Nebenangebot“ definiert: Sie liegt vor, „wenn ein Bieter etwas anderes anbietet als vom öffentlichen Auftraggeber nachgefragt, so dass sich Angebot und Nachfrage nicht decken“10. Damit lehnt es die herrschende Meinung ab, eine „Änderung der Verdingungsunterlagen“ – eng am Wortlaut – zu reduzieren auf Fälle, in denen der Bieter die Verdingungsunterlagen selbst (etwa durch Streichungen o. Ä.) physisch verändert11. Die Wertung eines solchen Angebots als Hauptangebot ist dann gemäß § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. d) VOL/A zwingend ausgeschlossen. Da nach den Ausschreibungsbedingungen Nebenangebote ausgeschlossen sind, darf das Angebot auch nicht als Nebenangebot gewertet werden (vgl. § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. g) VOL/A). Im Oberschwellenbereich und im Sektorenbereich gilt das Gleiche: Da das abweichende Angebot als Nebenangebot zu bewerten ist und Nebenangebote ausgeschlossen wurden, darf das Angebot nicht gewertet werden.

3. Fall 2: Das reine Mehrangebot, wenn Nebenangebote ausdrücklich zugelassen sind (1) Im Unterschwellenbereich sind zugelassene Nebenangebote ebenso wie Hauptangebote zu werten (§ 25 Nr. 4 VOL/A). Sie können – soweit sie die sonstigen an Hauptangebote gestellten Bedingungen einhalten – nur ausgeschlossen werden, wenn die Voraussetzungen des § 25 Nr. 1 Abs. 2 lit. c) VOL/A vorliegen. Die in dieser Variante entscheidende Frage ist allerdings, in welchem Umfang der Auftraggeber das „Mehr an Leistung“ eines Bieters zu dessen Gunsten werten darf. Die in der VKR festgelegte Pflicht, nur die vorher bekannt gemachten Wertungskriterien bei der Wertung heranzuziehen, gilt im Unterschwellenbereich nicht direkt. Es ist aber auch hier ausgeschlossen, die Wertung auf Kriterien zu stützen, die nicht hinreichend klar und bestimmt und vorab bekannt gemacht wurden, sodass die Bieter ihr Angebot darauf abstimmen konnten12. Das beruht letztlich auf den europarechtlichen

__________ 10 Vgl. Kulartz/Marx, VOL/A, § 21 Rn. 89 m. w. N., insbesondere aus der Rechtsprechung des BGH und der OLG. 11 Vgl. zum Meinungsstand Stolz, VergabeR 2008/Sonderheft 2a, 323. 12 Kulartz/Marx, VOL/A, § 25 Rn. 165; BGH v. 17.2.1999, X ZR 101/97, NJW 2000, 137.

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Grundsätzen der Transparenz und Nicht-Diskriminierung der Bieter, die auch im Unterschwellenbereich anzuwenden sind13. Daher gilt: (a) Wird das „Mehr an Leistung“ von den Zuschlagskriterien nicht umfasst, darf es in der Wertung nicht nachträglich berücksichtigt werden (siehe im Einzelnen unten bei „Oberschwellenbereich“). Eine nachträgliche Erweiterung des Kriterienkataloges wäre ein klarer Verstoß gegen das Transparenzgebot und ist unzulässig14. (b) Soweit hingegen die Zuschlagskriterien ermöglichen, die angebotene (Mehr-)Leistung in die Wertung einfließen zu lassen, kann der Bieter sich in der Wertung verbessern. (c) Steht dem Auftraggeber ein Spielraum zu, dem „Mehr an Leistung“ durch nachträgliche Gewichtung der Kriterien zusätzliches Gewicht einzuräumen? Anders als im Oberschwellenbereich ist im Unterschwellenbereich umstritten, ob der Auftraggeber innerhalb der Wertungskriterien die relative Gewichtung der Kriterien auch nachträglich festlegen kann, da der EuGH keinen Verstoß gegen den Transparenzgrundsatz sah, wenn der Auftraggeber die Gewichtung der Kriterien nicht vor der Vergabe verbindlich festlegt15. In einer neueren Entscheidung hat der EuGH jedoch klargestellt, dass eine nachträgliche Gewichtung der Unterkriterien nur dann zulässig ist, wenn (i) dies nicht zu einer Diskriminierung einzelner Bieter führt und (ii) die Gewichtung, wäre sie vorher bekannt gewesen, die Bieter nicht zur Anpassung ihres Angebots bewogen hätte16. Vor allem die zweite Voraussetzung dürfte künftig eine erst nachträgliche Festlegung von Kriterien, die zur verstärkten Gewichtung eines Nebenangebotes führen, weitgehend ausschließen. Die im Folgenden für den Oberschwellenbereich erläuterten weiteren Grenzen bei der Wertung eines solchen reinen Mehrangebotes gelten im Unterschwellenbereich ebenso. (2) Im Oberschwellen- und Sektorenbereich sind zugelassene Nebenangebote ebenso wie Hauptangebote zu werten (§ 25 Nr. 4 VOL/A). Sie

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13 Std. RSpr. des EuGH, vgl. nur EuGH, Urteil v. 20.10.2005, Rs. C-264/03, Slg. 2005-I, S. 8831 = ZfBR 2006, 69 – Kommission gg. Frankreich; einschränkend EuGH, Urteil v. 21.7.2005, Rs. C-231/03, Slg. 2005-I, S. 7287 – Coname. 14 Allg. M., vgl. nur Noch, in: Müller-Wrede, VOL/A, § 25 Rn. 296. 15 EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-470/99, VergabeR 2003, 141 – Universale Bau AG; zum Streitstand vgl. Kulartz/Marx, VOL/A, § 25 Rn. 212 ff. 16 EuGH, Urteil v. 24.11.2005, Rs. C-331/04 – ATI.

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„Mehrangebot“ bei der Vergabe von IT-Leistungen

können – soweit sie die sonstigen an Hauptangebote gestellten Bedingungen einhalten – nur ausgeschlossen werden, wenn die Voraussetzungen des § 25 Nr. 1 Abs. 2 lit. c) VOL/A vorliegen. Sie müssen allerdings ausgeschlossen werden, wenn die Ausschreibung keine Mindestanforderungen aufgestellt hat (§ 25a Nr. 3 VOL/A; § 25b Nr. 4 Abs. 2 VOL/A). (a) Der Oberschwellenbereich kennt eine – in der VOL/A nicht umgesetzte – Grenze für die Wertung von Nebenangeboten: Nach Art. 24 Abs. 3 VKR können „Varianten“ (nur) dann zugelassen werden, wenn nach dem Kriterium des „wirtschaftlichsten Angebots“ vergeben wird. Da die VKR nach Art. 53 Abs. 1 VKR auch die Vergabe allein nach dem „günstigsten Preis“ kennt, dürfen Nebenangebote nicht zugelassen oder gewertet werden, wenn allein nach dem günstigsten Preis vergeben wird17. Diese Regelung scheint insbesondere deshalb sinnvoll, weil ein Vergleich allein der Angebotspreise nur dann Sinn macht, wenn die Angebote inhaltsgleich sind. (b) Auch im Oberschwellenbereich stellt sich daneben die Frage, in welchem Umfang der Auftraggeber das „Mehr an Leistung“ eines Bieters zu dessen Gunsten werten darf. Denn nach § 25a Nr. 1 Abs. 2 VOL/A darf der Auftraggeber bei der Wertung nur die Kriterien berücksichtigen, die er in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen genannt hat: (i) Es ist zunächst zu prüfen, ob die zusätzlich angebotene Leistung überhaupt von den Zuschlagskriterien erfasst wird. Ist das nicht der Fall, ist das „Mehr“ im Angebot des Bieters für die Wertung irrelevant. In diesem Fall verbessert also die Mehrleistung die Position des Bieters in der Wertung nicht, sie ist „umsonst“. (ii) Soweit die Zuschlagskriterien ermöglichen, die angebotene (Mehr-) Leistung in die Wertung einfließen zu lassen, kann der Bieter sich in der Wertung verbessern. Ist z. B. „Rentabilität“ ein Zuschlagskriterium, so führt ein „Mehr an Leistung“, das das Preis-Leistungs-Verhältnis verbessert, zu einer Verbesserung der Wertung18. (iii) Auf zwei Grenzen bei der Wertung ist allerdings zu achten: Zum einen lässt der Auftraggeber bisweilen für ein Wertungskriterium nur eine bestimmte Spanne zu, innerhalb derer ein verbessertes Angebot zu

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17 Stolz, VergabeR 2008/Sonderheft 2a, 322, 334 f. 18 Vgl. z. B. OLG München v. 27.1.2006, Verg 1/06 – größere Arbeitsgeschwindigkeit und Kapazität eines medizinischen Gerätes.

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Anselm Brandi-Dohrn

einer Verbesserung der Wertung führt (z. B. wenn für ein Kriterium maximal eine bestimmte Punktzahl vergeben wird). Dann kann ein „Mehr an Leistung“ auch nur innerhalb dieser Spanne berücksichtigt werden und können nicht nachträglich „Sonderpunkte“ vergeben werden. Die Spanne wird gerade dann häufig verfehlt werden, wenn der Bieter eine (Mehr-)Leistung anbietet, mit der der Auftraggeber nicht gerechnet hatte (und die er daher in seiner Bewertungsmatrix auch nicht berücksichtigt hat). Zum anderen ist immer zu prüfen, ob für den Bieter nach der Gestaltung und Auswahl der Wertungskriterien erkennbar war, dass er mit einem bestimmten „Mehr an Leistung“ auch eine Verbesserung seiner Bewertung erreichen kann („Grundsatz der Transparenz“)19. Ist die Erkennbarkeit zu verneinen, sind nämlich die Bewertungskriterien nicht hinreichend bekannt gemacht im Sinne von § 25a Nr. 1 Abs. 2 VOL/A – dann darf das „Mehr an Leistung“ nicht gewertet werden.

4. Fall 3: Das reine Mehrangebot, wenn Nebenangebote nicht ausdrücklich zugelassen sind Die Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Zulassung von Nebenangeboten liegt darin, dass die VOL/A nur die Fälle der ausdrücklichen Zulassung bzw. der ausdrücklichen Nicht-Zulassung regelt (vgl. etwa § 17 Nr. 3 Abs. 5 Satz 1 1. Halbsatz VOL/A). Unklar ist daher, welche Rechtsfolge in den Fällen gilt, in denen sich der Auftraggeber gar nicht zur Zulässigkeit von Nebenangeboten äußert. (1) Im Unterschwellenbereich können Nebenangebote im Ergebnis auch dann gewertet werden, wenn sie nicht ausdrücklich zugelassen wurden: (a) Zwar soll der Auftraggeber gemäß § 17 Nr. 3 Abs. 5 Satz 1, 1. und 2. HS VOL/A angeben, ob Nebenangebote gewünscht, zugelassen oder ausgeschlossen sind bzw. ob Nebenangebote ohne die gleichzeitige Abgabe eines Hauptangebots „ausnahmsweise ausgeschlossen“ werden. Aus der Formulierung leiten Teile von Literatur und Rechtsprechung ab, dass der Auftraggeber in jedem Fall zu erklären habe, ob er Nebenangebote wünscht, ausdrücklich zulässt oder sie ausschließen will20

__________ 19 Kulartz/Marx, VOL/A, § 25 Rn. 164; OLG Brandenburg, ZfBR 2006, 503. 20 Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 61.

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„Mehrangebot“ bei der Vergabe von IT-Leistungen

bzw. dass er zumindest ausdrücklich angeben muss, wenn er Nebenangebote vom Wettbewerb ausschließen will21. Darüber hinaus gehen Teile von Literatur und Rechtsprechung – nicht zuletzt aufgrund der wettbewerbspolitisch positiven Wirkungen von Nebenangeboten – davon aus, dass die Zulassung von Nebenangeboten auch im Unterschwellenbereich einerseits der Regelfall ist, andererseits ein Ausschluss sowohl besonderer Gründe als auch besonderer Erwähnung bedarf22. Andere Stimmen gehen davon aus, dass der Auftraggeber im Hinblick auf die Frage, ob er überhaupt Nebenangebote zulässt, ausschließt oder wünscht, grundsätzlich frei entscheiden könne23. (b) Weitgehend Einigkeit herrscht dagegen bezüglich der Frage, ob Nebenangebote ohne die Abgabe eines Hauptangebots ausgeschlossen werden dürfen: Gemäß § 17 Nr. 3 Abs. 5 Satz 1 2. HS VOL/A geht die wohl herrschende Meinung davon aus, dies sei nur „ausnahmsweise“ zulässig. Dies führe dazu, dass der Bieter davon ausgehen könne, dass Nebenangebote auch ohne Hauptangebot zugelassen sind, wenn das Anschreiben hierzu keine Angaben macht24. (c) Letztlich wird dieser Meinungsstreit in vielen Fällen praktisch allerdings nicht relevant: Denn gemäß § 25 Nr. 4 S. 2 VOL/A können Nebenangebote auch dann „berücksichtigt“ werden, wenn sich der Auftraggeber nicht dazu geäußert hat, ob diese gewünscht oder ausdrücklich zugelassen sind, wenn sie also vom Bieter „aus eigener Initiative vorgelegt“ wurden25. Eine zwingende Rechtsfolge besteht danach lediglich für den Fall, dass die Nebenangebote gemäß § 17 Nr. 3 Abs. 5 VOL/A ausdrücklich aus-

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21 Schaller, VOL, 4. Aufl., § 25 Rn. 40. 22 Dazu Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 62 a. E.; OLG Schleswig, Beschluss v. 15.2.2005, 6 Verg 6/04. 23 Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 61 mit Verweis auf OLG Koblenz, Beschluss v. 5.9.2002, 1 Verg 2/02. 24 Kulartz/Marx, VOL/A, § 17 Rn. 61. 25 Schaller, VOL, 4. Aufl., § 25 Rn. 76, der dies aus der Wendung „sonstige Nebenangebote“ bei § 25 Nr. 4 Satz 2 VOL/A ableitet, die zu verstehen ist als „nicht ausdrücklich zugelassene und auch nicht ausdrücklich ausgeschlossene Nebenangebote“; ebenso die Erläuterungen des DVAL zur VOL/A 2006, § 25; Wagner/Steinkemper, NZBau 2004, 253, 254; siehe aber Noch, in: Müller-Wrede, VOL/A, § 25 Rn. 429, der – wohl versehentlich – ein Ermessen nur dann annimmt, wenn Nebenangebote ausdrücklich ausgeschlossen wurden, nicht aber schon dann, wenn sich der Auftraggeber hierzu nicht äußert.

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geschlossen wurden. In diesen Fällen ist das Nebenangebot nach § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. g) VOL/A zwingend von der Wertung ausgeschlossen. (2) Der oben beschriebenen Rechtslage für den Unterschwellenbereich steht im Oberschwellenbereich Artikel 24 VKR entgegen. Nach dessen Abs. 2 2. Halbsatz sind keine „Varianten zulässig“, wenn der öffentliche Auftraggeber in der Bekanntmachung keine „entsprechende“ Angabe dazu macht. Der 2. Abschnitt der VOL/A hat diese Bestimmung der Richtlinie nirgends exakt umgesetzt (auch § 9a Nr. 2 VOL/A sagt nichts zur Frage, ob Nebenangebote zugelassen sind). Angesichts des eindeutigen Wortlauts der Richtlinie ist der 2. Abschnitt der VOL/A allerdings richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass Nebenangebote nur gewertet werden dürfen, wenn sie zugelassen sind26. Unklar ist allerdings, ob die Zulassung eine „ausdrückliche“ sein muss oder ob auch eine „konkludente“ Zulassung genügen kann. Der Wortlaut der VKR gibt hierzu nichts vor. Gegen eine bloß konkludente Zulassung könnte der Grundsatz der Transparenz des Vergabeverfahrens sprechen, weil nicht hinreichend deutlich wird, ob Nebenangebote zugelassen sind27. Zwingend ist diese Interpretation nicht – denn ob eine konkludente Zulassung vorliegt, bestimmt sich nach dem objektiven Empfängerhorizont. Muss der objektivierte Bieter die Ausschreibung in einem bestimmten Sinn verstehen, dann enthält die Ausschreibung die notwendigen Angaben und ist nicht intransparent. Eine konkludente Zulassung kann beispielsweise darin liegen, dass der Auftraggeber Mindestanforderungen an Nebenangebote formuliert, ohne zugleich ausdrücklich zu erklären, Nebenangebote seien „zulässig“. Für eine Zulassung spräche dann insbesondere § 9a Nr. 2 VOL/A, wonach „Mindestanforderungen“ dann (und nur dann) zu formulieren sind, wenn Nebenangebote zugelassen sind. (3) Gemäß § 25b Nr. 4 Abs. 1 VOL/A sind Nebenangebote im Sektorenbereich zu werten, es sei denn, sie sind „in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen nicht zugelassen“ worden. Zwar schließt der Wortlaut dieser Bestimmung eine Wertung von Nebenangeboten, die in den Vergabeunterlagen nicht explizit zugelassen sind, nicht kategorisch aus, jedoch ordnet auch für den Sektorenbereich die einschlägige Richtlinie an, der Auftraggeber müsse angeben, „ob Varianten“ zugelassen seien (vgl. Art. 36 Abs. 1 Satz 2 SKR). Vieles spricht

__________ 26 Ebenso: Kulartz/Marx, VOL/A, § 25 Rn. 36. 27 Ähnlich wohl Gnittke/Hattig, in: Müller-Wrede, VOL/A, § 9a Rn. 44.

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daher dafür, im Sektorenbereich von der gleichen Rechtslage wie im Oberschwellenbereich auszugehen.

