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German Pages 910 Year 2001
„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen .. Liber amicorum Thomas Oppermann
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf
Vitzthum
in Gemeinschaft mit M a r t i n Heckel, Karl-Hermann Kästner F e r d i n a n d K i r c h h o f , Hans v o n M a n g o l d t M a r t i n Nettesheim, Thomas Oppermann Günter Püttner, M i c h a e l R o n e l l e n f i t s c h sämtlich in Tübingen
Band 59
,Ιη einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen .. Liber amicorum Thomas Oppermann
Herausgegeben von Claus Dieter Classen, Armin Dittmann, Frank Fechner, Ulrich M. Gassner und Michael Kilian
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ..." : Liber amicorum Thomas Oppermann / Hrsg.: Claus Dieter Classen Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 59) ISBN 3-428-10095-6
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-10095-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort der Herausgeber „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ... "
Dieser Satz aus der Präambel des Grundgesetzes besitzt für Thomas Oppermann eine besondere Bedeutung. Mit diesen Worten ist nicht nur sein Beitrag zur Ringvorlesung der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen zum 40jährigen Jubiläum des Grundgesetzes überschrieben; vor allem hat er sich in Gesprächen über die Entwicklung Deutschlands, Europas und der Welt immer wieder auf diese - von ihm zu Recht als „glücklich gelungen" bezeichnete Formulierung bezogen und damit die besondere Bedeutung gerade dieses Verfassungsauftrages auch fur ihn persönlich deutlich gemacht. Daher haben sich die Herausgeber - die unter seiner Betreuung habilitierten Schüler - zur Wahl dieses Mottos als Titel der vorliegenden Festschrift entschlossen. Thomas Oppermann wurde am 15. Februar 1931 in Heidelberg als Sohn eines Altphilologen geboren. Er studierte Rechtswissenschaft, Neuere Geschichte und Wissenschaftliche Politik an den Universitäten Frankfurt a.M., Lyon, Freiburg i.B. und Oxford. Nach der Promotion bei Wilhelm G. Grewe und Josef H. Kaiser
1959 in Freiburg i.B. und Assistententätigkeit bei Herbert
Krüger
in
Hamburg trat er 1960 in das Bundesministerium für Wirtschaft ein, wo er sich unter Ulrich Everling vor allem europarechtlichen Fragen widmete. 1967 habilitierte er sich in Hamburg für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europarecht und Auswärtige Politik. Noch im gleichen Jahr wurde er an die Universität Tübingen berufen, der er trotz verlockender Rufe nach Hamburg (1971) und Bonn (1979) bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999 treu blieb. In Tübingen entfaltete Thomas Oppermann ein wissenschaftliches Werk, das - biographisch nachhaltig geprägt - durch seine Breite beeindruckt und das er auch in der Lehre mit großem Engagement und unter viel Zuspruch seitens der Studenten vertreten hat. Die wichtigsten Schwerpunkte bilden das Kulturverfassungs- und -verwaltungsrecht, das Europarecht und das internationale Wirtschaftsrecht. In diesen Bereichen liegt denn auch der thematische Schwerpunkt der Festschrift. Immer wieder hat sich Thomas Oppermann aber auch zu sonstigen Fragen des nationalen und internationalen öffentlichen Rechts geäußert. Das Schriftenverzeichnis dokumentiert dies eindrucksvoll. Die Vielfalt seiner Interessen belegt auch die Liste der von ihm betreuten Dissertationen. Viele von diesen sind in einer der beiden von Thomas Opper-
6
Vorwort der Herausgeber
mann (mit) herausgegebenen Tübinger Schriftenreihen im Verlag Duncker und Humblot erschienen. Daher freuen sich die Herausgeber, daß die vorliegende Festschrift ebenfalls dort publiziert wird, und bedanken sich bei Herrn Prof. Dr. jur. h.c. Norbert Simon, der dies ermöglicht hat. Besonderer Dank, das sei hier am Rande gleichfalls betont, gilt auch Herrn Kollegen Wolfgang März, Rostock, sowie Frau Annelie Schulz und Frau Ute Reußow, beide Greifswald, für ihre Beiträge zur technischen Realisierung dieses Unternehmens. Den wissenschaftlichen Austausch pflegt Thomas Oppermann gerne auch über staatliche Grenzen (nach Frankreich, wo ihm von der Juristischen Fakultät der Universität Aix-en-Provence 1977 die Würde eines Ehrendoktors verliehen wurde, nach Griechenland, Israel, Japan, Korea, Polen und den USA) ebenso wie über fachliche Grenzen (vor allem mit Wirtschaftswissenschaftlern und Politikwissenschaftlern). Als besonderes Kennzeichen des Werkes von Thomas Oppermann ist aber vor allem dessen Praxisnähe hervorzuheben. Mit wissenschaftlicher Stringenz allein hat er sich nie begnügt. Von ihm konzipierte Lösungen zeichnen sich immer auch durch ihre Praktikabilität und Vermittelbarkeit aus. So war er denn in der juristischen und politischen Praxis nicht nur als Gutachter und Berater vielfach gefragt. Zahlreiche von ihm übernommene Ämter (Mitglied des Staatsgerichtshofs des Landes Baden-Württemberg sowie der Aufsichtsgremien des Südwestfunks und des deutsch-französischen Kulturkanals ARTE) zeugen hiervon. Wer Thomas Oppermann persönlich erlebt, ist vor allem beeindruckt von seiner souveränen Gelassenheit. Einen klaren eigenen Standpunkt verbindet er mit großer Toleranz und Loyalität gegenüber anderen. Wo man ihn erlebt - am Lehrstuhl, im Hörsaal, auf Veranstaltungen und in Gremien - , verbreitet er immer eine Atmosphäre von Warmherzigkeit und Menschlichkeit. Diese Eigenschaften haben ihm eine große Integrationskraft verliehen. So verwundert es nicht, daß er auch in der wissenschaftlichen Welt mit zahlreichen wichtigen Ämtern betraut wurde: Dekan der Juristischen Fakultät (1971 / 72) und Vizepräsident der Universität Tübingen (1983-1985), Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft fur Völkerrecht (1985-1989) sowie der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (1991 -1993). Die Geborgenheit in der Familie hat viel dazu beigetragen, ihm für dieses vielfaltige Engagement die notwendige Kraft zu geben. So hoffen die Herausgeber und die Autoren dieser Festschrift, daß die Stimme von Thomas Oppermann noch viele Jahre in Wissenschaft und Rechtspraxis zu hören sein wird: ad multos annos! Claus Dieter Classen Ulrich
Armin Dittmann M. Gassner
Frank Michael
Kilian
Fechner
Inhaltsverzeichnis I. Nationale Integration und staatliche Verfassunggebung Martin Hechel
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt der Ersten Deutschen Nationalversammlung im Jahre 1848/49
15
Michael Ronellenfitsch
John C. Calhoun und die Europäische Staatengemeinschaft. Nullifikation und Sezession im Bundesstaat
Wolfgang
65
Graf Vitzthum
Multiethnische Demokratie. Das Beispiel Bosnien-Herzegowina
87
Π. Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung
Michael Kilian
Der Visionär. Persönliche Erinnerungen an Walter Hallstein
119
Klaus Stern
Der Weg zur politischen Union Europas
143
Ulrich Everling
Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz
163
Gert Nicolaysen
Der Unionsvertrag als Integrationsverfassung
187
Inhaltsverzeichnis
8 Paul Kirchhof
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union
201
Georgios Papastamkos
Regulierungsleistungen und Politikverflechtungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
Jean-Pierre
219
Puissochet
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes über die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen . .
243
III. Europa und die Welt
Ruth Lapidoth
The EU, Jerusalem and the Peace Process
267
Leszek Lech Garlicki
Der Verfassungsgerichtshof und die „europäische Klausel" in der polnischen Verfassung von 1997
285
Gerald G. Sander
Die Teilhabe mittel- und osteuropäischer Staaten an wirtschaftlichen Integrationsräumen, am Beispiel der Tschechischen Republik Teruyoshi
301
Inagawa
Europäische Integration. Erfahrungen eines japanischen Diplomaten . . . .
329
IV. Konstitutionalisierung der Weltwirtschaft Knut Wolf gang Nörr/Dieter
Waibel
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und die Frage der internationalen Kartelle
345
Inhaltsverzeichnis Ernst-U. Petersmann
Europäisches und weltweites Integrations-, Verfassungs- und Weltbürgerrecht
367
Martin Nettesheim
Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung. Zur Entwicklung der Ordnungsformen des internationalen Wirtschaftsrechts
381
John H. Jackson
The WTO Evolving Constitution
411
Meinhard Hilf
New Economy - New Democracy? Zur demokratischen Legitimation der WTO Karl-Heinz
427
Böckstiegel
Aus der Praxis der internationalen Streiterledigung zwischen Staaten, staatlichen Institutionen, internationalen Organisationen und Privatunternehmen Siegfried
439
Wiessner
Exploring the Edge: The Personal Reach of a Transnational Agreement to Arbitrate
453
V. Nationales und internationales Recht Klaus Vogel
Der Kommentar der OECD zum Doppelbesteuerungs-Musterabkommen
.
All
Louis Dubouis
Der Einfluss des Europarechts auf die Entwicklung der Normenhierarchie in der französischen Rechtsordnung
489
Ulrich M. Gassner
Richtlinien mit Doppelwirkung
503
Inhaltsverzeichnis
10
VI. Internationales, europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht Josef Molsberger
Welthandelsordnung, Globalisierung und wirtschaftspolitische Autonomie
533
Patricia Conlan
EC Free Movement of Persons. From Messina to Amsterdam and beyond, via Rome, Luxembourg and Maastricht
551
Peter Badura
„Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse" unter der Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft Wernhard
Möschel
Subventionspolitik - eine ökonomische Erinnerung Volkmar
571
583
Götz
Rechtsstellung und Rechtsschutz der Konkurrenten in der europäischen Beihilfenaufsicht
593
Hugo J. Hahn
Die Einflußnahme der Europäischen Währungsunion auf Wechselkurse im Spiegel diesbezüglicher Zuständigkeiten
609
Joachim Starbatty
Zur Entwicklung der Europäischen Währungsunion. Gedanken zu Oppermanns Kapitel „Währungsunion"
627
Ferdinand Kirchhof
Opferlage als Grenze der Altlastenhaftung?
639
VII. Kultur und Medien Lyndel V. Prott
An International Legal Instrument for the Protection of the Intangible Cultural Heritage?
657
Inhaltsverzeichnis Frank Fechner
Auf dem Weg vom Kulturverwaltungsrecht zu einem europäischen Kulturrecht
687
Hans-Jörg Birk
Kulturelle Einrichtungen im Bauplanungsrecht
705
Arnos Shapira
Should Violent and Hate Speech be Protected? Some Reflections on Freedom of Expression and its Limits Margret
717
Wittig-Terhardt
Zur Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Lichte des Amsterdamer Protokolls Nr. 23. Unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidungen der Europäischen Kommission zu den Spartenprogrammen Kinderkanal und Phoenix von ARD und ZDF
727
Armin Dittmann
Die Neuen Medien in der Verfassungsordnung. Teledienste und Mediendienste als Teil einer bipolaren Medienordnung
757
Vin. Bildung und Wissenschaft David P. Currie
Kulturverfassung und Leistungspflichten. Ein amerikanisches Beispiel
787
Hiroshi Nishihara
Nationalhymne als Problem des Rechts auf eine ideologisch tolerante Schule in Japan
795
Günter Püttner
Leistungsbeurteilung in der Schule Karl-Hermann
815
Kästner
Religiöse und weltanschauliche Bezüge in der staatlichen Schule
827
Inhaltsverzeichnis
12 Fritz Ossenbühl
Stiftungen als institutionelle Sicherung der Wissenschaftsfreiheit
841
Claus Dieter Classen
Wissenschaftspolitik im Zeichen der Wirtschaft? Zu hochschulpolitischen Fragen an der Jahrtausendschwelle Manfred
857
Erhardt
Bemerkungen zur Reform des Hochschuldienstrechts
871
Bibliographie von Thomas Oppermann
879
Doktoranden von Thomas Oppermann
901
Autorenverzeichnis
905
I. Nationale Integration und staatliche Verfassunggebung
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt der Ersten Deutschen Nationalversammlung im Jahre 1848/49 Von Martin Heckel
I. Das ungelöste Problem der Verfassunggebenden Gewalt 1. Gescheitert ist die Verfassung der Paulskirche letztlich am Konflikt über den Träger und das Verfahren der Verfassunggebenden Gewalt1, der alle anderen Konfliktspunkte in sich aufnahm und verhärtete. Er brach erst in der Schlußphase der Verfassunggebung in seiner vollen Schärfe und Unlösbarkeit auf. Zuvor hatten alle Seiten dessen Entscheidung vermieden und im Dissens verdrängt, dadurch freilich die Probleme nur vergrößert und verwickelt. 2. Das Ausweichen in der Zentralfrage der Verfassunggebenden Gewalt wirkt erstaunlich. Denn der Verfassungsgedanke stand für alle Richtungen und politischen Kräfte beherrschend im Zentrum des Geschehens. Von der Reichsverfassung erwartete man die Verwirklichung der deutschen Einheit und Freiheit durch die Schaffung des neuen deutschen Staates2, d.h. die Erfüllung aller Ziele der nationalen und freiheitlichen Bewegung und die Lösung aller ihrer Probleme: den Ausgleich zwischen Revolution und Ordnung, die Synthese von Geist und Macht, Freiheit und Autorität, die Verbindung von Gemeinwohl und Bürgerrecht, Patriotismus und liberaler Staatsbegrenzung, die Überwindung der Gegensätze zwischen Monarchie und Demokratie und zwischen Unitarismus und Partikularismus, den Weg aus dem Dualismus der beiden deutschen Großstaaten und aus der Problematik der Hegemonie, auch die Neuordnung von Staat und Gesellschaft insgesamt in einem großangelegten Grundrechtsteil 3. Die Reichs1 Der Gang der Verhandlungen ist dokumentiert in: F. Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde., 1848/49 (im Folgenden: „SB", die Bände mit römischen, die Seiten mit arab. Ziffern). Vgl. ferner P. Roth/H. Merck (Hrsg.), Quellensammlung zum deutschen öffentlichen Recht seit 1848, 2 Bde., 1850/52; E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1961. 2 Heinrich von Gagern programmatisch nach seiner Wahl zum Präsidenten der Nationalversammlung, SB I 17. 3
Die integrierende Bedeutung der Verfassung wird vielfach betont. Statt anderer vgl. Beseler, SB 1 702; IV 2723; Riesser , SB VIII 5907 ff.; Welcker, SB IX 6403. - Vgl. die
Martin Heckel
16
Verfassung sollte die staatsbegründende Tat sein, auf die sich seit Jahrzehnten die Hoffnung der Nation gerichtet hatte4. Diese Verfassungsgläubigkeit war in der polizeistaatlichen Luft des Vormärz erwachsen; sie baute auf die Macht des Geistes, auf die Wirkungsmächtigkeit der Ideen. Das Charakteristische der deutschen Verfassungsbewegung lag in ihrem geistigen Charakter: Die Autorität der Nationalversammlung beruhte allein auf der Überzeugungskraft ihrer Argumente und Beschlüsse und auf dem Rückhalt ihres Verfassungswerkes in der öffentlichen Meinung 5 , da sie sich weder auf eine revolutionäre Organisation noch auf einen charismatischen Führer noch auf den Staatsapparat der deutschen Einzelstaaten stützen konnte und wollte. Inmitten der öffentlichen Umbruchsbegeisterung war die Nationalversammlung anfangs von der Allmacht ihrer verfassunggebenden Möglichkeiten durchdrungen, bis sie - etwa an der Österreichfrage 6, dem preußisch-deutschen Problem 7, der Mediatisierung der Kleinstaaten8 und der Gestaltung des Reichsoberhauptes9 - mit den realen Grenzen der Verfassungsschöpfung konfrontiert wurde. 3. In dieser Idee der Staatsbildung durch Verfassunggebung - d.h. auf dem Wege der „Ordnung und des Rechts" - waren sich alle Fraktionen der Paulskirche einig, so sehr ihre Ziele im einzelnen auseinandergingen10. Gegen die Anarchie und gegen die entfesselte Revolution11 sprach sich die Nationalversammlung oftmals mit Schärfe aus12. Die älteren Abgeordneten hatten noch den Umtiefdringende, abgewogene Gesamtdarstellung von E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 3. Aufl. 1978; Bd. II, 3. Aufl. 1988, S. 502-884, und die luzide, knappe Übersicht von K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Die geschichtlichen Grundlagen, 2000, S. 239 f f ; aufschlußreich (mit Gewicht auf den Nachwirkungen) ferner J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2. Aufl. 1998. 4 Statt anderer: Beseler, SB V I I I 5850 für den Verfassungsausschuß auf den Antrag Welcher vom 12.3.49 zur sofortigen Annahme der Verfassung. 5 Aus der Vielzahl der Äußerungen vgl. Gagern, SB I 17, VIII 6411 und 6446; Zachariä, SB I 148; Beseler, SB I 700; Löwe, SB I 703; Verf. Aussch., SB IV 2722 und V I I 4955; Riesser , SB V 3452; Raveaux, SB V I 4591; Gagern, SB V I 4647; Biedermann, SB V I 4711; Uhland, SB V I 4118; Schüler, SB VIII 5895; Mittermaier, SB V I I I 6081; Kieruljf, SB V I I I 6323. 6
SB IV 2772 ff., 2809 ff., 3024 ff.; V 3658 ff.; V I 4233, 4539 ff.
7
SB V 3252 f., 3266ff., 3407ff., 3434ff.; V I 4427 ff.
8
SB V 3817 ff.
9
SB V I 4675 ff.
10
Bestritten war sie nur von der äußersten Rechten und der extremen Linken, die in der Paulskirche bekanntlich nicht vertreten waren. 11
Die Nationalversammlung hat Wahl Heckers, der mit seinen Freischaren die Republik gewaltsam einführen wollte und von der badischen Regierung steckbrieflich gesucht wurde, für ungültig erklärt; SB II 1476 ff, 1501. 12
Statt anderer: Werner,
SB I 138; Welcher, SB I 410; Gagern und Schmerling (An-
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt 1848/49
17
schlag der Französischen Revolution in die Schreckensherrschaft der Jakobiner erlebt. Die liberalkonservative Majorität lebte in der Sorge, daß die Revolution wie damals ihre Kinder verschlingen, d.h. die Nationalversammlung durch einen Wohlfahrtsausschuß oder Konvent ablösen13 und ihr Verfassungswerk vernichten werde. So scheute sie sich auch, schließlich eine allgemeine Volkserhebung 14 zur Durchsetzung der beschlossenen Verfassung zu organisieren. Aber auch die Linke der Paulskirche, welche die Revolution gelegentlich volltönend als „das Gesetz der Natur wie der Geschichte" und „die einzige Bedingung des Fortschritts" 15 proklamierte, stand fest auf dem parlamentarischen Boden und sah in der Verfassung ihr Ziel, um die Früchte der Märzerhebung zu sichern und der unitarischen Demokratie für die Zukunft freie Bahn zur vollen Entwicklung zu garantieren. Obwohl sie monatelang überstimmt worden war und im preußischen Erbkaisertum einen schweren „Hemmschuh" der Verfassung erblickte, beugte sie sich den Mehrheitsbeschlüssen und bekannte sich vorbehaltlos zu dem beschlossenen Text 16 . 4. Entscheidend war jedoch, durch welche Mächte und auf welche Weise die Verfassung zustande kommen sollte. Drei Möglichkeiten boten sich nach Lage der Dinge an: Die Verfassunggebung (1) durch Oktroyierung wirken;
seitens der Regierungen im bündischen Zusammen-
spräche des Präsidenten und Bericht des Reichsministers nach der Ermordung der Abgeordneten Fürst Lichnowsky und von Auerswald durch den Frankfurter Mob am 18.9.48), SB III 2185; Biedermann, SB IV 2712; Beseler, SB IX 6666; Welcker, SB IX 6670. Die Nationalversammlung hat den Frankfurter Aufstand vom 18.9.48 mit Energie niedergeschlagen. - Durch die Revolution in Wien und Berlin sah sie das Frankfurter Verfassungswerk gefährdet und suchte dort durch Kommissare zu vermitteln. Vgl. über die Stellungnahme zur Revolution in Wien SB IV 2810, 2840; IV 3024, 3067; V 3658 ff., 3712 ff., 3718 ff., und in Berlin SB V 3266 ff., 3316, 3434 ff., 4370, 3474, 3480; VI 4427 ff., 4461, 4473 f. 13 Bassermann in Kritik der Berliner Nationalversammlung, SB V 4308; femer Biedermann, SB V I 4711; Plathner, SB VIII 6275 (gegen den Antrag Raveaux, SB VIII 6236, den Dreißigerausschuß (SB VIII 6130/44) zu einer Art Wohlfahrtsausschuß umzugestalten). Auch nach Vollendung der Reichsverfassung wurde ein Vollziehungsausschuß (nach dem Antrag Schlöffel, SB IX 6131 / 32) abgelehnt. 14
Vgl. die abgelehnten Anträge Vogt, SB IX 6397, 6414 f., 6482.
15
L. Simon, SB VIII 6315; Vogt, SB V I 4082; V I I 4992.
16 Vogt, SB VIII 6265: „Täuschen Sie sich nicht, meine Herren, Sie haben Keinen gewonnen für die Idee der erblichen Monarchie, nicht einen Einzigen; aber Sie haben Hilfe, mannhafte Hilfe gewonnen in uns, sobald es gilt, den Beschluß der Volkssouveränität durchzusetzen. Von diesem Gesichtspunkt aus hätten wir jede beschlossene Form durchführen helfen ... Wir hätten das republikanische Banner aufrechterhalten mit Begeisterung und Enthusiasmus, wir halten das Banner, das jetzt aufgesteckt ist, mit Besonnenheit aufrecht, weil es nun einmal beschlossen ist."
2 FS Oppermann
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Martin Heckel
(2) durch Vereinbarung zwischen Regierungen und Volk, d.h. Volksrepräsentation; (3) durch Konstituierung seitens einer gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung, also durch das Volk alleine. 5. Das Verhängnisvolle und Verwirrende an der Achtundvierziger-Bewegung war, daß alle drei Wege gleichzeitig eingeschlagen und im vielfach verschlungenen Wechselspiel nacheinander und nebeneinander abgeschritten worden sind, ohne sich in einer klaren und allgemein anerkannten Position zusammenzufinden. Zuerst versuchten die Regierungen auf der ersten Linie durch Verfassungsrevisionen der aufflackernden Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch da die revolutionären Gruppen auf der dritten Linie dem Volke die Verfassunggebende Gewalt vindizierten, gaben die Regierungen nach und leiteten die Bewegung in die Geleise der Vereinbarung — also der zweiten Linie — über, um ihre Existenz und ihre Mitwirkung bei den anstehenden Wahlen und bei der folgenden Verfassunggebung zu sichern. Da aber die zusammentretende Nationalversammlung auf der „Konstituierung" durch die Volksrepräsentation bestand, trat das Vereinbarungsprinzip in den Hintergrund. Doch wurde es von den Regierungen nicht aufgegeben und auch von der Nationalversammlung lange nicht förmlich zurückgewiesen, später sogar vorsichtig aufgegriffen. Der Zwiespalt zwischen der Konstituierung und der Vereinbarung wurde nicht überbrückt, sondern verdrängt und verdeckt, ohne das Bedrohliche dieser dissimulierenden Tergiversationen zu erkennen. Erst als die Frankfurter Deputation ihrem erkorenen Kaiser in Berlin die Krone anbot, brach die Kluft auf und verschärfte sich zum offenen Konflikt, bis schließlich das nach Stuttgart geflüchtete Rumpfparlament am 18. Juni 1849 durch das württembergische Militär auseinandergetrieben wurde. 6. Da das Problem der Verfassunggebenden Gewalt nicht geklärt und ausgetragen wurde, war nach der Verkündung der Reichsverfassung offen, ob und wieweit sie bereits galt - weshalb sogar die Mehrheit der Nationalversammlung selbst eine Vereidigung der Truppen auf die Verfassung für unmöglich hielt, da die Verfassung zwar „rechtsgültig", aber noch nicht „in Geltung" sei 17 . Aber auch schon vorher brachte die Unsicherheit über die verfassunggebenden Kräfte und Akte einen eigentümlich schwankenden und doppeldeutigen Sinn in die Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung, desgleichen in die Noten der Regierungen und schließlich auch in die Normen und Institutionen der 17 Zur Verfassung als unmittelbar geltendem Gesetz Mittermaier als Berichterstatter, SB VIII 6079. - Beseler, SB IX 6409: „Die Verfassung kann in diesem Augenblick unmöglich schon als in Vollzug gesetzt angesehen werden. Rechtsgültig besteht das Gesetz ..."; ders., 6410: „Das ist kein verfassungsmäßiger Eid, denn ein solcher verlangt, daß die Verfassung schon in Geltung ist, und nicht erst zur Geltung gebracht werden soll." Gagern, SB IX 6447: „Sie wollen beeidigen lassen? Auf eine Verfassung, die wir zur Anerkennung bringen werden, die aber nicht zur Geltung gekommen ist?"
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt 1848 / 49
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Verfassung selbst. Ihre vielen Allgemeinbegriffe und Kompromißformeln gewannen ihren eigentlichen Sinngehalt erst durch die Interpretation nach den zugrunde liegenden Legitimitätsvorstellungen, d.h. nach dem Geist und W i l l e n der Verfassunggebenden Gewalt. Bei gleichem Wortlaut mußten die Grundrechte, die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern, die Regelung der monarchischen Verfassungsform i m Reich und in den Bundesstaaten notwendig etwas verschiedenes bedeuten, j e nachdem, ob die Frankfurter Reichsverfassung durch einen Bundesvertrag zusammentretender Fürsten und Partikularstaaten oder durch unitarischen Gesetzgebungsakt des souveränen Volkes Geltung besaß. Ob oktroyiert, vereinbart oder konstituiert wurde, betraf nicht nur das formelle Zustandekommen der Verfassung, sondern auch den sachlichen Gehalt ihrer Normen und Institutionen. Wäre die Verfassung ins Leben getreten, so hätten sich die latenten Spannungen jeweils in der konkreten Herausforderung krisenhaft entladen. In der Verfassunggebung handelte es sich eben nicht nur um eine äußere Machtprobe (das freilich auch, und die Versammlung hat das offensichtlich unterschätzt), sondern um eine Begegnung verschiedener geistiger Welten, um den Zusammenprall entgegengesetzter Rechts- und Legitimitätsvorstellungen. Sie konnten schwer auf einen gemeinsamen Nenner finden und waren doch zur Schaffung der Einheit in Freiheit aufeinander angewiesen, nachdem in der steckengebliebenen Revolution weder das aufbegehrende Bürgertum noch die alten dynastisch-partikularen Gewalten klar gesiegt, aber auch nicht verloren hatten. So hatten die Regierungen, aber auch die - politisch sehr unterschiedlich ausgerichteten - Fraktionen der Nationalversammlung verschiedene Leitvorstellungen über „Einheit" und „Vielheit" 18 , „Bundesstaat" und „Einheitsstaat" l 9 , „wahre Freiheit" 20 und den „wahren Willen" der Nation, die „wahren Interessen Deutschlands" und den „gesunden Kern des Volkes" 2 1 , die rechtliche Tragweite „der Revolution" 22 und die Begriffe „Anarchie", „Fortschritt" und „Umsturz", das „historische" und das „höhere" Recht 23 . Die Nationalversammlung hat diese Grundsatzfragen zwar vielfach auf hoher Ebene zur Sprache gebracht, oft aber auch verdrängt, die Realitäten verkannt und sich mit mehrdeutigen Kompromissen beholfen, was sich gerade in der Frage der Verfassunggebenden Gewalt rächen sollte. 7. Erschwerend wirkte ferner das konkurrierende Zusammentreffen der Verfassunggebung i m Reich und in den Einzelstaaten. Die Verfassungsbewegung 18
SB I 701; IV 2723, 3151.
19
SB IV 2722,3157; Österr. Note vom 4.2.49, SB V I I 5150. - Dagegen der Verfassungsausschuß, SB V I I I 5741. 20 So der österr. Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg im Programm von Kremsier vom 28.11.48, SB V I 4551; Preuß. Note vom 28.4.49; vgl. Roth /Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 67, 484 (491); Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 360, 412 ff. 21
Preuß. VO vom 14.5.49, die das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärte, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 517 (521).
2*
22
Statt anderer Vogt, SB V I I 4992.
23
Z.B. Riesser , SB V 3450; H. Simon, SB V I 4440.
Martin Heckel
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war dadurch geteilt in einen unitarischen und viele partikulare Ströme, das Volk mithin aufgespalten in verschiedene Repräsentationsorgane, die von den Regierungen gegeneinander ausgespielt werden konnten. Ihre gegenseitige Abstimmung erwies sich politisch und verfassungsrechtlich schwierig, zumal ihre Ausgangslage höchst unterschiedlich war. In den Einzelstaaten konnten die liberalen und demokratischen Kräfte an die bestehenden Verhältnisse und Gliederungen anknüpfen und trafen auf eingewurzelte dynastische, feudale und militärisch-bürokratische Gewalten im überschaubaren Spannungsfeld. Im Reiche aber mußte sich das unitarische Volk gleichsam aus dem Nichts durch die Wahlen und die Grundrechte in Form bringen und zudem — da der Bundestag zutiefst diskreditiert erschien - sich sein Gegenüber erst selbst kreieren, um das konstitutionelle Ideal der dualistischen Balance künstlich herzustellen. Wie das Oberhaupt zu organisieren sei, ließ alle Gegensätze der monarchischen und republikanischen, groß-, klein- und mitteldeutschen Leidenschaften aufeinanderprallen. Die Verfassunggebung war darum hier einerseits viel freier in ihren Möglichkeiten, andererseits dadurch auch verhängnisvoll zersplittert und blokkiert. — Auch daraus erklärt sich, daß die Frankfurter Nationalversammlung, die ja politisch viel gemäßigter zusammengesetzt war, für sich erheblich weitergehende Rechte in Anspruch nahm, als sie ihren radikalen Berliner und Wiener Schwestern in den Einzelstaaten einzuräumen bereit war; so hat sie diese im preußischen Verfassungskonflikt des Herbstes 1848 nach anderem Maß gemessen wissen wollen als ihre eigene konstituierende Gewalt im Reiche.
II. Der Versuch der Verfassunggebung durch die Regierungen Ergebnislos verliefen unterschiedliche, sich teilweise kreuzende und durchkreuzende -Versuche der Regierungen, die auflodernde Revolution 24 durch Umgestaltung der Verfassungsstrukturen von oben aufzufangen. 1. Österreich und Preußen, die Hegemonialmächte des Deutschen Bundes, beide noch im verhaßten Absolutismus verfaßt, beschlossen Anfang März 1848 vergeblich die Einberufung einer Ministerkonferenz der deutschen Staaten nach Dresden 25. 24 Die Heidelberger Versammlung vom 5.3.1848 hatte aus eigener Initiative einen Siebener-Ausschuß zur Vorbereitung einer „gewählten Nationalvertretung" eingesetzt, der ohne obrigkeitliche Autorisation („revolutionär") das Frankfurter Vorparlament zum 30.3.1848 einberief. Auf ihm forderte die radikale Linke die Proklamation der Volkssouveränität und der konstituierenden Gewalt der Nationalrepräsentation unter Ausschluß der Fürsten, um dadurch den Sturz der Throne, die Aufrichtung eines republikanischen Bundesstaates und die soziale Umwälzung durchzusetzen. Die Vorversammlung in Permanenz und ein Vollziehungsausschuß sollten sofort zur Aktion schreiten. Vgl. die Dokumente bei Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S 102 ff., 122, 194 ff. 25
Österreichische Circularnoten vom 7. und 8.3.1848; Manifest der österr. und preuß.
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt 1848 / 49
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Mit einem pathetischen Manifest an die Öffentlichkeit riefen sie auf zur „innigsten Vereinigung der verschiedenen Stämme Deutschlands, sowie zwischen dessen Fürsten und dessen Völkern", verlangten die Fortentwicklung der Bundesinstitutionen im Sinn der deutschen Einheit und Freiheit, insbesondere die Vertretung des deutschen Volkes am Bundestag „durch ein sogenanntes Deutsches Parlament", aber auch die Bekämpfung der Revolution in den Einzelstaaten. - Verfassungsrechtlich verharrten sie noch in der Kontinuität des deutschen Bundesrechts, des monarchischen Prinzips und der einseitigen Regelung des Verfassungszustandes durch die Regierungen. Die „Vereinbarungen" zur Fortentwicklung der Bundesinstitutionen waren als Vereinbarungen der Regierungen geplant. Aber da derartige Ministerkonferenzen seit den Karlsbader Beschlüssen als das typische Instrument der Reaktion diskreditiert waren und eine Provokation der revolutionären Kräfte bedeuteten, fand der Plan keine Gegenliebe bei den Regierungen der anderen Staaten. Mit dem Sturz Metternichs am 13. 3. 48 und dem Ausbruch der Revolution in Berlin fiel der Plan eines gemeinsamen Vorgehens der Großmächte in sich zusammen.
2. Auch ein Alleingang Preußens wurde rasch von der Entwicklung überholt. Zunächst hatte der König nichts wissen wollen von den Plänen der deutschen Patrioten aus dem Kreise Pfitzers und Friedrich von Gagerns, die sich die Schaffung des deutschen Bundesstaates und Nationalparlaments von der kräftigen Führung Preußens und seiner Konstitutionalisierung erhofften. Dann aber bekannte er sich doch zu diesem Programm durch die Proklamation vom 18. März 1848; er schwankte zwischen seinem romantisierenden deutschen Nationalgefuhl und seinem preußischen Staatsbewußtsein, seiner lehensmäßig verklärten Loyalität gegenüber dem österreichischen Kaiserhaus und seiner Sendung zur Führung der deutschen Geschicke. Und nach den Barrikadenkämpfen des folgenden Tages und seiner Demütigung vor den Märzgefallenen griff er zur Wiederherstellung seines angeschlagenen Prestiges mit überstürztem Eifer nach der deutschen Idee. In seiner Proklamation vom 21. März forderte er die „innigste Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker" unter seiner Leitung, versprach die Erfüllung aller Märzforderungen und sprach das folgenschwere Wort „Preußen geht fortan in Deutschland auf 4 2 6 . - Die Frage der Verfassunggebenden Gewalt war in diesen preußischen Projekten offengelassen: Nebelhaft blieb, was die Umwandlung Deutschlands „ i m Verein der Fürsten mit dem Volke" und was die „Leitung" des Königs im Verhältnis zum künftigen deutschen Parlament wie auch zu den deutschen Fürsten bedeuten sollte. Man hütete sich, von einer Okroyierung durch einen gemeinsamen Schritt der Fürsten zu sprechen, vermied aber auch den Ausdruck „Vereinbarung". Der Plan zur Einberufung einer „vorläufigen Bundesrepräsentation aus den Ständen aller deutschen Länder" zur „gemeinsamen freien Beratung" deutete auf ein lediglich beratendes Verfassungsparlament. Dazu dachte man den preußischen Vereinigten Landtag durch Hinzutritt von Ständevertretern aus dem übrigen Deutschland zu erweitern. - Aber durch die Barrikadenkämpfe war der Kairos Preußens zur Verfassunggebung verspielt und die Ablehnung seiner Projekte allgemein. Österreich bestritt die preußische Führung unter Berufung auf die geltende Regierungen vom 15.3.1848; Preußische Note vom 16. und 25.3.1848; vgl. Roth /Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 106 ff., 108 f., 140, 142, 171; Huher, Dokumente (Fn. 1), S. 331. 26 Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 145 ff., 152 f.; Huher, Dokumente (Fn. 1), S. 448 f.; F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl. 1922, S. 331 ff., 339 ff., 349 ff., 358 ff.; V Valentin, Geschichte der Deutschen Revolution 1848-49, Bd. I, 1931, S. 382 ff.
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Verfassung des Deutschen Bundes27, die übrigen deutschen Regierungen versprachen sich von Preußen keine Stütze mehr und widerstrebten einer preußischen Hegemonie, während die Nationalbewegung eine Volksrepräsentation durch Volkswahlen verlangte und die angebotene Erweiterung des preußischen Landtags als Brüskierung ihrer unitarischen und konstitutionellen Ideale zurückwies. 3. Erfolglos endete auch eine A k t i o n der Regierungen der süd- und südwestdeutschen Mittel- und Kleinstaaten. Die liberalen „Märzminister" suchten die Volkserhebung durch Umwandlung Deutschlands in einen Bundesstaat mit einem gesamtdeutschen Parlament unter Führung Preußens und Ausscheidens Österreichs aufzufangen und zu legalisieren 28. Die Art der Verfassunggebung war auch hier noch ungeklärt. Eine Vereinbarung unter den Staaten sollte sich durch sukzessiven Beitritt der anderen erweitern und gegebenenfalls in einen Beschluß des Bundestags übergeleitet werden. Zugleich suchte man eine „Nationalvertretung mit den bestehenden Bundesformen in Verbindung zu bringen", aber ihre Mitwirkung auf die Beratung zu beschränken und die so erarbeitete Verfassung durch einen Fürstenkongreß zu oktroyieren. Aber weil sich der preußische König der Initiative verschloß, mündete die süddeutsche Aktion ebenso wie die preußischen Pläne in die allgemeinen Reformbestrebungen am Frankfurter Bundestag29 ein, um schließlich mit diesen zu versanden. 4. Die Bundesversammlung in Frankfurt versuchte vergeblich durch eine Revision der Verfassung des Deutschen Bundes der Revolution Herr zu werden. A m 1. März bezeichnete sich der Bundestag in einem A u f r u f an die Öffentlichkeit als „das gesetzliche Organ der nationalen und politischen Einheit Deutschlands", versprach die „Förderung der nationalen Interessen und des nationalen Lebens i m Inneren", beschwor „das deutsche V o l k " nun „ z u m einmütigsten Zusammenwirken m i t den Regierungen" 3 0 . Nach der langen Zeit der Reaktion liegt darin eine erste verfassungsmäßige Anerkennung des - zunächst noch nicht organisierten - deutschen Volkes als Einheit. Es folgte ein rascher Abbau des alten Systems: Der Bundestag beschloß die Ermächtigung der Bundesstaaten zur Aufhebung der Zensur und Einführung der Pressefreiheit, die Annahme der bisher verfolgten Symbole der Nationalbewegung als Nationalsymbole, des Reichsadlers als Wappen und der Farben Schwarz-Rot-Gold als Bundesfarben, die Aufhebung der Ausnahmegesetze nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819, die Anerkennung des Öffentlichkeitsprinzips durch die Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle 31. Das deutsche Staatswesen sollte sich gründen auf die nationale Idee, auf die Öffentlichkeit politischer Aktionen anstelle der 27
Österr. Circulardepesche v. 24.3.48, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 159 ff.
28
L. von Pastor, Das Leben des Freiherrn Max von Gagern, 1912, S.182 ff., 231 ff.; Meinecke, Weltbürgertum (Fn. 26), S. 356 ff. 29
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 166 f., 171 ff.
30
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 80 ff.
31
Vgl. die Quellen bei Roth/Merck Dokumente (Fn. 1), S. 329 ff.
(Fn. 1), Bd. I, S. 99, 118, 199, 217; Huber,
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geheimen Diplomatie und Justiz, auf die Anerkennung der Märzforderungen, auf die freie geistige und politische Entfaltung und Einflußnahme des Volkes und auf seine freie rechtliche Organisation und Wirkung. Das Volkselement sollte zunächst sehr vorsichtig in die Verfassungsorganisation integriert werden, indem sich der Bundestag ein Kollegium von Siebzehn Vertrauensmännern zugesellte, dies freilich nur als beratendes Gremium und nur durch Berufung von Regierungsseite 32; doch war dies nur der Auftakt zur tiefgreifenden Umgestaltungen des Deutschen Bundes mittels nationaler Volkswahlen.
Der Bundestag kam durch diese Beschlüsse der gewaltsamen Beseitigung des antidemokratischen und antinationalen Verfassungssystems durch eine revolutionäre Umwälzung von unten zuvor. Der Deutsche Bund gab damit seine alten Legitimitätsgrundlagen und das legale Instrumentarium auf* 3, das ihn bisher als „Bund souveräner Fürsten und freien Städte" gegen das Drängen der Nation in den Staat abgeschirmt hatten. Der Wechsel des Systems und seiner Grundlagen erfolgte auf „legalem" Wege. 5. Jedoch: Gerade dieses „legale" Vorgehen brachte das Zweideutige in die deutsche Verfassungsfrage, weil sich die Regierungen dadurch die selbständige Auslegung und spätere Rücknahme ihrer Akte reservierten. - Und überdies: Verfassungsrechtlich ließ sich die - offenkundig geplante und durch die Bundesbeschlüsse angebahnte - Schaffung eines Bundesstaates nicht im Wege einer (scheinbar) „legalen" Verfassungsänderung durchführen, da dies den Bundeszweck - die Garantie der inneren und äußeren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit seiner Gliedstaaten nach Art. 2 der Bundesakte — weit hinter sich ließ und damit die Begrenzung der Bundesgewalt des Deutschen Bundes überhaupt mißachtete, auch die Organisation des Bundes völlig umstürzte, mithin dem „Geist der Bundesakte" und dem „Grundcharakter des Bundes" diametral widersprach: Deshalb wurde damit auch die Grenze wirksamer Verfassungsänderungen nach Art. 3, 4 WSchlA überschritten. Der neue Bundesstaat sollte künftig seinen Staatszweck und seine Kompetenzen umfassend auf die „nationalen Wohlfahrt" und Entwicklung und auf die Förderung der Volksfreiheiten erweitern 34. Er sollte dem Volke durch eine 32
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 110 ff., 117, 120 f.
33
E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. I, S. 583 ff, 658 ff., 670 ff, 732 ff., 753 ff; Bd. II, 1960, S. 595 ff., 598. 34
Darauf ist später in der Vorlage des Verfassungsausschusses zum Abschnitt „Reich und Reichsgewalt" hingewiesen, SB IV 2723. Und das war schon das Ziel der liberalen Verfassungsbewegung seit dem ersten Antrag Welckers als neuer Bundestagsgesandter vom 8.3.48, der die Umgestaltung der Bundesverfassung „im Widerspruch mit dem bisherigen Bundessystem" „auf zeitgemäßer nationaler Basis" erstrebte und zum Bundestagsbeschluß vom 8.3.48 erheben ließ, Roth/Merck (Fn. 1), S. 110 ff., 114, 116. Diese entscheidende Erweiterung ließ sich nicht durch eine neue - den Märzfreiheiten entsprechende - Interpretation des Begriffs der „inneren Sicherheit" erreichen; die Absicht der Verfassungsbeseitigung schloß auch einen Verfassungswandel aus. - Zwar enthielt der Deutsche Bund neben der völkerrechtlichen Grundstruktur auch gewisse staatsrechtliche Elemente; aber der Umfang der Bundesgewalt war durch den Bundes-
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Nationalrepräsentation mächtigen Anteil an dem v o m nationalen Leben durchpulsten Staatswesen verschaffen und die Einzelstaaten einer kräftigen Bundesgewalt unterordnen. Von einem Bundesverhältnis i. S. der Deutschen Bundesakte von 1815 auf der Grundlage der Gleichberechtigung „souveräner" Staaten, repräsentiert durch ihre Dynastien nach dem monarchischen Prinzip, konnte dann keine Rede mehr sein. Schon die organisatorischen Vorbereitungsschritte durch Wahlen mit dem Ziel dieser fundamentalen Umwälzung sprengten die bisher geltenden Verfassungsgrundlagen der Bundesakte von 1815 und deshalb auch den Rahmen seines Verfassungsänderungsverfahrens 35 . Soweit also diese Maßnahmen über die Bundesakte hinausgingen, stellten sie eben echte Akte der Verfassunggebenden Gewalt der Regierungen dar — sie zweck begrenzt. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. I, S. 663 ff., 594 ff., 597 ff. 35
Der geplante Bundesstaat konnte nicht durch VerfassungsÄrti/erwwg, sondern nur durch originäreVerfassungs.çc/zô^/w/7g (unter Beseitigung der bisher geltenden Verfassung bzw. ihrer revolutionär zerrütteten Verfassungsreste) geschaffen werden - sei es durch Abschluß einer neuen föderativen Gründungsvertrages mit Verfassungsvereinbarung seitens der Staaten (worauf die Regierungen bestanden), sei es durch unitarischen konstituierenden Staatsgründungsakt mit Verfassungsgebung durch die Nationalversammlung (wie diese es versuchte). - Da die neuen Bundestagsbeschlüsse über die Berufung der Nationalversammlung den Bundeszweck und die organisatorische Grundstruktur des Deutschen Bundes von 1815 fundamental veränderten und erweiterten, sprengten sie auch die Normen seines Verfassungsänderungsverfahrens. - Sie können nicht als „bundesrechtlich korrekt zustande gekommene" „rechtsverbindliche Verfassungsänderung" gelten, auch wenn sie formell gemäß Art. 13 WSchlA einstimmig (mit einer unbeachtlichen Stimmenthaltung) gefaßt wurden. A.A. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 606, welcher freilich selbst (S. 592 f.) darauf hinweist, daß „die Einsetzung eines Nationalparlaments ... den deutschen Föderalismus ... von Grund auf umgestalten" und „das deutsche monarchische System" zutiefst verändern mußte, daß daher „das in einem deutschen Nationalparlament verkörperte Staatsprinzip ... in jeder seiner denkbaren Formen ein absolutes Gegenprinzip gegen die überlieferte föderative und monarchische Staatsordnung" und ein „schlechthin revolutionäres Ereignis" war. - Auch spätere Akte der Regierungen haben eindeutig die Grundlagen und Grenzen der Bundesakte von 1815 und WSchlA von 1820 verlassen und sind nicht als Verfassungsänderungen, sondern nur als Akte der Verfassunggebenden Gewalt zu klassifizieren: so die Übertragung der „Ausübung der verfassungsmäßigen Befugnisse" des Bundestags auf die provisorische Zentralgewalt und die Einstellung seiner verfassungsrechtlichen Funktionen am 12.7.48 (unten Fn. 49), aber auch die generelle Bereitschaftserklärung zum Zusammenschluß bzw. „Beitritt" der deutschen Staaten zu einem neuen Bundesstaate (was nach Ansicht der Regierungen als Staatsgründung aufzufassen war, vgl. unten Abschnitt III 5), sowie zum Abschluß einer Verfassungsvereinbarung über die Reichsverfassung. - Ein Akt der Verfassunggebenden Gewalt lag später auch in der Reaktivierung der - zwischenzeitlich teilweise verlassenen - Bundesverfassung von 1815 durch die Regierungen nach dem Zusammenbruch der Revolution 1849. 36
Nach dem Maßstab der Bundesakte wären sie als ungültig anzusehen gewesen. - In einer Revolution, die nicht niedergeschlagen wird, können die Akte der Verfassunggebenden Gewalt jedoch bekanntlich nicht nach den Normen der zusammengebrochenen
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führten zur Verfassungsumwälzung durch revolutionären A k t von oben. Wie später noch so oft in der deutschen Verfassungsgeschichte 37 wurden in der revolutionären Situation die bestehenden Formen der Legalität „ f o r m e l l " , d.h. zur Verschleierung benützt, u m materiell das Legalitätssystem mitsamt seinen Legitimitätsgrundlagen zu beseitigen und durch ein neues zu ersetzten. Dies galt 1848 insbesondere für die Organisation von Volkswahlen, zu der sich die Bundesversammlung gezwungen sah, als sich das Frankfurter „Vorparlament" Ende März in revolutionärer Eigenmacht versammelte und die Geschicke an sich zu reißen drohte: 6. Der Bundesbeschluß v o m 30. März, ergänzt am 7. A p r i l 1848 3 8 , über die Anordnung allgemeiner Wahlen für eine „ konstituierende " Nationalversammlung wurde zum Angelpunkt aller späteren Auseinandersetzungen u m die Verfassunggebung bis zum Ende des Rumpfparlaments i m Juni 1849. Die Regierungen ließen darin jeden Gedanken an eine Okroyierung erklärtermaßen fallen („unter den jetzigen Verhältnissen eine Unmöglichkeit"). Aber sie schlossen auch eine Verfassunggebung allein durch die zu wählende „konstituierende" Versammlung kategorisch aus39. Sie entschieden sich förmlich für den unitarischen Weg der Verfassungsgebung durch Vereinbarung der deutschen Regierungen mit einer deutschen Nationalrepräsentation, — also nicht für Vereinbarungen der Regierungen mit ihren Landtagen in den Einzel Staaten, denn das Verfassungswerk der deutschen Einheit sollte nicht am Widerstand partikularer Kräfte scheitern können 40 . Dieser Bundesbeschluß schuf so einen vorläufigen Rechtsboden für den Verfassunggebungsprozeß in der Übergangssituation während der revolutionären Auflösung der alten Bundesverfassung bis zur Schaffung der neuen Reichsverfassung. Als Bundesbeschluß wahrte er einerseits auf der Regierungsseite eine gewisse Kontinuität durch die Erhaltung und Benützung der überkommenen Formen aus dem Deutschen Bund und bot doch andererseits mit den Wahlgesetvorhergehenden Verfassung beurteilt werden, die sie gerade durch eine neue Verfassungsgebung ersetzen sollen. - Zum Verständnis der Verfassunggebenden Gewalt vgl. (m. Lit.) M. Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 1992, § 197 Rn. 46 ff., 57 ff., 65 ff. 37
Etwa im März 1933 bei dem Erlaß des Ermächtigungsgesetzes, aber auch bei den „Verfassungsänderungen" der letzten DDR-Volkskammer nach der Wende, die entgegen den bestehenden Verfassungsgrundlagen das bisherige System zerschlugen und dabei die Grenze von Verfassungsänderungen überschritten, am Maßstab der beseitigten Verfassung gemessen also als ungültig erscheinen müßten. Vgl. M. Heckel, Legitimation (Fn. 36), Rn. 14 ff., 23 ff., 37. 38
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 188 ff., 220 ff.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 337, 338. Als Bundeswahlgesetz enthielten diese Bundesbeschlüsse die Verpflichtung und Ermächtigung der Regierungen zum Erlaß der Wahlordnungen in den Ländern in Verordnungsform. 39
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 191.
40
Ebd., S. 189.
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zen eine organisatorische Hilfe für die Selbstkonstituierung der Volkes 41 im Aufbruch zu den neuen Ufern der nationalen Einheit - allerdings eingeschränkt durch die Festlegung auf das Prinzip der Verfassungsvereinbarung zwischen den Regierungen und der Volksrepräsentation. Offensichtlich wollten die Regierungen ihre Wahlordnungen fur das Volk nur unter dieser Bedingung und mit dieser Auflage fur die Nationalversammlung erlassen. Der Bundesbeschluß vom 30. März 1848 enthielt durch den Verzicht auf die Oktroyierung einen bewußten Teil-Verzicht der Regierungen auf die Inanspruchnahme der Verfassunggebenden Gewalt: Eine Okroyierung des Inhalts der Reichsverfassung schied damit endgültig aus. Aber da sie auch der Nationalversammlung die einseitige Konstituierung der Verfassung verwehren wollten, versuchten die Regierungen vorab doch wenigstens noch die Oktroyierung des Verfahrens der Verfassunggebung durch die Festlegung auf den Vereinbarungsweg in den Wahlgesetzen durchzusetzen. - Indem der Bundestag so den Weg für demokratische Wahlen öffnete, gab er einen „legalen Anhaltspunkt" für die „Einigung aller nationalen Kräfte" 42 . 7. A u f dieser Grundlage ergingen die Wahlordnungen der Einzelstaaten für die Wahl der Nationalversammlung und wurde diese gewählt. Sie sollte und konnte also nur als eine vereinbarende Versammlung gewählt werden und fungieren - sofern ihr Rechtscharakter und ihre Funktionen nach dem Bundesbeschluß vom 30. 3. 48 zu beurteilen waren, wie dies die Regierungen später beharrlich einforderten. - Aber war dieser Bundesbeschluß vom 30. 3. überhaupt für das Volk verbindlich? Er konnte sich ja nicht auf die - revolutionär untergehende, von den Regierungen selbst verlassene - alte Bundesverfassung stützen, deren Bundeszweck und Kompetenzen er fraglos überschritt, sondern nahm im Vorgriff auf die künftige (gemeinsame) Verfassunggebung nun die (einseitige) Ausübung der Verfassunggebenden Gewalt der Regierungen für das Verfahren in Anspruch. Jedoch: Dem setzte die nationale Bewegung die Verfassunggebende Gewalt des Volkes entgegen, so daß hier Anspruch gegen Anspruch stand. Durch die erfolgreiche Revolution war die bisherige Verfassungslage aufgebrochen, ihre Einheit des Rechts gespalten und ihre Lösung in der Zukunft offen, nachdem die alte Verfassung verlassen, die neue noch nicht erlassen war. Oder hat das Volk durch die Vornahme der Wahl in den Formen dieser Wahlgesetze die Festlegung der Regierungen auf den Vereinbarungsweg akzeptiert und sich dadurch selbst gebunden? Hat es also damit konkludent seiner künftigen Nationalrepräsentation die Art ihrer Beschlußfassung vorgeschrieben? 41
Die Wahlen enthielten die entscheidende Veränderung der Verfassungslage. Um ihre Rechtsbedeutung kreist die Auseinandersetzung bis zum Ende der Verfassungsbewegung; dazu unten Abschnitt III 5, 7; IV 6 ff. 42 Bundesbeschluß v. 7.4.48, Roth/Merck (Fn. 1), S. 338.
(Fn. 1), Bd. I, S. 220; Huber, Dokumente
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Ein solcher Vorab- und Teilverzicht des Volkes auf die Verfassunggebende Gewalt - und dies im ersten Frühstadium, noch vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung und vor dem Beginn der Verfassungsberatungen — war aus den Ereignissen und den nachfolgenden Entwicklungen jedoch nicht zu entnehmen. Auch später äußerten ja die Abgeordneten der Nationalversammlung (durchaus repräsentativ für das Volk) unterschiedliche Ansichten über den Weg der Vereinbarung oder Konstituierung und schwankten mehrfach je nach ihrer Einschätzung des Notwendigen, Möglichen, Erreichbaren. 8. Indessen sah sich der Bundestag zu weiteren Zugeständnissen gedrängt. Durch Beschluß vom 7. April 1848 mußte er den Forderungen des Vorparlaments auf Änderung des Wahlmodus in vollem Umfang nachgeben43. Die Art, wie sich das Volk als mitwirkender Faktor der Verfassunggebenden Gewalt formierte, wurde somit sachlich durch den Volkswillen selbst bestimmt. Den Regierungen blieb lediglich die äußere Legalisierung und Durchführung seiner Entscheidungen überlassen. Und als die Nationalversammlung ihre Tätigkeit aufnahm, wurde der Bundestag vollends beiseite geschoben. Sie ließ sich einen „Regierungsentwurf' 44 nicht präsentieren, sondern den Verfassungsentwurf von ihrem eigenen Verfassungsausschuß ausarbeiten. Sie hat dem Bundestag jede Einflußnahme auf die Beratungen verweigert. Und sie hat seine Einsetzung einer provisorischen Exekutivgewalt durch den Beschluß der Bundesversammlung vom 3.5.4845 brüsk beseitigt. Aus eigener Machtvollkommenheit und ohne Mitwirkung der Regierungen erließ sie am 28. Juni 1848 das Gesetz über die Errichtung der provisorischen Zentralgewalt 46 , wählte den mit einer Postmeisterstochter vermählten österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser, übertrug ihm im Namen des Volkes die oberste Central-Regierungsgewalt in Deutschland47 und erklärte in § 13 dieses Gesetzes den Bundestag - nunmehr überflüssig geworden - kurzerhand für aufgelöst.
Der Bundestag fügte sich und hat auch noch sein Ende selbst legalisiert: Obgleich er theoretisch schon nicht mehr existierte 48 und gar nicht darum angegangen war, erklärte er die allseitige Zustimmung der Fürsten zu dem Wahlakt, gratulierte dem Reichsverweser, lud ihn in die Mitte der Bundesversamm43
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 194 ff., 220 ff.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 338.
44
Der durch die Siebzehn Vertrauensmänner unter Federführung Dahlmanns nach dem Bundesbeschluß vom 30.3.48 ausgearbeitet und der Bundesversammlung am 27.4.48 übergeben worden war, Roth/Merck (Fn. 1), S. 369. 45
Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 291 ff., 489 ff.
4f t
SB I 581, 602/621.
47
SB I 626 ff./638; II 810 f.; Roth/Merck mente (Fn. 1 ), S. 340 f. 4K
(Fn. 1), Bd. I, S. 343, 550; Huber, Doku-
Nach der Rcchtsauffassung der Paulskirchenversammlung - ihr einseitiges Vorgehen als gültig unterstellt. - Die beschörenden Mahnrufe, den Bundestag als Staatenhaus umzugestalten und beizubehalten, fanden kein Gehör: Welcker, SB I 411 f., Wippermann, SB I 490 f., Stedmann, SB I 510; vgl. auch die entsprechenden Initiativen Welckers im Fünfziger-Ausschuß, vgl. Kühne, Reichsverfassung (Fn. 3), S. 38 ff., 47.
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lung ein. Diese übertrug ihm „namens der deutschen Regierungen die Ausübung dieser ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse" nach der Verfassung des Deutschen Bundes und erklärte damit ihre bisherige Tätigkeit für beendet49. Diese äußere Zustimmung verbarg freilich intrikaten inneren Widerstand: Die rechtliche Ausstattung der Zentralgewalt war danach ein Akt der verbündeten Regierungen und nicht der Nationalversammlung, fand ihre Rechtsgrundlage nicht in dem Nationalversammlungsgesetz, sondern in der Bundesakte bzw. in deren Fortbildung durch die Verfassunggebende Gewalt der Regierungen. Die Rechte der provisorische Zentralgewalt waren danach nicht von der Nationalversammlung originär geschaffen, sondern von den Regierungen nur zur „Ausübung" delegiert; sie sollten danach auch der Interpretation und ferneren Verfügungsmacht der Regierungen unterliegen und von ihnen wieder zurückgenommen werden können. Und während die Nationalversammlung dekretierte: damit „hört das Bestehen des Bundestages auf 4 , sah dieser nur „mit diesen Erklärungen" „seine bisherige Tätigkeit als beendet" an, ließ sich also nicht liquidieren, sondern suspendierte sich selbst einstweilen von der Wahrnehmung seiner Kompetenzen. Die „Kontinuität der deutschen Verfassungs- und Rechtsentwicklung" (Huber) war damit freilich nicht erhalten, denn dieser abnorme Vorgang entsprach der Bundesakte von 1815 so wenig wie die Wahl und Wirksamkeit der Nationalversammlung insgesamt. Aber die Spaltung der Verfassung im Gegenüber des beiderseitigen Anspruchs auf die Verfassunggebende Gewalt während der revolutionären Übergangsperiode wurde daran evident. 9. Durch diese Bundesbeschlüsse hatte die Nationalversammlung nun zwar die äußere Anerkennung der Regierungen erhalten. Die Kontinuität des positiven Rechts war scheinbar gewahrt; man begegnete sich in Formen der Legalität, die beide Seiten für sich behaupteten. Aber das war erkauft durch einen gefährlichen Dissens über die Rechtsgrundlagen und über die legitimierenden Prinzipien und Kräfte. Die Zwitterstellung der Zentralgewalt hatte zur Folge, daß sich diese im Endkampf des Frühjahrs 1849 der Durchführung der Verfassung versagte und die Paulskirche im Stich ließ 50 . So konnte der Konflikt über die Verfassunggebende Gewalt weiterschwelen. Die scharfsichtigeren Abgeordneten der Linken erkannten schon jetzt das Gefährliche der Situation51, aber ihre Kassandrarufe gingen in der Siegesstimmung über die Erfolge des Anfangs unter. 49
Beschluß vom 29.6.48 und 12.7.48, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 545 ff., 550 ff.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 341. Dazu ders., Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 632. 50
Vgl. die Erklärung des Reichsverwesers vom 10.5.49, SB IX 6509 und die Debatten über die Pflicht der Zentralgewalt zur Durchführung der Verfassung, z.B. SB IX 6235, 6316, 6619, 6627, 6647, 6668, 6677. 51 Robert Blum, SB I 721 ff., der darin einen Angriff auf die Rechte der Nationalversammlung sah. Vgl. auch den Antrag Schoder vom 14.7.48, die Übertragung der Befugnisse durch die Bundesversammlung für rechtlich nicht geschehen zu erachten. Dagegen Schmerling in Verteidigung der Bundestagsbeschlüsse, SB I 723: „Wenn ich in meiner Eigenschaft als Bundestagsgesandter etwas beitragen konnte zu innigen Ver-
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Die deutsche Einheitsbewegung hatte also das Volk und die Regierungen ergriffen, aber sie wogte in zwei Strömungen nebeneinander her. Es war nicht gelungen, beide in einem Bett zu vereinigen. Insofern war die Auflösung des Bundestages durch die Nationalversammlung problematisch und kurzsichtig. Die Regierungen standen ihr nun in der Vereinzelung gegenüber. Der Nationalversammlung fehlte bei der Verfassunggebung der einheitliche Partner auf der Regierungsseite zum konstitutionellen Zusammenspiel. Der anfangs verbreitete Gedanke, ein Parlament „am Bundestag" zu errichten und — dem herrschenden konstitutionellen Schema entsprechend - durch ihr institutionelles Zusammenwirken schon während der Verfassungsberatungen den Boden für die spätere „Vereinbarung" zu bereiten, scheiterte, weil sich die Nationalversammlung im Vollgefühl ihrer deutschen Mission selbständig machte und ihr jenes konstitutionelle Schema fur eine Verfassungsschöpfung ungeeignet erschien 52. 10. Die Gefahr einer Oktroyierung der Verfassung lag also im Reiche ganz fern. Sie wurde erst gegen Ende der Beratungen hochgespielt, als nach der ersten Lesung die Stellungnahmen der Regierungen zum Verfassungsentwurf eingingen und manche Abgeordneten der Linken 53 die Gefahr beschworen, daß die Regierungen die Verfassung nicht durch Vereinbarung mit der Nationalversammlung, sondern durch Vereinbarung der Regierungen untereinander - also durch gemeinsamen Oktroi — erlassen wollten. Sie wollten damit das Vereinbarungsprinzip diskreditieren und die Verständigung mit den Regierungen torpedieren, um ihr demokratisches Ziel der einseitigen Konstituierung der Verfasständigung zwischen der Nationalversammlung und den Regierungen, so bin ich stolz darauf und betrachte dies als das schönste Werk, das ich je habe leisten können." - In beiden Äußerungen kommt das Doppeldeutige der Maßnahmen zu kurz. - Rückblickend später Zimmermann, SB IX 6647. 52
Man hielt die Organisation bündisch vereinter Regierungen für unvereinbar mit der erstrebten Ministerverantwortlichkeit; ein „verantwortlicher" Minister für 33 Regierungen sei eine Unmöglichkeit. So Dahlmann in dem Ausschußbericht zum Gesetz über die provis. Zentralgewalt, SB I 356 f. und später Gagern, SB V I 4649 und VIII 5880 in Ablehnung der Direktoriumsidee, die auf den ursprünglichen Plan eines Nationalparlaments am Bundestag hinauslaufe. - Es ist dieselbe Grundfrage des Verhältnisses von Föderalismus und Parlamentarisierung, um die es bei der Begründung des Norddeutschen Bundes im Amendment Bennigsen ging und die später die Struktur des Bismarck-Reiches prägte: Der Bundesrat (als ein föderatives Regierungs- und Gesetzgebungsorgan) unterfiel nicht der Ministerverantwortlichkeit. Deshalb begnügte sich der Reichskanzler mit relativ schmalen Regierungsbefugnissen als Kanzler und führte die Reichsregierung wesentlich in seiner Rolle als Präsidium des Bundesrates, in der er als preußischer Ministerpräsident den Ton angab, aber ohne dem preußischen Landtag gegenüber wegen der Reichspolitik parlamentarische Verantwortung zu tragen. 53
Venedey, SB V I I 5154 in Reaktion auf die österreichische Note vom 4.2.49 (SB V I I 5149 ff.); Pfeiffer, SB V I I 5461 im Hinblick auf die Erklärungen der übrigen Regierungen (SB V I I 5436-5461). Übertreibend Schüler, SB VIII 5895: Wenn die Versammlung ihre Beschlüsse in dem Sinne der Fürsten fasse, dann sei das in Wirklichkeit eine Vereinbarung - und „das ist auch eine Oktroyierung".
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sung durch die Volksvertretung durchzusetzen. Der Zeitpunkt dafür war günstig, denn die Oktroyierung der österreichischen Verfassung v o m 4.3.49 wirkte damals als Alarmsignal. Sie veranlaßte den badischen Liberalen Welcker, der gerade aus dem großdeutschen in das kleindeutsch-erbkaiserliche Lager überging, zu seinem berühmten Antrag v o m 12. M ä r z 5 4 , der die sofortige Annahme der Verfassung durch einen Beschluß der Nationalversammlung forderte, obwohl Welcker an sich ein Anhänger des Vereinbarungsprinzips war. Der Antrag bedeutete wiederum eine Weichenstellung für die einseitige Konstituierung und wirkte sich sinister aus, weil er die „Verständigung" mit den Regierungen sehr erschwerte. Das gemäßigte Zentrum hingegen hatte die Sorge vor der Oktroyierung zu beschwichtigen versucht 5 5 , weil seine monarchisch-konstitutionellen Ziele später doch auf das Zusammenspiel mit den Regierungen angewiesen waren und die vordringliche Gefahr in der Tat nicht i m drohenden Oktroi, sondern i m Scheitern der Verfassung lag. 11. Die Oktroyierung der Verfassung in den Einzelstaaten, zuerst in Preußen am 5. Dezember 1848 und dann in Österreich am 4. März 1849, brachte die Frankfurter Versammlung in zusätzliche Schwierigkeiten. Sie durfte sich Preußen als die künftige Führungsmacht nach den Plänen ihrer erbkaiserlichen Majorität nicht verprellen, aber auch der Oktroyierung nicht tatenlos zusehen 56 , da sie m i t überwältigender Mehrheit eine Oktroyierung für einen Rechtsbruch und 54 SB VIII 5666/67. Der Antrag Welcker löste lange, erregte Debatten aus und wurde schließlich abgelehnt (Bericht des Verfassungsausschusses, SB VIII 5793-95, Diskussion 5802-5912, Ablehnung 5918), führte aber kurz darauf doch zur beschleunigten Abstimmung über die Verfassung nach dem Antrag Eisenstuck (SB VIII 5931). Vgl. Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 373; ders. y Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 815; Stern, Staatsrecht (Fn. 3), S. 259. - Welcker hat auch in der Folge gegen eine Oktroyierung und gegen „den wiedererwachenden Wahn des göttlichen Rechts" gepredigt, SB IX 6404, denn eine okroyierte Verfassung sei ein reines Gewaltverhältnis, enthalte höchstens einen Vereinbarungsvorschlag und könne erst durch die Annahme des Volkes zur Verfassung werden. Vgl. Rotteck/ Welcker (Hrsg.), Staatslexikon, 2. Aufl., Bd. VI, 1847, S. 162, Bd. X, S. 100 ff. 55
Z.B. Gagern, SB VIII 5879: „Die Oktroyierung einer Verfassung fürchte ich also nicht ... denn zum Oktoyieren einer Verfassung für Deutschland würde eine Übereinstimmung der Regierungen gehören, die für diesen Zweck nicht zu erwarten ist." 56 Die Stellung der Frankfurter zur Berliner Nationalversammlung war verwickelt: Vom unitarischen Standpunkt aus war letztere ihre Rivalin, vom konstitutionellen aus ihre Verbündete, von deren demokratisch-revolutionären Auswüchsen her ihre Gegnerin. Unter unitarischen Aspekten war eine verhärtende Konsolidierung Preußens durch eine Verfassung nicht erwünscht. Ihre konstitutionelle Beschützerrolle zwang die Paulskirche dennoch, in Preußen zugunsten der Volksbewegung zu intervenieren, damit aber auch wiederum die partikulare Verfassungsbildung in Preußen zu beschleunigen, weil die Krone nun im Wettlauf der konstitutionellen Bemühungen selbst die preußische Verfassung erließ. Die Frankfurter Intervention errang also auf dem konstitutionellen Gebiet einen zweifelhaften Erfolg, erlitt aber auf dem unitarischen eine Einbuße und hat im Ergebnis den preußischen Erbkaiserplan sehr gefährdet.
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Staatsstreich hielt, sobald sich eine Regierung wie in Preußen für eine Verfassungsvereinbarung erklärt hatte, dadurch gebunden sei und das Volk ein Recht auf Teilnahme an der Verfassunggebung erworben habe57. Aus der Mission zur Verfassunggebung im Reich folgerte sie den Beruf und die Kompetenz zum Schiedsrichteramt in Verfassunggebungskonflikten der Einzelstaaten. So suchte sie zwischen Krone und Volksvertretung in Preußen zu vermitteln, erklärte den Steuerverweigerungsbeschluß der Berliner Nationalversammlung für nichtig 58 , verstimmte aber auch nachhaltig den König, weil sie sich als Schutzmacht des preußischen Volkes gegen die Krone gerierte, die Einlösung des Verfassungsversprechens anmahnte, die Entlassung des Ministeriums Brandenburg forderte 59, „um die Besorgnis vor reaktionären Bestrebungen und Beeinträchtigung der Volksfreiheit zu beseitigen", und ankündigte, sie werde die „dem preußischen Volk gewährten und verheißenen Rechte und Freiheiten gegen jeden Versuch einer Beeinträchtigung schützen" 6 0 . - Die Fraktionen zeigten sich in der Debatte tief gespalten. Ein Teil der Linken verlangte, die Okroyierung der Verfassung und die Auflösung der preußischen Nationalversammlung „für null und nichtig" zu erklären 61. Ein anderer Teil wollte die nächsten preußischen Parlamentswahlen als Plebiszit gegen die oktroyierte Verfassung einsetzen und zu einem Akt der konstitutionellen Gewalt des Volkes hochputschen62, also aus einem Akt des Verfassungsvollzuges einen Akt der Verfassunggebung machen und so die Form der Legalität benützen, um die Legitimitätsgrundlagen auszuwechseln. - Andere hingegen - so ein Antrag Uhlands 63 - wollten noch nachträglich den Vereinbarungsweg beschreiten, also der Verfassung die Anerkennung solange versagen, bis sie mit der Volksvertretung vereinbart werde; das hätte die erlassene Verfassung in ein unverbindliches Provisorium zurückversetzt und den Oktroi in einen Vereinbarungsvorschlag umgedeutet, dadurch der Krone ihre Verfassunggebende Gewalt teilweise entwunden und den Parlamentswahlen teilweise konstituierenden Charakter zuerkannt. - Dasselbe Ziel verfolgte letztlich der Antrag, zur Tagesordnung überzugehen 64: So könne man Prinzipienstreitigkeiten vermeiden, die Wahlen durchführen und dann das Volk sein - unveräußerliches, ohnehin durch keinen Oktroi verletzbares - Recht zur Verfassungsvereinbarung geltend machen lassen. Dieser Antrag auf Übergang zur Tagesordnung - und damit das Ausweichen von einer Entscheidung - wurde aber auch von anderen Gruppen aus gegensätzlichen Motiven 57 Darin stimmen die Redner der verschiedensten Richtungen überein. SB V I 4436, 4440, 4448, 4450, 4451, 4454, 4455. 58
SB V 3438, 3474.
59
SB V 3268, 3316, 3438, 3470. Besonders verletzend hatte der Aufruf des Reichsverwesers vom 21.11.48 und seine unmittelbare Zusendung an die preußischen Oberpräsidenten gewirkt, die eine Auflösung Preußens gewissermaßen schon vorwegnahm. Meinecke, Weltbürgertum (Fn. 26), S. 397 ff., 411 ff. 60
SB V 3438, 3475/80.
61
SB V 3988.
62
Raveaux, SB V I 4455. - Zur Kritik der preußischen Verfassung: Wesendonck, SB V I 4433 ff. 63 64
SB V I 4431. Vgl. auch die Thesen Welckers
im Staatslexikon (Fn. 54).
So der Antrag Heinrich Simons, eines führenden Kopfes der preußischen Liberalen, SB V I 4431.
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unterstützt: Von manchen Linken 65 , weil sie den Konflikt lieber ihren radikalen Gesinnungsgenossen in Preußen statt der Frankfurter Intervention überlassen wollten, von der Rechten66, weil sie dem König recht gaben, vom liberalen Zentrum 67 , weil sie in der oktroyierten Verfassung (mit ihrem Gebot der umgehenden Verfassungsrevision seitens der Kammern) doch gewisse Anknüpfungspunkte fur eine Vereinbarung erblickten. Gewunden war die Stellungnahme des Ausschusses, verfaßt von dem bekannten Göttinger Staatsrechtslehrer Zachariä 68: Die Kompetenz der Frankfurter Nationalversammlung zur Intervention in Berlin wurde nur sehr skrupulös-vorsichtig bejaht, das Fehlen einer Vereinbarung werde durch die Möglichkeit der Verfassungsrevision wettgemacht, was zwar die Gültigkeit der Verfassung voraussetze, die freilich doch erst mit der „Annahme' 4 durch die Wahlen und die Volksvertreter zustande kommen werde.
Die lebhafte Debatte offenbarte so zuerst die tiefen Gegensätze der Fraktionen in den Grundsatzfragen der Verfassunggebung überhaupt, dann aber den Bankrott ihres Schiedsrichteranspruchs in Verfassungskonflikten der Einzelstaaten, denn alle ihre divergenten Anträge wurden der Reihe nach niedergestimmt 69 und dabei ließ man es bewenden. Die Oktroyierung in Österreich vom 7. März 1849 hat zwei Monate später ein solches Nachspiel in der Nationalversammlung nicht mehr erlebt. Sie mußte jetzt ihre Kräfte sammeln, um ihre eigene Verfassung unter Dach zu bringen, und hatte den Glauben an ihre Befähigung zum Eingriff in die Verfassungsentwicklung der deutschen Großmächte verloren. Deshalb haben die Erbkaiserlichen, die auf Preußens Führung setzten, schließlich auch den Antrag Uhlands70 zu Fall gebracht 71, ein Verbot des Oktroyierens in die Normativbestimmungen der Reichsverfassung für die Verfassung der Einzelstaaten einzufügen; als Spitze gegen Preußen sollte das in allgemeiner Form nachholen, was in den Preußendebatten nicht durchzusetzen war. So ließ die Reichsverfassung die Fundamentalfrage der Verfassunggebung und der Verfassunggebenden Gewalt auch für die Länder offen.
65
Schüler, SB V I 4432.
66
EvertsbuscK
67
Antrag Schmidt, SB VI 4432, unterstützt von Prof. Mittermaier.
SB V I 4455.
68
SB VI 4428 ff.
69
SB V I 4459, 4473 f.
70
SB V I I 5175. Abgelehnt SB VII 5192 mit 203 gegen 199 Stimmen.
71
Gegen den Antrag vgl. die warnenden Worte Beselers als Berichterstatter, SB VII
5185.
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt 1848/49
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I I I . Die Verfassungsvereinbarung als Alternative 1. Die äußere Entwicklung des Vereinbarungsprojektes 72 führte nach verheißungsvollen Ansätzen bald in Turbulenzen und schließlich in die Katastrophe. Z u m Auftakt der Verfassungsbewegung wurde das Vereinbarungsprinzip, die Lieblingsidee der Liberalen u m die Mitte des 19. Jahrhunderts, von den konstitutionellen Patrioten vehement propagiert. Der berühmte Antrag Bassermanns vom 12. Februar 1848 in der Zweiten Kammer Badens und der hierzu von Welcker 73 erstattete Kommissionsbericht forderten die Schaffung einer neuen Bundesverfassung durch die Vereinbarung der Regierungen mit den Vertretern der Nation als „Nationalgrundvertrag". Nur auf dem Vertragswege sei die Verschmelzung der monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elemente zu erreichen, die „statt der reinen Demokratie" und statt „eines Einheitsstaates" den „Grundbau" für ein „freies und reiches deutsches Nationalleben" bilden könne. In der Mißachtung der Vertragsgrundlagen, ,jener ewigen Grundsätze aller freien Völker und der Freiheit selbst", sah man die Wurzel aller Übel des deutschen Bundes, seines „Wahns des göttlichen Rechts", der „sogenannten Legitimität 4 , und des sogenannten monarchischen Prinzips'". Der Ausgleichs- und Integrationswert der Verfassung, ihre Garantie der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sollten in dieser Sicht entscheidend abhängig sein vom Weg der Verfassunggebung durch Vereinbarung. Die Regierungen haben das Vereinbarungsprinzip, wie beschrieben, nach einigem Widerstreben durch die angeführten Bundesbeschlüsse v o m 30. März und 7. A p r i l 1848 anerkannt, auf dieser Grundlage die Wahlen zur Nationalversammlung organisiert und zuletzt auf seiner Durchführung bestanden, auch zwischenzeitlich nie darauf verzichtet. Sie haben es freilich nicht protestierend angemahnt, als die Nationalversammlung ihrerseits die „Nationalsouveränität" erklärte 7 4 , als sie einseitig die provisorische Zentralgewalt einsetzte 75 und den Reichsverweser wählte, als sie vorweg den Vorrang ihrer Verfassung vor den Verfassungen der Einzelstaaten proklamierte 7 6 und den Regierungen die Vorlage eines Verfassungsentwurfs sowie die Teilnahme an den Verfassungsberatungen verwehrte. Sie wahrten vielmehr ihren Rechtsstandpunkt, indem sie dem Gesetz 72
Zur Terminologie: Unter „Vereinbarung" versteht man um die Mitte des 19. Jhd. eine sachliche, auf Dauer getroffene Einigung zwischen den organisierten Verfassunggebenden Gewalten über die politische Grundordnung, die sowohl durch einen förmlichen Verfassungsvertrag als auch durch die Zustimmung einer Volksvertretung zu einer Verfassungsvorlage der Regierung durch Gesetzesbeschluß erfolgen kann, - also auch ohne enge Anwendung der im Zivilrecht ausgebildeten Vertragsformen. Die mangelnde Trennung von Gesetz und Vertrag entspricht dem Recht des Deutschen Bundes, das den Typ der „Vertragsgesetze" verwendet. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. I, S. 599, 602. 73
Roth /Merck
74
SB I 17.
(Fn. 1), Bd. I, S. 30 ff., 58 ff. (71 ff.).
75
SB I 581, 602/621.
76
SB I 28, 121 ff., 125 ff., 155.
3 FS Oppermann
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der Nationalversammlung über die provisorische Zentralgewalt die - unerbetene - Zustimmung durch die Bundesversammlung erteilten und es so auf eine konkurrierende Rechtsgrundlage stellten. - In den ersten Monaten kam es nur zu vereinzelten Konflikten: Hannover und Sachsen bestanden auf der Zustimmung ihrer Regierung zur Reichsverfassung 77, Sachsen auch auf der seines Landtags, was über den Bundesbeschluß vom 30. April 1848 wesentlich hinausging. Nach dem Erstarken der Regierungen durch die Niederschlagung der Oktoberrevolution in Wien und durch den Sieg der Krone im Berliner Verfassungsstreit drangen die beiden deutschen Großmächte - und in Anlehnung an sie auch die Mittelstaaten - zunehmend auf die Einhaltung der Bundesbeschlüsse vom 30. März und 7. April 1848 über den Vereinbarungsweg. Vor allem Österreich unter Schwarzenberg wollte die unbedingte Geltung des Vereinbarungsprinzips benützen, um die deutsche Einigung bis zur Reorganisation der österreichischen Gesamtmonarchie und übernationalen Staatseinheit78 hinauszuschieben, seine eigene Verfassunggebung ungestört unter Dach zu bringen und seine deutschösterreichischen Provinzen, die das deutsche Nationalparlament nach dem Programm der Großdeutschen für den deutschen Bundesstaat beanspruchte, gegen die Frankfurter Zugriffe abzusichern 79. Österreich bestritt so auch die Geltung der von der Paulskirche beschlossenen Gesetze80, etwa zur Wechselordnung und Abgeordnetenimmunität (und ließ den Frankfurter Abgeordneten Robert Blum bei seiner Intervention in Wien als Revolutionär erschießen), behielt sich das Zustimmungsrecht zu allen Akten der Paulskirche vor 81 und begründete damit den Vorrang seines Partikularrechts. - Preußen äußerte in seiner bedeutsamen
77
Zu Hannover vgl. SB II 879 und die spätere Anerkennung der Zentralgewalt SB III 1624; zu Sachsen SB IV 3075 und die Debatte IV 3169 ff. 78
In dem Programm von Kremsier vom 27.11.48 hat Schwarzenberg seine Ziele für die künftige verfassungsrechtliche Gestaltung Österreichs umrissen, SB V I 4551 : „Österreichs Fortbestand in staatlicher Einheit ist ein deutsches und europäisches Bedürfnis ... Erst wenn das verjüngte Österreich und das verjüngte Deutschland zu neuen und festen Formen gelangt sind, wird es möglich sein, ihre gegenseitigen Beziehungen staatlich zu bestimmen". „Bis dahin ... werden wir ... keinerlei beirrenden Einfluß von Außen auf die unabhängige Gestaltung unserer inneren Verhältnisse zulassen." - auch in: Roth/ Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 67; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 360. - In den folgenden österreichischen Noten vom 28.12.48 und 4.2.49 wird die Position der Paulskirche, insb. das Gagernsche Programm, zurückgewiesen und mit Nachdruck die Einhaltung des Vereinbarungsprinzips gefordert; s. SB VI 4554, V I I 5150. 79 Das ist im Bericht des Österreich-Ausschusses der Nationalversammlung von 11.1. 49 klar erkannt, SB V I 4541. 80 81
Österreichische Note vom 8. und 11.12. 48, SB V I 4546 ff., 4550.
Österreichische Ministerialerklärung vom 17.4.48 aus der Zeit vor Zusammentritt der Nationalversammlung (Roth/Merck [Fn 1], Bd. I, S. 316 , dort fälschlich auf 21.4.48 datiert), auf welche die Note vom 10.2.49 bezug nimmt; vgl. den Bericht des Reichsjustizministers Mohl, SB V I I 5205.
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Note v o m 23. Januar 1849 82 zwar Zustimmung zu dem Frankfurter Verfassungsplan des kleindeutschen Bundesstaates unter preußischer Führung. Aber zur Frage der Verfassunggebenden Gewalt sprach es zunächst konziliant-korrigierend von der Notwendigkeit der „Verständigung" und mied den Begriff „Vereinbarung", da dem gefahrlichen Gegensatz um das Vereinbarungsprinzip „die Spitze abgebrochen werden" müsse; freilich hob es hervor, daß die meisten deutschen Regierungen niemals auf das Recht der Zustimmung verzichtet hätten und es seinerseits eine Führungsrolle nur „ m i t freier Zustimmung der verbündeten Regierungen" annehmen werde. - In den folgenden Noten Preußens 83 , Bayerns 8 4 , Sachsens 8 ' und Hannovers 8 6 und der meisten Kleinstaaten 8 7 kam es zur Verhärtung i m Sinn des Vereinbarungsprinzips, nachdem die abgesonderte Verkündung der Grundrechte 88 den Streit weiter angefacht hatte. A n den Klippen des Vereinbarungsprinzips ließen die Regierungen das Verfassungswerke schließlich scheitern 89 . So hatte sich die Vereinbarung zwischen den Regierungen und der Volksvertretung endgültig zerschlagen. Aber auch die Einigung der Regierungen untereinander hatte sich als unerreichbar erwiesen. Österreich 90 und die Königreiche 91 mit Ausnahme Württembergs verweigerten sich einer preußischen Hegemonie, weshalb dann schließlich das Einverständnis von 28 Kleinstaaten92 mit der Verfassung und der Kaiserwahl fruchtlos blieb. - Da sie vom Vereinbarungsprinzip der Bundesbeschlüsse als Verfassungsgrundla82 SB V I I 5437 ff.; auch in: Roth /Merck (Fn. 1), S. 363.
(Fn. 1), Bd. II, S. 253; Huher, Dokumente
83
Z.B. vom 16. und 23.2.49, SB VII 5442, 5448.
84
Note vom 16. und 28.2. 49, SB VII 5440; Roth/Merck
85
Note vom 23.2.49, SB V I I 5453; Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 389.
8f t
Note vom 13.2. und 7.3.49, SB VII 5516; Roth/Merck
(Fn. 1), Bd. II, S. 359, 361. (Fn. 1), Bd. II, S. 276, 408,
416. 87
Kollekitvnotenote vom 23.2. und 1.3.49, SB V I I 5444; Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 299, 342. - Nur Württemberg und einige kleinere Staaten erkannten den Beruf der Nationalversammlung zur Feststellung der Verfassung und erklärten ihre Bereitschaft, sich ihren Beschlüssen zu unterwerfen, SB V I I 5443, 5517; VIII 5621; Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 417 ff. 88
SB VIII 5627 ff., 5630.
89
Preuß. Zirkularnote vom 3.4.49, SB VIII 6127 f.; Kollektivnote der Bevollmächtigten Badens, Kurhessens u.a. vom 14.4.49, preußische Note vom 17.4.49, SB VIII 6210; Preußische Regierungserklärung vom 28.4.49, SB IX 6387 ff.; Preußische Zirkularnote vom 28.4.49, SB IX 6399; vgl. auch Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 458 ff., 480 ff., 482 f., 484 ff., 494 ff.; Huher, Dokumente (Fn. 1), S. 412 ff., 415 ff. 90
Reskript vom 5.4.49, SB VIII 6210; ferner die Ablehung weiterer Verhandlungen in der Depesche vom 8.4.49, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 453 ff., 475 ff.; Huher, Dokumente (Fn. 1), S. 409. 91 92
Z.B. Bayerische Note vom 23.4.49, SB VIII 6328.