5. Fall 4: Darf der Auftraggeber zum Angebot bestimmter zusätzlicher Mehrleistungen auffordern? Eine solche Ausschreibung wäre – mit den nachfolgenden Einschränkungen – grundsätzlich unbedenklich. Rechtlich handelt es sich beim Anbieten der geforderten Mehrleistung allerdings nicht um ein Nebenangebot, da das Gebot sich im Rahmen der Ausschreibung hält. Vielmehr sind solche Mehrleistungen zu qualifizieren als – Wahl- (oder Alternativ-)positionen (der Auftraggeber behält sich vor, die eine Position durch die andere zu ersetzen) (so ausdrücklich § 9 Nr. 1 Satz 2 VOB/A) oder – Bedarfs- (oder Eventual-)positionen (der Auftraggeber behält sich vor, die Position zusätzlich abzurufen). Beide Formen der Leistungsbeschreibung sind zulässig. Nach der Rechtsprechung sind dem Auftraggeber jedoch Grenzen bei der Ausschreibung von Alternativ- und von Eventualpositionen gezogen: (1) Alternativpositionen beeinträchtigen die Eindeutigkeit der Leistungsbeschreibung (§ 8 Nr. 1 Abs. 1 VOL/A) und zugleich die Transparenz des Vergabeverfahrens (§ 97 Abs. 1 GWB)28. Dass es sich nur um „verhältnismäßig geringfügige Teile“ der Gesamtleistung handelt, führt für sich nicht schon zur Zulässigkeit einer Alternativposition29, umgekehrt ist aber bei Wünschen nach umfangreicheren Alternativpositionen eine besonders kritische Prüfung angebracht. Insbesondere muss ein berechtigtes Interesse des Auftraggebers bestehen, die Leistung in diesem Punkt einstweilen offen zu halten; daneben muss sich die Ausschreibung um ein Maximum an Transparenz bemühen und Manipulationen vorbeugen. Alternativpositionen sind z. B. zulässig, wenn dem Auftraggeber nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen, sodass er noch nicht weiß, ob er sich die primär gewünschte Position überhaupt leisten kann. Hierauf hat er dann aber in den Verdingungsunterlagen

__________ 28 OLG München v. 27.1.2006, Verg 01/06; OLG Düsseldorf v. 24.3.2004, VIIVerg 7/04, ZfBR 2004, 604 ff. = VergabeR 2004, 517 ff. 29 OLG Düsseldorf v. 24.3.2004, VII-Verg 7/04, ZfBR 2004, 604; bestimmte Prozentsätze sind jedenfalls ungeeignet, die Berechtigung von Wahlpositionen zu bestimmen, Kulartz/Marx, VOL/A, § 8 Rn. 59, gegen VK Lüneburg v. 3.2.2004, 203-VgK-41/2003.

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hinzuweisen, ebenso auf die Rangordnung, in der die Alternativpositionen von ihm bevorzugt werden30. (2) Noch strenger ist die Ausschreibung von Eventualpositionen zu beurteilen. Die Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der Leistungsbeschreibung wiegen hier wirtschaftlich schwerer, da (i) die tatsächlichen Voraussetzungen ihrer Ausführung noch nicht feststehen und (ii) der Bieter zusätzliche Kapazitäten vorhalten muss, da er damit rechnen muss, auch mit der Mehrleistung beauftragt zu werden. Das erschwert dem Bieter entgegen § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A das Kalkulieren des Angebotes und dem Auftraggeber den Vergleich der Angebote. Daher sind optionale Positionen nur zulässig, wenn der Auftraggeber sich hinreichend um Aufklärung über seinen Bedarf bemüht hat und Gründe vorliegen, die eine Aufnahme der Position als zwingend notwendig erscheinen lassen. Außerdem muss der Auftraggeber auch ernsthaft die Beauftragung der Eventualpositionen beabsichtigen, da ansonsten die Grenze zur bloßen Markterkundung schnell überschritten ist31. Zuletzt sollen solche Positionen immer nur einen „untergeordneten Anteil“ ausmachen dürfen, wobei verbreitet auf max. 10 % des geschätzten Auftragsvolumens abgestellt wird32. Ist eine Eventualposition zulässig, so muss sie bei der Wertung berücksichtigt werden33 – sie ist, da gefordert, Teil des Hauptangebotes.

6. Fall 5: Darf der Auftraggeber zum Angebot unbestimmter Mehrleistungen auffordern? Während in Fall 4 der Auftraggeber bestimmte zusätzliche Leistungen fordert, kommt es ebenso vor, dass Auftraggeber lediglich sehen wollen, welche Mehrleistungen freiwillig geleistet werden, ohne aber den Bieter in seiner „Freigebigkeit“ durch Vorgaben einschränken zu wollen. Eine Ausschreibung solcher unbestimmter Zusatzleistungen ist unzulässig: Es fehlt insoweit sowohl an der Ausschreibungsreife (§ 16 Nr. 1 VOL/A) als auch an der hinreichenden Transparenz der Leistung, da für die Wettbewerber nicht im Ansatz ersichtlich ist, mit was für Angeboten ihrer Wettbewerber sie zu rechnen haben.

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30 OLG Düsseldorf v. 24.3.2004, VII-Verg 7/04, ZfBR 2004, 604; unklar OLG München v. 27.1.2006, Verg 1/06. 31 So zu Recht Kulartz/Marx, VOL/A, § 8 Rn. 51. 32 VK Stuttgart v. 20.3.2002, 1 VK 4/02; Kulartz/Marx, VOL/A, § 8 Rn. 53 m. w. N. 33 VK Nordbayern v. 4.10.2005, 320.VK-3194-30/05; VK Schleswig-Holstein v. 3.11.2004, VK-SH 28/04; Kulartz/Marx, VOL/A, § 8 Rn. 54.

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I. Die acht Gebote des Datenschutzes und ihre Umsetzung – ein Beitrag zum Verständnis von § 9 BDSG Holger Zuck*

„Über § 9 BDSG 2001 i.V.m. dessen Anlage werden im Interesse des Betroffenen Schutzmaßnahmen gefordert, die der Betrieb nicht unmittelbar im eigenen, sondern im Interesse seiner Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten sowie Interessenten vorzunehmen hat. In der Ausführung können sich die Maßnahmen hierzu, wenn es um die Vertraulichkeit von Daten geht oder darum, den Nachweis, wer wann mit welchen Daten gearbeitet hat usw., mit den Maßnahmen decken und ergänzen, die das Unternehmen im eigenen Interesse durchführt.“ Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Auflage 2003, B Rz. 487 Gemäß § 9 BDSG haben „öffentliche und nicht öffentliche Stellen, die selbst oder im Auftrag personenbezogene Daten erheben, verarbeiten oder nutzen, […] die technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um die Ausführung der Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere die in der Anlage zu diesem Gesetz genannten Anforderungen, zu gewährleisten. Erforderlich sind Maßnahmen nur, wenn ihr Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck steht.“ Es ist Schneiders Verdienst, früh erkannt zu haben, dass § 9 BDSG nicht nur die Datensicherung, sondern vielmehr den Datenschutz insgesamt zum Ziel hat. Die Vorschrift ist nicht unbedeutend. Sie steht im Abschnitt allgemeine und gemeinsame Bestimmungen des BDSG, und beansprucht Geltung gleichermaßen für den innerbetrieblichen datengeschützten Bereich wie das Außenverhältnis zu Dritten (z. B. Betroffene, Auftragsdatenverarbeiter oder Externe, die im Bereich der Hardwarewartung oder Softwarepflege in einem Betrieb tätig werden). § 9 BDSG liest sich leicht, und man meint, ihn auch sofort verstanden zu haben. Großes Problempotenzial birgt er auf den ersten Blick nicht. Die Umsetzung dieser Bestimmung in Vertragsmustern z. B. zur Auf-

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* Professor Dr. Holger Zuck ist Rechtsanwalt in der Anwaltskanzlei Zuck in Stuttgart.

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Holger Zuck

tragsverarbeitung oder Systemfernwartung liest sich dementsprechend häufig wie folgt: „§ xy Datenschutz Der Auftragnehmer hat die technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um die Ausführung der Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes zu gewährleisten.“ Eine ebenso geläufige Variante dieser Klausel berücksichtigt zusätzlich, dass § 9 BDSG auf die Anlage zum BDSG verweist. Dann wird (je nach den Umständen des Einzelfalles mit Auslassungen) in einem Folgesatz an das Wort „Insbesondere“ anschließend der Inhalt der Anlage zum BDSG wiedergegeben. Das erscheint auf den ersten Blick stimmig, weil die acht Gebote des Datenschutzes vertraglich inkorporiert sind. Die der Anlage zum BDSG entlehnte Generalklausel („insbesondere“) sollte Regelungsdefizite eigentlich ausschließen. Tatsächlich sind Regelungen wie diese jedoch unzureichend:

1. Anforderungen an die Regelungsdichte bei Maßnahmen nach § 9 BDSG Die von § 9 BDSG vorgegebene Aufgabe ist der technische und organisatorische Schutz von personenbezogenen Daten. Vertragliche Regelungen wie die vorgestellte überlassen es jedoch dem Vertragspartner, zu beurteilen und zu ermessen, welche technischen und organisatorischen Maßnahmen er trifft, um den besonderen Anforderungen des Datenschutzes gerecht zu werden. Diesbezügliche Handlungsspielräume verstecken sich in den zahllosen unbestimmten Rechtsbegriffen in § 9 BDSG und seiner Anlage, also z. B. „Maßnahmen“, „erforderlich“, „besondere Anforderungen des Datenschutzes“, „geeignet sein“, „verwehren“ oder „gewährleisten“. Die Vertragsmusterklausel regelt in Wahrheit also gar nichts. Sie überlässt technische und organisatorische Maßnahmen zum Datenschutz einem Dritten nach mehr oder weniger freiem Ermessen und innerhalb eines denkbar weiten Beurteilungsspielraums. § 9 BDSG steht einer Delegation von Maßnahmen grundsätzlich zwar nicht entgegen. Die Delegation ändert aber nichts daran, dass Datenherr der ursprünglich und eigentlich Verpflichtete bleibt. Den Anforderungen des § 9 BDSG wird der Datenherr daher nur dann gerecht, wenn er selbst Maßnahmen trifft, und zwar getreu dem Wortlaut in technischer und in organisatorischer Hinsicht, dies im Hinblick auf mindestens die acht Gebote des Datenschutzes gemäß der 146

Die acht Gebote des Datenschutzes und ihre Umsetzung

Anlage zum BDSG, und diese dann auf seinen Vertragspartner überträgt. Die oben dargestellte Vertragsmusterklausel unterscheidet noch nicht einmal zwischen Technik und Organisation. Das wird dem Gesetz somit nicht gerecht. Stattdessen müssen bei der Umsetzung von § 9 BDSG folgende fünf grundlegenden Gesichtspunkte berücksichtigt werden: a) Bei den Maßnahmen nach § 9 BDSG muss zwischen technischem und organisatorischem Datenschutz unterschieden werden. Ersteres – Technik – beschreibt die Hardware (im weitesten Sinne). Zweiteres – Soft- und Skillware – beschreibt Aufbau- und Ablauforganisation des Datenschutzes. b) Es müssen konkrete Regelungen in Bezug auf mindestens die acht in der Anlage zum BDSG genannten Bereiche getroffen werden, also Zutrittskontrolle, Zugangskontrolle, Zugriffskontrolle, Weitergabekontrolle, Eingabekontrolle, Auftragskontrolle, Verfügbarkeitskontrolle und Trennungskontrolle. Wegen des Wortes „insbesondere“ in Anlage 1 Satz 2 zu § 9 BDSG muss diese Auflistung je nach den Umständen des Einzelfalles auch erweitert werden. Dies kommt z. B. in Betracht, wenn Rechte Betroffener (nach §§ 33 ff. BDSG Benachrichtigung, Auskunft, Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten) besonders geregelt werden müssen oder sichergestellt werden muss, dass der Auftragsverarbeiter seinen besonderen datenschutzrechtlichen Meldepflichten nachkommt, die in §§ 4d und 4e BDSG geregelt sind. c) Da die Anlage 1 zum BDSG von unbestimmten Rechtbegriffen nur so wimmelt, müssen die im Einzelnen zu treffenden Maßnahmen außerdem konkretisiert werden, um den besonderen Anforderungen des Datenschutzes gerecht zu werden. Das geht, wenn es vollständig gemacht wird, sehr in die Tiefe. Was für § 9 BDSG und die Anlage zum BDSG geschuldet wird, läuft also letztlich mindestens auf ein Pflichtenheft ähnlich wie bei der Softwareerstellung hinaus. Besser ist – jedenfalls im eigentlichen Stadium der Vertragsverhandlungen – ein Lastenheft, welches alle Eigenschaften der technischen und organisatorischen Maßnahmen beschreibt und verbindlicher Vertragsinhalt wird. Das IT-Grundschutzbuch des Bundesamts für die Sicherheit in der Informationsverarbeitung weist bei den technischen und organisatorischen Maßnahmen mehr als 250 Gefahrenpotenziale aus. Diese müssen bei der Erarbeitung des Lastenhefts auf ihre Relevanz geprüft, und erforderlichenfalls in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden1.

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1 S. dazu näher Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl. 2003, B Rz. 511.

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Holger Zuck

d) Der jeweilige Wortbestandteil „Kontrolle“ in der Maßnahmenliste der Anlage zum BDSG (vgl. auch § 11 Abs. 2 Satz 4 BDSG) macht deutlich, dass eine bloße Beschreibung der jeweils zu treffenden technischen oder organisatorischen Maßnahmen nicht ausreicht. Derjenige, der die technischen und organisatorischen Maßnahmen zum Datenschutz vorgibt, bleibt Datenherr. Delegiert werden können zwar die Maßnahmen. Die Verantwortung bleibt aber bei der abgebenden Stelle, die nach der Anlage zum BDSG zur Kontrolle verpflichtet ist. Eine effiziente Kontrolle ist nur möglich, wenn die Umsetzung der Maßnahmen in geeigneter Weise dokumentiert wird, und der Datenherr nicht nur die Möglichkeit hat, diese Dokumentation zu überprüfen, sondern diese Überprüfung in wiederkehrenden Abständen auch tatsächlich vornimmt. Kontrolle i. S. v. § 9 BDSG i. V. m. der Anlage zum BDSG ist daher stets auch Selbstunterwerfung für den Datenherrn. e) Taugliche Maßnahmen sind nur solche, deren Nichtbeachtung sanktionsbewehrt ist. Also muss die Nichteinhaltung sämtlicher technischer und organisatorischer Maßnahmen sanktioniert sein und müssen die Strafen empfindlich sein, um zur Einhaltung der Regelungen zu motivieren. Das geht bis hin zu Vertragsstrafen und zur fristlosen Vertragsbeendigung.

2. § 9 BDSG und das datenschutzrechtliche Verbot mit Erlaubnisvorbehalt § 4 Abs. 1 BDSG postuliert für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Auch Regelungen zu § 9 BDSG haben somit die Aufgabe, eigentlich Verbotenes erlaubt zu machen. Die eingangs vorgestellte Musterklausel wird dem jedoch nicht gerecht. Sie regelt in Wahrheit gar nichts. Mängel bei der Regelung der technischen und organisatorischen Maßnahmen können aber auf § 4 BDSG durchschlagen. Die betreffende Datenverarbeitung ist dann im Zweifel nach § 4 BDSG verboten. Es ist daher auch unter dem Gesichtspunkt des § 4 BDSG ein Gebot der Vernunft, konkrete technische und organisatorische Maßnahmen zu treffen, welche einen wirksamen Datenschutz im umfassenden Sinne gewährleisten. Ein Pflichten- oder Lastenheft zu § 9 BDSG nebst dessen Anlage kann sich hierbei als rettende Insel der Vernunft erweisen.

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II. Einbindung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten in eine Compliance-Organisation Jürgen Taeger*

„Licht und Schatten der Computeranwendung liegen beim Computereinsatz eng zusammen.“ Hansjörg Geiger/Jochen Schneider1 Bereits das erste Bundesdatenschutzgesetz von 1977 kannte die Verpflichtung datenverarbeitender Stellen, einen Datenschutzbeauftragten zu benennen. Der Gedanke, neben die Fremdkontrolle durch die externe Datenschutzaufsicht mit dem behördlichen beziehungsweise betrieblichen Datenschutzbeauftragten ein Instrument der Selbstkontrolle im Datenschutzrecht zu implementieren, gehört zu den essentialia des Datenschutzes. Auch Jochen Schneider unterstützte sehr weitsichtig schon 1975 die Forderung, „die Einhaltung des Datenschutzes und der Gesetzmäßigkeit des Computereinsatzes überhaupt zu überwachen“ und mit dieser Aufgabe interne Datenschutzbeauftragte zu betrauen.2 Als „Baustein deutscher Provenienz“3 fand die gesetzlich verpflichtende Selbstkontrolle als komplementäres Instrument zur unabhängigen Fremdkontrolle Eingang in die EG-Datenschutzrichtlinie (DSRl) von 1995.4 Neben dem auch der EG-DSRl immanenten Prinzip des Verbots der Datenverarbeitung mit Erlaubnisvorbehalt ist die Möglichkeit, die Bestellung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten zu einer Gesetzespflicht auszugestalten, als eine „Insel der Vernunft“ innerhalb der Richtlinie anzusehen. Zwar ist der Datenschutzbeauftragte nur als Substitut zur Meldepflicht vorgesehen; das hielt den deutschen Gesetzgeber nicht davon ab, an der Position des betrieblichen bzw. behördlichen Datenschutzbeauftragten als einer weisungsunabhängigen und

__________ * Prof. Dr. Jürgen Taeger, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 1 Geiger/Schneider, Der Umgang mit Computern, München 1975, S. 206. 2 Geiger/Schneider, Der Umgang mit Computern – Möglichkeiten und Probleme ihres Einsatzes, München 1975, S. 171. 3 Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 4f Rn. 3. 4 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10. 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. EG Nr. L 281 vom 23.11.1995, S. 31.

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Jürgen Taeger

vor Benachteiligung geschützten Person innerhalb der verantwortlichen Stelle festzuhalten. Auch das Gesetz zum Bürokratieabbau konnte die Pflicht zur Bestellung nur unwesentlich beschneiden.5 Gleichwohl: Mittelständische Unternehmen kommen der sich heute aus § 4f Abs. 1 BDSG ergebenden Pflicht zur Bestellung häufig nicht oder nur formal durch die Bestellung eines Mitarbeiters zum Datenschutzbeauftragten im Nebenamt – und mit häufig geringer Fachkunde – nach. Zahlreiche Freiberufler einschließlich der Rechtsanwälte glauben gar, berufsständische Verschwiegenheitspflichten würden als lex specialis das BDSG und damit auch die Pflicht zur Bestellung eines Datenschutzbeauftragten verdrängen. Darauf, dass diese Ansicht unzutreffend ist und dass die Verschwiegenheitspflicht neben dem BDSG zu beachten ist und bereichsspezifische Datenschutzvorschriften das allgemeine Datenschutzrecht nur so weit verdrängen, als etwas Abweichendes geregelt ist, wies Jochen Schneider mehrfach hin.6 Erst in letzter Zeit erfahren die Datenschutzbeauftragten im Unternehmen eine Stärkung durch die aufkommende Diskussion über Compliance und insbesondere IT-Compliance7 im Unternehmen. Ursache dafür ist die Androhung der persönlichen Haftung etwa durch § 93 Abs. 2 AktG, wonach Vorstandsmitglieder als Gesamtschuldner der Gesellschaft zum Ersatz desjenigen Schadens verpflichtet sind, der aus einer Pflichtverletzung resultiert.8 Das schließt die Verletzung der Pflicht aus § 91 Abs. 2 AktG zur Errichtung eines Risikomanagementsystems ein. Die Organvertreter von Kapitalgesellschaften handeln danach auch pflichtwidrig, wenn sie nicht im erforderlichen Maße für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen, zu denen auch die Datenschutzvorschriften gehören, sorgen. Insofern wird als Reflex auf die

__________ 5 Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft vom 22.8.2006 (BGBl. I S. 1970). Ein Datenschutzbeauftragter ist nach Art. 1 nunmehr nur zu bestellen, wenn mehr als 9 (statt bisher 4) Arbeitnehmer mit der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten beschäftigt sind. 6 Schneider, Datenschutz und Beauftragte für den Datenschutz in der Anwaltskanzlei, AnwBl 2004, S. 618; ders., Datenschutz – eine vom Anwalt verkannte Materie, AnwBl 2004, S. 342. Allerdings ist die Übernahme der Funktion eines bDSB nicht nur Rechtsanwälten vorbehalten, vgl. dens., Die EG-Richtlinie zum Datenschutz, CR 1993, S. 35 (38). 7 Dazu ausführlich Taeger/Rath (Hrsg.), IT-Compliance, Edewecht 2007, Lensdorrf/Steger, IT-Compliance im Unternehmen, in: Taeger/Wiebe (Hrsg.): Aktuelle Rechtsfragen zu IT und Internet, Edewecht 2006, S. 167–181. 8 Hauschka, Corporate Compliance – Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen, München 2007.

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Einbindung des bDSB in eine Compliance-Organisation

neuen Compliance-Anforderungen auch dem Datenschutzbeauftragten und seinen Bemühungen um einen rechtskonformen Umgang mit personenbezogenen Daten (noch) mehr Aufmerksamkeit als früher geschenkt. Es stellt sich die Frage, ob der betriebliche Datenschutzbeauftragte nicht zugleich zum Compliance-Beauftragten oder zum Mitglied im Compliance-Ausschuss berufen werden kann.

1. Compliance im deutschen Recht Der Deutsche Corporate Governance Kodex führte den Begriff ‚Compliance’ erstmals in der Fassung vom Juli 2007 ein.9 Nach seiner Ziffer 4.1.3 wird unter Compliance die Pflicht des Vorstands gesehen, für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinzuwirken. Der aus dem Amerikanischen kommende Begriff ist im deutschen Recht zunächst insofern angekommen, als § 161 AktG den Vorstand verpflichtet, über die Einhaltung des Corporate Governance Kodex eine Entsprechenserklärung (compliance statement) abzugeben. Gemäß § 161 AktG ist die Beachtung des Kodex zumindest für die börsennotierten Aktiengesellschaften eine Rechtspflicht geworden – allen anderen Kapitalgesellschaften wird die Beachtung des Deutschen Corporate Governance Kodex empfohlen. Über die Vorschrift des § 161 AktG hinaus sind die Empfehlungen des Kodex als fixierte Leitsätze einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung zu betrachten. Die Vorschrift steht im Kontext der vielfältigen Änderungen des Aktienrechts zur Verbesserung der Corporate Governance. Dazu gehört § 91 Abs. 2 AktG,10 wonach Vorstände von Aktiengesellschaften geeignete Maßnahmen zu treffen und insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten haben, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen frühzeitig erkannt werden. Zwar besteht noch keine Einigkeit im Detail über Funktion und Bedeutung des der Erkennung von den Fortbestand der Gesellschaft gefährdenden Entwicklungen dienenden und deshalb einzurichtenden Überwachungssystems. Während die betriebswirtschaftliche und prüfungsnahe Literatur in der neuen Regelung nunmehr die Verpflichtung gesetzlich normiert sieht, ein von der BWL gefordertes umfassendes

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9 Letzte Fassung jeweils unter http://www.corporate-governance-code.de/ger/ kodex/index.html. 10 Eingefügt durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998 (BGBl. I S. 795).

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Risikomanagementsystem zur Identifikation, Analyse, Bewertung, Dokumentation, Steuerung und Bewältigung von Risiken zu etablieren, sieht ein Teil der rechtswissenschaftlichen Literatur diese Forderung als „Aktionismus der Betriebswirte und Wirtschaftsprüfer“ und begrenzt die § 91 Abs. 2 AktG auf eine aus der Leitungsfunktion des Vorstands abzuleitende Organisationspflicht, die der Ermessensentscheidung der Unternehmensführung unterliegt.11 Unbestreitbar ist der Normadressat jedenfalls gehalten, ein Risikoüberwachungssystem zu implementieren, das beispielsweise risikobehaftete Geschäfte, fehlerhafte Rechnungslegung und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die sich negativ auf die Finanz- und Ertragslage des Unternehmens auswirken könnten, erkennbar macht.12 Wesentlich detaillierter sind die speziellen Regelungen für Versicherungsunternehmen in § 64 VAG, wonach diese über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen müssen, die die Einhaltung der von ihnen zu beachtenden Gesetze und Verordnungen sowie der aufsichtsbehördlichen Anforderungen gewährleistet. Erwartet wird auch ein umfassendes Risikomanagement, das einerseits die Entwicklung einer auf die Steuerung des Unternehmens abgestimmten Risikostrategie, die Art, Umfang und Zeithorizont des betriebenen Geschäfts und der mit ihm verbundenen Risiken berücksichtigt, andererseits aber auch aufbau- und ablauforganisatorische Regelungen umfasst, die die Überwachung und Kontrolle der wesentlichen Abläufe und ihre Anpassung an veränderte allgemeine Bedingungen sicherstellen müssen. Weiter ist die Einrichtung eines geeigneten internen Steuerungs- und Kontrollsystems erforderlich, dessen Elemente das Gesetz genau beschreibt.

__________ 11 Vgl. zu der Kontroverse Taeger, Gesellschaftsrechtliche Anforderungen an Risikomanagementsysteme, in: Freidank/Müller/Wulf (Hrsg.), Controlling und Rechnungslegung, Wiesbaden 2008, S. 207–225. Siehe auch LachnitMüller, Unternehmenscontrolling, 2006, S. 203 (206). Vogler/Engelhardt/ Gundert, DB 2000, S. 1425, sprechen im Zusammenhang mit den unklaren Anforderungen von einem „Normvakuum“. 12 Für an der SEC notierte Unternehmen ist zudem der Sarbanes-Oxley-Act (SOX) zu beachten, der ebenso wie der sog. Euro-SOX (Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2006/43/EG über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen …, ABl. EG Nr. L 157 v. 9.6.2006 S. 87) von einer Compliance-Organisation (Qualified Legal Compliance Committee) im Unternehmen ausgeht (Überwachung des internen Kontrollsystems, des internen Revisionssystems und des Risikomanagements). Siehe zur Compilance-Organisation und zum Verhältnis von Compilance und Risikomanagement Wendel, CCZ 2008, S. 41, und Bürkle, CCZ 2008, S. 50.

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Kreditinstitute müssen nach § 25a KWG über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen, die die Einhaltung der vom Institut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen und der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten gewährleistet. Eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation umfasst nach § 25a Abs. 1 S. 3 KWG insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement, das den in der Norm genau beschriebenen Anforderungen zu genügen hat. § 25a KWG wird aufsichtsrechtlich durch die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRISK) ergänzt, die die qualitativen Anforderungen der Säule 2 von Basel II in nationales Recht umsetzen. Ähnliche Regelungen zeichnen sich bei den Versicherungen aufgrund von Solvency II ab 2012 ab; wesentliche Regelungen sind gesetzlich mit §§ 64a, 55c VAG zum 1.1.2008 vorweggenommen worden. Ganz allgemein gilt also, dass der Vorstand in der Innenrevision ein Überwachungssystem so installieren muss, dass er durch ein ständiges Controlling prüfen kann, ob die eingeleiteten Maßnahmen auch beachtet werden. Die Ergebnisse sind kontinuierlich an ihn zu berichten.13 Nach der Früherkennung eines Risikos auf der ersten Stufe muss demnach in einer zweiten Stufe die Überwachung der eingeleiteten Maßnahmen folgen.14 Die Einrichtung eines solchen Risikomanagementsystems ist zu dokumentieren; in der unterbliebenen Dokumentation des Risikofrüherkennungssystems liegt ein schwerer Rechtsverstoß.15 Über die Einrichtung eines derartigen umfassendes Risikoüberwachungssystems als Bestandteil des Internen Kontrollsystem nach § 76 Abs. 1 AktG hat bei börsennotierten Aktiengesellschaften der Wirtschaftsprüfer gem. §§ 317 Abs. 4, 321 Abs. 4 HGB im Prüfbericht zu bestätigen, dass der Vorstand die Maßnahmen nach § 91 Abs. 2 AktG getroffen hat und das Überwachungssystem seine Aufgabe erfüllt.16

2. Relevanz für den Mittelstand Der Deutsche Corporate Governance Kodex zielt auf die börsennotierten Aktiengesellschaften. Auch die Rechtsetzungsakte zur Corporate

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13 Ausführlich dazu auch Bihr/Kalinowsky, DStR 2008, S. 620. 14 LG Berlin, AG 2002, 682 (Kündigung des Vorstands einer Hypothekenbank). Siehe auch VerwG Frankfurt/M. VersR 2005, 57. 15 Siehe dazu LG München I BB 2007, 2170. Versicherungsunternehmen haben nach § 55c VAG einen Risikobericht auch der Aufsichtsbehörde vorzulegen. 16 Siehe Lachnit/Müller, Risikomanagementsystem nach KonTraG und Prüfung des Systems durch den Wirtschaftsprüfer, in: Freidank (Hrsg.): Die deutsche Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung im Umbruch. FS für Strobel, München 2001, S. 363–393.

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Governance der letzten Jahre konzentrierten sich auf die Aktiengesellschaft. Gleichwohl ist nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass die Vorschriften über die Verantwortlichkeit der Organmitglieder einer Aktiengesellschaft auch die Geschäftsführung der GmbH treffen.17 Der Gesetzgeber hat in der amtlichen Gesetzesbegründung zum KonTraG zwar darauf hingewiesen, dass die Vorstandspflicht, ein Überwachungssystem einzurichten, ebenso wenig im GmbHG kodifiziert werden solle wie die Business Judgment Rule, dass die Vorschriften aus § 91 AktG über die Vorstandsverantwortung aber eine Ausstrahlungswirkung auch auf andere Kapitalgesellschaften hätten und die Neuregelungen in § 93 AktG auch auf den Pflichtenrahmen der Geschäftsführer ausstrahlen.18 Die Geschäftsführer einer GmbH treffen die vorgenannten Pflichten auf Grundlage des § 43 Abs. 1 GmbHG, wonach sie in Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden haben, jedenfalls dann, wenn die GmbH nach ihrer Größe, Struktur und Komplexität einer Aktiengesellschaft entspricht. Das wird insbesondere dann gelten, wenn die GmbH den Kapitalmarkt in Anspruch nimmt. Die GmbH-Geschäftsführung ist in diesem Fall also aus § 43 Abs. 1 GmbHG verpflichtet, in Angelegenheiten der Gesellschaft die § 91 Abs. 2 AktG entsprechende Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden.19 Als wünschenswert wird angesehen, dass die Geschäftsführung einer mit einer Aktiengesellschaft in Größe und Struktur vergleichbaren GmbH eine Entsprechenserklärung analog § 161 AktG abgibt. Der Gesetzgeber hat in unternehmerischen Tätigkeiten von Finanzdienstleistungsunternehmen besondere Risiken identifiziert und deshalb spezielle Vorschriften zur Risikoerkennung und -steuerung verabschiedet. Betroffen sind das Kreditwesengesetz (KWG),20 das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG)21 und die Wertpapierdienstleistungs-Verhaltens- und Organisationsverordnung (WpDVerOV).22 Das Kreditwesengesetz gilt über Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute hinaus nicht unmittelbar für Versicherungsunternehmen; jedoch hat das Verwaltungsgericht Frankfurt/M. in einer Entscheidung darauf hin-

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17 Damken, Corporate Governance in mittelständischen Kapitalgesellschaften, Edewecht 2007. 18 Siehe die Gesetzesbegründung zum KonTraG, BT-Drs. 13/9712, S. 15. 19 OLG Oldenburg BB 2007, 6: vor einem Unternehmenskauf durch den GmbH-Geschäftsführer ist eine Due Diligence durchzuführen. Zur Vorstandspflicht einer Genossenschaft BGH ZIP 2007, 322. 20 Zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.2007 (BGBl. I S. 3089). 21 Zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.2007 (BGBl. I S. 3198). 22 Zuletzt geändert durch Verordnung vom 21.11.2007 (BGBl. I S. 2602).

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gewiesen, dass die hier interessierenden Vorschriften über das Risikomanagement aufgrund der Gesamtintention des Gesetzgebers auch auf Versicherungsunternehmen anzuwenden sind, für die im Übrigen der erwähnte § 64a VAG einschlägig ist.23 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach § 130 Abs. 1 OWiG der Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens ordnungswidrig handelt, der vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um im Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen.

3. Datenschutzbeauftragte in der Compliance-Organisation Adressat der gesellschaftsrechtlichen Verpflichtung zur Implementierung eines Risikoüberwachungssystems und zur Hinwirkung auf eine Einhaltung der Gesetze ist der Vorstand.24 Selbst bei Übertragung an ein Mitglied des Leitungsorgans und bei der Delegierung von Aufgaben an Mitarbeiter (übertragene Verantwortung) bleibt die Gesamtverantwortung des Vorstands bestehen. Allerdings geht der Gesetzgeber – im KWG explizt – davon aus, dass eine Compliance-Abteilung Aufgaben in abgeleiteter Verantwortung wahrnimmt, wobei die Geschäftsleitung primär verantwortlich bleibt und – was hier von Bedeutung ist – weisungsbefugt ist. § 33 WpHG konkretisiert die Organisationspflichten dahingehend, dass ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen die organisatorischen Pflichten nach § 25a Abs. 1 und 4 KWG einzuhalten hat. Darüber hinaus muss sie angemessene Grundsätze aufstellen, Mittel vorhalten und Verfahren einrichten, die sicherstellen, dass das Wertpapierdienstleistungsunternehmen selbst und seine Mitarbeiter den Verpflichtungen dieses Gesetzes nachkommen, wobei insbesondere eine dauerhafte und wirksame – wörtlich: – Compliance-Funktion einzurichten ist, die ihre Aufgaben unabhängig wahrnehmen kann. Erstmals in einem deutschen Gesetz wird der Compliance-Beauftragte

__________ 23 VerwG Frankfurt/M. VersR 2005, 57. 24 U. H. Schneider, Compliance als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZIP 2003, S. 645–650; Huth, Die Vorstandspflicht zur Risikoüberwachung, Baden-Baden 2007; ders., Grundsätze ordnungsgemäßer Risikoüberwachung, BB 2007, S. 2167–2170.

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wörtlich in § 12 WpDVerOV erwähnt. Nach Abs. 4 muss das Wertpapierdienstleistungsunternehmen einen ‚Compliance-Beauftragten’ benennen, der für die Compliance-Funktion sowie die Berichte an die Geschäftsleitung und das Aufsichtsorgan nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG verantwortlich ist. Erwartet wird nach Satz 2, dass die mit der Compliance-Funktion betrauten Personen über die für eine ordnungsgemäße und unabhängige Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe des Absatzes 3 erforderlichen Fachkenntnisse, Mittel und Kompetenzen sowie über Zugang zu allen für ihre Tätigkeit relevanten Informationen verfügen müssen. Halten wir fest: Die Geschäftsleitung besonders der börsennotierten Aktiengesellschaften, aber auch von anderen Kapitalgesellschaften mit vergleichbaren Strukturen und Risiken steht aufgrund allgemeiner privatrechtlicher, insbesondere gesellschaftsrechtlicher und haftungsrechtlicher Vorschriften in der Verantwortung, ein Risikomanagement zu implementieren; soweit es nicht schon ausdrücklich normative Pflicht ist, empfiehlt es sich, einen Compliance-Beauftragten vorzusehen, der mit der Compliance-Organisation beauftragt wird. Ein Schwerpunkt für die Compliance-Beauftragten und das Risikomanagement liegt dabei darin, die Einhaltung der Vorschriften zum Datenschutz und zur Datensicherheit zu gewährleisten und darüber hinaus die Verfügbarkeit der IT des Unternehmens, deren Ausfall für viele Unternehmen einem Super-GAU gleichkäme, sicherzustellen. Für viele Unternehmen stellt sich deshalb die Frage, ob es möglich und zulässig ist, den aufgrund einer Rechtspflicht zu bestellenden betrieblichen Datenschutzbeauftragten zugleich zum Compliance-Beauftragten zu bestellen, weil beide letztlich im Interesse der Persönlichkeitsrechte von Mitarbeitern und Kunden auf die Einhaltung der Datenschutzvorschriften hinzuwirken haben. Von dieser Doppelbeauftragung sollte abgesehen werden, weil das ‚Amt‘ eines Compliance Officers oder eines Compliance-Beauftragten inkompatibel mit dem des betrieblichen Datenschutzbeauftragten ist. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Compliance-Beauftragte bei seiner Tätigkeit weisungsgebunden ist25, während der betriebliche Datenschutzbeauftragte in der Ausübung seiner Fachkunde weisungsfrei sein muss. Außerdem wird der Compliance-Beauftragte ein Melde-

__________ 25 Campos Nave, BB 30/2007, S. I, regt an, die Weisungsfreiheit durch „interne Regelungen“ vorzusehen und eine entsprechende Regelungsverpflichtung im Corporate Governance Kodex aufzunehmen.