Kollektivnote vom 14.4.49, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 480 ff.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 410 ff. 3*
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ge ausgingen, hielten die Regierungen nun die Existenzberechtigung der Nationalversammlung für erloschen, beriefen ihre Abgeordneten zurück und erklärten die Permanenz des Rumpfparlaments fiir illegal 93 , desgleichen seine Versuche zu einseitigen Durchsetzung der Verfassung.
2. Die systematische Analyse der Ereignisse macht deutlich: Das Verein-
barungsprinzip stellte keine einheitliche Größe dar, sondern umschloß als komplexes, mehrgliedriges Geftige (1) die Vereinbarung zwischen der Nationalversammlung und der Gesamtheit der Regierungen für ihre Staaten, (2) die Vereinbarung zwischen den Regierungen, (3) die Vereinbarung zwischen den Regierungen und ihren Volksvertretungen im Einzelstaat. Im Vordergrund stand 1848 die erste Vereinbarungsart zwischen der deutschen Nationalrepräsentation und den Regierungen insgesamt. Diese hatte der Bundesbeschluß vom 30. März 1848 als Grundlage der Verfassunggebung vorgesehen. Die zweite und dritte Art besaßen von hier aus gesehen eine Hilfsfunktion: Die Vereinbarung der Regierungen untereinander ermöglichte ihre einheitliche Willensbildung und damit ihre Vertragsfahigkeit mit der Volksvertretung. Die Vereinbarung zwischen den Regierungen und Volksvertretungen im Einzelstaat setzte die Regierungen instand, die Vereinbarung mit dem Nationalparlament im Bundesstaat einzugehen und diese im Einzelstaat auszuführen.
Die vielgliedrige Struktur brachte nun aber ständig die Gefahr des Umschlagens und der Verkehrung dieses Rangverhältnisses. Je stärker sich die Regierungen im Einzelstaat politisch festigten, sich ihre Initiative im partikularen Verfassungsstreit durchsetzte und ihre Einigung in der nationalen Verfassungsbewegung fortschritt, desto stärker verschob sich der Schwerpunkt des Vereinbarungsproblems auf die zweite Spielart hin: Die Vereinbarung zwischen den
Regierungen erschien dann als die eigentliche verfassunggebende und staatsbegründende Tat - man denke nur an die Präambel der Bismarck'schen Reichsverfassung. Die (vorhergehende oder nachfolgende) Vereinbarung mit der Nationalversammlung erschien dann eher als vorbereitende oder ausführende Funktion, welche als eine Art Akklamation den Makel der Oktroyierung tilgte oder doch milderte; der Nationalversammlung blieb dann nur die Zustimmung übrig, wenn sie nicht das Odium des Scheiterns der Verfassung und des Verrates an ihrem Volk und ihrer Zeit auf sich nehmen wollte; diese düsteren Perspektiven zeichneten sich in manchen Debatten der Paulskirche ab 94 . Auch die dritte Art der Vereinbarung konnte bedrohlich für die Reichsverfassung werden, wenn sie die Prärogative ergriff und den Vorrang für das Partiku93 Österreichisches Reskript vom 5.4.49, SB VIII 6210; Preußische VO vom 14.5.49, SB IX 6616; Hannoversche Entschließung vom 23.5.49, SB IX 6766. Vgl. auch Roth/ Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 453 ff., 517 ff., 531 ff.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 423. 94
SB VII 5154, 5461.
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larverfassungsrecht beanspruchte. Hier ging es um das Rangverhältnis zwischen der unitarischen und der partikularen Vereinbarung: Ob der Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht schon im Stadium der Verfassunggebung gelte, blieb ein ungelöstes Problem, und das hat wesentlich zum Scheitern der Verfassung beigetragen. In Frankfurt, Berlin und Wien tagten ja etwa drei gleich große „konstituierende" Nationalversammlungen von sehr unterschiedlicher politischer Ausrichtung und Zielsetzung, die einander als Rivalen beargwöhnten, ja zum Teil bekämpften. Je stärker sich die Einzelstaaten, zumal die beiden bisher absolutistischen Großmächte, durch ihre eigene Verfassunggebung staatlich festigten und nach eigenem Maß liberalisierten, wurden die Verfassungsziele der Frankfurter erschwert und verwehrt. Der Erfolg der partikularen Verfassunggebung präjudizierte die Erfolglosigkeit bedeutsamer unitarischer Verfassungsprojekte - etwa der Auflösung Preußens zur Herstellung homogener Gliedstaaten im neuen deutschen Bundesstaat und der Eingliederung Deutsch-Österreichs ohne die ungarischen, slawischen und italienischen Teile der Monarchie. Zwar schien es politisch, moralisch und juristisch gleichermaßen unangemessen, daß die deutsche Reichsverfassung an entgegenstehendem Landesverfassungsrecht und an widerstreitenden Landesverfassungsvereinbarungen scheitern könnte 95 . Aber vom Boden des Vereinbarungsprinzips, das sich auf den freiwilligen Vertragsschluß sowohl der Regierungen als auch der Volksvertretungen gründete, gab es keinen förmlichen Rechtssatz, der sie hier zu ihrer Zustimmung verpflichtete oder zu ihrer Unterordnung zwang. Allenfalls hätte aus dem Bundesbeschluß vom 30. März 1848 über die Abhaltung der Wahlen der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz 96 abgeleitet werden können, daß sich kein deutscher 95
In diesem Sinn wollte schon der Fünfzigerausschuß des Vorparlaments vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung die Verfassungsberatungen in den Ländern unterbinden; Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, 196, 333. - Aus diesem Grund hatte sich schon der Bundesbeschluß vom 30.3.48 in den Motiven für die Wahlen zur Verfassungsgebung nur durch die Frankfurter Nationalversammlung und nicht auch durch die Volksvertretungen der Einzelstaaten ausgesprochen, aber er hat das nicht zum Norminhalt des Bundesbeschlusses erhoben; Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 189 f. - Dies war auch der Grund für den Antrag Raveaux (Fn. 131) in der Nationalversammlung. 96
Dieser hätte nur kraft der Verfassunggebenden Gewalt der Bundesstaaten in freier Fortentwicklung des Bundesrechts über die Bundesakte hinaus aufgestellt werden können, da diese Bundesbeschlüsse den rechtlichen Boden der Bundesakte von 1815 und der WSchlA von 1820 verlassen hatten (vgl. oben Fn. 35, 36 und unten Fn. 103). - Art. 58 WSchlA, der den Vorrang des Bundesrechts vor dem Einzelstaatsverfassungen bestimmte, war deshalb auf die neue Verfassungsbildung unanwendbar, zumal die Verfassunggebende Gewalt nicht an die vorhergehende, revolutionär zerrüttete und abzulösende Verfassung gebunden ist. - Aber eine Bindung wäre auch dann nur fur die Regierungen eingetreten, weil der Bundesbeschluß vom 30.3.48 nur eine einseitige Vereinbarung der Regierungen unter sich, jedoch nicht mit der (erst zu wählenden) Volksvertretung enthielt. — Die Nationalversammlung fühlte sich daran nicht gebunden, da sie sich auf die originäre Verfassunggebende Gewalt des Volkes berief. - Die Kluft zwischen diesen beiden Linien der Verfassungsgebung wurde eben nicht überwunden.
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Staat der Einigung schlechthin widersetzen und seine Landesverfassung nicht als Grund gegen jedwede Beschränkung seiner Hoheitsrechte durch die Reichsverfassunggebung anfuhren durfte. Aber auch dann war es die Sache der Einzelstaaten, zu entscheiden, zu welchen konkreten Vorschlägen einer Bundesstaatsverfassung sie ihr Einverständnis geben konnten, und darüber hatte sich eine Regierung - j e nach ihrer Landesverfassung - mit den Kammern zu einigen, d.h. dies zu „vereinbaren". 3. Vielfältige Erschwernisse und Widerstände belasteten das Vereinbarungsprinzip und potenzierten sich in ihrer gegenseitigen Verknüpfung. Sie bestanden in der Gegensätzlichkeit der Interessen und Ideen zwischen den Regierungen und dem deutschen Volk als Gesamtheit, ferner zwischen den Regierungen und dem Volk jeweils im Einzelstaat, sodann zwischen den Regierungen untereinander und schließlich zwischen Volk und Volk i m verschiedenen Bereich. Sodann: Der Gegensatz der unitarischen, bündischen und partikularen Momente kreuzte sich mannigfach mit dem Widerstreit monarchischer, demokratischer und bürgerlich-rechtsstaatlicher Tendenzen. Das führte zu sonderbarsten Kombinationen und Komplikationen, die hier nicht zu verfolgen sind. Die tiefen Spannungen zwischen Volk und Regierungen resultierten aus der langen Geschichte der gegenseitigen Verfemung, Unterdrückung, Auflehnung und des aufgestauten Hasses. Die Revolution hatte die alten Verhältnisse durcheinandergerüttelt, ohne klare Konturen zu schaffen. So war die Regeneration des Bundestages und die Überwindung der Reaktion in den Einzelstaaten durch die liberalen „Märzminister" in der Paulskirche lebhaft umstritten, das Mißtrauen lag in der Luft. Vertrauen als Voraussetzung der Vereinbarung ließ sich erst mühsam herstellen. Erschwert wurde die Vereinbarung sodann dadurch, daß sich die beiden Vertragschließenden institutionell unverfestigt gegenübertraten. So versuchten sie die Möglichkeiten und Grenzen beider Seiten auszuloten, aber auch vorsichtig zu verschieben, also jeweils die eigene Position situationsbedingt zu verbessern und die der Gegenseite nach eigenen Vorstellungen zu definieren und zu limitieren. Die Regierungen erkannten die Nationalversammlung an 97 , betrachteten sich aber auch selbst als Repräsentanten der Nation und beanspruchten das letzte Wort darüber, „ob der Weg, den die Nationalversammlung eingeschlagen hat, dem wahren Interesse Deutschlands und dem Willen der deutschen Nation entspreche" 98. - Andererseits sah die Nationalversammlung die Existenz der Regierungen und der Einzelstaaten als von ihren Gnaden bestehend an, wie die Debatte über deren Mediatisierung und Staatsform zeigte; das Vereinbarungsprinzip aber setzte die Selbständigkeit, Gleichordnung und freie Einigung der Partner voraus. Und schon durch die Auflösung des Bundestages hat sie zwar die verbündete Macht der 97 Das geht aus den zahlreichen mit der Nationalversammlung und deren Zentralgewalt gewechselten Noten hervor. So auch der preußische Königs auf das Angebot der Kaiserkrone: „In dem Beschluß der Nationalversammlung erkenne ich die Stimme der Vertreter des deutschen Volkes"; SB VIII 6126. 98 Vgl. die Preußische VO über die Abberufung der Abgeordneten, SB IX 6617; Bayerische Erklärung vom 23.4.49, SB VIII 6329.
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Regierungen aufgesplittert, aber auch die gemeinsame Willensbildung auf Regierungsseite während der Verfassunggebung erschwert und der Vollendung der deutschen Einheit entgegengewirkt, die doch auf die Übereinkunft mit den Regierungen angewiesen 99
war . Die Konkurrenz
und der Antagonismus
der Verfassungsbewegungen
i m Bund
und in den Einzelstaaten wirkte vielfach belastend. Der Volkswille war dadurch doppelt repräsentiert und aufgespalten 100, was den Regierungen erlaubte, den partikularen und den unitarischen Volkswillen gegeneinander auszuspielen und sich der Nationalversammlung gegenüber auf die mangelnde Zustimmung ihrer Landtage zu berufen 101. Die Vereinbarungen zwischen Fürst und Volksvertretung
innerhalb der Ein-
zelstaaten waren durch die alten konstitutionellen Spannungen und partikularen Interessen bestimmt. Ernste Konflikte drohten die Bildung eines einheitlichen Staatswillens auch in den Fragen der deutschen Einheit zu behindern und zu überfremden. Fanden sich aber Monarch und Landtag zur Einigung zusammen, so schuf die Erfüllung der Märzforderungen in den Ländern ein eigenes freiheitliches Staatsbewußtsein und eine eigene politische Grundrechtsordnung, weshalb man dort bisweilen die Beschlüsse der Paulskirche als unberechtigte Eingriffe empfand, wo sie etwa konfessionelle Gegensätze (wie in Bayern) oder besondere Gewerbe- und Eigentumsverhältnisse (wie in Hannover) berührten 102. Vereinbarungen der Regierungen untereinander
aber litten an den alten
Erblasten aus dem Deutschen Bund: An dem Dualismus der beiden Großmächte, der Verknüpfung deutscher mit auswärtigen Staaten, dem Bestreben der Mittelstaaten auf Erhaltung ihrer Souveränität und der Furcht vor einer preußischen Hegemonie, der mangelnden Gleichartigkeit der deutschen Staaten in ihrer Größe, Verfassung und politischen Struktur, ihrer unterschiedlichen Stellung zur Revolution und Verfassungsbewegung, dem Willen Österreichs zur Selbsterhaltung als Nationalitätenstaat und seiner Ablehnung des nationalen Bundesstaatsprojekts. 99
Die ersatzweise unternommenen Versuche der Preußischen Regierung, durch Zirkularnoten vom 3. und 28.4.49 (Fn. 89) eine Übereinstimmung der Regierungen zu erzielen, blieben ein unzulängliches Unterfangen. 100
Vgl. etwa zum Antrag Raveaux (SB I 28, 35 ff., das Verhältnis der Frankfurter zur Berliner Nationalversammlung betreffend); Vincke, SB I 136: „Ich beklage es lebhaft, daß leider in diesem Augenblick noch 38 verschiedene deutsche Nationen existieren ... wir können nicht sagen: Wir sind schon Eine deutsche Nation!" 101
Diese konstitutionellen Bedenken haben besonders Hannover und Sachsen (Fn. 77), gelegentlich Bayern und Österreich gegen die Nationalversammlung vorgebracht, z.B. gegen die Einfuhrung der Wechselordnung, SB V I 4550. 102 Vgl. das Schreiben des Hannoverschen Gesamtministeriums an die allgemeine Ständeversammlung Hannovers vom 10.2.49, SB V I I I 5629 f., das den Vorrang der Landesverfassung vor den vorab verkündeten Grundrechten der Nationalversammlung geltend macht.
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4. Überdies war die Bewegung des Jahres 1848 dadurch kompliziert, daß es nicht nur um eine neue Verfassunggebung, sondern - zuvor bzw. zugleich - um die originäre Staatsbildung eines neuen Bundesstaates ging. Legte man das Vereinbarungsprinzip zugrunde, dann konnte dieser Bundesstaat nicht durch die revolutionäre Unterwerfung bzw. Zerschlagung, sondern nur durch freies Mitwirken der Einzelstaaten zustande kommen: So waren dafür zweierlei Verfassungsvereinbarungen — im konstitutionellen und im föderativen Sinn — nötig, die sich dann überlagern und kreuzweise in Balance halten mußten. Dabei ist der konstitutionelle Vereinbarungsversuch auch deshalb fehlgeschlagen, weil der damit implizierte föderative Vereinbarungsteil nicht glückte. Wegen dieser Erschwernisse und Verwicklungen mußte der Vereinbarungsweg zur Begründung der deutschen Einheit 1848/49 als denkbar schwierig, ja im Grunde als wenig geeignet erscheinen. Inmitten des Sturmjahrs der Revolution ließ sich ein derart labiles, in verschiedene Richtungen ausbalanciertes System kaum mit Aussicht auf Erfolg errichten, da der Konsens in den Prinzipien und ein dauerhafte Verständigungswille fehlte. 5. Die Staatsgründung warf eben besondere Probleme auf, die der Nationalversammlung, aber auch den Regierungen erst nach und nach aufgingen. Die Regierungen versuchten das Problem zunächst zu unterschlagen. In ihren Noten handelten sie anfangs nur von der „Revision" der Bundesverfassung 103. Später jedoch hielten sie eine originäre Staatsbildung für unumgänglich und sprachen deshalb von dem „Zusammentritt" bzw. „Beitritt" der Einzelstaaten zum Bundesstaat104. Ihre Änderungsvorschläge zum Verfassungsentwurf der Paulskirche bezeichneten sie folglich als die „Bedingungen und Grenzen" ihres Beitritts zum Bundesstaat. 103
Seit dem Bundestagsbeschluß vom 10.3.48, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 120. Aber die Ersetzung des Deutschen Bundes von 1815 in einen Bundesstaat war eben nicht „legal" durch Verfassungsänderung der Bundesakte von 1815 und der Wiener Schlußakte von 1820 zu bewerkstelligen, weil dies den Bundeszweck und den Umfang der Bundesgewalt - die Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit und der Integrität und Souveränität der Gliedstaaten - weit überschritt und mit dem „Geist der Bundesakte" und dem „Grundcharakter des Bundes" unvereinbar war (Art. 3, 4 WSchlA), deshalb auch die Grenze für Verfassungsänderungen verletzte. Vgl. oben Fn. 35, 36. 104
Preußische Zirkulardepesche vom 23.1.49, SB VII 5438; Preußische Note vom 16.2.49, SB V I I 5443; Preußische Zirkularnote vom 3.4.49, SB VIII 6128. - Freilich sprachen — terminologisch verschleiernd - auch die späteren Stellungnahmen der Regierungen zum Entwurf und zur endgültigen Verfassung der Nationalversammlung noch immer von „der Umgestaltung der Bundesverfassung", „ihrer wesentlichen Erhaltung und Fortbildung", ihrer „zeitgemäßen Umbildung". Vgl. die Preußische Zirkulardepesche vom 23.1.49, SB V I I 5438, und die Preußische VO vom 14.5.49, SB IX 6617; die Österreichische Note vom 4.2.49, SB VII 5150; die Bayerische Note vom 28.2.49, SB VII 5540 und vom 23.4.49, SB VIII 6328; die Notata des Hannoverschen Gesamtministeriums und sein Schreiben an die Hannoversche Ständeversammlung vom 10.2.49, SB VIII 5628/29.
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Die föderative Vereinbarung zwischen den Regierungen sollte damit den entscheidenden Akt der deutschen Einigung darstellen (wie dies nachmals in der Bismarckschen Verfassung geschah). Die konstitutionelle Verfassungsvereinbarung mit der Nationalversammlung aber wurde so zur bloßen Voraussetzung und Nebenbestimmung der ersteren herabgestuft, selbst wenn beide Vereinbarungen zeitlich uno actu zusammentrafen. Letztere diente dann nur dazu, einen Verfassungsentwurf inhaltlich ausarbeiten zu lassen, der die Grundlage für die Staatsbildung durch die Regierungen bildete und als deren „Bedingung" erschien. Der Rechtsgrund für die Geltung der Verfassung lag dann im Zusammenschluß bzw. sukzessiven Beitritt der Staaten, nicht aber im Verfassungsgebungsakt der Nationalrepräsentation; diese war dann rechtlich nur als eine gemeinsame Zweckeinrichtung der das Einigungswerk begründenden Regierungen zu qualifizieren, die auf den Wahlgesetzen der Länder (und den sie initiierenden Bundesbeschlüssen vom 30.3.48 bzw. 7.4.48) beruhte und also ihrer Rechtsgewalt unterworfen war. Die Änderung der Verfassungsverhältnisse trat danach erst mit dem Beitritt und nur für die beitretenden Staaten ein, welche bis zu seinem Wirksamwerden souverän die Freiheit der Entscheidung über die bis dahin unverbindlichen Entwürfe behielten. Auch der Umfang des Reichsgebiets ergab sich dann erst aus ihrem Beitritt; seine Festlegung in der Verfassung der Nationalversammlung war danach voreilig und wirkungslos. Die Nationalversammlung hingegen ging davon aus, daß die Staatsgründung Deutschlands bereits durch die mit der Zustimmung der Fürsten erfolgten Wahlen geschehen sei: Seine staatsrechtliche Einheit habe in der Nationalversammlung als Repräsentation des deutschen Volkes schon verfassungsrechtliche Gestalt gewonnen 1 0 5 . Durch die Ausschreibung und den Vollzug der Wahlen habe die Nation mit den Fürsten einen „neuen Staatsvertrag" abgeschlossen und dadurch ein „wohlerworbenes Recht" auf Schaffung der Verfassung erlangt 1 0 6 . Ein Recht zum Austreten aus dem deutschen Staatsverband stehe den Fürsten nicht107 zu108. 105 So schon der Göttinger Staatsrechtslehrer Zachariä in einer der ersten Sitzungen am 27.5.48, SB I 148: „Wir haben durch unsere Existenz hier eine staatsrechtliche Einheit für Deutschland schon erobert, und brauchen sie nicht erst zu erobern. Es ist in der That nicht mehr vom Staatenbund die Rede ... daß wir durch die gesetzliche Wahl und das Vertrauen des Volkes schon eine staatsrechtliche Einheit Deutschlands darstellen ...so ist im Bundesstaat das von der Centraigewalt Festgestellte sogleich für alle bindendes Gesetz". - Aus der Fülle der Äußerungen seien herausgegriffen: Blum, SB I 149; Dahlmann, SB I 356; Welcker, SB I 411; Claussen, SB I 446; Wydenhrugk, SB I 458; VogU SB I 507; Gagern, SB I 520; Beseler, SB I 701 u. andere. Ferner Wydenhrugk, SB II 892; Limburg-Ausschuß (im Verhältnis zu den Einzelstaaten), SB II 1011 ff., 1017, 1032. - Hinsichtlich der Interventionen in Österreich und Preußen vgl. SB IV 2810 ff.3028; V 3268/3316; 3434 ff., V I 4428 ff.; insbesondere auch der Bericht des Österreich-Ausschusses vom 11.1.49, SB VI 4540 ff. 106
So der Österreich-Ausschuß am 11.1.49, SB V I 4540, und viele Äußerungen in den Debatten. 107
Z.B. Wydenhrugk, II 1017, 1032.
SB II 892, 1017, 1032; Bericht des Limburg-Ausschusses, SB
108 Auch die Regierungen haben die staatsbildende Wirkung jener demokratisch-unitarischen Vorgänge gelegentlich anerkannt, wenn etwa der Bundesbeschluß vom 30.3.48
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In der Tat war mit der Ausschreibung und Abhaltung der Wahlen, mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung, auch mit der Schaffung und der Anerkennung ihrer provisorischen Zentralgewalt seitens der Regierungen der neue Staat bereits in seinen Fundamenten errichtet, Planung und Rohbau schritten voran, die Staatsbildung war wenn auch mit unfertigen verfassungsrechtlichen Konturen - eingeleitet und jedenfalls im Ansatz geleistet. In diesem rechtlich offenen Vorfeld der Verfassunggebung beschränkte sich die Verfassungslage (von Verfassung ließ sich noch nicht sprechen) der rudimentären deutschen Staatlichkeit einerseits auf die gegenseitige Anerkennung der Existenz der Regierungen und der Volksrepräsentation gegen die revolutionäre Beseitigung von unten oder oben 109 , andererseits auf die wechselseitig beteuerte, inhaltlich jedoch vage und umstrittene Pflicht zum Zusammenwirken an der Vollendung des Verfassungswerkes, wobei freilich keine Einmütigkeit über die Träger und das Verfahren der Verfassunggebenden Gewalt bestand. - Die Staatlichkeit des neuen Deutschland war eben erst im Werden. Unsicher war die Abgrenzung seines Staatsgebietes und Staatsvolkes, vor allem durch die großdeutsch-kleindeutsche Kontroverse. Vor allem aber fehlte ihr einstweilen die echte Staatsgewalt, die bei den Einzelstaaten verblieben war - von der geringen Macht der provisorischen Zentralgewalt abgesehen, welche unter einem österreichischen Erzherzog kaum als verläßliche Stütze der preußisch-kleindeutschen Vision gelten konnte. Die Theorie der schon vollzogenen Staatsgründung entpuppte sich als Luftschloß, als mit der Durchsetzung der verkündeten Verfassung am Schluß die Probe darauf fallig war. Ein erstes Abbröckeln zeigte sich schon in den Österreich-Debatten. Die großdeutsche Konzeption hatte die deutsch-österreichischen Provinzen in §§ 2, 3 des Verfassungsentwurfs für den deutschen Bundesstaat reklamiert und die Auflösung der österreichischen Staatseinheit verlangt 110 . Ihre Undurchführbarkeit lag nach der Niederwerfung der Revolution und der Festigung der österreichischen Staatseinheit auf der Hand. Nach dem parlamentarischen Sieg der preußischen Erbkaiserpartei entwickelte deshalb Gagern als neuer Reichsministerpräsident sein kleindeutsches Programm des „engeren" deutschen Bundesstaats, mit Österreich nur in einem „weiteren" Bundesverhältnis 111. Sobald man über den Kreis der Theorien und Debatten hinaustrat und mit der Realität der Staatenwelt konfrontiert wurde, war deren politisches Gewicht nicht mehr zu ignorieren. Aber auf den wütenden Protest der Linken erklärte Gagern 112 , daß die „an Österreich durch den deutschen Verfassungsentwurf gestellte Frage" nach wie vor bestehen bleibe, d.h. seiner Regierung auch künftig der Beitritt freistehe. Damit war die Nationalversammlung - für
die „nöthige Einheit der Nation" nicht durch das Verlangen nach „Zustimmung aller Bundesländer" und „aller einzelnen Ständeversammlungen" gefährden wollte; Roth/ Merck (Fn. 1), Bd. I, S. 189 f. - Später war davon nichts mehr zu vernehmen. 109 Eine gewaltsame Beseitigung der Nationalversammlung während der Verfassungsberatungen wäre in der Öffentlichkeit damals zweifellos als Staatsstreich gewertet worden. 110
SB IV 2717 ff., 2725 f. - Schon damals hatte sich Gagern gegen die Zerschlagung der österreichischen Gesamtmonarchie gewandt, die das deutsche Verfassungswerk bedrohe; SB IV 2896 ff. 111 112
Regierungserklärung vom 18.12.48, SB V I 4233.
Am 5.1.49, SB V I 4553. - Sein Programm wurde von der Mehrheit am 13.1.49 bestätigt, SB V I 4666/68.
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Österreich - unversehens auf den Vereinbarungsboden geglitten 113 und verzichtete insoweit auf die konstituierende Gewalt. Der unitarisch-demokratische Weg der Konstituierung wurde hier aufgegeben zugunsten der föderalistisch-partikularstaatlichen Vereinbarung durch Staaten vertrag. So standen das Prinzip der Vereinbarung und der Konstituierung nun unkoordiniert nebeneinander. Das löste heftige Diskussionen aus, weil man Rückwirkungen auf die Stellung der anderen Bundesstaaten befürchtete, wie die Kritik der Großdeutschen an Gagems Programm geltend machte114. Indessen versandeten die Österreich-Verhandlungen kümmerlich. - In der zweiten Lesung ließ die Nationalversammlung, nun unter dem Einfluß der Linken, jene Konzessionen an das Vereinbarungsprinzip wieder fallen und erließ die Verfassung gegen den Widerstand des Verfassungsausschusses de iure auch für die deutsch-österreichischen Provinzen 115 . 6. Ihrem Rechtscharakter nach setzte eben jede Verfassungsvereinbarung den dauerhaften Willen zur Durchsetzung übereinstimmender Ziele auf dem Boden der Gleichordnung und Freiwilligkeit der Vereinbarenden voraus. Wenn diese Übereinstimmung der Ziele vorhanden war, wenn Gleichordnung und Freiheit der Paziszenten gewahrt wurden und wenn sich der Vereinbarungswille umfassend und auf Dauer verwirklichte, konnte es in der Tat zum verfassungsrechtlichen Ausgleich der Antinomien kommen. Das galt für eine föderative Vereinbarung zwischen verschiedenen Staaten (bzw. deren Regierungen) ebenso wie für eine konstitutionelle Vereinbarung zwischen monarchischer Regierung und Volksvertretung 1 1 6 : Die Frage der Souveränität war in diesem Falle nicht „unge113 Im Reichsministerium war man sich über die Konsequenzen nicht klar; noch seine Note vom 22.1.49 betonte die Freiheit der Entscheidung Österreichs über den „Eintritt", SB V I I 5459, lehnte aber gleichzeitig das Vereinbarungsprinzip weitschweifig ab und wies die kaiserliche Regierung in Wien darauf hin, daß die inzwischen erlassenen deutschen Grundrechte auch für Österreich Gesetzeskraft erlangt hätten, was doch die konstituierte Staatsgründung unter Einschluß Österreichs bzw. seinen „Beitritt" zur Voraussetzung hatte. 1,4
SB V I 4540/42, 4572, 4586, 4600, 4633, 4658.
115
SB VIII 5947, dagegen der Vorschlag des Verfassungsausschusses, SB VIII 5915/
5918. 116
Die Frage ist in der modernen Verfassungslehre bekanntlich umstritten. Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 61 ff., 366 ff., 371 ff., 376, der freilich nur den („echten") Verfassungsvertrag zwischen mehreren politischen Einheiten - etwa zum Zusammenschluß mehrerer Staaten - , nicht aber den („unechten") Verfassungsvertrag innerhalb einer politischen Einheit - etwa zwischen Monarch und Volksvertretung - als Verfassungsvertrag gelten läßt: weil nur dies seiner dezisionistischen Auffassung von Wesen der Verfassung als Entscheidung, von der Souveränität, vom Ausnahmezustand, von der Ablehnung „dilatorischer Formelkompromisse" zur Konfliktsbewältigung entspricht (S. 9 ff., 21 ff., 53). - Diese Vorgaben führen jedoch zu einer verengten Begriffsbestimmung der Verfassungsvereinbarung. Sie widersprechen in ihrem theoretischen Ansatz und in ihren praktischen Konsequenzen den Kräfteverhältnissen und den Ausgleichsbedürfnissen des Verfassungslebens um die Mitte des 19. Jahrhunderts und sie wurden von der weit überwiegenden Auffassung der Zeitgenossen abgelehnt. Sie können deshalb nicht als Grundlage und Maßstab einer vorurteilsfreien verfassungsgeschichtlichen Darstellung dienen. - Zur Verfassungsvereinbarung und zum Bundesvertrag vgl.
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löst", sondern durch die Verbindung der Partner in einer spezifischen („konstitutionellen" bzw. föderalistischen) Ausgleichsordnung offen gelassen und in der austarierten Balance so geregelt, daß ein existenteller Konflikt dadurch ausgeschlossen wurde. Die Verfassunggebende Gewalt lag dann bei beiden Vereinbarenden gemeinsam, war also geteilt, aber untrennbar verbunden. Im Bewußtsein der Zeitgenossen erschien es um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus nicht ausgeschlossen, das monarchische und das demokratische sowie das nationale und das partikularstaatliche Element trotz ihrer unterschiedlichen Legitimität zu einer Verfassungsordnung der gegenseitigen Anerkennung in Freiheit und Gleichwertigkeit zu integrieren. Das Volk war damals noch überwiegend monarchisch gesinnt und die Herrscher waren - da die Throne bebten - zum Teilverzicht auf die fürstliche Macht bereit; auch wollte die nationale Bewegung die Einzelstaaten nicht zerschlagen, sondern die deutsche Einheit auf ihnen und mit ihnen aufbauen. In den deutschen Ländern hat sich das konstitutionelle System nach 1848 bis 1918 so im ganzen reibungslos eingespielt und das Reich nach 1871 hat stärkere bündische Momente behalten, als die unitarische Staatsrechtslehre gelten lassen wollte. Zu einer solchen echten, gleichgewichtigen Vereinbarung - auf der Basis voller Gleichstellung und Freiheit, gegenseitiger Anerkennung und Kooperationsbereitschaft - aber waren im Revolutionsjahr weder die monarchischen Regierungen, noch die Nationalversammlung bereit. 7. Schon der Terminus „ Vereinbarung" schillerte, weil beiden Seiten ihn auf der Grundlage ihrer dezidierten Rechtsvorstellungen in unterschiedlichem Sinn definierten und handhabten. Die Regierungen haben zwar anfänglich durch den Bundesbeschluß vom 30. 3. 48 die Mitwirkung der Nation als eigenständigen Verfassungsfaktor anerkannt und sich dazu über das Landesverfassungsrecht hinweggesetzt117. In den späteren Noten aber haben sie die Eigenständigkeit der Nationalversammlung in mehrfacher Hinsicht bestritten: Sie sahen den Rechtsgrund des deutschen Parlaments nun ausschließlich in den Akten der Regierungen. Sie beruhte für sie nicht in dem Volkswillen, durch den sich die Nation selbständig konstituierte, sondern auf den Bundesbeschlüssen und auf den Wahlordnungen der Länder. Das Vereinbarungsprinzip gelte, weil es die Regierungen verordneten, der Zusammentritt der Nationalversammlung sei nur auf dieser Grundlage rechtens 118. auch Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. I, 318 ff., S. 658 ff., 666 ff. - Zum Wesen der Verfassunggebenden Gewalt als Entscheidung und als auf Integration angelegte Grundnorm vgl. ferner H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 238 ff., 242 ff., 276 ff.; E.-W. Böckenförde, Die Verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90 ff.; ders. Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S.273 ff., 282; M. Heckel Legitimation (Fn. 36), Rn. 46 ff. 117 118
Roth/Merck (Fn. 1), S. 188 ff., 190.
Vgl. die Noten Österreichs vom 4.2.49, SB V I I 5149; Hannovers vom 10. und 13.2.49, SB V I I 5517; V I I I 5629; Bayerns vom 23.4.49, SB V I I I 6329; das Österreich!-
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Die Regierungen beanspruchten deshalb die Entscheidung über die Kompetenz der Volksvertretung und die Wahrung ihrer Grenzen. Sie wiesen deren „Übergriffe" in den Bereich der Exekutive zurück 119 . Sie vindizierten für sich die verbindliche Auslegung der Erklärungen der Gegenseite, die maßgebliche Feststellung des durch die Vereinbarungsverhandlungen entstandenen Rechtsverhältnisses, die Entscheidung über dessen Störungen durch die gegnerischen Pflichtverletzungen und über die daraus resultierende Unmöglichkeit der Verständigung, konsequenterweise auch die abschließende Prüfung, ob das Ergebnis die Aufgabe der deutschen Einheit, Freiheit, Bundesstaatlichkeit erfülle 120 . Nach dieser Deutung der Verfassungslage beriefen sie ihre Abgeordneten zurück, erklärten die weitere Permanenz der Versammlung für illegal und sahen damit den legalen Zustand vor Ausbruch der Revolution wiederhergestellt 121. Die Nationalversammlung hingegen bestand auf ihrer Prärogative in der Verfassunggebung. Aber das sollte nach dem Willen der Mehrheit den Weg zu einer „Vereinbarung" bzw. „Verständigung" nicht verbauen - freilich nur durch Disposition und zur Disposition der Nationalversammlung 122: So beanspruchte sie ihrerseits die Entscheidung über die Voraussetzungen und Inhalte, Störungen und Störungsfolgen der Verständigungsverhandlungen, ja auch über die Existenz des anderen Paziszenten - erwog sie doch die Zerschlagung Österreichs, die Auflösung Preußens und die Mediatisierung der Kleinstaaten und hob den Bundestag kurzerhand auf. Sie entschied, wann und wieweit die Verständigung zu suchen sei, befand über die Auslegung der Regierungserklärungen, definierte maßgeblich, was „wesentlich" und „unwesentlich" in ihnen war, entschied über den Umfang ihrer Berücksichtigung, ließ „unwesentliche Abweichungen" nicht als Grund zum „Rücktritt" der Regierungen von ihrer angeblich „zum Voraus erklärten Zustimmung" gelten, die diese bestritten und nur als Vorverhandlungen geführt wissen wollten 123 .
Der Begriff der „Vereinbarung" bzw. der „Verständigung" wurde so in den Strudel des Dissenses über die Verfassunggebende Gewalt gezogen, da eine sehe Reskript vom 5.4.49, SBVIII 6211; die Preuß. VO vom 14.5.49, SB IX 6617, sowie die weiteren oben (Fn. 82-93) zitierten Dokumente. - Auch in der Paulskirche ist dies seitens einer kleinen Gruppe konservativer Außenseiter vom Standpunkt des „historischen Rechtsbodens" aus vertreten worden, welche die Revolution nur als „Faktum" verstand und die Wahlgesetze der Länder als verbindliche Rechtsgrundlage der Nationalversammlung ansah; statt anderer: Vincke, SB I 136 f., 439 ff.; V 3277, 3442; GombarU SB V I 4305. 119 Z.B. Preuß. VO vom 14.5.49, SB IX 6617, gegen die Anordnung von Wahlen durch Beschluß der Nationalversammlung vom 4.5.49, SB IX 6396. 120 Z.B. die Preußischen Noten vom 28.4.49 und die VO vom 14.5.49, SB IX 6387 ff., 6617; Bayerische Erklärung vom 23.4.49, SB VIII 6328; Österreichisches Reskript vom 15.4.49, SB VIII 6211. 121 Die Nationalversammlung erklärte die Abberufung für unverbindlich, da das Mandat des deutschen Volkes nicht von einer Staatsregierung aufgehoben werden könne; SB IX 6600, 6603. 122
Aus der Fülle der Äußerungen vgl. Welcker, SB VIII 6256; IX 6404; Gagern, SB VIII 5879, in der Interpretation der Kollektivnote vom 23.2.49, SB V I I 5444. 123
5453.
So z.B. die ausdrückliche Sächsische Erklärung in der Note vom 23.2.49, SB V I I
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Einigung über die Grundlagen der Vereinbarung i m Jahre 1848/49 nicht zustande kam - ging es doch dabei letztlich u m den Sinn der Revolution und u m ihre Konsequenzen für den Aufbau des Staates und den Neubau der Verfassung.
IV. Die gescheiterte Verfassunggebung durch die konstituierende Gewalt der Nationalversammlung 1. Die Vorgeschichte der Paulskirche zeigt ein schwankendes und unklares Bild. So hatte sich die „Heidelberger Versammlung" vom 5. März 1848 noch zögernd von einer Festlegung ferngehalten und die Einberufung des „Vorparlaments" „dem Vaterland und den Regierungen" nur „zur Mitwirkung" vorgeschlagen 124. - Im Vorparlament aber drang die Linke ungestüm auf ein Bekenntnis zur Volkssouveränität und zur konstituierenden Gewalt der Nationalrepräsentation ohne Mitwirkung der Fürsten, um so die Monarchie zu beseitigen. Durch den Widerstand der konstitutionellen Monarchisten kam es zum Kompromiß, daß „die Beschlußnahme über die künftige Verfassung Deutschlands einzig und allein dieser vom Volk zu erwählenden konstituierenden Versammlung zu überlassen sei" 125 . Das „einzig und allein " hat dissimulierend den Dissens verdeckt: Die Linke glaubte damit schon die Volkssouveränität proklamiert 126 , die Liberalen aus dem Zentrum jedoch sahen dadurch der Nationalversammlung die Entscheidung anheimgestellt 127 , ob sie dermaleinst „konstituieren" oder „vereinbaren" wolle. - Der Beschluß wirkte an sich überflüssig und widersprüchlich, da die Nationalversammlung keiner solchen Ermächtigung bedurfte und andererseits durch kein Gebot einer inkompetenten gesellschaftlichen Gruppe zu binden war, wenn sie wirklich die allein konstituierende Gewalt besitzen sollte. Aber der Beschluß hatte Protestbedeutung gegen die Bundesbeschlüsse und Wahlgesetze der Regierungen, welche die Nationalversammlung auf das Vereinbarungsprinzips festnageln sollten. Die Nationalversammlung selbst hat sich in drei Phasen mit der Frage der Konstituierenden Gewalt befaßt: Die erste umfaßte die vorbereitenden Schritte, die zweite die Ausarbeitung und Verkündung, die dritte die Durchsetzung des Verfassungswerkes. 2. Z u m Auftakt der Beratungen hat der Präsident Heinrich von Gagern programmatisch die „Souveränität der Nation " proklamiert und der Paulskirche „den Charakter einer konstituierenden Versammlung vindiziert" 1 2 8 : „Deutschland 124
Roth/Merck (Fn. 1), S. 102 ff., 122; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 326 ff.
125
Beschlüsse ders Vorparlaments vom 31.3. und 1.4.48, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. I, S, 194; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 334. — A. Frahm, Paulskirche und Volkssouveränität, HZ 130 (1924), 219, 226 ff. 126
Vgl. etwa Schaffrath,
127
Statt anderer: Welcker,
128
Blum, L Simon, Trützschler,
SB I 133, 402, 406, 414.
SB I 140.
SB I 17. - Von Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 621 dürfte die Proklamation zu dezidiert und zu uniform im Sinn der demokratischen Volkssouveräni-
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w i l l eins sein, ein Reich, regiert v o m W i l l e n des Volkes, unter der M i t w i r k u n g aller seiner Gliederungen; diese M i t w i r k u n g auch der Staaten-Regierungen zu erwirken, liegt mit in dem Beruf dieser Versammlung." Diese Worte waren keineswegs so eindeutig, wie sie nachträglich klingen. Gagern war Monarchist und als entschiedener Gegner der demokratisch-republikanischen Volkssouveränitätslehren bekannt; er hatte sich öffentlich mit Nachdruck für die Erhaltung der Einzelstaaten und der Dynastien eingesetzt. Um die divergierenden Richtungen unter einem gemäßigt konstitutionellen Nationalbegriff zu einigen, hob er machtvoll das Eigenrecht der Nation hervor, die sich in der Nationalversammlung ihrer Einheit und Freiheit bewußt werden sollte: Sie war kein Fürstengeschöpf! Aber eine konkrete Aussage über den Weg der Verfassunggebung war in der Proklamation nicht enthalten. Nicht die Ausschaltung, sondern die „Mitwirkung der Staaten-Regierungen" war der Versammlung zur Pflicht gemacht. Die Mitwirkung des Volks „in allen seinen Gliederungen" deutete sogar auf die Beteiligung der Landtage und damit auch der Einzelstaaten hin. Und der Begriff der „konstituierenden Versammlung" war so vielsagend wie vieldeutig; er wurde auch in den Bundesbeschlüssen vom 30. März und 7. April 1848 im Sinne des Vereinbarungsprinzips verwendet 129 , um eine vereinbarende von einer nur beratenden Verfassungsversammlung und von einer gewöhnlichen gesetzgebenden Versammlung abzugrenzen. In der Folgezeit hat die Frankfurter Nationalversammlung immer stärker die konstituierende Gewalt für sich allein beansprucht, jedoch anfangs in hohem Maße improvisiert und später nicht ohne beträchtliche Konzessionen. Der Zwang, zur Verfassunggebung in den Einzelstaaten Stellung zu beziehen, hat sie alsbald unversehens mit dem Problem der Verfassunggebenden Gewalt konfrontiert. Der Zusammentritt und dann der Kurs der Berliner Nationalversammlung rief die Furcht vor einem preußischen fait accompli hervor und w a r f die Frage nach dem Vorrang auf, d.h. „ o b Preußen deutsch oder ob Deutschland preußisch werden s o l l " 1 3 0 . Die Linke wollte „die einzig und allein konstituierende" Gewalt der Nationalversammlung zum Beschluß erheben 1 3 1 , aber die Mehrtätslehre ausgedeutet sein, die damals am Anfang der Beratungen noch keineswegs der Überzeugung der Mehrheit der Versammlung entsprach. Über die unterschiedliche Verständnis des „Volks" und seiner „Souveränität" vgl. unten Teil IV, 6 . - 9 . 129
In den Regierungserklärungen und in der konservativen Staatslehre ist dieser Sinn der „konstituierenden" Versammlung aufrechterhalten worden. Vgl. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der deutschen Nationalversammlung und nach den Entwürfen der drei königlichen Regierungen, Berlin 1849, S. 97; ders., Reden (aus den Verhandlungen der Preußischen Ersten Kammer), Berlin 1850, S. 4. 130 131
Venedey, SB I 37.
Vgl. dazu den Antrag Raveaux, SB I 28 ff. (zurückgenommen SB I 127): „... daß, solange die Sitzungen unserer Versammlung dauern, von keinem andern Staate eine gesetzgebende Versammlung zusammenberufen werden möge"; Antrag Venedey, SB I 40: „Der Verfassunggebende Reichstag zu Frankfurt erklärt: Jede Verfassung eines deutschen Landes, die, bevor die Reichsverfassung Deutschlands durch den Reichstag in Frankfurt vollendet ist, berathen und erlassen werden sollte, für null und nichtig." -
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heit suchte dem Problem als einer doktrinären und müßigen „Prinzipienfrage" auszuweichen132 - die Akademikerversamlung wollte realistisch oder „staatsmännisch" handeln, wie das Lieblingswort in der Debatte hieß. Da die Linke keine Niederlage riskierte, einigte man sich auf den Antrag Werner: „Die Nationalversammlung erklärte vorweg die Einzelstaatsverfassungen nur nach Maßgabe des von ihr zu gründenden Verfassungswerks für gültig." 133 Die konstituierende Gewalt der Nationalversammlung war damit weder generell beschlossen noch auch abgelehnt, denn es war offen gelassen, ob später die Reichsverfassung insgesamt von der Nationalversammlung allein erlassen oder mit den Regierungen vereinbart werden solle, wie dies das rechte Zentrum verlangte. Aber partiell - für die Sonderfrage des Vorrangs vor den Einzelstaaten - übte die Nationalversammlung damit doch schon jetzt die Verfassunggebende Gewalt aus, und zwar allein, nicht durch Vereinbarung, sondern durch einseitigen Beschluß, ohne die Regierungen auch nur zu hören. Das enthielt eine entscheidende capitis deminutio der Souveränität der Länder, griff tief in ihren Verfassunggebungsprozeß ein, beschnitt aber auch den Spielraum ihrer Regierungen bei den künftigen Verhandlungen über die Reichsverfassung, weil damit alle Einwände der Einzelstaaten aus ihrem widersprechenden Landesverfassungsrecht ausgeräumt sein sollten 134 .
Beim nächsten Schritt der Vorbereitungsphase, der Schaffung der provisorischen Zentralgewalt, kam die Versammlung wieder ohne Plan und Einigkeit zur Inanspruchnahme der Verfassunggebenden Gewalt. Den nötigen Schutz durch Exekutivkräfte wollte man nicht dem als reaktionär kompromittierten Bundestag überlassen. Aber die Rechte wollte damit die Regierungen betrauen 135, die Linke einen parlamentarischen Vollzugsausschuß dafür einsetzen136, die maßgeblichen Mittelparteien die Ernennung der Exekutivorgane den Regierungen mit Zustimmung der Nationalversammlung übertragen 137. Wieder wurde in den Debatten 138 die Verfassunggebende Gewalt der Volksvertretung von den Linken ungestüm propagiert, von den Rechten bestritten, von den Zentren ausweichend behandelt, bis Gagerns „kühner Griff 4 1 3 9 scheinbar den Ausgleich brachte: Die Nationalversammlung schuf sich zwar die Zentralgewalt ohne Mitwirkung der Dazu das „einzig und allein" im Antrag Schaffrath, nahme, ebd. 153. - Die Debatte: SB I 35 ff., 47 ff.
SB I 125, 133, und seine Rück-
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Heckscher, SB I 130; Vincke, SB I 136; Welcker,
133
SB I 125, 155.
SB I 140 und viele andere.
134
In diesem Sinn ist der Beschluß auch in den späteren Auseinandersetzungen immer wieder als programmatische Aussage herangezogen worden, z.B. SB V I 4308. 135
SB I 356; v. Radowitz, SB I 376, 479; v. Vincke, SB I 444; ferner SB I 576, 622,
642. 136
SB I 359.
137
Dahlmanns Bericht, SB I 356 ff.
138
SB I 356 bis 526 bzw. 576.
139
SB I 521.
Das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt 1848/49
49
Regierungen und wählte den Reichsverweser selbst, aber sie wählte sich einen Fürsten, um die Regierungen zu versöhnen 140. Mit der Wahl des Erzherzogs fing sie sich freilich in der Schlinge der großdeutsch-kleindeutschen Aporie. 3. In der folgenden Phase der Ausarbeitung der Verfassung hielt die Paulskirche den Anspruch auf die konstituierende Gewalt fest: Auf dieser Grundlage setzte sie die Anerkennung der Zentralgewalt durch die Einzelstaaten durch 141 , erließ ergänzend zur Verfassunggebung auch einfache Gesetze142 und schritt zu Interventionen in Österreich und Preußen. Sie beschloß vor Weihnachten die Grundrechte als Gesetz und schmetterte den Antrag der Konservativen, sie den Regierungen „zur Annahme" vorzulegen, mit großer Mehrheit ab 143 . In den Österreichverhandlungen vom Januar 1849 lehnte sie das Vereinbarungsprinzip schließlich scharf ab 144 . Und nach der ersten Lesung der Hauptabschnitte forderte sie die Regierungen am 28. Januar 1849 zur Äußerung von „gegründeten Bedenken" auf 145 , die nur als Anregungen, nicht als Vereinbarungserklärung gelten sollten. Die Vorlage zur zweiten Lesung wies das Vereinbarungsprinzip, auf dem die Einzelstaaten in breiter Front bestanden146, nun prinzipiell in kategorischer Form zurück 147 . - So wurde die zweite Lesung durchgepeitscht 148 und die Verfassung sofort mit großer Mehrheit als rechtswirksam verkündet und der König von Preußen zum Kaiser gewählt 149 . Die konstituierende Gewalt hatte offen und überlegen gesiegt - mit einem Pyrrhussieg, wie sich rasch erwies. Viele Enthaltungen fand jedoch die Kaiserwahl, weil sie das Mandat zur Verfassunggebung überschreite; alle Gegner der Monarchie, Preußens und des Unitarismus, also die 140
SB I 576/581, 602/621 f. - Die Wahl des Reichsverwesers: SB I 626 ff./638.
141
SB II 879 ff., 896; III 1624.
142
SB III 2249/55, Gesetz betr. die Bekanntmachung der Reichsgesetze und der Verfugungen der Provisorischen Zentralgewalt vom 23.9.48, Roth/Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 42; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 349. 143
SB V I 4309/13.
144
SB V I 4553; V I I 5460. Gagern fand dafür breiten Rückhalt in der Versammlung, SB V I 4539 ff., 4561 ff. 145
SB V I I 5436.
146
Statt anderer vgl. die Preußische Note vom 16.2.49, SB V I I 5442. Vgl. oben Fn. 83-87. 147
SB V I I I 5740.
148
SB V I I I 5947 ff. bis 6069, Abstimmung über die Verkündung und Kaiserwahl, SB V I I I 6076/83. Das Vereinbarungsprinzip hatte damals nur noch wenige Anhänger. Sie suchten es vergeblich zu retten durch den Antrag v. Selcho, v. Radowitz u.a., SB V I I I 6078/83, auf Zustimmung der Regierungen, und gaben ihren Vorbehalt gegen die Verkündung und Wahl zur Niederschrift, SB V I I I 6094. 149
SB V I I I 6076/6084/6093: 290 Ja-Stimmen für Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gegen 248 Enthaltungen. 4 FS Oppcrmann
Martin Heckel
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Österreicher, die Linke und die Anhänger der partikularistischen und mittelstaatlichen Direktoriumslösung fanden sich hier zusammen, aber unterlagen. 4. Die Durchsetzung jedoch endete im Desaster: Auf der Grundlage der gültig beschlossenen Verfassung und der rechtswirksam vollzogenen Wahl hat die Deputation der Nationalversammlung Friedrich Wilhelm IV. von Preußen am 3. April 1849 die Kaiserkrone angeboten. - Der König hat die Krone weder angenommen noch abgelehnt. Er betrachtete die Wahlhandlung keineswegs als ungültig, sondern erklärte huldvoll, in der Nationalversammlung die Stimme der Vertreter des Volkes zu erkennen, deren Ruf ihm „ein Anrecht" gebe, das er zu schätzen wisse. Aber er sah darin ein bloßes Angebot; die Annahme der Kaiserwürde hielt er nicht für spruchreif, weil er - auf dem Boden des Vereinbarungsprinzips — das „freie Einverständnis der gekrönten Häupter Deutschlands" für die Gültigkeit der Verfassung und deshalb auch für die Annahme der Wahl verlangte 150. - Seine Erklärung war weder widerspruchsvoll noch zweideutig; sie enthielt keine Absage, wie sie die Linke verstand, und keine Zusage, wie die Erbkaiserlichen meinten. Gerade weil der König den Beschluß der Nationalversammlung ausschließlich vom Vereinbarungsgedanken aus qualifizierte, konnte er ihn („verfassungskonform" in unserer Terminologie) als gültig interpretieren: Der Anspruch der Nationalversammlung auf die konstituierenden Gewalt und die Gültigkeit der beschlossenen Verfassung war damit so vollständig ignoriert, daß der Wahlakt nicht einmal als Kompetenzüberschreitung zurückgewiesen, geschweige denn für ungültig erklärt zu werden brauchte. Der Dissens über die Verfassunggebende Gewalt war damit entlarvt. Die bestürzte Deputation widersprach: Die Übertragung der Kaiserwürde setze die Gültigkeit der Verfassung voraus; die Annahme der Krone müsse die Anerkennung der Verfassung in sich schließen; deren Nichtanerkennung sei daher als Ablehnung der Krone anzusehen. - Die Linke 151 erklärte konsequent diese „Nichtanerkennung der Volkssouveränität" als Verfassungsverletzung und beantragte, weitere Verhandlungen mit „ungehorsamen Fürsten" zu verbieten und die Volkserhebung zu organisieren. Die Zentren aber versuchten wiederum zu vermitteln und einzulenken. Sie meinten, die Deputation sei zu weit vorgeprellt, und wollten durch Aussparung der Differenzpunkte doch noch einen Ausweg finden 152: Zwar setze die An150 Der Bericht der Deputation und die Erklärung des Königs: SB VIII 6126. Auch in: Roth /Merck (Fn. 1), Bd. II, S. 456, 461 f.; Huber, Dokumente (Fn. 1), S. 404 f. - Zu Vorgeschichte und Hintergründen vgl. ders., Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 842 ff. - Nach den Erfolgen der Linken in der Schlußphase der Beratungen erscheint das Zögern des Königs vor der Annahme der Krone und sein Beharren auf dem Vereinbarungsprinzip nicht inkonsequent, um durch Verhandlungen gewisse Veränderungen des Verfassungstextes im monarchischen Sinn zu erzielen. 151
Anträge von Schütz, Schlöffeh
152
Beschluß vom 28.3.49, SB VIII 6076.
L. Simon, Vogt, SB VIII 6131 f., 6234; IX 6397.
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nähme der Kaiserkrone in der Tat die Anerkennung der Verfassung voraus. Aber die Verfassung könne auch auf dem vom K ö n i g gewiesenen Wege durch das Einverständnis der Regierungen noch zur „vollen Anerkennung" gelangen 153 . Denn die Nationalversammlung habe nur die Anerkennung ihrer Verfassung, nicht auch die Anerkennung ihrer Verfassunggebenden Gewalt verlangt. Man trennte also die Verfassung als äußeres juristisches Regelwerk von ihrem zugrundeliegenden Ursprung, Sinn- und Begründungszusammenhang. Der Dissens über die Verfassunggebende Gewalt sollte damit auch in die Zeit nach dem Wirksamwerden der Verfassung hinübergeschleppt werden. Das hätte die Verfassung hinfort nicht einer gemeinsamen, sondern einer alternativen, in sich widersprüchlichen Begründung und Legitimierung unterworfen. Wäre sie so ins Leben getreten, so hätte der ungelöste Widerstreit zwischen Monarchie und Demokratie, zwischen Unitarismus und Partikularismus, zwischen Föderalismus und Parlamentarismus erhebliche Belastungen für ihren Vollzug im Verfassungsleben mit sich gebracht. In dieser Einräumung der abweichenden Interpretation lag doch so etwas wie eine gleichberechtigte Anerkennung der Regierungen - zwar nicht als Gleichheit in der rechtlichen Übereinkunft, aber als Gleichheit im Recht zum Dissens. Der Gegensatz zwischen Vereinbarung und Konstituierung wurde dadurch verwirrt, nicht überwunden: Die klare Entscheidung dieser Alternative wurde vertagt und in ein offenes Ringen antagonistischer Interpretationen verlagert. Äußerlich behielt man den Anspruch auf konstituierende Gewalt bei 154 , höhlte ihn aber innerlich aus, indem man auch seine Leugnung zur Begründung der Verfassung verwenden wollte. Als die Regierungen sich dennoch verweigerten, besann sich die zusammenschmelzende Versammlung wieder energischer auf ihren konstituierenden Beruf. Sie forderte in befehlendem Ton von den Regierungen, den Landtagen, den Gemeinden und dem Volk die Durchführung der Verfassung, schrieb selbst die Wahlen aus und schob den Reichsverweser mitsamt der provisorischen Zentralgewalt beiseite 1 5 5 . Unter dem nun dominanten Einfluß der Linken vollzog sie 153 KierulffdXs Berichterstatter des Dreißiger-Ausschusses vom 23.4.49; ihm folgend der Beschluß vom 26.4.49, SB VIII 6231 ff., 6325 ff. 154 155
So der Bericht SB VIII 6232; Kierulff
SB VIII 6246; Plathner, SB V I I I 6273.
Durch Beschluß vom 4.5.49, SB IX 6396/6435; Huber, Dokumente (Fn.l), S. 418. - Der Anspruch auf die Verfassunggebende Gewalt, den beide Seiten erhoben und bisher dissimulierend verschleiert hatten, entlud sich nun im offenen Konflikt. — Freilich erscheint es - jedenfalls in der rückschauenden Bewertung - nicht „müßig", darüber zu streiten, „ob das Vereinbarungsprinzip oder das Alleinentscheidungsrecht des Nationalparlaments zu gelten habe", da aus der „reinen Rechtsfrage" nun eine „Machtfrage geworden" sei. So Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 851, und Stern, Staatsrecht (Fn. 3), S. 261. - Es war schon vorher eine Rechtsfrage und Machtfrage zugleich gewesen, und es ließ sich auch schon vorher nicht feststellen, ob das eine „oder" das andere Prinzip de iure „galt". Beide Seiten hatten ihren Rechtsanspruch erhoben, aber nicht durchsetzen können, und beide sind in ihren Verfassungsprogrammen - rechtlich und faktisch - nicht zum Erfolg gelangt. Die Rechtslage war eben infolge der Revolution gespalten, die Einheit des Rechts zerbrochen und durch den einseitigen Erlaß der Verfassung nicht wiederhergestellt: Anspruch stand hier gegen Anspruch. Das war *
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den Bruch mit den Regierungen, nahm offiziell die Revolution in Sachsen in ihren Schutz, verurteilte Preußen wegen seines „unbefugten Einschreitens" dort des „schweren Bruchs der Reichsverfassung" 156. Am 19.5.49 beschloß sie die Einsetzung einer Reichsstatthalterschaft mit den Rechten des Reichsoberhauptes, beseitigte die provisorische Zentralgewalt und trat selbst vorläufig in die Rolle des Reichstags nach der Verfassung ein 157 , weil sie die Vereitelung der Wahlen durch die Regierungen erwartete. Mit dieser „revolutionären Permanenz" des Parlaments war die letzte Verbindung mit den ursprünglichen Bundesbeschlüssen vom Frühjahr 1848 gefallen. Das Schicksal der Nationalversammlung war damit besiegelt. Die Spannungen und Schwankungen der Nationalversammlung in der Frage der konstituierenden Gewalt erklären sich teilweise aus den wechselnden politischen Umständen, vor allem aber aus tiefen Gegensätzen in der Art ihrer Begründung: 5. Die „Souveränität"
„der Nation " und ihrer Rolle in der Verfassunggebung
— das zeigte sich in den Debatten und Beschlüssen bis zum bitteren Ende — wurde von den maßgeblichen Parteirichtungen höchst unterschiedlich bestimmt. Sie konnte einerseits den Vorrang des Volkes vor den Fürsten bedeuten und war dann demokratisch akzentuiert. Sie wurde andererseits als Vorrang der deutschen Nation und ihres Nationalstaats vor den partikularen Größen verstanden 158 und war dann unitarisch gemeint. Als Vertretung der geeinten deutschen Nation war die Paulskirche nicht nur der Gegenpol zur dynastisch-monarchischen Legitimitätsidee des monarchischen Prinzips, sondern auch zum Partikularismus auf der Volksseite. Beide Momente waren natürlich eng verwoben und wurden auch oft taktisch vertauscht. Aber je nachdem, was überwog, hatte die Behauptung der Volkssouveränität eine verschiedene Bedeutung und Tendenz.
Vor allem aber war der Begriff
des Volkes vieldeutig und umstritten. Empi-
risch umfaßte das Volk ja alle zerstrittenen Richtungen von den revolutionären Anarchisten bis zu den konservativen Monarchisten, enthielt den Pöbel wie die Aristokratie; und die Revolution, die „das Volk" in Gärung brachte, war einerseits als liberale Verfassungsbewegung des Bürgertums für politische Freiheit und Mitgestaltung, andererseits als soziale Erhebung der städtischen und ländlichen Unterschichten für die gesellschaftliche Umwälzung ausgebrochen. Verfassungsrechtlich relevant aber konnte nur ein übergreifender und normativ vergüschon seit den Bundesbeschlüsssen vom 30.3. und 7.4.48 der Fall, die das Vereinbarungsprinzip ebenso einseitig oktroyiert hatten wie die Nationalversammlung später die Verfassungsgebung einseitig in Anspruch nahm. Der Historiker kann in der Rückschau weder den einen noch den anderen Standpunkt für allgemeinverbindlich erklären, nachdem den Zeitgenossen dies nicht gelang. 156
Beschluß vom 10.5.49, SB IX 6499/6505; Huher, Dokumente (Fn.l), S. 426.
157
Beschluß vom 19.5.49, SB IX 6640-6690 / 92.
158
Statt anderer Beseler, SB VI 4626.
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teter Volksbegriff sein, der die Nation im Aufbruch zur Einheit in Freiheit und in Verantwortung für das gemeine Beste zusammenführte, wie dies allen deutschen Patrioten als das Gebot der Stunde erschien. Aber ihre Vorstellungen darüber gingen weit auseinander und ein gemeinsamer Maßstab fehlte. Die herrschende Richtung in der Paulskirche identifizierte das Volk mit dem Bürgertum, das als Minderheit sich vom Großteil der ländlichen Bevölkerung ebenso abhob wie von der Arbeiterschaft in den Großstädten; nur aus taktischen Gründen hat sie das allgemeine Wahlrecht 159 den Linken konzediert, durch deren Programm sich jedoch die monarchisch treue Bevölkerungsmehrheit in den Städten und im weiten Land ihrerseits nicht repräsentiert finden konnte. So waren alle Richtungen versucht, jeweils ihre Ideen fur absolut zu setzen und die eigene Minderheit mit „dem Volk" insgesamt zu identifizieren: Sie wollten also „das Volk" dadurch „befreien", daß sie es an ihre Identifikationskette von Volk, Klasse, Partei, Parteiführung, Parteiideologie und d.h. deren Chefideologen legten, wie dies seit der Französischen Revolution der Fluch der ideologieträchtigen Epoche werden sollte. Die Nationalversammlung mußte und wollte sich einen gemeinsamen materiellen Begriff des Volkes und Volkswillens erst durch die Verfassung schaffen. Die vorgezogene Beratung und Verkündung der Grundrechte 160 war deshalb nicht eine weltfremde und zeitraubende Abschweifung in den „unpolitischen" rechtsstaatlich-liberalen Teil der Verfassung auf Kosten der vordringlichen Entscheidungen über die politische Form, d.h. über die Alternativen zwischen Monarchie oder Republik, Großdeutsch oder Kleindeutsch, Bundesstaat oder Einheitsstaat, Erbkaisertums-, Präsidial- oder Direktoriumslösung mit all ihren verwickelten Kombinationen. Sie sollte das Volk inhaltlich formieren und damit die Grenze ziehen gegen die patriarchalische Reaktion von rechts wie gegen die 159 160
Vgl. die Debatten SB V I I 5220 ff.
In der Paulskirche wird der Zusammenhang des Grundrechtsteils mit dem organisatorischen Teil der Reichsverfassung oft hervorgehoben und gegen die bloß individualistische Betrachtung ihre Bedeutung für den Gesamtorganismus betont. Z. B. Künßberg,, SB II 1329; Beseler, SB V I 4628. - Dazu Kühne, Reichsverfassung (Fn. 3), S. 159 ff., 173. - Zur Kontroverse über den Zeitverlust durch Vorwegbehandlung des Grundrechtsteils vgl. Huher, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. II, S. 775 und andererseits E. M. Hucko, Von der Paulskirche zum Museum König, 1984, S. 15 ff., 23; Kühne, Reichsverfassung (Fn. 3), S. 45 f.; Stern, Staatsrecht (Fn. 3), S. 251 ff. - Die scharfe Entgegensetzung der Grundrechte (als eines unpolitischen „rechtsstaatlichen Bestandteils") und der politischen Form der Verfassung (in ihrer Entscheidung fur Demokratie bzw. Monarchie) nach der Verfassungslehre Carl Schmitts (S. 125 ff. und 223 ff.) entspricht keineswegs der deutschen Tradition des Verfassungsdenkens, wie es insb. in der Ersten deutschen Nationalversammlung zur Sprache kam. - Über die legitimierende Bedeutung der Grundrechte vgl. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 262 ff. Zum vieldiskutierten Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie vgl. nunmehr eingehend U. Backes, Liberalismus und Demokratie. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, 2000.
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utopische Sozialrevolution von links 161 . Das war der unmittelbar politische Sinn der Grundrechtsgarantien über die freie Rede, Presse, Vereinigung und Versammlung, Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, Ablösung der gutsherrlichen Lasten durch die Neuordnung der Eigentumsverhältnisse. Die Verfassung sollte nicht auf den Umsturz gegründet sein, sondern auf die friedliche, „gesetzliche" Evolution 162 durch die Freiheit der politischen und gesellschaftlichen Enfaltung, aufgrund der parlamentarischen Diskussion und Entscheidung unter Anteilnahme der Öffentlichkeit 163 . 6. Nur die Linke stand mit einiger Konsequenz auf dem Boden der demokratischen Volkssouveränität auf den Spuren Rousseaus und der Französischen Revolution. Die Volkssouveränität sei durch die Revolution zum Siege gelangt und müsse durch sie auch weiterhin getragen werden; deshalb dürfe die Verfassungsbewegung den Anschluß an die Revolution nicht verlieren 164 . Danach definierte die Linke den Sinn der Wahlen zur Paulskirche und den Auftrag ihres Abgeordnetenmandats. Darum kämpfte sie kompromißlos für die Ausschaltung der Fürsten von der Verfassunggebung, gegen ihre Mitwirkung bei der Schaffung der provisorischen Zentralgewalt, gegen die Einführung eines monarchischen Oberhaupts und seines Vetorechts 165 bei der Gesetzgebung und Verfassungsänderung, besonders gegen den Schutz der Monarchie - „wollt ihr Schelme ewig leben?" 166 - , gegen alle dynastischen Vorrechte, für die strikte Gleichheit und gleiche Freiheit im republikanischen Sinn. In diesen Sinne waren für sie die Fürsten schlicht ein Teil des Volkes, in dem sie aufzugehen hätten; sie waren Wähler und konnten gewählt werden 167 , sie wurden durch die Nationalversammlung voll repräsentiert, von ihr in ihren berechtigten Interessen vertreten. Die Staatswillensbildung konnte somit nur auf demokratisch-repräsentativem Weg geschehen: Verhandlungen eines Volkes von 40 Millionen mit 161
Statt anderer Beseler als Berichterstatter des Grundrechtsausschusses, SB I 700; Bassermann, SB I 706: „... Wir wollen die Revolution nicht verlängern, man würde sie aber verlängern, wenn wir die Grundrechte nicht schnell hinausgeben." 162 Das wurde von den Vertretern des rechten und linken Zentrums beständig betont, z.B. Gagern , IX 6411. — Heckers Aufstand in Baden im Frühjahr 1848 wurde deshalb scharf verurteilt; vgl. SB II 1479 ff., 1501, VIII 5586 ff. - Allgemein dazu E.-W. Bökkenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 244 ff. 163 Vgl. die Äußerungen SB I 148, 524; II 1334; IV 2909; V 3452; VI 4551, 4616, 4647; V I I 4118; V I I I 5909, 6323, 6411. 164 Blum, SB I 149 ff., 402; Raveaux, SB I 153; L. Simon, SB I 407 f.; V 3446; Nauwerck, SB V 3457; Vogt, SB V I 4082; Venedey, SB V I 4731; Uhland, SB V I I 4819. 165 Vgl. die Debatten SB V I 4678 ff., 4965 ff.; V I I 5175 ff. Das monarchische Veto ist in der zweiten Lesung zu Fall gebracht worden. 166
Nauwerck, SB V I I 5178 gegen das absolute Veto des Monarchen bei Verfassungsänderungen. 167
Statt anderer Blum, SB I 403; L. Simon, SB I 407.
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34 Individuen, die nur ihre Sonderinteressen verträten, waren ausgeschlossen. Mehr oder minder verbrämt äußerte sich darin die prinzipielle Verneinung aller monarchisch-dynastischen Elemente und Traditionen. Der Glaube an den Fortschritt und die Güte des Volkes empfand den Wunsch nach rechtlichen Sicherungen gegen die Ausartungen des Volkswillens als unerträgliche Blasphemie168. - In diesem Sinne hat die Linke Gagerns Wort von der Nationalsouveränität begrüßt und die konstituierende Gewalt der Versammlung vor, während und nach der Verfassunggebung verstanden und durchsetzen wollen. 7. Die Mittelparteien — besonders die große Erbkaiserpartei des rechten Zentrums, die gemäßigt konservativen Österreicher und die konstitutionellen Gruppen aus den Mittelstaaten - lehnten Volkssouveränität in diesem Sinne mit breiter Übereinstimmung entschieden ab: Sie sei ein „buhlerisches Wort" 169 , „ein leerer Schall" 170 , so übel wie die Fürstensouveränität als deren Vorgängerin 171 ; auch dieser „Souveränitätsschwindel" müsse verhindert werden. Man wollte nicht „die Selbstherrlichkeit eines gekrönten Individuums auf ein beklatschtes übertragen" 172 und machte zugunsten des „wahren", „geläuterten" Volkswillens scharf Front gegen die „Cravallsouveränität" von links 173 . Überhaupt sollte das Souveränitätsproblem aus dem innerstaatlichen Bereich verbannt und auf die Souveränität nach außen beschränkt sein, die Fürst und Volk gemeinsam zustehe174. Angesichts der tiefen Spaltung und Spannung zwischen den monarchischen und den demokratisch Ideen und Tendenzen war freilich der Gedanke, die Fürsten- und die Volkssouveränität in der Staatssouveränität aufgehen zu lassen175, einstweilen nur ein Zukunftswunsch, der in der Gegenwartsaufgabe der Verfassunggebung das Problem der Verfassunggebenden Gewalt verdrängte und verschleierte. - Weil die Funktion des Rechts gerade in der Begrenzung der Macht und im Ausgleich der Gegensätze liege, schließe die Wahl zur Nationalversammlung die Verständigung mit den Fürsten keineswegs aus: Die Wahl enthielt in dieser Sicht keinerlei Mandat des Volkes zur Durchsetzung der demo168
Schüler SB V I I 4967: „Ich bin der festen Überzeugung, ... daß der Wille des gesunden Teils des Volkes sich immer nur dahin richtet, wo die Vernunft, wo die Wahrheit, wo das Recht ist. ... Das Gegentheil zu behaupten, wäre eine wahre Gottelslästerung; denn es wäre eine Lästerung der Volksstimme, und die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes." 169
Welcker,
170
Roemer, SB I 154.
171
Bassermann, SB II 887.
172
Mathy, SB I 519; Bassermann, SB II 887.
SB I 409 ff.
173
Z. B. Welcker, SB I 406, 408. - Die Rechte suchte die Volkssouveränität durch ihre föderalistische Aufspaltung auf 38 souveräne Nationen der Einzelstaaten aus den Angeln zu heben. Vincke, SB I 136. 174
Welcker,
175
Z.B. Dahlmann, SB I 525; Haym, SB V I 4438; Waitz, SB V I I 4974.
SB I 409.
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kratischen Volkssouveränität 176. Die Parole der „Nationalsouveränität" meinte hier eine monarchisch gesinnte und geeinte Nation, die programmatisch den Vorrang der Reichsgewalt vor den partikularen Mächten geltend machte, wenn sie sich mit ihren Fürsten auf dem Boden der dualistischen Verfassungsidee zur deutschen Einheit in Freiheit verband. Man stand in diesen Kreisen, die in der hohen Zeit der Paulskirche deren Kurs bestimmten, auf dem Boden des dualistischen Staates. Die künftige Verfassung sollte auf dem Gleichgewicht und dem freien Zusammenwirken der monarchischen und volksmäßigen Elemente beruhen 177. Auf für den Prozeß der Verfassunggebung leuchtete die dualistische Position immer wieder durch 178 . Daß die Einsetzung eines Erbkaisers das Einverständnis der Majorität auf seiten der Fürsten wie des Volkes benötige 179 , war im rechten Zentrum anerkannt und wurde ihm von seinen Gegnern vorgehalten. So war es konsequent, daß man nach der Verkündung der Verfassung gleichzeitig die Regierungen zur freiwilligen „Anerkennung" der Verfassung 180 und das Volk zu ihrem Vollzug durch Reichstagswahlen veranlassen wollte.
8. Der Vereinbarungsweg hätte an sich diesen Ideen besser entsprochen als die einseitige Verfassunggebung durch das Nationalparlament. Das war auch communis opinio in der Staatslehre des Vormärz, die großen Einfluß auf die Paulskirche besaß. In ihr war nur vereinzelt die konstituierende 181, ganz überwiegend aber die vereinbarte Form der Verfassunggebung propagiert worden; in der Vertragsmäßigkeit der Verfassung sah man das „göttliche oder sittlich vernünftige Gesetz der Freiheit" verwirklicht. Die Vertragsform wurde mit den Wesen der politischen 176
Statt anderer: Roemer, SB I 154; Vincke, SB I 440; Mathy, SB I 518 u.a.-Frahm, Paulskirche und Volkssouveränität (Fn. 125), S. 222, 229 ff.; Kühne, Reichsverfassung (Fn. 3), S. 577; Böckenförde, Verfassungsprobleme (Fn. 162), S. 253. 177 Im Reich sollten sich ein Erbkaiser und ein Reichstag gegenüberstehen und in den Einzelstaaten sollte die Monarchie erhalten bleiben und von Reichs wegen gegen Umsturz und (nach den ursprünglichen Absichten) auch gegen Verfassungsänderungen gesichert sein. Geplant war die Verantwortlichkeit der Minister und die Unverantwortlichkeit der Monarchen, gebunden an die Gegenzeichnung ihrer Akte, die Immunität und Indemnität der Abgeordneten, die Abgrenzung von Exekutive und Legislative durch den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, die Mitwirkung der Parlamente an der Gesetzgebung und an der Feststellung des Staatshaushalts, das Initiativrecht der Regierung und das nachfolgende Veto der Krone bei der Gesetzgebung, das Recht des Monarchen zum Apell an das Volk durch die Parlamentsauflösung u.a.m. 178 Man berief sich häufig auf die Mitwirkung der Regierungen bei den Wahlen und zog die Berechtigung der Nationalversammlung zur Mediatisierung der Staaten in Zweifel, vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses SB V 3818, und bestätigte an sich ein Mitspracherecht der Regierungen bei der Schaffung der Provisorischen Zentralgewalt, Mathy, SB I 518 f.; Gagern, SB I 521 u.a. 179
Gagern, SB V I 4647. Zur Gegenposition: Vogt, SB V I 4628.
180
Beschluß vom 4.5.49, SB IX 6395 ff.; Beseler, SB IX 6408. Auch jetzt hielt man sich nicht für befugt, die Dynastien wegen ihres Widerstandes gegen die Verfassung SB V I I I 6322. zustürzen und „die Revolution in das Volk zu schleudern", Kierulff 181
Rotteck im Staatslexikon, Bd. 3, 2. Aufl. 1846, Art. Charte, S. 174 ff.
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Freiheit und der konstitutionellen Verfassung schlechthin identifiziert 182 ; sie fand auch in den Debatten vielfältig Fürsprache. Noch im Mai 1849, als das Verfassungswerk des Parlaments am Widerstand der Dynastien in Trümmer ging, hat Welcker mit starken Worten für sein politisches Credo geworben. Aber unter dem Vertragsprinzip verstand man etwas ganz anderes als die Regierungen in ihren Noten. Die Paulskirche ging eben — wie hervorgehoben - von der vollzogenen Staatsbildung aus. Für die Vereinbarung zwischen der Nation und den Fürsten gelte deshalb das Mehrheitsprinzip, und zwar nicht nur innerhalb der Nationalversammlung, sondern auch für die Willensbildung auf der Fürstenseite: sei es doch eine ungeheuerliche Perversion, den Nationalwillen unter den Widerspruch eines einzigen - „vielleicht des Fürsten von Liechtenstein" zu beugen und so den Grundprinzipien des Vertrages zuwider Freiheit in Zwang zu verkehren 183 . Die Schwierigkeiten infolge der mangelnden Einigung auf der Regierungsseite waren der entscheidende Grund, weshalb die große konstitutionelle Partei des rechten Zentrums das Vereinbarungsprinzip ablehnte und der Nationalversammlung doch die konstituierende Gewalt zusprach. Für sie war das kein Dogma wie für die Linken, sondern eher eine Anomalie, die in gewissem Gegensatz zu ihrer Staatsanschauung stand. Ihre Position teilte deshalb alle Schwächen einer vorwiegend taktisch begründeten Entscheidung eines über das Taktische weit hinausreichenden fundamentalen Verfassungsproblems. Sie war in hohem Maße situationsgebunden. Darin sah man einen Vorzug, den Beweis der Offenheit und des guten Willens zur „Vermittelung der widerstreitenden Prinzipien des Jahrhunderts", wie noch die Austrittserklärung der Erbkaiserlichen resignierend resümierte 184. Aber in dieser Situationsgebundenheit hat man sich dem Wechselspiel der politischen Kräfte stärker ausgeliefert, als es sich mit einem festen Kurs und manchmal auch mit der Würde der Nationalrepräsentation vertrug. Das ließ die gemäßigte Mitte von rechts wie von links als schwankend, widerspruchsvoll und unzuverlässig erscheinen 185. Von seinem dualistischen Standpunkt aus hatte des rechte Zentrum den Boden der ausschließlich konstituierenden Gewalt nur zögernd und mit der Befürchtung betreten, daß der Erklärung der „NationalSouveränität" zuviel an prinzipiellem Gewicht beigemessen und von der Linken radikale und kontraproduktive Folgerungen daraus gezogen 182 Welcker im Staatslexikon, Bd. 6, 2. Aufl. 1847, Art. Grundvertrag und Grundgesetz, S. 166: „Es ist also die Aufgabe, die ganze Verfassungs-, Regierungs- und Verwaltungseinrichtung möglichst vertragsmäßig, oder, was dasselbe ist, Constitutionen frei zu gestalten. Vertragsmäßigkeit oder freie Constitution sind hiernach ... die Hauptsache der politischen Freiheit ..., ja diese selbst"; ders., SB I 142, 409 f.; V I 4068, 4082; IX 6403. 183
Welcker,
184
Erklärung vom 20.5.49, SB IX 6697.
185
SB IX, 6404.
Z.B. die Preußische Note vom 28.4.49, SB IX 6389, Roth/Merck (Fn.l), Bd. II, S. 484 ff., in Kritik der Konzessionen an die Linke in der Zweiten Lesung (Wegfall des monarchischen Vetos bei Gesetzgebung und Verfassungsänderungen, Streichung des Reichsrats, unitarische Überspannung der Reichskompetenzen, demokratisches Wahlgesetz). - Andererseits für die Linke: Vogt, SB V I 4634: „Sie haben Ihre Wurzeln abgeschlagen, und Ihr Baum schwankt nun im Winde, und mit allen Verfassungsspalieren, die Sie nur irgend machen können, werden Sie ihn nun und nimmermehr festbinden."
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werden könnten. Die Angst des Zauberlehrlings, die Geister, die man rief, nicht mehr loszuwerden, hat sie immer wieder beteuern lassen, daß man aus der Proklamation der Verfassunggebenden Gewalt keine „unfruchtbare" Prinzipienfrage machen wolle 1 8 6 .
9. Statt der schlüssigen staatstheoretischen Begründung aus einem Guß hat man sich auf eine Kombination heterogener Zusatz- und Aushilfsargumente
gestützt: auf eine übergreifende Repräsentationsfunktion für Volk und Regierungen, auf eine Art Notstandsrecht und auf einen Treuhänder- und Sachwalterdienst auch fur die Regierungsseite. Die Nation als Gesamtheit - Volk und Regierungen eingeschlossen - habe in der Nationalversammlung ihre gemeinsame Repräsentation gefunden. Da die
Nationalversammlung von beiden Seiten, sowohl von der Volksbewegung als auch von den Regierungen nach den Bundesbeschlüssen vom 30. März und 7. April 1848 zur Ausarbeitung des Verfassungswerks berufen worden sei, habe sie auch beide Seiten zu vertreten und für beide Seiten zu handeln: Aus der beiderseitigen Betrauung leitete sie hochgemut das Recht zum einseitigen Erlaß ab. Diese Begründung aus der Repräsentation der Gesamtnation klingt in Gagerns programmatischer Erklärung der Nationalsouveränität vom Mai 1848 an und wird auch später oft betont 1 8 7 . Der Boden der dualistischen Staatsauffassung ist dabei freilich im patriotischen Überschwang verlassen.
Im Vordergrund steht jedoch die Berufung auf das Recht zur Überwindung
des Notstands: Aus der Unmöglichkeit, auf dem Vereinbarungswege in jeder Einzelfrage zur Übereinstimmung mit jeder einzelnen Regierung zu gelangen, erwachse „der Beruf und die Vollmacht", das Verfassungswerk selbständig in die Hand zu nehmen. „Die eiserne Notwendigkeit" „der besonderen Verhältnisse" wurde ebenfalls seit jener ersten Erklärung Gagerns in den Debatten, Berichten und Noten und noch in der Austrittserklärung der Erbkaiserlichen als der tragende Grund der Versammlungsarbeit angeführt 188. Den Linken gab das Anlaß, „die Priester der Not" 1 8 9 vom Standpunkt der Volkssouveränität aus mit Hohn zu übergießen. 186
Vgl. SB I 136, 140, 440, 523; V I 4764; VII 5204, 5458; V I I I 6256; IX 6401 u.a.; Gagern, SB I 522: „Einigen wir uns ... ohne Rücksicht auf Sophismen, die Einzelnen als Prinzipien gelten!" 187 SB I 17; Zachariä, SB I 148; Zell als Berichterstatter des Einfiihrungsgesetzes zu den Grundrechten (mit Neigung zur Volkssouveränität), SB V I 4308; Gagern am 11.1.49 in der Österreich-Debatte, SB V I 4565; Vorlage des Verfassungs-Ausschusses zur 2. Lesung, SB VIII 5740 u.a.m. 188 Gagern, SB I 17, 522; Zell, SB V I 4308; Gagern zu den Regierungserklärungen über den Verfassungsentwurf, SB V I I 5436; Note des Reichsministeriums vom 22.1.49, SB V I I 5460; Vorlage des Verfassungs-Ausschusses zur 2. Lesung, SB VIII 5740; Welcher, SB IX 6404; Austrittserklärung vom 20.5.49, SB IX 6697. 189
Vogt, SB VI 4628.
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Dieses Notstands-Argument wollte besonders „realistisch" und „staatsmännisch" sein, fernab von unfruchtbarem Prinzipienstreit. Aber es war zu vordergründig und situationsabhängig; überdies wurde damit der hohe Anspruch der übergreifenden Repräsentation des Volkes und der Fürsten im Grunde zurückgenommen. Das Not- und Ausnahmerecht konnte nur zur Überwindung vorübergehender Not- und Ausnahmelagen gerechtfertigt erscheinen. Es taugte nicht zur Schaffung fundamentaler Verfassungsnormen, die einen breiten Konsens in Freiheit und Gleichheit voraussetzten und diesen in Dauergeltung normativ verbürgen sollten. Das Notrecht war ein Hilfsmittel von sekundärer und subsidiärer Qualität, das eine Vereinbarung nicht erübrigen konnte. Aus der Notlage war der Anspruch des einen Paziszenten, die Entscheidung an sich zu reißen und sie dem anderen souverän zu diktieren, sachlich nicht zu begründen. Umstritten war der Eintritt und Umfang, die Dauer und das Ende die Notlage 190 , sodann die Tauglichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu ihrer Überwindung; ungeklärt war auch, wie die Regelungen der Notlage in einen „normalen" Zustand übergeleitet würden. Die Not-Argumentation blieb halb auf dem dualistischen Boden stehen und schritt halb über ihn hinaus. Sie verlagerte die bekannten Schwierigkeiten des Vereinbarungsweges auf die unkalkulierbaren Schwierigkeiten des Ausnahmerechts. Wenn man den Notgedanken ernst nahm, so kam man mit seiner Hilfe i m Grunde über ein Provisorium nicht hinaus und mußte die Vereinbarung nachholen, sobald es die Normalisierung der Verhältnisse erlaubte. Diese Konzession aber lag der Versammlung ganz fern. Das Notargument wirkte deshalb nur vorgeschoben, um doch die einseitig demokratische Konstituierung und Legitimierung der Verfassung i m Bund mit den linken Vertretern der demokratischen Volkssouveränität zu ermöglichen und zu verschleiern, also das dualistische Gleichgewicht der deutschen Staatenwelt doch wesentlich zu verschieben und die Verfassung originär auf das Volk zu gründen. Ä h n l i c h problematisch war die Berufung auf eine Art negotiorum gestio für die Regierungen, um damit die konstituierende Gewalt der Nationalversammlung zu rechtfertigen. Schon bei der Errichtung der provisorischen Zentralgewalt hat Gagern seinen „kühnen Griff 4 mit dieser Begründung allen Parteien schmackhaft machen wollen. Zwar lehne er den Standpunkt ab, „daß die Regierungen in dieser Sache gar nichts sollten zu sagen haben". Aber „wir überheben die Regierungen einer großen Verlegenheit, wenn wir sagen, wer es sein soll" 1 9 1 . Mit ähnlich wohlwollender Fürsorge schob die Nationalversammlung auch später in den Verfassungsberatungen das Vereinbarungsprinzip beiseite, um zunächst die passende Entscheidung auch für die Regierungen zutreffen und deren Billigung in nachträglicher „Verständigung" einzuholen. Bei der Kaiserwahl kehrt der Gedanke wieder 192 .