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system über Rechtsverstöße („Whistleblowing“) etablieren, bei dem über die Betroffenen und in der Regel auch über die Meldenden keine Verschwiegenheit gewahrt wird. Der betriebliche Datenschutzbeauftragte ist dagegen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Weil der betriebliche Datenschutzbeauftragte seine Tätigkeit auch in Teilzeit verrichten kann, wäre es denkbar, dass er den verbleibenden Teil seiner Tätigkeit als Compliance-Beauftragter ausfüllt. Es darf aber bezweifelt werden, dass hier eine saubere Trennung der Aufgaben gelingt und die Betroffenen, die sich im Vertrauen auf die Verschwiegenheitspflicht an den Datenschutzbeauftragten wenden, dieses Vertrauen bei einer Ämterbündelung noch aufbringen; es darf deshalb auch bezweifelt werden, ob die gesetzlich gebotene Zuverlässigkeit des bDSB noch gegeben wäre. Im Ergebnis sollte der betriebliche Datenschutzbeauftragte nicht zugleich mit der Aufgabe des Compliance-Beauftragten betraut werden. Das hindert den Compliance-Beauftragten oder den Compliance-Ausschuss aber nicht daran, den betrieblichen Datenschutzbeauftragten heranzuziehen und sich über die Lage des Datenschutzes im Unternehmen berichten zu lassen, um auf diese Weise Unterstützung bei der Aufdeckung von Schwachstellen hinsichtlich der Einhaltung von Datenschutzvorschriften zu erhalten. Der Datenschutzbeauftragte wird daran ein besonderes Interesse haben, weil der Compliance-Beauftragte in der Regel mit Weisungsbefugnis ausgestattet ist und Datenschutzmängeln eher abzuhelfen vermag, als der ohne Weisungsbefugnis ausgestattete Datenschutzbauftragte. Der Compliance-Beauftragte wird eine starke Stellung im Unternehmen haben und wegen des Haftungsrisikos der Geschäftsführung für die von ihm als notwendig erachteten Maßnahmen dort ein offenes Ohr finden. Insofern stärkt Compliance den Datenschutz; eine Identität in der Person des Beauftragten kann es vernünftigerweise nicht geben.

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III. Verbindliche Unternehmensregeln für den internationalen Datenschutz Alfred Büllesbach*

„Würde die weltweite Gesellschaft nur vernünftig sein, könnte das bis heute erreichte Wissen der Menschheit aus dieser Erde ein Paradies machen.“ Joseph Weizenbaum

1. Steuerungsfaktor Information Personenbezogene Daten von Kunden, Mitarbeitern und Vertragspartnern sind eine wertvolle Ressource für Unternehmen. Die aus ihnen zu destillierenden Informationen stellen inzwischen einen strategischen Faktor dar und entscheiden auch über die wirtschaftliche Entwicklung einer Unternehmung. Der intensive Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik steuert und gewährleistet diesen Vorgang in zunehmend effektiver und effizienter Weise, indem er geschäftliche und administrative Abläufe beschleunigt und verfeinert. Diese Operationalisierung von Informationen erleichtert Unternehmen die Konzentration auf eine bedarfsgerechte Produktplanung und die Erschließung neuer Märkte. Herausforderungen ergeben sich als Folge eines veränderten Umgangs mit Informationen. Als Gründe dafür lassen sich beispielhaft die erhebliche Zunahme grenzüberschreitender Datenübermittlungen aufgrund des gemeinsamen europäischen Marktes und weltweit verknüpfter Wirtschaftsentwicklungen, die Entwicklung der Mobilkommunikation zum Massenmarkt und die steigende Beliebtheit von Kredit- und Wertkartensystemen anführen.

2. Rechtlicher Rahmen für den Datenschutz Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen haben nationale Gesetzgeber weltweit Maßnahmen ergriffen. Auf supranationaler Ebene lassen sich seitens der UN die Kaufrechtskonvention, das UNCITRAL-Modellgesetz über E-Commerce sowie

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* Prof. Dr. Alfred Büllesbach ist Professor an der Universität Bremen und Gastprofessor am Europainstitut der Universität Saarbrücken.

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Verbindliche Unternehmensregeln für den internationalen Datenschutz

über elektronische Signaturen als auch UN-Richtlinien betreffend personenbezogene Daten in automatisierten Dateien nennen. Seitens der OECD wurden Leitlinien für den Schutz der Persönlichkeitsbereiche und den grenzüberschreitenden Datenverkehr personenbezogener Daten beschlossen. Die Richtlinie des Europarates von 1981 beeinflusste als erste völkerrechtsverbindliche Richtlinie den internationalen Datenschutz. Nicht zuletzt durch die EU-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG, die de facto einen großen Harmonisierungs- und Angleichungsdruck erzeugt, lässt sich trotz der auch heterogenen internationalen Entwicklung festhalten, dass sich die weltweite Gesetzgebung zum Datenschutz und zum Schutz der Privatsphäre zu internationaler Gesetzeskonvergenz hinbewegt. Deutlich ist, dass sich ein effektiver Datenschutz im nationalstaatlichen Alleingang nicht kreieren lässt. Es gab immer Versuche, weltweite Standards oder selbstregulierende Instrumente zu entwickeln (z. B. D21, Global Business Dialog on E-Commerce, APEC-Guideline etc.). Für Europa sieht der Grundlagenvertrag in der Charta der Grundrechte auch ein Grundrecht auf Datenschutz vor.

3. Gesetzlicher Hintergrund für den internationalen Datentransfer Grenzüberschreitende Datenflüsse bewegen sich in einer sehr differenzierten gesetzlichen Situation. Während Datenflüsse nicht an den Staatsgrenzen enden, ist die Geltung nationalen Rechts dort in der Regel zu Ende. Diese Situation führte zur Entwicklung verschiedener Ansätze, um die Frage nach dem angemessenen Datenschutz-Niveau im internationalen Datenverkehr mit personenbezogenen Daten zu klären und zu regeln. Das Bewusstsein für Fragen des Datenschutzes ist weltweit heterogen und dementsprechend gibt es sehr differenzierte Ansätze. So folgen Länder wie Australien, Neuseeland, Chile oder die EU einem kodifikatorischen Ansatz mit generellen Datenschutzgesetzen, die für den öffentlichen und nicht-öffentlichen Bereich gelten. Andere bevorzugen einen sektorspezifischen Ansatz, d. h. Regeln, die sich im besonderen Bereich spezifischer Anwendungen, z. B. Finanzdatenschutz, Telekommunikationsdatenschutz, E-Commerce etc. bewegen. Beispiele hierfür sind etwa die USA. Dort gibt es kein abstraktes oder generelles Datenschutzgesetz für Unternehmen. Allerdings gibt es eine Reihe spezifischer Gesetze, so dass HIPAA, das „Financial Modernisation Act“, das „Telekommunication Act“ oder z. B. das „Security Information Breach Act“. 159

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Die EU-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG, die inzwischen von allen 27 Mitgliedstaaten in nationales Recht transformiert wurde, enthält spezifische Regeln hinsichtlich des Datentransfers in Drittstaaten in den Artikeln 25 und 26. Die Artikel-29 Gruppe hat Working Paper zur Erläuterung der Regulierungen und Anwendung dieser Artikel herausgebracht. Zu nennen sind die Working Paper Nr. 12, 74, 107, 108 und 133. In Deutschland setzen die §§ 4b und 4c des BDSG die EU-Richtlinien Artikel 25 und 26 in deutsches Recht um. Danach unterbleibt eine Datenübermittlung, wenn ein angemessenes Schutzniveau im Drittstaat nicht gewährleistet ist. Insoweit ist es erforderlich, neben der internationalen Rechtsanalyse auch eine internationale Datenschutz- und Datensicherheitskonzeption zu entwickeln, die eine transnationale Datenübermittlung rechtlich zulässig macht. Die EU-Kommission hat die Schweiz, Kanada, Argentinien, Guernsey und Isle of Man als Staaten mit angemessem Schutzniveau akzeptiert. Zwischen dem US-Department of Commerce und der EU-Kommission ist das Agreement über Safe Harbor Principles vereinbart. Für den Transfer von Fluggastdaten ist zwischen der EU und dem „United States Bureau of Customs and Border Protection“ eine Vereinbarung, nach der EuGH-Entscheidung vom 30. Mai 2006, durch das PNRAgreement vom 25. Juli 2007 erneuert worden; es regelt den Transfer von Fluggastdaten aus der EU in die USA. Eine Angemessenheitsregelung, ähnlich der der EU-Richtlinie für die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittstaaten, ist auch in Argentinien, Australien und Hongkong aufgenommen worden.

4. Selbstregulierung In der internationalen Rechtsdiskussion hat sich gezeigt, dass neben der Anwendung der Safe Harbor Principles, der Benutzung der verschiedenen Modellklauseln der EU-Kommission, der Einwilligung durch den Betroffenen für den transnationalen Datenverkehr auch die Selbstregulierung in Betracht zu ziehen ist. International tätige Unternehmen stehen vor der Frage, im Rahmen der Globalisierung eine weltweite, angemessene Datenschutzregulierung zu entwickeln. Betrachtet man die Entwicklung der letzten 10 Jahre, so ist festzustellen, dass der Selbstregulierungsansatz in Form von „Code of Conduct“ (CoC) bzw. „Binding Corporate Rules“ (BCR) an Verbreitung zugenommen hat. Die Selbstregulierung durch BCR führt zu einer internationalen Rege160

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lung im Gegensatz zu den Safe Harbor Principles, die nur zwischen der EU und den USA Anwendung finden. Die Nutzung der EU-Standardvertragsklauseln setzt ein aufwendiges und umfangreiches VertragsManagement-System voraus, während der Selbstregulierungsansatz eine internationale verbindliche Angemessenheitsregelung herstellen kann.

5. Verbindliche Unternehmensregeln Verbindliche Unternehmensregeln haben gemäß § 4c Absatz 2 Satz 1 BDSG keine ausdrücklich gesetzlich festgelegten Inhalte. Sie müssen allerdings „ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes des Persönlichkeitsrechts und der Ausübung der damit verbundenen Rechte“ vorweisen. Die Inhalte eines Codes of Conduct oder verbindlicher Unternehmensregeln (BCR) richten sich damit nach datenschutzrechtlichen Grundanforderungen des BDSG, insbesondere aber den jeweiligen unternehmensspezifischen Besonderheiten und den sie regulierenden gesetzlichen Anforderungen. Als Regelungsinhalte für BCR lassen sich folgende Anforderungen nennen: Festlegung des Geltungsbereiches, anzuwendende Rechtsvorschriften, Verbindlichkeit, Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Umgang mit besonderen Arten personenbezogener Daten, Zulässigkeit der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von personenenbezogenen Daten, Rechte der Betroffenen, Datengeheimnis und Vertraulichkeit, Datensicherheitsgrundsätze, Bestimmungen zum Gebrauch von Telekommunikationseinrichtungen und dem Internet, Regeln für Datenverarbeitung im Auftrag bzw. Einbeziehung Dritter, Abhilfe/Sanktionen/Verantwortlichkeiten, Datenschutzmanagement, Aufgaben und Befugnisse eines Konzernbeauftragten für den Datenschutz, Änderung der Richtlinie und Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden. Das Verfahren für die Anerkennung von BCR europaweit ist durch die Working Paper Nr. 107, 108 und 133 der Artikel-29 Gruppe festgelegt.

6. Fazit Selbstregulierung hat im Datenschutz als Alternative zur hoheitlichen Regulierung nicht an Aktualität verloren. Die sich weiterentwickelnde und daher stetig veränderte Datenschutzrechtslage im Zusammenspiel mit der Globalisierung der Wirtschaftstätigkeit stellt weltweit tätige Unternehmen vor das Problem, eine möglichst effektive und rasch wirksame Regulierungsmöglichkeit zu finden, die den Beteiligteninte161

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ressen gerecht wird. Die bekannten Selbstregulierungsinstrumente im Datenschutz reichen für eine solche Lösung nicht nur aus, sondern bieten in Form von verbindlichen Selbstverpflichtungen durch Verhaltensregeln Möglichkeiten einer umfassenden und praktikablen Regelung für die konkreten Bedürfnisse insbesondere von Unternehmen. Wegen der ungebrochenen Bedeutung des Datenschutzes als Qualitätsund Wettbewerbsfaktor in der Wirtschaft und wegen der zunehmenden Sensibilisierung der Bürger weltweit ist zu erwarten, dass die Selbstregulierung als Maßnahme zur Schaffung eines weltweiten Datenschutzstandards in näherer Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen wird.

7. Homage an den Jubilar Jochen Schneider war früh engagiert für die Anliegen und Interessen des Datenschutzes. Ich erinnere mich an frühere Seminare Anfang der 70er Jahre und an gemeinsame Lehrtätigkeiten an der Universität München ebenso wie für die mittleren und gehobenen Beamtenanwärter Bayerns. Vielfältig setzte sich der Jubilar während seines Berufslebens und in seiner Autorentätigkeit mit den Fragen des Datenschutzes in Vorträgen, Seminaren und Publikationen auseinander. Jochen Schneider war sich stets bewusst, dass er sich beim Einsatz für Fragen des Datenschutzes nicht auf einer Insel der Glückseligen befand, wohl aber, dass er die Erforderlichkeit des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und heute auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner besonderen Ausprägung als Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme auf einer Insel der Vernunft zu finden hatte.

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IV. Datenschutzrechtliche Überlegungen zur mutmaßlichen Einwilligung bei klinischen Prüfungen Hans-Ullrich Gallwas* „Hier war die Arzeney, die Patienten starben, Und niemand fragte, wer genas? So haben wir mit höllischen Latwergen, In diesen Thälern, diesen Bergen, Weit schlimmer als die Pest gehaust.“

1. Klinische Prüfung und datenschutzrechtliche Einwilligung Das Arzneimittelgesetz definiert klinische Prüfungen als am Menschen durchgeführte Untersuchungen, die dazu bestimmt sind, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen, Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit und Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen. Löst man diese Definition vom spezifischen Zweck des Gesetzes, nämlich für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln zu sorgen, und erstreckt man sie auf den gesamten Bereich medizinischer Forschung, so ist eine klinische Prüfung jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, medizinische, vor allem diagnostische und therapeutische Wirkungen zu erforschen und nachzuweisen. Derart definierte klinische Prüfungen haben einen allgemeinen datenschutzrechtlichen Aspekt. Es werden dabei Daten der Probanden/ Patienten erhoben, verarbeitet und genutzt. Es liegt auf der Hand, dass solche Daten heikel und daher besonders schutzbedürftig sind. Nur in den seltensten Fällen lässt sich dem datenschutzrechtlichen Gefährdungspotential einer Studie, vor allem der Gefahr einer Zweckentfremdung von Patientendaten, durch unverzügliche irreversible Anonymisierung entgegenwirken. Sicherung des Teilnehmers vor unvorhersehbaren Ereignissen und Kontrolle der jeweils angewandten Untersu-

__________ * Prof. Dr. Hans-Ullrich Gallwas, Ludwig-Maximilians-Universität München, ist Mitglied der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät.

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chungsmethode erfordern vielmehr einen Rückgriff auf die Originaldaten und Identifizierung des Betroffenen. Das heißt, die im Rahmen der Studie anfallenden Daten zur Person und ihrer Gesundheit sind zwar zu verschlüsseln, müssen aber ihren Personenbezug behalten. Das besondere datenschutzrechtliche Schutzbedürfnis der in eine klinische Prüfung einbezogenen Probanden/Patienten findet seine normative Sicherung im Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Voraussetzung für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten ist somit entweder eine Erlaubnis durch Gesetz oder die Einwilligung des Betroffenen. Die verfassungsrechtlich verbürgte Forschungsfreiheit reicht zur Rechtfertigung von Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht aus. Ebenso wenig gibt es ein allgemeines einfachgesetzliches Privileg zugunsten medizinischer Forschung. Der Königsweg zur klinischen Prüfung besteht somit in der Einwilligung des Betroffenen. Sie ist das Instrument, um die gegenläufigen grundrechtlichen Positionen von Forschungsfreiheit einerseits und dem aus dem Persönlichkeitsrecht entwickelten Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits zu dem verfassungsrechtlich gebotenen schonenden Ausgleich, zu praktischer Konkordanz zu bringen. Die rechtliche Einhegung der datenschutzrechtlichen Einwilligung erfolgt auf unterschiedliche Weise, teils im legislativen, teils im exekutivischen Bereich, teils in der Sache, teils durch sicherndes Verfahren. Im legislativen Bereich bildet das bereichsspezifische Datenschutzrecht, wie etwa die datenschutzrechtlichen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes, die wichtigste Ebene. Ergänzend tritt das jeweils einschlägige allgemeine Datenschutzrecht des Bundes oder des Landes hinzu. Beides zusammengenommen ist Ausdruck und Ergebnis des verfassungsrechtlich gebotenen Abwägungsprozesses und führt zur praktischen Konkordanz zwischen den gegenläufigen grundrechtlichen Gewährleistungen von Forschungsfreiheit und Persönlicheitsrecht. Im exekutivischen Bereich erfolgt die Einhegung vor allem durch die Ethikkommissionen der medizinischen Fakultäten, denen es obliegt zu prüfen, ob die einzelne klinische Prüfung den rechtlichen und ethischen Anforderungen entspricht, zumal ob das einzelne Vorhaben in datenschutzrechtlicher Hinsicht einwilligungsfähig ist und welche Anforderungen im konkreten Fall an eine wirksame Einwilligung zu stellen sind. 164

Mutmaßliche Einwilligung bei klinischen Prüfungen

2. Das Prinzip ausdrücklicher Einwilligung durch den Betroffenen selbst Das bereichsspezifische und das allgemeine Datenschutzrecht behandeln die Einwilligung eher stiefmütterlich. So fehlen Festlegungen zu Rechtsnatur und Funktion, zur Vertretungsmöglichkeit und zur Substitution. Das Schweigen des Gesetzes und die funktionelle Affinität zum verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsrecht sprechen allerdings für ein prinzipielles Gebot, dass die datenschutzrechtliche Einwilligung vom Betroffenen sowohl höchstpersönlich wie ausdrücklich zu erklären ist. Greift man auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund und das damit verbundene Abwägungsgebot zurück, so ist das mindestens insoweit unabweisbar, wie es sich um Gesundheitsdaten handelt. Ausdruck dessen ist auch das im Arzneimittelgesetz speziell angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis. Immerhin darf, wenn wegen einer Notfallsituation die Einwilligung nicht eingeholt werden kann, eine Behandlung im Rahmen der klinischen Prüfung, wenn sie ohne Aufschub erforderlich ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern, umgehend erfolgen; allerdings ist die Einwilligung zur weiteren Teilnahme einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist. Diese Regelung bezieht sich freilich in erster Linie auf die Einwilligung in die studienbedingten Behandlungsmaßnahmen. Sie umschließt jedoch nach der Systematik des Gesetzes auch die datenschutzrechtliche Einwilligung. Nicht anders steht es mit der Ausnahme bei klinischen Prüfungen an volljährigen, aber nicht einwilligungsfähigen Personen. Hier bedarf es der Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter oder durch den Bevollmächtigten. Wobei jedoch zu beachten ist, dass die Ausübung der Vertretungsmacht dem mutmaßlichen Willen des Vertretenen entsprechen muss, soweit ein solcher erkennbar ist. Auch hier schließt die Einwilligung in die Teilnahme an der klinischen Prüfung die datenschutzrechtliche Einwilligung ein – an dieser Stelle allerdings unter ausdrücklicher Berücksichtigung des erkennbaren Willens des Betroffenen. Beide Ausnahmen bestätigen, dass es für klinische Prüfungen im Rahmen des Arzneimittelgesetzes grundsätzlich auf eine ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen ankommt. Ausnahmen von dieser Regel haben bei Volljährigen zur Voraussetzung, das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wieder herzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern. Grund hierfür ist letztlich die Annahme, dass eine solche Zwecksetzung in der Regel dem mutmaßlichen Willen des Betrof165

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fenen entspricht. Ob etwas anderes gilt, wenn ein entgegengesetzter Wille des Betroffenen erkennbar ist, lässt das Gesetz offen, vielleicht weil der Betroffene durch die Möglichkeit, die spätere Einwilligung zu verweigern, hinreichend geschützt ist.

3. Datenschutzrechtliche Maßgeblichkeit des mutmaßlichen Willens jenseits der bestehenden gesetzlichen Regelungen Das datenschutzrechtliche Schweigen über eine allgemeine Substitution der Einwilligung durch den mutmaßlichen Willen des Betroffenen ist beredtes Schweigen. Es spricht für die Unzulässigkeit der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten im Rahmen einer klinischen Prüfung ohne ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen. Das gilt jedenfalls für die arzneimittelrechtliche klinische Prüfung, aber in gleichem Maß auch für alle anderen patientenorientierten klinischen Prüfungen, vor allem, wenn diese mit vergleichbar nachhaltigen oder risikobehafteten diagnostischen oder therapeutischen Interventionen verbunden sind. Im Übrigen ist es nur prinzipieller Art. Das folgt einmal daraus, dass unter der Herrschaft des Gleichheitssatzes Ausnahmevorschriften mindestens nicht ohne weiteres im Sinne einer abschließenden Enumeration verstanden werden dürfen. Zum anderen verbietet das verfassungsrechtliche Gebot des schonenden Ausgleichs eine von der Sache her nicht zu rechtfertigende Überwältigung der Forschungsfreiheit durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. a) Wenn und soweit etwa das Arzneimittelgesetz in Notfallsituationen eine klinische Prüfung zunächst ohne Einwilligung zulässt und nur verlangt, dass die Einwilligung zur weiteren Teilnahme nachgeholt wird, sobald dies möglich und zumutbar ist, so muss das auch für andere, vor allem für diagnostische und therapeutische Maßnahmen gelten und wie dort die datenschutzrechtliche Einwilligung mindestens vorläufig substituieren. Voraussetzung ist freilich, dass die diagnostische oder therapeutische Maßnahme nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt erscheint, das Leben des Betroffenen zu retten, seine Gesundheit wieder herzustellen oder sein Leiden zu erleichtern, so dass nach der Lebenserfahrung von einem hierauf gerichteten mutmaßlichen Willen des Betroffenen ausgegangen werden kann, und nichts auf einen entgegenstehenden Willen schließen lässt. 166

Mutmaßliche Einwilligung bei klinischen Prüfungen

Sofern freilich diese Indikation fehlt, also die Intervention allein für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden, mit einem direkten Nutzen verbunden ist, lässt sich eine auch nur vorläufige diagnostische oder therapeutische Intervention nicht rechtfertigen. Ein allgemeiner Wille jedes Betroffenen, sich zum Wohle der Gruppe einer risikobehafteten Intervention zu unterziehen, kann nicht gemutmaßt werden. b) An den Rückgriff auf eine mutmaßliche Einwilligung ist aber immerhin zu denken, wenn es im Rahmen einer klinischen Prüfung entweder gar nicht zu Interventionen kommt, also nur bereits im Rahmen der Behandlung anfallende Patientendaten für Studienzwecke verwendet werden sollen, oder wenn zur Erhebung der Daten nur in einer kaum ins Gewicht fallenden Weise in die körperliche Integrität des Betroffen eingegriffen wird, etwa Blut oder Gewebe in geringer Menge und ohne Risiko entnommen wird. Wenn in solchen Fällen eine wirksame Einwilligung des Patienten nicht zu erlangen ist, weil dieser vorübergehend oder auf Dauer außerstande ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und seinen Willen danach auszurichten, entsteht eine verfassungsrechtlich problematische Spannung zu Lasten der Forschungsfreiheit. Die Frage wird vor allem dann dringlich, wenn nach Sachlage nur eine kurze Zeitspanne für die Gewinnung der erforderlichen Daten zur Verfügung steht, etwa im Falle eines durch den Zustand des Patienten verengten Zeitfensters. Kommt die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der Daten auch dem Betroffenen zugute, kann ohne weiteres mit dem Gedanken gearbeitet werden, der der arzneimittelrechtlichen Regelung für Notfälle zugrunde liegt. Man mag dies auf die Überlegungen stützen, dass das, was für eine nachhaltige Intervention gilt, auch für eine allenfalls geringfügige Intervention ausreicht, dass das, was eine Intervention zu Lasten der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigt, auch für einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung genügt. Schwieriger ist es, wenn die Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung dem Betroffen nicht zugute kommt. Von einem mutmaßlichen Willen des Betroffenen zugunsten der Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden, oder gar zugunsten der medizinischen Wissenschaft, kann mindestens nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Hier bleibt letztlich nur der Rückgriff auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Suche nach dem schonenden Ausgleich zwischen Per167

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sönlichkeitsschutz und Forschungsfreiheit. Es gilt zu erwägen, ob und unter welchen inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Sicherungen dem Einzelnen zugemutet werden kann, als „ultima ratio“ Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zugunsten von Leben und körperlicher Unversehrtheit anderer oder zugunsten der medizinischen Forschung auch ohne ausdrückliche Einwilligung hinzunehmen. Die Frage ist offen. Eine Reihe von Gesichtspunkten spricht für eine positive Antwort: Im Vordergrund steht dabei die Überlegung, dass das Schutzbedürfnis des Betroffenen in dem Maße an Gewicht verliert, wie sein effektives Risiko gegen Null geht, was beim Gewicht der gegenüberstehenden Rechte und Interessen positiv zu Buche schlägt. Hinzu kommt, dass das Erfordernis einer ausdrücklichen Einwilligung in Fällen fehlender Einwilligungsfähigkeit dazu führt, dass einer von der Forschungsfreiheit umfassten medizinischen Frage niemals nachgegangen werden dürfte. Nicht zuletzt sichern die Vorläufigkeit des Eingriffs, der Vorbehalt späterer Einwilligung des Betroffenen und das Erfordernis einer zustimmenden Bewertung durch die Ethikkommission, dass sich die Folgen einer klinischen Prüfung zum Nutzen der Gruppe oder der medizinischen Wissenschaft ohne ausdrückliche und vorhergehende Einwilligung des Betroffenen in ganz engen Grenzen halten. Am Ende kann man womöglich doch von einem mutmaßlichen Willen des Patienten ausgehen, unter bestimmten engmaschigen Voraussetzungen und Kautelen Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zum Schutz der Rechte anderer auch ohne ausdrückliche Einwilligung hinzunehmen. Jochen Schneider ist einer der Pioniere des Datenschutzes in der Bundesrepublik Deutschland. Über viele Jahre haben wir jeweils am Montag gemeinsam unser datenschutzrechtliches Seminar abgehalten – eine der Inseln der Vernunft? Mutmaßliche Einwilligung im Datenschutzrecht wäre ein schönes Seminarthema gewesen.

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V. Schmerzensgeld bei heimlicher Ausspähung von IT-Systemen durch Unternehmen – Zur Drittwirkung des Grundrechts auf private Datensphäre zwischen Privaten Michael Karger*

„Komm her an diese Brust, Du See, Ihr Berge blau und duftig, Bei euch will ich zu Hause sein, Die Stadt ist mir zu schuftig.“ Franz von Seitz, in: Raupp/Wolter, Künstlerchronik von Frauenchiemsee, Bd. I (1853) Der Mensch braucht Rückzugsgebiete. Die Münchener Künstler zieht es traditionell an die oberbayerischen Seen, Münchener Professoren und Anwälte folgen ihnen gerne. So kommt es, dass Jochen Schneider wahrscheinlich gerade mit Blick auf den Tegernsee an der 4. Auflage des Handbuchs des EDV-Rechts arbeitet, während ich diesen Beitrag am Chiemsee schreibe, weil das Schreiben dort so leicht von der Hand geht.

1. Privatsphäre Vom Rückzugsgebiet des Einzelnen bei der Nutzung von PC, Notebook, PDA oder Handy im Sinne von Schutz vor Ausspähung der Privatsphäre handelt der folgende Beitrag. Die auf diesen informationstechnischen Geräten gespeicherten Daten geben ein umfassendes Spiegelbild seines Tagesablaufs, seiner Kontakte, seiner Interessen und seiner Arbeit. Für diese Daten interessiert sich nicht nur der Staat, der im Rahmen der Gefahrenabwehr einen „Bundestrojaner“ einsetzen will, sondern auch die Privatwirtschaft: Die Sammlung, Zusammenführung und der Verkauf von Kundendaten sind ein lukratives Geschäft, so dass gerade im Onlinebereich Gefährdungslagen in der Anbieter-Kundenbeziehung entstehen. Aber auch viele Arbeitgeber würden gerne wissen, was auf den Rechnern ihrer Mitarbeiter so alles

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* Rechtsanwalt Dr. Michael Karger ist Fachanwalt für Informationstechnologierecht und Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei Wendler Tremmel Rechtsanwälte in München.

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gespeichert ist und halten es für ihr gutes Recht, hierauf Zugriff zu nehmen. Die Brisanz dieser Thematik hat sich zuletzt bei den Themen E-Mail-Überwachung und Content-Filtering im Arbeitsverhältnis gezeigt, die zwischenzeitlich rechtlich bereits aufgearbeitet schienen.

2. Neues Grundrecht Das BVerfG hat nunmehr durch das „neue“ Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme1 den Schutz der Privatsphäre vor Eingriffen durch Hoheitsträger entscheidend gestärkt. Es hat klargestellt, dass der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts angesichts der durch die technischen Möglichkeiten gestiegenen Bedrohungen für die Privatsphäre des Einzelnen ausgeweitet werden muss – und dies auch deutlich über den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinaus. Für besonders problematisch erachtet das BVerfG dabei den heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System – hierdurch ist der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung berührt. Das Gericht hat sich damit als Insel der Vernunft im Ozean unkontrollierter Datenströme erwiesen. Der Bürger hat im Verhältnis zum Staat ein Grundrecht auf seiner Seite, das aufgrund des Rechtstaatsprinzips von allen Hoheitsträgern zu beachten ist und das ihm einen unmittelbaren Abwehranspruch gegen rechtswidrige Zugriffe verschafft. Wie aber kann sich der Einzelne gegen heimliche Zugriffe Privater zur Wehr setzen? Kann ihm hier das neue Grundrecht helfen? Eine unmittelbare Wirkung des neuen Grundrechts zwischen Privaten gibt es nicht. Eine Horizontalwirkung von Grundrechten wird ganz überwiegend verneint, da es sich dogmatisch um Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat handelt. Allerdings bilden die Grundrechte eine objektive Wertordnung, weshalb alle bürgerlich-rechtlichen Vorschriften im Geist des Grundgesetzes ausgelegt werden müssen.2 Das BVerfG hat in seiner Entscheidung solche objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte zwar nicht aufgezeigt3, dennoch dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass sich das neue Grundrecht auch auf die Interpre-

__________ 1 BVerfG, Urteil v. 27.2.2008 – 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07, CR 2008, 306. 2 Vgl. BVerfGE 6, 32, 40 (Elfes), BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth), BVerfGE 25, 256, 263 (Blinkfüer). 3 Sachs/Krings, Das neue „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, JuS 2008, 481, 486.

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Schmerzensgeld bei heimlicher Ausspähung von IT-Systemen

tation zivilrechtlicher Normen auswirkt – auch auf § 823 Abs. 1 BGB, wie im Folgenden noch gezeigt werden soll.

3. Sanktionierung von Zugriffen Privater: Bisherige Rechtslage Auf der Ebene des Zivilrechts (das Strafrecht soll hier einmal ausgeblendet bleiben4) wirkt am intensivsten, wenn den Angreifer ein empfindliches finanzielles Risiko trifft, wenn also der Betroffene bei einem heimlichen Zugriff Schadensersatz verlangen kann. Allerdings kann ein materieller Schaden nahezu nie nachgewiesen werden. Geholfen ist dem Betroffenen im Regelfall nur, wenn er Schmerzensgeld geltend machen kann.5 Bislang hatte ein Angreifer diesbezüglich wenig zu befürchten: Die Rechtsprechung hat bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hohe Hürden für den Ersatz immateriellen Schadens errichtet. Jochen Schneider hat dieses Problem deutlich angesprochen und zur Verbesserung der Datenschutzsituation gefordert, dass der Ersatz eines immateriellen Schadens unter vereinfachten Bedingungen erlangbar sein müsse6. Darüber hinausgehend hat er – im Rahmen eines Presseinterviews – auch die provokante Frage gestellt, ob nicht bei bestimmten Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre eine Schadensersatzregelung mit einer Art Tarifsatz einzuführen wäre.7 Die Suche nach Anspruchsgrundlagen führt zunächst einmal ins BDSG. § 8 BDSG – eine wenig bekannte Norm – sieht einen verschuldensabhängigen Schmerzensgeldanspruch bei unzulässiger Datenerhebung bei automatisierter Datenverarbeitung vor, sofern eine schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt. Allerdings gilt die Bestimmung nur bei Datenerhebung durch öffentliche Stellen, nicht aber für die Datenerhebung durch Private. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auch auf das Verhältnis zwischen Privaten dürfte angesichts des eindeutigen Wortlauts und des Fehlens einer planwidrigen Regelungslücke ausscheiden. Bei unzulässiger Datenerhebung durch einen Privaten hat der Betroffene einen Anspruch gemäß § 7 BDSG, der eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens vorsieht. Allerdings hilft

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4 Das Strafrecht ist ohnehin nur ein stumpfes Schwert, siehe hierzu Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 3. Aufl., Rz. B 514. 5 Schneider, a. a. O., Rz. B 525. 6 Schneider, a. a. O., Rz. B 525. 7 Siehe das Interview „Datenschutz kommt zu kurz“ in Focus Online (aus Focus Nr. 50 (1999); http://www.focus.de/magazin/archiv/edv-recht-daten schutz-kommt-zu-kurz_aid_179005.html.

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auch diese Norm nicht weiter, da sie nur auf den Ersatz des materiellen Schadens gerichtet ist.8 Damit verbleibt als wichtigste Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 1 BGB. Nach der Rechtsprechung setzt ein Schmerzensgeldanspruch aber voraus, dass (1) eine schwerwiegende Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegt und (2) die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise ausgeglichen werden kann. Der Nachweis der „schwerwiegenden Verletzung“ konnte von einem Betroffenen bislang nur selten erbracht werden, da die Rechtsprechung die unzulässige Datenverarbeitung per se nicht ausreichen ließ, sondern noch weitere Nachteile (z. B. Missachtung des Betroffenen durch seine soziale Umgebung, Beeinträchtigung des beruflichen Fortkommens) forderte.9

4. Sanktionierung von Zugriffen Privater: Veränderte Rechtslage Durch das neue Grundrecht hat sich die Situation des Betroffenen jedenfalls insoweit deutlich verbessert, als bei Zugriffen auf seine informationstechnischen Systeme im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nicht mehr umständlich begründet werden muss, dass hierin eine Verletzung der Privatsphäre bzw. des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung liegt. Das Grundrecht auf private Datensphäre ist, wie die anderen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch, ein „sonstiges Recht“ i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB. Hieran kommt kein Zivilrichter mehr vorbei. Wie aber sieht es mit dem Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens bei einem Eingriff in dieses Recht aus? Muss der Betroffene auch hier eine schwerwiegende Beeinträchtigung nachweisen? Vieles spricht dafür, dass ein heimliches Ausspähen eines informationstechnischen Systems die schwerwiegende Beeinträchtigung indiziert und den Betroffenen keine weiteren Nachweislasten auferlegt werden dürfen. Dies lässt sich zum einen aus der hohen Bedeutung ableiten, die das BVerfG dem neuen Grundrecht zumisst, zum anderen daraus, dass das BVerfG heimliche Zugriffe als besondere Grundrechtsgefährdung sieht. Wegen der unterschiedlichen dogmatischen Ansätze im Öffentlichen Recht und im Privatrecht ist es weder möglich noch statthaft, das

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8 Tremml/Karger, Der Amtshaftungsprozess, 2. Aufl.2004, S. 210 m. w. N. 9 Schneider, a. a. O., Rz. B 529.

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Schmerzensgeld bei heimlicher Ausspähung von IT-Systemen

„Prüfungsschema“ für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen durch einen Hoheitsträger auf die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs zu übertragen10. Allerdings werden einige der zentralen Erwägungen des Gerichts aufgrund des objektiv-rechtlichen Gehalts des neuen Grundrechts auch im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB zu beachten sein: – Das BVerfG konstatiert im Hinblick auf die Vertraulichkeit und Integrität von Informationssystemen ein besonderes Schutzbedürfnis des Betroffenen11; – das neue Grundrecht geht weit über die bisher anerkannten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – den Schutz der Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – hinaus12; – das Grundrecht soll insbesondere vor heimliche Zugriffen schützen: Durch das heimliche Ausspähen des Systems kann der Angreifer – so wie bei fast keiner anderen Maßnahme – einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit erlangen13; – der heimliche Zugriff ermöglicht eine Profilierung des Betroffenen und stellt einen Grundrechtseingriff von besonders hoher Intensität dar14; – der Schutz besteht unabhängig davon, ob der Zugriff leicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich ist15; – der Grundrechtseingriff durch Hoheitsträger, der im heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System liegt, ist nur zulässig, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen16. Insgesamt wird man hieraus ableiten können, dass bei einem heimlichen Ausspähen durch einen Privaten kaum noch Rechtfertigungsgründe bzw. in eine Interessenabwägung einzustellende Grundrechts-

__________ 10 Vgl. Schneider, a. a. O., Rz. B 526 ff. 11 BVerfG, Urteil v. 27.2.2008- 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07, CR 2008, 306, 310. 12 BVerfG, a. a. O., 310. 13 BVerfG, a. a. O., 311. 14 BVerfG, a. a. O., 314. 15 BVerfG, a. a. O., 311. 16 BVerfG, a. a. O., 314.