190
Z. B. Gombart, SB V I 4307. Ebenso natürlich die Regierungsnoten.
191
SB I 521.
192
Mittermaier als Berichterstatter des Verfassungs-Ausschusses am 28.3.49, SB VIII 6080: „Jetzt dürfen wir vertrauen, daß jene Regierungen ... ihre Zustimmung nicht versagen werden".
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Bei dieser Treuhänder- oder Sachwalterfunktion ist also - genau genommen das selbständige Entscheidungsrecht der Regierungen anerkannt und die fraglichen Akte der Nationalversammlung von deren nachträglicher Genehmigung abhängig gemacht. Aber diese Version stand letztlich zur Idee der übergreifenden Repräsentation ebenso im Widerspruch wie zum Notrechtsargument. Auch sie stellte im Grunde nur eine versöhnliche bzw. anbiedernde Verschleierung dar. Denn daß das Hoffen auf die Zustimmung der Regierungen „durch die handgreiflichsten Tatsachen widerlegt" werde und bei der „positiven Gewißheit des Gegenteils" mit einer Fiktion arbeite, „und zwar mit der kühnsten, die man sich imaginieren kann", mußte man sich von den Gegnern entgegenhalten lassen193. So hat die Nationalversammlung - gespalten in Volkssouveränität und vermittelnde monarchisch-konstitutionelle Richtungen — auch in den eigenen Reihen nicht zu einem Konsens über Sinn und Bedeutung ihrer konstituierenden Gewalt gefunden. V. Ausblick Bismarck hat die Verfassungsbewegung als junger Mann miterlebt, daraus gelernt und seine Erfahrungen später als Gesandter am reaktivierten Bundestag vertiefen können 194 . Die Reichsgründung sah sich 1870/71 mit den Problemen von 1848/49 konfrontiert, jedoch unter günstigeren Startbedingungen (die freilich später zum Untergang des Reichs im militärischen Desaster beitrugen): Auch sie schwamm auf einer gewaltigen Woge patriotischer Begeisterung, aber diese erstarb nicht in der Niederlage der Bürgerkriegserhebung und des Parlaments, sondern fand ihren Stolz in den Siegen der deutschen Heere unter der Führung der vereinigten Kronen. Die Reichsgründung erfolgte nun weder auf dem Wege der (1848 nicht gewagten) monarchischen Oktroyierung noch der (1849 gescheiterten) demokratischen Konstituierung, sondern eben der Vereinbarung, und zwar in einem kunstvoll ineinander gefügten Geflecht von föderativer Vereinbarung der verbündeten deutschen Staaten bzw. Kronen und konstitutioneller Vereinbarungen einerseits zwischen den vereinigten Monarchen und der Volksvertretung im Reich und andererseits zwischen den Monarchen und ihrer Volksvertretung in den deutschen Ländern. Der Kriegs- und Siegesstimmung entsprechend gab sie sich martialisch, aber in Wahrheit geschah sie gerade nicht „durch Blut und Eisen", sondern mit höchstem diplomatischen Geschick rundum auf der Basis der Freiheit und Gleichheit aller damals relevanten politischen Gruppierungen und Kräfte, die sie zur freiwilligen und gleichbe193 194
Reichensperger,
SB IX 6081.
O. Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, 1958; Kühne, Reichsverfassung (Fn. 3), S. 107 ff.; auch den Überblick bei Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 649 ff.
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rechtigten Mitarbeit am Bau der deutschen Einheit zu bewegen verstand - friedlich und ausgleichsbemüht, deshalb in der Tat „realistisch", ja „staatsmännisch", ohne dies im Munde zu fuhren. Die hochgradige Kompliziertheit der politischen Situation im Übergang Deutschlands aus der partikularen Vielheit zur nationalen Einheit und aus der monarchischen in die demokratisch (mit)bestimmte Form seiner politischen Existenz wurde von der Reichsverfassung so gut gemeistert, daß sie den Spätgeborenen weithin aus dem Blick verschwand. Die Ereignisse und Strukturen sind hier nur knapp zu skizzieren: Die Gründung des Norddeutschen Bundes 1866/67 195 basierte auf einen doppelten Kompromiß: Auf dem vorsichtig ausbalancierten Ausgleich zwischen Monarchie und demokratisch-liberaler Volksrepräsentation einerseits sowie zwischen den unitarischen und den patikularstaatlichen Kräften andererseits. Der Gründungsakt des neuen Bundesstaates geschah „föderativ" durch einen vertraglichen Zusammensehluß der Staaten, also auf rechtlichem Wege und nicht durch unitarischen Gewaltakt (weder im demokratisch—revolutionären Sinn von unten noch annexionistisch-diktatorisch von oben); die heikel strittigen Probleme des staatsbildenden Effekts einer Revolution und unitarischen Volkswahl haben sich so erübrigt. In diese föderalistische Staatenvereinbarung aber wurden zwei konstitutionelle Verfassungsvereinbarungen eingelagert: Zwischen den vereinigten Kronen und der unitarisch gewählten Nationalrepräsentation zum einen und zwischen jedem Monarchen und der partikularen Volksvertretung zum anderen. Die einzelnen Staaten — noch war der Bundsstaat nicht gegründet — erließen wiederum gleichlautende Wahlgesetze für die Wahl zum norddeutschen Reichstag, der als vereinbarende Verfassungsversammlung fungierte (nicht als nur beratende Versammlung, wie dies der preußische Landtag in der schon 1848 bekannten Rivalität der konkurrierenden Volksvertretungen beschloß, ohne jedoch den Bündnisvertrag damit aushebeln zu können). Der norddeutsche Reichstag hat den von Bismarck konzipierten und von den Bevollmächtigten der Regierungen beschlossenen Entwurf der Bundesverfassung nach wesentlichen Änderungen - vor allem durch das Amendment Bennigsen über die Ministerverantwortlichkeit des Bundeskanzlers - am 16. April 1867 mit überwältigender Mehrheit (230 gegen 53 Stimmen) beschlossen und ihn mit den verbündeten Regierungen „vereinbart" - dies freilich mit dem Vorbehalt: „nach Maßgabe der in den einzelnen Ländern bestehenden Verfassungen". Denn damit machte die Bundesverfassung ihr Wirksamwerden von den partikularen Verfassungsvereinbarungen zwischen den einzelnen Monarchen und ihren Landtagen abhängig. Diese wurden dann ihrerseits im Wege der Verfassungsänderung beschlossen, weil ja der Vorrang der Bundesverfassung alle Landesverfassungsartikel überlagerte; folglich setzte die Zustimmung der Regierungen jeweils die Verfassungsänderung der Landesverfassungen voraus, soweit nicht schon im Wahlgesetz der Regierung eine entsprechende Blankoermächtigung für diese Zustimmung erteilt worden war.
195 Sie ist aus dem Augustbündnis vom 18.8.1866 Preußens mit neunzehn norddeutschen Staaten erwachsen, das als militärischer Beistandspakt zugleich den Vorvertrag für die Errichtung eines Bundesstaates „unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments" enthielt, dem der Bundesverfassungs-Entwurf „zur Berathung und Vereinbarung vorgelegt werden soll". Huber, Dokumente (Fn. 1), Bd. II, 3. Aufl. 1986, S. 268 ff.; ders., Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 644 ff.
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Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 zeigt ein analoges Bild komplexer Kompromisse auf der Grundlage der Freiwilligkeit und des Ausgleichs der überkommenen Gegensätzlichkeiten; Zwang lehnte Bismarck, der nach dem deutschen Bruderkrieg aus dem verspäteten Drang Preußens zum territorium clausum soeben noch Fürstenkronen rollen ließ, unter Partnern als unwürdig und unvernünftig ab. Wieder ging ein Staatenvertrag voran: Die Novemberverträge vom 15. bzw. 23. November 1870 über die „Gründung eines Bundes'4 bzw. den „Beitritt" der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund und die Ausdehnung seiner Verfassung auf die neuen Mitglieder 196 waren Verfassungsverträge in mehrfachem Sinn: Als Staatsgründungsvereinbarungen schufen sie das deutsche Reich als neuen Bundesstaat - ob durch Erweiterung des Norddeutschen Bundes (Identitätstheorie) oder durch neue Bundesgründung (in Rechtsnachfolgerschaft des Norddeutschen Bundes) war eine strittige, aber nachrangige juristische Konstruktionsfrage. In diesen föderativen Staatenvertrag wurde wiederum eine doppelte Verfassungsvereinbarung eingebaut: Durch die Verfassungsrevisionen im Norddeutschen Bund und in den vier neuen Südstaaten wurde die partikular-konstitutionelle Verfassungsvereinbarung zwischen den Monarchen und den Volksvertretungen abgeschlossen, welche die Zustimmung der Regierungen zum Bundesschluß verfassungsrechtlich ermöglichte. Durch die anschließende Verfassungsrevision im Gesetzgebungsverfahren des neugewählVereinbarung zwiten ersten deutschen Reichstags kam die unitarisch-konstitutionelle schen den verbündeten Kronen und der neugeschaffenen deutschen Nationalrepräsentation zustande. Auch die neue Kaiserwürde beruhte auf allseitigem Zusammenwirken: des Bundesrats und des Reichstags des Norddeutschen Bundes, des Angebotes des Amtes durch die Fürsten und Freien Städte, der Adresse des Reichstags und der Zustimmung der süddeutschen Landtage. - So wurden in diesen Formen im friedlichen Konsensverfahren alle Probleme entwirrt und verträglich aufgearbeitet, die sich 1848/49 zum Gordischen Knoten verwickelt hatten und die damals die Linke durch revolutionären Schwertstreich auf ihre Art gewaltsam lösen wollte und sich dabei gewaltig überhob. Die Gründung des Reichs als Bundesstaates erfolgte so in Freiheit, friedlich und rundum einvernehmlich. Das Verfahren verlief formell in den Bahnen der Legalität. Indessen: Nicht ohne Bruch, nicht ohne den Kraftakt der Verfassunggebenden Gewalt, die das Alte abräumte indem sie das Neue schuf. Die A u f richtung des neuen Bundesstaates beseitigte die bis dahin bestehende Verfassung — Verfassunggebung geht immer mit Verfassungsbeseitigung einher; das ist ihr Wesen i m Unterschied zur Verfassungsänderung. Darüber, wieweit nun 1866 / 67 und 1 8 7 0 / 7 1 das Recht oder die Macht, die „Legalität" oder die „Faktizität" ausschlaggebend waren, wieweit dabei „Vertrag" oder „Vereinbarung", „Gesetz" und „Gesetzespublikation" zusammenwirkten, hat sich die Staatsrechtslehre damals - nach dem methodischen Stand ihrer Zeit - ausgiebig den K o p f zerbrochen 1 9 7 . Ein analoges Stück ging vier Generationen später nach der zweiten
196
Huber, Dokumente (Fn. 1), Bd. II, 3. Aufl. 1986, Nr. 219-224, S. 326 ff.; ders., Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. III, 3. Aufl., S. 724 ff. 197 Huber, Verfassungsgeschichte (Fn. 3), Bd. III, 3. Aufl., S. 669; Stern, Staatsrecht (Fn. 3), S. 299 f. Damals hat man schließlich (nach der begriffsjuristischen Manier der Zeit) in den Publikationsgesetzen der Einzelstaaten den eigentlichen bundes- und verfassungsbegründenden Vorgang sehen wollen.
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deutschen Einigung zu Art. 23 a.F. GG und Art. 146 n.F. GG über die Bühne 198 . Wie schon die Väter 1848/49 laborierte man 1870/71 und 1989/90 wieder an dem sphinxhaften Phänomen der Verfassunggebenden Gewalt, die ein juristischer und politischer Grund- und Grenzbegriff zugleich ist, das Rechtliche und das Faktische in sich verschmelzend: Die Verfassunggebende Gewalt steht über der bestehenden Verfassung, ist deshalb nicht aus deren Normen „legal" abzuleiten, denn sie ist originärer Natur: Sie kann über die geltende Verfassung hinwegschreiten und diese durch eine andere ersetzen: Das souveräne Volk von heute ist als Verfassunggeber (richtiger: als permanenter Verfassungsträger) nicht durch die Gewalten von gestern, auch nicht durch das Volk von gestern an ein von der Geschichte überholtes System gefesselt, weder materiell noch hinsichtlich der Grenzen des Verfassungsänderungsverfahrens. - Verfassunggebung hat die dauerhafte Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen der politischen Existenzgestaltung zu treffen: Ihr Wesen besteht mithin in der Dezision. Der Sinn für das Dezisionistische in der Verfassungsschöpfung kam in den debattierfreudigen Verhandlungen der Paulskirche sichtlich zu kurz. Aber Verfassunggebung ist Entscheidung für Normativität. Das ist der Grund und die Bedingung der Freiheit; darin unterscheidet sie sich vom Situationsbefehl der Diktaturen. Der Grund ihrer Geltung ist der Wille der Verfassunggebenden Gewalt als Normwille zur verläßlichen Dauerordnung, zumal in der rechtsstaatlichen Demokratie. - Im Normwillen zu einer dauerhaft geltenden Ordnung lösen sich ihre Paradoxien, in denen sich die Achtundvierziger verhedderten, weil sie sich zwischen Legalitätsglauben und revolutionärem Pathos hin- und hergerissen fühlten: Die Verfassunggebende Gewalt äußert sich in der eruptiven Revolution des Volkes, das aber dann kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt jeden Revolutionsversuch, Staatsstreich und Verfassungsbruch durch die verfaßten Organe des Staates verhindert - weil (und solange) es selbst die Verfassung durch seine Überzeugung und seinen Normwillen als gerecht und geboten bejaht und trägt. Sie ist das Ergebnis einer historischen Stunde, die doch Konstanz in eine weite Zukunft bewirken soll. Sie ist nicht ableitbar aus (alten) Normen, aber schafft (neue) Normen durch ihre Normentscheidung. Obwohl ihr Anfang und ihr Ende durch die abrupte Diskontinuität der Verfassungsverhältnisse gekennzeichnet sind, will sie künftige Kontinuität der Normgeltung garantieren. Deshalb fordert sie die Unverbrüchlichkeit der Verfassungsgeltung, obgleich sie selbst aus dem Bruch des bisher geltenden Verfassungsrechts erwächst und auch die geltende Verfassungsordnung im Umbruch wiederum beseitigen kann. - Nur wenn die Theorie einen normfremden Dezisionismus ebenso vermeidet wie eine apolitischen Normativismus, nur wenn sie den situationsbezogenen politischen Entscheidungscharakter und den auf Dauergeltung gerichteten Normwillen als komplexe Einheit begreift, nur dann erhält und behält das Ringen um die Verfassunggebende Gewalt seine politisch und juristisch tragende Wirkung. 198 M. Heckel, Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage. Wo war das Volk?, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. 1995/3, S. 9 ff., 15 ff., 23 ff., 33 ff.; ders., Legitimation (Fn. 36), Rn. 3 ff., 10 ff., 23 ff., 37 ff., 46 ff., 66 ff., 86 ff. - Interessante Parallelen hinsichtlich der Verfassunggebenden Gewalt bietet der Prozeß der Wiedervereinigung der - seit 1968 auf massiven Druck der DDR gespaltenen - Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Ende April 1991. Dazu M. Heckel, Die Wiedervereinigung der deutschen evangelischen Kirche, ZRG 109 (1992) = KA 78, S. 401-516; beides auch in: ders., Gesammelte Schriften: Staat - Kirche Recht - Geschichte, Bd. III, 1997, S. 3 - 7 2 , 73-176.
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Dem 21. Jahrhundert sind mit der Europäischen Union wiederum fundamentale Verfassungsprobleme gestellt, die wesentlich um den Ausgleich von Demokratie und Föderalismus kreisen. Viele Analogien drängen sich auf. Aber die Grundverhältnisse haben sich entscheidend gewandelt. Der autarke, souveräne Nationalstaat nach dem Musterbild des 19. Jahrhunderts gehört der Vergangenheit an; nur die internationale Politikverflechtung kann die globalen Probleme bewältigen. Die Nationalstaaten sind dadurch nicht überholt, aber auf verfassungsrechtliche Integration angewiesen. Für die Ausbildung einer demokratischen Staatlichkeit der Union, vergleichbar dem deutschen Bundesstaat des 19. Jahrhunderts, aber fehlt es an der einheitlichen Nation, an den Verfassungsvoraussetzungen des einheitlichen politischen Kommunikationsraums, der gemeinsamen Sprache, des gemeinschaftlichen Parteien- und Pressewesens. Nicht Demokratisierung, sondern behutsames föderatives Zusammenwachsen wird das Los der Zukunft sein. Wer hier Einsicht sucht, der steige auf den Berg des Europarechts und lasse sich die Aussicht in die Zukunft weisen von einem Meister seines Faches, dem diese Seiten nach mehr als drei Jahrzehnten bester Tübinger Kollegialität in tiefer Gemeinsamkeit und nie getrübter Freundschaft gewidmet sind: von Thomas Oppermann.
John C. Calhoun und die Europäische Staatengemeinschaft Nullifikation und Sezession im Bundesstaat Von Michael Ronellenfitsch
I. Fragestellung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Öffentlichen Recht erfordert Bodenhaftung. Andernfalls läuft sie Gefahr, sich in fruchtlosen staats- und verfassungstheoretischen Spekulationen zu verlieren. Thomas Oppermann ist dieser Gefahr nie erlegen. Sein wissenschaftliches Werk hält Praxisbezug und ist deshalb praxisrelevant. Mit sicherem Verständnis für die Belange der Praxis hat Oppermann auf eine apodiktische Positionsbestimmung bei der Rechtsnatur der Europäischen Union verzichtet, ohne der Thematik auszuweichen: Zwar sei der Europäische Bundesstaat auch fur die Endphase der Europäischen Union keine realistische Perspektive. Andererseits wäre es ebenso verkürzend, gewisse „staatsähnliche" Formen der bereits erreichten und in weiterem Ausbau befindlichen Zusammengehörigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu übersehen. Das hindurchschimmernde „verfassungspolitische" Element der Union gebe ihren Strukturen seit längerem und wahrscheinlich künftig verstärkt eine Art parastaatliches Gepräge1. „Steht nach allen Entwicklungen in den neunziger Jahren der qualitative Sprung in die Staatlichkeit eines Europäischen Bundesstaats nicht auf der Tagesordnung" 2, interessiert doch die Frage, ob sich die Europäische Union auf längere Sicht auf dem Weg zur Staatlichkeit befindet 3, nicht nur theoretisch4. Die mit dieser Frage verknüpften Wunsch5- oder Schreckensvorstel1
Vgl. 77?. Oppermann. Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 50 f., 922.
2
Oppermann (Fn. 1), Rn. 922. Vgl. aber auch unten Fn. 130.
3
Zur Finalität der Europäischen Union Oppermann (Fn. 1), Rn. 912 ff.; ferner G. Marks/L Hooghe/K. Blanck, European Integration and the State, 1995; C. Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat: die Entwicklung der politikwissenschaftlichen Integrationstheorie im Prozess der europäischen Integration, 1997. 4
Zum Theorienstreit, D. Wolf Integrationstheorien im Vergleich: funktionalistische und intergouvernemental istische Erklärung für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Maastricht, 1999. 5
Vgl. G. Eickhorn (Hrsg.), Für ein föderales Europa. Beschlüsse der Bundeskongresse der Europa-Union Deutschland 1947-1991, 1993; J. Ensthaler (Hg.), Vom Binnenmarkt
5 FS Oppermann
Michael Ronellenfìtsch
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lungen 6 nehmen Gestalt an, wenn man sich die rechtlichen Konsequenzen vergegenwärtigt, die eine Ausgestaltung der Europäischen Union als (Vor-)Bundesstaat mit sich brächte.
I I . Geteilte Souveränität 1. Folgerungen aus dem „Wesen des Bundesstaats" 7 wie generell aus der Staatlichkeit gelten als überholt. Der moderne Staat wurde als juristische Kategorie schon vielfach verabschiedet 8 . Erst recht bestreitet man die Souveränität als Merkmal der Staatlichkeit 9 . Totgesagte erfreuen sich in der Regel bester Gesundheit. Das gilt auch für den europäischen Nationalstaat 1 0 . Das internationale und nationale Recht ist noch immer der Begrifflichkeit der Epoche der Staatlichkeit verhaftet. Danach bleibt die Souveränität als Begriffsmerkmal des Staats nicht nur i m zwischenstaatlichen Verkehr unverzichtbar"; unverzichtbar für die Annahme von Staatlichkeit sind vielmehr auch i m Innenbereich Gewaltmonopol und die sich aus der jeweiligen Verfassung ergebenden konkreten Zwecksetzungen zur Legitimation dieses Gewaltmonopols 1 2 . Eine Verfassung, die ein Gemeinwesen nur als Staat konstituiert, muss diesem die oberste Entzur Europäischen Union. Die Gemeinschaft zwischen Zweckverband und neuer Staatlichkeit, 1995. 6
Hierzu H. Lübbe, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, 1994; S. Bohrtet-Joschko, Leviathan Europa? Föderalistische und institutionelle Aspekte der Staatswerdung Europas, 1996. 7 Zur traditionellen Kritik gegen die Argumentation aus dem Wesen des Bundesstaats M. Ronellenfìtsch , Die Mischverwaltung im Bundesstaat, 1975, S. 63. Zwiespältig J. Isensee, in: Isensee /Kirchhof {Hrsg.), HStR IV, 1990, § 98 Rn. 4 f., der anerkennt, dass der Begriff des Bundesstaats der Allgemeinen Staatslehre Unterscheidung und Abgrenzung zum Staatenbund und Einheitsstaat leistet, diesem Begriff aber keine Bedeutung für das deutsche Verfassungsrecht beimisst. 8 Vgl. auch P. Saladin, Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaats in einer zunehmend innerstaatlichen Welt, 1995; M Albrow, Abschied vom Nationalstaat: Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter, 1998; S. Clarke (Hrsg.), The State debate, Basingstoke 1991. 9
Société française pour le droit international (Hrsg.), L'Etat à l'aube du XXIe siècle, Paris 1994; U. W. Saxer, Die Zukunft des Nationalstaates. Staaten zwischen Souveränitätsorientierung und Integrationsoffenheit in einem sich wandelnden internationalen System, 1994. 10
Vgl. R. Voigt, The European Nation-State: Decline or revival?, 1993.
11
Vgl. Κ Hailbronner, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, 3. Abschn., Rn. 69. 12
Hierzu M. Ronellenfìtsch , Wahrnehmung der Unfalluntersuchung im Bereich der Eisenbahn durch Private, in: W. Blümel/H.-J. Kühlwetter (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts III, 1998, S. 109 ff. (111 ff.).
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scheidungsgewalt zusprechen 13 . Im Bundesstaat ist der Bund Völkerrechtssubjekt. Aber auch die Glied-„Staaten" sind j e nach innerstaatlicher Ausgestaltung Völkerrechtssubjekte. Somit können - i m Innenverhältnis müssen - Bund wie auch Gliedstaaten souverän sein. Das ist nur möglich, wenn sich die Souveränität zwischen Bund und Gliedern in irgendeiner Form teilen lässt. 2. Die Lehre von der Teilbarkeit der Staatsgewalt beruht auf der Konstruktion des aus Staaten zusammengesetzten Staates, die in der Reichspublizistik des 17. Jahrhunderts entstand 14 . Schon Otho Casmannus 15 und Philipp Heinrich Hoenonius 1 6 unterschieden einfache Städte von der Verbindung mehrerer Städte und ihrer Erweiterung zum „regnum" oder „imperium". In diesem Zusammenhang fand der Begriff „respublica composita" Verwendung. Daran anknüpfend erkannte Paul Businus 1 7 den Territorien Staatsgewalt zu. A u f ihn bezog sich Christoph Besold 1 8 , als er den Versuch machte, die von Jean Bodin entwickelten Kriterien der modernen Staatlichkeit 1 9 auf das Deutsche Reich zu übertragen 20 . Ludolph Hugo charakterisierte das Deutsche Reich als respublica composita, bei der die Souveränität geteilt sei: „Duplici regimine Imperium nostrum administra-
13
Vgl. J. Aishut, Der Staat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,
1999. 14
Hierzu B. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatidee. Zur Herausbildung der Föderalismusidee als Element des modernen deutschen Staatsrechts, 1996. 15
Doctrinae et vitae Politicae methodicum ac breve systema, 1603, Cap. 66, S. 326 „Respub. est, quae ex pluribus civitatibus, urbibus ac pagis est coniuncta sub idem imperili, seu in unam Reipubl. Societatem redacta." 16
Disputationum politicarum liber unus, 3. Aufl., 1615. Die disputatio Nr. 12 (S. 531 ff.) trägt die Überschrift „De Republica Orta seu composita." Im Text heißt es dann „Orta Respublica est vel constracta, vel ampliata. Constracta est Respublica Orta, constans pluribus civitatibus in unam societatem redactis." 17
De republica libri très, 1613.
18
Doctrinae et vitae Politicae methodicum ac breve systema, 1603, Cap 66, S. 326 ff.; Diputationum politicarum liber unus, ed. III, 1615, S. 531 ff.; Juridico-politicae Dissertationes Nr. V I (De jure territorium), in: Opus politicum 1641 /42, S. 221 ff. 19 Les six livres de la République, 1576. Die zentralen Aussagen zur Souveränität finden sich auf S. 122 ff. des 1961 erschienenen Neudrucks der Ausgabe von 1583. In der von Bodin 1586 selbst vorgenommenen lateinischen Übersetzung lautet der Staatsbegriff „recta plurium familiarum ac rerum inter ipsas communium cum summa perpetuaque potestate gubernatio". Die Souveränität erklärte Bodin für unteilbar: „majestas per se ipsa quidem est Individuum" (II, 1). Kritisch hierzu H. Rehm, Geschichte der Staatsrechtwissenschaft, 1896, S. 226 ff. 20
Besold gliederte die Souveränität in die „Majestas" des Kaisers und die „Landesfurstliche Obrigkeit" der subalternen Territorien auf und stellte beide Hoheitsrechte auf die gleiche Stufe: Territorii, sive superioritatis jus, illud Imperium esse, quod Status in territoriis suis particularibis exercent: aequale illi jurisdiction!, quam Imperator habet" (De Statu Reipublicae Subalterno, in: Opus politicum, S. 77). *
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ri animadvertimus" 21. Samuel Pufendorf hielt es für undenkbar, dass ein Staat mehrere Staaten in sich enthalte22. Auch bei Staatenverbindungen (systemata civitatum) müsse die Souveränität der beteiligten Einzelstaaten in vollem Umfang gewahrt bleiben23. Den entgegenstehenden Gegebenheiten des Deutschen Reichs trug Pufendorf dadurch Rechnung, dass er es ein irreguläres und monströses, zwischen Einzelstaat und Staatenverbindung schwankendes Gebilde nannte24. Da man in der Folgezeit die Bezeichnung „respublica composita" für jede Staatenverbindung verwendete 25, trat die Souveränitätsfrage in den Hintergrund. Johann Stephan Pütter hatte es nicht schwer, die Lehre vom zusammengesetzten Staat neu zu begründen 26. In der Zeit des Rheinbundes und Deutschen Bundes setzte sich die Kontroverse der Schulen Pufendorfs und Pütters in der Gegenüberstellung von Bundesstaat und Staatenbund fort. Die Begriffe nahmen polemischen Charakter an. Der Bundesstaat war jetzt politisches Programm. Die Aufmerksamkeit auch der juristischen Autoren richtete sich auf die Schweiz und die Vereinigten Staaten, wo die Bildung von Bundesstaaten gelungen war. Georg Waitz sah in den USA den Bundesstaat schlechthin verwirklicht 27 . Für ihn war der Bundesstaat ein Staatenstaat, bei dem Gesamtstaat und Glieder selbständige Staaten sein müssen28. Die Souveränitätsproblematik versuchte Waitz durch eine strikte Trennung der Aufgabenbereiche zu lösen, die Gesamtstaat und Gliedstaaten jeweils besondere Einflusssphären mit besonderer Organi21 De statu regionum Germaniae et regimine pricipium summae imperii reip., aemulo, nec non de usu autoritate juris civilis privati, quam in hac parte juris publici obtinet (1661), § I A 2; zit. nach der bei H. Müller, Helmstedt 1672 erschienenen Ausgabe. Der Problematik seiner These war sich Hugo bewusst: „ Dubitari enim omnino potest, an ratio administrandi Regiones superiori subjectas Respubl. censeri possit. Nam subjectio cum natura Reip. pugnare videtur ... Ubi igitur non est summa potestas, ibi nec Resp. ..." (Cap. II § V). Zu Hugo vgl. S. Brie, Der Bundesstaat, 1874, S. 17 Fn. 2. 22
De Systematibus Civitatum, in: Dissertationes academicae selectiones, 1675, S. 283.
23
De iure naturae et gentium, 1704, Lib. VIII, cap. 5 § 16 (S. 714): „Systemata civitatum a nobis adpellantur plures una civitates vinculo alique & arctissimo se connexae, ut unum corpus videantur constituere, quarum singulae tamen summum in sese imperium retineant." 24
Severinus de Monzambano , De statu Imperii Germanici (ad Laelium fratrem liber unus), 1667, Cap. IV, § 9, S.126 der Ausgabe von F. Salomon, 1910. 25
Vgl. zur weiteren Entwicklung Ο. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1902, S, 248 ff.; G.J. Ebers, Die Lehre vom Staatenbunde, 1910, S. 24 ff. 26 Elementa juris publici Germanici, 1754, § 121 f.; Beyträge zum Teutschen Staatsund Fürstenrechte, 1777, Beitrag II, S. 14 ff. Für die letzten Jahrzehnte des Deutschen Reichs blieben diese Anschauungen maßgebend. 27 Das Wesen des Bundesstaates, zuerst veröffentlicht in der Allgemeinen (Kieler) Wochenschrift für Wirtschaft und Literatur, 1953, 494 ff., dann wiederabgedruckt in: Grundzüge der Politik, 1862, S. 153 ff. 2H
Ebd., S. 164.
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sation zuwies. M i t Gründung des Norddeutschen Bundes war diese Konzeption überholt. Dogmatisch entzog ihr Max von Seydel den Boden 2 9 , indem er unter Berufung auf John C. Calhoun nachwies, dass Waitz die Rechtslage in den U S A verkannt und das Wesen des Bundesstaates verfehlt habe. M i t Calhoun hatte die Lehre von der Teilbarkeit der Souveränität erneut einen bedeutenden Kritiker gefunden. I I I . John C. Calhoun 1. John Caldwell Calhoun wurde am 18. März 1782 nahe Calhoun M i l l s , Abbeville District (heute Mount Carmel, McCormic County) i m Grenzgebiet von South Carolina geboren 30 . Nach einem kürzeren Aufenthalt in der Rechtsakademie seines Schwagers 31 fand Calhoun neben der Farmarbeit wenig Zeit, :q Der Bundesstaatsbegriff, ZStW 28 (1872), 185 ff. = Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, 1893, S. 1 ff. 30 An Biographien sind neben den Büchern von I. H. Bartlett, John C. Calhoun: A biography, New York 1993; W. Brown, John C. Calhoun, New York, 1993; G.M. Capers , John C. Calhoun, Opportunist: A Reappraisal, New York 1960; M.L. Co/7, John C. Calhoun, American portrait, Boston 1950 (Neudruck 1991); H. Hefner Cook , John C. Calhoun, the man, Columbia S.C., 1965; W.D. Crane , Patriotic rebel: John C. Calhoun, New York 1971; J.L. Thomas (Hg.), John C. Calhoun; a profile, 1968; M. D. Peterson , The great triumvirate: Webster, Clay and Calhoun, New York 1987 77?. R. Marmor, The career of John C. Calhoun: politician, social critic, political philosopher, New York 1988; J. Niven , John C. Calhoun and the price of union: a biography, Baton Rouge 1988; sowie dem dreibändigen Werk von Ch. M. Wiltse , John C. Calhoun, Indianapolis, 1944— 1951 (ND New York 1968) vor allem folgende zeitgenössischen Darstellungen interessant: R. M. T. Hunter, Life of John C. Calhoun, New York 1843; J. S. Jenkins, The life of John Caldwell Calhoun, Auburn / Buffalo N.Y. 1850; J. H. Hammond , An oration on the life, character and services of John Caldwell Calhoun, Charleston 1850; M. Bates, The private life of John C. Calhoun: a letter originally adressed to a brother at the North, Charleston, 1852. Die nach dem Sezessionskrieg erschienenen älteren Biographien haben zumeist einen parteiischen Anstrich; vgl. W.E. Dodd, John C. Calhoun, in: Statesmen of the Old South, New York 1911, S. 91 ff.; A. G. Holmes, John C. Calhoun, Southern Magazine, Bd. II (1936), Nr. 10, S. 1 ff.; H. von Hoist, John C. Calhoun, Boston 1899 (Neudruck New York 1980); G. Hunt, John C. Calhoun, Philadelphia, 1908; Thomas Law , Memoir of the life and character of John C. Calhoun, the philosopher statesman of America, Baltimore 1874; P. McFerrin, John C. Calhoun, Statesman and Patriot, Methodist Quarterly Reviev 70 (1921), 249 ff.; W.M. Meigs, The life of John Caldwell Calhoun, 2 Bde., New York 1917 (ND 1970); F. W. Moore (Hrsg.), Calhoun as seen by his political friends, in: Southern History Association Publications, Bd. V I I (1903), S. 159 ff., 269 ff; 353 ff.; 419 ff.; G.M. Pickney, Life of John C. Calhoun, from a southern standpoint, Lippincrotfs Monthly Magazine 62 (Juli 1898), S. 81 f f ; A. Styron, The Cast-iron Man: John C. Calhoun and American democracy, New York 1935. Dies gilt sogar fur die neueste Fassung der Würdigung Calhouns in der Encyclopedia Britannica (http://www.britannica.com / Bcom/eb/artici.../0,5716, 18952+ 18660,00.htm). 31
Der mit Catherine Calhoun verheiratete Moses Waddel hatte im Columbia County (Georgia) eine Law School und Academy eröffnet.
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die lokale Schule zu besuchen. Dennoch qualifizierte er sich für ein Studium in Yale 3 2 , das er 1804 m i t Auszeichnung abschloss. Nach Rechtsstudium 3 3 und Zulassung zur Anwaltschaft i m Jahr 1807 praktizierte Calhoun in A b b e v i l l e 3 4 . Der Chesapeake-Zwischenfall 35 gab ihm die Gelegenheit, eine politische Karriere in A n g r i f f zu nehmen. Vor allem seine patriotischen Reden bewirkten, dass Calhoun 1807 in das Repräsentantenhaus von South Carolina gewählt wurde 3 6 . O b w o h l er dort nur von 1808 bis 1809 tätig war, gelang es ihm, sich in der Republikanischen Partei zu profilieren 3 7 , als deren M i t g l i e d er in den Zwölften und die drei folgenden Kongresse gewählt wurde. Ihnen diente er v o m 4. März 1811 bis zu seinem Rücktritt am 3. November 1817. Calhoun machte sich einen Namen als entschiedener Nationalist („warhawk") und unterstützte i m auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses den Krieg von 1812 38 . Zur Tilgung der Kriegsschulden befürwortete er die von den Südstaaten bekämpfte Zollerhebung von 1816 als zeitlich begrenzte Maßnahme 39 . Dem Kabinett von Präsident James Monroe gehörte er ab 1817 als Secretary o f War an. M i t seiner geschickten
32
Yale war unter seinem Präsidenten Timothy Dwight, der maßgeblichen Einfluss auf die geistige Entwicklung Calhorns ausübte, Zentrum föderalistischer Strömungen. 33
Calhoun studierte in Litchfield, Connecticut.
34
Die Rolle eines ländlichen Strafverteidigers behagte Calhoun nicht; vgl. Calhoun an Mrs. Floride Colhoun, vom 6.4.1809, in: J. F. Jameson, Correspondence of John C. Calhoun, Annual Report of the American Historical Association, Bd. II, Washington D.C. 1899, S. 110. Die Eheschließung mit Floride Colhoun ermöglichte es ihm, eine Plantage zu erwerben (Fort Hill) und sich politisch zu betätigen. 35 Im Frühling 1807 enterte die Besatzung des britischen Kriegsschiffs „Leopard" die amerikanische Fregatte „Chesapeake" und ergriff dort mehrere Seeleute, um sie zum Wehrdienst im Krieg gegen Napoleon zu zwingen. 36
W.P. Starke , Account of Calhoun's early life, Annual Report of the American Historical Association, Bd. II (1899), S. 67 ff. (85). 37
Vgl. J. Parton , Famous Americans of recent times, Boston 1874, S. 37.
38
Speech on the Second Resolution reported by the Committee on Foreign Relations vom 12.12.1811, in: Annals of the Congress of the United Staates, First Session, 1853, S. 377 = Works II, S. 1. Die Rede trug Calhoun den Titel „young Hercules who carried the war on his shoulders" ein. Calhoun hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die USA ein stehendes Heer und eine moderne Marine einrichteten und die Verkehrsinfrastruktur verbesserten, Maßnahmen, die sich im Sezessionskrieg zu Gunsten der Union auswirken sollten. 39 Speech on the Tariff Bill vom 4.4.1816, abgedruckt bei R. M. Lence, Union and Liberty, The Political Philosophy of John C. Calhoun, Indianapolis 1992, S. 301 ff. Calhoun beendete die Rede mit dem Satz: „This single word (disunion) comprehended almost the sum of our political dangers; and against it we ought to be perpetually guarded." Calhoun ahnte nicht, dass diese Rede später gegen seine eigenen Landsleute aus dem Süden gerichtet werden würde. Es hätte ihm aber zu denken geben müssen, dass ihn die Protektionisten aus Pennsylvania zu ihrem Präsidentschaftskandidaten machen wollten, vgl. Coit (Fn. 30), S. 114.
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Amtsausübung erwarb er sich auch i m Norden große Popularität 4 0 . Zusammen mit den Präsidenten John Quincy Adams und Andrew Jackson wurde Calhoun 1824 bzw. 1828 zum Vizepräsidenten gewählt. Die Beziehung zu beiden Präsidenten war konfliktträchtig, zumal Calhoun selbst Ambitionen auf das Präsidentenamt hatte 41 . Unter Präsident Adams entwickelte sich die Zollfrage zum bundesstaatlichen Sprengsatz. In den exportorientierten „staple States" des Südens verdichtete sich der Eindruck, dass die temporären Finanzierungszölle zu permanenten Schutzzöllen zugunsten der Fabriken des Nordens umgewandelt werden sollten. Calhoun sah sich zu einem Kurswechsel veranlasst. Als Adams 1828 einen hohen Z o l l t a r i f billigte ( „ T a r i f f o f Abominations"), erwog man in South Carolina den Austritt aus der Union. U m diese drastische Maßnahme zu vermeiden, entwickelte Calhoun die Lehre v o m gliedstaatlichen Verwerfungsrecht (right o f a state to interpose its authority and overrule federal legislation), fur die sich später die Bezeichnung „ N u l l i f i k a tions-Theorie" einbürgerte 42 . Die Südstaaten setzten ihre Hoffnungen in Präsident Jackson, waren sich aber über dessen Einstellung zur Zollfrage unsicher. U m deren Stimmen zu binden, griff Jackson auf Calhoun zurück. Calhoun blieb Vizepräsident. Auch aus persönlichen Gründen 4 3 konnte er Präsident Jackson 40
Zu dieser Zeit war Calhoun der intellektuelle Vater des US-Nationalismus.
41
Seine als weitschweifig empfundenen staatstheoretischen Reden, aber auch sein Ehrgeiz waren Calhouns Ambitionen nicht zuträglich. Secretary of the Treasure Albert Gallatin charakterisierte Calhoun zur damaligen Zeit als „a smart fellow, one of the first among second-rate men, but of lax political principles and a disordinate ambition not over-delicate in the means of satisfying itself 4 . 42 Vgl. Rough Draft of what is called the South Carolina Exposition vom 19.12.1828 (von Calhoun anonym verfasst), abgedruckt bei Lence (Fn. 39), S. 313 ff. Die „Exposition" wurde mit dem „Protest", der offiziellen Resolution der Generalversammlung von South Carolina, unter dem Titel „Exposition and Protest" verknüpft. Von Calhoun stammte nur die „Exposition". Über seine Urheberschaft gab es zunächst nur Spekulationen; bis 1832 war sie allgemein bekannt. Der Affront gegen die Bundesregierung, der Calhoun selbst angehörte, ist evident. 43 Die Weigerung von Calhouns Ehefrau, die von Präsident Jackson geschätzte, mit dessen Ziehsohn Senator John Henry Eaton verheiratete, in der Washingtoner Gesellschaft aber als femme scandaleuse geächtete (Margaret) Peggy (Timberlake) Eaton offiziell zu sich einzuladen, wird wohl kaum allein Calhouns Karriere ruiniert, d.h. seine Hoffnungen auf das Präsidentenamt zunichte gemacht haben. (In diesem Sinn freilich J.H. Eckenrode, The Randolphs, New York 1946, S. 251). Calhoun selbst sah das so: „The road to favor ... lay directliy before me ... The intimate relation between General Jackson and Major Eaton was well known, as well as the interest that the former took in Mrs. Eaton's case" (Works VI, S. 437). Die Ächtung Peggy Eatons durch die Ehefrauen der Kabinettsmitglieder veranlasste immerhin Präsident Jackson, sein gesamtes Kabinett zu entlassen; hierzu John F. Marszalek, The Petticoat Affair: Manners, Sex and Mutiny in Andrew Jackson's White House, 1997. Eaton wurde Botschafter in Madrid. Nach seinem Tode (1856) heiratete Peggy Eaton einen italienischen Tanzlehrer, der sie um ihr Vermögen brachte und mit ihrer Enkelin durchbrannte; vgl. auch Q. Pollack, Peggy Eaton, Democracy's Mistress, New York 1931.
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jedoch nicht zu Kompromissen bei der Tarifgesetzgebung bewegen. Der Interessenkonflikt erwies sich als unüberwindbar. Viele im Süden betrachteten jetzt als einzige Lösung die letzte Konsequenz der Nullifikations-Theorie: die Sezession. Um die Entfremdung mit dem Norden zu begrenzen, versuchte Calhoun insoweit eine Klärung seiner Position. Der sogenannte Fort Hill-Brief 4 4 betonte zwar die „State rights", war aber hinsichtlich der Nullifikations-These vorsichtiger gehalten. Calhoun hoffte immer noch auf einen nationalen Kompromiss. Als sich die Hoffnungen zerschlugen, trat Calhoun am 28. Dezember 1832 als Vizepräsident zurück. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits als Vertreter von South Carolina in den Senat der Vereinigten Staaten gewählt. Als die Auseinandersetzungen zwischen der Jackson-Administration und South Carolina bis hin zu Maßnahmen des Bundeszwangs (Force Bill) eskalierten 45, hielt Calhoun eine Brandrede mit den berühmten Sätzen: „You cannot keep the States united by force. Force may, indeed hold the parts together, but such union would be the bond between master and slave ..." 4 6 . Er galt nun als der unangefochtene Sprecher des Südens. Mehrfach wiedergewählt, blieb Calhoun Senator bis zum 3. März 1843. Allmählich gewann er an nationaler Statur zurück. Während der Amtszeit als Staatssekretär im Kabinett von Präsident John Tyler (1844-1845) betrieb Calhoun die Annexion von Texas zur Wahrung der Balance zwischen Süden und Norden 47. Danach wurde er erneut in den Senat gewählt48. Ihm gehörte er bis zu seinem Tod am 31. März 1850 an49. 44
The Fort Hill Address: On the Relation of the States and Federal Government vom 26.7.1831, publiziert im „Pendieton Messenger" sowie im „New Yorker Courier and Enquirer"; abgedruckt bei Lence (Fn. 39), S. 369 ff. 45 Als das Tarifgesetz von 1828 unter Jackson 1832 nur geringfügig modifiziert wurde, wendete South Carolina die Nullifikations-Theorie an. Am 10.12.1832 warnte Präsident Jackson in der „Proclamation to the People of South Carolina" davor, durch bewaffneten Austritt aus der Union Hochverrat zu begehen. Das von Calhoun bekämpfte Gesetz über den Bundeszwang (Force Bill) ermächtige den Bund, mit militärischer Gewalt die Zölle einzutreiben, senke aber zugleich die Beträge. South Carolina nahm die Nichtigkeitserklärung des Zollgesetzes zurück, erklärte aber wenige Tage später das Zwangsgesetz fur nichtig. 46 Speech on the Revenue Collection (Force) Bill vom 15. und 16.2.1833; abgedruckt bei Lence (Fn. 39), S. 403 ff. (436). Die Rede hielt Calhoun , nachdem er wenige Wochen zuvor als Vizepräsident zurückgetreten und als Senator von South Carolina nach Washington zurückgekehrt war, obwohl ihm ein Verfahren wegen Hochverrats drohte. Die Rede, mit der Calhoun die offene Konfrontation suchte, ist die stärkste seiner gesamten Laufbahn. 47 E. McPherson, Reluctant imperialists: Calhoun, the South Carolinians, and the Mexican War, Baton Rouge 1980. 48 49
Vgl. J. E. Walmsley , The return of John C. Calhoun to the Senate in 1845, 1913.
Die letzte Rede musste der krank und geschwächt im Senat anwesende Calhoun von einem Kollegen verlesen lassen; vgl. Speech on the Admission of California - and the General State of the Union, vom 4.3.1850, abgedruckt bei Lence (Fn. 39) S. 571 ff.
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Je mehr Calhoun mit den Interessen des Südens assoziiert wurde, desto mehr war er gezwungen, die Sklaverei zu verteidigen, die den „Southern Way of Life" generell in Verruf brachte, deren Bekämpfung den wirtschaftlichen Interessen des Nordens einen moralischen Anstrich verlieh und die als Totschlagargument in der Debatte über die State rights eingebracht werden konnte. Bis auf seine weitausholende Rede vom 6. Februar 183750, in welcher er nach dem ersten Bericht die Sklaverei als „great good" 51 , in der berichtigten Fassung die „peculiar institution of the South" als „good" 52 bezeichnete, hielt sich Calhoun zumeist bedeckt. In der thematisch einschlägigen Ansprache im Senat vom 19. Februar 184753 bekannte er sich zwar pathetisch zu seiner Herkunft 54 . In erster Linie ging es Calhoun aber um die verfassungskonforme Machtbalance. Die verheerenden Folgen einer Majorisierung der Südstaaten durch die des Nordens sah er in aller Klarheit 55 . Damit deutete sich bereits die Theorie der konkurrierenden Mehrheiten an, die Calhoun offenbar schon länger umtrieb. In den letzten Lebensjahren widmete Calhoun einen Großteil seiner Arbeitskraft dem Abfassen zweier größerer Schriften. 2. Calhoun hat ein umfangreiches 56, teilweise allerdings schwer zugängliches Werk 57 aus Reden, Aufsätzen, Briefen sowie die Hauptwerke „ A Disquisition 50
Speech on the Reception of Abolition Petitions, abgedruckt bei Lence (Fn. 39), S. 463 ff. 51
Ebd., S. 468.
52
„But let me not be understood as admitting, even by implication, that the existing relations between the two races in the Slaveholding States is an evil - far otherwise; I hold it to be a good, as it has thus far proved himself to be to both, and will continue to prove so i f not disturbed by the fell spirit of abolition", ebd., S. 473. Vgl. auch Works IV, S. 339 ff. Dass Calhoun die Abschaffung der Sklaverei fur die Existenzfrage der Union hielt, lässt sich nicht bestreiten. Gelegentlich wurde er deutlich; vgl. Speech on the Abolition Petitions vom 9.3.1836, Works II, S. 465 ff. (489): „There would be to us but one alternative - to triumph or perish as a people. We would stand alone, compelled to defend life, character and institutions. ... With this impressions I ask neither sympathy nor compassion for the slaveholding States. We can take care of ourselves. It is not we, but the Union which is in danger." 53 Speech on the Introduction of his Resolution on the Slave Question, abgedruckt bei Lence (Fn. 39), S. 513 ff. 54 „ I am a planter - a cotton planter. I am a Southern man and a slaveholder - a kind and merciful one, I tust - and none the worse for being a slaveholder", ebd., S. 520. 55 „Sir, the day that the balance between the two sections of the country - the slaveholding States and the non-slaveholding States - is destroyed, is a day that will not be far removed from political revolution, anarchy, civil war, and widespread disaster" (S. 516). 56 57
Vgl. C. N. Wilson , John C. Calhoun: a bibliography, Westport, CT 1990.
Über lange Zeit stand lediglich die von R. K. Crallé herausgegebene sechsbändige Ausgabe „The works of John C. Calhoun", New York 1851-56 zur Verfugung, die 1968 neu herausgegeben wurde (zit.: Works). 1900 veröffentliche J. F. Jameson Auszüge aus
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on Government" 58 und „ A Discourse on the Constitution and Government of the United States"59 hinterlassen. Beide Schriften ergänzen sich. Der auf die konkreten amerikanischen politischen Verhältnisse bezogene ausführlichere „Diskurs" wird nur verständlich auf der Grundlage der theoretischen Ausführungen der „Abhandlung." In der „Abhandlung" legt Calhoun seine Grundgedanken über den Staat im Allgemeinen nieder. Der „Diskurs" behandelt die Beziehungen zwischen der Union und den Einzelstaaten speziell in den USA. Der Ausgangspunkt der „Abhandlung" 60 zur Allgemeinen Staatslehre entspricht herkömmlichem Verständnis. Der Mensch als ein zur Gesellschaft bestimmtes Wesen61 ist auf den „social state" angewiesen. Dieser wiederum kann ohne „Government" nicht existieren. Denn die Eigeninteressen des Menschen sind grundsätzlich stärker als die Interessen für die Belange der anderen. Das fuhrt zu Konflikten, die mit der Vernichtung des Gemeinwesens enden, sofern keine Kontrollinstanz geschaffen wird. Diese nennt Calhoun „Government", womit er die Staatsgewalt oder den Staat schlechthin meint. Die zur Wahrung der Ordnung erforderlichen Machtbefugnisse 62 müssen von Menschen ausgeübt werden. Menschen neigen zum Machtmissbrauch. Sie daran zu hindern, ist Aufgabe der Verfassung. Die entscheidende Frage der Verfassunggebung lautet: Wie können diejenigen, denen die Staatsgewalt („powers of Government") anvertraut ist, an ihrem Missbrauch gehindert werden? Weil die Einsetzung einer noch höheren Gewalt nur das Problem verschieben 63, eine allzu Calhorns Schriftwechsel als 4. Jahresreport der Historical Manuscript Commission; s. Fn. 34. Einen zweiten Band gaben 1930 Ch. S. Boucher und R. P. Brooks unter dem Titel „Correspondence Adressed to John C. Calhoun", 1837-49 heraus (Sixteenth Report of the Historical Manuscript Commission, Washington, D.C. 1930). Weitere Auswahlpublikationen liegen vor von J. M. Anderson, Calhoun: Basic documents, State College, Pa. 1952; R. M. Lence (Fn. 39), und C. N. Wilson, The essential Calhoun: selections from writings, speeches, and letters, New Brunswick, N.J. 2000. Letzterer ist zusammen mit W. E. Hemphill und R. L. Meriwether von der Universität von South Carolina mit der Veröffentlichung der Gesamtausgabe von Calhouns Arbeiten betraut, die als „The papers of John C. Calhoun" seit 1959 in Columbia S.C. 1959 erscheint (zit. Papers). 58
Zit.: Abhandlung. Der am 14.6.1849 fertiggestellte Text wurde posthum mehrfach veröffentlicht. In der Folge ist der Abdruck bei Lence (Fn. 39), S. 5 ff. herangezogen. 59
Unmittelbar nach Abschluss der „Abhandlung" machte sich Calhoun an die Ausarbeitung des „Diskurses", der lange Zeit nur in Works I, S. 111 ff. greifbar war. Die folgenden Zitate beziehen sich auf den Abdruck bei Lence (Fn. 39), S. 81 ff. 60
Hierzu G. S. Brown , Calhoun's philosophy of politics: a study of A disquition on gouvernment, Macon, Georgia 2000; A. O. Spain , The political theory of John C. Calhoun, 2. Aufl. New York 1968. 61
„Man is so constituted as to be a social being" (Abhandlung [Fn. 58], S. 5).
62
The powers which it is necesssary for government to possess, in order to repress violence and perserve order, cannot execute themselves" (Abhandlung [Fn. 58], S. 9). 63 „This would be but to change the seat of authority, and make this bigger power, in reality, the government" (Abhandlung [Fn. 58], S. 10).
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starke Machtbegrenzung die Staatsgewalt jedoch funktionsunfähig machen würde, schlägt Calhoun organisatorische Vorkehrungen vor, welche die Gewaltunterworfenen in die Lage versetzen, friedlich und effektiv 64 Widerstand zu leisten65. Da mit dem - unerlässlichen - allgemeinen Wahlrecht der Interessenkonflikt zwischen Mehrheit und Minderheit noch nicht beigelegt ist 66 , spricht Calhoun der Minderheit ein Veto-Recht zu (negative power) und ersetzt das numerische Majoritätsprinzip durch ein Prinzip konkurrierender verfassungskonformer Majoritäten. Die Kollision mit dem Gleichheitsprinzip löst Calhoun auf, indem er diesem das Freiheitsprinzip entgegenstellt67. Calhouns politische Laufbahn schließt es aus, ihn als Utopisten einzustufen 68, der glaubte, den Zustand ewigen Friedens durch Interessenausgleich gefunden zu haben. Er wusste, dass selbst ein Individuum letztlich die konkurrierende Mehrheit darstellen kann, wenn nur sein Interesse auf dem Spiel steht. Auch starke Worte 69 und historische Beispiele ändern nichts daran, dass bezogen auf das Staat-Bürger-Verhältnis die Theorie unpraktikabel war. Darauf war sie aber auch gar nicht bezogen. Nicht von ungefähr betreffen die Beispiele das Verhältnis von Patriziern und Plebejern in Rom 70 und die bis auf die Normannische Eroberung zurückgeführten Klassenkonflikte in England71. Letztlich dienen alle die allgemeinen Betrachtungen nur als Überleitungen zur Würdigung der besonderen Verhältnisse der USA im umfangreicheren „Diskurs". Der „Diskurs" besteht aus einem verfassungshistorisch-dogmatischen Teil, der dem Nachweis der den Einzelstaaten vorbehaltenen Rechte dient, einem zweiten Teil über die in der Verfassungsentwicklung angelegten Gefahren eines Aushöhlens der Vor-
64
Abhandlung (Fn. 58), S. 13.
65
„There is but one way in which this (nämlich: how government must be constructed, in order to counteract) can possibly be done; and that is, by such an organism as will furnish the ruled with means of resisting successfully this tendency on the part of the rulers to oppression and abuse" (Abhandlung, [Fn. 58], S. 12). Durch diesen Ansatz gewinnt die Theorie ein dynamisches Element, weil sich die Organisation durch den Verfassungsgeber gestalten lässt. Bei der Schaffung eines Bundesstaats kann beispielsweise der unterschiedlichen Bedeutung der Einzelstaaten Rechnung getragen werden. 66
„The dominant majority, for the time, would have the same tendency to oppression and abuse of power, which, without the right of suffrage, irresponsible rulers would have" (Abhandlung [Fn. 58], S. 20 f.). Zur „absolute democracy" dann näher im Diskurs (Fn. 59), S. 120 ff. 67
„But to go further, and make equality of condition equal to liberty, would be to destroy both liberty and progress" (Abhandlung [Fn. 58], S. 43). 68
So aber E. G. Elliot , Die Staatslehre John C. Calhouns, 1903, S. 33.
69
„It is, then, a great error to suppose that the gouvernment of the concurrent majority is impracticable - or that it rests on a feeble foundation" (Abhandlung [Fn. 58], S. 53). 70
Abhandlung (Fn. 58), S. 68 ff.
71
Abhandlung (Fn. 58), S. 72 ff.
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behaltsrechte durch die Zentralgewalt (federal government) 72 und schließlich einem dritten Teil, in welchem die Theorien der konkurrierenden Mehrheiten und der Staatenrechte verknüpft und daraus die Folgerungen gezogen werden. Im verfassungshistorischen Teil geht Calhoun davon aus, dass die Vereinigten Staaten von 1787 von den einzelnen Staaten ins Leben gerufen worden seien und auf vertraglicher Grundlage beruhten 73. In der Einleitung der Verfassung bedeute „We, the people of the United States" soviel wie „We, the people of the several states of the Union" 74 . Da fundamentales Verfassungsprinzip die Volkssouveränität sei, könne die Souveränität auch nicht in Teilen oder insgesamt auf die (zentrale) Regierung übertragen worden sein, sondern sei in den Einzelstaaten verblieben 75. Die USA sind danach ein „system of governments" 76. Die „United States" und „seperate States" stehen in einem Koordinationsverhältnis 77. Im Einzelnen folgt daraus ein komplexes System78. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Verhältnis der dem Bund übertragenen Rechte und der Vorbehaltsrechte der Einzelstaaten79, bei dem es gilt, die zentripetalen („consolidation") und zentrifugalen („dissolution") Kräfte zu bändigen. Die Verfassungsentwicklung zeigt nach Calhoun eine Tendenz, die delegierten Machtbefugnisse zu Lasten der den Einzelstaaten vorbehaltenen Befugnisse auszudehnen. Die zentrale Frage ist, welche Möglichkeiten die Einzelstaaten haben, dies zu verhindern 80 . Eine Entscheidung des Supreme Court bietet nach Calhoun keinen Ausweg, da keine Garantie bestehe, dass die Beteiligten sich an die Entscheidung
72
Diskurs (Fn. 59), S. 222 ff.
73
Diskurs (Fn. 59), S. 83 ff., 239-264.
74
Diskurs (Fn. 59), S. 93.
75
„ I f then it (seil, sovereignity) is be transferred neither to the one nor the other, it cannot be transferred at all; as it is impossible to conceive to whom else the transfer could have been made. It must, therefore, of course, remain unsurrendered and unimpaired in the people of the several States - to whom, it is admitted, it partained when the constitution was adopted" (Diskurs [Fn. 59], S. 105). 76
Diskurs (Fn. 59), S. 140.
77
Diskurs (Fn. 59), S. 141.
78
„The great, original und primary division, as has been stated, is that of distinct, independent and sovereign States. It is the basis of the whole system. The next in order is, the division into the constitution-making and the law-making powers. The next separates the delegated and the reserved powers, by vesting the one in the government of the United States, and the other in the seperate governments of the respective states, as coordinate governments; and the last, distributes the powers of government between the several departments of each" (Diskurs [Fn. 59], S. 153). 79 80
Diskurs (Fn. 59), S. 160 ff.
„What means the government of a State possesses, to prevent the government of the United States from encroaching on its reserved powers ?" (Diskurs [Fn. 59], S. 170).
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hielten 81 . Folglich müssen die Schutzvorkehrungen der Verfassung in den Vorbehaltsrechten der Einzelstaaten selbst liegen. 3. Die auf Thomas Jefferson zurückgehende Nullifikationstheorie 82 hatte Calhoun schon (anonym) in der „Exposition" von 1831 vertreten, um entsprechende Aktionen in den Südstaaten zu rechtfertigen 81. Im „Diskurs" ist die Theorie aufgegriffen, aber im Vergleich zur „Force-Bill-Rede" 84 nicht weiter vertieft. Sie besagt, dass ein Einzelstaat einem Hoheitsakt des Bundes, der dessen Kompetenzbereich überschreitet und nicht durch eine Verfassungsänderung gedeckt ist, die eigene Hoheitsgewalt entgegensetzen und den Hoheitsakt des Bundes für null und nichtig erklären kann85. 4. Calhouns politisches Trachten war immer darauf gerichtet, die Sezession zu verhindern. Er war sich aber bewusst, dass seine Theorie der State rights das Recht auf Sezession implizierte und musste zur Kenntnis nehmen, dass verschiedene Sezessionsbewegungen sich auf ihn beriefen 86. Er stand daher vor dem Dilemma, seiner eigenen Systematik treu zu bleiben, ohne einen Anreiz zur Sezession zu liefern. Das erklärt es, dass das Recht auf Sezession im Diskurs nur für den Fall der verfassungswidrigen Verfassungsänderung erwähnt wird: „But if it [the federal government; d. Verf.] transcends the limits of the ammending power - be inconsistent with the character of the constitution and the ends for which it was established - or with the nature of the system - the result is 81
Diskurs (Fn. 59), S. 187. Zur Gleichrangigkeit der State Courts S. 227 ff.; Folgerungen S. 269. 82 Der Bezug auf die Kentucky Resolution findet sich in Diskurs (Fn. 59), S. 249. Die maßgeblichen Passagen der „Kentucky und Virginia Resolutions" von 1798 sind wörtlich zitiert bei Elliot (Fn. 67), S. 12. Vollständiger Text bei J. Elliott , The Virginia and Kentucky resolutions of 1789 and '99; with Jefferson's original draught thereof, Washington 1832. 83
E Bancroft, Calhoun and the South Carolina Nullification Movement, Baltimore 1928/Gloucester, Mass. 1966; Ch. S. Boucher , The Nullification Controversy in South Carolina, Chicago 1916; Nullification. Letters on the Nullification Movement in South Carolina, 1830-1834, American Historical Review, Bd. 6 (Juli 1902), S. 736 ff.; Bd. 7 (Oktober 1902), S. 92 ff.; D. Β. Sanger, The Nullification Movement in Georgia, Tyler's Quarterly Historical and Genealogical Magazine 11 (Oktober 1929), S. 94 ff. 84
Vgl. oben Fn. 44, S. 428: „Sir, I consider this bill, and the arguments which have been urged on this floor in its support, as the most triumphant acknowledgement that nullification ist peacefull and efficient, and so deeply intrenched in the principles of our system, that it cannot be assailed but by prostrating the constitution, and substituting the supremacy of military force in lieu of the supremacy of the laws (S. 429). 85 86
Diskurs (Fn. 59), S. 212.
U.B. Phillips, The Course of the South to Secession, New York 1939; ders. n Georgia and State Rights, Annual Report of the American Historical Association 1901, Bd. 2, Washington 1902; H. V. Ames, J.C. Calhoun and the secession movement of 1850, (wiederveröffentlicht) Freeport, N.Y. 1971.
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different. In such case, the State is not bound to acquiescense. It may choose whether it will, or whether it will not secede from the Union." 87 5. Als der Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) Jefferson Davis am 18. Februar 1861 die Inaugurationsrede hielt 88 , konnte er sich noch auf Calhoun stützen. Das nordamerikanische Bundesstaatsverständnis war m.a.W. noch offen. Die Kapitulation von General Robert E. Lee am 9. April 1865 schloss dann für die USA das Recht der Einzelstaaten auf Sezession künftig aus89. Den Thesen Calhouns war der Boden entzogen90. Als Kronjurist des Südens wurde Calhoun zur persona non grata, weil er es gewagt hatte, die „peculiar Institution" der Sklaverei zu rechtfertigen 91. Schon Ende des vergangenen Jahrhunderts galt es als politisch nicht korrekt, sich mit einem derartigen Staatsdenker auseinanderzusetzen. Umso mehr gilt das für die Gegenwart. Das ändert aber nichts an der bleibenden Bedeutung, die Calhouns Gedankengebäude - trotz mancher Wortklauberei und Ergebnisorientiertheit - vor allem für die Bundesstaatstheorie zukommt und schmälert nicht seine Bedeutung als Staatsmann. Eine späte Anerkennung erfuhr Calhoun 1957, als ihn die US-Senatoren als einen der fünf größten Senatoren aller Zeiten ehrten. Auch im deutschsprachigen staatsrechtlichen Schrifttum fand Calhoun zunächst die verdiente Beachtung92. Die Rezeption seiner Thesen durch Max von 87 Diskurs (Fn. 59), S. 212. Weiter heißt es: „That a State, as a party to the constitutional compact, has the right to secede - acting in the same capacity in which it ratified the constitution - cannot, with any show of reason, be denied by any one who regards the constitution as a compact ..." 88
Staatsarchiv Nr. 52, Bd. I, S. 135.
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Nach dem Motto „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen" (C. von Clausewitz , Vom Kriege, 1832, S. 13). 90 Vgl. N.M. Butler, Der Aufbau des amerikanischen Staates, 1927: „Fortan ist der Versuch, sich der Vorherrschaft der nationalen (d.h. Bundesregierung zu entziehen, als Rebellion anzusehen, und aus diesem Grunde ist unter dem politischen System der Vereinigten Staaten weder Nullifikation durch irgendeinen Staat, noch Sezession eines Staates zulässig"; ferner Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 375 (s.a. unten mit Fn. 103); G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971 S. 19 Fn. 34: Die Theorie, ein Einzelstaat könne sich der verfassungsändernden Gewalt des Bundes („amendig power") u.U. durch Austritt aus dem Bund entziehen, ist in den USA seit dem Ausgang des Sezessionskrieges erledigt. 91
Vgl. B. Gujer, Free trade and slavery; Calhoun's defense of Southern interests against British interference, Zürich 1971. 92 Für Deutschland vgl. R. von Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften I, 1855, S. 570 ff.; Brie (Fn. 21), S. 193 ff.; A. Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrecht I: Die vertragsmäßigen Elemente der deutschen Reichsverfassung, 1873, S. 24 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht I, 1892, S. 201; Ebers (Fn. 25), S. 146 ff.; für Österreich Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, S. 188 ff.; für die Schweiz Rüttimann, Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politi-
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Seydel93 erwies sich aber als nachteilig. Nach der Reichsgründung war es politisch indiskutabel, das Reich nur als Staatenbund zu begreifen. Ebenso wollte man sich mit der nur vereinzelt vertretenen 94 fehlenden Staatsqualität der Einzelstaaten abfinden. Der Staatsbegriff musste daher so korrigiert werden, dass er auch auf den Bundesstaat passte, d.h. dass Bund und Glieder gleichzeitig Staaten bleiben konnten95. Dies geschah durch die Trennung von Staat und Souveränität durch Georg Jellinek 96 und Paul Laband97, dessen Kriterium der „eigenständigen Herrschaftsrechte" als eine für alle Beteiligten akzeptable Kompromissformel taugte. Der Bundesstaat war nach h. L. „ein Gesamtstaat, genossenschaftlich zusammengefügt aus einfachen Staaten, die einerseits ihm unterworfen, anderseits an der Bildung seines Willens beteiligt sind" 98 . Neben diesem additiven Verständnis setzten sich ganzheitliche Sichtweisen99 bis hin zum dreigliedrigen Bundesstaat100 nicht durch. Der aus „einfachen" Staaten zusammengefügte Bundesstaat war nur die alte respublica composita, bei der die Möglichkeit des existenziellen Konflikts ignoriert wurde. Bundesstaatliche Krisen, wie sie Calhoun während seiner gesamten Laufbahn zu bewältigen hatte, blieben in der Idylle des Kaiserreichs ausgeblendet. Das änderte sich in der konfliktträchtigen Epoche der Weimarer Republik. Rudolf Smend erkannte, dass ein Bundesstaat nur als einheitliches Integrationssystem existieren kann, wobei der staatliche Charakter von Reich und Ländern eine sehen Einrichtungen der Schweiz, Bd. I, 1867, S.62 ff.; Moll, Der Bundesstaatsbegriff in den Vereinigten Staaten von Amerika, Diss. Zürich 1905, S. 178 ff.; A. Cellier-Borchard, Beitrag zur Lehre von der Souveränität, Diss. Zürich 1937, findet Zugang zu Calhoun nur über die Sekundärliteratur (S. 35), was erklärt, dass sie ihn nicht zitiert, obwohl sie auf S. 134 f. genau seine Position vertritt. 93 Oben Fn. 29; vgl. auch ders., Die neueste Gestaltung des Bundesstaatsbegriffes, Hirths Annalen 1876, 641 ff. 94 Ph. Zorn, Streitfragen des deutschen Staatsrechts, ZStW 37 (1881), 292 ff.; ders., Das StaatsrechT des Deutschen Reichs I, 2. Aufl. 1895, S. 61 f f ; Κ Bake, Beschouwingen over den Statenbond en den Bundsstat, Amsterdam 1881, S. 10 f., 15, 25. 95 Vgl. O. von Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, SchmollersJb 7 (1883), 1097 ff. (1160): „Da der Bundesstaat als ein aus Staaten zusammengesetzter Staat existiert, muss der Staatsbegriff dergestalt gefasst werden, dass er auch in einem solchen Falle anwendbar bleibt." 96
Vgl. Staatenverbindungen (Fn. 92), S. 36 ff.
97
Das Staatsrecht des Deutschen Reiches I, 1876, S. 106; 5. Aufl. 1911, S. 105.
98
G. Anschütz, Deutsches Staatsrecht, in: F. von Holtzendorf/J. Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, Bd. IV, 7. Aufl. 1914, S. 17; ähnlich noch heute Th. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, S. 106. 99 Vgl. Haenel (Fn. 92); von Gierke (Fn. 95); ferner H. Nawiasky, Rechtsbegriff, 1920. 100
Vgl. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 116 ff.
Bundesstaat als
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sekundäre Rolle spielt 101 . Offen bleiben musste die Frage der Souveränität von Bund und Gliedern nicht nur im Bundesstaat, sondern in jedem über ein bloßes Bündnis hinausgehenden Bund nach Carl Schmitt 102 . Für Schmitt ist die Frage der Souveränität die Frage der letzten existenziellen Entscheidung. Für den existenziellen Konflikt lässt sich die Souveränität nicht teilen. Wird sie im Staatenbund den Gliedstaaten zugeordnet, löst sich der Bund im Konfliktsfall auf; wird sie im Bundesstaat dem Gesamtstaat zugeordnet, wandelt sich dieser im Konfliktsfall zum Einheitsstaat. Jedes Nebeneinanderbestehen selbständiger politischer Einheiten ist für Schmitt ein Widerspruch 103. In diesem Zusammenhang beruft sich Schmitt auf Calhoun 104 . Dessen Lehre sei zwar unrichtig, weil sie die Gliedstaaten als souverän, den Bund als nicht souverän hinstelle, was der Eigenart des Bundes ebenso wenig gerecht werde wie die umgekehrte Behauptung. Das Recht der Gliedstaaten auf Nullifikation von Bundesgesetzen und Bundesakten und das Recht zur Sezession hält Schmitt als Voraussetzung eines existenziellen Konflikts hingegen fur unentbehrlich. Andererseits müsse der Bund in der Lage sein, die Durchsetzung seiner Hoheitsakte zu erzwingen und den Zusammenhalt zu gewährleisten. Die Lösung dieser Antinomie liegt für Schmitt in der Homogenität der Bundesmitglieder, die es bewirkt, dass der extreme Konfliktsfall innerhalb des Bundes nicht eintritt 105 . Das Homogenitätsprinzip wurde zum Verfassungsgrundsatz des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Daran knüpfen Vorstellungen des „kooperativen Bundesstaats" an 106 , der den „unitarischen Bundesstaat"107 abgelöst hat. Nach heute üblicher Definition ist der Bundesstaat „eine durch die Verfassung des Gesamtstaates geformte staatsrechtliche Verbindung von Staaten in der 101
Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff. (225, 233, 269, 273). 102
Verfassungslehre, 1928, S. 363 ff.
103
Ebd., S. 373.
104
Die theoretische Bedeutung der Thesen Calhouns „für die Begriffe einer Verfassungslehre des Bundes ist auch heute noch groß und keineswegs dadurch erledigt, dass im Sezessionskrieg die Südstaaten besiegt wurden und dass im Deutschen Reiche der Bismarckschen Verfassung die herrschende Lehre sich mit einigen Antithesen und Schein-Distinktionen von Staat und Souveränität und Staatenbund und Bundesstaat begnügte. Es handelt sich bei den Lehren von Calhoun und Seydel um wesentliche Begriffe der Verfassungslehre eines Bundes, mit deren Hilfe bestimmte politische Gebilde in ihrer Eigenart erkannt werden sollen und deren wissenschaftliches Werk bestehen bleibt, auch wenn ihre Urheber politisch auf der besiegten Seite standen" (ebd., S. 373 f.). 105
Ebd., S. 376.
106
Vgl. Kisker (Fn. 91), 1971; O. Kimminich, HStR I, § 26 Rn. 54 ff.
107
K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. Noch weitergehend sind die gelegentlichen (unzutreffenden) Behauptungen, Deutschland sei in Wirklichkeit ein Einheitsstaat. Vgl. aber H. Ahromeit Der verkappte Einheitsstaat, 1992.
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Weise, dass die Teilnehmer Staaten bleiben oder sind (Gliedstaaten), aber auch der organisierte Staatenverband selbst (Gesamtstaat) die Qualität eines Staates besitzt." 108 Die Souveränitätsfrage wird, da existenzielle Konflikte zwischen Bund und Ländern selbst beim Finanzausgleich ausgeschlossen erscheinen, gleich gar nicht gestellt 109 . Calhouns Lehren werden zur Lösung innerdeutscher bundesstaatlicher Probleme nicht mehr herangezogen. Anders liegen die Dinge auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften 110 und im internationalen Bereich 111 . IV. Folgerungen für den europäischen Staatenverbund 1. Auch die Europäische Union muss sich nach wie vor an den überkommenen Kriterien der Staatlichkeit messen lassen112. Danach entspricht sie gegenwärtig nicht dem Typ des Völkerrechtssubjekts Staat113. Man kann zwar mit guten Gründen behaupten, dass die Kriterien des Staatsgebiets und Staatsvolks bereits auf Gemeinschaftsebene erfüllt sind 114 . Das rechtfertigt jedoch allenfalls die Annahme von Para-Staatlichkeit, aber eben nicht von souveräner Staatlichkeit. Die für die Staatlichkeit letztlich ausschlaggebende Staatsgewalt muss in ihrer Substanz den Mitgliedstaaten verbleiben. Zwar können die staatlichen Aufgaben in einer Staatengemeinschaft mehr oder weniger geteilt oder verschränkt werden. 108 Ch. Degenhart, Staatsrecht I, 15. Aufl. 1999, Rn. 84; H Maurer, Staatsrecht, 1999, § 10 Rn. 1. 109 Vgl. nur R. Herzog, in: Th. Maunz/G. Degenhart (Fn. 108).
Dürig, Grundgesetz, Art. 20 IV Rn. 9;
110 G. Butt, Democrazia e federalismo: John C. Calhoun, Messina 1988; Massimo L. Salvadori, Potere e libertà nel mondo moderno: John C. Calhoun: un genio imbarazzante, Rom 1996. 111 A. Thakur, The political behaviour of John C. Calhoun and Mohammad Ali Jinnah, New Delhi 1996. 112 Zum Diskussionsstand in den Nachbarwissenschaften Th. Diez, Neues Europa, altes Modell: Die Konstruktion von Staatlichkeit im politischen Diskurs zur Zukunft der Europäischen Gemeinschaft, 1995; L. V. Marjocchi, La difficile consunzione dell 4 unità europea, Mailand 1996; M. Wind, Europe towards a post-Hobbesian order? a costructivist theory of European integration; or how to explain European integration as an unintended consequence of rational state-action, San Domenico, 1996. 113 Vgl. zuletzt Ch. Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, 1999, S. 75 ff. Ferner H. Steinherger/ E. Klein/D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 10 ff. (16 ff.); 56 ff. (58 f.); 101 ff. (122 ff.); M. Hilf/Th. Stein/M. Schweitzer/D. Schindler, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), 8 ff. (22 f.); 26 ff. (28 ff.); 48 ff. (49 ff.); 70 ff. (78 ff.). 114
So Busse (Fn. 113); kritisch M. Rechtstem in der Besprechung der Schrift (DÖV 2000, 260). Nach BVerfGE 89, 155 (186) besitzt die Unionsbürgerschaft (noch) nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte. 6 FS Oppermann
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Beim existenziellen Konflikt führt eine noch so differenzierte Funktionsabgrenzung aber nicht weiter. Insofern hat sich seit Bodin, Pufendorf und Calhoun nichts geändert: „Sovereignty is an entire thing - to divide, is - to destroy it." 1 1 5 Der existenzielle Konflikt ist gegeben, wenn die Mitgliedstaaten Rechtsakte der Union befolgen sollen, die sie fur gemeinschaftsrechtswidrig, verfassungswidrig oder existenzgefahrdend halten. Dann kommt es auf die Möglichkeit der Nullifikation und Sezession an. 2. Von der Nullifikation gemeinschaftsrechtlicher Hoheitsakte zu sprechen, erscheint auf den ersten Blick befremdlich. Zum einen ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Ansatz unbestritten 116 (Kriegsschauplatz ist die Vollzugsebene, wo Effektivierungswünsche 117 durch Perfektionierungswahn konterkariert werden). Zum anderen besteht mit dem Europäischen Gerichtshof eine höchste Instanz zur Streitschlichtung. Jedoch ist der Europäische Gerichtshof eine gemeinschaftliche Einrichtung, der es letztlich daran gelegen sein muss, die Unitarisierung voranzutreiben. Er kann zwar zur föderalen Machtbalance beitragen 11H , ist aber nicht zur Entscheidung des existenziellen Konflikts berufen. Seine Rechtsfindungsaufgabe beschränkt sich auf das „richtige Gemeinschaftsrecht" 119 . Die authentische Interpretation der nationalen Verfassungen ist allein Aufgabe der nationalen Verfassungsgerichte. Was den Vorrang des Gemeinschaftsrechts angeht, so handelt es sich nur um einen Anwendungsvorrang 120, der die Geltungskraft nationaler Verfassungsnormen nicht beseitigen kann 121 . Art. 79 Abs. 3 GG (i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) hebt den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf 122 . Zumindest das müssen die Kritiker der Maastricht115
Diskurs (Fn. 59), S. 105.
116
Oppermann (Fn. 1), Rn. 615 ff. M. Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht-wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), 155 ff. sucht nur nach Wegen zur Vermeidung von Kollisionen. 117 W. Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht - Formen und Grenzen eines effektiven Gemeinschaftsrechtsvollzugs und Überlegungen zu seiner Effektuierung, 1997. 118
A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik: der Einfluss des EuGH auf die föderale Machtbalance zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, 1997. 1,9 Vgl. auch O. Suviranta, Das „richtige" Gemeinschaftsrecht und seine Verwirklichung in der mitgliedstaatlichen Verwaltung, VerwArch. 88 (1997), 439 ff. 120
Vgl. nur EuGH, Urteil vom 29.4.1999 - Rs.C 24/97, EuZW 1999, 405.
121
Vorsichtig Oppermann (Fn. 1), Rn. 634. Zur vieldiskutierten Gesamtthematik M. Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, 1996, S. 14 ff. 122 Dies nicht nur im Interesse des Grundrechtsschutzes, bei dem die Gefahr besteht, dass die Akzente falsch gesetzt werden. Die „Solange"-Spielereien (vgl. hierzu nur R. Streinz, Bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989) dürften angesichts der Fortschritte bei der europäischen Grundrechteentwicklung Schnee von gestern sein (vgl. nur EuGH, Urt. vom 11.1.2000 - Rs. C285/98, DVB1. 2000, 336). Die Pflicht zur Rückforderung gemeinschaftswidrig geleiste-
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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts akzeptieren 1 2 3 , die ganz eindeutig der Nullifikations-Theorie folgt 1 2 4 . Bei Calhoun hätten sie lernen können 1 2 5 , dass die Nullifikation ein Notbehelf ist, u m auch bei existenziellen Konflikten den Fortbestand der Union zu sichern. 3. Für die Diskussion, ob die europäische Gemeinschaft sich auf dem Weg zu einem Bundesstaat befindet, ist auf Folgendes hinzuweisen: Seit dem Ausgang des amerikanischen Sezessionskriegs herrscht die Auffassung vor, dass der Bund durch seine Gliedstaaten nicht aufgelöst, sondern höchstens gewaltsam zerbrochen werden kann 1 2 6 . Der Sicherheit der politischen und staatsrechtlichen Einheit dient die Bundesexekution. Diese kommt der Europäische Union nicht zu. Nach überkommenem Verständnis gibt es daher gar keine andere M ö g l i c h keit, als die Europäische U n i o n als Staatenverbund zu klassifizieren 1 2 7 . Die Maastricht-Entscheidung akzeptiert die Sezessions-Lösung Calhouns 1 2 8 . Udo D i ter Beihilfen fuhrt noch nicht zu einem existenziellen Konflikt; überzogen R. Scholz, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht. Zur Rechtsprechung des EuGH im Fall „Alcan", DÖV 1998, 261 ff.; zutreffend dagegen BVerwG, NJW 1998, 3728. Der Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG kollidierte immer schon mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; zur Thematik auch J. Suerhaum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts am Beispiel der Rückabwicklung gemeinschaftswidriger staatlicher Beihilfen, VerwArch. 91 (2000), 169 ff. Grundlegender demgegenüber R Kirchhof, in: HStR VII, § 183 Rn. 58 f. 123
Aus dem umfangreichen Schrifttum E. Pfran, Das Verhältnis zwischen europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Recht nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: eine Studie zu den Konflikten beider Rechtsordnungen auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes und der Kompetenzen, 1997. 124
BVerfGE 89, 155 (188): „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie der dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen ...". 125
Auf Calhoun bezieht sich ausdrücklich Kisker, VVDStRL 50 (1991), S. 173 mit dem Hinweis, dass die State-Right-Doctrine bekanntlich in einen Bürgerkrieg geführt habe: „Soweit wird es in Europa wohl kaum kommen, zumal Präsident Delors, anders als Präsident Lincoln, vorläufig (!) noch nicht einmal über eine ,Eingreiftruppe 4 verfugt. - Rechtsdogmatisch sind wir wohl auch besser dran als John C. Calhoun , der es mit Übergriffen der Zentralstaatsgewalt in einem Bundesstaat zu tun hatte. Ein Recht der Subsysteme auf Interposition ist innerhalb eines ,Zweckverbands 4 gewiss leichter zu begründen als innerhalb eines Bundesstaates." 126
O. Koellreutter,
Staatslehre im Umriss, 1955, S. 128.
127
BVerfGE 89, 155 LS 3a „Verbund demokratischer Staaten"; zum Staatenverbund S. 185, 188, 190 sowie den Beitrag von Paul Kirchhof m dieser Festschrift. 128
6*
BVerfGE 89, 155 (190): „Deutschland ist einer der ,Herren der Verträge', die ihre
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Fabio hat sie auf den Punkt gebracht: „Im Staatenverbund ist souverän, wer das Recht des Austritts besitzt. Und das besitzen immer noch die Mitgliedstaaten ..., nichts anderes bedeutet die Faustformel, die Mitgliedstaaten seien die Herren der Verträge. Im Bundesstaat dagegen ist souverän, wer Herr der Verfassung ist, wer notfalls (Bundes-)Zwang anwenden darf, um die Verfassung durchzusetzen." 129 4. Wem somit als Fernziel der Europäische Bundesstaat130 vorschwebt, der muss sich darüber im Klaren sein, dass dann nach herrschendem Bundesstaatsverständnis ein Geltungsvorrang des Gemeinschafsrechts und ein gänzlicher Ausschluss der Auflösungsmöglichkeiten der EU unvermeidbar sind, es sei denn, man schließt sich dem Bundesstaatsverständnis Calhouns an, gibt dann aber in Wahrheit die Souveränität des Gesamtstaats preis 131 . Oppermann hält seine „para-staatliche" Konstruktion der EU folgerichtig durch und erkennt - etwas enger als das Bundesverfassungsgericht - Gründe für eine gänzliche oder teilweise Auflösung der EU in „unvorhersehbaren, völlig extremen Ausnahmesituationen an" 132 . Damit ist die Lösung angedeutet: Auf dem Weg zur europäischen Staatlichkeit ist der „Point of no return" noch nicht erreicht. Er muss unerreichbar bleiben. Der Weg ist das Ziel. In der „Normallage" ist die Souveränität in der Schwebe.
Gebundenheit an den ,auf unbegrenzte Zeit' geschlossenen Unions-Vertrag (Art. Q EuV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten". Ähnlich äußerte sich-der k.u.k. österreichische Gesandte zu der in Art. 5 der Wiener Schlussakte von 1820 vorgesehenen Unauflösbarkeit des Deutschen Bundes: „Die Zeit, die Cultur der Menschheit, kennt keinen absoluten Grenzpunkt; so wollen auch Wir das Gebäude unseres teutschen Bundes für heilig, aber nie für geschlossen und ganz vollendet halten", zit. nach Johann Ludwig Klüher, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, 1840, S. 118. 129
Das Recht offener Staaten, 1998, S. 124.
130
Die europäische Föderation mit geteilter Souveränität ist eine dogmatische Luftblase. Soll sie mehr sein als der bestehende Staatenverbund, läuft sie trotz aller Gegenbeteuerungen auf einen Bundesstaat hinaus. Im europäischen Ausland stieß die Rede von Außenminister Fischer vor der Berliner Humboldt-Universität vom 12.5.2000 „Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" auf Skepsis. Es ist davon auszugehen, dass der Außenminister nicht einmal als Privatmann an eine europäische Eingreiftruppe (mit deutscher Beteiligung) zur Durchsetzung der Bundesexekution gegenüber austrittswilligen Mitgliedstaaten (beispielsweise Österreich) gedacht hat. 131
Die „gemeinsame Ausübung ihrer Souveränität" (BVerfGE 89, 155, 189) bedeutet keine Teilung der Souveränität. 132
Fn. 1, Rn. 219.
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V. Schlussbetrachtung Die Erweiterung der gemeinschaftlichen Hoheitsrechte - sei es durch Ausweitung der Normierungskompetenzen oder Intensivierung der Vollzugsverschränkungen 133 - und die damit verbundene sukzessive Ausgestaltung der EU in Annäherung an einen Bundesstaat darf die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten nicht beseitigen. Die Staatlichkeit Deutschlands in der Europäischen Union 134 hängt jedoch nicht von der Summe der verbliebenen Hoheitsrechte im Detail ab, sondern von den realen Möglichkeiten, Rechtsakte der Europäischen Union nicht anzuerkennen und den Austritt zu erklären. Diese Möglichkeiten sind theoretisch gegeben. Ein echter Bundesstaat kann erst entstehen und hat nur Bestand, wenn der theoretisch mögliche existenzielle Konflikt praktisch ausgeschlossen ist. Für den europäischen Staatenverbund gilt das in gleicher Weise. Der praktische Ausschluss existenzieller Konflikte setzt unter Wahrung der überkommenen nationalen Identitäten135 eine weitgehende Homogenität der Mitgliedstaaten in Grundsatzfragen voraus 136 . Für die Zukunft gilt es, unter Berücksichtigung der historischen Erfahrungen 137 die Vorkehrungen zu perfektionieren, die diesem Zweck dienen. Wichtiger als eine Klassifizierung der Europäischen Union ist es, die Elemente der (Para-)Staatlichkeit des europäischen Staatenverbunds herauszuarbeiten 138. Dies ist eine Aufgabe, der sich Thomas Oppermann schon immer unterzogen hat. Auch weiterhin erhoffen wir von ihm reichen Erkenntnisgewinn.
133
Vgl. auch G. Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat: Rechtsfragen der vollzugsföderalistischen Gesetzesverwirklichung am Beispiel des schweizerischen Bundesstaates unter vergleichender Berücksichtigung der Rechtsverwirklichungsstrukturen in der Europäischen Gemeinschaft, 1996. 134
S. Jeckel, Die Staatlichkeit Deutschlands in der Europäischen Union aus verfassungsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 1997. 135 Zu pessimistisch R.-L. Weinacht, (Hg.), Concordia discors - Europas prekäre Eintracht, 1996. Vgl. auch C.-D. Ehlermann, Increased differentation or stronger uniformity?, San Domenico 1995. 136
Vgl. S. Kirsch, Homogenität freiheitsorientierter Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, 1995. 137 Vgl. auch M. Kuschnick, Integration in Staatenverbindungen vom 19. Jahrhundert bis zur EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1999; A. Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfassung von 1871: vom dualen zum transnationalen Föderalismus, 1999. 138 Vgl. E Cromme, Spezifische Verfassungselemente des Staatenverbundes: Bausteine für die Europäische Union, 1997.
Multiethnische Demokratie Das Beispiel Bosnien-Herzegowina Von Wolfgang Graf Vitzthum*
Thomas Oppermann bewies sein Interesse fur ethno-politische Konflikte und ihre Völker-, europa- und verfassungsrechtliche Hegung frühzeitig am Beispiel des Zypern-Problems 1 . Seine erste, wenig Optimismus ausstrahlende Analyse brachte er drei Jahrzehnte später à j o u r 2 . Einzig i m Wunsch der Türkei nach EG-Mitgliedschaft sah er nun eine gewisse Chance, aus der verfahrenen Situation herauszukommen: „According to Greek statements, Greece w o u l d only be prepared to consent to this [Turkey's desire to j o i n the EC] on the basis o f an agreed solution to the Cyprus problem". Seit der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der vor 26 Jahren geteilten Insel und der jüngst auch dem N A T O - M i t g l i e d Türkei eröffneten EUPerspektive 3 steht dieses Thema nun hoch oben auf der Agenda Europas. Die * Für wertvolle Hinweise danke ich G. Lehmbruch (Konstanz / Tübingen), P. Neussl (Sarajewo) und /. Winkelmann (Berlin/Sarajewo). Die Verantwortung fur die Bewertung der Informationen liegt allein bei mir. 1 Stichwort „Zypern", in: K. Strupp/H.J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, 1962, S. 899 ff. - Nach der Verfassung der Republik Zypern von 1960 war das Staatsoberhaupt griechischer, der Vizepräsident türkischer Volkszugehörigkeit (beide besaßen ein partielles Vetorecht). Die Kabinettsposten, Abgeordnetensitze und höheren Verwaltungsämter waren im Verhältnis 7 : 3 mit Angehörigen des griechischen und türkischen Bevölkerungsteils zu besetzen (Streitkräfte 6:4), die Wahlen nach getrennten Listen durchzuführen. Zur seitherigen Entwicklung G. von Laffert, Die völkerrechtliche Lage des geteilten Zypern und Fragen seiner staatlichen Reorganisation, 1994; Z A / . Necatigil, The Cyprus Question and the Turkish Position in International Law, 2. Aufl. 1998; Κ. Chiysostomides , The Republic of Cyprus, 1999. 2 „Cyprus", in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Instalment 12 (1990), S. 76 ff. (jetzt in: EPIL I, 1992, S. 923 ff.). Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts hätten große Meinungsunterschiede darüber bestanden, „as to what type of political equality there should be in a future Cyprus composed of Greek and Turkish parts. The Greek side tends to favour a strong central State and the island's Turks lean towards a more confederal arrangement." 3 Im Dezember 1999 wurde auf dem EU-Gipfel in Helsinki beschlossen, die EU auf 27 Mitglieder zu vergrößern und der Türkei den Kandidatenstatus anzutragen. Bereits 1994 hatte der Rat beschlossen, daß Zypern und Malta bei der nächsten Erweiterung aufgenommen werden sollten.
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Lösung dürfte in einer binationalen Staatskonstruktion liegen, deren normativer Kern an die Verfassung von 1960 anknüpft 4. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass der Wunsch Zyperns und der Türkei, der Vorteile EU-Europas teilhaftig zu werden, der Insel dereinst eine Staatenverbund-Lösung teils konföderaler, teils föderaler Natur schenkt5. Das Zypern-Problem illustriert die rechtspolitische Notwendigkeit, bei bestimmten Lagen - z.B. in Mehrvölkerstaaten oder in Gebilden mit einer Vielzahl identitätsstarker Minderheiten - vom Modell des monoethnischen National- zu dem des multiethnischen Nationalitätenstaates überzugehen. Dabei kann die Gestaltung eines Minderheiten- oder Multiethnienstaates6 mit den gängigen Formen demokratischer Einigung und Legitimation kollidieren und nach spezifischen Einschränkungen der A/eAr/ze/teentscheidung fragen lassen. Nicht diese Zypern-Fragen und die generellen Demokratiethemen sollen uns freilich zu Ehren des Jubilars beschäftigen, sondern die speziellen Demokratieprobleme Bosnien-Herzegowinas (BiH). Angesichts der Unversöhnlichkeit seiner wichtigsten Bevölkerungsgruppen weist dieser Staat im teils muslimischen, teils griechisch-orthodoxen, teils römisch-katholischen Zentrum Südosteuropas und des Balkans (hier kreuzen sich seit dem vierten Jahrhundert nach Christus die Grenzlinien zwischen Ostrom und Westrom, zwischen Katholizismus und Orthodoxie bzw. Islam - kompliziert noch durch eine innerbalkanische Wanderungsbewegung in der Türken-Zeit) noch komplexere Probleme politischer Einheitsbildung und demokratischen Regierens und Legitimierens auf als die im Wesentlichen „nur" griechisch-türkische Insel vor Kleinasien. Bei der Beschreibung und Bewertung des bosnisch-herzegowinischen Experiments einer vom Gegen- und Durcheinander verschiedener Ethnien in problema4
Die Gesamtordnung war auf den beiden Volksgruppen („communities") aufgebaut. Die Minister wurden vom („griechischen") Präsidenten bzw. („türkischen") Vizepräsidenten ernannt. Viele Befugnisse konnten beide nur zur gesamten Hand ausüben. Vgl. Chr. Rumpf Die staats- und völkerrechtliche Lage Zyperns, EuGRZ 1997, 533 ff. 5
Die griechischen Zyprioten halten am Status quo der (freilich in bedenklicher Weise „fortgeschriebenen") Verfassung von 1960 fest. Türkisch-Zyprioten, die dort leben, können weder wählen noch wird offenbar ihr im Pass stehender Nachname anerkannt. Alle Neu-Siedler aus der Türkei, deren Zahl im Norden die der Türkisch-Zyprer mittlerweile u.U. bereits überschreitet, sollen zurückkehren, die beiden Landesteile in einer unitarischen Föderation zusammengeführt werden. Der Norden („Wir sind ein Partner, keine Minderheit") besteht demgegenüber auf einer Konföderation. 6
Ethnisch-nationale und staatsnationale Konzepte sind auseinanderzuhalten. Umfasst ein Gemeinwesen mehrere gleichberechtigte Völker, handelt es sich um einen Nationalitätenstaat. Konstituiert demgegenüber ein Volk im ethnischen Sinne einen Staat, liegt ein Nationalstaat vor. Letzteres wird in einer EU-27 dereinst nur noch eine Minderheit der Mitgliedstaaten sein. Die EU wird dann im doppelten Sinne ein multiethnisches Gebilde sein, ein Nationalitätenverbund. Dies braucht, solange das Gebot demokratischer Gleichheit und menschenrechtlicher Gewährleistung gewahrt bleibt, kein Nachteil zu sein.
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tischer Weise geprägten Demokratie werden Hinweise auf das Beispiel Zypern hilfreich sein, aber etwa auch ein gelegentlicher B l i c k auf die Schweiz 7 , den Libanon oder Südafrika. Bosnien-Herzegowina, von 1878 bis 1918 unter Habsburger Hoheit 8 , interessiert darüber hinaus i m Hinblick auf die künftige Zuordnung der palästinensischen Autonomiegebiete und Jerusalems sowie auf etwaige Staatsreformen, wie sie z.B. für den Sudan, für Tanzania, Nigeria, Somalia, Indien, Sri Lanka, Indonesien, Malaysia oder die Philippinen im Gespräch sind. Vor allem fasziniert das BiH-Demokratieexperiment wegen der künftigen Strukturen der EU. Insofern knüpft unser Thema an das Opus magnum des Jubilars, sein Lehrbuch „Europarecht" (2. Aufl. 1999) an. D e r - e t w a s - j ü n g e r e 7 Am 1.2.1985 schloss Oppermann, damals Vizepräsident der Universität Tübingen, einen Kooperationsvertrag mit der Universität Freiburg i. Ue. In der Folge erleichterte dies Dutzenden Tübinger Studierenden und Professoren den Weg in diesen zweisprachigen, zunehmend auch bikonfessionellen Kanton. Diese Kooperation erreicht freilich noch nicht die Intensität der älteren Jumelage mit Aix-en-Provence, für die jahrelang der Jubilar, u.a. erfolgreich flankiert durch unseren Kollegen Hans v. Mangoldt, verantwortlich zeichnete. Beispiele für die Forschungskooperation sind W. Graf Vitzthum /Cl Imperiali (Hrsg.), La protection régionale de Γ environnement marin — approche européenne, 1992, und Université Aix-Marseille/Universität Tübingen (Hrsg.), La coopération franco-allemande en Europe à l'aube du XXIe siècle, 1998. - Die deutsch-französischen, israelisch-palästinensischen und deutsch-tschechischen Beziehungen haben Oppermann stets interessiert, einschließlich des Wunsches der Völker, innerhalb ihres kulturellen Raumes ihre Identität zu wahren (vgl. ders., Über Gebietsänderungen der Staaten Bulgarien, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn in den Jahren 1938-1944 / 45, in: H. Hecker [Hrsg.], Praktische Fragen des Entschädigungsrechts, 1958, S. 81 ff.). Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach drei Kriegen, zumal das Verblassen der Relevanz von ethnischen und territorialen Fragen, könnte ein Beispiel für ganz Europa sein. Ob Vergleichbares dereinst auch auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien möglich sein wird? 8
Die Berliner Kongressakte vom 13.7.1878 (Art. X X V ) übertrug Österreich-Ungarn ein provisorisches Mandat zur Verwaltung von Bosnien-Herzegowina. Die Souveränität des Sultans (bzw. des Osmanischen Reichs) blieb aufrechterhalten. Großbritannien hatte sich ebenfalls nur das Recht der Verwaltung der osmanischen Insel Zypern gesichert (im bilateralen Vertrag mit der Pforte vom 4.6.1878). - In beiden Fällen handelte es sich nicht um eine verschleierte Form der Zession oder des derivativen Erwerbs. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas erfolgte erst am 6.10.1908. Durch Vertrag mit der Türkei („Entente-Protokoll") vom 26.2.1909 wurde die Völkerrechtswidrigkeit dieses Coups saniert, der Rechtstitel des Gebietserwerbs der Donaumonarchie, die der Türkei 2,5 Mio. Pfund zahlte, also hergestellt. - Das Osmanische Reich hatte auf dem Berliner Kongress das Ausscheiden Serbiens anerkennen müssen. Auch Bulgarien, Montenegro und Rumänien verließen den Staatsverband. Der Zerfall der Donaumonarchie, eines multikulturellen Großreiches, brachte am 1.12.1918 das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen hervor, ab 1929 „Königreich Jugoslawien" genannt (ab 1941 dann deutsch-italienische Besatzung). Die Grenzen etwa Kroatiens (Königreich, Provinz oder Republik) haben, im Unterschied zu denen Bosnien-Herzegowinas, allein in den letzten 100 Jahren häufig gewechselt.
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Fakultätskollege und Freund9 hofft, für die Bearbeitung der 3. Aufl. nachfolgend einige Hinweise geben zu können, auch im Hinblick auf die Rückkehr, ja die offensichtliche Unentbehrlichkeit von Nationalstaaten für den Schutz von Menschenrechten und die Entfaltung einer lebendigen Demokratie - eine Rückkehr auf den ersten Blick ins 19. Jahrhundert, der aber zur gleichen Zeit die die klassischen Souveränitätsvorstellungen überwindende, zukunftsweisende Integration der europäischen Staaten gegenübersteht. An keinem Beispiel lässt sich diese Gleichzeitigkeit von traditioneller intergouvernementaler Kooperation und neuartiger supranationaler Integration derzeit besser beobachten als an dem staats- und demokratiebildenden Aufarbeiten der postjugoslawischen Tragödie, zumal in BiH. Um Genesis, Besonderheit und etwaigen Reformbedarf dieses ethnisch programmierten und entsprechend verkürzten Demokratiemodells zu charakterisieren, bedarf es zunächst der empirischen und historischen Befundnahme (unten I.). Danach interessiert die Verfassung von Bosnien-Herzegowina (BiHV), vor allem der von ihr konstituierte föderale Vielvölkerstaat (II.). Der multiethnischen Demokratie vor Ort - einer asymmetrischen Proporzstruktur unter Eingriffsvorbehalt der Staatengemeinschaft - gilt die zentrale Aufmerksamkeit (III.). Hinweise auf vergleichbare Konstruktionen (IV.) und die Frage nach der Zukunft des sich ggf. zum institutionalisierten Europa öffnenden BiH-Experimentes runden das Bild ab (V.). I. Ende 1995 durch das Friedensabkommen von Dayton 10 in die derzeitige Verfassung gebracht, zerfällt der Mehrvölkerstaat BiH in zwei Landesteile, „Entitäten" genannt. Die Zusammenarbeit im Dreieck Gesamtstaat — Landesteile funktioniert nicht. Prinzipien bündischer Kooperation sind so unbeachtet wie die Grundregeln des parlamentarischen Regierens. Die beiden durch eine nicht näher markierte Inter-Entity Boundary Line getrennten Teilstaaten sind stark, das gemeinsame Dach und die gesamtstaatlichen Institutionen schwach. BiH besitzt 9
Vgl. den dem Jubilar zum 60. Geburtstag gewidmeten Beitrag „Aquitoriale Souveränität. Zur Rechtsentwicklung bei den inneren Gewässern", VB1BW 1989, 121 ff. - Der Vergleich der bosnisch-herzegowinischen Strukturen mit denen anderer Mehrvölkerstaaten findet seine Grenze bereits darin, daß für BiH bisher vor allem (wie für andere südost- und früher auch osteuropäische Länder) das Problem der kulturellen Gemengelage (mit Mischsiedlung) zu bewältigen war. Nur bei relativ geschlossenen ethnisch-kulturellen Siedlungsgebieten (z.B. der Schweiz) liegen territorial-föderative Lösungen nahe (s.u. IV.). 10
I L M 35 (1996), 75 ff. Vgl. auch OHR (Hrsg.), Bosnia and Herzegowina. Essential Texts, 2. Aufl. 1998, S. 16 ff.; Ο. Dörr, Die Vereinbarungen von Dayton/Ohio, ArchVR 35 (1997), S. 129 ff.; P. Gaeta, The Dayton Agreement and international law, EJIL 7 (1996), S. 147 ff.; E. Sarcevic, Die Schlussphase der Verfassungsgebung in Bosnien und Herzegowina, 1996.
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de facto drei ethnisch unterschiedlich zusammengesetzte Armeen. Vor einem „völkischen" Freund-Feind-Hintergrund 1' und einer faktischen Fragmentierung des Staates erweisen sich die Grundregeln der Mehrheitsdemokratie als kaum anwendbar. Auch die Rechtspflege liegt darnieder. Die Traditionen des Kommunismus und des Nationalismus bestimmen noch immer bzw. erneut die meisten Denk- und Handlungsmuster. Vielen Politikern fehlt das Verantwortungsbewusstsein. Die Masse der Bürger fühlt sich ausgeliefert, uninformiert. Die Zahl der Auswanderer nimmt zu, gerade unter den Jüngeren, besser Ausgebildeten. 300 nach dem Krieg in Krisenregionen wieder aufgebaute Häuser wurden allein im Jahr 2000 von neuem zerstört. Eine Zivilgesellschaft besteht bestenfalls in ersten Ansätzen12. Seit seiner Gründung ist der Gesamtstaat wie gelähmt. Ein Hoher Repräsentant der Staatengemeinschaft (HR), 20.000 SFOR-Soldaten und ein internationales Polizeikontingent (konkret: UNMIBH mit der Polizeikomponente 1PTF) haben das letzte Wort, nicht das dreiköpfige Staatspräsidium oder die beiden Kammern des gesamtstaatlichen Parlaments, nicht der kompetenzarme Ministerrat oder der u.a. mit dem Aixer Kollegen und Tübinger Ehrendoktor Louis Favoreu besetzte, um die Akzeptanz und Implementierung seiner Urteile ringende Verfassungsgerichtshof 13. Fast am wichtigsten ist der „Dayton" extensiv interpretierende Friedensimplementierungsrat. Er besteht aus 55 Regierungen und Organisationen, die den Friedensprozess lenken und unterstützen - entweder finanziell, über die Bereitstellung von Soldaten für die SFOR-Mission, oder als in Bosnien engagierte Akteure wie die ubiquitäre OSZE mit ihren Wahl-, Massenmedien- und Aufbauexperten 14. 11
Er lässt jede Volksgruppe nur ihr eigenes unverhandelbares „nationales Interesse" verteidigen (wie etwa der Hohe Repräsentant feststellt), sieht also in den vorhandenden Konflikten nicht „teilbare" Gegensätze. Letzteres, also die Bereitschaft zum Kompromiß, ist eine Voraussetzung für jedes parlamentarisch-demokratische Regieren. 12
Die Situation in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg kann kein Modell für den Wiederaufbau von BiH liefern, wohl aber einige Bezugspunkte. Dazu gehören die Grundentscheidungen für Demokratie, Rechtsstaat und eine marktwirtschaftliche Ordnung, also die Weichenstellung für Volkssouveränität (nicht: Völkersouveränität), offenen Marktzutritt und -austritt, Privateigentum, Vertragsfreiheit und Leistungsanreize für Kapitalbildung. Hinzu kommen müsste heute eine verstärkte Privatisierung, eine verbesserte Technikakzeptanz und ein Ausbildungssystem auf allen Ebenen, das der Tatsache Rechnung trüge, dass immer mehr Eigenverantwortung gefordert wird. 13
Vgl. L. Favoreu, La Cour constitutionelle de Bosnie-Herzégovine, in: Mélanges P. Gélard, 1999, S. 273 ff. - Das BiH-Verfassungsgericht wird von Deutschland finanziell großzügig gefördert. 14
Der Versuch lokaler Politiker, Richter und Polizisten, die Umsetzung der DaytonInstrumente zu verhindern, bestimmt Teile der Verfassungswirklichkeit. Nahezu täglich demonstrieren die politischen Klassen der drei Religions- bzw. Volksgruppen, also der muslimischen, serbischen und kroatischen Bosnier, wie stark viele von ihnen noch immer ihren ethno-nationalen Kriegszielen und territorialen Aspirationen nachhängen.
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Setzt man diese empirische Befundnahme 15 fort, ist festzuhalten: Fast jeder zweite BiH-Bewohner ist arbeitslos. Das Bruttosozialprodukt hat, auch wegen des Kosovo-Konfliktes (Einbruch um drei Prozent), erst sechzig Prozent des ohnehin extrem niedrigen Vorkriegsniveaus erreicht. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 300 (serbische Teilrepublik) bzw. 400 Mark (bosnisch-kroatische Teilrepublik). Verminte ehemals umstrittene Frontverläufe blockieren den Wiederaufbau. Die Zahl der Minderheitenrückkehrer ist klein. Wer will schon in ein mittlerweile von einer anderen Bevölkerungsgruppe beherrschtes Gebiet zurückgehen? Das wechselseitige Misstrauen ist übermächtig. Jede Volksgruppe ist Täter und Opfer zugleich. Die „balkan-typische" Neigung, politische Konflikte durch Gewalt zu „lösen", ist offenbar ungebrochen. Ein interethnischer Dialog, notwendig, um die Probleme anzupacken, findet kaum statt. Der Bürgerkrieg mit Tod, Raub und Vertreibung hat sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben. Viele Menschen sind traumatisiert. Ein Viertel aller Kinder haben nur einen Elternteil oder sind Vollwaisen. Nach wie vor ist die ganze Region, der die Blutrache nicht fremd ist, instabil, aufgewühlt von ethno-politischen Konflikten. Eine sichtbare, robuste Präsenz der Friedenstruppen dürfte noch für mehr als ein Jahrzehnt nötig sein. Die Consulting-Fachleute vor Ort sind überzeugt: Der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wiederaufbau wird viel langwieriger sein als etwa im vergleichsweise homogenen Nachbarstaat Kroatien. BiH ist also ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Noch können die zentrifugalen Kräfte den uneinigen und geschwächten Nationalitätenstaat zerreißen, noch die Demokratie, den Rechtsstaat und den Föderalismus, wenn die Loyalität gegenüber den neuen gesamtstaatlichen Institutionen nicht schneller zu wachsen beginnt, in autoritäre, vormoderne (etwa Clan-)Strukturen (Stichwort „Somalisierung") zurückstoßen. Deutschland ist den postjugoslawischen Verwerfungen schon geografisch und historisch ferner als es etwa Österreich und Ungarn, Albanien und Griechenland sind. Wir haben keine bedeutenden Minderheiten. Ingeniöse Sondermodelle, wie sie etwa Peter Pernthaler für die große slowenische Volksgruppe in Kärnten entwickelt hat 16 , brauchen sich die 82 Mio. minderheitenphoben Deutsche für ihre 170.000 Dänen, Friesen und Sorben nicht auszudenken. BiH kann freilich 15
Literatur: W. Graf Vitzthum/M. Mack , Multiethnischer Föderalismus in BosnienHerzegowina, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 81 ff.; Reden des Hohen Repräsentanten im Frühjahr 2000, z.B. vor dem Permanent Council der OSZE am 11.5.2000; M.-J. Calie , Der Krieg in Bosnien-Hercegovina, 1995; N. Malcom, Bosnia, 1994. Aus der älteren Literatur W. Markert (Hrsg.), OsteuropaHandbuch Jugoslawien, 1954 (ND 1965); K.-D. Grothusen (Hrsg.), Jugoslawien. Integrationsprobleme in Geschichte und Gegenwart, 1984. 16
Volksgruppe und Minderheit als Rechtsbegriffe, in: F. Wittmann /St. Graf Bethlen (Hrsg.), Volksgruppenrecht, 1980, S. 9 ff. Zum jugoslawischen Beispiel vgl. M. Beckmann-Petey, Der jugoslawische Föderalismus, 1990.
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zu einem Referenzbeispiel für das de facto-Einwanderungsland Deutschland werden, für unsere rechtspolitischen Überlegungen etwa zu Staatsangehörigkeit, Zuwanderung und Integration - vor allem aber für die den Jubilar und uns alle nicht weniger bedrängenden Fragen nach der künftigen Ordnung EU-Europas 17. Darüber hinaus ist unser aufbauhelfendes Engagement „fern hinten" in BiH personell, sächlich und finanziell so groß 18 , dass davon das Bild Deutschlands in der Welt - ein weiteres Thema durchgängigen Interesses von Thomas Oppermann — positiv beeinflusst wird. Der komplexe historische Hintergrund des Staats- und Verfassungsexperiments BiH sowie des aktuellen multiethnischen Demokratiegefüges kann hier nur stichwortartig und stark verkürzt nachgezeichnet werden. Insbesondere lässt sich die geostrategische und politische Geografie dieser alten Konfliktregion aus Raumgründen nicht näher beschreiben - also die bizarre, zerrissene Gebirgslandschaft, die verhinderte, dass sich größere politische Einheiten bildeten und die statt dessen eine Vielzahl sich abgrenzender kultureller, religiöser und nationaler Volksgruppen und Minderheiten entstehen ließ. Zu beginnen ist mit dem Hinweis darauf, dass in der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien", einem gemäß der Verfassung von 1974 auf dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Nationen und Nationalitäten aufbauenden Staat, jedem Volk eine Teilrepublik, als Nationalstaat der jeweils majoritären Ethnie zugeordnet war. Titos Tod im Jahr 1980 beschleunigte den inneren Auflösungsprozess des Nationalitätenstaates. Immer unglaubwürdiger wurde Belgrads Versuch, im erdrückenden Schatten Moskaus sozialistische Selbstverwaltungsdemokratie, Jugoslawismus, „gesellschaftliches Eigentum" (faktisch eine Enteignung sui generis) und Selbstverwaltungssozialismus als Staatsraison zu leben. Aus dieser Sackgasse schlugen die Träger der alten Machtstrukturen, als der „Block" Kommunismus 1989/90 weggeräumt wurde, nicht den Pfad in eine liberale Demokratie und moderne Wirtschaftsordnung ein. Sie optierten 17
Vgl. zu Letzterem etwa die Beiträge von W. Hertel, J.A. Kämmerer und V. Hackel im Band „Europäischer Föderalismus" (Fn. 15). IK
In sieben Jahren hat Deutschland fast 300 Mio. DM bilaterale Hilfe gewährt. Ein Teil entfällt auf Zusagen im Rahmen des internationalen Wiederaufbauprogramms. Auf fünf Konferenzen haben die Geber mehr als 5,5 Mrd. US-$ zugesagt. Ein Großteil dieser Gelder fließt zurück nach Westeuropa. Der Wettlauf der Technologie exportierenden Länder um den Auftragskuchen ist in vollem Gange. - In Südafrika hat Deutschland, wie zuvor u.a. schon auf der Iberischen Halbinsel, „Verfassungshilfe" geleistet, in einem ebenfalls explosiven multiethnischen Gemeinwesen (friedlicher Machtwechsel 1994). Vgl. die vom Jubilar betreute Dissertation von T. M. Grupp, Südafrikas neue Verfassung, 1999 (die Verfassung hält die Option für einen „Volksstaat der Buren" offen, als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts von Gemeinschaften, die ein gemeinsames kulturelles und sprachliches Erbe teilen). Zur Technik des Minderheitenschutzes im Staat dieser offenbar latent rassistischen „Regenbogennation" L. Holle, Das Verfassungsgericht der Republik Südafrika, 1997, S. 207 ff.
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vielmehr für den rassisch und religiös überhöhten völkischen Nationalismus, der die Balkanregion und ganz Europa im 20. Jahrhundert bereits mehrfach ins Unglück gestürzt hatte19. In Jugoslawien hatten die Serben einen Anteil von - gerundet - 40% der Gesamtbevölkerung, die Kroaten von 20%, die Muslime von 10%. Ein Teil der Bevölkerung definierte sich überethnisch, z.T. wohl auch mangels Klarheit über die eigene einschlägige Identität, als „Jugoslawe". Der mehrfach reformierte jugoslawische Föderalismus war nur eine dürftige Tarnkappe. Alles „Föderative" konnte die durchgängige, zentralistische Herrschaft der KP, in deren Interesse (nicht also am Recht orientiert) auch die Verwaltung arbeitete, nicht kaschieren. Nach der Epochenwende spalteten sich, mittels Referenden, die Staatsteile Slowenien und Kroatien Mitte 1991 vom jugoslawischen Mutterland ab — ein Menetekel für das sofort kriegerisch zurückschlagende Regime in Belgrad, nicht für den Föderalismus und schon gar nicht für die Demokratie. In einer Volksabstimmung sprachen sich, trotz serbonationalistischer Drohungen, am 29. Februar /1. März 1992 dann auch die meisten Bewohner von Bosnien-Herzegowina für die Unabhängigkeit aus20. Anfang April 1992 wurde die „Republik Bosnien und Herzegowina" von der EG und den USA anerkannt, auf der Grundlage der im EPZ-Rahmen im Dezember 1991 entwickelten Doktrin, wonach die Anerkennung neuer Staaten von einem zu überprüfenden Katalog von Bedingungen betr. Demokratie und Menschenrechts- und Minderheitenschutz abhängig gemacht wird. Am 22. Mai 1992 19 S. Milosevic und F. Tudjman stachelten, mit strukturell gleichen Zielen, antimuslimische und serbo- bzw. kroatonationalistische Gefühle auf - ein balkanischer Machiavelli der eine, dessen zentrale These war: Die Serben müssen in einem einheitlichen Staat leben können und haben, wofür ein Bevölkerungsanteil von 30% ausreicht, ein Recht darauf (gäbe es ein solches Recht, müßten in vielen Teilen der Welt die Grenzen verändert werden); der andere ein Ethno-Nationalist und Rassist, der 1990 ausrief: „Gott sei Dank bin ich weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet." 20
Bei Boykott der serbischen Bosnier nahmen 63% der Stimmberechtigten teil. 99,4% sprachen sich für die Unabhängigkeit aus, die am 3.3.1992 erklärt wurde. - Serbien und Montenegro schlossen sich im April 1992 zur „Bundesrepublik Jugoslawien" zusammen. Später verfolgte das Regime Milosevic zum eigenen Machterhalt die Destabilisierung Mazedoniens und die Entmachtung der legal gewählten Führung in Montenegro. Mit dieser „Herrschaft durch Chaos" gelang es bis zum Frühherbst 2000, das serbische Volk bis zu einem gewissen Grade zu integrieren. - Die kroatische Politik wählte zunächst nicht den Weg einer Solidarität aller Opfer der postjugoslawischen Kriegstragödie, sondern führte mit dem Eroberer (Halbpart-)Gespräche zu dem Thema: „Wie lässt sich Bosnien-Herzegowina aufteilen zwischen Serbien und Kroatien?" - Die Serben in den südöstlichen kroatischen Grenzbezirken (der Krajina) waren im 18. Jahrhundert dort von den Österreichern zur Verteidigung gegen die Türken angesiedelt worden. In Geschichtsatlanten sind diese Gebiete als „Militärgrenze" eingezeichnet. Balkanexperten führen die „Wildheit" der kroatischen und bosnischen Serben auch auf diese Herkunft aus einer Grenzkriegerkultur zurück.
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wurde BiH in die UNO aufgenommen. Es folgte ein dreieinhalbjähriger, außerordentlich blutiger Eroberungs- und Bürgerkrieg. Erst Ende 1995 wurde den Gewaltakten und Vertreibungen vorläufig ein Ende gesetzt21. Der Kosovo-Krieg 1999 griff dann nicht auf Bosnien-Herzegowina über. Unter den fast 4,4 Mio. BiH-Einwohnern gab es schon vor dem Bürgerkrieg keine dominierende Volks- oder Religionsgruppe. Den größten Teil stellten 1991 die muslimischen Bosniaken mit 43,5% (heute fast 50%), gefolgt von Serben (31,2%) und Kroaten (17,4%). Die Zuordnung war im Einzelnen schwierig, schon wegen der großen Zahl von Mischehen (in Mostar vor dem Krieg waren es über 20%). Aus ihnen stammten fast 16% aller Kinder. Die Volksgruppen siedelten, anders als etwa die Sprachgruppen in der Schweiz, in Belgien oder Spanien, damals überwiegend zerstreut. Sie konstituierten ein ethnisches Leopardenfell 22 , selbst in der heute zu 96% serbisch-bosnisch besiedelten Republika Srpska. Die Bosniaken waren als sechste - gleichberechtigte - „Nation Jugoslawiens" erst 1970 anerkannt worden. Bei der Volkszählung von 1971 konnten sie sich erstmals als „Muslimani" deklarieren, als Gruppe im ethnischen Sinne. Zu ihr gehören etwa auch Atheisten. Als geografische Herkunftsbezeichnung vermeidet „Bosnier" die religiöse Konnotation. Anders als ein Muslim muss ein Bosnier oder Bosniak nicht jedesmal bekunden, dass er nicht einen islamischen Gottesstaat in Europa errichten will. Spricht man z.B. von einem „bosnischen Serben", stellt dies die Ethnizität in den Vordergrund. „Serbischer Bosnier" betont demgegenüber die staatliche Zuordnung 23. 21 Die jahrelang hingenommene Selbstzerfleischung vor den Toren der EG gab den Stimmen Gewicht, die eine politisch belastbare Identität der Europäer als Europäer als noch nicht existent bezeichneten: „Diese erste Europäische Gemeinschaft ist durch Erfahrungen der jugoslawischen Krise über ihre Hohlheit belehrt worden. Man könnte geradewegs sagen: Während der Belagerung Sarajewos ging die politische Traumzeit Europas zu Ende. Indem die Westeuropäer der Zerstückelung Bosniens zwei Jahre lang fast untätig zusahen, schwankend zwischen Indifferenz und ohnmächtiger Empörung, wurden sie auf die obszönen Konsequenzen ihrer eigenen politischen Absence gestoßen. Europas bosnische Schande präsentiert die Rechnung für die Illusionen und Bequemlichkeiten einer ganzen Epoche" (P. Sloterdijk). — In Südosteuropa und auf dem Balkan war der wichtigste Störfaktor bisher das Regime Milosevic. Einmal freilich wird es auch in Serbien einen K. Adenauer oder W. Brandt geben. Gerade dieses Land und Volk hat einen - seinen - Platz in Europa. 22
Vgl. A. Karger, Das Leopardenfell, Osteuropa 42 (1992), 1162 ff. - Die Bosnier gehörten vor ihrem Übertritt zum Islam, der Religion der Sieger, überwiegend der synkretistischen, manichäisch geprägten Sekte der Bogomilen an. Einen westlichen Zweig, der u.a. in der Provence lebte, bildeten die aus den mittelalterlichen Verfolgungen bekannten Katharer. Die Begs, die in Bosnien die grundherrliche Oberschicht darstellten (und aus der auch Izetbegovic kommt, wie schon sein Name sagt), sind überwiegend die Nachkommen des alten bosnischen, ursprünglich bogomilischen Adels. Identitätspolitisch suchen die Bosniaken verblüffenderweise heute u.a. an jenes borgomilische kulturelle Erbe anzuknüpfen. Eine Zwangsislamisierung hatte unter dem Sultan nicht stattgefunden.
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Die Aufhebung der Belagerung Sarajewos und ein regional begrenzter Waffenstillstand leiteten i m Frühherbst 1995 das Kriegsende ein. A m 5. Oktober 1995 erreichte der US-Diplomat Richard Holbrooke, flankiert von einem Bündel von (nicht sonderlich wirksamen) UN-Sanktionen 2 4 , einen 60-tägigen Waffenstillstand für ganz B i H 2 5 . Vom 1 0 . - 2 1 . November 1995 wurde in Dayton / Ohio das Friedensabkommen ausgehandelt. A m 14. Dezember 1995 folgte die feierliche Unterzeichnung, in Paris. Diese Ortswahl stellte auch die europäischen Verhandlungspartner zufrieden, besonders Frankreich. Anhang 4 jenes stark verschachtelten Vertragswerkes ist die normative Grundordnung dieses prekären Staates, seine Verfassung ( B i H V ) 2 6 . 23
Ihrer sprachlichen Zugehörigkeit nach sind Muslime Serbokroaten. Dieser Terminus wird in der Wissenschaft schon lange benutzt, ist also keine sozialistische Erfindung. Mit „Bosnier" werden Volksgruppen- und religionsübergreifend die BiH-Bewohner benannt. 1995, bei den Friedensverhandlungen in Dayton und Paris, wählten die muslimischen Verhandlungsführer den Begriff bewusst. Sie verdeutlichten damit, dass sie nicht lediglich eine Volks- oder Religionsgruppe repräsentierten. Nationalisten leugnen freilich nach wie vor die Existenz eines „bosnischen" Volkes. Für sie sind dessen Angehörige islamisierte Serben oder Kroaten. 24
UNSR Res. 713 (25.9.1991): Waffenembargo (gültig für das gesamte Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens), bestätigt durch Res. 724 (15.12.1991) und 727 (8.1.1992); Res. 757 (30.5.1992): Wirtschafts- und sonstige Sanktionen gegen die BR Jugoslawien = Serbien / Montenegro (Handelsembargo, Verbot von Flugverbindungen, Sport- und Ölembargo), bestätigt und verstärkt durch Res. 787 (16.11.1992) sowie Res. 820 (17.4.1993); Res. 942 (23.1.1994): Sanktionen gegen die bosnischen Serben (Reisebeschränkungen, Handelsembargo, Einfrieren von Feindguthaben im Ausland); Res. 943 (23.9.1994): Teilaufhebung der Sanktionen gegen die BR Jugoslawien für 100 Tage (betr. Flugverbindungen, Fährverbindungen mit Italien, Sportaktivitäten); Res. 1021 (22.11.1995): SR setzt Bedingungen für Ende des Waffenembargos fest; Res. 1022 (22.11.1995): SR setzt Sanktionen gegen BR Jugoslawien auf unbegrenzte Zeit aus; Res. 1074 (1.10.1996): SR beendet alle Sanktionen gegen BR Jugoslawien und die bosnischen Serben; Sanktionen können jedoch wieder verhängt werden, wenn eine Partei die Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag fiir BiH nicht erfüllt. 25
Vgl. R. Holbrooke , Meine Mission, 1998. - Mit dem Jugoslawien-Krieg in den neunziger Jahren gewann zum ersten Mal in der Geschichte eine außereuropäische Macht Einfluss auf das Geschehen in Südosteuropa: die USA - wegen der militärischen und politischen Schwäche des europäischen Engagements (s.o. Fn. 21). 26
Die BiHV interessiert als solche, aber auch als zunehmend zitierte Bezugsgröße für andere multiethnische Staats- und Verfassungskonstruktionen bzw. deren Anpassung, z.B. in Südafrika, Sri Lanka und Zypern sowie im Sudan und im Libanon. Insofern wird der Ausgang des BiH-Experiments nicht nur fur die Zukunft Südosteuropas und des Balkans entscheidend sein, sondern auch für die Reformrichtung diverser anderer uns ebenfalls nahestehender Staaten. „Dayton" bzw. „Sarajewo" bilden jedenfalls wichtige internationale Referenzpunkte. Gelingt das Föderalismus- und Demokratieexperiment in diesem europäischen „Dritte-Welt-Staat" auch nur einigermaßen, wird es in Asien und Afrika stärker beachtet und ggf. nachgeahmt werden als etwa eine noch so erfolgreiche Praxis der Föderalmodelle Kanadas, Belgiens oder Australiens (oder der Machtkampf zwischen den italienischen Regionalpräsidenten und der Regierung in Rom).
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II. Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina (BiHV), Teil des internationalen Dayton-Abkommens, wurde in einem kollektiven verfassunggebenden Akt durch einseitige Erklärungen seitens der früheren Republik BiH sowie der beiden Entitäten, aus denen der Staat zusammengesetzt wurde, gebilligt („approved"): seitens der Föderation BiH (Hauptstadt Sarajewo), dem einen, und der Serbischen Republik (Hauptstadt Banja Luka), dem anderen Landesteil. Für Sarajewo selbst ist bislang kein eigener Distrikt verwirklicht. Sarajewo ist zugleich Hauptstadt des Gesamtstaates, eines Landesteils und eines Kantons dieses Landesteils. Die beiden Entitäten sind ungefähr gleich groß. Die Bevölkerungsverteilung beträgt zwei Drittel (Föderation) zu einem Drittel (Serbische Republik). Die BiHV weist u.a. folgende drei Besonderheiten auf. Die erste ist sprachlicher Natur. Das Dayton-Abkommen, und damit auch die Verfassung, ist u.a. auf Englisch verbindlich. Schuld an der Anomalie einer Staatsverfassung in fremder Sprache ist die Intransigenz der unmittelbar Betroffenen. In einem Versuch der Abgrenzung bzw. Identitätsstärkung verfochten die drei Volksgruppen eine Drei-Sprachen-These (bosnisch, kroatisch, serbisch). Dabei weisen die einschlägigen Sprachen so große strukturelle Gemeinsamkeiten auf, dass Linguisten einen „Balkan-Sprachenbund" konstatieren 27. Gewiss, Serben und Kroaten unterscheiden sich sprachlich durch einzelne Vokabeln. Aber die Differenzen sind so wie Deutsche „Tomaten" und Österreicher „Paradeiser" sagen, oder wie die Wiener von „Pragmatisierten" und die Berliner von „Langzeitbeamten" sprechen 28. Die gesamtstaatliche Verfassung erwähnt die heikle Sprachenfrage nicht. Die Urteile des Verfassungsgerichtshofs werden in den drei einschlägigen Sprachen (und Schriften - die serbischen Bosnier bestehen auf der kyrillischen) sowie auf Englisch veröffentlicht. Die wechselseitig diskriminieren27 Im Wiener Sprachenabkommen von 1850 hatten sich Serben und Kroaten auf den Dialekt der Ostherzegowina als gemeinsame Schriftsprache geeinigt. Vor dem Hintergrund der Ideologie von einer Nation mit drei „Stämmen" wurden die Amtssprachen des Königreichs Jugoslawien (1921-31) als serbisch-kroatisch-slowenisch definiert. Im kommunistischen Jugoslawien war ab 1954 die Rede von einer bizentrischen (Belgrad/ Zagreb) serbokroatischen /kroatoserbisehen (der serbischen Schriftsprache nahen) Standardsprache in zwei Varianten. Ab Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre stellte die kroatische Seite die „vereinbarte Praxis" bzgl. dieser „Staatssprache" dann in Frage. Derzeit forcieren vor allem die Bosniaken durch Übernahme u.a. türkischer Begriffe die weitere Desintegration der serbokroatischen Sprache. Schon der kroatisch-jugoslawische Normalisierungsvertrag von 1996 war in zwei authentischen Fassungen, einer kroatischen und einer serbischen, abgefasst worden. 28
Die Serben ließen im Bürgerkrieg ihre Gefangenen gelegentlich das Vaterunser sprechen, um festzustellen, ob diese, wie sie vielleicht behaupteten, Serben seien - oder doch Kroaten. Eine türkischsprachige Minderheit existiert nur in Bulgarien und z.T. in Mazedonien. In BiH gibt es allenfalls etliche sprachlich und kulturell assimilierte Nachkommen osmanischer Beamter und anderer türkischer Einwanderer. 7 FS Oppermann
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den Sprachregelungen in den Entitätsverfassungen sind mit der gesamtstaatlichen Grundordnung nicht vereinbar. Die zweite Besonderheit der BiHV ist die Dominanz ethnischen Denkens. So werden die („zusammen mit anderen") „konstitutiven Völker" expressis verbis aufgelistet: die Bosniaken, Kroaten und Serben. Diese Ethnien sind die „Staatsvölker", freilich auch die „anderen", namentlich nicht identifizierten. Letztere bestehen etwa aus den Bürgern, die sich, wie im früheren Jugoslawien, ethnisch nicht identifizieren wollen, sowie aus der eher kleineren jüdischen Gemeinde. Sie alle möchten freilich - Konsequenz der demokratischen Gleichheit der Bürger und ihres Menschenrechts auf politische Teilhabe an der Staatsgewalt ebenfalls in den staatlichen Organen repräsentiert sein. Das ist derzeit nur äußerst begrenzt möglich. Insofern sind die namentlich aufgezählten ethnischen (und zugleich religiösen) Gruppen gleicher als die „anderen". Diesem demokratischen und menschenrechtlichen Schlüsselproblem, dem gleichen Zugang zu Ämtern und Wahlpositionen, ist künftig mehr Beachtung zu schenken. Die ethnische Programmierung des Ganzen spiegelt sich in der Staatskonstruktion wieder. BiH ist ein stark dezentralisiertes Gebilde mit staatenbündisch geprägter Finanz- und Militärverfassung. Die beiden Teilstaaten, etwas älter als der Gesamtstaat in seiner Dayton-Struktur, finanzieren ihn über (dürftige) Kontributionen. Problematisch ist auch die (gesamtstaatliche) Befehls- und Kommandogewalt29. Wie schon unter der früheren jugoslawischen Verfassung ist das Staatspräsidium ein unter ethnischen Proporzzwängen ächzendes Kollektiv. Die serbisch-bosnische Entität ist ein Einheitsstaat, die bosnisch-kroatische eine „Föderation" von „Kantonen". Die Komplexität dieser Gefüges, vergleichbar mit der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie, ist eine Funktion der Fixierung der politischen Klasse auf wechselseitige „völkische" Abgrenzung einerseits und der Druckausübung der internationalen Gemeinschaft in Richtung einer Kriegsbeendigung coûte que coûte andererseits. Der kontinentaleuropäischen positivistischen Bundesstaatslehre des späten 19. Jahrhunderts hätte diese Staats- und Verfassungsstruktur erhebliche Definitionsschwierigkeiten bereitet. Sehen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts 29 Vgl. den unklaren Art. V. 5a S. 1 BiHV: „Each member of the Presidency [of BiH] shall, by virtue of the office, have civilian command authority over armed forces." Der damalige HR (C. Westendorp) entschied am 19.2.1999, dass der zivile Oberbefehl dem Präsidium insgesamt, als Kollektiv, zusteht. Am 1.7.1998 hatte der HR bereits erklärt, alles zu tun, „to establish the necessary conditions for a democratic society without risk of harassment, intimidation, persecution or discrimination, in particular on the basis of ethnic origin, religious belief or political opinion". Diesen Kurs setzt der jetzige HR (W. Petritsch) mit SFOR- und OSZE-Hilfe fort. - Eine schwache „gesamtstaatliche" Klammer stellt der seit 1999 bestehende SCMM-Ausschuss (Standing Committee on Military Matters) dar, der sich aus Vertretern der Armeen, SFOR und OHR zusammensetzt. - Militärisch agiert in BiH nur SFOR. Alle anderen sind strikt zivil: OHR, OSZE, UNO, EU.
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klarer? Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls hätte Probleme. Es erkennt Gliederungen in einem Bundesstaat nur dann Staatsqualität zu, wenn ihnen ein Kern eigener Aufgaben als „Hausgut" verbleibt. Dieses Merkmal liegt bei den beiden Entitäten vor. An ihrer Staatsqualität ist nicht zu zweifeln. Aber ist auch der Kompetenzbestand der Kantone, also der regionalen Untergliederungen des Landesteils Föderation, groß genug, um sie als Gliedstaaten zu qualifizieren? Dann läge der seltene Fall eines (hinkenden) dreistufigen Bundesstaates vor: Gesamtstaat, Gliedstaaten, Kantone30. Derartige dogmatische Kopfschmerzen kannte die sanktionsbewehrte staatengründende Realpolitik angelsächsischer Prägung nicht, die ausgangs des 20. Jahrhunderts in explosiver Lage und unter hohem Zeitdruck die internationale Südosteuropa- und Balkanpolitik und die einschlägigen „ethnodemokratischen" Strukturen bestimmte. Dieser verfassunggebende Pragmatismus ist die dritte Besonderheit der bosnisch-herzegowinischen Grundordnung. Beim Errichten des teils konföderalen, teils föderalen, teils regionalen Gebildes BiH wurde das Problem der (bundes-)staatsrechtlichen Qualifizierung dadurch verdeckt, dass BiH massiven internationalen Eingriffsrechten unterworfen wurde. Neben SFOR finden sich dort internationale Polizisten, ein Heer von Diplomaten, Verwaltern und Beratern sowie Angehörige von mehr als 400 Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen. Der Hohe Repräsentant der Dayton-Mächte und seine (internationale Verwaltungsbehörde (OHR) setzen ihre Ingerenzrechte, schon um sie nicht abzunutzen, freilich nur subsidiär ein 31 . Erst in letzter Zeit erfolgte dies mehrfach, wenn es nicht mehr anders ging, zur Oktroyierung einzelner Gesetze und Absetzung radikaler Anti-Dayton-Politiker. Die Subsidiarität des OHR-Konzepts hält BiH im Unterschied zum Kosovo auf einer mittleren Position zwischen Eigenständigkeit und Protektorat. Trotz der Schwäche der gesamtstaatlichen Ebene und gewisser konföderaler Elemente ist BiH, sein territorialer Staatsaufbau insgesamt betrachtet, ein Bun30
Wie steht es angesichts seiner Kompetenzarmut mit der Souveränität des Gesamtstaates? Kommt etwa den Landesteilen, wovon die serbischen Bosnier überzeugt sind (ihre politischen Parteien hängen noch immer der Idee eines praktisch souveränen serbischen [Teil-]Staates an), Souveränität zu, dem Gesamtstaat aber nicht? Die Frage ist zu verneinen. Die Souveränität liegt bei BiH, nicht bei den Entitäten. BiHV und Verfassungsgericht nennen diese nicht einmal „Staaten". 31
Dieses Konzept hat HR W. Petritsch seit 1999 mit dem Begriff „ownership", d.h. dem ln-die-Hand-Nehmen der eigenen Angelegenheiten durch die Bosnier selbst, zusätzlich unterlegt - mit bisher nur begrenztem Erfolg. Die protektoratsähnliche Gesamtlage dient vielen lokalen Politikern bis auf weiteres als Vorwand, weder Initiative zu entfalten noch Eigenverantwortung zu übernehmen, sondern die „Schuld" fur alle Misstände bei den „Internationalen", die in der Tat ohne echte Koordinierung partiell aneinander vorbei arbeiten, abzuladen. - OHR ist Legislative und Exekutive zugleich. Eine gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit (etwa durch das Verfassungsgericht oder den EGMR) der einschneidenden Entscheidungen des HR wäre angezeigt. 7*
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desstaat. Für diese Qualifizierung spricht das Vorhandensein einer gesamtstaatlichen Verfassung, die Entitätsrecht bricht und (bundes-)verfassungsgerichtlich gehütet wird. Dafür streitet auch der Umstand, dass die Bürger beider Landesteile die gesamtbosnische Staatsangehörigkeit mit dem dazugehörenden Wahlrecht besitzen, neben ihrer jeweiligen Entitätsbürgerschaft. B i H verfügt insofern neben Staatsgebiet und (einer gewissen) Staatsgewalt - über ein Staatsvolk 3 2 , mag dieses auch ethnisch, religiös und kulturell heterogen (weil aus mehreren, zudem traditionell verfeindeten Nationalitäten und Minderheiten zusammengesetzt) sein, und mag das Wir-sind-ein-Volk-Bewusstsein noch ähnlich schwach ausgeprägt sein wie das zivilgesellschaftliche Gefüge. Die Entitäten dürfen vertragliche Sonderbeziehungen zu Belgrad bzw. Zagreb eingehen 3 3 , also jeweils zu dem Staat, mit dem sie Gemeinsamkeiten der ethnischen Herkunft, des kulturellen Erbes und des religiösen Bekenntnisses verbinden. Die Denkalternative: Abtrennung mit nachfolgendem Anschluss, kann nicht Z i e l dieser „special parallel relationships" sein. Auch das moderne Völkerrecht kennt kein Recht innerstaatlich verfasster, „irredentistisch" empfindender Völker auf einseitige Loslösung aus dem Staatsverband - es sei denn, ein Regime macht sich „einer gezielt gegen ein Volk gerichteten, ... schwerwiegenden Verletzung von Menschenrechten schuldig" 3 4 . 32 Bei den Volksgruppen hatte die Frage, welcher Religion, Kultur oder „Nation" man angehörte, vor dem Krieg nur begrenzt eine Rolle gespielt. Man besaß, nicht nur bei Fußbailänderspielen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl als „ein Volk" (Jugoslawiens, nicht nur einer Teilrepublik). Diesen Zustand, auf BiH beschränkt, wünschen sich offenbar nicht wenige (wieder). Nach der Zerstörung vieler religiöser, historischer und kultureller Stätten können alle identitätsstärkenden Schritte in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden, geht es doch darum, dem Land „seine Seele wiederzugeben". BiH sucht nach einem Kern, den es den Nachbarstaaten so entgegenhalten kann, wie dies etwa den USA mit der Flagge, der Verfassung und dem Mythos vom sicheren Hafen für die Verfolgten seit zwei Jahrhunderten gelingt. Diesbezüglich gibt es eine gewisse Parallele zu EU-Europa, dessen „Identität" sich umfassend bisher ebenfalls weder in der Geschichte noch in der Tradition finden lässt. Der jeweilige Kern ist nur zu erfinden - in der Legitimation durch Leistung, demnach im erfolgreichen Alltag, verfassungsgestützt. 33
Ein Beispiel ist das am 22.11.1998 unterzeichnete Abkommen zwischen der Föderation und Kroatien. Die beiden Entitäten sind bzgl. derartiger Abkommen als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt, Art. III 2 BiHV - Ein Sezessionsrecht i.S.e. äußeren Selbstbestimmung stünde den Landesteilen bzw. den Ethnien allenfalls in einer (bis auf weiteres keineswegs gegebenen) Extrem- und Notsituation zu. Faktisch integrierend wirken die im ganzen Land gebräuchliche Konvertible Mark, die seit 1998 vereinheitlichten Autokennzeichen sowie die gemeinsamen Staatssymbole. 34 D. Thürer, Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts, Politische Studien, Sonderheft 6/1993, S. 30 ff. (36). - Der Gesamtstaat verfügt nur über wenige Organe: Präsidium (3 Personen), Ministerrat (2 Vorsitzende, 1 Stellvertreter, mittlerweile 5 Minister ernannt vom Präsidium), Parliamentary Assembly (2 Kammern), Zentralbank, Menschenrechtskommission und Verfassungsgerichtshof. Die Entitäten können dem Bund weitere Kompetenzen übertragen. Für die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen und die
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Hinsichtlich der serbischen Bosnier, die als Folge des Krieges praktisch nur in der Republika Srpska siedeln (nur 2,3% noch in der FBiH), decken sich nun ethnische und föderale Grenzen. Für die muslimischen und kroatischen Bosnier, die sich heute fast ausschließlich im Landesteil Föderation finden, gilt das Entsprechende - freilich mit dem Zusatz, dass dort nach wie vor muslimischkroatische Gemengelagen anzutreffen sind. Solange keine nennenswerte Minderheitenrückkehr zu verzeichnen ist, ist BiH eine ethnische Föderation, ein aus zwei ethnisch homogenisierten Gliedstaaten zusammengesetzter Bundesstaat. Im Juli 2000 fällte der Verfassungsgerichtshof das letzte von vier Grundsatzurteilen zu den Rechten der „konstitutiven Völker" Bosnien-Herzegowinas. Aus dem relativ unklaren Präambel-Begriff „konstitutiv" hatten die ethnischen Hauptgruppen jeweils einen Ausschließlichkeitsanspruch in „ihren" Gebieten und Einrichtungen abgeleitet. Dem widersprach nun der Gerichtshof in einem Urteil, von dem bisher freilich nur das Ergebnis bekannt ist. In einer hochkontroversen 5:4-Entscheidung (die beiden serbisch- bzw. kroatisch-bosnischen Richter dissentierten) ordnete das Gericht den drei Volksgruppen wechselseitig entscheidende Rechte zu, also z.B. den (wenigen) kroatisch- und muslimischbosnischen Bürgern Mitspracherechte in der Republika Srpska und den muslimischen und serbischen Bosniern entsprechende demokratische Rechte in den wenigen Kantonen mit kroatisch-bosnischer Mehrheit 35 . Dass ein wechselseitiges Blockieren der Ethnien bzw. Entitäten in Teilen der Verfassung auch künftig möglich sein wird, ändert nichts daran, dass der Komplex „konstitutive Völker" primär das Recht der inneren Selbstbestimmung meint, also die Beteiligung an der demokratischen Willensbildung und Entscheidung im Staat, als Volk, sowie die Mitgestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Völker. Dieses Recht, mit dem Gleichheitsprinzip verbunden und durch das Ziel der Friedenssicherung immanent Erhaltung der Souveränität, Integrität und Unabhängigkeit von BiH ist der Bund zuständig. Soweit die Gliedstaaten dominieren und blockieren, geht im Gesamtstaat, wie seit Winter 1999 / 2000, kaum etwas voran. Der Menschenrechtsschutz ist dem EuroparatsSystem nachgebildet - normativ eindrucksvoll (die EMRK wurde durch Art. II Nr. 2 BiHV als direkt anwendbares Recht in [Über-]Verfassungsrang erhoben und durch Art. X 2 BiHV vor Verfassungsänderungen geschützt), bisher aber nur von begrenzter Durchschlagskraft. Die Commission for Real Property Claims of Displaced Persons and Refugees ist völlig überlastet. Die OSZE ist u.a. mit einer „Human Rights" und einer „Democratization" Branch sowie einem Provisional Election Commission Secretariat engagiert. HR und OSZE Head of Mission agieren bis auf weiteres als „BiH-Vizekönige", zu denen sich der (US-amerikanische) SFOR-Befehlshaber gesellt: ein Triumvirat. 35 Aus dem Begriff „konstitutive Völker" hatten interessengeleitete Juristen das Recht jeder Gruppe abgeleitet, auch in mehrheitlich von einer anderen Ethnie beherrschten Gebieten bei allen wichtigen Fragen ein Vetorecht eingeräumt zu bekommen („konstitutiv" = „souverän"). Das Gericht lehnt ein Vetorecht für bestimmte Volksgruppen auf der Gliedstaatenebene ab. Die ethnischen „checks and balances" auf der Gesamtstaatsebene seien insofern kein Vorbild fur die Gliedstaatsebene.
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beschränkt, schließt als internationale „demokratische Grundnorm" die Verpflichtung zur Akzeptanz von Mehrheiten ein und damit ein absolutes Vetorecht aus36. Die menschenrechtlichen Vorgaben von „Dayton" zielen in die gleiche Richtung. Insofern ist die „Entitäten-Entscheidung" zu begrüßen. Sie schwächt die ethno-nationale Homogenisierung. Auf der kompetenzstarken gliedstaatlichen Ebene von BiH begründen „völkische" Gesichtspunkte (sowie der ehemalige Frontverlauf) die Einteilung, einschließlich der regionalen und kommunalen Untergliederungen. Die Serbische Republik (Republika Srpska) ist ein gewaltengeteilter Einheitsstaat mit kommunaler Selbstverwaltung, direkt gewähltem Präsidenten und Nationalversammlung (83 Abgeordnete, ebenfalls für zwei Jahre gewählt). Dieser de facto seit Anfang 1992 existierende Landesteil besteht aus sieben Distrikten und 65 Gemeinden. Das Minderheitenproblem wurde hier - zum serbischen Opfermythos schwerlich passend - gewaltsam „gelöst". Die jugoslawische Volksarmee hatte sich insoweit in den Dienst von Serbonationalisten stellen lassen. Strukturell ähnelt dieser aus serbisch-bosnisch besiedelten Gebietsfetzen zusammengestückelte Gliedstaat dem französischen System. Da den Vätern dieser (Kriegs-)Verfassung ein durch Vertreibungen homogenisiertes serbisches Staatsvolk vor Augen stand, finden sich, mit der BiHV nicht vereinbar, bisher keine besonderen Gewährleistungen für die anderen „konstitutiven" Völker oder für die Minderheiten 37. Der andere Landesteil, die Föderation (FBiH), besteht aus zehn Kantonen. Diese „föderalen Einheiten" sind in insgesamt 75 Gemeinden unterteilt. Die durchschnittliche Bevölkerungszahl liegt bei annähernd 250.000 Einwohnern pro Kanton. Das ist nicht wenig, bedenkt man, dass etwa das UN-Mitglied Liechtenstein nur 30.000 Einwohner hat 38 . Die Kantone haben eigene „Presidents" (von den Kantonsparlamenten gewählt), Parlamente (Cantonal Assemblies, mit jeweils zwischen 20 und 35 Mitgliedern; bei den Wahlen haben die Parteien nur eine 3%-Hürde zu überwinden), Gerichte und jeweils auch eine eigene Verfassung. 3A Im Juli 2000 bestand der Verfassungsgerichtshof, als der letzte Akt der einschlägigen Verfaren über die Entitätsverfassungen auf dem Programm stand, auf einem ausgebauten Mitwirkungs- und „Minderheitenschutz" in ausgewählten Bereichen. Die Entitätsverfassungen (vom 16.3.1992 bzw. 30.3.1994) müssen dem nun angepasst werden. Wird dies den Entitäten bzw. den Parteien und Parlamenten gelingen, oder wird der HR am Ende selbst diese Änderungen oktroyieren müssen? 37 Die staatliche Unterstützung der orthodoxen Kirche nach Art. 28 Ab. 4 der RSV ist mit der BiHV nicht vereinbar. In einigen Angelegenheiten reklamiert die Entitätsverfassung zudem Zuständigkeiten wie ein souveräner Staat. Wegen des Vorrangs der EMRK und der BiHV lassen sich derartige „Kompetenznahmen", wie nun auch das Gericht unterstreicht, nicht halten (mit Nichtigkeitsfolge). 38 Der Kanton Graubünden, eine Schweiz im Kleinen, hat 175.000 Einwohner. Sie sind in der Mehrheit deutschsprachig, die Minderheit spricht italienisch oder rätoromanisch. Graubünden hat zwei Konfessionen, 200 Gemeinden, 39 Kreise, 14 Verwaltungsbezirke. Es gibt also noch komplexere Strukturen als die der FBiH.
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Sind die so aufwendig (und ineffizient) ausgestalteten Kantone also Staaten, Gliedstaaten des Gliedstaates „Föderation"? Die Frage ist, nicht nur wegen des schillernden Föderalismus-Begriffs, derzeit kaum zu beantworten 39. Die Kantone dezentralisieren den Landesteil, potenziell konfliktlindernd. Nach ihren faktischen Ein- und Mitwirkungsmöglichkeiten sind sie aber wohl eher Regionen als Provinzen. Auch verfassungsmäßig sind sie nicht in der Lage, das Zusammenleben innerhalb eines einzelnen Kantons allein zu ordnen 40. Derzeit gibt es eine kroatisch-bosnische Mehrheit in drei Kantonen: in den Kantonen 2, 8 und 10. Fünf Kantone sind vorwiegend muslimisch, zwei gemischt. Mehr „rein" kroatisch-bosnische Kantone zu schaffen, wäre riskant. Die kroatischen Bosnier könnten versuchen, aus „ihren" Kantonen eine dritte, kroatisch-bosnische Entität zusammenzusetzen, die dann womöglich an Zagreb, wo sich freilich die ursprünglich weit geöffneten Arme mittlerweile eher abwehrend (bzw. das Verhältnis normalisierend) zu verschränken scheinen, angeschlossen würde. Die Serbische Republik von BiH erläge dann womöglich ihrerseits der - freilich ebenfalls schwankenden - Attraktion bzw. Aufnahmebereitschaft Belgrads. Übrig bliebe, bei einer etwaigen Dreiteilung („Kantonalisierung") Bosnien-Herzegowinas, ein völlig überschuldeter bosniakischer Rumpfstaat in Zentralbosnien (nach Albanien ein zweiter muslimischer Staat in Europa), dem es an allem fehlte. Er wiese in einer Insellage zudem 150.000 kroatische Bosnier auf. Diese müssten das Land verlassen - oder sich assimilieren. Ihr Exodus wäre nur für Zyniker ein Bauernopfer. In Wirklichkeit hätte die Ethnisierungsund Teilungspolitik der Verfechter eines Groß-Serbien und eines Groß-Kroatien gesiegt41. 39
Die Grenzen zwischen den Formen sind freilich fließend. Wichtiger als begriffliche Klarheit und typologische Zuordnung sind vorliegend Status und Funktion der jeweils weitgehend homogenen Kantone im Staatsverband der Föderation. Die „föderalen Einheiten" gewährleisten Kulturautonomie und Selbstverwaltung und besitzen ein gewisses Normierungsrecht - das ist ihre (begrenzte) Rolle. Insgesamt ist die FBiH eine Föderation in der Föderation. 40 Wie erklärt sich diese alles so komplizierende Gliederung in Kantone? Die kroatischen Bosnier z.B. hätten sich, um ihre religiöse und kulturelle Identität gegenüber den muslimischen und serbischen Bosniern zu wahren, weder auf einen unitarischen Gesamtstaat noch auf einen nicht-föderalen Gliedstaat eingelassen - es sei denn, die letztgenannte Wirkeinheit hätte nur die mehrheitlich kroatisch-bosnisch besiedelten Gebiete umfaßt. Eine entsprechende „3. Entität" streben einige kroatische Bosnier nach wie vor an. Käme es zu dieser „Kantonalisierung", drohte das BiH-Staatsgefüge zu platzen. Das gälte auch bei der Realisierung eines muslimisch-bosnischen Kantonalisierungsvorstoßes, der zur Auflösung der zwei Entitäten fuhren würde, um dann in einen Einheitsstaat (mit ca. 20 Kantonen) zu münden. Zu Hintergründen krit. Sarcevic (Fn. 10), S. 31 ff. (38): Die FBiH stellte „an die Spitze des abstrakten Bürgers den ethnisch bestimmten Menschen": „Diktat des Ethnischen". 41 Warum die Gliederung in zehn Kantone? Eine Aufteilung in z.B. nur zwei Gebietskörperschaften, das andere Extrem, hätte angesichts der geografischen Zersplitterung der
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Kritiker verdächtigen den Westen, dass er die Auflösung der ethnischen Gemengelage mittels Vertreibung der Minderheiten für die „geschickteste" Lösung hält: „Pazifizierung durch Segregation". Sollte sich die Tendenz zum „völkisch-nationalen" Föderalismus, der die vorangegangene „ethnische Säuberung" letzten Endes sanktionierte, durchsetzen, wäre das BiH-Experiment gescheitert - mit über die Region hinaus ausstrahlender Negativwirkung 4 2 . M i t dem Sonderfall Brcko weist B i H eine staatsrechtliche Rarität auf: ein K o n d o m i n i u m mit spezieller Legitimationsstruktur. Region, Stadt und Hafen Brcko liegen am südlichen Ufer der Save. I m Krieg hatten die serbischen Bosnier diesen strategischen Verbindungskorridor zwischen ihren beiden hauptsächlichen Siedlungsgebieten gegen Durchbruchsversuche der Muslime behauptet. Vor dem Krieg war die Region überwiegend von diesen bewohnt. Sie wurden grausam vertrieben. Für die Föderation bildet der mit Fernstraßen- und Eisenbahnanschluss versehene Binnenhafen den einzigen schiffbaren Zugang zum Bevölkerungsteile jeweils große, potenziell unzufriedene Minderheiten im jeweils anderen Großkanton belassen. Die Dezentralisierung in zehn Kantone ermöglichte demgegenüber, sprachlich-konfessionell-ethnisch jeweils relativ homogene (die Minderheiten also letztlich diskriminierende) Einheiten zu schaffen, die dann auf der Ebene des Landesteils (ein bisschen) kooperieren. Dies öffnet im Prinzip die Tür fur flexible Lösungen in den Schlüsselbereichen Sprache, Erziehung, Kultur. - Zu beobachten ist eine gewisse Konzentration derfinanziellen Förderung auf die beiden gemischten Kantone. Natürlich hofft man, dass primär in diesen Toleranz und Regionalbewusstsein entstehen und dann auf die FBiH überspringen. Als Landesverfassungsbewusstsein, ja Verfassungspatriotismus allgemein könnte diese Gesinnung später BiH insgesamt aufhelfen. - Auch im Wahlrecht wird Multiethnizität begünstigt, etwa beim (OSZE-) „campaign support in the form of in-kind assistance". Finanzielle (OSZE-)Wahlkampfunterstützung ist untersagt. Eine Independent Media Commission erlässt einen Code on Media Rules for Elections. 42 Dem Verbot der Vertreibung und Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsteile es ist eine Voraussetzung für das Selbstbestimmungsrecht der Völker - wäre ein schwerer Schlag versetzt, von dem allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts ganz zu schweigen, der die Sprache, Kultur und Religion von Minderheiten schützt. Auch das (Menschen-) Recht auf die Heimat stünde hier auf dem Spiel. Zudem geht es um die völkerrechtliche Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten. Ein internationaler Gerichtshof zur Durchsetzung der Rechte ethnischer Minderheiten existiert nicht. Diese Kollektivrechte wären, so wird gefordert, zudem nicht nur gegen die jeweiligen Nationalstaaten (China, Frankreich, Russland usw.) durchzusetzen, sondern auch gegen ökonomische Mächte und private Gewalt - ein offensichtlich „weites Feld", das u.a. ein neues Verständnis des Begriffs der Selbstbestimmung voraussetzen würde. - Immer wieder heißt es in BiH vorwurfsvoll, man wisse nicht, ob „die internationale Gemeinschaft" die Rückkehr der Flüchtlinge wirklich wolle. Die Sicherheit der Minderheitenrückkehrer sei nicht gewährleistet. Zwar kommt es nur in Ausnahmefallen zu ernsthaften Auseinandersetzungen etwa zwischen den früheren Eigentümern der (zerschossenen oder angezündeten) Häuser und den jetzigen Bewohnern; meist setzt man sich an einen Tisch nach dem Motto: „Ich bin ein armes Schwein - du bist ein armes Schwein. Wir müssen die Dinge irgendwie regeln." So weit allerdings, dass diese gemeinsame Lagebeurteilung zur Bereitschaft zum Zusammen- Wohnen führt, kommt es erst in Ansätzen. Gleiches gilt von der nach wie vor nur begrenzten Praxis, (wieder) Mischehen einzugehen.
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Donauraum. Mangels Einigung in Dayton beschloss man, den Distrikt, was für die serbischen Bosnier günstig war, vorerst geteilt zu lassen und sich einem späteren Schiedsspruch zu unterwerfen. Dieser erfolgte im Frühjahr 199943. Er schuf in den Grenzen des Vorkriegs-Kreises Brcko einen einheitlichen, demilitarisierten Distrikt. De facto bescherte er BiH eine dritte Entität, „regiert" vom International Supervisor for Brcko. Für diese spezielle Wirkungseinheit werden, mit Hilfe von Europarat (bzw. Venedig Kommission) und OSZE, besondere Verwaltungs- und Legitimationsstrukturen aufgebaut, einschließlich eines eigenen Wahlsystems44. Die Besonderheit dieser Lösung, ja des BiH-Demokratieexperiments insgesamt tritt bei einem Vergleich mit dem gescheiterten Vance-Owen-Friedensplan deutlicher vor Augen 45 . Nach diesem am 2. Januar 1993 veröffentlichten, dann mehrfach modifizierten Konzept sollten zehn weitgehend autonome Provinzen (ohne völkerrechtlichen Status) und eine gemeinsame (kompetenzarme) Zentralregierung geschaffen werden. Jede der drei Volksgruppen hätte in jeweils drei Provinzen die Mehrheit gestellt, Sarajewo als eine Art „Bundesgebiet" einen Sonderstatus erhalten. Der Schutz der Menschenrechte sollte international überwacht, das Schema der ethnischen Determination überwunden werden. Indirekt freilich schien der Plan die territorialen Eroberungen und ethnischen Vertreibungen zu legitimieren, ja er fachte sie noch an. Damals befand sich fast die Hälfte der BiH-Bewohner auf der Flucht. Die bosnischen (und „Mutterland"-)Serben (einschließlich Freischärler) hatten 70 Prozent des Gebietes besetzt. So blieb der Regionalisierungsplan, dessen Verwirklichung zu einer wohl noch stärker ethnisch diktierten Struktur geführt hätte, eine dysfunktionale Illusion 46 .
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„Final Award", abgedruckt in HRLJ 20 (1999), 416 ff.
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Dem von radikalserbischer Seite heftig kritisierten Schiedsspruch ist eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen. Beide Entitäten bekommen den jeweils ganzen Distrikt zugeordnet. Das wahrt die Gebietsverteilung von 51% (Föderation) zu 49% (Serbische Republik) - ein Relikt aus den Kontaktgruppen-Beschlüssen (Frankreich, Deutschland, Russland, Vereinigtes Königreich und die USA bildeten die sog. Kontaktgruppe) vom Mai 1994. Die internationale Gemeinschaft erhält ein Experimentierfeld im Kleinen, mit potenzieller Vorbildwirkung für ganz BiH. Die Umsetzung erfolgt unter dem Damoklesschwert einer speziellen Sanktionsmöglichkeit: Ist eine Entität dauerhaft unkooperativ, kann das Gebiet der anderen zugeschlagen werden. 45 46
D. Owen, Balkan Odyssey, 1995, S. 89 ff.
BiH wurde dann nicht als stark dezentralisierter Einheitsstaat, sondern als schwacher Bundesstaat konstruiert bzw., da die Entitäten bereits vor Dayton-BiH da waren, konstitutionalisiert. Gelingt die Stabilisierung der gesamtstaatlichen Einrichtungen nicht, wäre BiH als bloße Konföderation eines serbisch-bosnischen und eines kroatisch-bosniakischen „Nationalstaates" zu qualifizieren.
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III. Das demokratische Prinzip ist auf gesamtstaatlicher Ebene primär in den beiden jeweils auf zwei Jahre gewählten Kammern der Parliamentary Assembly sowie im Wahlrecht 47 ausgeprägt. Erstere bestehen aus Mitgliedern der beiden Entitäten. Dabei programmieren ethnische Gesichtspunkte die Ausgestaltung des Demokratieprinzips: Die Vertretung der einzelnen Staatsvölker und ihrer Interessen wird durch begünstigende Klauseln gegen Mehrheitsentscheidungen gesichert. Die Nationalversammlung der Serbischen Republik (83 Abgeordnete) ist der Wahlkörper für die 5 serbisch-bosnischen Mitglieder im gesamtstaatlichen Völkerhaus (15 Mitglieder: 5 bosniakische, 5 serbische und 5 kroatische Bosnier), der Zweiten Kammer der Parlamentarischen Versammlung von BiH. Über ein ausschließlich ethnisches Schema geht dies auf den ersten Blick insofern hinaus, als die Nationalversammlung (62 Abgeordnete aus „multi-member" Wahlkreisen, die restlichen 21 Abgeordneten aus der Republika Srpska als einheitlichem Wahlkreis) nicht nur von serbischen Bosniern gewählt wird, sondern von allen Bürgern der Entität. Insofern werden auch die - wenigen Nicht-Serben repräsentiert (Art. IV BiHV), freilich durch serbisch-bosnische Abgeordnete. Einen Schritt weiter in Richtung einer umfassenderen Repräsentation scheint der andere Landesteil zu gehen. Im „ House of Peoples " des Parlaments der FBirf % sitzen neben je 30 muslimischen und kroatischen Bosniern 14 Vertreter der übrigen Volks- oder Minderheitengruppen, insbesondere der serbischen und albanischen Bosnier; auch Vertreter der jüdischen Gemeinde würden hierzu gehören. Diesen „others" ist damit, anders als auf gesamtstaatlicher Ebene, eine Mindestvertretung garantiert. Vergleichbares existiert etwa für die dänische Minderheit in Schleswig Holstein, für deren Vertretung im Landtag keine Prozentklausel gilt. Das 1: 1-Verhältnis von muslimisch-bosnischen zu kroatischbosnischen Mitgliedern des Völkerhauses widerspricht der mittlerweile realen 3 : 1-Bevölkerungsverteilung. Ein bosniakischer Wähler hat auf die Zusammensetzung des Völkerhauses nur 33% des Einflusses eines kroatisch-bosnischen. Diese integrationspolitisch motivierte positive Diskriminierung macht das Re47
Die Vertretung der Volksgruppen und Minderheiten in den Staatsorganen und der Selbstverwaltung hängt in concreto von der Ausgestaltung des (aktiven und passiven) Wahlrechts ab. So macht es einen Unterschied, ob die Abgeordneten direkt in EinmannWahlkreisen zu wählen sind oder aufgrund von Listen mit dem gesamten Territorium von BiH oder einer Entität als Wahlkreis. 48 Das Repräsentantenhaus besteht aus 140 direkt gewählten Abgeordneten (Verhältniswahl). 105 Abgeordnete werden in „multi-member" Wahlkreisen gewählt, der Rest in der Gesamtföderation als Wahlkreis. Die „constituencies" sind aus z.T. zusammengefassten Kantonen gebildet.
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präsentationsmodell asymmetrisch, wegen der wechselseitigen Vetoposition bei „vitalen Interessen des Volkes" freilich nicht weniger „völkisch" 49 . Wie sich dieses Schema einer ethnisch determinierten Demokratie auswirkt, sei an zwei Beispielen erläutert. Das erste betrifft das auf vier Jahre direktgewählte BiH-Präsidium 50. Es besteht aus einem Mitglied aus der Serbischen Republik und je einem muslimischen und kroatischen Bosnier aus der FBiH. Der Vorsitz rotiert. Es gilt das Mehrheitspùnzip. Ein Präsidiumsmitglied kann eine Entscheidung freilich als Verletzung „vitaler Interessen" seines Landesteils, die allzu leicht zu „nationalen" Interessen seiner Volksgruppe hochstilisiert werden, bezeichnen. Dieses Veto wird wirksam, wirkt also absolut, wenn es in der Parlamentarischen Versammlung der betreffenden Entität durch zwei Drittel der Volksgruppenvertreter bestätigt wird. Das läuft auf das grundsätzliche Erfordernis von Einstimmigkeit im Präsidium hinaus. BiH ist insofern eine ethnische Konsensdemokratie, bestimmt von der Notwendigkeit der Einigung zwischen den drei privilegierten Völkern. Die gesamtstaatliche Zwei-Kammer-Parliamentary Assembly ist das zweite Beispiel. Die Erste Kammer (House of Representatives) wird aus 42 direkt gewählten Abgeordneten des Volkes gebildet - 28 aus der Föderation (21 aus „multi-member constituencies", 7 aus der Gesamtentität als Wahlkreis) und 14 aus der Serbischen Republik (9 auch hier aus „multi-member constituencies", 5 aus dem Gesamtgebiet der Republika Srpska). Die „multi-member constituencies" werden in der Föderation aus jeweils zwei Kantonen gebildet, z.B. die „Constituency 1" aus den Kantonen 1 und 10. Sie entsenden zwischen 3 und 5 Abgeordnete in das BiH-Repräsentantenhaus. Die Republika Srpska ist ihrerseits 49 Eine gewisse Analogie zum spanischen Konzept der „Autonomen Gemeinschaften" ist erwähnenswert. Dort sind die einzelnen Einheiten (nicht: Volksgruppen) unterschiedlich gewichtet. Sie haben, anders als etwa im US-amerikanischen oder deutschen Bundesstaat, verschieden ausgestaltete Kompetenzniveaus. Vgl. D. Nohlen/J.J. Gonzàles Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, 1992; Th. Wiedmann, Idee und Gestalt der Region in Europa, 1996, S. 153 ff. (195 ff.). Bei dem Autonomiestaat Spanien handelt es sich zwar um eine weitreichende politische Dezentralisierung und Regionalisierung, nicht aber um einen Bundesstaat im überkommenen Sinne. Die Autonomen Gemeinschaften tragen den sprachlich-kulturellen, politisch-historischen und geografisch-ökonomischen Besonderheiten der Regionen Spaniens Rechnung - mehr nicht. - Bei jeder Organisation der politischen Willensbildung und Entscheidung in Vielvölkerstaaten überschneiden sich zwei Grundformen: die territoriale und die ethnische Radizierung der Bevölkerung. In Belgien etwa überlappen sich territoriale „Regionen" und ethnische „Gemeinschaften". Der Bürger nimmt mit seiner Stimme, z.T. unabhängig von der Territorialstruktur, an der Wahl von Volksgruppenvertretern in gemeinschaftlichen Institutionen teil. Freilich ist die belgische Föderation (wie BiH) stark auf Territorialisierung ausgerichtet. Ihre Bewährung steht, ebenso wie die des spanischen Modells, noch aus. 50 Seit 7.8.2000 gibt es eine vom HR oktroyierte Regelung für die Nachfolge eines vorzeitig ausscheidenden Präsidiumsmitgliedes.
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in 3 Wahlkreise aufgeteilt, die, jeweils zwischen 10 und 20 Gemeinden umfassend, je 3 Abgeordnete zu wählen haben. Die Serbenhochburg Banja Luka z.B. liegt im 1., das nach wie vor faktisch zweigeteilte, (insbesondere in seinem muslimischen Teil) stark zerstörte Mostar im 3. Wahlkreis. Gesetzesbeschlüsse bedürfen der Zustimmung beider Kammern (der BiH- Parlamentarischen Versammlung). In beiden besteht jeweils die Vetomöglichkeit für zwei Drittel der Delegierten eines Landesteils (nicht: einer Volksgruppe). Dieses absolute Blockveto begünstigt die serbischen Bosnier. Weder die muslimischen noch die kroatischen Bosnier besitzen für sich allein eine derartige Sperrminorität. Im Wahlrecht gilt eine bloße 3%-Klausel, die Parteienlandschaft ist dementsprechend zersplittert. Insgesamt ist die BiH-Demokratie asymmetrisch und diskriminierend „ethnifiziert". 51 . Die Stimmen der Mitglieder der drei „konstitutiven" Volksgruppen, die ihrerseits Vetopositionen besitzen, haben einen unterschiedlichen Erfolgswert. Die Mitwirkungsrechte der anderen Volksgruppen sind stark beschnitten. Ein albanischstämmiger Bosnier z.B. kann faktisch nie Präsidiumsmitglied werden. IV. Welche anderen Konfliktlösungsmodelle, zugeschnitten auf die Probleme von Vielvölkerstaaten 52, gibt es? Was ist diesen Konzepten für BiH zu entnehmen? Ließen sich auf einem dieser Wege die mehrheitsdemokratischen Kosten und staatsbürgerlichen Gleichheitsprobleme der asymmetrischen ethnischen BiHStaatsform verringern? Zu skizzieren sind drei Konzepte: Personalautonomie, Territorialautonomie und polyethnischer Föderalismus.
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Hinsichtlich des Wahlrechts — auf gesamtstaatlicher Ebene wird mangels Wahlgesetzes nach unsäglich detaillierten OSZE-Regeln (PEC Rules and Regulations for General Elections 2000) gewählt, wahrscheinlich am 11.11.2000 - ist bemerkenswert, dass es nicht auf den derzeitigen Wohnsitz beschränkt ist, sondern auch am jeweiligen Herkunftsort (bezogen auf die Zeit vor dem 6.4.1992) ausgeübt werden kann, zudem in der „Absentee Polling Station" der derzeitigen Wohngemeinde oder mittels Briefwahl. Insofern sind z.B. auch in der Serbischen Republik die von dort vertriebenen muslimischen und kroatischen Bosnier wahlberechtigt (und umgekehrt, in der Föderation). Das scheint in Grenzen auch zu funktionieren. 52 Ein Beispiel war der dezentralisierte Einheitsstaat Österreich-Ungarn. Die Nationalitätenfrage fand einerseits im System des österreichisch-ungarischen Dualismus (seit dem „Ausgleich" mit Ungarn 1867), andererseits innerhalb der beiden Zwillingsstaaten in der verfassungsrechtlichen Berücksichtigung der föderalistisch-nationalen Forderungen ihre Antwort: in der österreichischen Reichshälfte i.S.e. Gleichberechtigung aller Volksstämme und beschränkten Autonomie, in der ungarischen Häfte i.S.e. magyarischen Nationalstaates unter staatsrechtlicher Sonderstellung Kroatien-Sloweniens (mit Ungarn in Realunion verbunden).