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positionen auf Seiten des Angreifers in Betracht kommen.17 Betroffen ist hier stets der innere Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts18. Der Eingriff ist aufgrund der besonderen Sensibilität des Grundrechts für sich schon schwerwiegend genug, um einen immateriellen Schadensersatz zu rechtfertigen. Einmal von Angreifer erlangte Kenntnisse sind für immer der Vertraulichkeit entzogen, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass entsprechende Daten in Sekundenschnelle elektronisch weitergeleitet und weltweit verbreitet und gespeichert werden können und damit im Regelfall nicht rückholbar sind. Überdies ist es dem Betroffenen nicht zumutbar und in den meisten Fällen auch schlicht unmöglich, weitere für ihn nachteilige Konsequenzen des Zugriffs darzulegen und zu beweisen. Schließlich wird man der Art und Weise des Angriffs19, nämlich der heimlichen Vorgehensweise, einen besonderen Unrechtsgehalt zuweisen müssen. Sofern der Betroffene das System als eigenes nutzt und deshalb nach den Umständen davon ausgehen darf, dass er über das System selbstbestimmt verfügt, ist es auch gleichgültig, ob sich das System in der Verfügungsgewalt des Betroffenen, eines Dritten oder sogar des Angreifers befindet.20

5. Fazit Es gibt also Hoffnung, dass das neue Grundrecht der berechtigten Forderung von Jochen Schneider nach einer vereinfachten Geltendmachung von Schmerzensgeldansprüchen bei Eingriffen in die private Datensphäre zum Durchbruch verhelfen könnte. Dabei geht es weniger darum, eine neue Kategorie von Schadensersatzprozessen zu schaffen, als vielmehr darum, den „heilsamen Druck“ aufzubauen, den das immer noch zu harmlose Datenschutzrecht nicht zu erzeugen vermag.21

__________ 17 Bei einer angekündigten und offenkundigen Überwachung durch den zur Verfügung über das System berechtigten Arbeitgeber dürften dagegen andere Maßstäbe gelten; dem kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. 18 Vgl. hierzu Palandt/Sprau, 67. Aufl. 2008 § 823 BGB Rz. 87; Schneider, a. a. O., Rz. B 75 ff.; Rz. B 528. 19 Vgl. hierzu Palandt/Sprau, a. a. O. Rz. 100, 112. 20 BVerfG, a. a. O., 311. 21 Schneider, a. a. O., Rz. B 79; Rz. B 525.

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VI. Datenschutz und Anwaltschaft – ein schwieriges Verhältnis Ein Bericht aus gemeinsamer Verbandsarbeit Helmut Redeker*

„Nun stelle ich für mich fest, dass der … Datenschutz … ein Schritt in die „schöne neue Welt“ ist.“ Karl Rihaczek1 Grundsätzlich ist Datenschutz unbestritten ein wichtiges Thema. In den letzten Jahren und noch viel stärker in den letzten Monaten ist dies dank der verstärkten Datensammelaktivitäten der deutschen Sicherheitsbehörden und dank einer ganzen Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts2, die diese Sammelleidenschaft streng begrenzen, auch wieder stärker in das Bewusstsein der Allgemeinheit getreten. Weit weniger im Bewusstsein als die Tatsache, dass es Datenschutzregeln gibt und diese im Prinzip auch wichtig sind, ist Datenschutz in der Praxis. Dies gilt aber nicht nur für viele Bürger, die bereitwillig ihre Daten im Internet ausbreiten, sondern auch für die Anwaltschaft. Die Idee, dass das Bundesdatenschutzgesetz für Rechtsanwaltskanzleien eventuell gelten könnte, war bis vor ganz kurzer Zeit ein kaum verbreitetes Geheimnis Weniger. Sicher: Die Großkanzleien als relativ große Organisationen hatten vermutlich relativ frühzeitig auch Datenschutzbeauftragte. In der breiten Masse der Kollegenschaft spielte diese Überlegung keine Rolle. Anders freilich war es im Gesetzgebungsausschuss Informationsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV), dem der Jubilar seit vielen Jahrzehnten angehört und dessen Vorsitzender er auch viele Jahre war. Der Ausschuss hat sich schon in den 90er Jahren mit dieser Frage beschäf-

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* Dr. jur. Helmut Redeker ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Informationstechnologierecht in der Kanzlei Heinle felsch Baden Redeker + Partner GbR in Bonn. 1 DuD 2008, 315. 2 Am wichtigsten BVerfG v. 27.2.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, CR 2008, 306 (Online-Durchsuchung).

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tigt und dazu auf der Mitgliederversammlung des DAV 1996 eine Vortragsveranstaltung durchgeführt3. Die damalige Diskussion wurde durch eine Publikation des Kollegen Rüpke4 ausgelöst, der als erster die Tatsache in das Bewusstsein der Fachöffentlichkeit hob, dass das Bundesdatenschutzgesetz nach seinem Wortlaut auch auf die Anwaltschaft Anwendung fand. Theoretisch müssen daher Anwälte allen Personen, über die sie Daten gespeichert haben, z. B. gem. § 34 Abs. 1 BDSG Auskunft über diese Daten geben. Sie müssen sie auch gem. § 33 Abs. 1 BDSG von der Datenspeicherung unterrichten. Darüber hinaus mussten Anwaltskanzleien, die mehr als fünf Arbeitnehmer den Zugriff personenbezogenen Daten gaben, gem. § 36 Abs. 1 BDSG a. F. einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten bestellen5. Die Aufsicht wird von behördlichen Datenschutzkontrollinstanzen durchgeführt – auch gegenüber der Anwaltschaft. Rüpke hielt diese Regelungen alle für verfassungswidrig. Die Datenschutzkontrollinstanzen konnten sich – soweit sie sich damals schon darüber Gedanken machten – dieser Rechtsauffassung naturgemäß nicht anschließen, sondern wollten das BDSG anwenden und insoweit auch die Anwaltschaft kontrollieren. Dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit konnte sich der Jubilar niemals anschließen. Er hat diese Rechtsauffassung viele Jahre später im deutschen Anwaltblatt dargestellt.6 Auch der insoweit zu einem ähnlichen Ergebnis kommenden Rechtsauffassung von Härting7, die Vorschrift des § 1 Abs. 3 BDSG führe dazu, dass das BDSG auf die mandatsbezogene Datenverarbeitung der Anwaltschaft keine Anwendung finde, weil insoweit das Anwaltsgeheimnis vorgehe, konnte sich der Jubilar zu Recht nicht anschließen. Bestand insoweit eine große Diskrepanz mit Herrn Kollegen Rüpke und später auch mit Herrn Kollegen Härting, so bestand doch Einigkeit darin, dass der Zustand, so wie er ist, nicht hingenommen werden kann. Das Anwaltsgeheimnis ist für die Berufsausübung der Rechtsanwälte von zentraler Bedeutung und liegt auch im öffentlichen Interesse. Nicht umsonst besteht es schon weit länger als sämtliche Daten-

__________ 3 Auszugsweise dokumentiert in: Abel (Hrsg.), Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, 1. Aufl. 1998; 2. Aufl., 2003. 4 Freie Advokatur, anwaltliche Informationsverarbeitung und Datenschutzrecht, 1995. 5 Heute gem. § 4f Abs. 4 BDSG nötig bei mehr als neun Beschäftigten. 6 DAV 2004, 618; ebenso Redeker, in: Abel (Hrsg.), Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, S. 43 (44 ff.). 7 ITRB 2004, 279 (280).

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Datenschutz und Anwaltschaft – ein schwieriges Verhältnis

schutzgesetze8. Es kann nicht sein, dass dieses Anwaltsgeheimnis dadurch durchlöchert wird, dass ein Rechtsanwalt anderen als den Mandanten Auskunft zu den gespeicherten Daten geben muss oder anwaltsferne Datenschutzkontrollinstanzen Überwachungsbefugnisse erhalten, bei deren Ausübung sie auch dem Anwaltsgeheimnis unterliegende Daten erfahren. Eine solche Lösung verbietet sich besonders, wenn diese Behörden potentielle Verfahrensgegner des Anwalts sind. Auch die Bestellung eines betrieblichen Datenschutzbeauftragten erwies sich als schwierig. Die Anwälte selbst als Betriebsinhaber können dies nach dem BDSG gemäß überwiegender Meinung9 nicht sein. Meist sind auch keine Angestellten vorhanden, die die notwendige Unabhängigkeit und Ausbildung haben. Es müssten externe Datenschutzbeauftragte bestellt werden, die bis vor kurzem selbst weder einer Schweigepflicht noch einem Schweigerecht unterlagen10. Nichts lag also näher, als den Versuch zu unternehmen, anwaltspezifisches Datenschutzrecht zu entwickeln. Herr Kollege Rüpke war insoweit im Rahmen von Ausschüssen der Bundesrechtsanwaltskammer zuständig, der Gesetzgebungsausschuss Informationsrecht beim Deutschen Anwaltverein. Gemeinsame Überzeugung war, dass letztendlich nur ein gemeinsamer Vorschlag der beiden Anwaltsorganisationen eine Chance hätte, politisch auch durchgesetzt zu werden. So kam es zu einem Gesetzentwurf des entsprechenden Ausschusses der BRAK11 und zu Überlegungen des Gesetzgebungsausschusses Informationsrecht des DAV. Diese Vorschläge wichen deutlich voneinander ab. Es fanden daher Verhandlungen statt. Diese Verhandlungen im Jahre 1998 waren für den Unterzeichner und vermutlich auch für den Jubilar eine ungewöhnliche Erfahrung. Wie die meisten Rechtsanwälte waren wir an der Formulierung von Gesetzgebungsvorschlägen üblicherweise nicht beteiligt. Herr Kollege Rüpke und sein Ausschuss hatten aber schon Überlegungen angestellt, wie man auch die Datenschutzbeauftragten und Datenschutzkontrollinstanzen zumindest dazu bewegen konnte, dem Entwurf nicht entgegenzutreten.

__________ 8 Vgl. Redeker, in: Verhandlungen des Deutschen Juristentages 1998, Band II/1, M 106. 9 Siehe z. B. Zuck, in: Abel (Hrsg.), Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, S. 17 (31); a. A. Schneider, DAV 2004, 618 (619 f.). 10 Seit 2006 anders, vgl. § 4f Abs. 4a BDSG. 11 Vgl. BRAK-Mitteilungen 1997, 16.

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Dies führte zu bürokratischen Formulierungsvorschlägen, an denen sich Herr Kollege Rüpke in bürokratiegeeigneter Form beteiligte. Um jeden Punkt und jedes Komma wurde gerungen, Halbsätze wurden verschoben und ausgetauscht und auch die kleinsten Formulierungen geändert, um nicht nur das gemeinsame Ziel einer dem Anwaltsberuf angemessenen, seine besonderen Interessen verteidigenden Regelung zu finden, sondern auch einen Entwurf zu erarbeiten, der Erfolg haben könnte. Dies war umso wichtiger, als damals gerade die EU-Datenschutzrichtlinie verabschiedet wurde, auf deren Formulierung deutsche Datenschützer dem äußeren Anschein nach jedenfalls erheblichen Einfluss hatten und in der keine wahrnehmbaren Ausnahmen für besondere Berufe wie die Rechtsanwaltschaft enthalten waren. Man erreichte aber schließlich ein Ergebnis und formulierte einen gemeinsamen Entwurf. Viel Zeit und Kraft war aufgewandt worden. Das Ergebnis war für die Beteiligten akzeptabel. Das Berufsgeheimnis blieb im Entwurf gewahrt. Auch viele andere Probleme fanden eine zufriedenstellende Lösung. Allerdings dauerte der weitere Abstimmungsprozess bis ins Jahr 2000, als die BRAK eine überarbeitete Fassung vorlegte. Der Gesetzentwurf kam in den Geschäftsgang. Dort blieb er aber dann auch. Ob er jemals bis ins zuständige Justizministerium gelangt ist und ob die jeweiligen Gremien von BRAK und DAV, die vorher noch zustimmen müssten, jemals zugestimmt haben, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers. Gesetz wurde der Entwurf nie. Ruhe kehrte ein. Seit 2004 ist die Debatte wieder aufgeflammt. Einzelne Datenschutzkontrollinstanzen haben die Kontrolle der Anwaltschaft als ihre Aufgabe entdeckt und versuchen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, Auskünfte über Daten zu erhalten, die der Schweigepflicht unterliegen. Sogar ein Bußgeldbescheid gegen einen Rechtsanwalt wurden erlassen, der die verlangte Auskunft verweigerte, um seine Schweigepflicht zu wahren.12 Die Datenschutzkontrollinstanzen zeigen in beängstigend banaler Weise, wie Recht Rihaczek mit seinem Eingangszitat hat: Bester Absicht, Bürger zu schützen, meinen sie, nur staatliche Behörden könnten die Bürger richtig schützen und müssten dafür alles erfahren, was ihnen notwendig erscheint. Dabei höhlen sie ein bewährtes, für Demokratie und Rechts-

__________ 12 Ausführliche Darstellung bei König, in: Festschrift für Rainer Hamm, 2008, S. 325.

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Datenschutz und Anwaltschaft – ein schwieriges Verhältnis

staat zentrales Mittel zum Schutz der Bürger aus: die unabhängige Interessenvertretung durch schweigeberechtigte Anwälte. Das AG Tiergarten hat dies zu Recht anders gesehen und den Bußgeldbescheid aufgehoben.13 Auch DAV und BRAK sind wieder aktiv geworden. Der Informationsrechtsauschuss des DAV hat sich kritisch mit den Ansprüchen der Datenschutzkontrollinstanzen auseinandergesetzt.14 Der Berufsrechtsausschuss des DAV hat einen sehr knappen Vorschlag gemacht, der die Anwendung des BDSG auf mandatsbezogene Daten ausschließen soll15. Die BRAK hatte einen anderen etwas knappen Vorschlag gemacht, der den Rechtsanwaltskammern die Kontrollbefugnisse übertragen soll. Ob diese Entwürfe zu einem Niederschlag im Gesetz führen, bleibt abzuwarten. Die Unsicherheit über die Rechtslage bleibt. Eine „Insel der Vernunft“ ist nicht zu entdecken. Trotz vieler Bemühungen bleibt noch viel zu tun.

__________ 13 AG Tiergarten v. 5.10.2006 – 317 OWi 3235/05, NJW 2007, 97, nicht rechtskräftig. 14 Stellungnahme 9/2008, zu lesen im Internetauftritt des DAV. 15 Abgedruckt AnwBl. 2006, 721.

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I. Späte Bekenntnisse: Internet-Recht und Anwaltswerbung im Internet Ursula Widmer*

„Dem kometenhaften Aufschwung der New Economy folgte das Platzen einer Spekulationsblase und der von vielen so bezeichnete Niedergang der Internet-Wirtschaft. Bei Lichte betrachtet handelt es sich jedoch um einen für jede Volkswirtschaft völlig normalen Konsolidierungsvorgang, der über die Jahrhunderte hinweg in Zyklen immer wieder beobachtet werden konnte. Mit der üblichen Verzögerung folgen die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung diesem Zyklus.“1 Prof. Dr. Gerald Spindler 1995 war das erste Jahr, in welchem, einige Zeit nach den Universitäten, auch die Geschäftswelt in Deutschland und der Schweiz die Bedeutung des Internet erstmals voll erkannten. Die Medien berichteten häufig über die Möglichkeiten und Gefahren des Internet und viele Firmen registrierten eine Internetadresse bzw. einen Domainnamen und realisierten ihren ersten Internet-Auftritt bzw. ihre eigene Website. Diese Website-Projekte wurden kundenseitig meist nicht, wie die bisherigen IT-Projekte, durch die Finanzabteilung, welcher häufig die IT unterstellt war, oder die IT-Abteilung initiiert und begleitet, sondern durch die Marketingabteilung. Da diese bis dahin in IT-Belangen unerfahren war, führte dies zu vielen misslungenen Web-Projekten. Die neuartigen rechtlichen Fragestellungen waren zahlreich und ein großer juristischer Beratungsbedarf im Hinblick auf die Nutzung des Internet zeichnete sich ab. Die Auseinandersetzung und Bearbeitung dieses Neulandes war eine Herausforderung für alle sich für technische Belange interessierenden Juristen, also insbesondere die damals kleine Anzahl der EDV- bzw. IT-Rechtler, aber etwa auch die Markenrechtler, welche sich erstmals mit den Problemen der Domainnamen zu befassen begannen.

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* Dr. Ursula Widmer ist Rechtsanwältin der Kanzlei Dr. Widmer & Partner, Rechtsanwälte, Bern. 1 Aus dem Vorwort zu Spindler (Hrsg.), Vertragsrecht der Internet-Provider, 2. Aufl., 2004.