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Das Modell der Personalautonomie, auch Kulturautonomie genannt, entkoppelt die ethnische und die territoriale Frage und sucht sie damit zu entpolitisieren. Entwickelt wurde es u.a. von den Austromarxisten Karl Renner und Otto Bauer 53. Es ist also ursprünglich primär eine österreichische Erfindung. Die Stichworte lauten „Mährischer Ausgleich" (1905) - Personalautonomie für die Tschechen - und analoge nationale Ausgleichsregelung 1909/10 für den Landtag der Bukowina; Erzherzog Franz Ferdinand wäre vielleicht nicht am 26. Juni 1914 in Sarajewo erschossen worden, sondern auf den Thron gekommen, hätte dies das Modell der Zukunft werden können. Träger der Personalautonomie ist die in einer öffentlichrechtlichen Körperschaft organisierte ethnische Gruppe. Nationen werden hier also als Personenverbände bzw. als Kurien konstituiert. Dazu bedarf es der Erstellung eines Katasters, ähnlich den kirchlichen Taufbüchern. Volksgruppenkataster und proportionale Repräsentation waren Bestandteile des Minderheitenschutzsystems des Völkerbundes 54. Modernen Zielsetzungen wie „Einheit der Verwaltung", „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" und „schlanker Staat" läuft dieses Modell entgegen. Ihm haftet auch ein Geruch des Vordemokratischen, des „Unzeitgemäßen, des Korporativ-Ständestaatlichen" an 55 . Andererseits kann dieses Konzept, lagegerecht ausgestaltet, zur geeigneten Organisationsform multiethnischer Gemeinwesen werden. Ein Anwendungsbeispiel war das Osmanische Reich mit seinem MilletSystem56. Viele Staaten des Mittelalters und der frühen Neuzeit kannten Spiel53 Vgl. E. Panzerböck, Ein deutscher Traum. Die Anschlussidee und Anschlusspolitik bei Karl Renner und Otto Bauer, 1985; E. Fröschl/H. Zoitl (Hrsg.), Otto Bauer (1881 1938). Theorie und Praxis, 1985 (darin vor allem: N. Leser, Otto Bauer und Karl Renner; H. Konrad, Otto Bauer und die Nationalitätenfrage). - Zum Völkerbund vgl. K. Wolzendorffl Grundgedanken des Rechts der nationalen Minderheiten, 1921, S. 20 ff. (Nationalkataster - i.S.e. Option des Einzelnen für eine bestimmte Nation - als Voraussetzung einer Regelung des Nationalitätenrechts), S. 38 ff. (Das Nationalitätenbuch); F. Bordihn, Das positive Recht der nationalen Minderheit. Eine Sammlung der wichtigsten Gesetze und Entwürfe, 1921, S. 68 ff. (darin: Entwurf eines internationalen Vertrages über den Schutz nationaler Minderheiten; Art. 11 ff. „Der nationale Kataster"); H. Kraus, Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einfuhrung in das Verständnis des modernen Minderheitenproblems, 1927. 54 Die Kurien besitzen in Fragen des Schul- und Sprachenrechts und partiell auch des Wahl- und Verfassungsrechts ein Veto. Ein Proporzwahlrecht auf allen Ebenen des Staates sorgt für eine politische Repräsentation der Nationen bzw. Volksgruppen. 55
St. Oeter, Minderheiten im institutionellen Staatsaufbau, in: J. A. Frowein /R. Hofmann /St. Oeter (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Teil 2, 1994, S. 492 ff. (503). 5ή
Vgl. B. Braude/B. Lewis (Hrsg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, 2 Bde., 1982 (insb. Κ. H. Karpat , Millets and Nationality. The Roots of the Incongruity of Nation and State in the Post-Ottoman Era, Bd. I, S. 141 ff.; P. Dumont, Jewish Communities in Turkey during the Last Decades of the Nineteenth Century in the Light of the Archives of the Alliance Israélite Universelle,
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arten personaler Autonomie. Aus der Zwischenkriegszeit wurde das estnische Autonomiegesetz57 am bekanntesten. In neuen, postkommunistischen mittel-, mittelost- und osteuropäischen Verfassungen (Ungarn, Slowenien, Estland) ist eine Tendenz zur Wiederbelebung kulturautonomer Konzepte zu beobachten. Entscheidend sind freilich die jeweiligen, dort noch keineswegs eindeutigen, Staatsangehörigkeits- bzw. Minderheitenschutzregelungen. Der Teufel steckt auch hier im Detail (und in der Finanzierungs- und Vollzugspraxis). Fair angepasst könnten Elemente dieses Konzeptes Verbissenheiten der gegenläufigen ethno-nationalen Ansprüche in BiH lindern 58 . Die 7err/7ona/autonomie ist das zweite Modell. Ihr Träger ist nicht eine Personal-, sondern eine Gebietskörperschaft. Sie erhält einen Sonderstatus, eine weitgehende (Minderheits-)Autonomie. Dies erlaubt die eigenverantwortliche Regelung kultureller und administrativer Aufgaben. Auch die Bandbreite dieses Modells ist groß. Sie reicht von einfachen Dezentralisierungen - bisheriges Beispiel Korsika - und der Kompetenz der Schweizer Kantone zur Regelung der Sprachenfrage („Sprachensouveränität" - dem für die Sprache im amtlichen Bereich geltende Territorialsystem haben sich die Minderheiten zu beugen)59 bis zur weitgehenden Eigenständigkeit der Verwaltung einschließlich spezieller Gesetzgebungskompetenzen, wie in Südtirol (und künftig möglicherweise auf Korsika) 60 . ebd., S. 209 ff.; E. Z. Karal, Non-Muslim Representatives in the First Constitutional Assembly, 1876-1877, ebd., S. 387 ff.). 57 Das Gesetz vom 5.7.1925, mit seinem kulturautonomen Schwerpunkt (Schulen, Sprachen, lokale Selbstverwaltung), ist abgedruckt in Kraus (Fn. 53), S. 199 ff. Als Minderheiten wurden Deutsche, Russen und Schweden anerkannt sowie „diejenigen auf estländischem Territorium lebenden Minderheiten, deren Gesamtzahl nicht kleiner als 30.000 ist" (§ 8) - eine formal-enumerative Begriffsbestimmung (S. 201: „Die Kulturautonomie ist staatsrechtlich als [soziale] Selbstverwaltung gedacht ... Daher muss sie rechtlich unter Aufsicht des Staates stehen und muss sowohl zum Schutze der Staatsinteressen, als auch zur Erfüllung der dieser Selbstverwaltung auferlegten Pflichten in analogem Sinn, wie die territorialen Selbstverwaltungen ..., den Charakter einer öffentlich staatlichen Institution tragen. Die Selbstverwaltung der Minderheit muss unbedingt auf dem Personalrecht und nicht auf dem Territorialrecht beruhen, denn sie soll die Selbstverwaltung einer völkischen und nicht einer örtlichen Gemeinschaft sein."). 58 Eingehende Erfahrungen mit diesem Modell fehlen freilich noch, oder sie sind nicht eben vielversprechend. So waren etwa im kommunistischen Jugoslawien die nationalen Verbände der Volksgruppen als spezifische Selbstverwaltungsorganisationen institutionalisiert. 59 Art. 70 Abs. 2 Bundesverfassung der Schweiz. Eidgenossenschaft: „Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten." 60 Die Autonomie der Aland-Inseln ist am stärksten ausgeprägt. Ihre Rechtsordnung und die des finnischen Mutterlandes hängen nahezu nur noch konföderal zusammen. Landerwerb z.B. ist an die aländische Regionalbürgerschaft gebunden, die wiederum
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Voraussetzung dieses territorialautonomen Konfliktlösungsmodells ist, dass die Volksgruppen räumlich konzentriert (kompakt) siedeln (und sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ein wechselseitiges Vertrauen zwischen Mehrheit und Minderheit aufbaut). Minderheiten „in der Zerstreuung" oder „externe" Minderheiten, die außerhalb „ihres" Territoriums leben, lassen sich nicht als Gebietskörperschaft organisieren. Sie sind auch nicht selbstbestimmungsfähig. Das galt etwa für die Juden vor der Gründung des Staates Israel und gilt nach wie vor z.B. für die Sinti und Roma. Die Kreation von teils mehrheitlich muslimischen, teils primär kroatisch-bosnischen Kantonen bzw. von einigen serbischbosnischen Kommunen sichert jedenfalls in der FBiH diese Voraussetzung für die Anwendung des territorialautonomen Konzepts. Bei dem dritten Modell, dem polyethnischen Föderalismus, programmieren historische, politische und soziale Prozesse Bildung und Zuschnitt der sprachlich, ethnisch und überwiegend auch konfessionell unterschiedlich zusammengesetzten Gliedstaaten. Ethnische Homogenität ist so wenig das Ziel wie der USamerikanische „melting pot". Angestrebt wird vielmehr das - schwer zu wahrende - Nebeneinander der verschiedenen Volksgruppen. Es geht um Gleichberechtigung, Anerkennung und Förderung der Ethnien durch einen integrierenden Föderalismus, um eine Willensnation also, nicht um eine Staatsnation61. Warum funktionierten Territorialautonomie und polyethnischer Föderalismus in den Alpen, warum bisher nicht in Südosteuropa? Die BiH-Entitäten verfügen wie die Kantone der Eidgenossenschaft über weitreichende, ja noch weiterreichende Kompetenzen - daran kann es nicht liegen. Entscheidend ist: Ein Verhältniswahlrecht ohne Zugangsbeschränkung und die Zuschneidung der Wahlkreise nach historischen, sprachlichen und konfessionellen Gesichtspunkten gewährleisten in der Schweiz eine ausreichende Repräsentation der Sprach- und Schwedischkenntnisse voraussetzt. - Im dänischen Staatsverband besitzen die Färöer Inseln und Grönland sogar Steuerhoheit. Kopenhagens Präsenz beschränkt sich auf einen Reichsombudsman (und Außen- und Verteidigungspolitik). Gleichwohl dräut im Hintergrund auch und gerade hier die Frage, wann Territorialautonomie in Sezessionsverlangen umschlägt. - Hinsichtlich der Aland-Inseln vgl. bereits die Finnisch-Schwedischen Abmachungen vom 27.6.1928, abgedruckt in Kraus (Fn. 53), S. 116 ff. Zu dieser Autonomie R. Hofmann, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Finnland, in: Frowein/ Hofmann/Oeter (Fn. 55), Teil 1, S. 108 ff. (121 ff.). Völkerrechtliche Verträge dürfen die Aland-Inseln nicht abschließen (S. 125). 61
Ein Beispiel ist - partiell - die Schweiz. Sie umfasst ein mehrsprachiges, mehrkonfessionelles Staatsvolk. Die Schweizerische Identität ist politisch begründet, nicht sprachlich, konfessionell oder „völkisch". Der Zuschnitt der 26 schweizerischen Kantone deckt sich nach den Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts teilweise nicht mehr mit den Sprach- oder Religionsgrenzen. Mancherorts gibt es nun Minderheitenprobleme. Die religiösen überkommenen Unterschiede (reformiert/katholisch) erhöhen die Komplexität. In den früher überwiegend deutschen und reformierten Kantonen Zürich, BaselStadt und Schaffhausen etwa finden sich mittlerweile beträchtliche katholische und, z.T. identisch damit, italienische und ex-jugoslawische Minderheiten.
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Religionsgruppen sowie der Minderheiten. Man kann geradezu von positiver Wahlkreismanipulation sprechen62. Auf der Ebene der Eidgenossenschaft überlappen sich zudem die konfessionellen und die sprachlichen Scheidelinien. Folglich verstärken sie sich nicht wechselseitig (weil sie nicht, wie früher etwa der Gegensatz deutsch-polnisch und evangelisch-katholisch in Teilen Ostdeutschlands, zusammenfallen). Sie ermöglichen und indizieren vielmehr übergreifende Koalitionen. Das dominierende deutsch-reformiert-freisinnige Establishment nahm schließlich die Katholiken in den Bundesrat auf - der Anfang der Allparteienregierung auf der Basis der „Zauberformel", der informellen helvetischen Konkordanzdemokratie. So herrscht in der Schweiz de facto Proporzdemokratie. Die wichtigeren Behörden und Gerichte setzen sich, ohne dass dies rechtlich vorgeschrieben ist, aus Vertretern aller großen Parteien, Sprachgruppen und Konfessionen zusammen 63 . Dies unterstreicht und verstetigt den Willen zum Miteinander der verschiedenen Gruppen und Interessen. Die individuelle und gruppenmäßige Erfahrung, selbst überall in der einen oder anderen Hinsicht einer Minderheit anzugehören oder zumindest auf die Zustimmung einer anderen Gruppe angewiesen zu sein, fördert die Toleranz. Günstig ist natürlich auch die hohe Wirtschaftskraft des Landes, die relative Homogenität der Bevölkerung sowie die Flexibilität der quantitativ dominierenden - deutschen - Landessprache64. So ist die Schweiz das weltweit bisher einzige Beispiel einer längerfristig gelingenden multiethnischen Demokratie - konstituiert und kürzlich reformiert „im Willen", wie es in der Präambel der seit 1. Januar 2000 in „nachgeführter" Fassung geltenden Bundesverfassung heißt, „in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung, ihre Vielfalt in der Einheit zu leben".
62 Die Ursprungslage des schweizerischen Bundesstaates, wie er aus dem Sonderbundskrieg von 1848 hervorging, war freilich eine andere. Der damals gefundene Kompromiss beruhte gerade darauf, dass die Mehrzahl der Kantone sprachlich und konfessionell homogen war. Das ergab sich schon daraus, dass dort wie in Deutschland von der Reformation bis zum Ende des Ancien Régime die Formel „cuius regio eius religio" galt. 63
Ihre Minderheitenprobleme löst die so komponierte Schweiz überwiegend nach dem Konzept territorialer (nicht: kultureller) Autonomie. Die Kantone lassen öffentliche Schulen regelmäßig nur in der Sprache der (früher ausschließlich dominierenden) Mehrheit zu. Die sprachliche Minderheit muss sich eben anpassen - und möglichst assimilieren. Überwiegend geht die Tendenz, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip steht, somit noch immer zur sprachlichen Homogenität der Kantone. 64 Die Genesis der beiden früheren Halbkantone Appenzell ist am ehesten mit der bosnisch-herzegowinischen Situation vergleichbar. Der Kanton teilte sich in der Reformation. Die jeweilige Konfessionsminderheit musste in den anderen Kanton umziehen eine helvetische „religiöse Säuberung", analog der „ethnischen" auf dem Balkan.
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V. Fragt man nach der Zukunft des Demokratieexperimentes BiH, so ist festzuhalten: An strategischen Modellen, rechtstechnischen Lösungswegen und wirtschaftlichen, finanziellen und humanitären Hilfen für die Bewältigung der Probleme von BiH mangelt es nicht. Was vor Ort fehlt, ist der politische Wille, Kompromisse einzugehen, ist die Bereitschaft, von verfestigten Maximalpositionen und historischen Feindbildern abzugehen und - wie es etwa die „Trümmerfrauen" in Nachkriegsdeutschland taten - anzupacken. Zur Resignation besteht freilich kein Anlass. Die jüngsten Änderungen in Zagreb etwa und die moderatere Tonlage in Belgrad sind, wenn sie sich als unumkehrbar erweisen sollten, ein Hoffnungszeichen. Benötigt werden in BiH vertrauensbildende Maßnahmen, um die zerstrittenen Bevölkerungsgruppen, auch in der traditionell extremistischen Herzegowina, zur Abkehr vom territorialen Segregationsdenken zu bewegen. Die Verbesserung des Klimas zwischen den Ethnien und die Bereitschaft zur Eigenverantwortlichkeit können freilich nicht verfassungsrechtlich angeordnet werden. Trotz seiner kontrafaktischen Kraft, die einen Prozess in der Richtung beeinflussen kann, stößt das Recht hier an seine Grenzen. Reale Fortschritte lassen sich nur durch Beseitigung der Kriegsgefahr und Unterbindung von Gewalt erzielen (worauf sich SFOR offenbar längerfristig einrichtet), durch Zeitgewinn, durch aufklärende, leicht verständliche, klare Information der weitgehend desinformierten, verhetzten Bevölkerung, durch Erziehung der Menschen sowie durch Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Zum Helfen bedarf es zudem exakter Kenntnisse der Lage. Kein Harvardstudium, keine kurzfristige Befundnahme vor Ort, wie sie etwa dem Verfasser dieser Zeilen bisher allein möglich war, ersetzen die Erfahrung in der Region. Wer von uns Fremden weiß schon, wie die Bosnier denken? Hilfreich könnte für BiH neben einem weiteren Abbau der ethnozentrisehen Verfassungselemente auf gesamt- und gliedstaatlicher Ebene („Dayton II") vor allem die Öffnung nach Europa sein. Sarajewo äußert den Wunsch, in den Europarat aufgenommen zu werden. Eines — sehr — fernen Tages könnte BiH dann auch an die Tür der EU klopfen 65 . Von den Vorteilen der Mitgliedschaft auf Dauer ausgeschlossen zu sein, würde die Verfassungsstaatlichkeit, ökono65 Diesbezüglich skizziert eine „road map", im März 2000 zwischen EU und BiH abgesprochen, die Bedingungen für eine Annäherung. Sie ist in diverse Themen untergliedert: political steps; economic steps; democracy, human rights, rule of law. Die EU betont zudem, dass die politische Glaubwürdigkeit durch eine regionale wirtschaftliche Kooperation (in Südosteuropa) verstärkt werde. Im Alleingang, gar in Konkurrenz zu den Nachbarstaaten eine Annäherung an EU-Europa zu suchen, könnte BiH nicht voranbringen. Regionale Zusammenarbeit auf einem friedlichen Balkan - das ist die Voraussetzung für eine Entwicklung von BiH.
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mische Entwicklung und militärische Sicherheit von BiH schwer belasten. Derartige sanktionierende (Hebel-)Zusammenhänge bezeichnete mein Völkerrechtslehrer Wolfgang Friedmann schon Mitte der sechziger Jahre als „sanction of non-participation". Der Versuch, den entsprechenden Aufnahmebedingungen zu genügen, konkret: sich der institutionalisierten europäischen Völkerfamilie aktiv und mit Gewinn anzuschließen, dürfte langfristig am ehesten zur Dämpfung der ethnisch-nationalen Konflikte und zur Entwicklung von Verantwortungsbereitschaft beitragen. Mit der Beitrittsperspektive hat der Europarat 66 jedenfalls einen mächtigen Hebel in der Hand, um den Schutz der Menschenrechte und den Ausbau mehrheitsdemokratischer Strukturen zu erzwingen. Straßburg setzt dieses Instrument bisher konsequent an 67 , auch i.S.e. Befriedung der gesamten südosteuropäischen Region. Ihre Zukunft liegt in Europa. In seinen ersten Schritten ist der europabezogene Anpassungsprozess bereits eingeleitet. Rechtlich gesehen ist der Menschenrechtsschutz in BiH sogar in einem historisch nie dagewesenen Ausmaß ausgestaltet68, umfassender als z.B. auf der Ebene der EU. Aber es mangelt in erschreckendem Ausmaß an der Umsetzung. Die Rechtspflege insgesamt ist so defizitär wie auf der BiH-Ebene die Wahrnehmung der Gesetzgebungsaufgaben. Den Korruptions- und Obstruktionsvorwürfen dort korrespondieren, so heißt es, Kurzsichtigkeit und Nationalismus. Die Realisierung des Ziels, dem Europarat anzugehören, wird in BiH deshalb noch Jahre in Anspruch nehmen. Bisher ist 66 Das Human Rights Co-ordination Centre Sarajewo veröffentlicht regelmäßig „progress reviews". Sie untersuchen, inwieweit BiH die vom Europarat 1999 erneut formulierten Voraussetzungen umsetzt. Von 40 Bedingungen sind bislang 9 erfüllt, 5 mit Hilfe von oktroyierten Gesetzen (Progress Review No 9, Accession of BiH to the Council of Europe, 26.5.2000) - eine kaum ausreichende Zwischenbilanz. - Wir brauchen Organisationen wie den Europarat oder die OECD, die den Finger in die Wunde legen. Internationale Organisationen (und NGOs) können mit mehr Durchschlagskraft Korrekturvorschläge („Durchsetzung von Konditionalitäten") machen. Staaten sind belastet. 67 Die EU tut Gleiches auch gegenüber Kroatien. Zagreb weiß, dass die Integrität von BiH seine Eintrittskarte nach EU-Europa ist. Seit der Wahl von Präsident St. Mesic verspricht Kroatien alles zu tun, um die Fristen für eine Zugehörigkeit zur EU zu verkürzen. Wichtig ist - neben einer im Detail noch verbesserungsbedürftigen Minderheitenregelung - auch die neue Zusammenarbeit Kroatiens mit dem Haager KriegsverbrecherTribunal. Nur die Bestrafung der individuellen Schuld kann die Kette der kollektiven Schuldzuweisungen durchbrechen. So hat es mehr als nur symbolische Bedeutung, dass von der Mitgliedschaft in der BiH-Kommission zur Erhaltung von Nationaldenkmälern Personen ausgeschlossen sind, die in Verfahren vor dem Tribunal verurteilt oder angeklagt sind (Art. II Abs. 1 S. 4 des Annex 8 zum Dayton-Abkommen). 68 Vgl. Art. II BiHV: BiH „and both Entities shall ensure the highest level of internationally recognised human rights and fundamental freedoms. The rights and freedoms set forth in the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms and its Protocols shall apply directly in [BiH]. They shall have priority over all other law". Vgl. auch P. C. Szasz, The Protection of Human Rights through the Dayton / Paris Peace Agreement on Bosnia, AJIL 90 (1996), 301 ff.
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der Staat noch nicht „europaratsreif \ Er ist offensichtlich nicht in der Lage, die mit einer Mitgliedschaft verbundenen Pflichten zu erfüllen: die, wie es in Art. 3 der Satzung des Europarats heißt, „aufrichtige und tatkräftige" Mitarbeit an der Sicherung des „Grundsatzes der Vorherrschaft des Rechts" und „der Menschenrechte und Grundfreiheiten". Der Weg zum Ziel einer europäischen Ordnungsperspektive für B i H ist wie eine Treppe. Die erste Stufe, der Stabilitätspakt 09, ist erklommen (mag für B i H hier mangels Eigenengagements in den Antragsrunden bisher auch weniger „abgefallen" sein als etwa für Kroatien). Die Realisierung des Minderheitenschutzes — das Schlüsselelement des innerstaatlichen Friedensprozesses — und die Ausgestaltung und Praxis der demokratischen Regierungsform, einschließlich erfolgreich durchgeführter Wahlen (noch fehlen wichtige Wahlgesetze), bilden die nächsten Stufen 70 . Auch deren Bewältigung kann unter dem Schirm gezielter internationaler Förderung erfolgen 71 . So mag die Hoffnung nicht illusorisch sein, dass es eines Tages einem Bosnier möglich ist, sich als bosnischer Staatsbürger serbischer (oder kroatischer) Herkunft in einem rechtsstaatlichen, vereinten Europa zu sehen. Eingebettet in das größere, auch seinerseits multiethnische Europa hätten dann die Geister der Vergangenheit den Schritt in die Zukunft nicht blockiert 7 2 69 Der Stabilitätspakt für Südosteuropa besteht aus einem vom Sonderkoordinator geleiteten „Regionaltisch Südosteuropa44 (von der EU ernannt nach Konsultationen mit dem Amtierenden Vorsitzenden der OSZE und von diesem bestätigt) sowie drei von diesem zu koordinierenden „Arbeitstischen 44 unter OSZE-Schirmherrschaft: Demokratisierung und Menschenrechte; wirtsch. Wiederaufbau, wirtsch. Entwicklung und Kooperation; Sicherheitsfragen (Innen- und Rechtspolitik, Verteidigung und Sicherheit). In Sachen Kooperation mit Südosteuropa ist der EU die fuhrende Rolle zugefallen. Es geht konkret darum, die Ziele des Stabilitätspaktes zu erreichen, die demokratischen und wirtschaftlichen Institutionen der Region zu stärken und diese an die Perspektive einer vollen Integration heranzuführen. Dies darf freilich nicht auf einen „Totalitarismus des Guten44 hinauslaufen, sondern muss dem Wiederaufbau, der Demokratie und der Versöhnung eine verbreiterte Basis geben. 70
Das gilt, hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft, auch für Zypern und die Türkei. Geopolitische Aspekte einer entsprechenden Erweiterungspolitik verdienen Erwähnung. So liegt Zypern ostwärts von Griechenland und die EU würde, sollte „Anatolien 44 aufgenommen werden, an den Kaukasus, Syrien, den Irak und den Iran grenzen. 71 Hervorzuheben ist die Arbeit der Kontaktgruppe, der auch Russland angehört. Sie hat zu einer intensiven, freilich unübersichtlichen multilateralen Diplomatie gefuhrt. Deutsche Außenpolitik ist, wie auch das BiH-Beispiel erweist, zu nahezu 80% innereuropäische Politik geworden, genauer: Außenpolitik in der EU. Sie dient in erster Linie dazu, innerhalb von EU, OSZE, Europarat etc. Verbündete für die eigene Position zu finden. Mit „Souveränität 44 i.S.v. Letzt-, gar von Alleinentscheidungsgewalt hat dieses moderne Verständnis der Wahrnehmung der Staatsaufgaben, wie mein Lehrer Werner von Simson frühzeitig erkannte, nur noch wenig zu tun. 72 Nach dem sich abzeichnenden Ende des Milosevic-Regimes wird sich die Schrittzahl erhöhen lassen. Dann wird es leichter fallen, die Übermacht der geschichtlichen Er-
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das Demokratieexperiment BiH würde gelingen. Südafrika (Abkommen zwischen Afrikanern und Afrikaanern zur gemeinsamen Regierung des Landes), Zypern (Renaissance und Reform der binationalen Verfassung von 1960) und andere obstruktions- und desintegrationsgefährdete Vielvölker- und Minderheitenstaaten könnten sich, als Schöpfungen ihrer jeweiligen Verfassung, an diesem Beispiel einer multiethnischen Demokratie orientieren. Bis dahin, ja bereits bis zum demokratiepolitischen „point of no return" ist es freilich noch ein weiter Weg.
eignisse, die teilweise hunderte von Jahren zurückliegen, aber im letzten Jahrzehnt wieder an dramatischer Aktualität gewonnen haben, beim politischen Entscheiden zurückzudrängen, den Blick der Bevölkerung und der Verantwortlichen also nach vome zu richten.
II. Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung
Der Visionär Persönliche Erinnerungen an Walter Hallstein Von Michael Kilian
I. Der Beginn: ein neuer Assistent Meine Bekanntschaft mit Walter Hallstein begann an meinem Geburtstag. Montagmorgens läutete das Telefon. Ich hatte den Anruf erwartet, war aber dennoch überrascht: „Hier Hallstein", ich zuckte etwas zusammen. Eine jugendlich-helle, forsch-klare, nicht unsympathische Stimme: „Ich würde Sie gerne als Assistenten einstellen". Ich bedankte mich verblüfft und entgegnete, ich betrachte das Angebot als Geburtstagsgeschenk. Hallstein gratulierte: „Wie alt sind Sie denn geworden?", „Neunundzwanzig.", „Sind Sie denn schon promoviert?", ich verneinte, „In Ihrem Alter war ich schon ein Jahr Ordinarius." Er hatte recht, bereits im Jahre 1930 war er, Geburtsjahrgang November 19011, zum ordentlichen Professor an der Universität Rostock berufen worden 2. Nun wußte ich, mit welcher juristischen Kapazität ich es zu tun haben würde. Die folgenden Monate würden die arbeitsintensivsten meines bisherigen Lebens sein, nur vergleichbar mit der Habilitation Jahre später. „Kommen Sie am Mittwoch zu mir nach Stuttgart." Professor Oppermann, bei dem ich nach dem zweiten Staatsexamen um ein Dissertationsthema angesucht hatte, kannte mich aus dem Studium, wo ich bei ihm, nach der Anfängerübung im öffentlichen Recht, vor allem Völker- und Europarecht gehört hatte. Auch im ersten Staatsexamen hatte ich ihn als Prüfer gehabt. Zudem kannten wir uns aus der Nachbarschaft; meine Eltern und Oppermanns waren seit deren Einzug 1967 in das Doppelhaus in der Tübinger Haussen/Ecke Melanchthonstrasse Wohnungsnachbarn im sog. „Intelligenzblock" 1 2
Geboren am 17. November 1901 in Mainz als einziges Kind einer Beamtenfamilie.
1920-1925 Studium der Rechtswissenschaften in Bonn, München und Berlin, 1925 Promotion in Berlin und anschließend dort Wissenschaftlicher Assistent, 1927 Assessorexamen, 1927-1930 Referent am Kaiser Wilhelm-Institut (heute Max-Planck-Institut) fur ausländisches und internationales Privatrecht in Berlin (damals untergebracht im Berliner Stadtschloß), 1929 Privatdozent mit der venia für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Wirtschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung. Hallstein hatte 1925 über das Thema „Der Lebensversicherungsvertrag im Versailler Vertrag" promoviert und sich 1931 in Berlin über „Die Aktienrechte der Gegenwart" habilitiert.
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gewesen, so nannte man die dort gelegenen Beamtenwohnhäuser, die vor allem von Professoren-, Richter- und Familien höherer Beamten (so die absteigende Tübinger soziale Stufenleiter) bewohnt wurden. Ich war dem Lehrstuhl Professor Oppermann bereits locker als Korrekturassistent, als Doktorand und als Mitarbeiter bei Gutachten verbunden, eine Assistentenstelle war gerade nicht frei gewesen. Bei einem Gesprächstermin mit Oppermann fragte dieser, ob mir der Name Hallstein bekannt sei. Natürlich war dies der Fall: ich kannte vom Geschichtsunterricht am Keplergymnasium Tübingen die Hallstein-Doktrin, auch war mir Hallstein als langjähriger Kommissionspräsident der EWG geläufig (die heutigen Studenten, Ost wie West, können freilich mit den Namen Hallstein nichts mehr anfangen. Es ist auch fraglich, ob die Masse der Studenten noch über nennenswerte Geschichtskenntnisse verfügt). „Wo lebt Hallstein denn?", fast hätte ich gefragt, „lebt er denn noch?", denn seit Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört, auch kaum in der Presse von ihm gelesen. „Er lebt nicht weit von uns, in Stuttgart", was mich doch überraschte, denn irgendwelche Bezüge Hallsteins zu Baden-Württemberg oder gar zu Stuttgart waren mir nicht bekannt. Nach seiner aktiven Zeit als Kommissionspräsident und danach als rheinland-pfälzischer Bundestagsabgeordneter 3 war Hallstein vom Westerwald, wo er in Rennerod ein Landhaus besaß, nach Süddeutschland gezogen, um dort weiter publizistisch zu arbeiten. „Hallstein sucht einen neuen Sekretär, sollten Sie daran Interesse haben, so werde ich Sie ihm vorschlagen." Mich reizte es natürlich, mit einem so berühmten Mann zusammenzuarbeiten, zudem als Absolvent der damals noch jungen internationalrechtlichen Wahlfachgruppe der baden-württembergischen Justizausbildungsordnung 4. Daß sich meine begonnene Arbeit an der Dissertation verzögern würde, nahm ich in Kauf. Sie sollte in der Tat erst drei Jahre nach Hallsteins Tod abgeschlossen werden 5. Ich zögerte also keinen Augenblick: Die Gelegenheit, einen der bedeutendsten Männer der 1978 bereits legendären, von mir noch als Kind erlebten Frühzeit der Bundesrepublik, der „Adenauerzeit" und vor allem einen der Gründer der Europäischen Gemeinschaften - persönlich kennenzulernen, würde sich mir niemals wieder bieten. Mir diese Erfahrung ermöglicht zu haben, dafür bin ich Thomas Oppermann bis heute dankbar. Oppermann stellte daher eine „Dreier-Liste" auf (ähnlich einer Berufungsliste bei Professoren) und setzte mich auf „Platz eins". Er wußte, daß ich neben eher 3
Hallstein war nach seinem Rücktritt als Präsident der EWG-Kommission von 1969 bis 1972 für die CDU Mitglied des Bundestags gewesen. 4 Die damalige Wahlfachgruppe „ V I = Allgemeine Staatslehre, Völkerrecht, Europarecht"; heute wäre eine solche Wahlfachgruppe wegen der darin enthaltenen Fülle an Stoff nicht mehr denkbar. Damals reizte mich gerade diese Kombination, und Professor Oppermann ersparte uns im mündlichen Staatsexamen nichts. 5
Internationale UmWeltorganisationen, 1986.
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„normalen" juristischen Kenntnissen und den bei ihm erworbenen Kenntnissen im Völker- und Europarecht (ich hatte „Jura" primär immer als „erweiterte Allgemeinbildung" verstanden) zusätzlich über historische und literarische Interessen verfügte; dies würde für eine Tätigkeit als Sekretär eines Juristen und Politikers wie Hallstein von Nutzen sein. Parallel zu meiner künftigen Tätigkeit bei Hallstein war am Lehrstuhl Oppermann eine Herausgabe von Hallsteins Reden in seiner Zeit als Präsident der EWG-Kommission in Arbeit 6 ; diese wurde jedoch von einem anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter betreut 7, so daß ich mich ganz auf die Sekretärsarbeit bei Hallstein selbst konzentrieren konnte. Also fuhr ich am Mittwoch im Wagen der Eltern nach Stuttgart-West in die Klopstockstrasse, wo Hallstein in einem Privathaus sein Büro hatte, während er gegenüber im Hause der Familie Ritter 8 wohnte, mitverköstigt wurde und schlief. Hallstein war Junggeselle und hatte als Einzelkind keine näheren Verwandten. Bekannt - und mir aus dem Fernsehen geläufig - war die Opernsängerin Ingeborg Hallstein9, sie war mit Hallstein jedoch nicht enger verwandt. Auch ich war damals - und sollte es noch lange bleiben - Junggeselle, was sich in den folgenden gemeinsamen Arbeitsjahren als vorteilhaft erwies, da Hallstein voraussetzte, daß seine engeren Mitarbeiter Tag und Nacht dienstbereit waren. Dies hatte ihn schon als Kommissionspräsidenten bei den Familien seiner Mitarbeiter gefürchtet gemacht. Mir machte es nichts aus, privat nahm ich niemandem Zeit weg. Ich lernte erst bei ihm so richtig, unter Druck und bis zur geistigen Erschöpfung zu arbeiten, was mir später am Lehrstuhl von Professor Oppermann, in Heidelberg und in Halle nur von Nutzen war. Beide waren wir Junggesellen, beide Juristen, beide Söhne von Regierungsbauräten 10, also Beamtenkinder. Dies waren allerdings die einzigen äußeren Gemeinsamkeiten. Ich parkte gerade in der Nähe des Hauses Klopstockstrasse 29, einer der in Stuttgart häufigen bergaufführenden Villenstrassen, als mir quer über die Straße 6
Europäische Reden, herausgegeben und eingeleitet von Thomas Oppermann, 1979, 707 S., verlegt bei der DVA. 7
Dr. iur. Joachim Kohler, heute in der Ministerialverwaltung Baden-Württembergs tätig. 8 Professor Dr. Hans Ritter war ehemaliger Chefarzt des renommierten Stuttgarter Robert Bosch-Krankenhauses und bekannter Homöopath. Hallstein kannte das Ehepaar Hans und Susanne Ritter seit ihrer gemeinsamen Rostocker Professorenzeit, er gehörte als Alleinstehender sozusagen seit langem zur Familie Ritter. Der Sohn Ritters, Dr. Lennart Ritter, war als Jurist in der Hallstein-Kommission und auch danach in der Generaldirektion Wettbewerb tätig. 9 Hallsteins Eltern, Jacob Hallstein und Anna, geb. Geibel, stammten väterlicherseits aus dem Odenwald, mütterlicherseits aus der Wetterau, waren somit beide Hessen. 10 Hallsteins Vater war bei der Hessischen Ludwigsbahn beschäftigt, also bei der Hessischen Staatsbahn. Walter Hallstein war in Darmstadt und in Mainz ins Gymnasium gegangen.
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ein nicht sehr großer, leicht untersetzter älterer Herr im Mantel, mit Stock und mit einer englischen Sportmütze entgegenkam. Ich erkannte Hallstein sofort, auch er vermutete in mir sogleich den „neuen Assistenten". Wie sollte ich ihn anreden: „Herr Staatssekretär? Herr Präsident? Herr Professor?", die Anrede „Herr Professor" erwies sich als richtig 11 . Hallstein fühlte sich zeitlebens als Wissenschaftler; seit 1925, also 57 Jahre war er diesem Beruf verbunden gewesen12. Noch auf der Strasse berichtete er mir sein jüngstes Abenteuer. Um ein Haar wäre es gar nicht zu unserem Zusammentreffen und zu unserer gemeinsamen Arbeit gekommen: Vor ein paar Tagen beim Winterurlaub in Oberstdorf habe ihn ein Autofahrer beim Rückwärtsfahren übersehen und auf die Strasse geworfen. Hätte er nicht geistesgegenwärtig im Liegen mit dem Stock heftig auf das hintere Wagenblech geklopft, so stünde er jetzt nicht hier. Auch diese Geschichte zeigte mir, daß es sich bei Hallstein um einen couragierten Mann handelte. Daß ich einen der intelligentesten Menschen vor mir hatte, denen ich je begegnet bin, sollte sich in den folgenden Jahren erweisen. In der Drei-Zimmer-Wohnung, die Hallstein als Büro gemietet hatte, begrüßten wir zunächst die Sekretärin, Frau Christel Walter. Hallstein stellte mich als neuen Mitarbeiter vor; vor mir waren schon ein oder zwei Assistenten tätig gewesen, ich sollte der letzte von Hallsteins Sekretären werden. Mit Frau Walter verbrachte ich die nächsten dreieinhalb Jahre in einer menschlich wie beruflich harmonischen Zusammenarbeit. Im Arbeitszimmer, von dessen Schreibtisch Hallstein ein Blick aus halber Höhe auf den tiefer liegenden Stuttgarter Westen hin zum Zentrum hatte, besprachen wir meine, besser unsere, künftige Arbeit. Sie bestand zunächst in erster Linie in der Vorbereitung und Fertigstellung einer Neuauflage (der fünften) von Hallsteins Hauptwerk, Die Europäische Gemeinschaft 13, ein Buch, das mir zuvor nicht bekannt gewesen war. Von dieser Neuauflage versprach sich Hallstein eine große politische Wirkung, insbesondere in Hinblick auf die kommenden ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament. 11 Der allzu professorale Habitus wurde Hallstein auch oft entgegengehalten, etwa von der Presse. 12 Hallsteins Schriftenverzeichnis weist 13 selbständige Veröffentlichungen auf, nicht gerechnet die Neubearbeitungen und Übersetzungen der „Europäischen Gmeinschaft", hinzu kommen Handbuchartikel, Herausgeberschaften und zahlreiche Aufsätze. Eine Bibliographie der Werke Hallsteins erarbeitete M.B. van GesteX, Walter Hallstein, Bibiographie seiner Veröffentlichungen, Löwen 1965. In der von Thomas Oppermann 1979 herausgegebenen Redensammlung sind 77 wichtige Reden Hallsteins als Kommissionspräsident enthalten, nur ein Bruchteil der tatsächlich gehaltenen Reden. 13 Die erste Auflage hatte „Der unvollendete Bundesstaat" gelautet und war 1969 erschienen. Hallsteins Mitarbeiter dabei waren Hans Herbert Götz und Karl-Heinz Narjes gewesen. Es folgte eine völlige Überarbeitung unter dem Titel „Die Europäische Gemeinschaft", 1. Auflage 1973, ebenfalls unter Mitarbeit von Götz und Narjes, sowie drei weitere, unveränderte Auflagen. Das Buch wurde in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt und erschien in renommierten europäischen Verlagen.
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Die eigentliche redaktionelle Bearbeitungszeit war sehr kurz, in etwa einem dreiviertel Jahr sollte sie abgeschlossen sein. Eile und ein Höchstmaß an Arbeit waren also angezeigt. In dem mit Stilmöbeln und Perserteppichen ausgetatteten Arbeitszimmer zeigte mir Hallstein nach dem Tee seine Kunstsammlung. Er liebte Kunst und umgab sich damit, überall standen Plastiken, hauptsächlich von Ernst Barlach und Gerhard Mareks 14 , mit dem er und Familie Ritter befreundet waren 15. An den Wänden hingen Gemälde und Zeichnungen von Mareks, aber auch von französischen Künstlern. „Dort hinten hängt ein Matisse", ich blickte hinüber: „Mir scheint, es ist eher ein Maillol", ich ging hinüber: es war ein Maillol. Hallstein war beeindruckt: „Ich sehe, Sie verstehen etwas von Kunst, wir werden gut miteinander auskommen." Seither erzähle ich meinen notorisch ungläubigen Erstsemestern, wenn es um den Wert der Allgemeinbildung gerade für Juristen geht, daß man auch durch nichtjuristische Kenntnisse juristische Stellen erlangen kann. II. Das Umfeld: die Stuttgarter Klopstockstrasse In den folgenden Monaten fuhr ich also zunächst täglich, dann meist an zwei oder drei Tagen in der Woche in die Klopstockstrasse, so daß sich ein gewisser regelmäßiger Rhythmus zwischen Stuttgart und Tübingen einpendelte. In Tübingen wurden täglich häufige Telefongespräche gewechselt, oft bis spät in den Abend hinein. Zuhause richtete ich mein Arbeitszimmer als „Hallstein"-Büro ein. Bezahlt wurde ich von der Thyssen-Stiftung, bei der Hallstein eine Projektförderung bekommen hatte. In Stuttgart kam ich gegen halb neun vormittags an, sah die Zeitungen durch und bereitete das erste Gespräch mit Hallstein vor, der etwa um halb zehn in sein Büro kam. Danach arbeiteten wir getrennt, jeder in seinem Büro: als Sekretär verfügte ich über ein eigenes Arbeitszimmer; zwischen unseren Büros lag das kleine Sekretariat von Frau Walter. Im Keller befand sich ein Archiv, vor allem mit EG-Dokumenten bestückt. Gegen halb eins zog sich Hallstein zum Mittagessen bei Ritters zurück und legte sich anschließend, er war damals immerhin schon 77 Jahre alt, in seinem Dachzimmerchen im Ritterschen Haus zum Mittagsschlaf nieder. Frau Walter und ich machten uns Kaffee und kleine Mahlzeiten zu Mittag und plauderten ein wenig; anschließend ging es weiter bis halb vier, wo Hallstein und ich die Ergebnisse 14 Von 1889 bis 1981. Später stellte ich fest, daß Mareks auch Lehrer an der renommierten Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle gewesen war. Halle ist mein heutiger Arbeits- und Wohnort. 15
Zum weiteren Bekanntenkreis gehörte über den Stuttgarter Verleger Ernst Klett auch Ernst Jünger, dessen Werke Klett verlegte. Leider konnte ich - als intensiver Leser Jüngers - nie die Bekanntschaft des Schriftstellers machen.
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der Tagesarbeit und das weitere Vorgehen beim Tee in seinem Arbeitszimmer besprachen. Gegen halb sechs verabschiedete ich mich, was ihm im Laufe der Zeit, als wir uns immer besser verstanden, schwerer fiel: „Jetzt wollen Sie mich schon verlassen?", „Ich komme ja bald (morgen, übermorgen) wieder." Die Einsamkeit, die um ihn war, trotz der engen familiären Vertrautheit mit den Eheleuten Ritter, bei denen es sich um Altersgenossen Hallsteins handelte, zeigte sich daran. Ich war seine Verbindung zur jüngeren Generation, wenngleich Hallstein auch gute Beziehungen zu den Enkelkindern Ritters pflegte die allerdings weit entfernt im Westerwald und in Brüssel wohnten. Bei Veranstaltungen der Familie Ritter versammelte sich die Großfamilie, von zahlreichen Bediensteten umsorgt, in den Stockwerken des geräumigen Hauses aus den zwanziger Jahren. Hallstein wurde von den Kindern „Onkel Pet" genannt. Er liebte Kinder und die Ritter-Enkel liebten und verehrten ihn. Auch im Amt mochte der kinderlose Hallstein Kinder gern und veranstaltete mit den Beamtenkindern in Brüssel Weihnachtsfeiern. Er pflegte zu sagen: „Rede zu Erwachsenen (einschließlich Kommissionsmitgliedern) wie zu Kindern und zu Kindern wie zu Erwachsenen." Warum er ledig geblieben war, habe ich nie erfahren. Frau Ritter, die diese Geschichte kannte — es war wohl eine unglückliche Liebe in seiner Rostocker Zeit gewesen - wollte sie mir erzählen, wozu es nicht gekommen ist. Aber in dieser Beziehung habe ich selbst ausreichend Erfahrung gesammelt. Ritters führten allerdings ein großes gesellschaftliches Haus: hier begegnete sich regelmäßig bei Geburtstagen und bei sonstigen Anlässen die Stuttgarter Gesellschaft. Bei unterschiedlichen Gelegenheiten kamen hier u.a. Politiker wie Annemarie Griesinger 16, Manfred Rommel 17 , Alt-Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (der recht unnahbar wirkte), Hans-Karl Filbinger 18 , Lothar Späth19 und bekannte Namen der Stuttgarter Society zusammen. Ich wurde hierzu eingeladen und hatte dabei die Möglichkeit, frühere und jetzige Größen der Politik kennenzulernen, so etwa den früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Gebhardt Müller 20 . Auf 16
Bekannte Sozialministerin in der Landesregierung Baden-Württembergs.
17
Stuttgarter Oberbürgermeister und Sohn des in Schwaben immer noch legendären Feldmarschalls. 18
Vorgänger von Späth als Baden-Württembergischer Ministerpräsident.
19
Damals Ministerpräsident Baden-Württembergs.
20
Mein Vater hatte mir als Kind den damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der für seine Sparsamkeit bekannt war, auf dem Tübinger Bahnsteig gezeigt. Ich war tief enttäuscht gewesen, da ich mindestens einen prächtigen Mantel, wenn nicht eine Krone auf dem Kopf erwartet hatte. Müller fuhr ins Amt natürlich mit der Bahn, nicht im Dienstmercedes, damals ohne jede Bewachung und vermutlich auch Zweiter Klasse. Müller zeichnete eine liebenswerte, altfränkische Bescheidenheit aus. Mich, als
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diesem „Parkett" traf ich immer auch das Ehepaar Oppermann. Ritters unterhielten zudem einen , jour fix", bei dem Vorträge gehalten und Konzerte veranstaltet wurden. Hallstein war als Familienmitglied in diesen gesellschaftlichen Rahmen in glücklicher Weise eingebunden. I I I . Die Person: Walter Hallstein Hallstein benötigte Zeit, um aufzutauen, dann aber wurde das Verhältnis zwischen uns, bei allem Respekt meinerseits, immer enger und — im Rahmen seiner stets etwas reservierten, wenn auch nicht kühlen Art - auch vertraulicher. Wie Hallstein überhaupt, wenn man ihn näher kennenlernte, nicht die Kühle und Distanz ausstrahlte, von der bei der Beurteilung seiner Person so oft die Rede ist und was zu mancher ungerechten Einschätzung geführt hat bis hin zu bösartigen Zitaten über ihn, wie ich sie in zwei Büchern des Tübinger Literaturwissenschaftlers Hans Mayer fand, Rheinländer wie er (wenn man die Mainzer dazuzählt) und Jurist wie er („Oberlandesgerichtsrat a.D.") 21 . Auch Hans von der Groeben, der Hallstein als enger Mitarbeiter in Brüssel besonders gut kennen mußte, bleibt in seinen Lebenserinnerungen bei der Erwähnung Hallsteins sachlich und distanziert, wenn auch voller Hochachtung vor Hallsteins Leistung und Willensstärke 22. Ob der Ausspruch „wenn ein Jurist den Raum betritt, muß die Temperatur um einige Grade fallen" tatsächlich von Hallstein stammt, weiß ich nicht 23 . So ganz abwegig ist er allerdings nicht, und auch nicht gerade falsch: der Jurist hat ja gerade die Aufgabe, streitige Dinge unparteiisch und emotionslos 24 zu versachlichen 25. Hallstein war jedoch gerade nicht der blutleere, emotionslose Paragraphenmensch und Technokrat, als der er ge- und verzeichnet wird, sondern ein - wie den sehr viel jüngeren Landsmann, redete er mit „Herr Kollege" an, was natürlich sehr schmeichelte. 21 Wer es nachlesen möchte: Hans Mayer, Deutsche Literatur 1945-1985, Ausgabe Juli 1998, Siedler-TB Nr. 75501, S. 84, sowie ders., Der Turm von Babel, 1993, Suhrkamp-TB Nr. 2174, S. 133 f. Wohl auch das Ressentiment des früheren, von der Hallstein-Doktrin sich ausgegrenzt fühlenden DDR-Bürgers. 22 Deutschland und Europa in einem unruhigen Jahrhundert. Erlebnisse und Betrachtungen, 1995, bes. S. 298 und 475 ff. 23
S.a. DER SPIEGEL Nr. 15/1960, S. 25.
24
In dem Dessauer Verfassungsrichterkreis lernte ich den Ausdruck: „Hier bin ich leidenschaftslos." 25
Weitere persönliche Zeugnisse von Mitarbeitern Hallsteins finden sich in dem von W. Loth/W. Wallace ZW. Wessels 1995 herausgegebenen Sammelband „Walter Hallstein, Der vergessene Europäer", so von L. Lahn (S. 31 ff.), J. Jaenicke (S. 49 ff.), WG. Grewe (S. 57 ff.), H. v. d. Groehen (S. 121 ff.), K.-H. Narjes (S. 139 ff.), E. Nöel (S. 165 ff.), T. Jansen (S. 205 ff.) und anderen.
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ich ihn erlebt habe - außerordentlich gütiger, sehr weltgewandter Herr 26 , voll Temperament, Mut 2 7 und Spaß am Leben; vielleicht in Dingen des täglichen Lebens etwas naiv - kein Wunder bei einem Mann, der Jahrzehnte in hohen und höchsten Positionen verbracht hatte und es gewohnt war, Sekretäre, Referenten und Kabinette zu seiner Verfügung zu haben. Ich war sein letzter „chef du cabinet", wie er am Telefon von mir Dritten gegenüber sprach. Hallstein war auch nicht ohne Humor: Er erzählte mir, wenn er als Staatssekretär oder Kommissionspräsident den vortragenden Beamten auf Unrichtigkeiten oder Widersprüche hingewiesen habe - er verfugte ja über eine blitzschnelle Auffassungsgabe - sei fast immer die Antwort gewesen: „... das kommt noch hinzu". Wie jeder bedeutende Mensch hatte auch er seine kleinen Schwächen, eine davon war seine Sparsamkeit. Hallstein liebte Pferde, mir sind sie eher unheimlich. Er ist wohl in Rostock und später als Artillerie-Reserveoffizier viel geritten. Jedes Jahr in seiner späten, Stuttgarter Zeit verbrachten er und Ritters zwei Wochen auf dem Württemberger Haupt- und Landgestüt Marbach-St. Johann auf der Schwäbischen Alb. Sie lebten dort inmitten der weidenden Pferde in einer alten Baracke, die zur Ferienwohnung hergerichtet war. Ich besuchte ihn und traf dort auch Margarete, Gräfin von Urach und Herzogin von Württemberg, eine damals schon betagte, ruhige Dame, Tochter des letzten Königs von Württemberg 28. Wir plauderten in diesem Idyll vor der Baracke bei Kaffee in der Sonne; als Hallstein mich allerdings in die riesige Halle mitnahm, wo die Fohlen umher- und dann auf mich zu galoppierten, bekam ich es doch mit der Angst zu tun. So verlief die gemeinsame Arbeit rasch in einer unaufgeregten, sehr harmonischen Atmosphäre, an die sich Hallstein gewöhnte. Nur ungern gab er mich nach einem halben Jahr, als am Lehrstuhl Oppermann eine halbe Mitarbeiterstelle frei wurde, ab Oktober 1978 „zur Hälfte" an Herrn Oppermann weiter. Nun war ich „Diener zweier Herrn"; aber wie so oft, wenn man mehreren Herren je zur Hälfte dient, verdoppelt sich dadurch die Arbeit, jeder verlangt - zu Recht — volle Leistung. Dies gab mir, das zeigt die Lebenserfahrung, auch manche Freiräume und zusätzliche Einblicke mit auf den Weg. Dennoch war es 26 Hallstein war 1948/49 als einer der ersten deutschen Hochschullehrer ein Jahr Gastprofessor an der Georgetown-University in Washington, D.C. Zuvor war er bereits als lôïegsgefangener ab 1944 in den USA gewesen, wo er sich als Organisator von Fortbildungskursen nützlich gemacht hatte. 27 Als Dreizehnjähriger war er mitten im Ersten Weltkrieg 1915 als Mitglied des Pfadfinderkorps der deutschen Kommandantur in Brüssel als Ordonnanz zugeordnet gewesen. S. die Ansprache Hallsteins aus Anlaß eines Empfangs zu seinem 75. Geburtstag im Auswärtigen Amt am 25. November 1976. 2K Mein Vater hatte mit einem Bruder des Königs an der TH Stuttgart 1920 Bauingenieur studiert und schätzte den „guten König Wilhelm II." sehr, unter dem er im I. Weltkrieg noch Soldat geworden war.
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ein glücklicher Zufall, daß beide Herren, bei allem beruflichen Anspruch, persönlich außerordentlich angenehme Chefs waren. Nie gab es wegen der „Doppelunterstellung" irgendwelche Schwierigkeiten. Die Vorlesungsvertretung für Professor Oppermann ließ sich mit dem Tagungsbesuch für Professor Hallstein stets in eine Reihe bringen. Die Assistentenkollegen am Lehrstuhl akzeptierten meine „Doppelstaatlichkeit". Nur wenn im Büro das Telefon klingelte sagte mein Zimmerkollege, Werner Hiermaier (heute in der Ministerialverwaltung Baden-Württembergs tätig), stets: „Hallstein", und fast immer stimmte es. Nur ein einziges Mal in über drei Jahren war Hallstein unwirsch und zeigte es auch, den Anlaß habe ich vergessen. Ich war wohl — gegenüber seinem raschen Verstand - etwas zu begriffsstutzig gewesen. Obwohl wir uns wenig ähnelten, sah Hallstein in mir so etwas wie einen geistigen Ziehsohn. Er gab mir daher manche Ratschläge aus seiner Lebenserfahrung heraus: „Bei Reisen immer das erste Haus am Platz nehmen" (seit ich es mir, spät genug, leisten kann, weiß ich den Rat zu schätzen, besonders in Westdeutschland; in den neuen Bundesländern ist die Hôtellerie mittlerweile weit vor dessen Standard), „Sprechen Sie mit Ihrem Fahrer nichts, weder Dienstliches noch Persönliches" (ich verfüge bis heute über keinen, es sollte sich daraus aber eine Anekdote entwikkeln - dazu später). Als ich ihm sagte, ich hätte mich - da ich ja auch meine weitere berufliche Zukunft planen mußte — beim Bundes-Innenministerium beworben: „Das ist nichts für Sie, Sie sind kein Beamter" (was wohl als Kompliment gedacht war), „was tun Sie in einem Polizeiministerium?" (das war richtig, am ehesten hätte mich die Kunstförderung, die damals beim B M I angesiedelt war, interessiert). Auch meine Zukunft wurde geplant: „Wollen Sie ins Auswärtige Amt oder zur (EG-)Kommission? Ein Anruf von mir genügt!". Ich zögerte, die Promotion stand ja noch an. Immerhin, auch die Rechtswissenschaft hielt er für mich als ein geeignetes Berufsfeld, obwohl sich dies erst viel später durch Thomas Oppermann entschied. „Lassen Sie sich bei Presseinterviews stets die Fragen vorher schriftlich geben und halten Sie sich unbedingt daran", er hatte seine eigenen Erfahrungen mit der Presse gemacht (leider halte ich mich an diesen Rat nicht). Am wenigsten hielt er vom SPIEGEL („Politische Pornographie"), der in der Tat nicht besonders fein 29 mit Hallstein in dessen aktiver Zeit umgesprungen war. Auch darin folgte ich ihm nicht, seit meiner Schulzeit (Frucht der „Spiegel-Affäre" 1962) lese ich den SPIEGEL. Aber auch privat kamen wir ins Plaudern. Ihm gefiel, daß ich ihm gerade von Herrn Oppermann empfohlen worden war, den er - als Menschen, nicht nur als Europarechtler - hoch schätzte. Er bemerkte rasch, daß ich viel und gerne las — nicht Fachliches, das war für ihn selbstverständlich, sondern auch Literari29
S. etwa die Titelgeschichte „Europa-Doktrinär Hallstein"/„Hallsteins eiserner Vorhang", DER SPIEGEL Nr. 15/1960, S. 21 ff. Immerhin war Hallstein als Kommissionspräsident dem SPIEGEL eine Titelgeschichte wert gewesen.
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sches. Ob ich ihm nicht eine persönliche Bibliothek zusammenstellen könne? Offensichtlich hatte Hallstein das Gefühl, in seiner Karriere auch manches versäumt zu haben. Ich hätte nichts lieber gemacht, ihn hierfür allerdings um einen Bücheretat von 20.000,- DM bitten müssen, dann wäre es ein Vergnügen gewesen. Dazu ist es, wie zu manchem anderen auch, nicht mehr gekommen. Ich bin freilich nicht sicher, ob Hallstein, der, wie erwähnt, als sehr sparsam bekannt war, mir diesen Betrag zugestanden hätte. IV. Die Arbeit: „Die Europäische Gemeinschaft 66 Zunächst las ich die Vierte Auflage der „Europäischen Gemeinschaft" in Ruhe durch, ich wollte wissen, mit was ich es zu tun haben würde. Hallsteins Stil war knapp und verständlich, nicht journalistisch, auch nicht unbedingt leichtgängig und auch nicht immer elegant, wobei natürlich stets der Wissenschaftler und der Jurist durchschimmerte. Als politisches Sachbuch kam es ohne Fußnoten aus, für einen Juristen eine rare Erscheinung. Bereits in den ersten Sätzen betonte Hallstein, es handele sich bei seiner Darstellung „nicht um ein Erlebnisbuch". Ich meinte mich dunkel erinnern zu können, daß ich vor Jahren eine Rezension der „Europäischen Gemeinschaft" gelesen hatte, in der eben dies gerügt worden war. Der Rezensent hatte eine spannende Autobiographie über Hallsteins Zeit in der Europäischen Gemeinschaft erwartet, und war entsprechend enttäuscht worden. In der Tat handelte es sich bei dem Buch, bei allem schriftstellerischen Temperament Hallsteins - und darüber verfügte er reichlich - , um eine eher trockene, sachliche, fachpolitische und hochpolitische Abhandlung, die durchaus überzeugen wollte, also auch werbenden und nicht nur referierenden Charakter besaß. Jegliches Autobiographische vermied die Darstellung jedoch konsequent. Hallstein stand völlig hinter die Sache zurück. Allerdings wäre ein Erinnerungsbuch Hallsteins ungemein reizvoll gewesen. Auch eine Biographie Hallsteins steht noch aus30, von einer Auseinandersetzung mit seinen europapolitischen Theorien ganz zu schweigen31. Was hatte er in mehr als siebzig Jahren nicht alles erlebt, welche Schlüsselstellungen hatte er nicht bekleidet: Gründungsrektor der Frankfurter Universität nach deren Wiedererrichtung 1946, Kontakte zur Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets in Frankfurt (der Bi-Zone, dann 30 31
1969 verfaßte der Journalist Theo M. Loch „Walter Hallstein. Ein Portrait".
Eine Wuppertaler politikwissenschaftliche Habilitationsschrift befindet sich in Arbeit, wie mir bekannt ist. Eine erste Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der Wirkung Hallsteinscher Ideen findet sich bei Loth / Wallace / Wesse! (Fn. 25), s. jetzt auch M. Kilian, Walter Hallstein und die Europäische Union, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Amsterdamer Vertrag, Tagungsband Halle/Saale 1999, 2000, S. 37 ff.
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der Tri-Zone als der Urzelle der späteren Bundesrepublik Deutschland), 1950 Staatssekretär des Bundeskanzleramts, 1951 Staatssekretär des Auswärtigen Amts, beides unter Adenauer, die Deutschland-Note Stalins 1952, die Reise mit Adenauer 1955 nach Moskau, die maßgebliche Beteiligung an den Verhandlungen über die Montanunion, später über die Römischen Verträge, ab 1958 erster Präsident der EWG-Kommission 32 , seine Auseinandersetzungen mit de Gaulle 33 usw. Warum Hallstein keine Memoiren verfaßt hat, habe ich ihn nie gefragt. Von Adenauer sprach er stets mit größter Achtung als dem „Alten Herrn". Über Persönliches äußerte er sich nur sparsam, sehr verehrte er seinen Lehrer Martin Wolf, von dem er öfters sprach. Nicht dagegen schätzte er seinen Zeitgenossen Carl Schmitt („ein wahrer Teufel"). Möglicherweise hat er in seinem Berufslebens so viel Brisantes erfahren, daß es ihm als Beamter der klassischen Schule (das war Hallstein auch, eine Gattung, die langsam ausstirbt) unmöglich war, irgendwelche Indiskretionen - und diese sind in Autobiographien unumgänglich, sollen sie überhaupt von Interesse sein - zu äußern. Hinzu kommt, daß es ihm als überaus bescheidenen Menschen — und als solchen lernte ich ihn kennen und schätzen — stets um die Sache selbst zu tun war, hier: um das europäische Einigungswerk - nie um seine Person. Zwar hatte er wohl als Kommissionspräsident stets Wert darauf gelegt, zum Unmut de Gaulles, mit protokollarischen Ehren begrüßt zu werden, wie es einem Staatschef zustand34. Dies lag jedoch in seiner Absicht begründet, dem Einigungswerk in der Person ihres höchsten Beamten staatliche Weihen zukommen zu lassen, wie er es auch im Titel der ersten Auflage, dem „Unvollendeten BundesStaat", verdeutlichen wollte. Daß er in seinem Berufsleben zahllose Ehrungen entgegenehmen konnte: Orden höchster Stufe von zahlreichen Ländern 35, Photographien mit Widmungen monarchischer und republikanischer Staatsoberhäupter und Politiker — ich konnte sie in seinem Arbeitszimmer bewundern - sowie Preise 36 und 18 Ehrendoktorate von Georgetown bis Oviedo, hatte ihm, dem rastlosen Arbeiter, sicher Genugtuung bereitet, ohne ihn aber deshalb stolz und unnahbar gemacht zu haben. Hallstein war und lebte bescheiden: über einen Winterschal (von meiner Mutter, die er mit Handkuß begrüßte) oder über indischen Tee zum Geburtstag konnte er sich kindlich freuen. Meine eigentliche Arbeit bestand zunächst darin, tausende von Zeitungsausschnitten aus der Frankfurter Allgemeinen, der Süddeutschen, der Frankfurter 32
Genau: vom 10. Januar 1958 bis zum 5. Juli 1967.
33
S.a. v. d. Groeben (Anm. 22), S. 487, 489 ff.
34
Vgl. auch die Bemerkung hierzu bei v. d. Groeben (Anm. 22), S. 487 und die falsche Sicht, die de Gaulle in seinen Memoiren von Hallsteins Wesen äußerte. 35
Insgesamt 30 Großkreuze.
36
So 1961 den Karls-Preis der Stadt Aachen.
9 FS Oppermann
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Rundschau, der Welt, des Handelsblatts usw., vor allem aus der Neuen Züricher Zeitung, die Hallstein ganz besonders schätzte und zu deren politischen Redakteuren er ein enges Verhältnis pflegte 37, zu sichten und den einzelnen Buchkapiteln der „Europäischen Gemeinschaft" (Vierte Auflage) zuzuordnen. Die vierte Auflage war von dem amerikanischen Politiker George F. Ball eingeleitet worden. Diese Sichtungsarbeit hatten bereits meine beiden Vorgängern in mehreren Jahren vorgenommen; die gesammelten Ausschnitte waren von ihnen zu Sachgruppen geordnet worden, etwa „Landwirtschaftspolitik", „Sicherheitspolitik", „Erweiterung", und betrafen sämtlich Zeitungsartikel, die irgendwie mit der Europäischen Gemeinschaft zusammenhingen. Die im Laufe von Jahren angesammelte Materialmasse mußte auf ihre Verwertbarkeit für die geplante Neuauflage der „Europäischen Gemeinschaft" gesichtet, durchgelesen und als Fakten- und Meinungsmaterial zusammengestellt werden. Ich drohte zunächst in der Materialfülle zu ertrinken, lernte es aber bald, durch Auswahl und Querlesen, Unaktuelles von Aktuellem, Wichtiges von Unwichtigem und Nebensächlichem trennend, Schneisen in diesen Zeitungsartikel-Dschungel zu schlagen. Aus der Überfülle an Stoff mußte so unter Zeitdruck die Essenz desjenigen herausgezogen werden, was sich in der Europäischen Integration seit der vierten Auflage, also 1973, bis heute, 1978, entwickelt - oder auch nicht entwickelt hatte, sondern stagnierte, wie etwa die Verkehrspolitik oder die Reform der Landwirtschaftspolitik. Das Verwertbare wurde dann in Ordnern gesammelt und auf die neu zu schreibenden oder umzuschreibenden Buchkapitel verteilt. Auch diese Erfahrung sollte mir später als Wissenschaftler zugutekommen: das Problem ist oft nicht, daß es wenig oder kein Material zu einem Thema gibt, sondern daß zuviel davon existiert! Bei dieser Arbeit ließ mir Hallstein freie Hand; er vertraute darauf, daß ich das für die Neuauflage Wesentliche schon herausfiltern würde. Stets mahnte er mich aber, da der Termin, den er sich für die Neuauflage gesetzt hatte - das Buch sollte rechtzeitig vor den ersten Direktwahlen 1979 beim ECON-Verlag in Düsseldorf 98 erscheinen - immer näher rückte: „Wir müssen jetzt beginnen zu schreiben", der Augenblick, vor dem es jedem wissenschaftlich Arbeitenden graust. Die „Angst vor dem leeren Blatt" bzw. „vor dem ersten Satz". Zum Glück hatte ich darin nie Schwierigkeiten, auch die bekannten und berüchtigten Schreibhemmungen kann man mit einiger Übung überwinden. Hallstein betonte stets, daß es sich um ein politisches, nicht aber um ein wissenschaftliches Buch handele. Er wollte damit wirken, auch überzeugen, nicht aber die Wissenschaft über Europa - oder des Europarechts - weiter bringen. In der Tat existierte zu 37 38
Etwa zu Alois Riklin oder zu Christian Lutz.
Dessen Inhaber, Barth von Wehrenalp, er kannte und achtete, ebenso wie die Lektorin Gisela Wirsing.
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dieser Zeit bereits Hans-Peter Ipsens großes Werk über das Europarecht 39, Oppermanns Lehrbuch des Europarechts erschien erst einige Zeit später 40, Hallstein hat es nicht mehr erlebt 41. Die Umstellung in die Schreibphase gelang im Sommer 1978. Ich begann, die vierte Auflage nach deren nochmaliger gründlicher Lektüre mit Ergänzungsanregungen, Anregungen für die Umschreibung einzelner Kapitel oder Abschnitte, aber auch für Streichungen oder für das Setzen neuer Schwerpunkte zu versehen 42. Dadurch kam es zwischen uns in den nächsten Wochen und Monaten zu intensivem geistigen Austausch mit Hunderten von Textvorschlägen. Der heute selbstverständliche Personalcomputer hätte uns hier immense Arbeitserleichterungen verschafft. Das erste, was Hallstein mir bei der Begrüßung und Vorstellung gesagt hatte, war „Nicht nach dem Munde reden, dies schätze ich nicht!", was ich in der Folge auch nie tat. Er ließ sich auch immer wieder in einzelnen europarechtlichen oder sonstigen (etwa historischen) Fragen von mir überzeugen oder auch umstimmen. Dabei kam es für mich zu merkwürdigen Erfolgserlebnissen, wenn ich - als ehemaliger Student der Wahlfachgruppe V I „Völkerrecht" - Hallstein als dem früheren Staatssekretär des Auswärtigen Amts 43 völkerrechtliche Fragestellungen erläuterte — und Hallstein mir zustimmte. Mehr konnte ich vom Jurastudium nicht verlangen. Schriftstellerisch stellte die Neubearbeitung einige Anforderungen. Hallstein wollte mit seiner Schrift nicht nur den Fachmann überzeugen oder in seiner europapolitischen Haltung bestätigen, sondern vor allem auch den „normalen Leser", also etwa den Zeitungsleser ohne europäisches Fachwissen, erreichen und von ihm verstanden werden. Dabei ging es nicht ohne Spaßiges ab, was manchmal auch eine gewisse Weltfremdheit andeutete: so konnte ich Hallstein nur mühsam davon überzeugen, daß eine Wendung wie „pejoratives Epitheton" vom normalen, heutigen Zeitungsleser ohne klassische Bildung schwerlich mehr verstanden werden konnte. Wir einigten uns auf die Übersetzung „abwertendes 39
Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972.
40
Europarecht, 1. Aufl. 1991, 2. Aufl. 1999.
41
Ich selbst arbeitete später am Lehrstuhl Oppermann nur am Rande diesem größten wissenschaftlichen Vorhaben Thomas Oppermanns (nach dessen Habilitationsschrift über das „Kulturverwaltungsrecht") zu, da ich - der Ressorteinteilung des Lehrstuhls folgend (der einem Ministerium im Kleinen glich, eine Reminiszenz an Oppermanns Zeit im Bundes-Wirtschaftsministerium) - vorwiegend für das Völkerrecht zuständig wurde. 42
Insgesamt wurde die 5. gegenüber der 4. Auflage ca. 80 Druckseiten umfangreicher. Unser Entwurfsmaterial betrug allerdings ein Vielfaches davon, da das Werk prägnant und lesbar bleiben sollte. 43
Hallstein erläuterte mir, daß es im Auswärtigen Amt zwei (beamtete) Staatssekretäre gebe und der „ranghöhere" als Staatssekretär des Auswärtigen Amts bezeichnet werde, der andere lediglich als Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 9*
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Beiwort". Auch sonst machte sich Hallstein meine sprachlich vereinfachenden, wenn auch hoffentlich nicht sachlich versimpelnden Vorschläge meist zu eigen. Waren wir in Sachfragen, etwa bei der Bewertung einzelner europapolitischer Vorgänge, nicht einer Meinung, so ging es - zum Vergnügen unserer gebildeten Frau Walter - öfters hin und her. Meine Textvorschläge versah ich mit fortlaufenden Nummern, etwa „ M K 86", Hallstein zeichnete mit „Hst" ab. Oft kam auf dem Blatt ein Vermerk zurück: „das kann so nicht stimmen Hst", „ist aber so M K " , „glaube ich nicht Hst", „doch M K " ; oft, wenn auch nicht immer, ließ sich Hallstein eines Besseren belehren. Kam dieses Hin und Her bei einem Entwurf öfters vor, so meinte er, „das ist unser § 242 (BGB)!". Eine stilistische Gegenkontrolle erhielt ich in den ersten Monaten noch von meinem Vater, der - zwar kein Jurist - mir dennoch als lebenserfahrener Beamter und passionierter Leser manche Hilfeleistungen in Stil-, Lesbarkeits- und Verständnisfragen geben konnte. So ist auch er, der im August 1978 starb, und der sich sehr über meine Anstellung bei Hallstein gefreut hatte, ein wenig mit der „Europäischen Gemeinschaft" verbunden. Mit meinen Entwürfen gab es also keine Schwierigkeiten. Nur einmal, als es um die Schilderung der britischen Beitrittsverhandlungen ging und ich meinem polemischen Talent die Zügel schießen ließ, meinte er „schade, daß wir das nicht drucken können". Für einen Redeentwurf zur Verleihung des Karls-Preises 1979 an den griechischen Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis, die ich Hallstein entwerfen mußte (die Rede konnte er dann aus Gesundheitsgründen nicht halten) erntete ich die Bemerkung: „Ich zeige Ihnen dann einmal, wie man so etwas macht". Zu diesem wünschenswerten Privatunterricht - ich hatte ja keinerlei Erfahrung mit Redenverfassen - kamen wir ebenfalls nicht mehr. Auch bei der Arbeit am Buch erhielt ich manche Ratschläge, die ich seither beherzige: -„Für jeden Gedanken ein gesondertes Blatt, keine Zettelwirtschaft", „Nie seine eigene Gliederung rechtfertigen, der Autor hat immer recht", „Nicht jede Journalistenfloskel aufnehmen, sondern stets vermeiden" (Hallstein meinte damit etwa die in der Presse öfters anzutreffende Wendung „etwas vorantreiben"). Neben der Zeitungsausschnittssammlung verwandten wir natürlich weitere Quellen, etwa interne Berichte über wichtige Vorgänge innerhalb der EG, die Hallstein erhielt, sodann die halbjährlichen Bundestags-Drucksachen über den Stand der Europäischen Integration, europapolitische Monographien und natürlich den jährlichen Gesamtbericht der EG-Kommission. Ich lernte über die bereits vom Studium her bekannten Quellen des Europarechts hinaus neues europarechtliches und europapolitisches Material kennen. Abgesehen von den erwähnten Besuchen europarechtlicher Tagungen konnte ich, gemeinsam mit meinem Kollegen Werner Hiermaier, einige Tage die Brüsseler Kommission kennenlernen. Dort betreut von Professor Dr. Rolf Wägenbaur, den ich als europarechtlichen Lehrbeauftragten in Tübingen im Umkreis des Oppermannschen Lehrstuhls kennengelernt hatte.
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Für Hallstein reiste ich viel, etwa zu Recherchen nach Bonn oder zu europarechtlichen Tagungen, etwa nach Berlin und Hamburg. In Bonn kam es auch zu der angedeuteten Anekdote. Ich fragte den Taxifahrer, ob es nicht interessant sei, in Bonn viele Politiker zu treffen. „Aber ja, neulich habe ich den Höcherl 44 gefahren, so ein netter und leutseliger Mensch. Aber danach habe ich den Hallstein gefahren: Stellen Sie sich vor, der hat nicht ein Wort mit mir geredet. Dies ist der kälteste Typ, dem ich je begegnet bin. Wenn damals die Arbeiter revoltiert hätten (er meinte die Adenauer-Zeit), d e r hätte schießen lassen". Ich zog es vor zu schweigen, wie mir Hallstein geraten hatte. V. Die Gedankenwelt: Sachlogik und Rechtsgemeinschaft Hallsteins europapolitische Ideenwelt in seinen letzten Jahren kann hier nur kurz skizziert werden 45. Sein Denken kreiste um Begriffe, mit denen er sich immer wieder auseinandersetzte. Er war sicher kein Begriffsjurist, als Wissenschaftler und Politiker war ihm aber bewußt, daß derjenige, der über die Begriffsdefinition verfugte, auch über die Macht verfügte, die ein solcher Begriff auszustrahlen in der Lage war. Ganz besonders, wenn dieser Begriff integrationshemmend eingesetzt werden konnte. Hier hat Hallstein wohl auch seine Erfahrungen mit den in Begriffen denkenden französischen Juristen und Politikern gemacht. Wenn de Gaulle meinte, die (damalige) „Europäische Versammlung" sei „seulement" eine „assemblée", so entgegnete Hallstein: „une assemblée des parlementaires". Begriffe, die er als gefährlich für den Fortgang der europäischen Integration erachtete, waren vor allem die „Souveränität", die „Föderation", die „Nation", die „Legitimation" und die „Legitimität" 46 . Sie sollten auf ihren historischen Kern reduziert und in ihrer Eigenschaft als Waffe gegen die Integration entschärft werden. Zentrales Instrument der Integration war für ihn jedoch das Mehrheitsprinzip, mit ihm stand und fiel jede europäische Integration, es ist der „Fundamentalsatz der Gemeinschaftsverfassung" 47. Das zeitweise Abgehen von diesem Prinzip und sein ständiges Außerkraftsetzen in wichtigeren Fragen verärgerte ihn zutiefst. Dies war für ihn juristischer wie politischer Verrat an der tragenden Integrationsidee. Daß es durch den Vertrag von Amsterdam wieder gestärkt wurde, ist ganz in seinem Sinne.
44
Hermann Höcherl, CSU, früherer Bundes-Innenminister.
45
Dazu: Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, sowie jetzt Kilian (Fn. 31), S. 42 ff. 46
Im einzelnen dazu in: Walter
Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl.
1979. 47
Siehe: Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 92 ff., 96 ff., 473 ff.
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Weitere zentrale Instrumente, die er als nützlich erkannte, waren die „Sachlogik" und die „Zeit" 4 8 als Faktoren der Politik: Sachlogik als „emotionale Logik" und „dynamischer Faktor" der Integration, Zeit als Reifenlassen wie als Gunst des Augenblicks (des „kairos"). „Krisen", die in der europäischen Politik immer wieder auftauchten, und mit denen man rechnen mußte, waren schöpferisch zu bewältigen, so daß sich aus jeder Krise zugleich ein Fortschritt in der Integration entwickeln mußte, eine „relance" (= Aufschwung, Neuanstoß). Das Schlimmste, was passieren konnte, waren Stillstand und „Rückspulung" des bereits Erreichten, ein Begriff, den er einer Broschüre des Schweizer Journalisten — und Europaexperten — Christian Lutz entnommen hatte49. Es war die Aufgabe der zentralen Gemeinschaftsorgane, dieses Krisenmanagement so geschickt wie möglich zu betreiben. „Außervertragliche Strukturen", wie sie unter Umgehung des geschriebenen Gemeinschaftsrechts entstanden (die zahlreichen ad hoc-Gremien oder den jetzt in das Vertragswerk integrierten „Europäischen Rat"), fanden nicht seinen Beifall 50 . Das Nötige und Unumgängliche konnte auch mit dem Handwerkszeug bewältigt werden, das die Gründungsverträge vorsahen. Im Zentrum stand „seine" Kommission, die „originellste Schöpfung" des Gemeinschaftsrechts, so Hallstein. Sie war „Motor, Wächter und ehrlicher Makler" der Integrationsidee 51. Den neu entwickelten Begriff der „Union" nahm er skeptisch als möglicherweise nützlich für ein Wiederaufgreifen der Arbeit an der politischen Integration hin 52 . Daß die Mitgliedstaaten Reformvorschläge, vor allem die des belgischen Ministerpräsidenten Tindemans, den er sehr schätzte, einfach ad acta gelegt hatten (den „Tindemans-Bericht" von 1976), hatte ihn tief verstimmt. Hallstein war - bereits 1978/79 ! - von den Aktivitäten der Kommission enttäuscht, er setzte daher seine ganze Hoffnung auf ein durch die Direktwahl gestärktes Europäisches Parlament 53. Ihm kam endlich die demokratische „Legitimation" zu, deren Fehlen man den anderen Gemeinschaftsorganen - ungerechtfertigt, wie Hallstein meinte - in der Öffentlichkeit stets vorgeworfen hatte. Im Einvernehmen mit der europäischen Basis, dem europäischen Volk, sollte das Parlament den Zwist der Nationen überwinden. Dieser Egoismus der Mitglied48
Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 22 ff. bzw. S. 471 ff.
49
Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union. Beiträge zur europäischatlantischen Politik, 1 /1977, S. 28. 50
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 115 ff.
51
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 82 ff.
52
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 383 ff., „Europäische Union, wozu und
wie". 53 Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 101 ff. sowie zur europäischen Verfassung S. 61 ff. Seine letzte Publikation lautete „Mit neuer Kraft an die politische Aufgabe", Mittlerer Neckar 5/79 S. 11. Ich verfuge noch über ein weiteres Manuskript Hallsteins zu diesem Anlaß mit der Überschrift „Es ist soweit!"
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Staaten - bis heute ein Übel innerhalb der Europäischen Union - drohte sein Lebenswerk, dessen Sorge Hallstein umtrieb und das bisher Erreichte immer wieder zu gefährden. Vielleicht dachte er deshalb in bundesstaatlichen Kategorien, dort wären nationale Sehnsüchte am ehesten aufgehoben und neutralisiert 54. Der Niedergang der Kommission, wie er im Frühjahr 1999 in einem Höhepunkt der Krise dieses Organs seinen Niederschlag fand, hätte ihn - hätte er sie erlebt — zutiefst geschmerzt. Auf der anderen Seite hätte es ihn gefreut zu sehen, wie das Parlament die Gelegenheit ergriff, politisch auf seine Stärkung hinzuarbeiten. Als Jurist, der Hallstein stets blieb, war ihm die „Rechtsgemeinschaft" ein besonderes Anliegen. Ohne Rechtsstaatlichkeit fehlte der Integration jedes Fundament. Die Gemeinschaft war „Rechtsschöpfung, Rechtsquelle, Rechtsordnung und Rechtspolitik zugleich" 55 . Diese rechtsstaatlichen Passagen wurden deshalb auch in der Fünften Auflage an zentraler Stelle des Buches beibehalten. Der Ausbau der Gemeinschaft zu immer mehr Rechtsstaatlichkeit, die Verfassungsüberlegungen und der Kern eines Grundrechtskatalogs der Unionsbürgerschaft sind daher ganz im Sinne Hallsteins und in weitem Maße von ihm vorgedacht worden 56 . Immer betonte Hallstein, daß bei allem strikt rechtlichen Vorgehen und bei aller Sachlogik die Europäische Integration - ganz der Jurist in der Tradition des Rudolf von Ihering 4 sehen „Kampfes ums Recht" — des Kampfes bedürfe, des fortwährenden Kampfes gegen eine Hydra von „Interessenverbindungen, Gegensätzen und immateriellen Kräften" 57 . VI. Die Umwelt und Nachwelt: der unbekannte Hallstein Nach seinem Rücktritt als Kommissionspräsident und seiner kurzen Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter wurde Hallstein mit keinem hohen politischen Amt mehr betraut. Nicht einmal als politischer Berater in Europafragen wurde er herangezogen. Beim Amt des Präsidenten der Europäischen Bewegung handelte es sich nur um ein repräsentatives Ehrenamt. Auch Parteiämter wurden Hallstein 54
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 383 f f und 437 ff., zu den Mitgliedstaaten und Völkern S. 112 ff. 55
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 51 ff.
56
S. auch v. d. Groeben (Fn. 22), S. 483 sowie Kilian (Fn. 31), S. 44 ff. Der Maastrichter Vertrag vom 7.2.1992 - fast genau zehn Jahre nach Hallsteins Tod - sprach von einer „Gemeinschaft des Rechts". In seiner Präambel ist von einer „Bestätigung ihres (der Europäischen Union) Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit ..." die Rede. 7
Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 3 ff.
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nicht angeboten, er hat dies aber wohl auch nicht angestrebt, da er ohnehin nie ein Parteipolitiker gewesen war. Bundeskanzler Helmut Schmidt bemerkte deshalb in seiner Trauerrede auf Hallsteins Tod, die Deutschen täten sich stets schwer mit ihren großen Männern, man vergesse sie allzuleicht58. Sie seien auch nicht in der Lage, solchen Männern auch im Alter eine ihrer Bedeutung angemessene Aufgabe zu übertragen 59. Mir ist nicht bekannt, ob nach Hallstein Straßen, Schulen, Akademien oder Stiftungen benannt wurden. Seit Anfang des Jahres 2000 gibt es allerdings an der Berliner Humboldt-Universität ein „Walter Hallstein-Institut" für Europarecht, geleitet von meinem Freund und Kollegen Ingolf Pernice. Helmut Schmidt hatte recht, die letzten zehn Jahre Hallsteins von seinem Rückzug aus dem Bundestag 1972 bis zu seinem Tod im Frühjahr 1982 waren - von privaten Ausnahmen abgesehen - eher einsam gewesen. Mir war bei meiner Einstellung als Sekretär 1978 ja selbst nicht mehr klar gewesen, ob und wo Hallstein noch lebte. Mit einer gewissen Bitterkeit äußerte er dies auch mir gegenüber: sehr viele verdankten ihm ihre Karrieren und Posten in Bundesministerien und in der Kommission, aber nur wenige hätten mit ihm Kontakt gehalten. Diese kleine Gruppe Getreuer mochte er deshalb umso mehr; im Laufe meiner Jahre bei Hallstein bekam ich so Namen wie Böhm, Deßloch, Dumont du Voitel, Götz, Jansen, Narjes, Emile Noel und andere mit. Auch Thomas Oppermann zählte zu diesem engeren Kreis der letzten Jahre. Ein weiterer enger Freund aus früheren Jahren, viele waren ja auch längst verstorben, war Kurt Birrenbach. In Stuttgart besuchte Hallstein, der nicht zu Geselligkeit neigte, dennoch regelmäßig einen Stammtisch älterer Herren in einer Weinstube der Stuttgarter Altstadt, wo er u.a. den früheren Minister Walter Seifriz und andere alte Weggefährten traf. Er führte einen umfangreichen Schriftwechsel mit alten Freunden und Vertrauten, vor allem aus dem Umkreis der EG-Kommission und des Auswärtigen Amts, weniger mit der Rechtswissenschaft, der er entstammte - von Thomas Oppermann einmal abgesehen. Die Nachwelt vergaß Hallstein über den europäischen Tagesaktualitäten. Die Debatten um die künftige europäische Verfassung, um die Süderweiterung, die 58
Ich freute mich deshalb besonders, daß die mutigen geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine Wiedergeburt ihrer Ideen erfuhren. Sie - und natürlich Konrad Adenauer und Walter Hallstein - werden von mir im Unterricht in Halle stets hervorgehoben, wenngleich mich dabei immer das Gefühl beschleicht, sie erscheinen meinen Studenten aus Sachsen-Anhalt wie Wesen von einem anderen Stern. 59 Abschied von Walter Hallstein. Staatsakt am 2.4.1982 in Stuttgart, hrsg. von der EG-Kommission, S. 15. Am 3.5.1999 begann eine Veranstaltungsreihe des Staatsministeriums Baden-Württemberg, in der Walter Hallsteins Werk gewürdigt werden sollte. Zum neunzigsten Geburtstag Hallsteins am 17.11.1991 hatte das Auswärtige Amt eine Gedenkfeier für seinen früheren Staatssekretär abgehalten. Hierüber gibt es eine Broschüre des Amtes.