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Da wir in der Schweiz sehr früh mit rechtlichen Fragestellungen rund um das Internet konfrontiert wurden (durften wir doch etwa die Gründung der schweizerischen Domainnamen-Registry Switch begleiten), wollten wir auch selber unsere ersten Gehversuche im Internet machen. Wir waren daher in der Schweiz die erste Anwaltskanzlei, welche bereits 1995 ihren Internet-Auftritt realisierte und den Internet-Zugang an allen Arbeitsplätzen den Mitarbeitern zur Verfügung stellte. Eine eigene Website zu realisieren, war für uns nicht nur eine technische Herausforderung, sondern wir hatten auch den Entscheid zu fällen, ob wir dies, unter Berücksichtigung der für Anwälte äußerst restriktiven Werbemöglichkeiten, überhaupt tun durften. So war der Autorin etwa kurz zuvor untersagt worden, einen Artikel für eine Computer-Fachzeitschrift zu Haftungsfragen bei IT-Projekten mit ihrem Bild zu publizieren. Diese Weisung wurde kurze Zeit danach hinfällig, publizierten doch die meisten Autoren in technischen Zeitschriften mit Bild. Vor diesem Hintergrund war unser erster Webauftritt weder mit Namen und Bildern von Mitarbeitern noch mit dem Hinweis auf unsere IT-fachanwaltliche Spezialisierung bestückt und wir trugen uns nicht in ein Suchverzeichnis ein, sondern wählten einen sehr langen und für Suchverzeichnisse damals attraktiven Domainnamen, damit wir den allfälligen Vorwurf der aufdringlichen Werbung hätten entkräften können. Dieser Vorwurf kam glücklicherweise nie. Viele Anwaltskanzleien erstellten in der Folge ihre Web-Auftritte, so auch diejenige des Jubilars – aber etwas später. Denn Jochen Schneider wollte eigentlich, trotz wiederholter Versuche der Autorin, ihn von der Wichtigkeit des Internet als Erfahrungs- und Werbekanal und insbesondere auch betreffend äußerst interessanter neuartiger Fragestelllungen im Zusammenhang mit Vertrags-, Datenschutz- und Urheberrecht zu überzeugen, davon anfänglich nichts wissen. So etwa mit dem Hinweis, die Erarbeitung der Auflagen/Neuauflagen seiner Publikationen sei äußerst spannend, aber auch zeitintensiv und von erster Priorität und daher wolle oder müsse er sich nun nicht mehr mit diesen neuen Dingen befassen, dies wäre etwas für andere. Zum Glück hat die uns allen bekannte Offenheit und technische wie wissenschaftliche Neugier des Jubilars mit der Zeit, trotz anfänglich größten Widerstands, dann doch die Oberhand gewonnen. Und es ist heute unbestritten, dass der Jubilar mit seinen Mitarbeitern zu den führenden Internet-Rechtlern Deutschlands zählt. Heute wird die Notwendigkeit eines Internet-Auftritts nicht mehr hinterfragt. Damals jedoch war zu prüfen, ob dies für eine Anwaltskanzlei 184

Späte Bekenntnisse: Internet-Recht und Anwaltswerbung im Internet

überhaupt zulässig und mit den Vorschriften über die Anwaltswerbung vereinbar sei. In welchem Ausmaß sich hier die Auffassung seit Mitte der Neunzigerjahre geändert hat, zeigt der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts zur Anwaltsversteigerung2 vom 19.2.2008. Nach Auffassung des Gerichts stellt die Versteigerung anwaltlicher Leistungen via Internetauktion keinen Verstoß gegen das Berufsrecht dar. Insbesondere liegt auch keine unerlaubte Werbung vor. Nach Auffassung des Gerichts ist das Angebot von Anwaltsleistungen über eine Internetauktion als Werbemaßnahme zu qualifizieren. Mangels vorgängiger Kenntnis des Anwaltes über einen konkreten Beratungsbedarf handelt es sich hierbei jedoch nicht um unzulässige Werbung um ein Mandat im Einzelfall, die so genannte Werbung um Praxis, auch wenn sie letztlich auf den Abschluss eines Mandats ausgerichtet ist. Das Gericht verneint, dass es sich der Form oder dem Inhalt nach um unsachliche Werbung handle. Ebenso erachtet es betreffend der Preisangaben diese nicht als irreführend, vorausgesetzt, dass der niedrige Startpreis und das aktuelle Höchstgebot klar als solche bezeichnet sind. Dass der Abschluss des Mandats über eine Auktion im Internet vermittelt wird, stelle das Vertrauen der Rechtssuchenden nicht in Frage, denn der Anwalt rate nicht aus Gewinnstreben zu Prozessen und richte auch sonst die Mandatsbearbeitung nicht nach Gebühreninteressen aus. Das Gericht beurteilt auch andere berufsrechtliche Bestimmungen, z. B. das Verbot der Gewährung von Provisionen für die Mandatsvermittlung, als nicht verletzt. Insbesondere werde auch das Ansehen der Anwaltschaft nicht in relevanter Weise beeinträchtigt. In der Mitte der Neunzigerjahre sprach man im Zusammenhang mit anwaltlichen Internet-Auftritten von einem „neuartigen Problem“, dessen rechtliche Beurteilung Gegenstand eingehender Untersuchungen war. Durchgesetzt hat sich dann die Auffassung, wie sie dem Grundsatz nach auch dem erwähnten Entscheid des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt. Im Unterschied zur Schweiz war in Deutschland mit § 43 BRAO seit dem 2.9.1994 bereits eine Norm in Kraft, nach welcher die Zulässigkeit anwaltlicher Werbung nach objektiven Kriterien zu beurteilen ist, nämlich nach der Sachlichkeit in Form und Inhalt und dem Unterlas-

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2 BVerfG, Beschluss vom 19.2.2008 – BvR 1886/06.

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sen der Werbung um Praxis, das heißt, der in Kenntnis eines konkreten Beratungsbedarfs auf die Mandatserteilung im Einzelfall gezielten Werbung. In der Schweiz galten zu dieser Zeit noch die kantonalen Anwaltsgesetze und Standesregeln, die nicht nur irreführende und gezielt auf Erteilung von Mandaten gerichtete Werbung untersagten, sondern jede Werbung, welche nicht im Einklang mit der „Berufswürde“ des Anwaltes stand. So war etwa nach Art. 14 des Gesetzes über die Fürsprecher3 des Kantons Bern jede „aufdringliche“ Werbung unzulässig und dem Anwalt wurde untersagt, „Aufsehen zu seinen eigenen Gunsten zu erregen“. Der Zweck dieser Bestimmung wurde primär darin gesehen, „Würde und Ansehen“ des Anwaltsstandes zu bewahren und dessen Kommerzialisierung zu verhindern. In den Standesregeln wurde die Werbebeschränkung detailliert ausgeführt. Untersagt war jede Werbung in anderen als Print-Medien, also auch dem Internet, und für Zeitungsanzeigen waren Anlässe (Eröffnung, Verlegung der Kanzlei, Ein- oder Austritt von Mitarbeitern) sowie die Form („Beschränkung auf das Nötigste“) sowie Anzahl des Erscheinens (zweimal) detailliert und restriktiv geregelt. So wurde damals, wie bereits erwähnt, von einigen Anwälten (insbesondere den Konkurrenten der Autoren) vermutet, dass die Publikation eines Zeitschriftenartikels mit Foto des Autors – damals etwas völlig Neuartiges für juristische Artikel – unzulässig sei, da eben der Kategorie „aufdringliche“ Werbung zuzuordnen. Erst mit dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA) wurden die Regelungen zur Anwaltswerbung für die ganze Schweiz vereinheitlicht und versachlicht. Art. 12 lit. d BGFA hält nun auch für die Schweiz fest, dass Anwälte grundsätzlich Werbung betreiben dürfen, solange diese objektiv bleibt und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entspricht. Somit ist auch für einen Schweizer Anwalt ein eigener Internetauftritt eine zulässige Form der Werbung. Zusammenfassend kann einerseits festgestellt werden, dass sich gerade an den verschiedenen Formen der Präsenz im Internet die zunehmende Versachlichung des Themas Anwaltswerbung schön aufzeigen lässt

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3 „Fürsprecher“ oder „Fürsprech“ meint nicht etwa einen Mitarbeiter des Sozialdienstes, wie dies vermutet werden könnte, sondern ist das im Kanton Bern und einigen anderen Schweizer Kantonen noch immer gebräuchliche, antiquiert anmutende Synonym für Rechtsanwalt.

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Späte Bekenntnisse: Internet-Recht und Anwaltswerbung im Internet

und dass aus einem Meer von bisher eher unvernünftigen berufs- und standesrechtlichen Ansinnen das spektakuläre Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Insel der Vernunft herausragt. Andererseits ist gerade auch der Jubilar, dem dieser Artikel aus Dankbarkeit für seine Freundschaft und in Anerkennung seiner hohen fachlichen Kompetenz gewidmet ist, ein exzellentes Beispiel dafür, dass der wahre Spezialist seine Position auf Dauer nicht der eigenen Werbung verdankt, sondern seinen herausragenden Ruf höchster Fachkompetenz durch viele Jahre konsequenter, bienenfleißiger und harter Arbeit erarbeitet hat und stetig ausbaut, da gerade das Neue und Innovative immer wieder eine Triebfeder dieser enormen Schaffenskraft zu sein scheint. Auf dieser Grundlage darf er mit seiner Anwaltskanzlei dann von der für Anwälte nach wie vor wirksamsten Form der Werbung profitieren, nämlich der Mund-zu-Mund-Werbung zufriedener Kunden, respektvoller Behörden und Mitbewerber sowie begeisterter Freunde.

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II. „… von nichts kann nichts kommen … oder wie macht man eine Fachanwaltschaft“ Astrid Auer-Reinsdorff*/Peter Bräutigam**

„Die Fachanwaltschaft für Informationstechnologierecht hat in Abgrenzung zu dem Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz sowie der Fachanwaltschaft für Urheberund Medienrecht vor allem die technischen Kenntnisse dieses Spezialgebietes vor Augen. Obwohl inzwischen etabliert, handelt es sich beim IT-Recht wohl immer noch um das zurzeit zukunftsträchtigste Rechtsgebiet.“ Christian Dahns1 Sicher folgt es keinem Naturgesetz, dass die Rechtsanwaltskammern seit dem 1.11.2006 im Sinne des § 43 c Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) die Befugnis verleihen können, die Fachanwaltsbezeichnung für Informationstechnologierecht in ihrer Ausprägung nach den §§ 14 k), 5 r) Fachanwaltsordnung (FAO) zu führen. Auch ist dies nicht Ergebnis reiner Vernunftanwendung und Naturbeobachtung, aber es bedurfte guter Analyse der Gegebenheiten, vertiefter Branchenkenntnisse, einer gesunden Beigabe von Kollegialität, vernünftiger Vorbereitung und Sachverstand sowie Engagement, denn „von nichts kann nichts kommen“2. Die Einrichtung, Aufgaben, Selbstorganisation und Beschlussfassung der Satzungsversammlung regeln die §§ 191a ff. BRAO in Verbindung mit der Geschäftsordnung in der Fassung, wie sie in der 4. Sitzung der 3. Satzungsversammlung vom 21.2.2005 beschlossen wurde. Nach § 191a Absatz 2 BRAO erlässt die Satzungsversammlung als Satzung eine Berufsordnung für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes unter

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Die Autorin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Informationstechnologierecht in der Kanzlei AUER in Berlin sowie Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft IT-Recht im DAV (davit). ** Der Autor ist Partner der Kanzlei Nörr Stiefenhofer Lutz in München, Fachanwalt für Informationstechnologierecht, Mitgründer und Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der davit. 1 Christian Dahns, Neue Fachanwaltschaften und Änderungen der FAO, BRAKMagazin 2006, S. 11. 2 Jostein Gaarder, Sofies Welt, Die Naturphilosophen, S. 38 ff.

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… oder wie macht man eine Fachanwaltschaft

Berücksichtigung der beruflichen Pflichten und nach Maßgabe des § 59b BRAO. Die FAO ist Teil dieser Berufsordnung. Für die Themen um die Fachanwaltschaften hat die Satzungsversammlung einen Fachausschuss eingerichtet. Dies war das Gremium, welchem das „Für“ und „Wie“ der Fachanwaltschaft im ersten Schritt nahe zu bringen war. Und nahe zu bringen war dies als „Willen der IT-Anwaltschaft“, da eine Gruppe von Anwälten und Anwältinnen, welche ein breites Spektrum der IT-Anwaltschaft abbildete, in einem Workshop am 29.7.2005 in Berlin unter Leitung des Geschäftsführenden Ausschusses der davit3 nach intensiver Diskussion entschieden hatte: Ja – zu einer Fachanwaltschaft, aber möglichst so, dass sie unser Berufsbild wiedergibt4. Dies sahen wir anhand der vier Kriterien für neue Fachanwaltschaften5 als möglich an. Am 20.2.2006 befürwortete dies auch der Fachausschuss der Satzungsversammlung. Die Kriterien der Satzungsversammlung als Voraussetzungen für die Einführung einer Fachanwaltschaft waren erfüllt, da das IT-Recht: – als Fachgebiet breit, vielfältig und als eigenständiges Rechtsgebiet von anderen, insbesondere von den bestehenden Fachanwaltschaften abgrenzbar ist; – eine breite Nachfrage potenzieller Mandanten erfasst; – als Fachgebiet der Erhaltung oder Ausweitung anwaltlicher Tätigkeitsfelder im Wettbewerb mit Dritten dient; – aufgrund der rechtlichen Schwierigkeiten und der Komplexität der Lebenssachverhalte einen Spezialisten erfordert. Das Fachgebiet ist durch die Regelungsgegenstände (Hardware, Software, Daten) und deren Eigenheiten sowie die Branche mit hoher Innovationsrate gekennzeichnet und abgegrenzt. Ein Indiz hierfür ist das

__________ 3 Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologierecht im Deutschen Anwalt Verein, gegründet am 18.6.1999. Dem Geschäftsführenden Ausschuss gehörten zu diesem Zeitpunkt an: Prof. Dr. Jochen Schneider, Dr. Astrid AuerReinsdorff, Dr. Peter Bräutigam, Dr. Thomas Lapp, Alexander Eichler, Axel Rinkler, Dr. Bernhard Hörl, Fabian Reinholz als Kassenprüfer und aus dem DAV-Vorstand entsandt Heide Krönert-Stolting. 4 Jochen Schneider/Astrid Auer-Reinsdorff, Wir brauchen die Fachanwaltschaft IT-Recht, AnwBl 2005, S. 623 f.; Astrid Auer-Reinsdorff, Workshop der davit befürwortet die Einführung einer Fachanwaltschaft für IT-Recht, ITRB 2005, 245 f. 5 Nicolas Lührig, AnwBl 2005, 28 ff.

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Erfordernis nach speziellen Vertragsbedingungen der öffentlichen Hand6. Zugleich ist das IT-Recht eine Querschnittsmaterie mit einem Schwerpunkt im Zivilrecht, vor allem Vertragsrecht mit speziellen Regelungen im Urheberrecht, über das öffentliche Recht7 bis zum Strafrecht. Die seit langem große Nachfrage zahlreicher größerer Mandanten – zunehmend sind auch die kleineren Technologie-Unternehmen sowie KMU aller Branchen IT-anwaltlich beraten – sorgt dafür, dass eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Anwälten dieses Rechtsgebiet betreut. Diese Fachanwaltschaft dient der Hervorhebung der spezialisierten Kolleginnen/Kollegen aus einem Markt von juristischen Informationen und Beratung, welcher durch die Betätigung von Nicht-Anwälten in diesem Themenkomplex droht, unüberschaubar zu werden. Konkurrenten sind die Beratungs- und Systemhäuser sowie Projektberater, die Vertrags- und Projektarbeit leisten und hierzu auch rechtlich beraten. Ein weiterer großer Bereich, welcher von zumeist rein technisch gebildeten Beratern vermehrt beansprucht wird, ist die Beratung in Fragen der Datensicherheit, des Datenschutzes sowie des IT-Risikomanagements. Ferner drängen internationale Law Firms auf den Deutschen Markt, weshalb die Deutsche Anwaltschaft nur mit einer ausgewiesenen Spezialisierung punkten kann. Die Gepflogenheiten der Branche und deren Bedürfnisse ändern sich mit der Innovationsrate der Technik. Die Beratung muss neue Geschäftsmodelle in Vertragsform gießen, die oft erst Jahre später Gegenstand der richterlichen Klärung sind. Die Prozessvertretung erfordert die Fähigkeit, die fachspezifischen Sachverhalte nachvollziehbar zu erläutern. Vielfalt, Schwierigkeit und Komplexität der Themen füllen vier allgemeine IT-rechtliche Fachzeitschriften sowie einige spezielle Themenzeitschriften und eine große Anzahl spezialisierter Fachbücher und Dissertationen. Wir haben die Satzungsversammlung in der Tat als das „Parlament der Anwaltschaft“ erlebt, haben dort Gehör gefunden und die Bereitschaft, sich mit einer fremden und zukunftsweisenden Rechtsmaterie auseinanderzusetzen. Das „IT-Recht“ ist, anders als die von der Rechtsmaterie her abgrenzbaren Rechtsgebiete, wie z. B. das Familienrecht, ein Gebiet, dem eine

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6 BVB/EVB-IT; http://www.kbst.bund.de. 7 Zum Beispiel: Datenschutzrecht, eGovernment.