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Norderweiterung, den Beitritt der Türkei, den Binnenmarkt, Schengen, Währungsunion und Einfuhrung des Euro, um die Osterweiterung oder die ewige große Frage: zunächst Vertiefung der Integration, „Kerneuropa" und „deux vitesses" - ein Problem, das schon Hallstein gedanklich umgetrieben hatte - , ließen die Ideen Hallsteins in den Jahren verblassen. Erst der Sammelband von Loth, Wallace und Wessels60 machte nach langer Zeit wieder auf sie aufmerksam. Mich brauchte Hallstein von der Stringenz seines Gedankensystems nicht zu überzeugen, ich übertrug es so sorgsam wie möglich in meine Entwürfe zur Neuauflage. Langezeit war ungewiß, inwieweit sich Hallsteins Ideen auch im europapolitischen und europarechtlichen Schrifttum niederschlugen. Der Tenor in dem erwähnten, 1995 erschienenen und von Loth, Wallace und Wessels zusammengestellten Sammelband, also fünfzehn Jahre nach Hallsteins Tod, lautete eher skeptisch. Wessels ist darin jedoch der Auffassung, die Gedanken Hallsteins seien es nach wie vor wert, aktualisiert und neu diskutiert zu werden, wenngleich seine „Sachlogik" als quasi automatisiertes Modell des Integrationsfortschritts nicht mehr überzeugen könne 61 . Ähnlich kritisch werden Hallsteins heute als zu etatistisch empfundene Ausführungen zur europäischen Föderation eingeschätzt62. Ich selbst geriet nach meiner „Hallstein-Zeit" in andere wissenschaftliche Fahrwasser (wie etwa ins öffentliche Finanzrecht); nach der unverhofft geglückten deutschen Einheit nahmen mich Aufgaben in den neuen Ländern voll in Anspruch. So betrachtet gehöre auch ich zu denjenigen, die Hallstein untreu wurden. V I I . Die Fertigstellung: „Die fünfte Auflage" Mit der Zeit kamen Hunderte von Entwurfseiten zusammen. Die meisten Kapitel - das Buch begann mit „Grundlagen", es folgte die „Rechtsgemeinschaft", dann die „Organe", die „fordernden und hemmenden Kräfte", schließlich die einzelnen Politiken, die Außenpolitik und politische Union und Föderation - überarbeitete ich weitgehend allein, Hallstein korrigierte parallel dazu und fugte Akzente hinzu. Einiges schrieb ich neu; ich erinnere mich, daß mir das Kapitel „Landwirtschaft", ein riesiges kompliziertes Politikfeld, große Schwierigkeiten bereitete. Besonders heikle Kapitel wurden „extern" auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, so das Kapitel „Verteidigung", das, wie mir Hallstein anvertraute, in Brüssel von „einem General" überarbeitet worden sei. Die Schlußkapitel schrieb Hallstein selbst, hier war ich der erste kritische Leser und Anreger. 60
Siehe Fn. 25.
61
S. dazu Wessels, Walter Hallsteins integrationstheoretischer Beitrag — überholt und verkannt?, in: Loth / Wallace / Wessels (Fn. 25), S. 281 ff., 296 ff., 301 ff. 62 Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 437 ff.; Wessels (Fn. 60), S. 286 ff., 292 ff., s. dazu auch Kilian (Fn. 31), S. 47 f., 50 f.
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Nach der eigentlichen Schreibphase, die, da sehr intensiv betrieben, nur wenige Monate umfaßte, kam es zur Schlußredaktion und Korrektur. Zuvor mußten noch die Schlußkapitel verfaßt werden: „Die Zukunft" 63 . Sie machte uns die meisten Schwierigkeiten, auch hier kam es immer wieder zu Scherzen zwischen uns: „Nun, heute also wieder unser Sorgenkind: die Zukunft". Wer kann auch in die Zukunft sehen? Hallstein wollte jedoch so etwas wie eine Vision bieten, wie er immer als Europapolitiker Visionen hatte und ohne diese wohl manches Mal an der Tagesarbeit im „Weinberg Europas" verzweifelt wäre. Meine weitere Aufgabe war, das demnächst fertige Buch bei den zentralen Schaltstellen der Europapolitik: Ministerien, Verbände, Presse, Parteien, Bundesländer, Parlamente usw. bekannt zu machen, es zu „promoten" und seine „strategische" Verteilung zu organisieren, Kontakte zur Presse herzustellen u.a.m. Ich verfaßte Waschzetteltexte, einen knappen Lebenslauf Hallsteins und andere, eher lästige Kleinarbeiten, die aber ebenfalls mit einer Buchproduktion zusammenhängen. Hallstein wollte mit seinem Buch, von dem er vielleicht ahnte, daß es sein letztes war, aufklärerisch und politisch wirken. Er unterzog sich deshalb mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit der Sisyphusaufgabe, 1000 Bände (!) eigenhändig zu signieren. Ein paar Bände davon bekam ich zu meiner Verfügung und ich konnte damit manchem Bekannten eine persönliche Freude machen: man wußte, daß solche handsignierten Bände künftig eine Rarität sein würden. Als Dank für die Arbeit bekam ich eine schöne Widmung im Vorwort der fünften Auflage und ein persönlich zugeeignetes Exemplar. Daneben widmete er mir die Reden und Grewes „Spiel der Kräfte in der Weltpolitik", ein Foto sowie Gerhard Marck's Gußeisenplatte mit der „Europa". Ich sammelte in der Folge die Postkarten, Briefe und Autographen, so daß ich über eine kleine Sammlung „Hallsteiniana" verfüge. Das Privatarchiv Hallsteins, das nach dessen Tod im Hause Ritter zwischengelagert worden war, und um das sich in der Folge zahlreiche Institutionen bemühten, übergab ich Jahre später dem Bundesarchiv in Koblenz. Ich war der Auffassung, daß der schriftliche Nachlaß des Staatsmanns Hallstein auch dem Staat gebühre. Dort steht es der wissenschaftlichen Forschung und Aufarbeitung zur Verfügung. V I I I . Die Fortsetzung: das Europäische Parlament Nach Abschluß der Arbeit an der Neuauflage der „Europäischen Gemeinschaft" im Sommer 1979 war meine Aufgabe bei Hallstein eigentlich beendet und ich konnte vollständig zum Lehrstuhl Oppermann überwechseln, umso mehr, als es dort Anzeichen für das Freiwerden einer vollen Assistentenstelle gab. Hallstein hatte sich jedoch so an unsere Zusammenarbeit gewöhnt, daß er bereits ein neues Buchvorhaben plante. Unser erstes Vorhaben sei so gut ge63
Siehe: Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 46), S. 467 ff.
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laufen, ich solle ihm auch beim nächsten helfen. Vorgesehen war ein größeres Buch über Sinn und Aufgaben eines Europäischen Parlaments. Nach der erfolgreich durchgeführten ersten Direktwahl setzte Hallstein auf dieses Gemeinschaftsorgan seine ganze europapolitische Hoffnung. Was Rat und Kommission nicht geschafft hatten, sollte ein politisch aufgewertetes, mit demokratischen Weihen versehenes Organ politisch erkämpfen und so die ins Stocken geratene europäische Integration wieder voranbringen (nicht „vorantreiben" s. oben). Die Geschichte lehrte - etwa des Unterhauses oder des preußischen Landtags im Bismarckschen Budgetkonflikt - daß kein anderes Machtorgan einem Parlament jemals in der Geschichte freiwillig Rechtspositionen übertragen hätte64. Stets mußte man sich solche erst hart ertrotzen und notfalls einfach okkupieren. Hierfür wollte er den jetzt zusätzlich demokratisch legitimierten Parlamentariern im Europäischen Parlament das politische und rechtliche Rüstzeug verschaffen. Obwohl es für mich am Lehrstuhl mittlerweile Arbeit genug gab 65 , sagte ich Hallstein eine Fortsetzung meiner Tätigkeit im Rahmen des zeit- und kräftemäßig Möglichen zu. Wir vertieften uns zunächst in die klassische und moderne Literatur über den Parlamentarismus, ausgehend von Walter Bagehots berühmter Studie von 1867, The English Constitution, bis hin zur modernen Parlamentstheorie und Parlamentskritik, etwa von Kluxen, Oberreuter und Thaysen. Das Europäische Parlament sollte sich die klassischen Parlamentsfunktionen wie Artikulationsfunktion, Kreationsfunktion, Haushaltsfunktion bis hin zur Gesetzgebungsfunktion, nach und nach politisch erkämpfen. Einiges davon ist mittlerweile erreicht, was Hallstein mit Genugtuung erfüllen würde. Bis Weihnachten 1979 fertigte ich erste Entwürfe an, etwa 80 Seiten Text, zur Vollendung des Buches sollte es jedoch nicht mehr kommen. IX. Das Ende: eine Vision und ein Traum Ein Tag vor Heilig Abend 1980 wollte mir Hallstein unbedingt mein Weihnachtsgeschenk persönlich überreichen (es war der oben erwähnte „Grewe" 66 ). Es war das letzte Mal, daß ich ihn gesund und munter wie immer sah. Auf der Rückfahrt platzte mir auf der Steigung hinter Dettenhausen mit einem blauen M Selbst der Deutsche Bundestag ist hierfür ein Beispiel, als er seine Beteiligung bei der Frage der Auslandseinsätze der Bundeswehr erzwang. 65 U.a. verfaßte ich gemeinsam mit Thomas Oppermann für das Umwelt-Bundesamt in Berlin die Studie „Gleichstellung ausländischer Grenznachbarn in deutschen Umweltverfahren", 1981. 66 Botschafter Professor Dr. Wilhelm G. Grewe, Diplomat und Völkerrechtler in Freiburg/Br., einer der wichtigsten Mitarbeiter Hallsteins zu dessen Zeit als Staatssekretär. Von ihm stammt eigentlich, wie Grewe mir sagte, die „Hallstein-Doktrin" als Idee, konzipiert 1955 auf dem Rückflug von Moskau.
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Blitz ohne erkennbare Ursache die Frontscheibe. Zum Glück bekam ich nur wenige Splitter ab, es passierte auch sonst nichts und ich konnte langsam nachhause fahren. Im Nachhinein interpretierte ich den Vorfall freilich als Unheilszeichen. Das seltene Glück, im Umkreis eines bedeutenden Mannes einige Jahre verbringen zu können — man sollte eine solche Erfahrung mehr jungen Juristen verschaffen - gab mir auch Einblicke in die Gestalten der großen Politik. Neben den bereits genannten Persönlichkeiten im Kreise der Familie Ritter konnte ich beim Staatsakt für Hallstein am 2. April 1982 im Stuttgarter Neuen Schloß Bundespräsident Karl Carstens, Bundeskanzler Helmut Schmidt, Rainer Barzel und Hermann-Josef Abs aus der Nähe verfolgen. Ich hatte noch nie einem Staatsakt beigewohnt. Die sehr persönlich gehaltenen und Hallsteins Person und Werk einfühlsam darstellenden Gedenkreden wurden von Bundespräsident Karl Carstens (in seinen Anfängen ein enger Mitarbeiter Hallsteins), Bundeskanzler Helmut Schmidt, Kommissionspräsident Gaston Thorn (von Hallstein ebenfalls sehr geschätzt) und Hallsteins letztem Landesherrn, Ministerpräsident Lothar Späth, gehalten67. Das berühmte Stuttgarter Kammerorchester unter Karl Münchinger, der nicht lange danach verstarb, spielte den getragenen „Kanon" von Johann Pachelbel, einem deutschen Barockkomponisten. Ich kannte das Musikstück noch nicht, war von ihm jedoch sehr bewegt. Es bildete einen würdigen, bei aller barocken Klarheit dennoch gefuhlstiefen Abschied: meine Hallstein-Zeit war vorbei. Im engeren Kreis, unter Anteilnahme vieler Beamter aus seiner Bonner und Brüsseler Zeit — Familienangehörige Hallsteins gab es kaum wurde Walter Hallstein im schönen, auf halber Höhe gelegenen Waldfriedhof in Stuttgart beigesetzt. Hallsteins Buch über die „Europäische Gemeinschaft" endet mit seiner Vision. Er hatte wochenlang über die wenigen Schlußseiten des Werkes nachgegrübelt, ich konnte ihm hier nur wenige Anregungen geben. Er gliederte sein Vermächtnis in drei kurze Teile 68 : „Die Ausgangslage", „Die Herausforderung" und „Eine Vision". Den Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt, die Deutsche Einheit (die ihn als deutschen Patrioten sicher von Herzen gefreut hätte), das Entstehen neuer Nationalstaaten in Europa (damit zugleich eine Erneuerung des nationalen Gedankens), die vielen neuen Konfliktherde in der Welt, konnte er nicht vorausahnen. Vorhergesehen wurde von ihm jedoch, daß die Wirtschaftspolitik das künftige Weltgeschehen entscheidend bestimmen würde: die Globalisierung, und daß sich das vereinte Europa darauf einzustellen hatte. Dasselbe gilt für eine immer fragiler werdende Sicherheit Europas in einer sich verändernden Welt mit Bevölkerungsexplosion (außerhalb Europas und 67
Darüber existiert die bereits genannte Broschüre der EG-Kommission „Abschied von Walter Hallstein". Ein Nachruf auf Walter Hallstein verfaßte Thomas Oppermann in der JZ (die Hallstein zu ihren Herausgebern zählte) 1982, S. 435 f. 68
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Der Visionär - Persönliche Erinnerungen an Walter Hallstein
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entsprechendem Zuwanderungsdruck), Umweltgefahren, den Gefahren des religiösen Fundamentalismus (des „Kampfes der Kulturen", so Samuel P. Huntington). Hier hatte sich Hallsteins konkrete Utopie Europas zu bewähren 69 und hierfür hatte er das ihm Mögliche getan und vorgedacht. Zu Neujahr kam eine fröhliche Karte Hallsteins aus dem Winterurlaub im Westerwald, aus Rennerod. Wenige Tage danach informierte mich Frau Walter, daß sich Hallstein schwer, eigentlich unheilbar krank in der Intensiv-Station der Gießener Universitätsklinik befinde. Was war geschehen? Der körperlich gesunde Mann sah eine weitere Aufgabe auf sich zukommen: das Buch über das Europäische Parlament. Da Hallstein sich jedoch bei einem Spaziergang leicht unwohl gefühlt hatte, suchte er den dortigen Arzt auf, der ihm riet, sich auf alle Fälle zur Stärkung seines Befindens einen Herzschrittmacher legen zu lassen. Schon damals eine Routineangelegenheit. Hallstein hatte es jedoch eilig, ungeduldig und arbeitsam wie er war, und wollte dies an Ort in Stelle im nächsten Kreiskrankenhaus vornehmen lassen. Dabei kam es zu dem verhängnisvollen Narkoseschaden, da Hallstein, was die dortigen Ärzte nicht wissen konnten und er seinen Stuttgarter Hausarzt, dem dies bekannt war, nicht konsultiert hatte - gegen ein bestimmtes Narkosemittel allergisch war. So traf mich der Schock unvorbereitet und ich konnte nur sofort nach Gießen reisen, mit dem Chefarzt sprechen und Hallstein - was mir ausnahmsweise gestattet wurde - in der Intensivstation besuchen. Die Besuche wiederholten sich, Hallstein ging es etwas besser, er konnte jedoch sein Leben bei Ritters in der Klopstockstrasse nicht mehr aufnehmen. Seine letzte Adresse war ein schön gelegenes Pflegeheim auf der Stuttgarter Karlshöhe. So konnte ich das Elend von Pflege- und Altenheimen und die eigene Hilflosigkeit kennenlernen, einige Zeit, ehe ich im persönlichen Umfeld solche Einrichtungen fast täglich aufsuchte und ich mich an dieses Elend - das gibt es zum Glück - gewöhnen konnte. Erleichtert wurde Hallstein die letzte Zeit im Pflegeheim durch Frau Susanne Ritter, die mit ihrer unermüdlichen Energie, ebenfall schon an die achtzig, dafür sorgte, daß er selten allein war. Sie bestand auch darauf, daß er in seiner vertrauten Umgebung mit eigenen Möbeln, Plastiken, Bildern leben konnte. Die Arbeit am Parlaments-Buch ging weiter, diese moralische Unterstützung wollte ich Hallstein wenigstens zuteil werden lassen70, wenngleich er zu einer geistigen Tätigkeit nicht mehr zurückfand, nicht einmal mehr zum Zeitunglesen. 69
Wohin eine abstrakte, den Menschen mißachtende Utopie hinführen sollte, das konnte ich Jahre später in Halle /Saale und anderswo beobachten, wohin mich mein beruflicher Weg in die neuen Länder der ehemaligen DDR führte. 70
Einige Gedanken daraus konnte ich gemeinsam mit Thomas Oppermann in einer Studie zusammenfassen, die wir als Beitrag für das aus Anlaß von Hallsteins 80. Geburtstag erschienene Sonderheft der Zeitschrift Europarecht beisteuerten: Vergangenheit und Zukunft des Europäischen Parlaments - Einige Aspekte unter besonderer Berücksichtigung der Sicht von Walter Hallstein, Heft 4/1981, S. 366 ff.
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Michael Kilian
Für einen bis ins hohe Alter klaren und hochintelligenten Verstand eine Tragödie. Nur der Gedanke an den kommenden achtzigsten Geburtstag, den Hallstein - für einen Tag wieder in seiner Wohnung in der Klopstockstrasse und mit viel prominenten Gästen —am 17. November 1981 feiern konnte, hielt ihn aufrecht und führte noch einmal zu einer erstaunlichen geistigen Regeneration 71, wenn auch nur für kurze Zeit. Hallstein nahm voller Freude die Glückwünsche der Gratulanten entgegen, freute sich auch über das Sonderheft der Zeitschrift Europarecht, und schien für einige Stunden nochmals ganz der Alte zu sein. Dann waren jedoch seine Widerstands- und Lebenskräfte erschöpft. Ich besuchte ihn weiter im Heim in der Karlshöhe und bekam von ihm auch kurze schriftliche Nachrichten. Daß ich ihn nicht viel öfter besuchte, tut mir im Nachhinein leid. Zu sehr war ich bereits mit der sich verschlimmernden Krankheit meiner Mutter und deren Betreuung befaßt und zu sehr vertiefte ich mich in die wissenschaftliche Arbeit, vielleicht als Ablenkung von Anforderungen, die auch meine Kräfte langsam aufzehrten. Im Frühjahr mußte Hallstein wieder einmal ins Stuttgarter Bürgerspital hinter dem Hauptbahnhof verlegt werden, wo Thomas Oppermann und ich ihn besuchten und er uns erkannte. Wir konnten nur wenige Worte miteinander sprechen. In den nächsten Tagen träumte ich nachts von Pferden in einer großen Halle — es waren die Pferde von St. Johann, in der Traumdeutung ein Todessymbol. In der Ecke stand ein länglicher Schrein. Am nächsten Morgen kam aus Stuttgart die Todesnachricht.
71
Siehe M
Kilian,
Walter Hallstein 80 Jahre, JZ 1981, S. 757 f.
Der Weg zur politischen Union Europas Von Klaus Stern
Die europäische Integration lag Thomas Oppermann in Wissenschaft und Praxis seit Jahrzehnten am Herzen. Ein wesentlicher Teil seines Forschens stand und steht unter dem Leitbild Europa. In seinem europarechtlichen opus magnum, seinem 1991 in erster Auflage erschienen „Europarecht", bemerkte er: „Sehr viel hat mir die Verbindung mit dem großen Europäer Walter Hallstein in seinem Stuttgarter Ruhesitz Ende der siebziger Jahre bedeutet, als er mir die Edition seiner Europäischen Reden'1 anvertraute" 2. In der zweiten Auflage machte er die Europäische Union nach der historischen Wende 1989-1991 mehr denn je zum „Hoffnungsträger für die Zukunft Europas" 3. In der Tat war die europäische Integration nach der „deutschen Katastrophe" (F. Meinecke) von 1945 sehr bald für die Deutschen ein Hoffnungsschimmer, aus Not und Isolierung herauszufinden. I. Die Entstehung der Europäischen Gemeinschaften als Fortentwicklung des „europäischen Gedankens" 1. Der Beginn der Integration über die Konzeption einer „Montanunion" Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte eine Phase der Besinnung ein, daß auf dem bisher beschrittenen Weg eines Europa der Nationalstaaten allein nicht mehr die Sicherung des Friedens gewährleistet werden konnte. Es war an der Zeit, die bereits seit langem bestehenden Gedanken hinsichtlich einer Einigung Europas wieder aufzugreifen und weiter zu entwickeln, um einen weiteren Krieg in Europa zu verhindern. Unter der sich anbahnenden Herausbildung einer Konfrontation des „Westens" mit der Sowjetunion war man sich bewußt, daß ein solcher Krieg sich unweigerlich zu einem neuen Weltkrieg entwickeln würde, der mit der Dimension neuer atomarer Waffen zu einer Zerstörung der gesamten Zivilisation führen könnte. 1 Vgl. T. Oppermann (Hrsg.) unter Mitarbeit von J. Kohler, Walter Hallstein. Europäische Reden, 1979. 2
Τ Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. IX.
3
Ders., aaO, S. VII.
Klaus Stern
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Eine dauerhafte Zusammenarbeit der Staaten war demnach von enormer Bedeutung. Nach den wenig förderlichen Erfahrungen mit dem Völkerbund der Vorkriegszeit konnte man es nicht darauf beruhen belassen, die Zusammenarbeit zur Friedenswahrung allein im Rahmen der Vereinten Nationen zu forcieren, zumal sich ihre konzeptionelle Schwäche im Falle der Ost-West-Konfrontion bereits abzeichnete4. Eine neue Idee gemeinsamer Zusammenarbeit sollte unmittelbar in Europa ansetzen5. Dies erkannte vor allem W. Churchill, der bereits in seiner berühmten Zürcher Rede vom 19. September 1946 die Vision einer Art „Vereinigte Staaten von Europa" 6 hatte. Sein Gedanke wurde auf dem sog. „Europakongreß" vom 7. bis 10. Mai 1948 in Den Haag aufgegriffen 7. Die vom Internationalen Komitee der Bewegung für die Einheit Europas, einem Dach fur viele Europa-Verbände, durchgeführte Veranstaltung mündete in der Forderung nach einer politischen und wirtschaftlichen Union, die offen für alle Völker Europas sein sollte, die ein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten abgeben würden. Damit wurde ein Prozeß angestoßen, der schließlich zur Gründung des Europarates am 5. Mai 1949 mit seinem Bekenntnis zu den Grundwerten der parlamentarischen Demokratie und zum Rechtsstaat führte. Zwar war dieses Ergebnis weit entfernt von einer föderalen politischen Union, doch war mit diesem Schritt zu einer Institutionalisierung der Kooperation in Europa wenigstens ein begrenzter Ansatz politischer Verbundenheit durch gegenseitige Kontrolle geboren. Dies konnte aber nicht ausreichen, endgültiges Vertrauen unter den Nationalstaaten zu begründen. Zu tief war das Mißtrauen vor einem Wiedererstarken (West-)Deutschlands, namentlich auf französischer Seite. Darüber hinaus zeichnete sich über kurz oder lang ab, daß die Bundesrepublik einen Beitrag zur Verhinderung der Ausweitung des Sowjet-Kommunismus leisten mußte, eine Schwächung ihrer Wirtschaftskraft also nicht im Interesse des Westens lag8. Dieses Dilemma ließ sich nur durch mutige Personen mit optimistischen europäischen Visionen auflösen: die deutsch-französische Aussöhnung als Ausgangspunkt für eine dauerhafte Befriedung des Kontinents9. 4
S.a. M. Schweitzer/W.
Hummer, Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 36.
5
Vgl. als Parallele zur Begegnung des heraufziehenden Ost-West-Konfliktes den Vorschlag von W. Rathenau im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, eine „Verschmelzung der Wirtschaft und Politik Europas zur Gemeinschaft" herbeizuführen (Zitat bei T. Oppermann [Fn. 2], Rn. 8). b 7
S. den Auszug seiner Rede bei T. Oppermann (Fn. 2), Rn. 12.
Unter den ca. 750 Teilnehmern aus 26 Staaten waren u.a. W. Churchill W. Hallstein.
und
8
Vgl. dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 132 II 6, § 133 I 1. 9 Die Wichtigkeit dieses Vorgangs erkannte schon W. Churchill in seiner Zürcher Rede vom 19.9.1946, wonach der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie
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Den Schlüssel dazu lieferte der sog. Schuman-Plan10, den der französische Außenminister Robert Schuman Anfang Mai 1950 dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer unterbreitete. Der Vorschlag, die Gesamtheit der deutschfranzösischen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Institution innerhalb einer europäischen Organisation, die offen für weitere Mitgliedstaaten war, zu unterstellen, war ein Ansatz, die (zunächst westeuropäische Integration mit Hilfe einer wirtschaftlichen voranzutreiben. Dies wurde „als erste konkrete Etappe einer europäischen Föderation" verstanden, „die für eine Aufrechterhai tung des Friedens unentbehrlich ist" 11 . Mit einer Einbindung der kriegswichtigen Produktion Deutschlands konnte diese gleichzeitig auch nachhaltig kontrolliert werden. Treibende Kraft dieses historischen Schrittes, der allerdings einer wirtschaftlichen Integration vor einer kulturellen als Ausgangspunkt den Vorzug gab, war der eigentliche Konstrukteur dieses Plans: Jean Monnet 12 . Diese Vorschläge wurden von Adenauer bereitwillig aufgegriffen, nicht zuletzt, um den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat und die Abschüttelung der Fesseln des Besatzungsrechts zu erreichen 13. Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde am 9. Mai 1950 die Errichtung der sog. „Montanunion" auf der Grundlage des Schuman-Planes von der französischen Regierung beschlossen. Dies war ein deutliches Zeichen des ehemaligen „Erz- und Erbfeindes", daß fortan ein gemeinschaftlich schlagendes Herz Motor einer europäischen Integration werden sollte. Der Beginn des Aufbruchs in eine neue Phase der europäischen Politik läßt sich bereits am Gespann der Delegatonsleiter Monnet/Hallstein, deren Verhältnis auch persönlich von Freundschaft geprägt war 14 , personifizieren, dessen Bedeutung auch für die deutsch-französische Annäherung ebenso wie das Gespann Briand/Stresemann für die Zwischenkriegszeit sowie Schuman bzw. de Gaulle/Adenauer in der Nachkriegszeit nicht unterschätzt werden darf. Schon bald ließen sich von dieser Phase des Aufbruchs in eine gemeinsame Montanunion die Benelux-Staaten und Italien anstecken, wobei Alcide de Gasein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein müsse; vgl. das Zitat bei T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 12; siehe ferner P.M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, § 2 Rn. 4. 10 Siehe die Bewertung W. Hallsteins zu den Vorgängen rund um den Schuman-Plan in seiner Rede vor dem Donaueuropäischen Institut in Wien vom 11.2.1958 bei T. Oppermann, Walter Hallstein (Fn. 1), S. 31 (37 ff.). 11
Zitat bei T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 19.
12
K. Stern (Fn. 8), § 133 IV 8; vgl. auch J. Monnet , Erinnerungen eines Europäers, 1988, S. 376. 13
K. Stern (Fn. 8), § 133 IV 8 und § 133 IV 8 c.
14
Vgl. die Rede von W. Hallstein „Europäische Integration als Verfassungsproblem" in Haus Rissen, Hamburg, am 29.07.1958 in: T. Oppermann, Walter Hallstein (Fn. 1), S. 70 (71). 10 FS Oppermann
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peri für Italien einen gewichtigen Beitrag zum europäischen Einigungsprozeß leistete. Diese sechs Staaten waren die Pioniere auf einem neuen Weg, der von nun an mit dieser neuen Organisation beschritten werden sollte. Organisatorisches Kernstück war dabei die Schaffung einer gemeinsamen „Hohen Behörde", die unabhängig von den Mitgliedstaaten handeln sollte. Mit dem Abschluß der Verhandlungen zu den Vertragsentwürfen am 19. März 1951 waren die Weichen zu einer Form der Integration in bis dahin ungewohntem Ausmaß gestellt: Die neue Organisation sollte mit ihrer „Hohen Behörde" nicht nur auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes ohne Zölle und Handelsbeschränkungen hinarbeiten. Maßgeblich war daneben die Supranationalität mit ihrem Merkmal des Vorrangs vor nationalem Recht, wobei sogar ein eigener Gerichtshof die gemeinschaftlichen Rechtsakte überwachen sollte. So hehr die Ziele schon damals anmuteten, diese neue Einrichtung wurde nicht ohne Hintergedanken geplant. Frankreich verfolgte damit die Schaffung einer weiteren Kontrollmöglichkeit der sich abzeichnenden wieder dominierenden deutschen Produktion in den damals kriegswichtigen Schlüsselbereichen Kohle und Stahl, so daß dieser Schritt letztlich der Wahrung seiner Sicherheitsinteressen diente. Die Bundesrepublik wollte deutlich machen, daß für den Fall einer Unterstellung seiner Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame unabhängige Behörde das Ruhrstatut und die Dekartellisierungsvorschriften der Besatzungsmächte eigentlich ihre Geschäftsgrundlage verlieren würden. Dies wäre ein weiterer Schritt hin zur Wiedererlangung der gleichberechtigten Souveränität im Vergleich zu den anderen Staaten in Europa. Auf der Außenministerkonferenz in Paris kam es schließlich am 18. April 1951 zur Unterzeichnung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKSV) 15 . Damit hatte Deutschland einen Fürsprecher gefunden, die Alliierten wenigstens zur Aufhebung der besatzungsrechtlichen Beschränkungen zu bewegen, die nach französischer Sicht mit dem neugeschaffenen Vertragswerk unvereinbar waren. Die Verknüpfung der Beratungen über den EGKSV in Bundesrat und Bundestag mit der Forderung nach einem Wegfall der besatzungsrechtlichen Eingriffsbefugnisse unterstrich die Wichtigkeit dieser Frage für die Bundesrepublik. Am 19. Oktober 1951 wurde festgelegt, daß mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes das Ruhrstatut enden sollte. Und so trat mit Inkrafttreten des EGKSV am 23. Juli 1952 das Ruhrstatut außer Kraft 16 . Die Internationale Ruhrbehörde verlor somit ihre Befugnisse. Damit zeigte sich: Je stärker sich die Bundesrepublik in gesamteuropäische Strukturen einbinden lassen würde, um so weniger Gründe würde es geben, Deutschland seine vollständige Souveränität zu verweigern. 15 Über den Weg zu diesem Verhandlungsergebnis vgl. ausführlich K. Stern (Fn. 8), § 133 IV 8. 16
Ders. (Fn. 8), § 133 IV 8 c.
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Als rechtliche Grundlage der neuen Gemeinschalt regelte der Vertrag auch ihre Organe. Als die eigentliche Trägerin der auf die Gemeinschaft übertragenen Hoheitsrechte fungierte die „Hohe Behörde", deren erster Präsident J. Monnet wurde. Der Ministerrat diente als Mittlerorgan zwischen der Tätigkeit der unabhängigen „Hohen Behörde" und den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten, die für die allgemeine Wirtschaftspolitik nach wie vor die Verantwortung trugen. Dabei war in bestimmten Fällen eine Zustimmung dieses Organs bei den Entscheidungen der „Hohen Behörde" erforderlich. Ohne eine Kompetenz zur (Mit-)Entscheidung ausgestattet war der sog. Beratende Ausschuß, bestehend aus Vertretern betroffener Interessengruppen. Dieser hatte lediglich ein Mitwirkungsrecht bei Entscheidungen der „Hohen Behörde" durch nicht bindende Stellungnahmen und Beratungen. Eine ebenfalls geschaffene „Versammlung" setzte sich aus Vertretern der Völker der Mitgliedstaaten zusammen, ohne daß diese durch direkte Wahlen unmittelbar legitimiert wurden. Dafür übte dieses sog. Montanparlament auch nur einige Kontrollbefugnisse aus. Der Gerichtshof wahrte das Recht der Gemeinschaft, indem aufgrund von Nichtigkeits- bzw. Untätigkeitsklage das Handeln der „Hohen Behörde" durch ihn überprüft werden konnte. Dieser ungewohnten Konzeption der Montanunion inhärent war die Frage nach ihrem rechtlichen Charakter. Insbesondere wegen ihrer Supranationalität bildete sich bald die Erkenntnis heraus, es mit einem völkerrechtlichen Novum zu tun zu haben. Zwar (noch) nicht Bundesstaat, war sie doch Grundlage ,,eine[r] irgendwie geartete[n] Föderierung Europas" 17. Auch wenn dies erst als „politisches Fernziel" des ihr zugrundeliegenden Schuman-Plans von W. Hallstein benannt wurde, machte er an anderer Stelle doch deutlich, welchem politischen Leitgedanken diese Konstruktion diente: der „Sicherung des Friedens" 18. Dieses Motiv war Grundlage für weitere Bestrebungen. 2. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und ihr Scheitern Nach der voranschreitenden Integration der damals wirtschaftlich höchst bedeutsamen Produktion von Kohle und Stahl waren die sechs Mitgliedstaaten der Montanunion von dem Gedanken erfüllt, nun auch auf eine Integration der Streitkräfte hinzuwirken und somit neben bereits bestehenden kollektiven Sicherheitssystemen mit einem in die NATO eingebundenen Modell zur westlichen kontinentaleuropäischen Sicherheitsstruktur beizutragen, in das auch die Bundesrepublik einzufügen war. Grundlage dafür war der Plan einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG), die wie die Montanunion auf fünfzig Jahre angelegt sein sollte. 17 So W. Hallstein in einer Sondersitzung des Bundesrates am 15.6.1951 über die Ratifizierung des Schuman-Plans, EA 1951, 4305 (4306). 18
10*
Ders., Der Schuman-Plan, Frankfurter Universitätsreden, 1951, S. 26.
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Auch hierbei hegte Frankreich die Absicht, die Bundesrepublik nachhaltig in ein gemeinsames Sicherheitskonzept einzuordnen und so ein wegen der wachsenden Ost-West-Konfrontation ohnehin nicht zu verhinderndes Wiedererstarken der Bundesrepublik dergestalt zu kontrollieren, daß es sich nicht noch einmal gegen Frankreich richten könnte. Für die Bundesrepublik war die Zustimmung zum EVG-Vertrag insofern von eminenter Bedeutung, als mit ihm zunächst auch der Abschluß des Deutschlandvertrages verknüpft werden sollte 19 . Die Aufhebung der auch nach der EGKS-Gründung noch geltenden Bestimmungen des Besatzungsstatuts sollte also über die Westintegration der Bundesrepublik auch im sicherheitspolitischen Bereich führen. Nach kontroversen Debatten über die Verfassungsmäßigkeit des EVG-Vertrages in der Bundesrepublik 20 starb die schon weit vorangetriebene Idee der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft letztlich aufgrund der Ablehnung des Vertrages durch die französische Nationalversammlung am 30. August 195421. Der Weg einer parallel zur EGKS verlaufenden Sicherheitsstruktur über die EVG entpuppte sich somit als Sackgasse. Ebenso verhielt es sich mit dem Versuch, sich dem europäischen Gedanken über eine „Europäische Politische Gemeinschaft" (EPG) anzunähern. Jedenfalls für 1954 war ihr Bestreben zu ehrgeizig, so daß eine solche Form der Integration auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden mußte. Die Folge war aber nicht, daß die Bundesrepublik in kein System der kollektiven Sicherheit eingebunden wurde. Gemeinsam mit Italien trat sie dem Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 bei, der sog. „Westunion", bestehend aus Großbritannien und Frankreich sowie den Benelux-Staaten, deren ursprüngliches Ziel noch die Abwehr einer möglichen wiederaufkommenden deutschen Bedrohung war. Dieser Schritt führte 1954 zur Umgründung in die Westeuropäische Union (WEU), die allerdings spätestens seit 1955 mit der Aufnahme der Bundesrepublik in das System des Nordatlantikpaktes vom 4. April 1949 (NATO) als der wichtigsten Verteidigungsorganisation bis in die neuere Zeit nur ein Dasein „im Schatten der NATO" 2 2 mit ihrem Hauptmitglied USA führte. Über eine rein europäische Sicherheitsarchitektur konnte die weitere Integration also nicht erfolgen. Eine Weiterentwicklung der europäischen Integration sollte in der Zukunft vor allem über eine verstärkte wirtschaftliche Integration verwirklicht werden. 19
K. Stern (Fn. 8), § 133 IV 9.
20
Ders. (Fn. 8), § 133 IV 9 b α.
21
Vgl. zur französischen Situation insb. K. Stern (Fn. 8), § 133 IV 9 b γ m.w.N.; siehe ferner K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 1996, S. 7; F. Emmert, Europarecht, 1996, § 3 Rn. 15. 22 So M. Pechstein /Chr. Koenig, Die Europäische Union. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam, 2. Aufl. 1998, Rn. 285.
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3. Die Verstärkung der europäischen Integration durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Das Fortschreiten der Teilintegration der Montanunion-Mitglieder begann mit einer Initiative der Benelux-Staaten, die zur Außenministerkonferenz von Messina am 1. Juni 1955 führte. Auf ihr wurde die Grundlage zu einer forcierten Wirtschaftsintegration unter Einbeziehung der Atomenergie dadurch geschaffen, daß man Paul-Henri Spaak mit der Leitung eines Studienausschusses zur Überprüfung dieser Fragen betraute. Seinem Engagement für eine nachhaltige wirtschaftliche Integration ist es zu verdanken, daß bereits 1957 die entsprechenden Vertragsverhandlungen abgeschlossen wurden und noch im selben Jahr die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bzw. der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG resp. EURATOM) am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet werden konnten. Diese sog. „Römischen Verträge" traten am 1. Januar 1958 in Kraft 23 . Damit zeichnete sich ab, daß der „europäische Traum" (T. Oppermann) eine reale Chance hatte, Wirklichkeit zu werden. Als konzeptionelle Neuerung der beiden Gemeinschaften im Vergleich zur EGKS ist insbesondere die Verschiebung der Letztentscheidungsbefugnis hin zum mittelbar demokratisch legitimierten Ministerrat zu nennen, um so für die erhoffte weiterreichende Integration eine größere Legitimationsgrundlage zu haben. Gleichwohl blieb der unabhängigen europäischen Behörde der EWG der sog. Kommission — ein weiter Spielraum, sich als „Motor, Wächter und ehrlicher Makler des Vertrages" zu betätigen, wie es der „leidenschaftliche Europäer" 24 W. Hallstein als erster Präsident der EWG-Kommission formulierte. Unter seiner von 1958 bis 1967 währenden Präsidentschaft und Initiative erlebte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einen großen Integrationsfortschritt, der sich insbesondere in Erfolgen bei der Verwirklichung des freien Warenverkehrs im Gemeinsamen Markt und der Herstellung der Freizügigkeit des Personenverkehrs niederschlug. Unterstützung fand dieser Integrationsschub nicht zuletzt auch durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der in dieser Phase nicht nur den Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts 25 herausstellte, sondern auch den Vorrang dessen vor nationalem Recht26. 23
Vgl. A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 35; K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 1996, S. 7; F. Emmert (Fn. 21), § 3 Rn. 17; P.M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 10; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 22. 24
So T. Oppermann, Walter Hallstein (Fn. 1), S. 21.
25
Grundlegend EuGH, Slg. 1963, 1 (24 ff.), Rs. 26/62 - Van Gend & Loos; siehe ferner EuGH, Slg. 1966, 257 (265 ff.), Rs. 57/65 - Lütticke. 26 Grundlegend EuGH, Slg. 1964, 1251 (1268 ff.), Rs. 6/64 - Costa/E.N.E.L.; siehe darauf aufbauend auch EuGH, Slg. 1970, 1125 (1135, Rn. 3) Rs. 11 / 70 - Internationale Handelsgesellschaft" EuGH, Slg. 1978, 629 (644, Rn. 17 /18), Rs. 106/77 - Simmenthal.
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Trotz des Bestehens von drei Gemeinschaften gab es nur einen Gerichtshof für diese, obwohl jeder der drei Gründungsverträge von einem eigenen Organ ausgeht. Ebenso verhielt es sich mit der Versammlung. Entscheidend dafür war das „Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften" vom 25. März 1957, das bereits bei Abschluß der „Römischen Verträge" vorsah, die Befugnisse und Zuständigkeiten des Gerichtshofs und der Versammlung auf jeweils ein Organ zu übertragen 27. Allerdings blieben die Exekutivorgane der drei Gemeinschaften getrennt, wobei freilich die EWG-Kommission unter W. Hallstein („Hallstein-Kommission") als besonders bedeutsam herausragte. In der Phase von W. Hallsteins Wirken verstärkte sich die Hoffnung, über das Nahziel einer Zoll- und Wirtschaftsunion eine so starke integrative Verflechtung immer weiterer Bereiche zu erreichen, daß sich der sog. „spill overeffect" des funktionalistischen Ansatzes bald einstellen könnte. Doch sollte sich bald zeigen, daß die Verwirklichung des „europäischen Gedankens" in der Praxis nicht so geradlinig ablaufen konnte, wie es mit dem Inkrafttreten der „Römischen Verträge" erhofft war. II. Vom Elan des Aufbruchs zur Stagnation der sechziger Jahre: Die europäische „Verfassungskrise" Der Elan des Aufbruchs begann allerdings Anfang der sechziger Jahre abzubröckeln. Der funktionalistische Ansatz zur Schaffung einer politischen Integration hätte zumindest als Fernziel dazu gefuhrt, daß die Mitgliedstaaten immer mehr von ihrer Souveränität auf die Gemeinschaften übertragen würden. Eine reine Kooperation souveräner Nationalstaaten würde dagegen einen Rückschritt hin zum klassischen Modell des Staatenbundes bedeuten. Eine solche Konzeption von einem „Europa der Vaterländer" aber stellte der französische Staatspräsident de Gaulle, der seit 1958 die V. Republik in Frankreich etabliert hatte, am 5. September 1960 vor, wobei er dazu den integrativen Begriff „Europäische Politische Union" für seine Ideen umdeutete. In dieser Vorgehensweise trat ein neues Hegemonialstreben Frankreichs zu Tage28, das zu weitreichenden Konsequenzen im Inneren der Integrationsgemeinschaft hätte führen müssen, externe Folgen ganz beiseite gelassen. Sie bestanden vor allem darin, daß sich nach der vorherigen abwartenden Haltung Großbritanniens gegenüber den Gemeinschaften nun Frankreich gegen eine Festschreibung des Verhältnisses zum Vereinigten Königreich zur Wehr setzte und die britischen Annäherungsversuche zum Gemeinsamen Markt zurückwies.
27 Vgl. dazu A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 35; K.-D. Borchardt (Fn. 21), S. 33. 28 Vorwürfe dazu siehe in der Rede von W. Hallstein vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 5.2.1963, in: T. Oppermann, Walter Hallstein (Fn. 1), S. 402 (413).
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Intern kam es nicht nur in einer „dramatischen politischen Partie" 29 zum Konflikt mit der EWG-Kommission unter W. Hallstein, der ihre Möglichkeiten im Rahmen der Supranationalität vollauf gewährleistet wissen wollte und sich so schnell an Frankreichs Eintreten fur die Letztverantwortung der Mitgliedstaaten rieb. Hallsteins Bestreben, am Fernziel eines europäischen Bundesstaates festzuhalten, stand der Konzeption der auf der gaullistischen Doktrin beruhenden Fouchet-Pläne, die letztlich aufgrund des Widerstands der anderen Mitgliedstaaten doch unverwirklicht blieben 30 , so deutlich entgegen, daß sich das Ende der Hallstein-Kommission abzeichnete. Dies beruhte auch darauf, daß Frankreich einen Konflikt mit den restlichen Mitgliedstaaten in Kauf nahm, auch wenn die bislang erreichten Integrationsfortschritte dadurch gefährdet wurden. Ausdruck einer elementaren europäischen „Verfassungskrise" 31 war die von Frankreich geführte „Politik des leeren Stuhls". Ein halbes Jahr vor Inkrafttreten einer Regelung des EWG-Vertrags zum 1. Januar 1966, wonach der Ministerrat ζ. B. im Bereich der Landwirtschaft mit qualifizierter Mehrheit hätte entscheiden können, blockierte Frankreich über ein halbes Jahr die Arbeit des Ministerrates, um so seinem Mißfallen gegenüber der Möglichkeit zur Überstimmung einzelner Mitgliedstaaten zum Ausdruck zu bringen. Um den bisherigen Integrationserfolg nicht scheitern zu lassen und so wieder in die gefahrliche Rolle einer rein völkerrechtlichen Zusammenarbeit unter Nationalstaaten zu verfallen, entschlossen sich die übrigen Mitgliedstaaten, Frankreich mit dem sog. „Luxemburger Kompromiß" entgegenzukommen. Ein Rückgriff auf das Einstimmigkeitsprinzip sollte dann erforderlich werden, wenn ein Mitgliedstaat seine „vitalen Interessen" bedroht sah32. Somit wurde jenseits des Vertragstextes eine Form des Veto-Rechts etabliert. Ferner wurde das Stärkeverhältnis zwischen Rat und Kommission zugunsten des Rates verschoben, indem die Befugnisse der Kommission von nun an restriktiv ausgelegt werden sollten. In diesem Kontext ist auch der Fusionsvertrag vom 8. April 1965 zu beleuchten 33 . Zwar wurden die bislang je Gemeinschaft unabhängig voneinander beste29
So T. Oppermann, Walter Hallstein (Fn. 1), S. 16.
30
Allerdings basiert der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit von 1963 (sog. „Elysee-Vertrag") auf diesen Plänen; vgl. P.M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 12; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 27. 31
So T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 29.
32
Zum sog. „Luxemburger Kompromiß" vgl. A. Bleckmann (Fn. 23), Rn. 232 f.; H. G. Fischer, Europarecht, 2. Aufl. 1997, § 1 Rn. 8, § 4 Rn. 40; M. Herdegen, Europarecht, 1997, Rn. 122; P. M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 14 ff.; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 29 f. 33 Zum Fusionsvertrag vgl. W.A. Dietz /B. Fabian, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, 3. Aufl. 1999; S. 2; F. Emmert (Fn. 21), § 4 Rn. 3, § 9 Rn. 9; H. G. Fischer (Fn. 32), § 3 Rn. 2; M. Herdegen (32), Rn. 50; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 30.
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henden europäischen Behörden zu einer EG-Kommission zusammengefaßt, was an sich die Stärkung der Kommissions-Präsidentschaft zur Folge haben könnte. Doch wurde die Entwicklung eines starken und immer pro-europäisch agierenden Gegenpols gegenüber den nationalen Einzelinteressen behindert, indem die Spitze im Zwei-Jahres-Rhythmus wechseln sollte. Die Lösung der Verfassungskrise durch den Luxemburger Kompromiß läßt sich als Einschnitt in die funktionalistische Sichtweise charakterisieren, die immer noch glaubte, auf schnellem Wege letztlich zu einem irgendwie föderal integrierten Europa zu gelangen. Insofern muß man die Schlußphase der Amtszeit von de Gaulle als ein Beispiel für Stagnation im europäischen Einigungsprozeß verstehen. Von nun an zeichnete sich endgültig ab, daß Fortschritte in der Integration nur noch über hart ausgehandelte längere Zeiträume zu verwirklichen sein würden. I I I . Die Überwindung der Stagnation durch eine „Politik der kleinen Schritte" Nach dieser Phase der Stagnation in der Weiterentwicklung der Gemeinschaft bis Ende der sechziger Jahre war es vor allem der Aufbau einer Wirtschaftsund Währungsunion, der die Mitgliedstaaten antrieb, den europäischen Prozeß fortzuentwickeln. Auf der Haager Gipfelkonferenz 1969 bekundeten die Regierungschefs der Mitgliedstaaten ihre Bereitschaft, eine solche neben einer eigenen Finanzverfassung fur die Gemeinschaften mit eigenen Einnahmen zu schaffen 34. Auch kam der Gedanke einer gemeinsamen Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf 35 . Politische Zielsetzungen sollten wieder angestrebt werden, wobei ihnen als Ende dieses Prozesses eine - freilich nicht näher definierte - „Europäische Union" vorschwebte. Auch wenn sich ausgangs der sechziger Jahre die Einfuhrung der Wirtschaftsund Währungsunion politisch noch nicht durchzusetzen vermochte, wurde doch deren Keimzelle in den siebziger Jahren gelegt: Nach Errichtung des Europäischen Währungsfonds 197336 war es vor allem das Verdienst der noch aus gemeinsamen Finanzministerzeiten eng verbundenen Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing - beide in die Rolle der Regierungs- bzw. Staatschefs avanciert-, sich 1978 auf die Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) 34 Vgl. B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkom/J. Streil, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, S. 37 und insb. S. 441; A. Bleckmann (Fn. 23), Rn. 2458; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 31. 35
B. Beutler/R. Bieber /J. Pipkorn/J. recht (Fn. 2), Rn. 31.
Streil (Fn. 34), S. 526; T. Oppermann, Europa-
36 B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil (Fn. 34), S. 437; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 33.
Der Weg zur politischen Union Europas
153
zu einigen 37 . Diesem Währungsverbund mit relativ festen Wechselkursen, bezogen auf die European Currency Unit (ECU), diente die starke D-Mark der Bundesrepublik als „Stabilitätsanker" 38. Die Grundlage fur die Fortentwicklung zu einem gemeinsamen Binnenmarkt war damit gelegt. Seit den siebziger Jahren trat auch wieder die Idee der „Politischen Union" hervor 39. Die Europäische Politische Zusammenarbeit sollte mit Leben gefüllt werden, ohne daß eine Grundlage dafür in den Verträgen gefunden werden konnte. Allgemeinpolitische Ziele der europäischen Einigung sollten in ihr eine Stimme finden. Institutionell drückte sich diese Fortbildung darin aus, daß von 1974 an der mindestens halbjährlich tagende Europäische Rat - zusammengesetzt aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, dem Kommissionspräsidenten sowie den Außenministern - die in Den Haag 1969 eingeleiteten jährlichen Gipfelkonferenzen ablöste. In dieser Phase des neuen Aufbruchs vollzog sich auch die erstmalige Aufnahme von neuen Mitgliedstaaten. Durch den Beitritt Irlands, Dänemarks und vor allem Großbritanniens zum 1. Januar 1973 weitete sich die Dimension für eine gemeinsame Handelspolitik aus. Andererseits manifestierte sich mit dem neuen Mitglied Großbritannien, daß die Idee einer föderalen Integration zugunsten der Vorstellungen einer Kooperation eine wesentliche Schwächung erfahren hat 40 . Allerdings ist es ein Verdienst dieser Neunergemeinschaft, daß man sich nach achtzehn Jahren 1976 endlich darauf einigte, den Auftrag des EWGV zu erfüllen, dem Europäischen Parlament eine demokratische Grundlage zu geben. Ab 1979 wurden über eine gemeinschaftsweite allgemeine und unmittelbare Wahl der Bürger die Vertreter jedes Mitgliedstaates entsandt und nicht etwa „nur" aus den nationalen Parlamenten delegiert 41. Die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsinstitutionen wurde dadurch gestärkt. Auch wenn die Kompetenzen dieses Parlaments im Vergleich zu den nationalen noch gering waren, wurde so ein Weg beschritten, auch den Bürgern der Mitgliedstaaten den „europäischen Gedanken" näher zu bringen. Niemand darf allerdings verkennen, daß trotz wachsender Befugnisse des Europäischen Parlaments42 im neuen Jahrhundert noch viel zu tun ist. 37 Vgl. A. Bleckmann (Fn. 23), Rn. 2460; M. Herdegen (Fn. 32), Rn. 371; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 33; Κ Stern (Fn. 8), § 133 V 10 c γ αα. 38 39
Vgl. auch P. M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 21.
Siehe dazu B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. chardt (Fn. 21), S. 10, 26 f.
Streil (Fn. 34), S. 37; K.-D. Bor-
40
Vgl. die Bewertungen zur britischen Mitgliedschaft in den Gemeinschaften bei T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 35. 41
A. Bleckmann (Fn. 23), Rn. 280; K.-D. Borchardt (Fn. 21), S. 109; F. Emmen (Fn. 21), § 9 Rn. 28; Chr. Koenig/A. Haratsch, Europarecht, 2. Aufl. 1998, Rn. 153. 42
Beispielhaft zu nennen sind die Beratungsbefugnisse, Rechtsetzungsbefugnisse (Art. 189a-189c EGV a.F. [Maastrichter Vertrag], jetzt Art. 250-252 EGV n.F. [Amsterda-
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IV. Die Fortentwicklung des „europäischen Gedankens" 1. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) Mit dem Beitritt Griechenlands im Jahre 1981 sowie dem von Spanien und Portugal zum 1. Januar 1986 wurde auch ein politisches Zeichen der Solidarität der Integrationsgemeinschaft dadurch gesetzt, daß mit der Überwindung von Diktatur und dem Bekenntnis zu neuer Rechtsstaatlichkeit schließlich auch ärmeren Staaten der Zutritt zum europäischen Haus nicht verwehrt würde. Eine Angleichung der Lebensverhältnisse aller Marktbürger konnte sich freilich nur dann erfüllen, wenn große regionale Fördermaßnahmen durchgeführt würden. Zu dieser Idee hatten sich die Gemeinschaften bekannt. Doch gleichzeitig wurde ihnen bewußt, daß nach einer Verdoppelung der Zahl der Mitgliedstaaten nicht nur institutionelle Reformen bevorstanden. Vielmehr bedurfte es konkreter Wegmarken für die weitere gemeinsame Entwicklung der politischen Dimensionen, wenn das Fernziel einer „Europäischen Union" beibehalten werden und näher rücken sollte. Bestärkt von dem Gedanken, die europäische Idee auch, aber nicht nur mittels wirtschaftlicher Integration voranzutreiben, wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) vom 17. bzw. 28. Februar 1986, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat, die wichtigste Vereinbarung auf dem Weg zur Europäischen Union geschaffen. Dabei dürfen die maßgeblichen vorbereitenden Stationen auf dem Weg nicht vergessen werden. Neben einem Vertragsentwurf für eine Europäische Union des Europäischen Parlaments war es insbesondere der Plan, den die damaligen Außenminister Genscher und Colombo schon 1981 ausarbeiteten, der mit seinen Vorschlägen zur Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommission sowie einer engeren Verknüpfung zwischen den Gemeinschaften und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu einer Grundlage für Reformdiskussionen führte, die in der „Feierlichen Erklärung von Stuttgart" des Europäischen Rates vom 19. Juni 1983 einen bedeutenden Niederschlag gefunden hat 43 . Ein Bekenntnis zu dieser Erklärung findet sich ausdrücklich in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte, in der auf die Erklärung mit ihrem Bekunden, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in eine „Europäische Union" umzuwandeln, Bezug genommen wird. Inhaltlich verfolgte die Einheitliche Europäische Akte eine Zwei-SäulenKonzeption, die zwar selbst noch nicht als Verwirklichung der angesprochenen mer Vertrag]), Kontrollbefugnisse (Art. 143, 206 EGV a.F. [Maastrichter Vertrag], jetzt Art. 200, 276 EGV n.F. [Amsterdamer Vertrag]) sowie Kreativbefugnisse (Art. 109a Abs. 2 lit. b, 158 Abs. 2, 188b Abs. 3 EGV a.F. [Maastrichter Vertrag], jetzt Art. 112 Abs. 2 lit. b, 214 Abs. 2, 247 Abs. 3 EGV n.F. [Amsterdamer Vertrag]). 43 Text abgedruckt in EA 1983, D 420 ff.; vgl. insgesamt K. Stern (Fn. 8), § 133 V 12 g α.
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„Europäischen Union" anzusehen war, aber wichtige Impulse fur eine zukünftige Konzeption lieferte 44. Die erste Säule bildeten die drei Gemeinschaften, wobei insbesondere der der EWG zugrundeliegende Vertrag wesentliche Änderungen erfahren hat. Vor allem zu nennen ist insoweit die vertragliche Verankerung des Ziels zur Verwirklichung eines gemeinsamen Europäischen Binnenmarktes bis zum 1. Januar 1993. Bei darauf gerichteten Maßnahmen wurde die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen des Ministerrates anstelle des Einstimmigkeitsprinzips geschaffen, so daß die Grundlage für ein effektives Voranschreiten in diesem Bereich gelegt wurde. Ferner wurde die Kommission dadurch gestärkt, daß weitere Befugnisse auf sie delegiert wurden 45. Auch die Rolle des Europäischen Parlaments fand eine Aufwertung durch die Einführung neuer Mitbeteiligungsrechte 46. Die Erweiterung des Tätigkeitsbereichs der Gemeinschaften auf neue Politikfelder wie Umwelt sowie Forschung und Technologie sollte einen Beitrag zum „spill-over-effect" leisten. Gewiß wurde: „Die Mühlen der Europäisierung mahlen unaufhaltsam." 47 Die zweite Säule sicherte die bereits seit 1970 praktizierte Europäische Politische Zusammenarbeit als Vorläufer der späteren Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) endlich durch einen originär völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten ab und gestaltete sie weiter aus48. Der Umstand, daß beide Säulen trotz des unterschiedlich hohen Integrationsgrades in einem Vertrag gleichsam „doppelfunktionell" 49 geregelt wurden, gab diesem Werk den Namen Einheitliche Europäische Akte. Da nun die Entwicklung zu einem gemeinsamen Binnenmarkt mit einer neu gewonnenen Dynamik zügig voranschritt, kam der Europäische Rat im Juni 1988 in Hannover zu der Übereinkunft, die Konzeption des Binnenmarktes durch eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung möglichst bald zu ergänzen50. Darin lebt der Gedanke der siebziger Jahre wieder auf. Hatte er jetzt die politische Kraft, Realität zu werden? Im Juni 1989 wurde vom Europäischen Rat in Madrid zum einen beschlossen, die erste Stufe der 44 Vgl. K.-D. Borchardt (Fn. 21), S. 27; P.M. Huher (Fn. 9), § 2 Rn. 23; M. Pechstein /Chr. Koenig (Fn. 22), Rn. 43; M. Schweitzer/ W. Hummer (Fn. 4), Rn. 47. 45
So wurde beispielsweise durch Art. 10 EEA in Art. 145, 3. Spiegelstrich EWGV (jetzt Art. 202 EGV [Amsterdamer Vertrag]) das Prinzip der „Regeldelegation'4 eingeführt, vgl. dazu M. Schweitzer/W. Hummer (Fn. 4), Rn. 205, 932 ff. 46 Beispielhaft sei genannt die Einfuhrung des Verfahrens der Zusammenarbeit durch Art. 7 EEA in Art. 149 Abs. 2 EWGV (nun Art. 252 EGV [Amsterdamer Vertrag]). 47
M. Brenner/P.M.
Huber, DVB1. 1999, 1559 (1564).
48
B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil (Fn. 34), S. 46; M. Pechstein/Chr. Koenig (Fn. 22), Rn. 44; M. Schweitzer/ W. Hummer (Fn. 4), Rn. 50. 49 50
So T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 41.
Zu Hannover vgl. Chr. Koenig/A. Hummer (Fn. 4), Rn. 52.
Harnisch (Fn. 41), Rn. 35; M. Schweitzer/
W.
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Klaus Stern
Wirtschafìts- und Währungsunion schon am 1. Juli 1990 beginnen zu lassen. Zum anderen sollte eine Regierungskonferenz nach dem damaligen Art. 236 EWGV die Ergänzung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um eine Wirtschafts- und Währungsunion konkretisieren 51. Die sich abzeichnende Verwirklichung dieses Integrationsfortschrittes bestärkte dann den Europäischen Rat in Dublin im Juni 1990, eine zweite Regierungskonferenz zur Ausarbeitung einer „Politischen Union" zu eröffnen 52. Diese Entscheidungen mündeten am 14. und 15. Dezember 1990 auf dem Europäischen Rat in Rom in der formellen Eröffnung von zwei Regierungskonferenzen - die eine über die Wirtschafts- und Währungsunion, die andere über die „Politische Union" 53 . Wie richtig dieser Schritt mit dem Ziel war, die anvisierte Wirtschafts- und Währungsunion um die Verwirklichung einer Politischen Union zu erweitern, zeigte sich nicht nur angesichts der Umwälzungen im „Ostblock". Auch der sich abzeichnende Krieg in der Golfregion sowie die Feindseligkeiten im damaligen Jugoslawien verdeutlichte den Mitgliedstaaten die Notwendigkeit, innerhalb ihrer Außen- und Sicherheitspolitik mehr als bisher zu kooperieren. 2. Der Vertrag von Maastricht Am Ende der Bemühungen beider Regierungskonferenzen standen zwei Vertragsentwürfe, die auf der historischen Tagung des Europäischen Rates in Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991 durch den Beschluß zum Vertrag über die Europäische Union (EUV) miteinander zu einem Vertragswerk verknüpft wurden. Unterzeichnet wurde der Vertrag am 7. Februar 1992. Diese schon längere Zeit angestrebte Zielsetzung bekam eine neue Dimension vor dem Hintergrund der Ereignisse in Mittelost- und Osteuropa 54. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems jenseits von Elbe und Werra bot sich die Möglichkeit, auf eine gesamteuropäische Integration hinzuarbeiten, die letztlich zu einer Friedensordnung von bis dahin kaum erhofftem Ausmaß in Europa führen könnte, die schon die Charta von Paris anvisierte 55. Das Ziel der Erweiterung zu einer Politischen Union in Europa wurde aber nicht nur von den neuen Perspektiven in der Außen- und Sicherheitspolitik angeregt. Stärkeren Anteil am Zustandekommen des Maastrichter Vertrages
51
Zu Madrid siehe Chr. Koenig/A. Haratsch, ebd.; M. Schweitzer / W. Hummer, ebd.
52
W. Hummer (Fn. 4),
Zu Dublin vgl. Chr. Koenig/A. Haratsch, ebd.; M. Schweitzer/ Rn. 53. 53
Zu Rom vgl. M. Schweitzer/
54
Vgl. dazu A. Bleckmann (Fn. 23), Rn. 39.
55
W. Hummer (Fn. 4), Rn. 54.
Näheres bei K. Stern, Der Ζwei-plus-Vier-Vertrag. Das völkerrechtliche Grundsatzdokument zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit, BayVBl. 1991, 523 ff.
Der Weg zur politischen Union Europas
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hatten die Zweifel, ob ein „Markt ohne Union" 56 auf Dauer bestehen kann. Somit war dieser Schritt auch zur Sicherung des Binnenmarktprozesses gedacht. Nach einem schwierigen Ratifikationsprozeß 57 trat der „Maastrichter Vertrag" am 1. November 1993 in Kraft. Dies führte zur umfassendsten Ergänzung des bis dahin bestehenden Vertragwerks. Sie brachte die schon seit vielen Jahren beschworene „Europäische Union". Anders noch als bei der Einheitlichen Europäischen Akte liegt der Europäischen Union nicht eine Zwei-, sondern eine Drei-Säulen-Konzeption zugrunde. Herausragend ist dabei die erste Säule, die der entscheidende Stützpfeiler der gesamten Konstruktion ist. Sie wird gebildet von den drei bestehenden Gemeinschaften als supranationalen Organisationen, wobei eine Umbenennung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Gemeinschaft (EG) stattfand 58. Darin kommt zum Ausdruck, daß diese wichtigste der drei Gemeinschaften spätestens durch diesen Vertrag nicht mehr nur die wirtschaftliche Integration fortbilden sollte. Mit den Ergänzungen des EGV in den Bereichen Kultur und Bildung 59 , der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips 60 und des Fahrplans zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion 61 sowie der Konzeption einer Unionsbürgerschaft 62, durch die das Aufenthaltsrecht in allen Mitgliedstaaten ausgebaut wurde und die das Recht zur Teilnahme an Kommunalwahlen gemeinschaftsweit gewährt, nahm die Europäische Gemeinschaft nunmehr Einfluß auf das gesamte gesellschaftliche Leben der Unionsbürger. Die zweite Säule stellt die Einführung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) dar, die als Nachfolger der Europäischen Politischen Zusammenarbeit anders als bei der ersten Säule allein auf klassisch völkerrechtlicher intergouvernementaler Kooperation beruht 63. Ebenso verhält es sich mit der dritten Säule, die die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres regelt 64. Wesentliche Aspekte einer Politischen Union wurden damit zwar auf den Weg gebracht, aber bislang nur ansatzweise verwirklicht. Vieles blieb offen. 56
Weiterhin zweifelnd T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 43.
57
Vgl. dazu P.M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 31; M Schweitzer / W. Hummer (Fn 4), Rn. 55; zur Lage in Deutschland vgl. K. Stern (Fn. 8), § 133 V 12 g γ γγ. 58
Art. 1 EGV (Maastrichter Vertrag); vgl. auch M. Herdegen (Fn. 32), Rn. 56; P. M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 32; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 44. 59
Für die Kultur vgl. insbesondere Art. 128 EGV a.F., jetzt Art. 151 EGV n.F.
60
Art. 3b Abs. 2 EGV a.F., jetzt Art. 5 Abs. 2 EGV n.F.
61
Vgl. Art. 102a ff. EGV a.F., jetzt Art. 98 ff. EGV n.F.
62
Art. 8 ff. EGV a.F., jetzt Art. 17 ff. EGV n.F.
63
H. G. Fischer (Fn. 32), § 2 Rn. 5; P.M. Huber (Fn. 9), Rn. 37; Chr. Koenig /A. Haratsch (Fn. 41), Rn. 621; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 1688; M. Schweitzer/W. Hummer (Fn. 4), Rn. 1813. 64
H. G. Fischer (Fn. 32), § 2 Rn. 5; P. M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 38.
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Gleichwohl ist mit dieser Phase der Integration, wie sie durch den Maastrichter Vertrag insgesamt begründet wurde, jedenfalls ein Stadium zwischen den Mitgliedstaaten erreicht, das weit über die klassische völkerrechtliche Konzeption eines Staatenbundes hinausgeht, aber längst noch nicht dem Phänomen eines Bundesstaates entspricht. Dies veranlaßte das Bundesverfassungsgericht in seinem „Maastricht-Urteil" dazu, die Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten als „Staatenverbund" 65 zu bezeichnen. T. Oppermann sprach von einer „parastaatlichen Superstruktur", um der „Gemengelage zwischen klassischer Außenpolitik und innenpolitischen Elementen mit einer Tendenz zur Anreicherung des internen Charakters" gerecht zu werden 66. W. Churchills Vision, die er in seiner Zürcher Rede 1946 geäußert hat, schien nun knapp fünfzig Jahre später, sogar mit Großbritannien als Teilnehmer und nicht nur als Beobachter, Wirklichkeit zu werden. Doch gilt diese Einschätzung nicht uneingeschränkt. Vor allem die Aufnahme der Regeln zur Wirtschafts- und Währungsunion in den EG-Vertrag führte zu einem geduldeten Ausscheren einiger Mitgliedstaaten, da sie andernfalls das gesamte Vertragswerk blockiert hätten. So wurden Dänemark und Großbritannien besondere Zugeständnisse gemacht, um wenigstens deren teilweise Integration voranzutreiben. Ihnen blieb freigestellt, sich an einer gemeinsamen Währung zu beteiligen. Damit wurde endgültig ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten" als Ausdruck einer unterschiedlichen Intensität der Integrationsstufen akzeptiert 67. Dennoch war die neue Struktur der Europäischen Union mit ihrer wirtschaftlichen Integration und wachsenden politischen Dimension so attraktiv, daß sich mit dem Beitritt von Österreich, Schweden und Finnland zum 1. Januar 1995 die sogenannte EFTA-Erweiterung vollzog. Lediglich Norwegen verweigerte sich ein weiteres Mal nach 1972. Aber die ostmitteleuropäischen und die baltischen Staaten stehen neben Zypern und Malta ante portas, ohne daß das südöstliche Europa und die Türkei ausgeschlossen werden sollten. 3. Der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Die Europäische Union war damit auf fünfzehn Mitgliedstaaten angewachsen, wovon deren elf künftig das „Euroland" bilden sollten. Dagegen wollten sich Großbritannien und Dänemark zunächst abwartend verhalten und erst später über eine Teilnahme an der gemeinsamen Währung entscheiden. Schweden konnte nicht daran teilnehmen, weil es das Kriterium einer von der Regierung unabhängigen nationalen Zentralbank nicht erfüllte und sich ebenfalls abwartend verhal65
BVerfGE 89, 155 (181).
66
Siehe T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 51.
67
Die Komplikationen der Bildung von „einer neuen Art von Kerneuropa" sieht auch T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 50.
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ten wollte. Bei Griechenland zeichnete es sich von vornherein ab, daß selbst bei wohlwollender Auslegung der Konvergenzkriterien, wie sie Belgien und Italien erfahren hatten, ein Beitritt (noch) nicht zu vertreten war. Nach einem in der Sache unwürdigen Streit um die Person des künftigen Präsidenten der Europäischen Zentralbank und dessen rechtzeitiger Beilegung begann am 1. Januar 1999 die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, die von einem gemeinsamen Stabilitätspakt untermauert wurde 68 . Die unabhängige Europäische Zentralbank nahm ihre Tätigkeit auf, der Euro gilt von nun an in elf Mitgliedstaaten als gemeinsame Währung. Damit wurde die „wichtigste Grundentscheidung seit dem Abschluß der Römischen Verträge" 69 in die Tat umgesetzt. Allerdings fehlten noch eigene Scheine und Münzen, so daß die unwiderrufliche Übertragung der Währungshoheit als Teil der staatlichen Souveränität auf die Union für die Bürger noch nicht so real geworden ist. Gleichwohl ist seitdem die Deutsche Mark trotz ihres unveränderten Aussehens nur noch eine unveränderliche Untereinheit des Euro, in dem sie zusammen mit den anderen Währungen der übrigen Teilnehmerstaaten aufging. Gerade für die Deutschen, denen „ihre" stabile D-Mark eine wesentliche Grundlage für den Aufbau der Bundesrepublik durch das sog. Wirtschaftswunder und allzeit Ausdruck der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands war 70 , galt die Aufgabe ihrer Währung als ein besonderes Opfer 71. Doch war dies ein nicht zu unterschätzender Integrationsbeitrag des wiedervereinigten Deutschland, das mit der Zustimmung zur Vergemeinschaftung der Währungssouveränität insbesondere die Bedenken Frankreichs zu zerstreuen suchte, daß nach der Wiedervereinigung die stabilitätsverpflichtete Geldpolitik der Bundesbank die Währungspolitik der anderen Mitgliedstaaten noch stärker als zu Zeiten des EWS dominieren würde 72 . Insofern hat dieser Prozeß am Ende der Entwicklung zu einer Europäischen Union eine Parallele zu den Vorgängen an seinem Anfang. Wie schon bei den einst kriegswichtigen Gütern Kohle und Stahl befürwortete Frankreich die Integration von Deutschlands Wirtschaftspotential in eine gemeinsame übergeordnete Institution, wobei es dann auch dazu beitrug, Deutschlands Souveränität wieder zu vervollständigen. Als Deutschland nach der Wiederherstellung seiner Einheit erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mit uneingeschränkter Souveränität ausgestattet wurde 73 , fand es sich am Ende dieses langen Weges eingebunden in ein System, in dem alle seine Stärken, die zuvor 68
Näheres bei K. Stern (Fn. 8), § 133 V 6 c δ, § 133 V 12 g δ.
69
T. Oppermann , Europarecht (Fn. 2), Rn. 48.
70
Vgl. dazu K. Stern (Fn. 8), § 133 V 12 g δ αα.
71 Dies erklärt den Gang einiger Bürger vor das BVerfG, vgl. dazu BVerfGE 97, 350 ff. Näheres zu dieser Kontroverse bei K. Stern (Fn. 8), § 133 V 12 g δ ßß. 72 Hinweise dazu vgl. bei P.M. Huber (Fn. 9), § 2 Rn. 30; T. Oppermann, Europarecht (Fn. 2), Rn. 1005 ff. 73
Vgl. dazu
K.
Stern
(Fn. 55), BayVBl. 1991, 523 ff.
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immer das Gefühl einer Bedrohung bei seinen Nachbarn ausgelöst hatten, nun mit denen der Nachbarn und insbesondere Frankreichs verflochten waren. Nunmehr sollten diese Potentiale der gemeinsamen Stärke in einer immer mehr globalisierten Welt dienen. Aus der Bedeutung des „Opfers" der D-Mark erklärt sich auch, warum nicht zuletzt Deutschland auf weitere Stärkungen der Politischen Union setzt, damit die Einbringung der D-Mark in eine gemeinsame Währung nicht vergebens war. 4. Der Vertrag von Amsterdam Von der innergemeinschaftlichen Friedensordnung im Verbund mit wirtschaftlicher Entwicklung und einer Anhebung des Lebensstandards wollten nach der Phase ihrer politischen „Wende" auch die Staaten profitieren, die während des „Kalten Krieges" hinter dem „Eisernen Vorhang" Europa entschwunden waren. Ihr Bekenntnis zur Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft war nie ganz untergegangen und trat ab 1989 wieder offen hervor. Sie wollten zurück nach Europa. Eine einmalige historische Chance tat sich auf, daß auch die Staaten jenseits von Oder und Neiße endlich an der Verwirklichung des „europäischen Gedankens" teilhaben könnten. Namentlich Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, ebenso Slowenien und Estland wurden erste Aspiranten für eine Aufnahme, zumal ihre wirtschaftlichen Rahmendaten die von Lettland und Litauen, der Slowakei, Kroatien, Rumänien und Bulgarien übertrafen 74. Mit diesen Aufnahmen muß sich die Union der Fünfzehn jetzt intensiver auseinandersetzen als zur Zeit der Verhandlungen um den „Maastrichter Vertrag". Angesichts des Drängens dieser Staaten wurde man gewahr, daß sich die Entscheidung über den Beitritt neuer Mitglieder nicht beliebig hinausschieben ließe. Diese Erweiterung macht es erforderlich, die Organisationsstrukturen der Union den neuen Verhältnissen anzupassen, wollte man die Gelegenheit einer neuen Phase der Kooperation und Integration nicht verpassen und die Fortentwicklung der Politischen Union bremsen. Zu diesem Zweck bot sich die schon in Artikel Ν Abs. 2 EUV vorgesehene Folgekonferenz an, die eine Revision des Vertragswerks prüfen sollte 75. Nach ihrer Einberufung in Turin am 29. März 1996 fand sie beim Europäischen Rat in Amsterdam am 16. und 17. Juni 1997 ihren Abschluß mit dem Beschluß des sog. Amsterdamer Vertrages („Maastricht II"), der am 2. Oktober 1997 unterzeichnet wurde 76 und am 1. Mai 1999 in Kraft trat. 74 Vgl. dazu den Beitrag von G. Brunner, Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung - der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Gemeinschaft, in: J. F Baur /Cht: Watrin (Hrsg.), Recht und Wirtschaft der Europäischen Union, 1998. 75
K. Stern (Fn. 8), § 133 V 12 g γ αα, ε.
76
BGBl. II, S. 387.
Der Weg zur politischen Union Europas
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Angesichts der Erwartungen, die von den Unionbürgern im Inneren und den Beitrittsanwärtern im Äußeren in dieses Reformwerk gesetzt wurden, ist die Realität weit dahinter zurück geblieben. Anstelle die Unionsorgane so zu strukturieren, daß sie selbst bei über zwanzig Mitgliedstaaten noch handlungsfähig sein würden, wurde diese notwendige Aufgabe bis auf rudimentäre Korrekturen auf die Zukunft verschoben. Positiv anzumerken ist der Schritt einer verstärkten Integration im Bereich Justiz und Inneres, was sich auch durch die Verschiebung vieler Bestimmungen aus dem EUV in den EGV verdeutlichte 77. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die sich weiterhin als intergouvernementale Zusammenarbeit darstellt, wurde die Stelle eines Hohen Repräsentanten geschaffen, die der Generalsekretär des Ministerrates gleichzeitig bekleidet und der der GASP erstmals „Gesicht und Stimme4' geben sollte 78 . Der erste Inhaber dieses Amtes wurde 1999 der ehemalige Generalsekretär der NATO, Javier Solana. Es bleibt abzuwarten, ob damit eine endgültige Antwort auf die Frage des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger gefunden wurde, wen er im Falle einer akuten Krise anrufen solle, wenn er mit „Europa" sprechen wolle. Jedenfalls ist es eine Stärkung von „Mr. GASP", daß sein Amt in Personalunion mit dem des Generalsekretärs des Verteidigungsbündnisses Westeuropäische Union (WEU) verbunden wurde. Nicht ohne Brisanz bleibt dabei die Frage, ob damit nicht auch ein erster Schritt zu einer Emanzipation der europäischen Bündnispartner von den USA im Rahmen der NATO eingesetzt hat, der langfristig zum Aufbau einer vom Nordatlantikpakt unabhängigen europäischen Sicherheitsstruktur fuhren wird. Anzeichen dafür ist die Entwicklung einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität", wonach beim Hohen Repräsentanten ein politischer Ausschuß sowie ein Militärkomitee aus Vertretern der EU-Mitgliedstaaten ebenso gebildet werden soll wie ein permanenter Militärstab der EU. V. Ausblick Europa war einer politischen Union nie näher als zum jetzigen Zeitpunkt. Dank engagierter Männer und Frauen, die ihre Visionen von einem gemeinsamen Weg der Staaten und Völker Europas in einen fortlaufenden Prozeß einbrachten, ist innerhalb der Europäischen Union nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs eine Phase des Friedens und des Wohlstands herangereift, von der frühere Generationen kaum zu träumen wagten. Dennoch ist der Weg in eine politische Union Europas längst noch nicht am Ziel angelangt. Fest steht, 77
Darunter fallen beispielsweise die Asylpolitik (bisher Art. K l Nr. 1 EUV, jetzt Art. 63 Nr. 1 EGV) und die Einwanderungspolitik (bisher Art. K l Nr. 2 EUV, jetzt Art. Art. 63 Nr. 3 EGV). 78 Vgl. ausfuhrlich M. Pechstein/C. Koenig, Die Europäische Union. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam, 1998, Rn. 324 ff.
11 FS Oppermann
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daß diese politische Union nur im Rahmen der Europäischen Union als der wirtschaftlichen und auch politischen Erfolgsgemeinschaft der Nachkriegszeit zu erreichen sein wird. Die Existenz einer gemeinsamen Währung mit all ihren wirtschaftlichen und sozialen Sachzwängen drängt die Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Kontrolle und gegenseitigem Vertrauen, woraus sich eine Fortentwicklung der Politischen Union ergeben kann. Doch diese Union befindet sich an einer Weggabelung. Der eine Weg führt nicht mehr vorwärts, sondern knickt bestenfalls nur zur Seite ab, ist aber ausgebaut und breit. Entscheiden sich die Mitgliedstaaten dafür, werden sie im status quo verharren. Der Gemeinsame Markt würde sich vergrößern und auch ein hoher Wohlstandsstandard könnte möglicherweise beibehalten werden. Gleichwohl bestünde die Gefahr einer Degradierung zur klassisch-völkerrechtlichen Wirtschaftsgemeinschaft 79, wenn die Mitglieder nicht bereit wären, sich auf eine gemeinsame Außenpolitik zu einigen, die notfalls auch gegen den Willen der Minderheit vertreten würde. Die Unfähigkeit in der gemeinsamen Bewältigung von Krisen, wie sie trotz der Konzeption einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" im Falle des Auseinanderbrechens von Jugoslawien zu Tage getreten ist, würde sich an den Außengrenzen der Union wiederholen. Ohne eine weitere Demokratisierung der Organe der Union und vor allem ohne größere Transparenz würden sich die Unionsbürger immer mehr von einem gesichtslosen technokratischen „Moloch" in Brüssel regiert sehen, auf den der ganze Unmut für sämtliche gesellschaftliche Mängel projiziert und der die Akzeptanz eines gemeinsamen Handelns sinken lassen würde. Der andere Weg ist vorwärtsgewandt, aber steinig. Um ihn beschreiten zu können, müssen die Mitgliedstaaten der jetzigen Union mühsame, aber unvermeidbare Entscheidungen treffen. So ist zum einen die Frage nach dem Inhalt einer europäischen Identität zu beantworten. Ist Europa allein geographisch zu definieren, so daß möglicherweise Staaten bis zum Ural und Kaukasus eine zukünftige Beitrittsperspektive haben? Besteht Europa aus einer Wertegemeinschaft des „christlichen Abendlandes", so daß der Türkei der Beitritt endgültig versagt werden müßte? Eine Klärung dieser Fragen ist unausweichlich, um den betreffenden Staaten Perspektiven zu geben oder aber die Möglichkeit der endgültigen Ausrichtung auf andere Formen der Zusammenarbeit. Institutionelle Reformen, voranschreitende Demokratiesierung der europäischen Organe und transparente Entscheidungsabläufe zur Ausschaltung von Nepotismus und Korruption sind unvermeidbar, um die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht zu verlieren, ohne die der gemeinsame Zusammenhalt unmöglich ist. Wenn aber diese Schritte gemacht sind, hätten die europäischen Staaten erstmals in ihrer Geschichte eine Konzeption, in der der „europäische Gedanke" in einer politischen Union endgültig Wirklichkeit werden würde. Europa — quo vadis? Wir erhoffen von unserem Jubilar noch viele klärende Antworten. 79
Diese Gefahr erkennt auch
T. Oppermann,
Europarecht (Fn. 2), Rn. 50.
Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union Durch Konvergenz zur Kohärenz Von Ulrich Everling
I. Vorbemerkung Thomas Oppermann hat den Beginn unserer Bekanntschaft und Zusammenarbeit präzise angegeben. Am 1. September 1960 trat er in das Rechtsreferat der Europa-Abteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft ein, das ich damals leitete. Die Anfangsjahre unserer gemeinsamen Tätigkeit hat er in der mir zugedachten Festschrift plastisch und freundschaftlich geschildert.1 Es wäre nicht ohne Reiz, diese Darstellung durch einen entsprechenden Beitrag aus meiner Sicht und Erinnerung zu ergänzen. Doch dabei könnten sich nur geringe, vorwiegend subjektive Zusätze ergeben, die wenig interessant wären 2. Stattdessen soll zu Ehren des Jubilars der Weg der drei Europäischen Gemeinschaften zur Zusammenfassung in der Europäischen Union, den er erst als junger Beamter und dann als unterstützend beobachtender Wissenschaftler begleitet hat, nachgezeichnet werden, um daraus Folgerungen für die heutige Struktur der Union und der Gemeinschaften zu ziehen. Dabei soll mit einigen persönlichen Bemerkungen zu unserer damaligen Haltung begonnen werden 3.
1
T. Oppermann, Erinnerungen an das Bundeswirtschaftsministerium und seine EuropaAbteilung in den sechziger Jahren, FS für Ulrich Everling, 1995, S. 23. 2 Einige Marginalien habe ich bereits in einem Hans von der Groeben gewidmeten Tagungsband nachgetragen: U. Everling, Zur Anfangsphase der Politik des Bundesministeriums für Wirtschaft gegenüber der EWG, in: R. Hrbek/V. Schwarz, 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, 1998, S. 177. 3 Das geschieht mit allem Vorbehalt gegenüber derartigen retrospektiven Betrachtungen, bei denen die Erinnerung durch spätere Erkenntnisse überlagert wird.
11
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Ulrich Everling
II. Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften bis zum Maastricht-Vertrag 1. Zu den Anfangsjahren der Europapolitik im Bonner Wirtschaftsministerium Typisch für die Anfangsjahre war die Zersplitterung der Zuständigkeiten, die in gewissem Umfang bis heute fortbesteht. Die Europa-Abteilung des BMWi war für Angelegenheiten der EWG zuständig, die Verbindung zur EGKS war der Energie-Abteilung zugewiesen, und die Gegenstände der EAG ressortierten im damaligen Atom- und späteren Forschungsministerium. Die anderen beteiligten Ressorts, vor allem das für die politischen Zusammenhänge zuständige Auswärtige Amt, konnten die unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen nur unvollkommen verklammern. An dieser Zersplitterung wurde das Integrationskonzept deutlich, das damals im Wirtschaftsressort vorherrschte. Während die Gemeinschaften von den politischen Akteuren, für die Konrad Adenauer und Walter Hallstein genannt seien, in ihrer Gesamtheit in erster Linie politisch bewertet wurden, stand für das BMWi die wirtschaftliche Bedeutung im Vordergrund. Als ihr wesentliches Ziel galt die Öffnung der Märkte bei unverfälschtem Wettbewerb, und zwar über die Grenzen der Sechser-Zusammenschlusses hinaus. Daß die Gemeinschaften zusammen politische Ziele verfolgten und daß ihre wirtschaftlichen Entscheidungen politische Wirkung hatten, wurde wenig wahr genommen. Oppermann und mir wurde das alsbald bewußt, und die damals herrschende Deutung der Gemeinschaft als unpolitisch agierender „Zweckverband" 4 wurde von uns zunehmend als ungenügend empfunden 5. Angesichts dieser Lage stellte sich die Frage der Einheit der drei Gemeinschaften nicht als dringliches Problem. Wir waren ungeachtet ihrer unterschiedlichen rechtlichen Strukturen der Meinung, daß „die Mitgliedstaaten ... im Rahmen der drei Verträge eine Europäische Gemeinschaft" bilden6. Doch in der 4 Dieser Begriff wurde, soweit ersichtlich, erstmals geprägt von H. P. Ipsen, Der deutsche Jurist und das europäische Gemeinschaftsrecht, Verh. des 45. DJT, Bd. II, 1964, S. L 14, ferner ders.. Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 197. 5 Das äußerte sich später in der unabhängig voneinander formulierten Kritik, auf die Ipsen heftig reagierte. Siehe T. Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur - Skizze einer Realitätsumschreibung, in: Hamburg - Deutschland - Europa. FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 685; V. Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union - Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaften, ebd. S. 595; H. P. Ipsen, Zur Gestalt der Europäischen Gemeinschaft, GS für LéontinJean Constantinesco, 1983, S. 283, 288 f. S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), 901, 904, meint, daß die unpolitisch verstandene Zweckverbandsformel aus heutiger Sicht „nur noch ein müdes Lächeln abnötigt. 6
So damals schon unser Kollege E. Wohlfarth, in: E. Wohlfarth/U. Everling/H.-J Glaesner/R. Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Kommentar zum Ver-
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165
Praxis kümmerten wir uns, entsprechend der Zuständigkeit, wenig um die Belange von Montanunion und Euratom. Wir waren überzeugt davon, daß der EWG als der umfassende Gemeinschaft die Zukunft gehörte und daß sie deshalb die Führungsrolle bei der Integration zu übernehmen hatte. 2. Ausgangslage auf Gemeinschaftsebene Auf europäischer Ebene waren die drei Gemeinschaften zunächst klar abgegrenzt und handelten jedenfalls in der Anfangphase unabhängig von einander, so wie es sich in der geschilderten Zuständigkeitsverteilung auf nationaler Ebene widerspiegelte. Sie waren jeweils eigene Rechtspersönlichkeiten und wurden organisatorisch getrennt verwaltet, was für die EGKS dadurch deutlich wurde, daß sie ihren Sitz in Luxemburg behielt, während EWG und EAG in Brüssel ansässig wurden. Immerhin gab es aber damals bereits organisatorische Brücken. Das zusammen mit EWG- und EAG-Vertrag geschlossene Abkommen über gemeinsame Organe übertrug einer einzigen Versammlung, die sich alsbald Europäisches Parlament nannte, und einem einzigen Gerichtshof die in den drei Verträgen jeweils vorgesehenen Aufgaben, und der Wirtschafts- und Sozialausschuß wurde für EWG und EAG gemeinsam zuständig. Auch auf der Verwaltungsebene gab es Verbindungen. So waren der Juristische Dienst, der Presse- und Informationsdienst und das Statistische Amt seit jeher gemeinsame Dienste der drei Gemeinschaften. Doch die drei Räte sowie die beiden Kommissionen und die Hohe Behörde waren unterschiedlich zusammengesetzt und blieben organisatorisch getrennt. Sie handelten auch in der Praxis weitgehend unabhängig voneinander. Das Verhältnis der Verträge wurde in Art. 305 (ex 232) EGV 7 dahin geregelt, daß dieser nicht die Bestimmungen des EG KS-Vertrages ändert und die des EAG-Vertrages nicht beeinträchtigt. Die unterschiedliche Formulierung erklärt sich daraus, daß der EGKS-Vertrag bereits in Kraft war. Daher mußte klargestellt werden, daß er nicht durch den späteren Vertrag geändert wurde, während dies bei dem gleichzeitig abgeschlossenen EAG-Vertrag nicht in Betracht kam. Die Vorschrift wurde dahin ausgelegt, daß die Bestimmungen des EWGVertrages immer dann gelten sollten, wenn die beiden anderen Verträge keine Regelungen für einen bestimmten Sachverhalt enthielten8. Dadurch wurde die trag, 1960, Art. 1 Anm. 4. S.a. K. Carstens, Die Errichtung des gemeinsamen Marktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Atomgemeinschaft und Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ZaöRV 18 (1958), 459. 7
Im folgenden werden die Artikel auch für die Vergangenheit in der durch den Amsterdamer Vertrag festgelegten Nummerierung aufgeführt, sofern es nicht auf eine frühere Fassung ankommt. 8 S. statt aller E.-U. Petersmann, in: H. v. d. Groeben /J. Thiesing/C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU / EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 232 Rn. 10.