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Branche, nämlich die Informationstechnologie, Kontur verleiht. ITRecht ist weder in einem oder mehreren Gesetzen kodifiziert, noch starr definiert. Im Gegenteil: Dieses Rechtsgebiet ist durch eine ständige Fortentwicklung geprägt, um mit den rasanten technischen und wirtschaftlichen Neuerungen Schritt zu halten. Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet wird das IT-Recht von einem ganzen Sammelsurium von unterschiedlichsten Regelungswerken geprägt. Dies spiegelt sich in den nachzuweisenden besonderen Kenntnissen, wie sie nach § 14 k) FAO verlangt werden, wider: § 14 k) Nachzuweisende besondere Kenntnisse im Informationstechnologierecht Für das Fachgebiet Informationstechnologierecht sind besondere Kenntnisse nachzuweisen in den Bereichen: 1. Vertragsrecht der Informationstechnologien, einschließlich der Gestaltung individueller Verträge und AGB; 2. Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs, einschließlich der Gestaltung von Provider-Verträgen und Nutzungsbedingungen (Online-/Mobile Business); 3. Grundzüge des Immaterialgüterrechts im Bereich der Informationstechnologien, Bezüge zum Kennzeichenrecht, insbesondere Domainrecht; 4. Recht des Datenschutzes und der Sicherheit der Informationstechnologien einschließlich Verschlüsselungen und Signaturen sowie deren berufsspezifischer Besonderheiten; 5. Das Recht der Kommunikationsnetze und -dienste, insbesondere das Recht der Telekommunikation und deren Dienste; 6. Öffentliche Vergabe von Leistungen der Informationstechnologien (einschließlich e-Government) mit Bezügen zum europäischen und deutschen Kartellrecht; 7. Internationale Bezüge einschließlich Internationales Privatrecht; 8. Besonderheiten des Strafrechts im Bereich der Informationstechnologien; 9. Besonderheiten der Verfahrens- und Prozessführung. Selbst wenn sich in dem Katalog zahlreiche Rechtsgebiete finden, die auch für andere Spezialisierungen relevant sind, lässt sich die Fachanwaltschaft IT-Recht deutlich von der für den gewerblichen Rechtsschutz sowie von der Fachanwaltschaft für Medien- und Urheberrecht 191

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abgrenzen. So wird bei der FA für den gewerblichen Rechtsschutz der Schwerpunkt auf Patent-, Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster- und Sortenschutzrecht, Marken- und Kennzeichenrecht und urheberrechtliche Bezüge des gewerblichen Rechtsschutzes gelegt, beim FA ITRecht werden solche rechtlichen Fragen nur in Bezug auf branchenspezifische Fallkonstellationen, wie Hard- und Softwarevertrieb, Webdesign, Domainstreitigkeiten etc. relevant. Die Fachanwaltschaft für Medien und Urheberrecht zeichnet sich gegenüber der Fachanwaltschaft IT-Recht durch den Fokus auf Funk, Fernsehen, Verlags- und Presserecht aus, die hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Z. B. beschäftigt sie sich mit urheberrechtlichen Aspekten in Bezug auf Printmedien, Funk und Fernsehen. Die Fachanwaltschaft IT-Recht dagegen verfolgt urheberrechtliche Aspekte im Hinblick auf §§ 69a ff., 87a ff. und 95a ff. UrhG. Eine weitere Besonderheit der Fachanwaltschaft IT-Recht ist die nach § 5 r) FAO verhältnismäßig niedrige Anzahl der nachzuweisenden Fälle (10) im rechtsförmlichen Verfahren. Hier ist zu berücksichtigen, dass ein rechtsförmliches Verfahren vor allem bei komplexen IT-Projekten eher die Ausnahme ist8. Vieles wird außergerichtlich, etwa im Rahmen der Schlichtung beigelegt. Dieser Tatsache trägt der § 5 r) FAO Rechnung, auch Schlichtungs- oder Schiedsverfahren und ebensolche Verfahren vor internationalen Stellen als rechtsförmliche Verfahren neben Gerichtsverfahren und Verwaltungsverfahren anzuerkennen. Zudem kann stets auf § 5 Satz 47 rekurriert werden, wonach große Verfahren bei komplexen IT-Projekten nach Bedeutung, Umfang und Schwierigkeit zu einer höheren Gewichtung führen können. Möglicherweise hilft schließlich nun auch das Fachgespräch gemäß § 7 FAO. In der Praxis war bisher umstritten, ob durch das Fachgespräch eventuelle Lücken beim Nachweis der Fälle – also auch rechtsförmlicher Verfahren – geschlossen werden können, oder ob durch das Gespräch nur noch „Unklarheiten in und Zweifel an den vorgelegten Unterlagen geklärt“, nicht aber fehlende Nachweise ersetzt werden dürfen9.

__________ 8 Es gibt aber auch im IT-Recht durchaus Bereiche, in denen rechtsförmliche Verfahren relativ heufig vorkommen, z. B. bei Domainstreitigkeiten. 9 Beschl. v. 16.4.2007, BRAK-Mitt. 2007, 166 ff.

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In dieser Frage hat jetzt der BGH10 Klarheit geschaffen, indem er im Fachgespräch eine ergänzende Beurteilungsgrundlage für solche Fälle erkennt, in denen die Voraussetzungen nach §§ 4 bis 6 FAO nicht bereits durch die schriftlichen Unterlagen nachgewiesen sind, der Nachweis besonderer theoretischer Kenntnisse und praktischer Erfahrungen im Rahmen eines Fachgesprächs aber noch aussichtsreich erscheint11. Damit ist insbesondere in solchen Fachgebieten den Antragstellern geholfen, in denen Fälle auch aus Teilbereichen nachgewiesen werden müssen, in denen Mandate relativ schwer zu erlangen sind12, wie das eben beim IT-Recht der Fall ist. Die Fachanwaltschaft für IT-Recht baut an einer großen Insel der Vernunft als Anker in den Meeresströmungen der rechtlichen Anforderungen in der Informations- und Wissensgesellschaft. Sie hofft zugleich für sich selbst auf Wohlwollen bei ihrer Nennung auf Visitenkarten, Briefbögen, Aufsätzen etc., zitiert doch auch die Pressemeldung13 die vorgeschlagene Abkürzung „IT-Recht“, wie sie dann leider nicht Einzug in den Beschlusstext14 zu § 1 FAO, aber zu § 5 r) FAO fand!

__________ 10 BGH, Beschl. v. 25.2.2008 – AnwZ (B) 14/07, BRAK-Mitt. 3/2008, 133 ff. 11 Senat, Beschl. v. 7.3.2005, AnwZ (B) 11/04, NJW 2005, 2082, 2083. 12 Scharmer, Anmerkung zum BGH Beschl. v. 25.2.2008, BRAK-Mitt. 3/2008, 135. 13 Pressemeldung Nr. 13 vom 3.4.2006, www.brak.de/seiten/04_06_13.php. 14 Amtliche Bekanntmachung der Beschlüsse der 6. Sitzung der 3. Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer am 3.4.2006 in Berlin, BRAK-Mitt. 2006, 168 ff.

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III. Inseln der Vernunft – Versuch einer rechtsphilosophischen Umrundung Bernd Schiffer*

Ist die Rechtswissenschaft eine Insel im Meer allgemeiner Unvernunft? Gibt es juristische Fachgebiete – sagen wir, beispielsweise, das Recht der Informationstechnologie –, die Inseln im Meer einer speziellen rechtswissenschaftlichen Unvernunft sind? Ist die Rechtswissenschaft umgekehrt ein Teil der Unvernunft selbst, der es nur noch nicht gelungen ist, einige letzte Inseln der Vernunft zu überfluten? Der geplagte Praktiker wird womöglich die Frage im letztgenannten Sinne beantworten. Es ist einfach, auf allen Rechtsgebieten unseres Systems Beispiele für Monstrositäten zu finden. Als Indizien wird z. B. ein Steuerrechtler etliche Prachtstücke logischer Unmöglichkeiten heranziehen, wie z. B. die berühmten Veröffentlichungen der nicht veröffentlichten Entscheidungen des Bundesfinanzhofes (BFH-NV) oder die Festsetzung nachträglicher Vorauszahlungen oder den berüchtigten § 52 EStG mit ungefähr 70 Absätzen, die sich mit nichts anderem befassen als erstmaligen und letztmaligen Anwendungszeiträumen; aber in Teildisziplinen kann das IT-Recht sicher mithalten – gut zu demonstrieren am Beispiel des § 651 BGB, einer ehemals simpel und harmlos erscheinenden Vorschrift, bei der aber weder tatbestandliche Reichweite noch Rechtsfolgen kalkulierbar sind (siehe Schneider, in: Schneider/Westphalen, Softwareerstellungsverträge). Wir müssen uns um die Definitionen der Basisbegriffe Recht und Vernunft bemühen (den Begriff der Insel überspringen wir selbstverständlich, um nicht einräumen zu müssen, dass wir schon hier definitorisch an Grenzen stoßen – ist doch die Definition „von Wasser umgebenes Land“ auf jedes Landstück anwendbar, somit ohne Unterscheidungskraft und damit per definitionem keine Definition). Die Frage nach Recht und Vernunft aber, gar zu ihrem Verhältnis zueinander, ist nun eine genuin philosophische Frage und kann nicht einmal andiskutiert werden ohne den Rückgriff auf die Philosophie Immanuel Kants. (Wir stoßen unweigerlich auf ihn, selbst wenn wir an das Thema „Insel

__________ * Dr. Bernd Schiffer ist Rechtsanwalt der Kanzlei SSW Schneider Schiffer Weihermüller in München.

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Inseln der Vernunft – Versuch einer rechtsphilosophischen Umrundung

der Vernunft“ mit nichts anderem herangehen wollten als mit einer Internet-Suchmaschine – 303.000 Fundstellen bei Google). In seiner Kritik der reinen Vernunft (B 294) lesen wir: „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald weg schmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herum schwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen enttäuscht, ihn in Abenteuer verpflichtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“ Mit anderen Worten: Unser Verstand kann nur empirische Dinge (die Insel) erkennen; dort hat er sicheren Boden unter den Füßen. Aber er kann diese Insel nicht verlassen. Unsere Messinstrumente können nur die Insel vermessen, nur die Erscheinungen auf dieser Insel erkennen – mit allem, was darüber hinaus liegt, hat der Verstand schon seine Grenze erreicht. Die Reise weg von der Insel führt uns in Nebel und trügerische Bilder – hier hat der Verstand keinen festen Boden mehr unter den Füßen, sondern er befindet sich im Land der Vernunft. Verstand hat Kant erklärt „durch das Vermögen der Regeln“ – gemeint ist, dass der Verstand jede Erkenntnis schon bei der Wahrnehmung in Form von Begriffen und Regeln geordnet hat. Vernunft nennt Kant hingegen das „Vermögen der Prinzipien“ (KrV, B 356). Der Verstand macht also etwas mit Anschauungen – er ordnet sie in all ihrer Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit durch Begriffe und Regeln. Die Vernunft nunmehr wiederum ordnet die Mannigfaltigkeit dieser Regeln des Verstandes. Salopp ausgedrückt: der Verstand macht etwas mit den Anschauungen, die Vernunft etwas mit dem Verstand. Danach wäre also Vernunft das höchste Erkenntnisvermögen, Verstand nur ein – ihm untergeordnetes – Instrument; unter Vernunft fassen wir, was der Verstandestätigkeit, der sinnlichen Wahrnehmung und dem Handeln voraus liegt, unter Verstand (nur) eine Tätigkeit der Erkenntnis, die Elemente zu Zusammenhängen nach Maßgabe bestimmter Regeln verknüpft. Produkte des Verstandes an sich besitzen keine organische Einheit und keine vollständige Kohärenz; innerhalb einer Hierarchie der Erkenntnisquellen beansprucht Vernunft das Primat und wird 195

Bernd Schiffer

der bloße Verstand degradiert (Burgio). Vernunft kann, um wieder Kant zu zitieren, „dem Verstande selbst seine Schranken“ setzen. Zu klären bleibt jetzt zweierlei: Ist dann Rechtswissenschaft bloße Verstandeswissenschaft, für immer auf die Insel gebannt? Wie kommt die Vernunft zum Recht, und wie steht sie zu ihm? Wie entsteht Recht aus Vernunft (und wo bleibt dabei die Freiheit)? Wechseln wir dazu nochmals die Perspektiven. Recht ist zunächst (nur) eine spezifische Form der Ordnung menschlicher Verhältnisse – eine Ordnung anhand von Normen, die von dazu autorisierten Instanzen nach festgelegten Prozeduren erlassen werden, die Überzeugungen und Gewohnheiten der Betroffenen entsprechen oder aus einem übergeordneten Regulativprinzip abgeleitet sind – oder mehrere dieser Bedingungen zugleich erfüllen (Kaufmann). Der Jurist mag sich mit der ersten, allenfalls noch zweiten zufrieden geben – mindestens seit seinen Spätschriften „Zum ewigen Frieden“ (1795) und „Streit der Fakultäten“ (1798) ist klar, dass Kant dieser unserer Zunft nicht mit absoluter Hochachtung begegnet; Juristen sind Fachleute für das „Iuridische“, d. h. Äusserliche, Legalistische, Konforme, das aber moralisch wertlos ist; sie wissen vielleicht was „rechtens“ ist, aber ansonsten sind sie unfähig zu vorurteilslosen, unabhängigen Antworten, weil sie zu nah an der Macht stehen und ihre Loyalitätspflichten nicht ablegen können. Kants Anspruch ist aber die Aufdeckung jenes dritten, übergeordneten Prinzips, das über das von den zuständigen Stellen gesetzte Recht (positive Recht) und bloße Zweckmäßigkeiten hinausgeht, eines Kriteriums, „woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht erkennen kann“; eines moralischen Fundaments – und die Quelle eines solchen Urteils ist nach Kant – womit wir uns dem Ziel unserer Betrachtung nähern – in der bloßen Vernunft zu suchen (Metaphysik der Sitten, Einleitung). Für Kant sind alle echten Rechtssätze Vernunftgesetze. Sie müssen daher apriorisch sein, das heißt jeder Erfahrung vorausliegend. Recht ist für ihn der Inbegriff „der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“; damit ist eine Verbindung von Recht und Zwang geschaffen (weil es eine Befugnis geben muss, den anderen zur Respektierung der eigenen Freiheit zu zwingen); andererseits ist die Verbindung von Recht und Freiheit geschaffen, die unauflöslich ist. 196

Inseln der Vernunft – Versuch einer rechtsphilosophischen Umrundung

Kant teilte nun das Recht in Privatrecht und Staatsrecht; und auch die Notwendigkeit des Staates begründet Kant nicht aus Nützlichkeitserwägungen, wie es etwa Hobbes oder Locke tun, oder anthropologisch oder historisch, sondern aus reiner Rechtsvernunft. Warum das? Kant geht von einem Urzustand aus, in dem die Menschen in anarchischen Zuständen lebten. In einem solchen Zustand sind fundamentale Selbsterhaltungsinteressen gefährdet. Man muss einen derartigen Naturzustand daher verlassen (exeundum e statu naturali). Dabei hebt Kant aber, wie gesagt, nicht auf praktische Erwägungen ab, sondern ein anarchischer Zustand ist, jeder Ratio einleuchtend, apriori in sich zweckwidrig für das fundamentale Selbsterhaltungsinteresse und das angeborene Recht der Menschen auf Freiheit. Im Mittelpunkt des Naturzustands steht die allgemeine objektive Rechtlosigkeit, die – ebenfalls aus reinen Grundsätzen der Vernunft – aus der allgemeinen individuellen Souveränität aller gegenüber allen folgt und folgen muss. Die Vernunft wiederum erkennt eben dies und erkennt, dass es notwendig ist, die Souveränitäten zu vereinen, damit dann wieder das allgemeine Rechtsgesetz gelten kann. Die Bewegung, mittels derer die vorrechtliche Gemeinschaft sich selbst in einen rechtlichen Zustand versetzt, wird bezeichnet als „der ursprüngliche Vertrag“; die „wilde gesetzlose Freiheit des Naturzustands“ wird aufgegeben zu Gunsten der sicheren Freiheit unter allgemeinen Gesetzen. In der Prinzipienfolge reiner Rechtsvernunft ist der vertragliche Gründungsakt also nicht historisch, sondern eine reine Vernunftidee. Es fällt nun leicht, den Bogen zu schließen zu einer aktuellen Anwendung, nämlich der Geschichte des Internet. Wenn man dieses in seinen ersten Stadien als rechtsfreien Raum betrachtet, so kann man in der Tat sagen, dass sich hier eine Domäne „wilder, gesetzloser Freiheit“ zeigte. Das schrittweise Vordringen des Rechts in diesem Bereich erfolgte sicher zum Teil auch „von oben“, nämlich in Durchsetzung staatlicher Monopole auf gewaltsame Herstellung rechtlicher Zustände. Sie erfolgte aber auch von unten, nämlich im ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis der Beteiligten, gewisse Grenzen zu wahren. Nach reinen Vernunftregeln gedacht, erfolgte dies auch aus der Erkenntnis, dass sich die schrankenlose Freiheit aller im Raum des Internet letztlich selbst zerstören würde. Insofern hat sich auch das Internet aus einem Naturzustand heraus bewegt, weil allgemeine Vernunft den Weg dazu nicht nur vorgezeichnet, sondern erzwungen hat. Dabei hat die gescholtene Juristerei einen wesentlichen, man möchte sagen: aus Vernunftgründen unverzichtbaren Beitrag geleistet.

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Eine letzte Betrachtung: Max Horkheimer hat Kant schlicht als „den Philosophen der Freiheit“ bezeichnet. Welche Rolle spielt die Idee der Freiheit in unserem Zusammenhang mit Recht und Vernunft? Warum ist dieses Ideal hier noch zu erörtern, da die rechtsphilosophische Umrundung der Insel der Vernunft doch abgeschlossen scheint? Die Antwort ist ebenso komplex wie einfach. Der Begriffszusammenhang Freiheit, Recht und Vernunft in Kants Philosophie ist unauflöslich. Dies erläutert sich etwa wie folgt: Auf die Spur bringt uns die nicht widerlegbare Annahme, dass nur ein vernünftiges Wesen überhaupt in der Lage ist, über bloße Determiniertheit hinaus nach Regeln zu handeln (oder dagegen zu verstoßen). Dies wiederum setzt voraus, dass Handlung ein selbstbestimmtes Vorgehen ist. Unbelebte, vernunftlose Gegenstände in der Welt der Mechanik vollführen zweifellos Bewegungen in einer kausal determinierten Kette, aber sie handeln nicht. Handlungen sind nur freie, selbst verursachte und daher verantwortbare Handlungen. Damit sind in Kants Semantik die Begriffe Verbindlichkeit (samt Gesetz, Sollen, Recht), Vernunftautonomie und Freiheit unauflöslich miteinander verbunden und verweisen aufeinander (wir können hier der Frage nicht nachgehen, ob diese Freiheit tatsächlich existent ist oder nur – so bei Kant – vorausgesetzt wird). Dieser Begründungskreis ist daher jedenfalls in sich geschlossen – ohne Rückgriff auf einerseits empirische Tatsachen, andererseits metaphysische Spekulationen. Um mit Kant zu schließen: der Philosoph Kurt Röttgers hat in einem kleinen Buche (Röttgers, „Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner“, Heidelberg 1993) die Frage untersucht, wie man es schafft, in unmittelbarer Nähe eines berühmten Professors ein weit weniger bekannter Kollege desselben zu werden und zu bleiben. Er hat dies am Beispiel des Professors Christian Jakob Kraus getan, der im Jahre 1780 als Professor der praktischen Philosophie Kollege Immanuel Kants an der Universität Königsberg wurde. Das Resümee der Untersuchung ist, kurz gefasst, dass man es zur Verfolgung des vorgenannten Zieles unterlassen müsse, zu schreiben und zu publizieren. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags zur Festschrift für Jochen Schneider ist diesem Ratschlag einige wenige Male nicht gefolgt – ein bisher letztes Mal an dieser Stelle, was ihm nur als Zeichen besonderer Wertschätzung für den Fachmann, Kollegen, Sozius und vor allem Menschen Jochen Schneider ausgelegt werden möge.

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