Ehlermann
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Möglichkeit einer Verflechtung in der Praxis geschaffen, worauf noch einzugehen ist. Ein erster Versuch, die drei Gemeinschaften unter einem gemeinsamen Dach zusammenzufassen, war der Fouchet-Plan, der nach vorangegangenen Erklärungen von Präsident de Gaulle 1961 vorgelegt wurde. Er sah die Gründung einer Staatenunion auch auf den den Gemeinschaften übertragenen Gebieten vor und sollte von Organen aus Vertretern der Mitgliedstaaten dominiert sein9. Auf die wechselvollen Beratungen, die schließlich nach einem revidierten französischen Entwurf und einem Gegenentwurf der fünf anderen Regierungen scheiterten, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Wichtig ist aber die Feststellung, daß die vorgeschlagene Union und die drei Gemeinschaften als Einheit angesehen und letztere der Entscheidungskompetenz des neuen Rates der Union unterstellt werden sollten. Die weitere Entwicklung zeigte, daß diese Überlegungen ständig virulent blieben. 3. Fusion der Organe der Gemeinschaften Über die Zusammenfassung der drei Gemeinschaften wurde schon seit 1958 im Europäischen Parlament diskutiert. Dadurch angeregt schlug die niederländische Regierung im Sommer 1961 die Einsetzung gemeinsamer Organe vor 10 . Der Vorschlag wurde zwar als Vorstufe zu einer Verschmelzung der Gemeinschaften deklariert, klammerte diese aber bewußt aus. Eine Einigung über eine materielle Fusion erschien angesichts der damaligen vielfältigen Auseinandersetzungen über die Einbettung der EWG in eine große Freihandelszone, die erwähnten Fouchet-Verhandlungen, die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, die Agrarpolitik, den Übergang zur zweiten Stufe der Übergangszeit und den Vorrang von Marktwirtschaft oder Planifikation von vornherein illusorisch. Verfechter einer weitgehenden Integration befürchteten von einer echten Fusion Integrationsrückschritte, weil das nach ihrer Ansicht supranationalere System der EGKS mit der Hohen Behörde als Spitze in dem vom Rat beherrschten System der EWG aufgehen würde und weil die Gelegenheit zu weiteren Lockerungen hätte genutzt werden können". Andere befürchteten im Gegenteil die erwartete politische Stärkung der Gemeinschaft, die auch Kommission und Parlament hätte zugute kommen können. Einige scheuten vor der Gefahr, daß die in ihren Augen dirigistischen und planerischen Elemente der EGKS auf 9 Vgl. hierzu und zum folgenden die Angaben bei W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um die Verfassung. Dokumente 1939-1984, Bonn 1986, S. 436. 10 Nachweise bei O. v. Stempel, Die Fusion der Organe der Europäischen Gemeinschaften, FS für Carl-Friedrich Ophüls, 1965, S. 229. 11
397.
J. Lindthorst Homann, The Merger of the European Communities, CMLR 3 (1965),
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den EWG-Bereich übertragen werden könnten, während wiederum andere den Fortbestand dieser Regeln für Kohle und Stahl sichern wollten 12 . Der Fusionsvertrag beschränkte sich daher auf die bis heute fortbestehende Fusion der Organe, die jeweils nach den in den drei Verträgen vorgesehenen Bestimmungen handeln. Die Gemeinschaften blieben in ihrem Bestand als selbständige Rechtspersönlichkeiten mit eigenen Aufgaben und Kompetenzregeln unberührt 13. Selbst dieser begrenzte Schritt, der allseits als technische Vereinfachung begrüßt wurde, stieß auf politische Schwierigkeiten. Der Vertrag wurde am 8. April 1965 abgeschlossen, also am Vorabend der Auseinandersetzungen, die zum Rückzug Frankreichs aus dem Rat führten. Doch auch als die Krise Anfang 1966 durch das bekannte Luxemburger Protokoll beigelegt worden war, dauerte es noch bis zum 1. Juli 1967, bis der Vertrag in Kraft treten konnte. 4. Fortentwicklung der Gemeinschaftsverträge bis zu den neunziger Jahren In der Folgezeit bestanden die Gegensätze, die einer echten Fusion der Gemeinschaften entgegengestanden hatten, fort 14 . Versuche der Kommission 15 und des Europäischen Parlaments 16, neue Anstöße zu geben, blieben ohne unmittelbare Folgen. Bei den herausragenden europapolitischen Ereignissen dieser Zeit, nämlich der Gipfelkonferenz von Den Haag von 1969 und den nachfolgenden Gipfeln und Europäischen Räten, spielte die Einheit der Verträge keine Rolle. In Den Haag wurde jedoch mit der Politischen Zusammenarbeit (EPZ) ein gemeinsames Vorgehen in einem neuen Bereich, nämlich dem der der Außenund Sicherheitspolitik beschlossen. Sie bildete sich ohne vertragsrechtliche Grundlage in kooperativer Form allmählich zu einer lockeren Organisation fort, die neben die Gemeinschaften trat 17 . Der Tindemans-Bericht sprach die Frage der Einheit der Gemeinschaften und der EPZ ebenso wenig an wie der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments. Beide gingen aber davon aus, daß die bisher den Gemeinschaften und der 12
H. P. Ipsen, Fusion der Europäischen Exekutiven, NJW 1963, 2209.
13
Überblick bei O. v. Stempel (Fn. 7).
14
K. Twitchett/C. Caroli, Die Verschmelzung der Exekutiven der Europäischen Gemeinschaften. Eine Untersuchung im Hinblick auf die Fusion der Verträge, EA 1969, 171. 15
Siehe H. R Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaft, 1969.
16
Entschließung vom 16.2.1978, ABl. 1978 Nr. C 63/36.
17 H. Kramer/R. Rummel, Gemeinschaftsbildung Westeuropas in der Außenpolitik. Zur Tragfähigkeit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, 1978, mit Materialien; E. Stein, European Political Cooperation (EPC) as a Component of the European Foreign Affairs System, ZaöRV 43 (1983), 49.
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Ulrich Everling
EPZ zugewiesenen Sachbereiche in die von ihnen vorgeschlagene Europäische Union überfuhrt werden sollten18. Diese Pläne konnten politisch nicht verwirklicht werden. Realistischer war insoweit die Stuttgarter Erklärung des Europäischen Rates von 1983. Danach sollte der Europäische Rat politische Leitlinien für die drei Gemeinschaften und die EPZ festlegen, die weiter nach den für sie maßgebenden Bestimmungen handeln sollten. Diese Konzeption lag auch der Einheitlichen Europäischen Akte zugrunde. Sie erfaßte zwar die Politische Zusammenarbeit erstmals vertraglich, ließ sie und die Gemeinschaften aber weiter formell getrennt 19. Damit war auch die Linie für den Maastricht-Vertrag vorgezeichnet. Während der Verhandlungen wurde von der damaligen niederländischen Präsidentschaft ein Entwurf vorgelegt, nach dem die Europäischen Gemeinschaften und die neu vorgesehenen Sachgebiete, nämlich die an die Stelle der EPZ tretende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZJI) als Union zu einem einheitlichen Vertragswerk verschmolzen werden sollten, wobei die Intensität der Regelungen durchaus unterschiedlich sein sollte20. Dieser politisch klare und rechtlich überzeugende Vorschlag wurde von der Regierungskonferenz ungewöhnlich brüsk zurückgewiesen, offenbar weil einige Regierungen eine Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Verfahren auf die neuen Bereiche befürchteten. Der Maastricht-Vertrag bildete statt dessen das Modell von Stuttgart fort, in dem er die dort vorgesehenen Beschlüsse des Europäischen Rates mit den genannten neuen Bereichen GASP und ZJI in einer Union genannte Organisation zusammenfaßte und dieser die Gemeinschaften mit der Maßgabe eingliederte, daß sie weiter die in den jeweiligen Gemeinschaftsverträgen enthaltenen Bestimmungen anwenden sollten. Damit wurden die alten Vorstellungen des Fouchet-Plans aufgegriffen, jedoch wurden die Gemeinschaften anders als dort vorgesehen und im Einklang mit der Stuttgarter Erklärung nicht den Beschlüssen des Europäischen Rates untergeordnet. Der Maastricht-Vertrag ließ also die Gemeinschaften formell getrennt bestehen und ordnete sie in den Maastricht-Vertrag mit seinen neuen Bereichen ein, ohne sie mit diesen zu verschmelzen. Er schuf aber eine Reihe von Verbindungen zwischen den Gemeinschaften und den Unionsbereichen. Sie wurden durch S. hierzu und zum folgenden die Texte im Anhang von J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984. Zur weiteren Entwicklung näher U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVB1. 1993, 936 (939). 19 J. A. Frowein, Die vertragliche Grundlage der Europäischen Zusammenarbeit (EPZ) in der Einheitlichen Europäischen Akte, FS für Pierre Pescatore, 1987, S. 247; M. Lak, Interaction between European Political Cooperation and the European Community (external): existing rules and challenges, CMLR 26 (1989), 281. 20
Dok. SN /1079/91 vom 24.9.1991. Dazu U. Everling (Fn. 18), S. 939.
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den Vertrag von Amsterdam, der die Grundstruktur nicht veränderte, noch verstärkt. Insoweit wurde aber nur die Verflechtung der drei Gemeinschaften untereinander erweitert, die im Laufe der Jahre bereits zwischen ihnen ungeachtet ihrer formellen Trennung in der Praxis eingetreten war. Darauf muß zunächst näher eingegangen werden, bevor versucht werden kann, die gegenwärtige Struktur der Union zu analysieren. I I I . Verflechtung der drei Gemeinschaften untereinander und mit der EPZ 1. Grundsätze des Gerichtshofs bei der Anwendung der Gemeinschaftsverträge Der Gerichtshof hat schon frühzeitig die „innerhalb der Europäischen Gemeinschaften ... bestehende funktionelle Einheit" hervorgehoben 21 und bei der Auslegung des EGKS-Vertrages die für die EWG und EAG aufgestellten Grundsätze unterstützend herangezogen22. In diesen frühen Fällen handelte es sich allerdings um Personalsachen, in denen die Sachpolitiken nicht zur Diskussion standen. Doch in der Folgezeit hat der Gerichtshof auch in materiell bedeutsamen Fällen aus dem Zusammenhang der Verträge Folgerungen gezogen. So hat er in einem Immunitätsverfahren mit der Begründung, daß das Europäische Parlament gemeinsames Organ der drei Gemeinschaften sei, dessen Sitzungsperiode nach den längeren Fristen von EWG- und EAG-Vertrag bestimmt 23 . Bei der Klage Luxemburgs wegen des Sitzes des Europäischen Parlaments hat er dessen Passivlegitimation anerkannt, obwohl sie nur in Art. 38 EGKSV, nicht aber in den entsprechenden Vorschriften der anderen Verträge vorgesehen war, denn gegenüber dem gemeinsamen Organ genügte die Klagebefugnis nach einem der Verträge für Handlungen, die „gleichzeitig und in unteilbarer Weise" die Bereiche der drei Verträge betrafen 24. Ebenso hat er im Urteil Differdange festgestellt, daß eine Klage zulässig ist, wenn die angefochtene Handlung gleichzeitig und in unteilbarer Weise die Bereiche mehrerer Verträge betrifft und die Klagemöglichkeit nach den Bestimmungen eines der Verträge besteht25. Im selben Sinn hat er erklärt, daß die Frage der Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes nur einheitlich zu prüfen ist und daß es deshalb nicht ausgeschlossen ist, im Rahmen einer auf Art. 173 EWGV (nunmehr 230 EGV) gestützten Klage gegen
21
EuGH, Slg 1960, 819 (849), Rs. 230/81 - Campolongo.
22
EuGH, Slg 1960, 1163 (1194), Rs. 6/60 - Humblet.
23
EuGH, Slg 1964, 417 (432), Rs. 101/63 - Wagner.
24
EuGH, Slg 1983, 255 (Rz. 19), Rs. 230/81 - Luxemburg /Parlament.
25
EuGH, Slg 1984, 2889 (2895), Rs. 222/83 - Differdange.
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einen auf den EWG-Vertrag gestützten Rechtsakt auch eine gerügte Verletzung des EAG- oder EWG-Vertrages zu prüfen 26. Der Gerichtshof ist ferner dazu übergegangen, die im Bereich der EWG entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze auch im Bereich der anderen Verträge anzuwenden. Es war daher schon vor dem Maastricht-Vertrag davon auszugehen, daß die Grundrechte, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts und die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts allgemeine Geltung beanspruchen27. So hat das Gericht erster Instanz unlängst die zur Begründungspflicht nach Art. 253 (ex Art. 190) EGV aufgestellten Auslegungsgrundsätze ausdrücklich entsprechend auf Art. 162 EAGV angewendet28. 2. Subsidiäre Geltung des EG-Vertrages Entscheidend für die Verflechtung zwischen den Gemeinschaften ist aber der bereits angeführte Art. 305 (ex Art. 232) EGV. Er besagt, daß der EWG/EGVertrag keinen Regelungsanspruch erhebt, soweit Sachbereiche im EGKS- oder EAG-Vertrag geregelt sind. Im Gegenschluß folgt daraus, daß diese Verträge dem EWG-Vertrag vorgehen, sofern sie besondere Regelungen enthalten. Soweit das nicht der Fall ist, gilt der EWG-Vertrag ergänzend, und zwar auch insoweit, als die beiden Verträge Sachverhalte nur teilweise regeln. Das hat der Gerichtshof bestätigt29. Wann eine Regelung als abschließend anzusehen ist und daher die subsidiäre Anwendung des EG-Vertrages ausschließt, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. Dazu reicht nicht aus, daß ein Sachbereich in den Grundsatzartikeln des EAG-Vertrages genannt ist 30 , denn nach Art. 305 (ex Art. 232) EGV kommt es auf die Bestimmungen der Verträge, also nicht auf die allgemeinen Ziele oder Regelungsbereiche an 31 . Die Möglichkeit, die allgemeinen Vertragsergänzungsklauseln der Art. 203 EAGV und 95 EGKSV anzuwenden, steht der Annahme einer Teilregelung nicht entgegen32, denn sie setzen gerade voraus, daß keine Regelung besteht. Sie sind außerdem außerordentliche Zuständigkeiten zu begrenzter Lückenfüllung und können daher Art. 305 EGV nicht aushebeln. So26 EuGH, Slg. 1990, 1-1527 (Rz. 8), Rs. C-62/88 - Griechenland. S. ferner EuGH, Slg. 1990, 1-495 (Rz. 10 ff.), Rs. C-221 /88 - Busseni. 27
E.-U. Petersmann (Fn. 8), Art. 232 Rn. 9.
28
EuG, Slg. 1997,11-161 (Rz. 47), Rs. T-149 u. 181 / 94 - Kernkraftwerke Lippe Ems.
29
EuGH, Slg. 1987, 5119, Rs. 328/85 - Deutsche Babcock.
30
So R. Lukes , Das Verhältnis des EAG-Vertrages zum EWG / EG-Vertrag, FS für Ulrich Everling, 1995, S. 741. 31
C. Vedder, in: E. Grabitz/ M Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Bearb. 1986, Art. 232 Rn. 8 ff. m.w.N. 32
Anders R. Lukes (Fn. 30), S. 748.
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weit von ihnen jedoch Gebrauch gemacht ist, bleibt für eine Anwendung des EG-Vertrages kein Raum mehr. Die ergänzende Anwendung des EG-Vertrages ist vor allem für die Regeln des Gemeinsamen Marktes wichtig. So enthalten zwar die Art. 92 ff. EAGV eine Sonderregelung für den Gemeinsamen Markt der in Anhang IV des Vertrages aufgezählten Güter und Erzeugnisse mit einem Verbot der Ein- und Ausfuhrabgaben und der mengenmäßigen Beschränkungen, aber es fehlt ein Art. 28 (ex Art. 30) EGV entsprechendes Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung. Diese Bestimmung muß daher ergänzend herangezogen werden, wobei bei etwaigen Sicherheitsproblemen der Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit nach Art. 30 (ex Art. 36) EGV eingreift 33. Ebenso gelten die Bestimmungen des EG-Vertrages über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, das Niederlassungsrecht, die Dienstleistungen und den Kapitalverkehr ergänzend, soweit nicht die Art. 96 ff. EAGV Sonderregelungen etwa über den Zugang zu qualifizierten Beschäftigungen, den Bau von Atomanlagen, Versicherungsverträge und die Erleichterung des Kapitalverkehrs enthalten. Diese Auffassung wird durch den Beschluß 1 / 78 des Gerichtshofs bestätigt, nach dem „wie der E WG-Vertrag so ... auch der EAG-Vertrag darauf gerichtet [ist], in seinem materiellen Anwendungsbereich einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu schaffen" 34 . Gleiche Grundsätze gelten auch für den EGKS-Vertrag. Auch hier ist davon auszugehen, daß die nicht vollständig vom EGKS-Vertrag erfaßten Regelungsbereiche, die ursprünglich bei den Mitgliedstaaten verblieben waren, nunmehr durch den EG-Vertrag abgedeckt werden. Zwar enthält der EGKS-Vertrag gerade im Bereich des Gemeinsamen Marktes weitgehende Regelungen, aber soweit das nicht der Fall ist, greift der EG-Vertrag ein. Der Gerichtshof hat das insbesondere für die Außenhandelsregelungen bestätigt, indem er die EG-Regelung über Erstattung oder Erlaß von Eingangs- und Ausfuhrabgabe auch auf EGKS-Waren für anwendbar erklärt hat 35 . Doch der Gerichtshof hat auch die Grenzen der subsidiären Geltung aufgezeigt. So hat er entschieden, daß die Transparenzrichtlinie der EG für Beihilfen an öffentliche Unternehmen zwar auch auf Unternehmen aus dem Bereich der EAG angewendet werden muß, nicht aber auf Unternehmen, die dem EGKSVertrag unterliegen, da der EGKS-Vertrag eigene Beihilferegelungen enthält36.
33
U. Everling, Die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, RIW Beilage 2/1993, S. 4. 34
EuGH, Slg. 1978, 2151 (Rz. 15), Beschluß 1/78 zum Vertragsentwurf der IAEO.
35
EuGH, Slg. 1987, 5119 (Rz. 12), Rs. 328/85 - Deutsche Babcock. Zum Außenhandel näher E.-U. Petersmann (Fn. 8), Rn. 11 f. 36
EuGH, Slg. 1982, 2545, Rs. 188-190/80 - Frankreich.
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Im Streit über die Folgemaßnahmen nach dem Atom-Unfall von Tschernobyl 37 hat er anerkannt, daß Handelsbeschränkungen auf Art. 113 EWGV (nunmehr Art. 133 EGV) gestützt werden konnten, während die Regelung der Höchstwerte an Radioaktivität in Lebensmitteln gemäß Art. 31 EAGV und nicht etwa gemäß Art. 100a EWGV (nunmehr Art. 95 EGV) zu erlassen war 38 . Zwischen der EPZ und den Gemeinschaften wurden erst allmählich Verbindungen hergestellt. In den frühen siebziger Jahren mußten die Minister stets in der Hauptstadt der Präsidentschaft tagen, und sie setzten sich allgemeinem Gespött aus, wenn sie anschließend gemeinsam nach Brüssel flogen, um dort als Rat weiter zu tagen. Diese Praxis wurde allmählich beseitigt, und auch die Kommission wurde später hinzugezogen. Überschneidungen ergaben sich insbesondere bei der Handelspolitik, die immer politische, in der EPZ erörterte Implikationen hatte, während die konkreten Maßnahmen vom Rat der EWG beschlossen wurden. Auseinandersetzungen darüber gab es vor allem bei Wirtschaftssanktionen gegenüber Drittstaaten, weil einige Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das Recht bestritten, handelspolitische Maßnahmen aus politischen Gründen zu erlassen und sich auf Art. 224 EWGV (nunmehr Art. 297 EGV) beriefen. Auf die langwierigen Diskussionen darüber und die allmähliche Angleichung der Standpunkte kann hier nicht eingegangen werden. In der Praxis wurden schließlich politische Grundsatzbeschlüsse in der EPZ und Ausführungsbeschlüsse in der EWG getroffen, wobei Schwierigkeiten entstanden, wenn ein Mitgliedstaat dem politischen Beschluß nicht zustimmte39.
37 Siehe J. Grunwald, Tschernobyl und das Gemeinschaftsrecht, EuR 1986, 315; M. Schröder, Grundsatzfragen des Lebensmittelschutzes im Falle anormaler radiologischer Ereignisse nach EWG- und Euratomrecht, in: GS für Wilhelm Karl Geck, 1989, S. 753. 38
EuGH, Slg. 1990, 1527 (Rz. 15 ff), Rs C-62 / 88 - Griechenland; EuGH, Slg. 1991, 1-4529 (Rz. 11 f.), Rs C-70/88 - Parlament / Rat. 39
Aus der Lit. s. G. Nicolaysen, Autonome Handelspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, FS für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 855; W. Meng, Die Kompetenz der EWG zur Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Drittländer, ZaöRV 42 (1982), 780; R. Kampf, Artikel 113 E WG-Vertrag als Grundlage für Embargomaßnahmen seitens der EWG, RIW 1989, 792; R. Fornasier, Quelques réflexions sur les sanctions internationales en droit communautaire, RMC 1996, 670; K Zeleny, Zur Verhängung von Wirtschaftssanktionen durch die EU, ZöR 52 (1997), 197; H. Schneider, Die VN, EG und Bundesrepublik Deutschland als konkurrierende Normgeber beim Erlaß paralleler Wirtschaftssanktionen, 1999.
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3. Gemeinsame Politiken der drei Gemeinschaften Die geschilderten Zusammenhänge führten dazu, daß schrittweise in einer Reihe von Bereichen gemeinsame Politiken herausgebildet wurden, die alle drei Gemeinschaften trotz ihrer formellen Trennung erfaßten. In erster Linie sind insoweit Haushaltsrecht und Beamtenrecht zu nennen. Bereits der Fusionsvertrag sah für beide Bereiche Rechtsgrundlagen für alle drei Gemeinschaften vor, für das Haushaltsrecht allerdings mit gewissen Ausnahmen. Auf ihrer Grundlage wurden ein einheitliches Personalstatut für die Bediensteten aller drei Gemeinschaften und eine Haushaltsordnung für sie beschlossen. Ergänzende Regelungen wie insbesondere die Besteuerung der Bediensteten der Gemeinschaften wurden ebenfalls einheitlich festgelegt. Auch ohne eine solche Rechtsgrundlage wurde die Zollpolitik praktisch nahezu vereinheitlicht. Da der EGKS-Vertrag keine gemeinsamen Außenzölle vorsieht, wurden diese von den Mitgliedstaten autonom harmonisiert und in den Gemeinsamen Zolltarif aufgenommen 40. Der auf den EG-Vertrag gestützte Zollkodex mit seinen umfangreichen Verfahrensregeln gilt auch für Waren, die unter den EAG-Vertrag und den EGKS-Vertrag fallen 41 . In ähnlicher Weise wurde auch die Handelspolitik weitgehend vereinheitlicht. Zwar enthalten die Art. 71 ff. EGKSV handelspolitische Befugnisse, aber sie sind lückenhaft und schließen eine subsidiäre Anwendung des Art. 133 (ex 113) EGV nicht aus. Im EAG-Vertrag fehlen handelspolitische Befugnisse. Der Gerichtshof hat diese Regelungen in den Gutachten 1 / 75 und 1 / 94 dahin ausgelegt, daß die EG eine ausschließliche Vertragsschließungskompetenz für Abkommen mit einem allgemeinen Anwendungsbereich, der auch EGKS- und EAG-Waren einschließt, besitzt42. Die Regelungen der EAG und EGKS gelten aber weiterhin für den Abschluß von Abkommen über ihre Sonderprobleme 43. Ferner wird auch bei der Rechtsangleichung keine Unterscheidung zwischen Waren der EG und solchen der EGKS oder EAG gemacht, sofern nicht deren besondere Regelungen berührt werden. So gelten insbesondere die zahlreichen Richtlinien, die in der EG zur Beseitigung von innergemeinschaftlichen Handelsschranken oder zum Schutz der Verbraucher erlassen wurden, für alle Waren, wenn nicht besondere Vorbehalte gemacht wurden. 40
S. näher E.-U. Petersmann (Fn. 8), Art. 232 Rn. 13.
41
Art. 1 der VO (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 302/1, i.d.F. v. 19.12.1996, ABl. 1997 Nr. L 17/1. 42
EuGH, Slg. 1975, 1355 (1365); Gutachten 1/75 über lokale Kosten; EuGH, Slg. 1994, 1-5276 (Rz. 24 ff.), Gutachten 1 /94 — Beitritt zur WTO, siehe dazu E.-U.Petersmann (Fn. 40). 43 S. zur EAG EuGH, Slg. 1978, 2151 (Rz. 15), Beschluß 1 / 78 - Vertragsentwurf der IAEO.
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Eine Angleichung besonderer Art hat sich auch im Bereich der Beihilfen vollzogen. Das in Art. 4 EGKS-Vertrag enthaltene absolute Verbot von Beihilfen der Mitgliedstaaten ließ sich in der Praxis nicht durchsetzen. Deshalb wurde mit einer umstrittenen Konstruktion die Möglichkeit eröffnet, unter bestimmten Voraussetzungen Genehmigungen zu erteilen 44. Das gilt bis heute sowohl für den Bereich der Kohle als auch für den des Stahls. Für diesen wurde unter dem Druck der Krise Ende der siebziger Jahre ein Beihilfekodex erlassen, der in mancher Hinsicht der Regelung des EG-Vertrages nachgebildet ist. Er wurde mehrfach geändert und schließlich bis zum Auslaufen des EG KS-Vertrages verlängert 45. Die Rechtsprechung hat sich bei der Auslegung und Anwendung des Kodex von ähnlichen Grundsätzen leiten lassen wie bei den Beihilferegeln des EG-Vertrages 46. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich die Praxis der drei Gemeinschaften in den vergangenen Jahrzehnte immer mehr aneinander angeglichen hat. Sie sind zwar rechtlich nach wie vor getrennt, handeln aber durch gemeinsame Organe nach gemeinsamen Rechtsgrundsätzen und weichen nur dort voneinander ab, wo es besondere Bestimmungen und Sachprobleme fordern. Deshalb ist es gerechtfertigt, von einem einheitlichen Gemeinschaftsrecht zu sprechen und die drei Gemeinschaften trotz ihrer rechtlichen Trennung unter politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten als Einheit zu bewerten 47. Dies galt bis zum Maastricht-Vertrag aber nicht für die EPZ. Sie bildete zwar die gemeinsame politische Basis des Gemeinschaftshandelns und wirkte sich auf die Gemeinschaft aus, war aber nicht in deren Recht und Verfahren einbezogen. Sie bildete den Vorläufer zur Union.
44
H.-G. Koppensteiner, Das Subventionsverbot im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1965; P. Weides, Gemeinschaftliche Koordination und Kontrolle mitgliedschaftlicher Beihilfen im Rahmen des gemeinsamen Energiemarktes, AWD 1967, 329; A. Hausner, Die Zulässigkeit von Subventionen nach Art. 4c EGKS-Vertrag, 1987; C. Stumpf, Die Reichweite des Subventionsverbots aus Art. 4c des EGKS-Vertrages, RIW 1991, 1017. 45
R. Stotz, Die EG-Stahlkrise im Lichte der Wirtschaftsverfassung des EGKS-Vertrages, 1983; zur neueren Entwicklung C Stumpf (Fn. 44). 46
S. z.B. unlängst EuG v. 16.12.1999, Rs. T-158/96 - Acciaine di Bolzano, noch nicht in Slg. 47 S. dazu bereits A. Bleckmann, Die Einheit der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung - Einheit oder Mehrheit der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1978, 95.
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IV. Einheit von Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften? 1. Zur Konstruktion der Europäischen Union Die durch den Vertrag von Maastricht geschaffene Europäische Union kann nur auf dem Hintergrund dieser Entwicklung beurteilt werden. Sie ist als übergreifende Organisation über die in der Substanz unveränderten Gemeinschaften gesetzt und stellt neben diese die GASP und die ZJI als eigene Tätigkeitsfelder. Das wird meist mit dem Bild eines Tempels mit drei Pfeilern verdeutlicht. Dieses Bild ist schon deshalb schief, weil der eine „Pfeiler", nämlich die Gemeinschaften, selbst wiederum aus drei Pfeilern besteht, die, wie gezeigt wurde, in eigenartiger Weise zugleich unterschieden und verbunden sind 48 . Nach Art. 1 (ex Art. A) EUV sind die Europäischen Gemeinschaften Grundlage der Union, und nach Art. 2 (ex Art. B) 5. Spiegelstrich EUV handelt diese unter voller Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes. In Art. 47 (ex Art. M) EUV wird klargestellt, daß die Bestimmungen der drei Gemeinschaftsverträge abgesehen von den ausdrücklich vorgesehenen Änderungen unberührt bleiben. Sie bilden nach Art. 5 (ex Art. E) EUV weiterhin die Grundlage für das Handeln der Organe. Angesichts dieser Regelungen ist es erstaunlich, daß alsbald die These aufgestellt wurde, die Union und die Gemeinschaften seien als rechtliche Einheit aufzufassen 49. Soweit diese Auffassung die Gemeinschaften betraf, widersprach sie der historischen Entwicklung, denn die Gemeinschaften waren keine rechtliche Einheit geworden und die neuen Verträge änderten ihren Status durch die Errichtung der Union nicht. Überdies wurde die Schaffung einer rechtlichen Einheit von Union und Gemeinschaften bei den Verhandlungen, wie dargelegt, ausdrücklich abgelehnt, was man bedauern, aber nicht ignorieren kann. Doch ebenso erstaunlich ist die gegensätzliche These, nach der die Union als bloßer Verbundrahmen für die Gemeinschaften und die intergouvernementalen Bereiche GASP und ZJI angesehen wird, der nur durch das Kohärenzgebot 4H
Bei der Erörterung über diese Struktur ist zu beachten, daß der Begriff „Union" unterschiedlich verwendet wird. Meist ist damit der gesamte Organisationsverband, nämlich das „Dach" und seine drei „Pfeiler" einschließlich der drei Gemeinschaften und ihrer besonderen Einrichtungen gemeint, häufig aber nur dieses Dach mit den zwei Teilen GASP und ZJI. Sie wird hier als Union im engeren Sinne bezeichnet. Vgl. auch den nachfolgenden Beitrag von Nicolaysen. 49 A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, Die Verschmelzung der Europäischen Gemeinschaften in der Europäischen Union, NJW 1995, 2324; dies., Die Europäische Union: ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1995, 3; A. v. Bogdandy, Die Europäische Union als einheitlicher Verband, in: A. v. Bogdandy/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primarrechts nach Amsterdam, EuR Beiheft 2/ 1998, 165; engl. Fassung in CMLR 36 (1999), 887.
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zusammengehalten wird. Danach sind die nicht in den Gemeinschaften organisierten Teile der Union allein nach völkerrechtlichen und nicht nach integrationsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen 50. Auch diese Ansicht vernachlässigt die bisherige Entwicklung. Die jahrzehntelange Diskussion über die Europäische Union, die Stuttgarter Erklärung sowie die zitierten Artikel des EUVertrages machen deutlich, daß die Vertragsparteien eine enge Verbindung zwischen Union und Gemeinschaften beabsichtigt und in einem gewissen Umfang auch verwirklicht haben. Das legt es nahe, das Verhältnis der Gemeinschaften zu der ihnen nunmehr vorgeordneten Union trotz der fehlenden rechtlichen Verschmelzung in ähnlicher Weise zu bewerten wie bisher das Verhältnis der drei Gemeinschaften untereinander. Die Ansichten der meisten Autoren bewegen sich mit unterschiedlicher Gewichtung zwischen diesen beiden Polen51. Der Vertrag von Amsterdam hat keine wesentliche Änderung gebracht, aber immerhin die verbindenden Elemente gestärkt. 2. Mißverständnisse bei der Diskussion Die bisherige Diskussion über die Union krankt daran, daß einige Autoren den Vertrag von Maastricht als einen völligen Strukturwechsel begreifen, der die bisherige Entwicklung auf eine neue Basis stellt. Insbesondere ist die Ansicht verbreitet, daß die Gemeinschaften erst durch die Union einen politischen Inhalt bekommen hätten, der nun auch die Substanz der Staaten berühre 52. Daran ist richtig, daß zunächst Wirtschaft und Gesellschaft Gegenstand der gemeinschaft50 C. Koenig/M. Pechstein, Die Europäische Union, 2. Aufl. 1998, Rn. 55 ff; C. Koenig, Die Union als bloßer materiellrechtlicher Verbundrahmen, in: v. Bogdandy/ Ehlermann (Fn. 49), S. 139. 51
Aus der Lit. vgl. A. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1957, S. 83; C. Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der Europäischen Union, 1999; D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: a Europe of bits and pieces, CMLR 30 (1993) 17; O. Dörr, Noch einmal: Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften, NJW 1992, 3162; U. Everling, Reflections on the Structure of the European Union, CMLR 29 (1992), 57; ders., Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVB1. 1993, 936; T. Heukels/J. de Zwaan, The Configuration of the European Union: Community dimensions of institutional interaction, in: FS für Henry Schermers, Bd. II, 1994, S. 195; M. Hilf YE. Pache, in: E. Grabitz/M. Hilf( Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Bearb. 1993, Art. A EUV Rn. 25 ff.; A. Phakos, La nature juridique de l'Union europénne, RTDE 29 (1993), 187; G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, 27; J. Wichard, Wer ist Herr im Europäischen Haus? Zur Struktur und Rechtsnatur der Europäischen Union nach Amsterdam, EuR 1999, 170; M. Zuleeg, Die Organisationsstruktur der Europäischen Union, in: v. Bogdandv/Ehlermann (Fn. 49), S. 151. 52
S. etwa R. Scholz, Grundgesetz und europäische Einigung, NJW 1992, 2593.
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liehen Aktionen waren und daß Außenpolitik und Justiz- und Innenpolitik erst in Maastricht ausdrücklich hinzutraten. Aber indirekt waren sie schon längst in gewissem Umfang erfaßt oder beeinflußt. Wirtschaftspolitik ist Politik, und ihre Auswirkungen auf Außen- und Innenpolitik bestimmen oft das Schicksal der Staaten und ihrer Regierungen. In der Gemeinschaft wurde seit jeher mehr nach politischen als rein ökonomischen Kriterien entschieden. Die Erörterung krankt weiter daran, daß die Einordnung der Gemeinschaften in die Union teilweise als Überordnung verstanden wird. Der Europäische Rat, das zentrale Organ der Union, gibt dieser und damit auch den Gemeinschaften zwar nach Art. 4 (ex Art. D) EUV die „erforderlichen Impulse" und legt die „allgemeinen politischen Zielvorstellungen" fest, doch rechtlich sind diese nicht für die Organe verbindlich"'. Die Beschlüsse gewinnen ihre Bedeutung vor allem durch die Autorität der im Europäischen Rat versammelten höchsten Amtsträger der Staaten. Die Union ist zwar der umfassende Rahmen auch für die Gemeinschaften, aber sie ist kein ihnen hierarchisch übergeordneter Verband. Schließlich und vor allem wird die Diskussion auch dadurch erschwert, daß sie häufig auf die Frage verkürzt wird, ob die Union als juristische Person anzusehen ist. Der EU-Vertrag hat ihr anders als die Gemeinschafts Verträge die Rechtsfähigkeit nicht ausdrücklich zuerkannt. Doch das dürfte allein nicht maßgebend sein, denn die Handlungsfähigkeit folgt nicht aus der Rechtspersönlichkeit, sondern diese aus der Handlungsfähigkeit 54. In der Literatur wird die Rechtsfähigkeit der Union überwiegend verneint 55, teilweise wird sie aber auch aus einer Gesamtschau der Handlungsbefugnisse hergeleitet' 6. Die zunehmenden Aktivitäten der Union nach außen und innen liefern dafür ständig neue Argumente. Doch auf die Rechtspersönlichkeit der Union dürfte es bei der Beurteilung des Integrationsverbandes gar nicht ankommen. Auch wenn sie bejaht werden sollte, wäre ihre Stellung gegenüber den anderen Teilen der Gesamtorganisation nicht stärker als wenn sie ihr nicht zuerkannt würde. Das gilt insbesondere 53
U. Everling, Die Rolle des Europäischen Rates gegenüber den Gemeinschaften, EuR Beiheft 2/1995, 95. 54
Siehe J. Isensee. Integrationsziel Europastaat, FS für Ulrich Everling, 1995, S. 567, 573; A. v. Bogdandy (Fn. 49), S. 180. 55 So die meisten der Fn. 51 genannten Autoren, insb. Bleckmann, Busse, Everling, Hilf/ Pache, Pliakos. S. ferner O. Dörr, Zur Rechtsnatur der Europäischen Union, EuR 1995, 334; H. Lecheler, Der Rechtscharakter der „Europäischen Union", FS für Heymanns-Verlag, 1995, S. 383; M. Pechstein. Rechtssubjektivität der Europäischen Union? EuR 1996, 137; T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 73. 56
So die Fn. 49 genannten Autoren, ferner J. C. Wichard (Fn. 51), EuR 1999, 172, sowie vor allem G. Ress, Ist die Europäische Union eine juristische Person?, EuR Beiheft 2/1995, S. 27; M. Zuleeg (Fn. 51), S. 151. 12 FS Oppermann
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gegenüber den als gesonderte Rechtspersönlichkeiten organisierten drei Gemeinschaften. Die EG hat seit jeher die Europäische Investitionsbank eingeschlossen, die in Art. 9 (ex Art. 4b) EGV genannt ist und nach Art. 266 (ex Art. 198 d) EGV Rechtspersönlichkeit besitzt. Das hat der Gerichtshof unter Hinweis auf Art. 130 EWGV (nunmehr Art. 157 EGV) ungeachtet der ihr zuerkannten funktionellen und institutionellen Autonomie dahin beurteilt, „daß die Bank zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft beitragen soll und somit kraft EWGVertrages in den Rahmen des Gemeinschaft fallt" 57 . Entsprechendes muß für die Europäische Zentralbank gelten, die in Art. 8 (ex Art. 4b) EGV genannt ist und nach Art. 107 (ex Art. 106) Abs. 2 EGV Rechtspersönlichkeit besitzt. Schließlich haben die Gemeinschaftsorgane auch durch sekundäres Recht Einrichtungen und Ämter geschaffen, die als juristische Personen organisiert sind 58 . Diese der Gemeinschaft zugeordneten Rechtspersönlichkeiten wurden bisher nicht als Hindernis für die einheitliche Würdigung der Gemeinschaft angesehen59. Vielmehr sind die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Organisationen maßgebend60. 3. Gemeinsame Ziele und gemeinsamer institutioneller Rahmen Union und Gemeinschaften werden zunächst durch übereinstimmende Ziele zusammengehalten61, die in den Präambeln und Eingangsbestimmungen der Verträge enthalten sind 62 . 57
EuGH, Slg. 1988, 1281 (Rz. 29 f.), Rs. 85/86, Kommission/EIB.
58
Zu erwähnen sind die Europäische Stiftung für Berufsbildung, VO Nr. 1360/90 des Rates v. 7.5.1990, ABl. Nr. L 13/1; die Europäische Umweltagentur, VO Nr. 1290/90 v. 7.5.1990, ABl. Nr. L 120/1; die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, VO Nr. 302/93 v. 8.2.1993, ABl. Nr. L 36/1; die Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, VO Nr. 2309/93 v. 22.7.1993, ABl. Nr. L 214/1; und das als Markenamt bekannte Europäische Harmonisierungsamt fur den Binnenmarkt, VO Nr. 40/94 v. 20.12.1993, ABl. 1994 Nr. L 11 /1. Siehe M. Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, 1999. 59 Mit aller bei Vergleichen gebotenen Vorsicht sei auf die Stellung der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts im innerstaatlichen Recht hingewiesen. 60
So überzeugend A. v. Bogdandy (Fn. 54).
61
Die Union wird hier im engeren Sinne als Dachorganisation mit den „Pfeilern" GASP und ZJI verstanden. Der originelle Versuch von C. Busse (Fn. 51), letztere als selbständige internationale Organisationen zu deuten, erscheint wenig überzeugend, weil er die einheitliche Regelung des EUV ohne erkennbaren Gewinn zerteilt. Ebenso problematisch erscheint es auch, den Gesamtverband einschließlich der Gemeinschaften als konzernähnlich zu begreifen, weil gesellschaftsrechtliche Beziehungen andersartig sind. 62 Zum folgenden P.-C. Müller-Graß', Einheit und Kohärenz der Vertragsziele von EG und EU, in: v. Bogdandy/Ehlermann (Fn. 49), S. 67.
Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union
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Wichtigstes Ziel ist nach den Verträgen die Sicherung von Frieden und Freiheit durch einen Zusammenschluß der Staaten und ihrer Völker. Nach den Erfahrungen von Krieg und Gewaltherrschaft war dies der eigentlichen Antrieb zur europäischen Integration und bildete während des kalten Krieges den Hintergrund aller Aktivitäten; es ist auch heute in veränderter Weise Grundlage aller Beziehungen. Bereits die Präambel des EGKS-Vertrages stellte i m Anschluß an die französische Erklärung zum Schuman-Plan die Sicherung des Weltfriedens und den Beitrag eines organisierten und zivilisierten Europas zur Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen an die Spitze der Ziele. In der Präambel des EWG-Vertrages und nun des EG-Vertrages wurde dies mit der Erklärung des festen Willens aufgegriffen, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß [ i m frz. Text: , U n i o n ' ] der europäischen Völker zu schaffen". I m vorletzten Absatz der Präambel w i r d die Entschlossenheit bekundet, durch den Zusammenschluß der Wirtschaftskräfte „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen". Diese Ziele macht sich der EU-Vertrag zu eigen, indem er den Prozeß der europäischen Integration „ a u f eine neue Stufe" hebt. Für die GASP werden sie besonders hervorgehoben. Sie soll nach der Präambel die Identität und Unabhängigkeit Europas stärken, um „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern". In Art. 11 (ex Art. J . l ) E U V werden diese Ziele unter Hinweis auf internationale Vereinbarungen bekräftigt. Für das Selbstverständnis der Union ist von besonderer Bedeutung, daß der EU-Vertrag auch inhaltliche politische Ziele aufstellt. In der Präambel bekennen sich die Vertragsstaaten zu den Grundsätzen der Freiheit, Demokratie. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Sie entsprechen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof bereits auf der Basis des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat und seit langem praktiziert. In Art. 6 (ex Art. F) E U V sind sie übernommen und in Art. 7 (ex Art. F.l) E U V mit Sanktionen versehen worden. Durch die ausdrückliche Übernahme dieser Ziele in den Vertragstext w i r d die Integration auch vertraglich a u f w e r t e ausgerichtet, denen die Union mit allen ihren Gliedern und Organen bei ihren Aktionen verpflichtet ist. Damit w i r d der Anspruch auf eine Wertegemeinschaft erhoben, der in der Praxis freilich erst in Ansätzen erfüllt ist. Als weitere gemeinsame Zielsetzung ist die wirtschaftliche und soziale Stärkung zur Hebung des Lebensstandards, der Beschäftigung und der Stabilität hervorzuheben. Entsprechende Formulierungen finden sich sowohl in den Präambeln und in den Grundsatzartikeln der Gemeinschaftsverträge als auch i m wesentlichen übereinstimmend in Präambel und Art. 2 (ex Art. B) EUV. Als Mittel werden insbesondere der Gemeinsame Markt und der Binnenmarkt sowie der unverfälschte Wettbewerb genannt, denen durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam die Wirtschafts- und Währungsunion sowie Umweltschutz und
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andere besondere Politiken hinzugefügt wurden. Art. 2 EUV verweist wegen der speziellen Ziele auf die Gemeinschaftsverträge und den gemeinschaftlichen Besitzstand, der unberührt bleibt. Diese sind so oft dargestellt worden, daß sich nähere Ausführungen erübrigen. Wichtig für die Beurteilung der Einheit der Gesamtorganisation ist der Umstand, daß die wertorientierten politischen und wirtschaftlichen Ziele für alle in der Union zusammengeführten Bereiche verbindlich sind. Art. 3 (ex Art. C) EUV verlangt die Kontinuität und Kohärenz aller Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele. Um diese Kohärenz zu erreichen, enthalten die Verträge eine Reihe von Verknüpfungen. Einige Beispiele seien angeführt. So ist nach Art. 49 (ex Art. O) EUV ein Beitritt nur zur Union als Gesamtverband, nicht aber zu den einzelnen Gemeinschaften zugelassen. Ebenso ist die Vertragsänderung in den Art. 48 (ex Art. N) einheitlich für alle Gemeinschaftsverträge geregelt. Die Finanzierung der Sonderbereiche der Union erfolgt auf Grund der Verweisungen in Art. 28 (ex Art. J.18) und Art. 41 (ex Art. K.13) EUV nach den Regeln der EG. Die Suspendierung der Mitgliedschaft nach Art. 7 (ex Art. F.l) EUV gilt auch für die Gemeinschaften, wie aus der Forderung nach Rücksichtnahme auf erworbene Rechte, die es nur nach den Gemeinschaftsverträgen geben kann, deutlich wird; Art. 309 (ex Art. 236) EGV zieht daraus die Konsequenz für die Gemeinschaft. Art. 301 (ex Art. 228a) und Art. 60 (ex Art. 73g) EGV beauftragen und ermächtigen die Gemeinschaft zu Durchführungsmaßnahmen für gemeinsame Standpunkte und Aktionen, die im Rahmen der GASP beschlossen werden. Die verstärkte Zusammenarbeit nach Art. 43 (ex Art. Κ 15) und Art. 40 (K.12) EUV ist spiegelbildlich in Art. 11 (ex Art. 5a) EGV geregelt. Art. 61 (ex 73 i) EGV über den freien Personenverkehr schließt unmittelbar an die Regelungen des EU-Vertrages über die Kontrolle an den Außengrenzen und die Kriminalitätsbekämpfung an, und Art. 42 (ex K.14) EUV sieht die Überführung von Maßnahmen der ZJI in den Bereich der Gemeinschaft vor, wozu allerdings eine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten erforderlich ist. Der Zusammenhang des Gesamtverbandes kommt schließlich dadurch zum Ausdruck, daß der Status der Bürger nach Art. 17 (ex Art. 8) EGV als Unionsbürgerschaft bezeichnet wird, obwohl er durch den EG-Vertrag begründet wird. In der Präambel zum EU-Vertrag wird die Unionsbürgerschaft ausdrücklich erwähnt.
4. Der gemeinsame institutionelle Rahmen Eine weitere wichtige Klammer zwischen den Verträgen bildet der „einheitliche institutionelle Rahmen" nach Art. 3 (ex Art. C) EUV, durch den die Kohärenz und Kontinuität aller Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Union sichergestellt werden soll. Er besteht einerseits aus dem Europäischen
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Rat, der nach Art. 4 (ex Art. D) EUV der Union und damit auch den Gemeinschaften Impulse geben und allgemeine politische Zielvorstellungen festlegen soll, und andererseits aus den Organen der Gemeinschaft, die gemäß Art. 5 (ex Art. E) EUV nach Maßgabe der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrages handeln sollen63. Dadurch wird deutlich, daß sich das Kohärenzgebot auf alle Bereiche und Glieder des Gesamtverbandes Union erstreckt und insbesondere Union und Gemeinschaften zur Zusammenarbeit verpflichtet. Die formelle Trennung der Union im engeren Sinne und der Gemeinschaften wird dadurch allerdings nicht aufgehoben. Der Europäische Rat kann den Gemeinschaftsorganen keine Weisungen geben, seine Beschlüsse haben nur wegen der Autorität ihrer Mitglieder Bedeutung für die Gemeinschaftsorgane. Diese werden sie aber in der Regel respektieren, wenn dies auch für Parlament und Gerichtshof nicht immer gesichert erscheint 64. Umgekehrt erstrecken die Gemeinschaftsorgane dann, wenn sie im Rahmen der GASP und ZJI tätig werden, nicht die Tätigkeit der Gemeinschaft auf diese beiden Bereiche der Union, denn sie handeln im Rahmen der Union nicht als Organe der Gemeinschaft. Deshalb paßt auch das oft verwendete Bild der „Organleihe" nicht, denn diese setzt voraus, daß eine Organisation die Dienste der Organe einer anderen in Anspruch nimmt. Das ist aber bei der Union nicht der Fall, denn sie beansprucht die Dienste der Organe im eigenen Namen4*. Die Organe werden im Rahmen der Union allein kraft des Unionsvertrages tätig, so daß sie insoweit als Organe der Union angesehen werden müssen66. Das kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß die Entscheidungsverfahren des Rates in Art. 23 (ex Art. J.13) EUV und Art. 32 (ex Art. K.4) EUV abweichend von den Gemeinschaften geregelt sind. Die Kommission besitzt kein Initiativmonopol, und das Parlament wirkt nur beschränkt mit. Soweit Bestimmungen des EG-Vertrages für die Organe auch bei ihrem Handeln für die Union gelten, sind sie in den Art. 28 (ex J.18) und Art. 41 (ex K.13) Abs. 1 EUV Vgl. wegen aller Einzelheiten M. Zuleeg (Fn. 56). M
S.o. Fn. 53.
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Eine Organleihe nehmen Autoren an, die eine Rechtspersönlichkeit der Union verneinen, so etwa D. Curtin (Fn. 51), S. 26; O. Dörr (Fn. 55), S. 337; M. Hilf/E. Pache (Fn. 51); C. Koenig (Fn. 50), S.146 f., während Befürworter einer Rechtspersönlichkeit wie J. Wichard (Fn. 51), S. 180, und M. Zuleeg (Fn. 63, S. 153) meinen, daß sie als Organe der Union tätig werden. Es erscheint nicht überzeugend, dies von der Rechtsfähigkeit abhängig zu machen, wie Hilf/ Pache (Fn. 51, Art. E Rn. 30) meinen, denn auch einer nichtrechtsfähigen Organisation können Handlungen jedenfalls dann, wenn sie so weitgehend verfestigt ist wie die Union, zugerechnet werden. Daß die Mitgliedstaaten gegebenfalls subsidiär haften müssen, wenn die Union nicht für die Handlungen einstehen kann, steht dem nicht entgegen. Übrigens wird der Europäische Rat meist ganz selbstverständlich als Organ der Union bezeichnet.
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ausdrücklich genannt. Das wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die Organe als „geliehene" Gemeinschaftsorgane tätig würden. Der Gerichtshof nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er anders als die anderen Gemeinschaftsorgane im Rahmen des EU-Vertrages nur ausnahmsweise tätig werden kann. Nach Art. L EUV in der Fassung des Maastricht-Vertrages war der EU-Vertrag mit Ausnahme der Schlußbestimmungen seiner Zuständigkeit fast völlig entzogen. Auf Grund des Amsterdamer Vertrages hat er nunmehr nach Art. 46 (ex Art. L) EUV auch die Aufgabe, Art. 6 Abs. 2 EUV über die Grundrechte im Rahmen der Gemeinschaften anzuwenden, was er schon vorher auf Grund der von ihm entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze getan hatte. Er besitzt ferner Zuständigkeiten im Rahmen der Bestimmungen über polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit nach Maßgabe des Art. 35 EUV und bei der verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 11 EUV 6 '. Doch abgesehen von diesen Ausnahmen bleiben die Bestimmungen des EU-Vertrages ebenso wie die Beschlüsse des Europäischen Rates und der Gemeinschaftsorgane im Rahmen der GASP und in gewissem Umfang auch der ZJI der Jurisdiktion des Gerichtshofs entzogen68. Der Gerichtshof beansprucht aber die Zuständigkeit, Beschlüsse des Rates nach dem EU-Vertrag daraufhin zu überprüfen, ob sie auf den EG-Vertrag hätten gestützt werden müssen69. Ferner ergeben sich mittelbare Einflüsse des Gerichtshofs, wenn er Maßnahmen der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Beschlüssen der Union, die etwa nach Art 14 (ex Art. J.4) EUV im Rahmen der GASP oder nach Art. 34 (ex Art. K.6) Abs. 2 EUV im Rahmen der ZJI gefaßt wurden, wofür im letzteren Fall Vorabentscheidungen nach Art. 35 EUV eine Basis bildet. Dieses allerdings noch beschränkte Übergreifen der zunächst ausgeschlossenen Gemeinschaftsgerichtsbarkeit auf die Union ist ein Beispiel für den schrittweisen Ausbau von Brücken zwischen Gemeinschaften und Union. Die Verflechtung der Organe wird in der Praxis besonders bei der Beschlußfassung deutlich. Der Rat hat im Rahmen der GASP und ZJI schon zahlreiche Beschlüsse gefaßt, die dann im Rahmen der Gemeinschaft ausgeführt werden. Außer den bereits genannten Maßnahmen bei handelspolitischen Sanktionen70 ist als Beispiel die Kontrolle der Ausfuhr von Waren, die für militärische Zwekke verwendet werden können, zu nennen71. In diesen Fällen werden die Ausfuhrh7
Siehe M. Zuleeg (Fn. 63), S. 159.
68
Zur Abgrenzung der Gerichtsbarkeit s. EuGH, Beschluß Slg. 1995, 1-1023 (Rz. 6), Rs. C-167/95 - Grau Gomis; EuG v. 19.7.1999, Rs T-14/98 - Hautala (noch nicht in Slg.), Rz. 41. EuGH. Slg. 1998. 1-2765 (Rz. 16). Rs. C-170/96 - Kommission/Rat. 70
Oben bei Fn. 39.
^ Dazu U. Karpenstein.
Europäisches Exportkontrollrecht für Dual-use Güter, 1998.
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regeln und ihre Beschränkungen vom Rat auf Vorschlag der Kommission nach Maßgabe des Art. 133 (ex 113) EGV festgelegt, aber die sachlich entscheidenden Vorfragen, welche Waren und welche Drittländer betroffen sind, werden vom Rat nach den Regeln der GASP beschlossen. Die bisherigen Ausführungen zeigen die enge Verflechtung zwischen der Union und den Gemeinschaften, wobei EAG und EGKS allerdings nur eine marginale Rolle spielen. Aber zugleich zeigen die Beispiele auch, daß diese Verflechtung nicht automatisch besteht, sondern durch korrespondierende Bestimmungen in den Verträgen geschaffen wird. Die Verträge bleiben, wie Art. 47 (ex Art. M) EUV bestätigt, weiterhin selbständig. V. Folgerungen für die Struktur von Union und Gemeinschaften Die Würdigung der ambivalenten Konstruktion des Integrationsverbandes führt zu ähnlichen Ergebnissen, wie sie bereits für das Verhältnis der drei Gemeinschaften zueinander dargelegt wurden 72. Darin zeigt sich die Kontinuität der geschilderten Entwicklung von den Gemeinschaften zur Union. Der EU-Vertrag bestätigt sie in der Präambel und in Art. 1 (ex Art. A) Abs. 2 EUV, indem er sich als „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" auf der Grundlage der Europäischen Gemeinschaften und des durch sie geschaffenen Besitzstandes bezeichnet. Aus den dargelegten Zusammenhängen ergibt sich zunächst, daß Union und Gemeinschaften einschließlich der ihnen angegliederten rechtlich selbständigen Einrichtungen als politische Einheit zu bewerten sind. Sie verfolgen gemeinsame Ziele, werden durch gemeinsame Organe gelenkt und sind in vielfacher Weise mit einander verflochten. Politisch betrachtet sind sie ein einheitlicher Integrationsverband. Diese Feststellung ist nicht nur für den politischen Alltag von Bedeutung, sondern auch unter rechtlichen Gesichtspunkten relevant. Der politischen Einheit entspricht allerdings noch keine volle rechtliche Einheit. EU-Vertrag und Gemeinschaftsverträge sind nach wie vor formell von einander getrennt und weisen insbesondere im Grad der Vergemeinschaftung gravierende Unterschiede auf. Die formelle Trennung entspricht, wie dargelegt, der eindeutigen Entscheidung der Mitgliedstaaten bei den Vertragsverhandlungen73. Über diese Schranke kann sich die Rechtspraxis nicht einfach hinwegsetzen.
72
Nachstehend folgt der Verf. seinen Schlußfolgerungen in: v. Bogdandv/Ehlermann (Fn. 49), S. 185. 73
S.o. bei Fn. 20.
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Doch die formelle Sachlage hindert die Praxis nicht daran, die Verträge weitgehend einheitlich anzuwenden. Die Verklammerung durch die gemeinsamen Organe führt ungeachtet der unterschiedlichen Verfahrensregeln zunehmend zu kohärenter Praxis, wie sie vom EU-Vertrag gefordert wird. Die Tätigkeit der Organe nimmt vor allem im Bereich der GASP und der ZJI ständig zu, so daß sie nicht mehr, wie es teilweise geschieht74, als Formen internationaler Zusammenarbeit angesehen werden können75. Deshalb ist es trotz fortbestehender Unterschiede im Verfahren und trotz der formellen Trennung gerechtfertigt, Union und Mitgliedstaaten nicht nur politisch, sondern auch sachlich als Einheit anzusehen. Aus der vielfachen Verflechtung von Zielen, Organen und Regelungen folgt weiter, daß eine Auslegung nur nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen kann. Auch für den Unionsvertrag müssen die am Integrationsziel orientierten Auslegungsregeln angewandt werden, und dasselbe gilt für die Handlungen der Gemeinschaftsorgane, wenn sie im Rahmen der Union tätig werden. Den in den Verträgen zum Ausdruck kommenden gemeinsamen Zielen und Grundsätzen würde es widersprechen, Beschlüsse der Organe nach unterschiedlichen Regeln je nach dem auszulegen, ob sie im Rahmen der Union oder der Gemeinschaft tätig werden. Das bedeutet, daß der teleologischen und systematischen Auslegung auch für den EU-Vertrag zentrale Bedeutung zukommt und daß auch der effet utile der Bestimmungen zu berücksichtigen ist 76 . Bei der Einschätzung des „telos", der für die teleologische Auslegung maßgebend ist, sind alle Verträge, also auch der EU-Vertrag, heranzuziehen. Die vom Gerichtshof für die Gemeinschaften entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze sind ebenfalls bei der Auslegung des EU-Vertrages und der auf ihn gestützten Handlungen heranzuziehen. Das gilt nicht nur, soweit sie nunmehr in Art. 6 (ex Art. F) EUV übernommen sind und durch die Rechtsprechung konkretisiert wurden, sondern auch für andere wie insbesondere für den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrecht. Sie sind entsprechend auch auf den EUVertrag und die auf seiner Grundlage vorgenommenen Handlungen anwendbar, soweit diesen Rechtsqualität zugemessen werden kann. Besonders wichtig für den relativ lockeren Verband der Union ist der vom Gerichtshof aufgestellte „Grundsatz, daß den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit obliegen, wie er namentlich dem 74
Siehe C Koenig (Fn. 50).
75
Siehe die umfangreichen Belege bei C. Busse (Fn. 51), S. 172 ff.
76
Zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. aus der Lit. m.w.N. C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998; J. Annweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1996; R. Streinz, Der „effet utile" in der Rechtsprechung der Europäischen Gemeinschaften, FS für Ulrich Everling, 1995, S. 1491.
Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union
185
Art. 5 EWG-Vertrag zugrunde liegt" 77 . Der damit aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue muß entsprechend auch im Rahmen der Union angewendet werden. Er begründet Verpflichtungen der Organe und Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Zusammenarbeit und Rücksichtnahme, so daß insoweit von einer „Unionstreue" gesprochen werden kann. Wie weit bereits von einem Unionsrecht anstelle des üblichen Begriffs Gemeinschaftsrecht gesprochen werden kann, ist zweifelhaft. Die Bestimmungen des EU-Vertrages begründen rechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, soweit sie ihrem Inhalt nach dazu geeignet sind. Das gilt insbesondere für Beschlüsse, die nach Art. 14 (ex Art. J.4) EUV, wenn auch mit einer gewissen Flexibilität, im Rahmen der GASP und nach Art. 34 (ex Art. K.6) Abs. 2 EUV im Rahmen der ZJI gefaßt werden. Sie unterliegen zwar abgesehen von den dargelegten Ausnahmen bei der ZJI nicht der Zuständigkeit des Gerichtshofs, doch die Qualifizierung von Normen als Recht ist nicht davon abhängig, daß sie gerichtlich durchsetzbar und überprüfbar sind 78 . Für die Einzelnen verbindliche Rechtssätze können von der Union allerdings nicht erlassen werden. Bei der GASP dürften sie der Sache nach nicht in Betracht kommen, und für die ZJI ist in Art. 34 EUV ausdrücklich festgelegt, daß die Regelungen „nicht unmittelbar wirksam" sind. Das Unionsrecht im engen Sinne ist demgemäß auf einen engen Bereich beschränkt. Es bleibt formell vom Gemeinschaftsrecht getrennt und ist im Vergleich zu diesem eher marginal. Bei dieser Sachlage erscheint es nicht angebracht, von einem Unionsrecht zu sprechen, das auch das Gemeinschaftsrecht umfaßt. Nach allem läßt sich feststellen, daß Union und Gemeinschaften zwar formell nach wie vor organisatorisch getrennt sind, aber nach Zielsetzung, Gegenstand, Organen und Verhältnis zu den Mitgliedstaaten weitgehend als Einheit angesehen werden können. Sie sind in vielschichtiger Weise formell unterschieden und materiell verbunden, und auch die Mitgliedstaaten sind in den Entwicklungsprozeß, der sich in den Gemeinschaften seit Jahrzehnten und in der Union seit den neunziger Jahren vollzieht, sowohl als Akteure als auch als Betroffene einbezogen. Rechtlich ist das mit den herkömmlichen Begriffen nicht zu erfassen. Diese diffuse und unklare rechtliche Lage dürfte durchaus dem gegenwärtigen zwiespältigen Stand der Integration entsprechen79, deren endgültige Gestalt noch offen ist und durch die bevorstehende Erweiterung, die auf längere Sicht zu 77
EuGH, Slg. 1983, 255 (Rz. 37), Rs. 230/81 - Luxemburg/ Europäisches Parlament. Zum daraus abgeleiteten Grundsatz der Gemeinschaftstreue M Lück, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1992. 78 79
S.o. Text bei Fn. 68.
Siehe zur gegenwärtigen Lage den eindrucksvollen Überblick von S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), 901.
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Ulrich Everling
einer Verdoppelung der Mitgliedstaaten fuhren könnte, ungewisser denn je erscheint. Thomas Oppermann hat diese ambivalente Situation in seiner glanzvollen Abschiedsvorlesung über den „Europäischen Traum zur Jahrhundertwende", gewissermaßen der Summe seiner europarechtlichen Erfahrungen, in gültiger Weise beschrieben 80. Wenn er sich an die Anfangsjahre unserer Zusammenarbeit erinnert, als Ansichten über das Europarecht, die heute als selbstverständlich gelten, meist als exotisch und illusionär angesehen wurden, wird er wohl bereits den jetzt erreichten Stand als die kaum erwartete Verwirklichung damaliger Träume bezeichnen. Ob der europäische Traum auch unter den neuen Bedingungen der Osterweiterung und der Globalisierung weiter wie bisher schrittweise verwirklicht werden kann und zu welchen neuen Ufern er eines Tages fuhren könnte, vermag niemand vorherzusehen. Es hängt von vielen Voraussetzungen ab, und zu diesen gehört sicher auch, daß die Europäische Union ihre Kräfte in einer handlungsfähigen, alle bisherigen Teile umfassenden politischen und rechtlichen Einheit zusammenfaßt.
80
Τ Oppermann, Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, JZ 1999, 317.
Der Unionsvertrag als Integrationsverfassung Von Gert Nicolaysen
I. Das juristische Dilemma Die rechtliche Einordnung der durch den Vertrag von Maastricht (7. Februar 1992) gegründeten Europäischen Union bereitet Schwierigkeiten und ist in der Literatur immer noch umstritten. Das verwundert nicht, da doch schon die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft unterschiedlich beurteilt wird 1 , zwischen Begriffen aus dem föderalen Baukasten, mit dem gemeinderechtlich angelehnten „Zweckverband funktioneller Integration" 2 und der blassen Erfindung des „Staatenverbunds", die mit dem Hinweis auf die Souveränität der „verbundenen" Staaten sogleich ihre Orientierung zu erkennen gibt3. Die europarechtlich weithin akzeptierte, von T. Oppermann als „glückliche Fügung" gewürdigte4 Begriffswahl „Gemeinschaft" hat offenbar den Definitionsbedarf in Deutschland nicht hinlänglich zu befriedigen vermocht. Diese Diskussion wird hier nicht aufgenommen. Auch soll nicht, noch weitergehend, die „Verfassungsfahigkeit" der Gemeinschaft oder der Union erörtert werden, die mittels eines staatsrechtlich aufgeladenen Verfassungsbegriffs in Zweifel gezogen wird 5 . Als „Verfassung" der Union oder der Gemeinschaft wird hier ihre rechtliche Grundordnung bezeichnet, ohne Präjudiz für ihre „Rechtsnatur". Durch die Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht (Art. 1 Abs. 1 EUV) haben die Mitgliedstaaten eine neue Einheit ins Leben gerufen, die in ihrer rechtlichen Bedeutung erklärt werden muß. Diese Erklärung ist nötig für die praktische Handhabung ihrer Rechtsordnung im Zusammenhang 1
S. dazu den Überblick bei T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 333 ff.
2
H P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff.; kritisch dazu U. Everling, in: Hamburg - Deutschland - Europa. FS für H.-P. Ipsen, 1977, S. 595. 1 BVerfGE 89, 155 ff. - Maastricht-Vertrag, z.B. 186 f., 190; dazu H. P. Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, EuR 1994, 18: Der Begriff möge alsbald vergessen werden. 4 5
Fn. 1, S. 887, Rn. 887; sowie den nachfolgenden Beitrag von Paul Kirchhof.
D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995; Chr. Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DOV 1998, 268 ff.; vgl. J.-C. Piris, Docs the European Union have a Constitution? Does it need one?, ELR 1999, S. 557; J. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung; dazu auch demnächst in EuR 2000.
Gert Nicolaysen
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ihrer Bestandteile. Von geringerem Interesse sind theoretische Deutungen und begriffliche Zuordnungen; für sie kann vorwegnehmend festgestellt werden, daß die Union kein neuer Staat ist, schon deswegen nicht, weil sie nur über begrenzte Zuständigkeiten verfügt, die sie nicht autonom erweitern kann.- So wie die Gemeinschaft ist auch die Union ohne Vorbild, sie ist eine Schöpfung eigener Art (sui generis), deren Eigenschaften sich aus den Verträgen ergeben, nicht aus Begriffen. Spezifische Streitpunkte des Unionsvertrags betreffen demgegenüber die rechtliche Qualität der jeweiligen Zuordnung der Teile zum Ganzen, also der drei „Säulen" Europäische Gemeinschaft (EG), Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP), Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZ) zur Europäischen Union (EU) und damit auch den rechtlichen Gehalt des Unionsvertrags für die Struktur und die Inhalte der Integration sowie die Stellung der im EGV geschaffenen Organe in der Union. Die juristische Bestimmung des Vertragswerks wird durch die unterschiedlichen Strukturen innerhalb der EU erschwert. So ist umstritten, ob der Unionsvertrag eine einheitliche Rechtsordnung geschaffen hat oder ob das Recht der Union und das Gemeinschaftsrecht getrennt geblieben sind6, Auch die Frage der Rechtspersönlichkeit der Union wird kontrovers diskutiert. In der Praxis spiegeln sich diese Unsicherheiten in der Terminologie der Organe: Der Rat hat sich alsbald in „Rat der Europäischen Union" umbenannt7, während die übrigen Organe sich noch als „Europäisches Parlament", „Europäische Kommission", bei rechtserheblichen Texten „Kommission der Europäischen Gemeinschaften" bzw. „Europäischer Gerichtshof 4 bezeichnen8 und das Amtsblatt nach wie vor als „Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften" erscheint, obwohl dort auch Beschlüsse der Union zur GASP veröffentlicht werden. Ebenso trägt die Sammlung der Rechtsprechung die Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften" im Titel 9 . In einer ersten Annäherung kann ein Blick auf den Vorgang der Entstehung der Union hilfreich sein: Das ursprüngliche Ziel der Konferenz von Maastricht 6
Es soll hier genügen, ausgewählte Beiträge der jeweiligen Exponenten der verschiedenen Richtungen zu nennen: A. von Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, 1; M. Pechstein/Chr. Koenig, Die Europäische Union, 2. Aufl. 1998, S. 4 ff.; einen Überblick über den Meinungsstand in der weiteren umfangreichen Literatur vermittelt J. Chr. Wichard, Wer ist Herr im europäischen Haus? Zu Struktur und Rechtsnatur der Europäischen Union nach Amsterdam, EuR 1999, 170. S.a. den vorstehenden Beitrag von Everling. 7
ABl. L 281/18 v. 8.11.1993.
8
Vgl. die Entschließung der Kommission vom 17.11.1993, EG-Nachrichten 46 v. 29.11.1993. 9 S. dazu S. Hülscheid/Cht: Baldus, EU und EG als terminologisches Problem, DVB1. 1996, 1409.
Der Unionsvertrag als Integrationsverfassung
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war, eine „Politische Union" zu schaffen, die alle wesentlichen Politikbereiche umfaßt: die Wirtschaftsgemeinschaft („1. Säule"), ergänzt um die bisher nur koordinierten Bereiche der Wirtschafts- und Währungspolitik (Wirtschafts- und Währungsunion), die Außen- und Sicherheitspolitik („2. Säule") sowie die Innen- und Justizpolitik („3. Säule")10. Die Ergebnisse von Maastricht sind hinter diesem Ziel zurückgeblieben; es wurde auch in Amsterdam nicht erreicht. Ohne Einschränkung ist nur die Währungsunion verwirklicht worden. Schon die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in Art. 98—104 EGV entspricht noch nicht dem Begriff der Wirtschaftsunion, die Art. 2 EGV als Aufgabe der Gemeinschaft vorgibt", auch wenn die Koordinierung verstärkt worden ist und in der Haushaltspolitik eine Überwachung nach inhaltlichen Vorgaben und mit Sanktionen zu ihrer Durchsetzung geschaffen wurde (Art. 104 EGV). Demgegenüber weichen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Innenund Justizpolitik noch von dem gemeinschaftsrechtlichen Konzept ab und fügen sich nicht in die supranationalen Strukturen der 1. Säule. Das gilt auch nach dem Vertrag von Amsterdam zunächst noch für die 3. Säule mit den „Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" (Titel VI), solange die von ihnen erfaßten Bereiche nicht in den EGV übernommen werden (s. Art. 42 EUV). Im Ergebnis der Verträge von Maastricht und Amsterdam ist die EU daher ein schwer überschaubares, heterogen geformtes Gebilde, das sich gegenüber den Versuchen juristischer Definitionen als sperrig erweist. Zu recht hat T. Oppermann daher die „totale Unübersichtlichkeit" der Verfassung Europas gerügt 12. Er selbst hat in einer frühen Untersuchung einen gewichtigen Beitrag zur Klärung geleistet13. Ein ihm gewidmeter Aufsatz wird daher insoweit sein Interesse finden, als er sich um weitere Aufhellung bemüht. Auch damit wird das unendliche Thema längst nicht ausgeschöpft sein. Die folgende Untersuchung geht von den konkret geregelten und inhaltlich bestimmten Bereichen aus, für deren Kohärenz und Kontinuität im Hinblick auf die Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes die Union nach dem Wortlaut in Art. 3 EUV den „einheitlichen institutionellen Rahmen" zur Verfügung stellt14. Durch die juristische Analyse der Europäischen Union wird also versucht, die verschiedenen Elemente unterschiedlicher Struktur 10
Das Ziel einer Politischen Union wurde besonders deutlich in der von deutscher Seite vertretenen Vorstellung, ohne sie auch keine Währungsunion zu realisieren. 11
Vgl. dazu G. Nicolay sen, Europarecht II, 1996, § 38 I, S. 336.
12
Fn. 1, S. 345 Rn. 918.
n
Zur Eigenart der Europäischen Union, in: P. Hommelhoff / P. Kirchhof(Hrsg.), Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 87.
Der
14 Vgl. M. Hilf Der einheitliche institutionelle Rahmen der Europäischen Union, in: S. Magiera///. Siedentopf(Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Union, 1997, S. 207.
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in den drei Säulen mit den „gemeinsamen Bestimmungen" (Art. 1 - 7 EUV) sowie den „Schlußbestimmungen" (Art. 4 6 - 5 3 EUV) zu einer übergreifenden Einheit zusammen zu fassen. Ein solcher Versuch verbindet die Fragmente, auf die der Vertrag das ursprüngliche Ziel einer Politischen Union reduziert hat, zu einer neuen Formation unterhalb dieses Ziels, in der die Union in ihrer jetzigen Gestalt inhaltlich definiert wird. Die Erwartungen dürfen indes nicht zu hoch gespannt sein. Im einzelnen sind die Texte voll von Inkonsequenzen, Widersprüchen und Unklarheiten; ihnen liegt kein geschlossenes Konzept zugrunde, vielmehr sind sie vielfach das Ergebnis von Kompromissen; auch sind unterschiedliche oder entgegengesetzte Standpunkte ζ. T. nicht ausgeglichen worden und finden ihren Niederschlag in den Texten. Die inhaltlichen und redaktionellen Mängel lassen sich nur schwer durch juristische Interpretationen überwinden, die zu einer widerspruchsfreien Dogmatik führten. II. Die drei Säulen 1. Die Europäischen Gemeinschaften (Die erste Säule) Eine feststehende Größe ist die erste Säule mit den drei supranationalen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft, Europäische Atomgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl). Ihre Existenz und ihre Eigenschaften sind durch die Verträge, durch ihre Auslegung und ihre Entwicklungen definiert. Sie werden durch den Unionsvertrag im Prinzip nicht tangiert; das wird in Art. 47 EUV unmißverständlich ausgesprochen. — Auch die Vorstellung, der EU-Vertrag mit völkerrechtlichen oder intergouvernementalen Strukturen, wie sie in der 2. und 3. Säule angelegt sind, könnte die Supranationalität der 1. Säule beeinträchtigen, ist mit dem Vertrag nicht vereinbar. Eines der Ziele der Union ist vielmehr „die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und seine Weiterentwicklung" (Art. 2, 5. Teilstrich EUV), und dabei ist anerkannt, daß zum „acquis communautaire" auch die Qualitäten gehören, die der Vertrag und die Gemeinschaftsverfassung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs erlangt haben. Auch sie dürfen nicht abgeschwächt werden; der EU-Vertrag zielt vielmehr in die entgegengesetzte Richtung: Im Interesse der Wahrung und Weiterentwicklung des Besitzstandes sollen die Politiken und die Kooperation des EUV (2. und 3. Säule) im Hinblick auf eine Revision überprüft werden, um „die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Gemeinschaft sicherzustellen" (Art. 2 EUV ebenda). In die gleiche Richtung, aber noch weitergehend, weist die in Art. 42 EUV angelegte Möglichkeit, Maßnahmen aus den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (Art. 29 EUV, 3. Säule) in die stärkeren Integrationsformen des EGV ( 1. Säule) zu übernehmen, also zu vergemeinschaften.
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Die drei Gemeinschaften (1. Säule) sind auch in der Existenz ihrer eigenen Rechtspersönlichkeit durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam nicht berührt, insbesondere sind sie nicht in der Europäischen Union aufgegangen. Die nach den Gemeinschaftsverträgen ergehenden Rechtsakte und Maßnahmen sind daher weiterhin ihnen zuzurechnen, sie sind nicht Handlungen der EU. Das folgt gleichfalls aus den Bestimmungen des EUV über den Besitzstand und daraus, daß die Rechtssubjektivität, die Organe, die Handlungsermächtigungen und Rechtsakte in den Verträgen eindeutig als solche der Gemeinschaften definiert werden. 2. GASP und PJZ (Die zweite und dritte Säule) Demgegenüber wird als Handlungsträger und als Handlungsrahmen der zweiten und dritten Säule die Europäische Union genannt (im Text des EUV wird sie als „Union" bezeichnet, vgl. Art. 1 Abs. 1 EUV). Die GASP und die PJZ treten also im EUV nicht als selbständige Organisationen in Erscheinung, ihnen wird auch keine Rechtspersönlichkeit verliehen. Als „Grundlage der Union" bestimmt dementsprechend der EUV einerseits „die Europäischen Gemeinschaften", anderseits „die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit" (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV). GASP und PJZ erscheinen daher als Tätigkeitsfelder der EU, und ihre Aktivitäten sind im Zweifel unmittelbar der Union zuzurechnen. - Es ist einzuräumen, daß in dieser Sicht das Bild von den „drei Säulen" der EU sich insoweit als brüchig erweist: Nur die Gemeinschaften haben die damit angedeutete Selbständigkeit und Tragfähigkeit; GASP und PJZ sind gegeneinander in anderer Weise abgegrenzt („Tätigkeitsfelder") und gegenüber der Union institutionell nicht zu individualisieren, anders als die Gemeinschaften. Nur mit diesen Maßgaben wird das Bild hier beibehalten. I I I . Die Union 1. Die Kontroversen Die Verfassung der Union gibt Anlaß zu großen Meinungsverschiedenheiten. Auf der einen Seite steht die These der eigenen Rechtssubjektivität der Union und der Existenz einer einheitlichen Unionsrechtsordnung, in der die Union in einem eigenen institutionellen Rahmen mit den Gemeinschaften verschmolzen ist 15 . Die Gegenthese will die Union nicht als Rechtspersönlichkeit anerkennen und zieht daraus die Konsequenz, daß sie deswegen keine internationale Organisation sein könne. Sie definiert die EU als bloße „vertraglich festgeschriebene 15
So vor allem A. von Bogdandy /M. Nettesheim (Fn. 6); noch weitergehende Konsequenzen zieht A. von Bogdandy aus dem Vertrag von Amsterdam in: Die Europäische Union als supranationale Föderation, Integration 1999, S. 95.
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Form intergouvernementaler Kooperation". Dementsprechend werden alle Handlungen im Rahmen der 2. und 3. Säule nur den Mitgliedstaaten zugerechnet 16. Die Dimensionen der EU sind in zwei Richtungen abzumessen: Zunächst ist die Union, wie gezeigt, Ort und Träger der im EUV konstituierten gemeinsamen Politik und Kooperation. Indes erschöpft sich der EUV nicht in den dafür maßgeblichen Regelungen; wesentlicher Gegenstand des Vertrags sind darüber hinaus die Gründung der Union sowie die Festlegung von Zielen, Aufgaben und Grundsätzen. In den Gemeinsamen Bestimmungen und den Schlußbestimmungen wird ein Rahmen für die Integration in allen ihren Teilen geschaffen. Somit verleiht der EUV der Union eine eigene, übergreifende Existenz. In beiden Richtungen ist der Vertrag auszuloten. 2. Die Politiken der Union (2. und 3. Säule) Einige Bestimmungen des EUV adressieren ausdrücklich die Mitgliedstaaten und verpflichten sie zur Kooperation, ohne daß dabei eine eigene Position der Union sichtbar ist. So werden in der GASP die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Solidarität verpflichtet. Dem Rat wird aufgetragen, für die Einhaltung dieser Grundsätze zu sorgen (Art. 11 Abs. 2 UA 2 und 3 EUV). Für die gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung „zwischen den Mitgliedstaaten" über außen- und sicherheitspolitische Fragen von allgemeiner Bedeutung ist der Rat nur der Ort dieser Kooperation, bleibt im übrigen ohne eigene Funktion (Art. 16 EUV). Zu internationalen Organisationen und Konferenzen sieht Art. 19 Abs. 1 EUV gleichfalls nur eine Koordination der Mitgliedstaaten über ihr Handeln vor. Ähnliche Bestimmungen gelten für die PJZ (Art. 34 Abs. 1, 37 EUV). Eine Besonderheit der 3. Säule ist die unmittelbare Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten (Polizei- und Justizbehörden) ohne den völkerrechtlich gebotenen Umweg über die Regierungen (Art. 30, 31 EUV) 17 . Auf einer anderen Handlungsebene gewinnt die Europäische Union Kontur: „Die Union erarbeitet und verwirklicht eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (Art. 11 Abs. 1 EUV), die Union verfolgt die Ziele dieser Politik und verfügt dabei über die Instrumente der GASP, z.B. gemeinsame Aktionen und Standpunkte (Art. 12 EUV), und es ist sodann vor allem der Rat, der die entsprechenden Beschlüsse faßt (z.B. Art. 14, 15 EUV). Auch nach außen hin tritt die Union in Erscheinung, dabei wird sie vom Vorsitz vertreten (Art. 18 M. Pechstein /Chr. Koenig (Fn. 6). - Hier wird auf die Darstellung der zahlreichen Modifikationen der strittigen Thesen verzichtet; auch werden weitere Belege aus der umfangreichen Literatur hier nicht zitiert. Zum Stand der Diskussion vgl. U. Everling, Folgerungen aus dem Amsterdamer Vertrag für die Einheit der Europäischen Union und Gemeinschaften, EuR Beiheft 2/1998, 185. 17
Bei von Bogdandy „horizontaler Verbund" genannt, Integration 1999, 96 f.
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EUV). Der Vorsitz kann vom Rat auch zu Verhandlungen über internationale Abkommen ermächtigt werden, und solche Abkommen werden vom Rat geschlossen (Art. 24 EUV) 1 8 . Auch in der PJZ spielt die Union ihre eigene Rolle: Ihr werden die Ziele zugeschrieben (Art. 29 Abs. 1 EUV), und der Rat ergreift entsprechende Maßnahmen; dazu gehören neben den „gemeinsamen Standpunkten" auch die „Rahmenbeschlüsse", die den Richtlinien der EG nachgeformt sind; ferner kann der Rat Übereinkommen erstellen (Art. 34 EUV), und schließlich gelten auch hier die Regeln der GASP für internationale Übereinkünfte (Art. 38 mit Art. 24 EUV). In allen diesen Fällen liegt es eigentlich nahe, die Union als Rechtssubjekt, den Rat als ihr Organ und die Beschlüsse als ihre Handlungen wahrzunehmen. Die gegenteilige Auffassung setzt die vorgefaßte Vorstellung einer rein intergouvernementalen Struktur der 2. und 3. Säule voraus; auf den Wortlaut der Texte kann sie sich nicht stützen; vielmehr muß sie den Rat als Regierungskonferenz und seine Beschlüsse und Maßnahmen, wie z.B. die gemeinsamen Aktionen und Standpunkte als internationale Übereinkommen der Vertragsstaaten interpretieren. In Art. 5 EUV werden jedoch die in der EG konstituierten Organe, auch der Rat, als Handlungsträger auch des EU-Vertrags genannt, und es wird die Anwendung der für sie einschlägigen Bestimmungen des EGV (ohne die EG-spezifischen Regeln) auch in der 2. und 3. Säule vorgeschrieben (Art. 28 Abs. 1,41 Abs. 1 EUV); das spricht für die Identität des Rats in allen drei Säulen. Als Abkommen einer internationalen Konferenz könnten seine Beschlüsse auch nur in den Fällen der Einstimmigkeit gedeutet werden, indes läßt der Vertrag für bestimmte Beschlüsse auch Entscheidungen des Rats mit qualifizierter Mehrheit zu, so z.B. in dem wichtigen und zunehmend praktischen Fall von Beschlüssen auf der Grundlage einer gemeinsamen Strategie (Art. 23 Abs. 2, s.a. Art. 34 Abs. 2 lit. c und d EUV); übrigens ist auch im Gemeinschaftsrecht der Rat bei einstimmigen Beschlüssen nicht als Regierungskonferenz zu qualifizieren. Ebenso ist bei den Rahmenbeschlüssen als Handlungsform (Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV) in der PJZ die Parallele zu den gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien eher überzeugend; der Ausschluß unmittelbarer Wirkung macht weder Richtlinien noch Rahmenbeschlüsse zu völkerrechtlichen Instrumenten, und die Umsetzung eines unionsrechtlich verbindlichen Rahmenbeschlusses in den Mitgliedstaaten ist keine Ratifikation. IR In einer von der Regierungskonferenz von Amsterdam angenommenen Erklärung (4) heißt es, daß Art. 24 - und ebenso Art. 38 - keine Übertragung von Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten auf die EU bedeute. Das ändert indessen nichts daran, daß der Vorsitz solche Übereinkünfte aushandelt und der Rat sie abschließt. Als Vertragspartner tritt somit die EU den jeweiligen Kontrahenten gegenüber, und im Vertrag kommt nicht zum Ausdruck, daß dies in Vertretung der Mitgliedstaaten geschähe. Nach A. von Bogdandy (Fn. 17, dort Fn. 29 m.w.N.) soll durch die Erklärung nur eine ausschließliche Unionskompetenz ausgeschlossen werden.
13 FS Oppermann
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Fazit: Wie gezeigt, differenziert der EUV zwischen Bestimmungen, in denen die Mitgliedstaaten zur Kooperation untereinander verpflichtet werden, und anderen, in denen ausdrücklich die Union tätig wird und der Rat Beschlüsse über Unionsakte faßt. Es besteht kein Anlaß, diese Differenzierung hinwegzuinterpretieren und den Unionsvertrag insgesamt auf ein völkerrechtliches Gleis zu lenken, dies umso weniger, als der Vertrag sich selbst als „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" präsentiert (Art. 1 EUV). Im übrigen ist auch schon im Gemeinschaftsrecht ( 1. Stufe) das Phänomen unterschiedlicher Intensität bei der Verwirklichung des supranationalen Prinzips in verschiedenen Tätigkeitsfeldern geläufig: Neben den Zuständigkeiten zur Ausübung gemeinschaftsrechtlicher Hoheitsgewalt mit unmittelbarer Wirksamkeit stehen Bereiche bloßer Koordinierung mitgliedstaatlicher Politiken (z.B. Art. 152 Abs. 2 EGV zur Gesundheitspolitik) und auch eigene Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaftsverfassung (z.B. zur Ernennung der Richter des Gerichtshofs, Art. 223 EGV). Daher ist es sehr wohl möglich, daß auch innerhalb der GASP und der PJZ unterschiedliche Integrationsstrukturen Platz haben. Darüber hinaus hindern dementsprechend unterschiedliche Konzeptionen innerhalb der drei Säulen auch nicht ihre Zusammenfassung unter dem Dach der Union, und daher kann auch der Union eigene rechtliche Substanz zukommen, mehr als nur ein Rahmen für mitgliedstaatliche Kooperation. 3. Die Union als Verfassungsrahmen a) Inhalte Außer den operativen Bereichen der Union in der 2. und 3. Säule enthält der EU-Vertrag in den „Gemeinsamen Bestimmungen" (Art. 1 —7 EUV) und in den „Schlußbestimmungen" (Art. 46-53 EUV) übergreifende Regelungen, die der „Europäischen Union" gelten. Die Bestimmungen sind auf alle drei Säulen gleichermaßen anwendbar, und die Gemeinschaften sowie die Politiken der 2. und 3. Säule werden ausdrücklich als „Grundlage der Union" bezeichnet (Art. 1 Abs. 3 EUV). Der Vertrag hat aber über die drei Säulen hinausgehend seinen eigenen Gehalt, mit dem die Union ihre weitergehende Existenz gewinnt. Am Anfang steht die Gründung der Union (Art. 1 Abs. 1 EUV). Aus der Bezeichnung als „Union" lassen sich zwar keine rechtlichen Schlüsse ziehen, indes haben die Vertragsparteien damit einen Namen gewählt, der in allen Sprachen sein Gewicht hat. Das bestätigt die folgende Feststellung, der Vertrag stelle „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar" (Art. 1 Abs. 2 EUV). Damit trifft der Text eine qualitative Aussage, die mit der bloßen Ausdehnung der Tätigkeitsfelder auf außenpolitische und justizielle Zusammenarbeit nicht zu rechtfertigen wäre.
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In den Unionsvertrag sind auch Bestimmungen über die Vertragsänderung (Art. 48 EUV) sowie über den Beitritt (Art. 49 EUV) aufgenommen worden. Gegenstand einer Vertragsänderung sind danach die „Verträge, auf denen die Union beruht" (Art. 48 Abs. 1 EUV), aber der Standort der Bestimmung ist der EUV, auch im Hinblick auf die Gemeinschaftsverträge, deren je einzelne Regelungen (Art. 236 EWGV a. F.; 204 EAGV; 95 Abs. 2 und 3 EGKSV) durch die einheitliche Unionsregelung ersetzt wurden. - Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten erfolgt nunmehr nach Art. 49 EUV als Beitritt zur Union, der beitretende Staat wird „Mitglied der Union"; dadurch vermittelt erlangt er die Stellung als Mitgliedstaat nicht nur in den Bestimmungen des EUV (2. und 3. Säule), sondern auch in den Gemeinschaftsverträgen; dementsprechend erfolgen auch bei Erweiterung Anpassungen der „Verträge, auf denen die Union beruht" (Art. 49 Abs. 2 EUV). Deren Beitrittsregelungen wurden gleichfalls aufgehoben (Art. 237 EWGV a.F.; 205 EAGV; 98 EGKSV). Die rechtsstaatlich-demokratische Grundlage der Integration wird als Prinzip der Union und als Postulat an die Mitgliedstaaten unionsrechtlich befestigt (Art. 6 EUV) | g . Das hierzu installierte Sanktionsverfahren gegen Mitgliedstaaten, welche die Grundsätze schwerwiegend und anhaltend verletzen, liegt in der Hand der Union; es betrifft zunächst die Aussetzung der Rechte in der Union (Art. 7 EUV), erstreckt sich kraft Art. 309 Abs. 1 EGV indes auch auf die Stimmrechte nach dem EGV. Der EGV enthält darüber hinaus ein eigenes entsprechendes Sanktionsverfahren (Art. 309 Abs. 2 EGV) - Homogenitätsklausel und Sanktionsverfahren sind von großer Tragweite, auch als Kriterium für die Intensität der Integration in der Union: Die Einhaltung der Grundsätze und ihre Überwachung sind nach dem Vertrag ein Stück „Innenpolitik" der Union, völkerrechtlich wären sie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. b) Institutioneller
Rahmen — Organgemeinschaft
Durch den Unionsvertrag wurde die Unionsbürgerschaft eingeführt (Art. 2, 3. Teilstr. EUV). Mit diesem Standort und mit der begrifflichen Anknüpfung ist sie der Union zuzuordnen. Daß ihre Inhalte nicht hier, sondern im EGV näher definiert werden (Art. 17-22 EGV), läßt sich aus der Affinität zu den Gegenständen, insbesondere zum freien Personenverkehr, und zu den supranationalen Strukturen des Gemeinschaftsrechts begründen. Nach Art. 3 EUV verfügt die Union „über einen einheitlichen institutionellen Rahmen". Diese Formulierung scheint der Deutung große Schwierigkeiten zu bereiten, sie ist dementsprechend stark umstritten 20. Der einheitliche institutio10
S. dazu umfassend F. Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union. Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und 7 EUV, 2000. 20
13*
Vgl. dazu M. Hilf (Fn. 14).
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nelle Rahmen wird von den Institutionen gebildet, die der EU-Vertrag in den folgenden Bestimmungen nennt. Es sind dies: der Europäische Rat (Art. 4 EUV), sowie das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof (Art. 5 EUV). Der Europäische Rat wird in Art. 4 EUV etabliert; er besteht aus den Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission. Seine Aufgabe ist, „der Union" Impulse zu geben und dafür allgemeine politische Zielvorstellungen festzulegen (Art. 4 Abs. 1 EUV). Ohne Zweifel erstreckt sich diese Aufgabe auch auf die Europäischen Gemeinschaften (1. Säule der Union), nicht nur auf die außen- und innenpolitische Zusammenarbeit (2. und 3. Säule). Der Europäische Rat ist die bruchlose Fortsetzung der gleichnamigen Einrichtung, mit der auf der Pariser Gipfelkonferenz vom 9./ 10.12.1974 die Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs institutionalisiert wurden und die durch die Einheitliche Europäische Akte 1987 auf Vertragsebene gehoben wurde. Ihr Aufgabenkreis war vertraglich nicht festgelegt, umfaßte indes in der Praxis des Europäischen Rats seit je vor allem auch den Ausbau der Europäischen Gemeinschaften. Bei den Organen der Europäischen Gemeinschaft (Art. 4 EGV) wird er nicht genannt, obwohl der Vertrag ihm Aufgaben zuweist, so in der Wirtschaftspolitik (Art. 99 Abs. 2 EGV) und in der Beschäftigungspolitik (Art. 128 Abs. 1 EGV). Für verbindliche Entscheidungen in der EG konstituieren die Staats- und Regierungschefs sich indes als „Rat" der EG (Art. 121 Abs. 3 und 4 EGV). Das gilt aber auch in der Union: Die verbindliche (und evtl. folgenreiche) Feststellung einer schwerwiegenden und andauernden Verletzung der Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (Art. 6 EUV) durch einen Mitgliedstaat trifft nach Art 7 Abs. 1 EUV der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, also nicht der Europäische Rat. Die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates sind demgegenüber rechtlich unverbindlich; faktisch sind seine Festlegungen der politischen Zielvorstellungen allerdings von größter Wirksamkeit. Das folgt schon aus der regelmäßig innerstaatlich übergeordneten Position der Staats- und Regierungschefs gegenüber ihren Ministern 21 , auch als Mitgliedern des Rats; es bestätigt sich in der täglichen Praxis. Der in den Gemeinsamen Bestimmungen des EUV (Art. 4) errichtete Europäische Rat erscheint somit seit dem Vertrag von Maastricht als ein Organ der Union, dem unterschiedliche Aufgaben und Befugnisse in allen drei Säulen zugeschrieben werden. Er ist deutlich abzugrenzen gegenüber dem im EGV eingesetzten Rat (Art. 202 ff. EGV), andererseits aber auch von einer Regierungskonferenz. Auch insoweit differenziert der EGV: Nach Art. 112 Abs. 2 lit. b EGV wird das Direktorium der EZB „von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs" ernannt. - Daher sind 21
Vgl. z.B. die Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers, Art. 65 Abs. 1 S. 1 GG.
Der Unionsvertrag als Integrationsverfassung
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die Festlegungen des Europäischen Rates als eines Unionsorgans auch unionsrechtlich oder gemeinschaftsrechtlich zu qualifizieren; sie sind keine internationalen Abkommen der Regierungen. Auch die im EGV verankerten Organe haben eine die ganze Union übergreifende Stellung: Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof werden in den EUV übernommen; als ihre Befugnisse werden dort nicht nur diejenigen nach den Gemeinschaftsverträgen, sondern ausdrücklich auch solche aus den Bestimmungen des EUV genannt (Art. 5 EUV). Damit sind vor allem Befugnisse des Rates gemeint, aber auch Parlament, Kommission und Gerichtshof erhalten in der 2. und/oder 3. Säule Aufgaben zugewiesen. Die zusätzliche Verweisung der Art. 28 Abs. 1 und 41 Abs. 1 EUV auf die Bestimmungen des EGV, in denen die Organe konstituiert werden, bestätigt die Identität dieser Organe in der Union insgesamt. Daß dort nicht alle Vorschriften über die Organe herangezogen werden, erklärt sich aus den z.T. unterschiedlichen Aufgaben in den drei Säulen. So wäre z.B. die Einbindung des Parlaments in den Rechtsetzungsprozeß der EG (Art. 192 EGV) in der 2. und 3. Säule gegenstandslos, ebenso die gemeinschaftsrechtliche Aufgabenbestimmung des Rats (Art. 202 EGV) und der Kommission (Art. 211 EGV). Der Bürgerbeauftragte des Parlaments (Art. 195 EGV) wird für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen benötigt und daher übernommen (Art. 41 Abs. 1 EUV), nicht aber für die GASP, in der er keine Funktion hätte (vgl. Art. 28 Abs. 1 EUV). Nach dem EU-Vertrag haben also die Union und die Gemeinschaften identische Organe; sie handeln jeweils mit den Kompetenzen und auf der Grundlage desjenigen Vertrags, der ihnen Kompetenz und Aufgabe zuweist. Damit folgt der Unionsvertrag einer Entwicklung, die beim Abschluß der Römischen Verträge mit dem „Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften" begonnen hat und mit dem „Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften" vom 8.4.1965 („Fusionsvertrag") fortgesetzt wurde: Seit 1958 nehmen eine einzige Versammlung (Parlament) und ein einziger Gerichtshof, seit 1967 auch nur noch ein Rat und eine Kommission ihre Befugnisse nach Maßgabe der drei Gemeinschaftsverträge (EGKS-, EWG-, EAG-Vertrag) wahr. Eine gleiche „Organgemeinschaft"" besteht nunmehr zwischen der Europäischen Union in ihren Tätigkeitsfeldern (2. und 3. Säule) und den drei Europäischen Gemeinschaften (1. Säule) und bildet den „einheitlichen institutionellen Rahmen", von dem Art. 3 Abs. 1 EUV spricht. Die Konstruktion einer „Organleihe" ist dazu nicht erforderlich und irreführend 23.
22
H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 82.
23
So auch J. Chr. Wichard,
EuR 1999, 179 f. m.w.N.
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c) Kohärenz der Union Inhaltlich erhält die Union Kontur durch die Ziele, die ihr in Art. 2 EUV gesetzt werden. Die einzelnen Ziele korrespondieren mit den Aufgaben, die von der Union in ihren verschiedenen Handlungsbereichen wahrzunehmen sind, und sie werden jeweils in den einschlägigen Verträgen ausformuliert und instrumentalisiert, so die globalen Wirtschaftsziele (Art. 2, 1. Teilstr. EUV) in den Gemeinschaftsverträgen (1. Säule), die GASP (2. Teilstr.) und die innere Sicherheitspolitik (4. Teilstr.) in der 2. und 3. Säule des Unionsvertrags. Mit der Aufnahme dieser Teilziele in den Unionsvertrag werden sie zu Zielen der Union als der zusammenfassenden Einheit der europäischen Integration. Konkrete Bedeutung erhält die übergreifende Fixierung der Ziele durch den Auftrag an die Union, für „die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele" zu sorgen (Art. 3 Abs. 1 EUV). Für diesen Auftrag werden der Rat und die Kommission besonders in Pflicht genommen (Art. 3 Abs. 2 S. EUV), und sie sind dazu ausdrücklich in dem „einheitlichen institutionellen Rahmen" berufen, den der Unionsvertrag errichtet hat (Art. 3 Abs. 1 EUV). Diese unionsrechtliche Pflicht trifft die Organe also in allen Tätigkeitsfeldern der Union, einerlei auf der Grundlage welchen Vertrags sie operieren. Das verdeutlicht den Sinn der „Organgemeinschaft" innerhalb der Union (s. oben): Die Identität der Organe in der Union als Basis für eine zusammenhängende Politik in allen Teilen der Union. Diese Konstruktion lag schon der Fusion der Organe der drei Gemeinschaften (EGKS, EWG, EAG) zugrunde (s. oben). Als herausgehobenes Beispiel für die Notwendigkeit der Kohärenz werden die außenpolitischen Maßnahmen der Union genannt, die in engem Konnex zur Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik stehen können (Art. 3 Abs. 2 S. 1 EUV). Dieser Zusammenhang konkretisiert sich augenfällig bei einem außenpolitisch motivierten Wirtschaftsembargo gegenüber dritten Ländern. Hier realisiert Art. 301 EGV die Einheit der Union schon im Detail: Das Tätigwerden der Gemeinschaft wird mit einem gemeinsamen Standpunkt oder einer gemeinsamen Aktion im Rahmen der GASP vom Rat beschlossen, die erforderlichen Maßnahmen trifft sodann der Rat auf Vorschlag der Kommission im Rahmen der EG. Als übergreifendes Ziel der Union werden schließlich Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes festgelegt (Art. 2, 5. Teilstr. EUV). „Gemeinschaftlich" ist nicht der acquis communautaire allein, sondern der Entwicklungsstand der Integration im Rahmen der Union insgesamt. Gerade „die durch diesen Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit", also die 2. und 3. Säule werden besonders angesprochen: Ihre Revision könnte dazu beitragen, „die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Gemeinschaft sicherzustellen".
Der Unionsvertrag als Integrationsverfassung
199
Aus den gemeinsamen Bestimmungen und den Schlußbestimmungen des EUVertrags fügt sich ein kohärentes Bild, das die Union als die substantielle Zusammenfassung der einzelnen Tätigkeitsfelder der drei Säulen zeigt und sie institutionell und inhaltlich einem gemeinsamen Regime unterstellt. Dieser Unionsverfassung sind die rechtlich selbständigen Gemeinschaften eingegliedert und die von der Union unmittelbar wahrgenommenen Politiken und Formen der Zusammenarbeit; die Union erweist sich damit als eine gegliederte Einheit. Die vom einheitlichen Verfassungsrahmen der Union umschlossenen Teilbereiche verwirklichen die Integration mit unterschiedlicher Intensität, die Gemeinschaften mit ihrem supranationalen Instrumentarium, die GASP und die PJZ in den Formen gemeinsamer Politiken und Koordination, die großenteils durch die Union und ihre Institutionen wahrgenommen werden, nur zum Teil durch die Mitgliedstaaten selbst in direkter Zusammenarbeit. Dieses heterogene Erscheinungsbild der Union hat sich in der politischen Entwicklung ergeben, die in den verschiedenen Bereichen zwischen Binnenmarkt und Außenpolitik differenzierende Lösungen der Integration gefordert und ermöglicht hat. Juristisch bereitet diese Erkenntnis indessen keine Schwierigkeiten, die Union als Einheit zu sehen und zu behandeln. Unterschiedliche Ausformungen der Integration sind vielmehr offenbar notwendig als Schritte im „Prozeß einer immer engeren Union der Völker Europas" (Präambel EUV, 12. Erwägungsgrund). So sind schon im EGV durchaus verschiedene Stufen der Realisation von Gemeinsamkeit anzutreffen, von einer Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, z.B. auf dem Gebiet der Kultur (Art. 151 Abs. 2 EGV) bis zur supranationalen Gemeinschaftspolitik, z.B. in der Landwirtschaft (Art. 32 ff. EGV). Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ist auch die Frage nach einer eigenen Rechtspersönlichkeit der Union zu beantworten. Die Gemeinschaften sind rechtsfähig kraft ausdrücklicher Bestimmung in den Verträgen (Art. 281 EGV, 184 EAGV, 6 EGKSV, s. oben zu I.). Die Union ist als Handlungseinheit mit den gemeinschaftlichen Organen Träger von Rechten und Pflichten in der GASP und in der PJZ (2. und 3. Säule). Dazu gehört auch die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit: Der Rat (als Organ der EU) kann in der 2. und 3. Säule internationale Übereinkünfte schließen (s. Art. 24 EUV, der auch fur die PJZ gilt, s. Abs. 2). Die Völkerrechtsfähigkeit der Union entspricht auch dem übergeordneten Unionsziel der „Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene" (Art. 2, 2. Teilstr. EUV). - Auf der Regierungskonferenz zum Vertrag von Amsterdam war der Vorschlag gemacht worden, die Verleihung der Völkerrechtsfähigkeit an die Union in den Vertrag aufzunehmen; der Vorschlag fand keine Mehrheit. Das kann als Indiz genommen werden, daß nicht alle Mitgliedstaaten der Union die Rechtsfähigkeit gewähren wollten 24 ; dadurch wird indes24
Vgl. die Darstellung bei M. Pechstein/Chr.
Koenig (Fn. 6), S. 31.
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sen nicht ausgeschlossen, die Lösung der weiteren Entwicklung zu überlassen oder zu prüfen, ob die Rechtspersönlichkeit nicht schon aus dem Vertrag und seiner weiteren Handhabung folgt. Jedenfalls ist eine negative Entscheidung nicht Gegenstand des Vertrags geworden.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union Von Paul Kirchhof
Thomas Oppermann ist ein Gelehrter, dessen herausragendes Verdienst in dem stetigen Bemühen liegt, Europarecht und mitgliedstaatliches Recht stets im Zusammenklang zu halten und, wenn notwendig, immer wieder erneut aufeinander abzustimmen. Wenn das Europarecht gegenwärtig in der deutschen Rechtspraxis wie in der Rechtslehre nicht mehr ein ausgegrenztes Sonderrechtsgebiet, sondern selbstverständlicher Bestandteil der allgemeinen Rechtsordnung geworden ist, dürfen wir diese Entwicklung ganz wesentlich dem Verdienst von Thomas Oppermann zusprechen. Dabei widmet er sich bei aller Aufmerksamkeit für das europarechtliche Detail und die praktische Rechtsfolge insbesondere auch den Auswirkungen der Europäischen Union auf die Grundbegriffe der Lehre vom Staat - den Staat, die Nation, die Souveränität, die Staatsangehörigkeit, die demokratische Legitimation, die Gewaltenteilung, die Menschen- und Grundrechte. Die nachfolgenden Überlegungen wollen diese Ausgangsbegriffe des Staatsrechts und des Europarechts in ihrem integrierenden Zusammenwirken nochmals bedenken. Sie sind Thomas Oppermann gewidmet, dessen Werk ich im wissenschaftlichen Suchen wie in der richterlichen Verantwortung Rechtswissen, Nachdenklichkeit und Einsichten verdanke. I. Der Staat Der Verfassungsstaat ist die Organisationsform, in der die Bürger und ihre Repräsentanten politisch handeln und eine Rechtsordnung begründen. Der Staat schafft mit dem Instrument des Rechts gemeinschaftliche Lebensbedingungen, die dem Einzelnen Frieden und Sicherheit bieten, ökonomische, kulturelle und rechtliche Existenzgrundlagen sichern, individuelle Zugehörigkeit als Berechtigter vermitteln und demokratische Mitwirkung gestatten, Arbeitsteilung organisieren und eine stetige Rechts- und Lebenskultur in der Generationenfolge begründen. Der Mensch entfaltet heute seine Persönlichkeit, seine Sprache, seine Begegnungs- und Bindungsfähigkeit, seine Freiheitskultur und demokratische Mitgestaltung, sein Arbeitsleben und seine Zukunftsvorsorge in der Zugehörigkeit zu einem Staat.
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Paul Kirchhof
Die Staatsverfassung, die dem Staat Aufgabe, Organisation und Handlungsmittel vorschreibt, baut auf den demokratischen Zusammenhalt des Staatsvolkes: Ein sich seiner Zusammengehörigkeit bewusst gewordenes, zum Setzen und Durchsetzen von Recht fähiges Staatsvolk organisiert sich in einem bestimmten Gebiet zu einem Herrschaftsverband und schafft sich entscheidungsfähige Organe und wirksame Handlungsmittel. In dieser konkreten Verfasstheit formt der Verfassungsstaat die universalen Menschenrechte und die allgemeinen Staatsorganisationsprinzipien zu einer den Bedürfnissen der jeweiligen Rechtsgemeinschaft genügenden, historisch gewachsenen Ordnung: Die sozialstaatliche Existenzsicherung gewährt in einem Staat eine Hand voll Reis, in einem anderen auch moderne Mobilität und Medienteilhabe. Die Friedensgarantie baut in einem Staat im wesentlichen auf militärische Verteidigungskraft, in einem anderen auf einem System völkerrechtlicher Verständigung. Die Eigentümer- und Berufsfreiheit ereignet sich in einem Staat durch Teilhabe an der Landwirtschaft, im anderen auf der Grundlage einer hochentwickelten Industrialisierung, Ausbildung und weltweiten Wirtschaftens. Jeder Staat beansprucht Staatshoheit, die oberste und letzte Gewalt, um Recht und Frieden nach innen zu gewährleisten, die Unabhängigkeit von anderen Staaten zu wahren und die staatliche Gemeinschaft gegenüber Dritten zu repräsentieren. Die Staatshoheit sichert den Zusammenhalt des Staates, wenn Gruppen innerhalb des Staates seine Einheit gefährden oder die Autorität des Rechts und damit den inneren Frieden schwächen. Nach außen beansprucht der Staat die Souveränität, gegenüber anderen Staaten mit der allein maßgeblichen Stimme für das Staatsvolk zu sprechen, über das eigene Gebiet zu bestimmen, über die Rechtsbeziehungen zu anderen Staaten zu entscheiden. Die Staatsaufgaben übersteigen allerdings von jeher die Leistungsfähigkeit eines einzelnen Staates. Universale Menschenrechte wurzeln in einer staatenübergreifenden Wertegemeinschaft und drängen auf internationale Gewährleistungs- und Kontrollsysteme. Der Weltfrieden ist nur in einem weltweiten System kollektiver Sicherheit zu gewährleisten. Global tätige Wirtschaftsunternehmen haben die Grenzen einer „Volkse-Wirtschaft und einer „Nationale-Ökonomie längst überschritten. Der Umweltschutz fordert gemeinsame, generationenübergreifende Vorkehrungen aller Staaten. Informations- und Nachrichtensysteme nehmen Landesgrenzen nicht zur Kenntnis. Wanderungsbewegungen von Emigranten und Flüchtlingen erfassen mehrere Kontinente. Wissenschaft und Technik pflegen seit Jahrhunderten die Zusammenarbeit in aller Welt. Die Medien, der Sport und das Reisen finden nur noch im staatenübergreifenden Recht ausreichende Maßstäbe. Die Staaten sind deshalb auf die Zusammenarbeit in übergreifenden Organisationen angelegt.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
203
II. Der europäische Staatenverbund Wechselseitige Bindung und rechtlicher Zusammenhalt unter Staaten ist am deutlichsten ausgeprägt in der Europäischen Gemeinschaft, einem „Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der — staatlich organisierten — Völker Europas" 1. Thomas Oppermann erläutert uns die rechtliche, politische und wirtschaftliche Bedeutung dieser besonderen Verbundenheit unter Staaten in seinem Meisterwerk ,Europarecht 42. Die Eigenart dieser in der Chriffre der Überstaatlichkeit („Supranationalität") angedeuteten Besonderheit dieser Gemeinschaft liege in ihrer erheblichen, aber begrenzten Fülle von Eigenzuständigkeiten, in der fortschreitend stärker werdenden Gemeinschaftsgewalt, des Vorrangs der Gemeinschaftsgewalt mit unmittelbarer Verbindlichkeit in den Mitgliedstaaten3. Das politische und rechtliche Gewicht der Gemeinschaft zeige sich insbesondere in der Breite ihrer Aufgabenbereiche, vor allem im öffentlichen Wirtschaftsrecht. in ihrer Verpflichtung auf gemeinsame politische Grundwerte (politische Union), der autonomen und intensiven Rechtsetzungsgewalt mit der Befugnis, Gemeinschaftsrecht gegenüber und in den Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich machen zu können, in der Selbständigkeit der Gemeinschaftsorgane, die einen europäischen Gemeinwillen bilden, in der finanziellen - wenn auch an die Mitgliedstaaten angelehnten — Eigenständigkeit der Gemeinschaft, im umfänglichen und effektiv ausgestatteten Rechtsschutz sowie in einer Unvollendetheit und Dauerhaftigkeit der Union 4 . Diese Strukturmerkmale der Gemeinschaft seien teilweise denen des Staates ähnlich, ohne die Gemeinschaft damit aber zu einem Staat oder auch nur zur Vorstufe eines Staates zu machen. Es fehlten der Union die wesentlichen Eigenschaften 5 eines Staates moderner Prägung6: Die Europäische Union besitzt keine umfassende Gebietshoheit, sondern übe im „räumlichen Geltungsbereich" der Verträge (vgl. Art. 299 EGV) die ihr verliehenen Einzelzuständigkeiten punktuell aus. Sie übe keine umfassende Personalhoheit über die Unionsbürger aus (Art. 17 EGV), sondern erfasse die Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten im vertraglich vorgesehenen Umfang durch die Gemeinschaft. Sie sei eine Vereinigung 1
BVerfGE 89, 155 (156) - Maastricht.
2
2. Aufl. 1999.
3
Fn. 2, Rn. 889 ff.
4
Fn. 2, Rn. 893 f.
5
Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 394 ff.; C. F. von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2 Bände, 5. Aufl., 1911-14; für heute: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, S. 52 ff. 6
Fn. 2, Rn. 902 f.
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der Völker Europas (Art. 1 EUV), nicht ein vom Staatsvolk getragener Staat. Vor allem aber sei die Gemeinschaftsgewalt im Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit beschränkt; der Gemeinschaft fehle die für den Staat typische Kompetenz-Kompetenz. Die Gemeinschaft verfuge als Rechtsgemeinschaft „nicht über die Souveränitätsreserve eigener politischer Macht". So blieben die Mitgliedstaaten „in einem letzten Sinne die Herren der Verträge". Die Gemeinschaft überschreite zwar nicht die Schwelle zu einer eigenen, von den Mitgliedstaaten gelösten Staatlichkeit, begründe aber die Normalität einer „wesentlichen und dauerhaften Rechts- und Organisationsebene zur gemeinsamen Bewältigung einer großen Zahl transnational gewordener Aufgaben" 7. Diese meisterliche Skizze des europäischen Staatenverbundes gibt einen verlässlichen Halt in dem unübersichtlichen Gewirr des europäischen Vertragsrechts, setzt gediegene Orientierungspunkte in den vorwärts drängenden Integrationsbemühungen der EG-Organe, bietet eine Mitte der Sachlichkeit und des Maßes auch gegenüber den Stimmen der Literatur, die einen Kompetenzzuwachs der Gemeinschaftsorgane herbeischreiben wollen oder sich der Faszination des europäischen Staatenverbundes in Skepsis oder Argwohn verschließen. I I I . Nation und Supranationalität Das Zusammenwirken von Mitgliedstaat und europäischem Staatenverbund stellt neue Fragen an Grundgedanken und Kernbegriffe des Rechtes von Staat und hoheitlicher Gewalt. Der Staatsbürger sieht sich nicht nur der Gewalt seines Staates gegenüber, die seine Sprache spricht, seine Kultur und Geschichte teilt, ihm in verfassungsrechtlicher Gebundenheit und politischer Orientierung vertraut ist, sondern erfährt zugleich eine europäische Hoheitsgewalt, die kaum in ihm geläufigen Personen verkörpert wird, ihm nur wenig in persönlich erlebbaren Organen begegnet, in ihrer Stetigkeit und rechtlichen Begrenztheit noch nicht verlässlich definiert ist. Das Staatsvolk erlebt seine Zusammengehörigkeit als französisches, englisches, italienisches oder deutsches Volk, vertraut aber nicht auf eine gleiche Zusammengehörigkeit im Verbund dieser Völker. Der Menschenrechtsberechtigte erfährt die Europäische Union vor allem in ihrem Kernbereich einer Wirtschaftsgemeinschaft, die den Menschen in den Prinzipien von Marktfreiheit und Wettbewerb als Produzenten und Konsumenten erfasst, weniger in seinen kulturellen und familiären Rechten, so dass der Grundrechtsschutz in Europa darum kämpfen muss, den Einzelnen als Menschenrechtsberechtigten und nicht nur als Inhaber von Kaufkraft und Angebotsmacht zu berechtigen, das Gemeinwohl zudem in der Unbefangenheit einer res publica und nicht in der Mächtigkeit von Industrien und ihrer Werbekraft zu bestimmen.
7
Fn. 2, Rn. 905.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
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Die Legitimation und Begrenzung der Staatsgewalt geht vom Staatsvolk aus. Die Völker der Mitgliedstaaten können eine europäische Hoheitsgewalt ohne europäisches Staatsvolk allenfalls mittelbar rechtfertigen, inhaltlich anleiten und begrenzen. Die Europäische Gemeinschaft handelt als Staatenverbund durch die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten, und setzt im Rat, einem Organ der Regierungen, Recht; das Europäische Parlament ist an dieser Gesetzgebung nur mitwirkend beteiligt, bedarf deshalb der Stütze durch die Parlamente in den Mitgliedstaaten. Die Europäische Union ist auf ein in allen Mitgliedstaaten einheitlich geltendes europäisches Recht angelegt, hat aber nunmehr mit der Gründung einer Währungsunion für elf Mitgliedstaaten, mit den Schengen-Abkommen und mit der Verteidigungsgemeinschaft dieses Prinzip gelockert und wird mit dem Beitritt weiterer Mitgliedstaaten abgestufte Rechts- und Wirtschaftsstandards innerhalb der Gemeinschaft als langfristiges Übergangsrecht anerkennen müssen. Es entstehen unterschiedliche Europarechtskreise von differenzierter Dichte und Reichweite. Die These von der gleichzeitigen Verdichtung und Erweiterung der europäischen Rechtsgemeinschaft ist damit mehr Wunsch als Wirklichkeit. Das Europarecht findet in den Ermächtigungsnormen der mitgliedstaatlichen Verfassungen seinen Ausgangspunkt, in den Beschlüssen der Gemeinschaftsorgane und den Zustimmungsgesetzen der mitgliedstaatlichen Parlamente ihren Geltungsgrund, im Vollzug durch die jeweiligen Organe der Mitgliedstaaten ihre konkrete Ausprägung. Die Gemeinschaft verfügt vor allem über Rechtsetzungsgewalt, weniger über Verwaltungskraft, kaum über hoheitliche Zwangsmittel und originäre Finanzmacht. Dadurch entsteht eine neue Form der Gewaltenbalance, die Mächtigkeiten mäßigt und sachverständige Zuordnung von Entscheidungskraft ermöglicht, aber auch Unübersichtlichkeit, gelegentlich Widersprüchlichkeit und Funktionshemmnisse verursacht. Diese Gemeinschaft stellt mit dem Anspruch einer europaweiten Rechts- und Friedensordnung, mit der Schwäche einer nicht in einem Staatsvolk verwurzelten und ständig vorwärts drängenden Rechtsordnung, der Akzentuierung des Ökonomischen als wesentlichem Integrationsantrieb und dominierender Grundausrichtung das Grundgefüge der öffentlichen Rechtsgemeinschaft vor die Aufgabe, die europäische Integration in ihrer demokratischen und verfassungsrechtlichen Basis neu zu grundieren.
1. Nation a) Das in Freiheit
vorgefundene
Staatsvolk
Der demokratische Rechtsstaat baut auf ein Staatsvolk, das sich in Freiheit zusammengefunden hat, um in seinem Zusammenhalt einen Staat zu bilden, dem
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es sich zugehörig fühlt. Der Ausgangstatbestand der Demokratie, das Staatsvolk, ist vorgegeben, ist Ergebnis freiheitlicher Kultur- und Gemeinschaftsbildung, nicht obrigkeitlicher Organisation oder gesetzlicher Anordnung. Dieses Freiheitsprinzip ist eine Grundlage fur das Entstehen demokratischer Staaten und die Definition der Staatsangehörigkeit. Seit Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt sich ein Staatsverständnis, das in dem Begriff der Nation, später - seit Ende des 18. Jahrhunderts - im Begriff des Volkes einen Mittelpunkt findet. Nation und Volk bezeichnen Menschen, die in kultureller, sprachlicher und politischer Gemeinschaft leben8. Seit der Frühromantik bezeichnen die Begriffe Nation und Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die in ihrem Zusammenwirken eine einheitliche, geschlossene Kultur hervorbringen oder bereits hervorgebracht haben (Kulturgemeinschaft) 9; sodann Menschen, die durch gemeinschaftliches politisches Handeln eine Einheit bilden und in einem selbständigen Gemeinwesen zusammenleben (politische Gemeinschaft); die Gesamtheit der Menschen, die eine gemeinsame Sprache als Spiegel einer gemeinschaftlichen Denkart und Weltanschauung sprechen (Sprachgemeinschaft) 10; eine Gruppe von Menschen, die in derselben Gegend leben und dank der geographischen, insbesondere der klimatischen Verhältnisse ähnliche physiologische, charakterliche, intellektuelle Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen (geographische Gemeinschaft), sowie die Gruppe von Menschen, die untereinander durch Abstammung verwandt sind (Abstammungsgemeinschaft). Stets bilden Volk und Nation eine historisch gewachsene Gemeinschaft, die ihren Zusammenhalt in gemeinsamen Anliegen, in wechselseitigem Handeln, in übereinstimmenden Werten und Erfahrungen findet 11. Zwar scheint uns manche romantische Ausprägung dieses Gedankens eher fremd, die ethnisch-kulturelle Nation ist aber — anders als die politische Bekenntnisgemeinschaft — auf die freiheitlich vorgefundene Gemeinschaft begrenzt, steht also jedem Integrationsdruck entgegen. Vor allem bleibt das Erfordernis von Zugehörigkeit und Zusammenhalt Bedingung der Demokratie. Auch heute wird der Staat durch das Staatsvolk, die Staatsangehörigen bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, dass in der Demokratie des Grundgesetzes die Staatsgewalt von der vorgefundenen, durch kulturelle und politische Gemeinsamkeiten geprägten Gemeinschaft der Staatsangehörigen, der Deutschen, legitimiert wird. Das deutsche Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), ist die Legitimations- und Verantwortungs* J. A. Bär, Universalpoesie und grammatischer Kosmopolitismus. Untersuchungen zur Sprachreflexion deutscher Frühromantiker, Diss. phil. Heidelberg 1997/98, S. 444. 9
Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, 2. Teil ( 1802 /3), in: ders., Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. I, 1989, S. 533. 10
Schlegel (Fn. 9), S. 336.
11
Bär (Fn. 8), S. 444 ff.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
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gemeinschaft für den deutschen Staat12. Die Staatsangehörigen sind für diesen Legitimationsvorgang und die Mitbeteiligung an der staatlichen Willensbildung von den in Deutschland lebenden übrigen Menschenrechtsberechtigten zu unterscheiden, die zwar als Grundrechtsberechtigte diesem Staat in einem gesicherten, Willkommen und Entfaltungsmöglichkeiten garantierenden Status zugehören, ihm aber nicht als legitimierender, demokratisch mitentscheidender Bürger angehören. b) Die Unionsbürgerschaft
der Staatsangehörigen
Die Europäische Union steht gegenwärtig an dem Ausgangspunkt, an dem durch die beteiligten Menschen freiwillig eine kulturelle und politische Gemeinsamkeit gebildet wird, die eine Hoheitsgewalt der Gemeinschaftsorgane rechtfertigt, inhaltlich ausrichtet und begrenzt. Diese Gemeinschaft der Unionsbürger existiert und äußerst sich in der Erwartung, sich in Europa ohne Grenzkontrolle bewegen, einen gemeinsamen europäischen Markt nutzen, die gemeinsame Währung zumindest um der wirtschaftlichen Vereinfachung willen einsetzen, die Begegnung von Menschen, Religion, Wissenschaft und Kunst fernab von staatlichen Hindernissen selbst organisieren zu können. Auch entwickelt sich ein Gemeinschaftsbewusstsein der Unionsbürger aufgrund der europäischen Rechtstradition und geographischen Nachbarschaft, die vor allem in Wettbewerbssituationen gegenüber den Vereinigten Staaten oder anderen wirtschaftlichen und politischen Machtverbänden bewusst wird. Dennoch begründet die Unionsbürgerschaft keine Gemeinschaft eines demokratischen Staatsvolkes, weil die Staatsvölker der Mitgliedstaaten als politische Handlungsgemeinschaft Eigenständigkeit beanspruchen, allenfalls Anfänge einer Sprachgemeinschaft begründen, sie in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen insbesondere in Nord-Süd-Richtung erst eine Annäherung, keinesfalls aber Einheit erreichen, historische und kulturelle Traditionen der Gemeinsamkeit noch nicht hinreichend ausgeprägt sind. Die Europäische Union erfüllt mit ihren dem „Unionsbürger" (Art. 17 EGV) vertraglich zugesprochenen Rechten und Pflichten nicht die Voraussetzungen einer vorgefundenen Gemeinschaft von Staatsangehörigen. Die demokratische Legitimation der Unionshoheit geht deshalb nicht von einem europäischen Staatsvolk aus, sondern von den Völkern der Mitgliedstaaten. Die Union ist eine „Union der Völker Europas" (Art. 1 EUV), nicht eine Union eines europäischen Staatsvolkes. Die Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat vermittelt die Unionsbürgerschaft (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EGV) und trägt die demokratische Legitimation von Rechtsakten der Gemeinschaft. Dementsprechend besteht das europäische Parlament „aus Vertretern der Völker der BVerfGE 83, 87 ff. - Schleswig-Holsteinisches Gemeinde- und Kreiswahlgesetz; BVerfGE 83, 60 ff. - Hamburgische Bezirksversammlungen.
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in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 189 EGV). Der aus Vertretern der Exekutive der Mitgliedstaaten bestehende Rat ist das Gesetzgebungsorgan, das mittelbar über die mitgliedstaatlichen Parlamente legitimiert wird und sich im Europäischen Parlament auf eine wachsende, aber nicht gestaltend konstitutive Basis weiterer Mitwirkung stützt. c) Staatenübergreifende
Einfluss-
und Legitimationserfordernisse
In diesem Staatenverbund kann somit demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Ordnung. Mit der Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Gemeinschaft verliert das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan - in Deutschland der Bundestag - und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwendig an Einfluss auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. Der Mitgliedstaat - und mit ihm seine Bürger - gewinnen freilich auch Einflussmöglichkeiten durch die Beteiligung an einer Willensbildung der Gemeinschaft, deren Wirkungsmacht über das eigene Staatsgebiet hinausgreift 13. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Die Existenz des europäischen Staatenverbundes selbst und seine Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen finden ihre demokratische Legitimation im jeweiligen Zustimmungsgesetz des mitgliedstaatlichen Parlaments zum Beitritt zum Staatenverbund14. Mit den wachsenden Aufgaben und Befugnissen der Gemeinschaft verstärkt sich auch die Notwendigkeit, zu der über die nationalen Parlamente vermittelten demokratischen Legitimation und Einflussnahme eine Repräsentation der Staatsvölker auf der Gemeinschaftsebene hinzutreten zu lassen: Ein Europäisches Parlament hat ergänzend die Politik der Europäischen Union demokratisch abzustützen. Vor allem aber müssen die Voraussetzungen eines zur demokratischen Legitimation befähigenden Zusammenhalts geschaffen werden: Das Entscheidungsverfahren der europäischen Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen müssen allgemein sichtbar und verstehbar gemacht, Verständigungen zwischen Bürger und europäischer Hoheitsgewalt ermöglicht, eine Vermittlung der politischen Vorgänge in Europa durch europaweit wirkende Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk vermehrt und verbessert werden 15. Allerdings können die Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft nur begrenzt ausgedehnt werden, weil die Staatsvölker die demokratische Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt über die nationalen Parlamente vermitteln. Jedes Staatsvolk bleibt Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt, in der ein 13
BVerfGE 89, 155 (182 ff.).
14
BVerfGE 89, 155 (184).
15
BVerfGE 89, 155 (184 f.).
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geistig, sozial und politisch verbindender Zusammenhalt in politische Gestaltung umgesetzt wird 16 . 2. Souveränität a) Tradition
einer gebundenen Souveränität
Die Mitgliedschaft eines Staates im Staatenverbund der Europäischen Union betrifft seine Souveränität, die als absolute und dauernde Gewalt und Letztverantwortung des Staates gedacht wird 17 . Diese Souveränität ist jedoch stets dreifach gebunden gewesen: Die höchste und dauernde Staatsgewalt begründet keine beliebige Herrschaft, sondern ist eine Gewalt zur Wahrung von Recht und Frieden. Souveränität wehrt zwar den Einfluss anderer Staaten auf den eigenen Staat ab, entbindet aber nicht von der Verpflichtung durch die für alle Staaten geltende Völkerrechtsordnung 18 und im modernen Verfassungsstaat durch das nationale Verfassungsrecht. Traditionell hatte der Souverän göttliches Recht und Naturrecht zu beachten, später die herkömmlichen Grundsätze der Monarchie, die leges imperii 19 , fand im Staatsfundamentalzweck der Sicherheit Legitimation und Schranke 20, wurde nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag zum Partner dieses Vertrages und seiner Bindungen21, gab schließlich die Souveränität an das Staatsvolk ab, das in dem von ihm legitimierten Staat konkrete Rechtfertigungsgründe und Verantwortlichkeiten schuf 22. Die Offenheit des Souveräns für überstaatliche Einflüsse zeigt sich insbesondere in der jahrhundertelangen Mitgestaltungskompetenz der Katholischen Kirche gegenüber Herrschaftsverbänden und Bürgern, in einer durch das Römische Recht begründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, im Zusammenwirken einzelner politischer Territorien wie der Hansestädte, in Familienverbänden europäischen Adels mit Herrschaftswirkung für verschiedene politische Gemeinschaften, in der Entwicklung des modernen Völkerrechts und der universalen Menschenrechte. Sodann ist souveräne Staatsgewalt territorial begrenzt, also auf Zusammenarbeit mit anderen, gleich souveränen Staaten angelegt und angewiesen. Souve16
Vgl. BVerfGE 89, 155 (186).
17
Vgl. J. Bodin, Les six livres de la Republique, 1583, ND hrsg. von C. Maver-Tasch , 1981, Buch 1, Kap. 8, S. 205. ,s
R. von MohL Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, 1860, S. 529 ff.; K. Doehring, Völkerrecht, 1999, § 124. H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1955, S. 66 f. 20
U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998, S. 18 f.
21
St. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 46. 22
Di Fabio (Fn. 20), S. 18.
14 FS Oppermann
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ränität ist also der Ausgangspunkt für völkerrechtliche Kooperation, nicht der Rechtstitel für strikte Abgrenzung und Abschirmung. Schließlich baut der souveräne Staat auf Arbeitsteilung, gibt wesentliche Lebensbereiche in die Hand der Gesellschaft der Freiheitsberechtigten. Das moderne Staats Verständnis unterscheidet zwischen freiheitsverpflichtetem Staat und freiheitsberechtigter Gesellschaft, muss heute entsprechend den tatsächlichen Machtverhältnissen ein Dreieck von Staat, Wirtschaft und Kulturgesellschaft organisieren, übergibt jedenfalls wesentliche gemeinschaftserhebliche Funktionen von Güterversorgung und Arbeitswelt, Kulturgesellschaft und Religion, Familie und Eltern Verantwortlichkeit, Meinungsvielfalt und Medien in nichtstaatliche Hand, meint also eine Souveränität mit begrenztem Aufgabenfeld. b) Staatliche Letztverantwortlichkeit
in der Gemeinschaft
Diese in der Tradition einer rechtlichen Gebundenheit sich entwickelnde Souveränität trifft nun auf einen europäischen Staatenverbund, der im Gebiet des Mitgliedstaates Hoheitsgewalt auch gegen den Willen dieses Staates unmittelbar ausüben kann und im völkerrechtlichen Verkehr zwar nicht den Status eines souveränen Staates erreicht, aber doch gewisse Rechte des zwischenstaatlichen Verkehrs, insbesondere Immunitäten, Vorrechte und Befreiungen, Nichteinmischungsansprüche gewonnen hat23. Diese Aufgabenteilung zwischen dem Mitgliedstaat und dem europäischen Staatenverbund modifiziert die Souveränität des Mitgliedstaates in besonderer rechtlicher Bindung, so dass manche bereits von einer „Souveränitätsaufgabe der Mitgliedstaaten" sprechen 24. Diese Analyse scheint jedoch überzeichnet. Die Union hat keine Kompetenz-Kompetenz, ist nur als Rechtsgemeinschaft angelegt, übt selbst kaum irgendwelche Zwangsgewalt polizeilicher, vollstreckungsrechtlicher oder militärischer Art aus, verfügt damit insbesondere als Rechtsgemeinschaft nicht über die Souveränitätsreserve eigener politischer Macht. Die Mitgliedstaaten bleiben „Herren der Verträge" 25. Sie haben die Europäische Union gegründet, um einen Teil ihrer Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen und insoweit ihre Souveränität gemeinsam auszuüben26. Dementsprechend besagt der Unionsvertrag ausdrücklich, dass die Union „die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achte" (Art. 6 Abs. 3 EUV). Die Gemeinschaft ist nach dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit nur mit bestimmten Kompetenzen und Befugnissen ausgestattet (Art. 5 Abs. 1 EGV), folgt dem Prinzip der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 2 EGV), baut auf eine langfristig angelegte Mitgliedschaft der 23
Oppermann (Fn. 2), Rn. 1725.
24
Doehring (Fn. 18), Rn. 236.
25
Oppermann (Fn. 2), Rn. 905.
26
BVerfGE 89, 155 (189).
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
211
Mitgliedstaaten (An. 51 EUV), ohne diesen aber letztlich das Recht zur Aufhebung ihrer Mitgliedschaft zu nehmen2 . Die Mitgliedschaft im europäischen Staatenverbund belässt dem Mitgliedstaat somit seine Souveränität im Sinne der Letztverantwortung auch für die in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft und ihrer aktuellen Verantwortung gegenüber dem deutschen Staatsvolk. Das demokratische Prinzip in einer Verantwortlichkeit gegenüber einem Verantwortlichkeitsadressaten verstärkt die Souveränität, die europäische Integration bindet sie im Dienste von Friedensprinzip, Staatenkooperation und konkreter Menschenrechtspolitik in Form der Unionsbürgerrechte. Der demokratische Staat hält die innere und äußere Souveränität zusammen und verantwortet ihre Wahrnehmung auch in der Gemeinschaft vor dem Staatsvolk. Der Staatenverbund ist markanter Ausdruck dafür, dass souveräne Staaten wegen ihres begrenzten Hoheitsbereichs auf Zusammenarbeit angelegt sind, dass diese Zusammenarbeit in intensiver Verbundenheit stattfindet, dass aber Ausgangs- und Zielpunkt dieses Verbundes die Staaten, die demokratischen Handlungsformen des Staatsvolkes bleiben. Die Union beruht auf den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit (Art. 6 Abs. 1 EUV), hat also dieses dem Staatsrecht geläufige Fundament unmittelbarer und täglich greifbarer Verantwortlichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bewahren, muss deshalb allen Risiken unklarer Verantwortlichkeiten, beweglicher Kompetenz- und Befugnisgrenzen, einer Entparlamentarisierung von Gesetzgebung und Budgethoheit in der notwendigerweise gouvernemental handelnden Gemeinschaft entgegentreten. Die Klarstellung von Verantwortlichkeiten — von Aufgaben, Kompetenzen, Befugnissen und Rechtfertigungspflichten - ist gerade gegenwärtig besonders dringlich, wenn junge demokratische Rechtsstaaten sich anschicken, dem Staatenverbund beizutreten und dort eine Bestätigung und Vertiefung ihrer erst vor wenigen Jahren gewonnenen Verfassungsstaatlichkeit erwarten. 3. Menschen- und Grundrechte Die rechtsstaatliche Struktur des Staatenverbundes ist insbesondere an der Wirksamkeit menschenrechtlicher Gewährleistungen zu messen. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind „und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben" (Art. 6 Abs. 2 EUV) 28 . Daneben gelten besondere Grundrechte, insbesondere die persönlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes, das Verbot der Diskriminierung
14*
27
BVerfGE 89, 155 (190); vgl. auch Doehring (Fn. 18), Rn. 242.
2S
Vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993.
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aus Gründen der Staatsangehörigkeit29 sowie die vom Europäischen Gerichtshof auf dieser Grundlage „gefundenen Gemeinschaftsgrundrechte" 0. Die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte werden weithin aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze der europäischen Rechtsgemeinschaft entwickelt. Deshalb gilt insoweit kein Anwendungsvorrang der Gemeinschaftsgrundrechte, sondern eine Komplementarität 31. Auf dieser Grundlage betont das Bundesverfassungsgericht das Kooperationsverhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof und der Verfassungsgerichtsbarkeit 32, indem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich insoweit auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards 33 gegenüber den in Deutschland Hoheitsgewalt ausübenden Gemeinschaftsorganen 34 beschränken kann. Das Rechtsverhältnis zwischen Mitgliedstaat und Staatenverbund muss neu bestimmt werden, wenn der Vorschlag Erfolg hätte, in den Vertrag einen eigenen Grundrechtskatalog aufzunehmen 35. a) Keine Verfassunggebung Soweit die Vertragsänderung durch Aufnahme eines Grundrechtskatalogs als Akt der Verfassunggebung verstanden oder zumindest benannt wird 36 , gefährdet dieser Sprachgebrauch das verfassungsrechtliche Grundverhältnis zwischen Mitgliedstaat und Europäischer Gemeinschaft. Die Mitwirkung der Staaten in dieser Gemeinschaft ist durch einen verfassungsrechtlichen Auftrag gebunden3 , ereignet sich also in einem verfassungsrechtlich vorgezeichneten Rahmen, der eine bestimmte Rechtsstruktur der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 2g
Zu einem verallgemeinerten Gleichheitssatz vgl. Kischei EuGRZ 1997, S. 1 ff.
30
Vgl. dazu Oppermann (Fn. 2), Rn. 491 ff.
31
Oppermann (Fn. 2), Rn. 497.
32
BVerfGE 89, 155 (175).
33
Vgl. BVerfGE 73, 339 (387) - Solange II.
34
Insoweit abweichend von BVerfGE 58, 1 (27) - Eurocontrol.
35
So schon Hilf: EuR 1991, S. 19 ff.; dazu Oppermann (Fn. 2), Rn. 495 ff.
36
Vgl. C. Nowak, Welche Verfassung für Europa? Bericht über ein Kolloquium des Europa-Kollegs Hamburg mit dem Titel „Welche Verfassung für Europa?", DVB1. 2000, S. 326; W. Schäuble/K. Lamers, Überlegungen zur europäischen Politik II. Zum Fortgang des europäischen Einigungsprozesses, vorgestellt am 3.5.1999 zu 3.0 (S. 15) „Europa braucht einen Verfassungsvertrag"; auch Oppermann (Fn. 2), Rn. 917, spricht von einem „permanenten Weg der EG-Verfassungsreform". 3
Vgl. Art. 23 Abs. 1 GG, Art. 88 Abs. 1 der Französischen Verfassung.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
213
GG, Struktursicherungsklausel) und eine verbleibende Verfassungs- und Staatsstruktur des Mitgliedstaates (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, Identitätsgarantie) vorschreibt und zur Bedingung der jeweiligen mitgliedstaatlichen Mitwirkung macht. Verfassungsrecht aber geht grundsätzlich allem anderen Recht vor. Die Europarechtsartikel der Staatsverfassungen beanspruchen insbesondere auch Vorrang vor dem primären Europarecht, weil sie Geltungsbedingung für Europarecht und des im parlamentarischen Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehls sind, das Europarecht also in diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben seine unübersteigbaren Grenzen findet. Allerdings endet die Gestaltungsmacht des nationalen Verfassungsrechts dort, wo eine andere Verfassung gilt. Der Geltungsbereich des Grundgesetzes findet dort seine Grenze, wo der Geltungsbereich der französischen, der niederländischen oder der dänischen Verfassung beginnt. Wer nunmehr der deutschen Verfassung eine europäische „Verfassung" entgegenstellt, beansprucht zumindest in der Terminologie eine Geltungsgrenze für das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht, würde damit die Struktur- und Identitätsgarantien der jeweiligen Europarechtsartikel in ihrer Verbindlichkeit bestreiten. Diese terminologische Verwirrung gilt es rechtzeitig abzuwehren, zumal das Europarecht dazu neigt, in seiner Begriffswahl — z.B. der „Europäischen" Gemeinschaft, des Europäischen „Parlaments", des Unions„bürgers" oder der „Wirtschafts- und" Währungsunion - in der Gegenwart einen Rechtsstatus zu beschreiben, der allenfalls in der Zukunft erreichbar ist. Dieser rechtliche Vorgriff auf eine ungewisse Zukunft durch geplanten Sprachgebrauch ist besonders problematisch, weil der mit vielen Zielbestimmungen durchsetzte Vertrag in seinen begrenzten Einzelermächtigungen oft nicht instrumental, sondern final gehandhabt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb die Grenzen zwischen der Wahrnehmung einer bestehenden, begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und einer Vertragsänderung nochmals betont38. Das Leitbild der europäischen Integration ist nicht ein zu schaffender Bundesstaat, sondern der bestehende Staatenverbund39. b) Rechtserkenntnisquellen Die Rechtsentstehens- und Rechtserkenntnisquelle für Grundrechte sind bisher die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, die das grundrechtsgebundene Gemeinschaftsorgan zu einer „wertenden Rechtsvergleichung" verpflichtet, die zunächst die unterschiedlichen Rechtsantworten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen feststellt und sodann die „beste" Lösung ermittelt, die im nationalen Recht auffindbar ist 40 . • s BVerfGE 89, 155 (210). Vgl. die eindrucksvolle Skizze bei Oppermann (Fn. 2), Rn. 914 ff. 40
Oppermann (Fn. 2), Rn. 491, 483.
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Würden nunmehr die Grundrechte in den Gemeinschaftsvertrag aufgenommen, entfiele diese stetige Wechselwirkung zwischen mitgliedstaatlicher und europäischer Grundrechtskultur im Sinne der „besseren" Lösung und würde durch die Anwendung eines vorrangigen Vertragsrechts ersetzt. Dieses bedarf sorgfältiger vertragspolitischer Prüfung, weil die europäische Rechtstradition gerade in den vom jeweiligen Staat verwirklichten Menschenrechten wurzelt, die Vielfalt der Menschenrechtskultur in den bisherigen und den zukünftigen Mitgliedstaaten sich als Antrieb zur stetigen Verbesserung eines effektiven Grundrechtsschutzes bewährt hat, im Übrigen die informellen Kooperationen der europäischen Verfassungsgerichte zielstrebig auf einen hohen europäischen Grundrechtsstandard hinwirken und dabei die wirtschaftlichen Freiheitsrechte integrieren. c) Bindung nur der Gemeinschaftsorgane Eine Erweiterung des Vertrages durch einen Grundrechtskatalog muss insbesondere klarstellen, dass die Grundrechte nur die Gemeinschaftsorgane binden, nicht aber die nationale Identität der Mitgliedstaaten in ihrer grundrechtlichen Verfasstheit berührt. Würden auch die Mitgliedstaaten gebunden, unterstünden ihre Organe - die Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, die Verwaltung und die Fachgerichtsbarkeit - der Grundrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Die Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte würde sich insoweit erübrigen. Dieser Verlust an Rechtsprechungskultur wäre besonders in den Staaten spürbar, in denen der demokratische Rechtsstaat durch die Verfassungsrechtsprechung sein konkretes Gesicht gewonnen hat und auch in Zukunft entwickeln wird. Für die Gemeinschaftsorgane fordert die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Union einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Im Rahmen dieses Maßstabes und des daraus folgenden Kooperationsverhältnisses könnte sich das Bundesverfassungsgericht zu der Prüfung veranlasst sehen, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Handhabung des europäischen Grundrechtskatalogs einen dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes vergleichbaren Schutz gewährt, wäre also auf die mittelbare - über die EuGH-Rechtsprechung vermittelte - Grundrechtskontrolle verwiesen.
d) Abwehr- und Teilhaberechte Schließlich wird ein etwaiger Katalog europäischer Grundrechte die Grundfreiheiten grundsätzlich als Abwehrrechte und nicht als Teilhaberechte ausgestalten müssen. Die Erfahrung der deutschen Grundrechtsprechung lehrt, dass dieser Ausgangspunkt einer Freiheit vom Staat, flankiert durch einen Gleichheitssatz
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
215
und durch begrenzte Teilhaberechte, insbesondere auf die Gewähr eines Existenzminimums, auf Gerichtsschutz, auf demokratische Teilhabe an der staatlichen Willensbildung, auf eine behutsame Abstützung der ökonomischen und organisatorischen Grundlagen individueller Freiheit, die Grundrechte als Kompetenzausübungsschranken festigt und eine Freiheitsintervention des Staates im Dienste staatlich zugeteilter „realer" Freiheit abwehrt. Der Amsterdamer Vertrag enthält allerdings in den Bestimmungen über die Sozialpolitik (Art. 136 bis 145 EGV), über den Europäischen Sozialfonds (Art. 146 bis 148 EGV), über die Beschäftigung (Art. 125 bis 130 EGV) sowie in den Vertragszielen des Art. 2 EGV bereits Gemeinschaftszuständigkeiten und Gemeinschaftsaufträge, die eine Handhabung der Grundrechte als Teilhaberechte nahe zu legen scheinen. Es bleibt zwar bei der Kompetenzregel, dass Sozialpolitik primär Aufgabe der Mitgliedstaaten ist (Art. 137 EGV). Dennoch begründete ein Katalog sozialer Teilhaberechte die Gefahr, dass die Grundrechte nicht mehr strikt als Schranken vorhandener Kompetenzen, sondern als Kompetenzbegründungsmechanismen gehandhabt werden, die eine materielle Teilhabe europarechtlich auch dort erzwingen, wo der Gemeinschaft eine Kompetenz fehlt. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Bundeswehr 41 zeigt, wie sehr der Wunsch nach einem materiellen Ergebnis das Verständnis für Kompetenzgrenzen in den Hintergrund zu drängen droht. Jedenfalls enthielte jeder Schritt zu sozialen Grundrechten oder zu Gewährleistungen außerhalb der Unionskompetenz, etwa des Strafrechts, den Auftrag, einen klaren Kompetenzkatalog zu regeln und somit die Praxis eines in der Rechtsunsicherheit gesuchten stetigen Kompetenzzuwachses zu beenden. 4. Gewaltenteilung Der Verfassungsstaat ist nach dem Gewaltenteilungsprinzip organisiert, das die staatliche Macht hemmt und mäßigt, aber auch den Entscheidungsgegenstand sachgerecht dem entscheidenden Organ zuordnet 42. In ihrem menschenrechtlichen Ursprung handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat und gibt dem Grundrechtsberechtigten in der dritten - der rechtsprechenden - Gewalt Waffengleichheit gegenüber Parlament und Regierung. Innerhalb des Demokratieprinzips wirkt die Gewaltengliederung mäßigend und ordnend insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen Gewaltenmonimus beanspruchen kann, vielmehr einen Kernbereich von Aufgaben jeweils dem Organ vorbehält, das nach Personal, Ausstattung und Verfah41 42
EuGH, EuGRZ 2000, 155.
BVerfGE 68, 1 (86) - Pershing-II; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 475 ff., 482; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1987, § 24 Rn. 50.
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ren diese Aufgabe am besten erfüllen kann43. In einem Zeitschema bedeutet Gewaltenteilung, dass die Gesetzgebung sich vorrangig der Zukunft widmet, die Verwaltung der Gegenwart, die Rechtsprechung der Vergangenheit 44. Dieses Gewaltenteilungsprinzip wird vom Grundgesetz ergänzt und erweitert durch eine bundesstaatliche Funktionenteilung zwischen Bundes- und Länderorganen, durch die auf Wiederwahl angelegte Labilität der Regierung und die vom Lebenszeitprinzip geprägte Stabilität der Verwaltung, auch durch die Finanzverfassung, die der Finanzmächtigkeit des Staates in einer gesonderten Funktionenordnung, aber auch durch Rechnungslegung und Rechnungskontrolle Schranken setzt. Dieser Gewaltenteilungsgedanke wird nun zusätzlich in der Zuordnung von europäischer und staatlicher Gewalt entfaltet. Die Aufteilung von Hoheitsgewalt auf Unionsorgane und staatliche Organe bewirkt - gewaltenbalancierend und Entscheidungskraft konstituierend - eine Funktionenteilung, die Kerninhalte der Gewaltenteilung modern zur Wirkung bringt. Innerhalb der Gemeinschaft bestätigt der Vertrag das Gewaltenteilungsprinzip im Europäischen Gerichtshof, der allen Maßstäben eines Rechtsprechungsorgans genügt45, kann allerdings im Übrigen die Gewaltenteilung in ihrer herkömmlichen Ausprägung nicht verwirklichen, weil der Staatenverbund durch die Regierungen der Mitgliedstaaten handelt, deswegen die gesetzgebende Gewalt und der Schwerpunkt der gubernativen Gewalt im Rat konzentriert ist 46 . In der Zeitdimension scheint der europäische Staatenverbund fast eine Gemeinschaft ohne Gegenwart. Der verfassungsrechtliche Rahmen der Integrationsermächtigungen drängt auf zukünftige Entwicklung, die Exekutivorgane sind wesentlich mit der Rechtsetzung befasst und geraten damit in den Sog der Zukunftsgestaltung, selbst der Europäische Gerichtshof geriert sich als Motor der Integration. Andererseits entwickelt die Europäische Gemeinschaft Organe der Verstetigung und Kontinuitätsgewähr, insbesondere die Europäische Zentralbank, den Europäischen Rechnungshof und eine ihren judiziellen Charakter betonende Europarechtsprechung der mitgliedstaatlichen Gerichte. Auch die Funktionenteilung zwischen europäischer Rechtsetzung und mitgliedstaatlichem Rechtsvollzug, zwischen europäischem Finanzbedarf und mitgliedstaatlicher Finanzplanung samt mitgliedstaatlicher Finanzfundierung wahrt eine neue Ausgewogenheit von Stetigkeit und Zukunftsgestaltung in Europa.
43 BVerfGE 68, 1 (86); P. Radura , Die Parlamentarische Demokratie, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1987, § 23 Rn. 6; vgl. auch E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, ebd., § 22 Rn. 87 ff. 44
BVerfG vom 11.11.1999, EuGRZ 1999, 617 ff. - Länderfinanzausgleich.
45
BVerfGE 73, 339 (367 ff.).
46
Vgl. Oppermann (Fn. 2), Rn. 243.
Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU
217
Auch hier erfüllt das Zusammenwirken von Mitgliedstaat und Staatenverbund ein Verfassungsprinzip in neuer, wirksamer Fortbildung. Der Staat und der Staatenverbund stehen in einem Kooperationsverhältnis, das im Verfassungsstaat seinen Ursprung und seinen rechtlichen Rahmen findet, in den Staatsvölkern seine Widmung und Verantwortlichkeit, im Gemeinschaftsvertrag seine konkreten Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse.
IV. Der Staat in Europa Die Europäische Union verdient ihren Namen nur deshalb, weil sie auf eine Mitgliedschaft letztlich aller europäischen Staaten angelegt ist. Dies setzt voraus, dass alle europäischen Staatsvölker zu ihrem demokratischen Verfassungsstaat finden und dann freiwillig die Mitgliedschaft übernehmen. Die Folge dieser erwarteten Entwicklung ist, dass sich der Staat in Europa in Zukunft als ein dem europäischen Staatenverbund zugehöriger Staat definiert. Diese Mitgliedschaft ist dann ein typisches Merkmal des Staates in Europa. Der Staat ist nunmehr die Organisationsform politischer Macht und ihrer rechtlichen Mäßigung, die dem Geflecht von Staatsvolk, Privatwirtschaft, Kulturgesellschaft, Staatenverbund und Völkerrechtssubjekten eine politische und normative Mitte gibt. Wenn sich die herkömmliche Aufgabenteilung zwischen freiheitsverpflichtetem Staat und freiheitsberechtigter Gesellschaft zu einem Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Kulturgesellschaft entwickelt, die Verpflichtung des Staates auf universale Menschenrechte in den Bindungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und gemeinschaftsrechtlicher Freiheitsgewährleistungen Konkretheit und Geltungskraft gewinnt, wenn die Völkerrechtsoffenheit der europäischen Staaten zu einer Mitgliedschaft in dem europäischen Staatenverbund verdeutlicht und verdichtet wird, wenn die Entwicklung des Wirtschaftswesens, der Medien, der Wissenschaft und Technik, des Freizeitund Reiseverhaltens die Menschen über die Staatsgrenzen hinweg in Begegnung und Austausch bringen, wenn die herkömmlichen Handlungsmittel von Rechtsetzen, Rechtsvollzug und Rechtskontrolle ergänzt und modifiziert werden durch die Instrumente staatlicher Finanzmacht und seiner medienvermittelten Wortmächtigkeit, so schreitet das Staats Verständnis mit dieser Entwicklung mit und gibt den auseinanderstrebenden, dynamischen Kräften einen verfassungsrechtlich verstetigten Halt. Der Verfassungsstaat gewinnt in diesem Netzwerk von Rechtsbeziehungen seinen Ausgangspunkt und seine Widmung im jeweiligen Staatsvolk, bündelt diese Rechtsbeziehungen in einer einheitlichen Entstehens- und Erkenntnisquelle seiner Verfassung, führt die Entwicklung beweglicher Kompetenzen und Befugnisse auf eine rechtsstaatliche und demokratische Verantwortlichkeit in diesem Verfassungsstaat zurück.
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Der Staat ist damit wieder auf seine ursprüngliche Aufgabe verwiesen: Er wahrt den Zusammenhalt des Staatsvolkes, vermittelt eine innere Friedensordnung im Staatsvolk sowie zwischen den Staatsangehörigen und den übrigen Menschenrechtsberechtigten, sichert die Teilhabe des Staates in einer internationalen Wirtschafts-, Friedens- und Begegnungsordnung, garantiert individuelle Existenz und Teilhabe nach den Standards einer weltoffenen, aber konkret verfassten Gesellschaft, wahrt das Gemeinwohl in staatlicher Mächtigkeit gegenüber der Wirtschaft und kulturgesellschaftlichen Gruppen, garantiert eine verständliche und menschenrechtsgerechte Rechtsordnung, wirkt als Verstehensmittler in einer auf Wachstum, technische Erneuerung, weltumspannende Begegnung angelegten Welt. In der Vielfalt und in der Eigenart des Pluriversums der Staaten bietet jeder Staat seinen Staatsangehörigen Heimat, Zuflucht, eine vertraute Rechts- und Kulturordnung, sozialstaatliche Zugehörigkeit zu den wirtschaftlichen und kulturellen Standards. Der Bürger ist gegenwärtig mehr denn je auf seinen Staat verwiesen, mag dieser auch leichter Hand weniger als geschlossene Ordnung denn als Mittler vielfältiger und sich überschneidender Rechts- und Lebenskreise auftreten.
Regulierungsleistungen und Politikverflechtungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung Von Georgios Papastamkos
I. Allgemeines Die EG-Wirtschafts„verfassung" befindet sich in einem dauerhaften Aushandlungsprozeß („unvollständige Verfassung" 1), der von den mitgliedstaatlichen Präferenzen zur europäischen Verfassungspolitik 2 einerseits und der bereits konsolidierten Eigendynamik des Einigungswerkes andererseits geprägt ist. Ungeachtet zahlreicher Beiträge zu Richtungsdebatten, besonders in deutscher Sprache, bleibt das ökonomische Ordnungsmodell der europäischen Integration im Mittelpunkt der wirtschaftlichen und politischen Diskussion in Europa. Dynamik und Fortentwicklung des EG / EU-Systems haben ihm Anziehungskraft verliehen, selbst gegenüber Staaten, die ursprünglich zu miteinander im Wettbewerb stehenden Systemen gehörten. Nicht nur das. Der EG-Raum selbst war es, der bekräftigen wollte, daß er sich aufwerte und Ziele stütze, wie Freiheit, Demokratie, Solidarität und wirtschaftlicher Wohlstand. In der EG-Gründungszeit wurde tatsächlich der Wirtschaftsintegration als Antriebskraft Priorität gegeben, die später auch die politische Integration nach sich ziehen sollte. Doch dem Vorhaben der Schaffung einer europäischen Integration fehlten von Beginn an weitere Parameter (z.B. der kulturelle), die eine ebenso sichere Grundlage des Integrationsprozesses bilden würden. Auch der weitere Einigungsweg Europas war weder geradlinig noch vorbestimmt. Endogene und exogene Faktoren übten ihren Einfluß auf den Fortschritt der EG aus. Abweichungen von den ursprünglichen Zielen, Perioden des Stillstandes, institutionelle und politische Krisen, aufeinanderfolgende Erweiterungen, strukturelle und makroökonomische Probleme, die wiederholte Neubelebung von nationalen Interventionsmethoden, Praktiken und Beharrlichkeiten belegen mit Nachdruck die Notwendigkeit, die durch die mangelnde Vollendung der Integration entstehenden Kosten - trotz Übergangs zu höheren Integrationsebenen 1 2
So T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 928.
Vgl. W. Wagner, Interessen und Ideen in der europäischen Verfassungspolitik. Rationalistische und konstruktivistische Erklärungen mitgliedstaatlicher Präferenzen, PVS 1999, 415 ff.
220
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durch die EU-Konstituierung - zu beseitigen. Der Übergang des gemeinsamen europäischen Gefüges zu höheren und stabileren Phasen von Wirtschaftsintegration, politischer Tätigkeit und institutioneller Organisation (EEA, EUV, EUV / Amsterdam) hatte für die Mitgliedstaaten offensichtlich nicht denselben Ausgangspunkt. Trotz gemeinsamer Erkenntnisse bzw. thematischer Überlappungen trugen die Mitgliedstaaten verschiedene Vorstellungsbilder bezüglich der Gestaltung und des Fortganges des Integrationsmodells, der Prioritätensetzung bzw. -gewichtung, der Besitzstandserweiterung und der Vergemeinschaftungsintensität in ihrem Verhandlungsgepäck mit. Die Verhandlungsposition jedes Mitgliedstaates wurde wie immer durch seine besonderen Erwartungen bestimmt. Dem Ist- und Sollzustand der europäischen Integration sollten zwei Annahmen zugrunde gelegt werden: Erstens ist die Herangehensweise des europäischen Modells mit Abstraktionen wie „Bundesstaat", „Staatenbund", „Zweckverband funktioneller Integration" (Ipsen 1972), „parastaatliche Superstruktur" (Oppermann 1977) u.a.m. begründet, insofern dieses Modell bewußtes Denken und praktisches politisches Planen reflektiert 3. Nicht zu übersehen ist auch die Selbstregulierung und Eigendynamik des Modells, d.h. dessen organisches Zusammenwachsen bzw. die Eigenart des Integrationsmodells und sein offenes Endziel. Würden die Voraussetzungen für die Schaffung einer „europäischen verfassunggebenden Gewalt" vorliegen, könnten weitgehende und konkrete Integrationsmodelle aktiviert werden. Dies bedeutet aber nicht, daß die Träger der jeweiligen Revisionsgewalt fern von Verfassungsmodellen und -Überlieferungen stehen. Zweitens gibt es nützliche Vorschläge zu ergänzenden, korrektiven bzw. innovativen Integrationsmodellen, obwohl der Entwicklungsprozeß des Integrationsmodells mit wenigen Ausnahmen nicht von einer kohäsiven Integrationsideologie bestimmt worden war. Insoweit ist jedoch folgender Vorbehalt zu machen: Aufbau-, Struktur- und Funktionsvorschläge zu irgendeinem Modell stoßen nicht mehr auf ein Euphoriegefühl (begründet auf Überlegungen kollektiver Sicherheit und wirtschaftlichen Wachstums) der ursprünglichen „Europaideologie", sondern suchen sich gegen ein pragmatisches Verständnis zu behaupten, wonach der Mitgliedstaat (durch Übertragung von Kompetenzen) zum Integrationsprozeß beiträgt und von ihm (durch Kontrolle des jeweils Übertragenen) gestärkt wird.
3
Für D. 77z. Tsatsos, Die Europäische Unionsordnung. Grundsatzfragen und fünf Anregungen zum Umdenken anläßlich der Regierungskonferenz 1996, EuGRZ 1995, 291 (scheint) also die Polarisierung der Diskussion zwischen der Bundesstaatslösung und den Gegnern dieser Lösung eine überflüssige und blickentschärfende Belastung der Sachproblematik zu sein.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
221
II. Supranationale und nationale Strukturen Das Binnenmarktprojekt und noch stärker die Einführung des Euro signalisieren den Ansatz eines europäischen ordo oeconomicus, der neben der Europäisierung der Wirtschaftssysteme eine soziale, institutionelle und politische Neuordnung mit sich bringt. Die europäische wirtschaftliche Rechtsordnung und Politik gehen über die jeweilige nationale hinaus. Vom traditionellen Staat wird direkt auf die supranationale Institution die steuernde Wirtschaftsverwaltung übertragen. Indirekt wird von den supranationalen Entscheidungstrukturen kontrolliert 4 , was sich die Mitgliedstaaten vorbehalten haben. Der Grad von Einfluß und Kontrolle differiert von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Es hat sich ein neuer, emphatischer Modus der europäischen Integration gebildet, der aus einer innovativen und wahlweisen Regulierung der Wettbewerbsverhältnisse innerhalb einer technisch- und marktorientierten „Stabilitätsgemeinschaft" besteht5. Durch die zunehmende Vergemeinschaftung bezieht das europäische makroregionale System immer mehr wirtschaftsbezogene Felder und sozialpolitische Faktoren in ein konzentriertes Regelungssystem ein, das sich zur Marktwirtschaft hin orientiert 6. Die europäische Zentralgewalt besteht aus der Rechtsbestimmung des europäischen Wirtschaftsraums und folglich aus der Homogenisierung der Natur, der Prinzipien, Zielsetzungen, Funktionen und den jeweiligen Regeln der nationalen Wirtschaftssysteme, aus der Erfassung und Planung eigener Integrations- bzw. Koordinationsprojekte, Politiken und Aktionen sowie aus redistributiven Zuständigkeiten (Strukturfonds, Wettbewerbsförderung) 7. Je mehr eine sektorale Politik Einzug hält, desto mehr werden die Politikbildungsprozesse durch supranationale bzw. intergouvernementale (je n a c h Intensität der Integration oder der Zusammenarbeit) regierungsübergreifende Bündnisse zwischen subnationalen, nationalen und supranationalen Akteuren gekennzeichnet. Die regulierende Intensität und Verbindlichkeit der Integration ruft die Formierung von supranationalen Interessen Vertretungsstrukturen hervor. So vermochte die Priorität der Marktintegration eine schnellere und effektivere Vertretung der Unternehmensinteressen durch europäische internationale Organisationen (z.B. UNICE) hervorzubringen als die Arbeitnehmervertretung. Die schwächere Konstitutionalisierung der europäischen Sozialpolitik hat die Intensi4 Vgl. N. Skandamis, Staat, Recht und Gesellschaft im integrierten Europa (gr.), Athen 1994, S. 9. 5
Vgl. H-J. Bieling/F. Deppe, Internationalisierung, Integration und politische Regulierung, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 496. * Vgl. M. Felder, Die Krise des EG-Systems und Perspektiven seiner Weiterentwicklung in den neunziger Jahren, in: F. Deppe/M. Felder (Hrsg.), Zur Post-Maastricht-Krisc der Europäischen Gemeinschaft (EG), FEG-Arbeitspapier Nr. 10, 1993, S. 70 ff. 7
Vgl. Bieling/Deppe
(Fn. 5), S. 496.
222
Georgios Papastamkos
tät der institutionellen Strukturierung der Arbeitnehmervertretung auf europäischer Ebene beeinflußt. Desgleichen wurde der Übergang zur Währungsunion weitgehend durch die institutionalisierte Struktur des EWS beeinflußt 8 und von der Notwendigkeit eines tatsächlich einheitlichen Wirtschaftsraums bestimmt. Zentrales Ziel des europäischen Integrationsprozesses ist die Schaffung einer Wirtschaftsordnung mit dem Binnenmarkt und dessen Währungssicherung im Mittelpunkt. Binnenmarkt bedeutet Homogenisierung und Verschmelzung der nationalen Märkte miteinander. Die Perspektive der europäischen Integration wird in diesem Fall nicht als vertikales Verhältnis zwischen supranationaler und nationaler Aktionsebene, sondern als horizontales Arbeitsteilungsverhältnis zwischen Markt und Staat begriffen. Was als „gute" Aufgabenteilung gelten mag, ist nicht unabhängig von dem, was als „richtige" Aufgabenteilung zwischen Markt und Staat angesehen werden könnte9. In der europäischen Strategie wird Priorität derjenigen Wirtschaftsordnung gegeben, die den Nationalstaat auffordert, die Funktion des freien Marktes zu sichern und darin aus eigener Initiative nicht zu intervenieren 10. Die „verfassungsmäßige" Wirtschaftsgewaltenteilung verlangt von der EG, die ökonomischen Grundfreiheiten, den Binnenmarkt, den unverfälschten Wettbewerb, die Wirtschafts- und Währungsdisziplin zu sichern, wobei der Nationalstaat seine entsprechenden Politikbereiche stets unter der Voraussetzung der Offenheit der Märkte zu gestalten hat11. Eingriffen zum Schutz der Wirtschaftsinteressen gegen tatsächliches oder vermeintliches Marktversagen wird der Begriff „Wirtschaftsregulierung" vorbehalten. Die Rechtfertigung der Wirtschaftsregulierung bezieht sich auf das vertikale Verhältnis zwischen Gemeinschafts- und nationalem Recht. Das Gemeinschaftsrecht wird als Instrument der wirtschaftlichen „Deregulierung" dargestellt, um das nationale Recht durch ein Regime des freien Wettbewerbs zu ersetzen. Im Deregulierungsablauf sieht sich die EG nicht nur mit Interessengruppen „konfrontiert", sondern auch oft mit denjenigen Mitgliedstaaten, deren ad hoc Positionen mit Bedingungen des nationalen Wirtschaftsinteresses, der sozialpolitischen Auswirkungen u.a.m. interpretiert werden 12. Das Gemeinschaftsrecht aber kann die Abschaffung nationaler Regeln mit einer Re-Regulie8
Vgl. Th. Risse-Kappen , Exploring the Nature of the Beast. International Relations Theory and Comparative Policy Analysis Meet the European Union, JCM Studies 1 / 1996, 66. 9
Vgl. Ph. GenscheU Markt und Staat in Europa, PVS 1998, 57.
10
Für diesen ordoliberalen Ansatz vgl. Genschel (Fn. 9), S. 59.
11
So E.-J. Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, in: R. Hasse/J. Molsherger/ Ch. Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit. FS für H. Willgerodt zum 70. Geburtstag, 1994, S. 274. 12
Vgl. Ch. Joerges, Die Europäisierung des Wirtschaftsrechts, in: Die Entwicklung der EG zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion unter der Sonde der Wissenschaft, 1993, S. 39 f.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
223
rung auf europäischer Ebene verbinden oder die nationale Rechtssetzung anerkennen13. Die Re-Regulierung auf Gemeinschaftsebene, die auf den ersten Blick als Fortschritt des Integrationsprozesses erscheint, erklärt sich auch durch übereinstimmende Interessen. Bei der Realisierung einer Gemeinschaftsregelung spielt auch die Anerkennung eines gemeinsamen äußeren Wirtschaftsinteresses eine wichtige Rolle 14 . Unabhängig davon, ob es sich um Regulierung oder ReRegulierung handelt, behält sich der Mitgliedstaat wohlgemerkt das direkte bzw. indirekte Mitwirkungsrecht auf allen Ebenen der EG-Entscheidungsprozesse vor, angefangen von der Verarbeitung und Formulierung der politischen Ziele bis zu deren Realisierung 15. Auf immer mehr spezifischen Feldern überschreiten Politikvereinbarungen in unterschiedlich bindender Intensität die supranationale Stufe der EG und werden in „internationalen Regimen" ausgehandelt16. Der Nationalstaat wird institutionell bzw. real zu Lasten einer autonom geformten Innenpolitik ausgehöhlt. In wachsendem Maß wird Re- bzw. Deregulierungspolitik in Mehrebenensystemen supranationalen oder globalen Charakters gestaltet. Die als „Globalisierung" bezeichnete wachsende Entgrenzung der politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten verändert das Kräftegleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft zugunsten der Wirtschaft und hinterläßt ein politisches Vakuum 17 . Der Nationalstaat tritt in bezug auf Aktions- und Lenkungsfahigkeit zugunsten der Marktkräfte zurück 18 . Das Auftauchen von Unternehmen und der Rückzug des Staates19, besonders im finanzwirtschaftlichen Bereich und in der Produktionsinternationalisierung, zeigt den Kontrollverlust der politischen Instrumente seitens des Staates. Der Staat wird „von außen her" und demnach „von innen her" entmächtigt 20 . Diese „Ermächtigung" des Staates läßt die logische Frage aufkommen, inwiefern die EG bestimmte, mit dem Nationalstaat einhergehende Funktionen lieber selbst übernehmen sollte. Dabei geht es um den politischen EU/EGCharakter, wie er sich in folgenden Denkschulen formt: die Euroskeptiker, die Markteuropäer, die Euroföderalisten und die Befürworter einer „global gover13
Vgl. statt anderer Joerges (Fn. 12), S. 38 f.
14
Vgl. Joerges (Fn 12), S. 40.
15
Vgl. J. Weiler, The Community System. The Dual Character of Supranationalism, Yearbook of European Law 1 /1981, 267 ff. 16
Vgl. S. Lütz, Die Rückkehr des Nationalstaates? Kapitalmarktregulierung im Zeichen der Internationalisierung von Finanzmärkten, PVS 1997, 475. 17
Vgl. Lütz (Fn.16).
IX
Vgl. V. Cable , The Diminished Nation-State. A Study in the Loss of Economic Power, Daedalus 1 /1995, 23 ff. 19
Vgl. V. Schmidt , The New World Order, Incorporated. The Rise of Business and the Decline of the Nation-State, Daedalus 1 /1995, 75 ff. 20 Vgl. B. Jessop, Veränderte Staatlichkeit, in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 68.
224
Georgios Papastamkos
nance"21. Trotzdem wird der EU /EG-Mitgliedstaat durch den supranationalen Bogen weder überholt noch vollständig von der gesellschaftlichen Selbstorganisation ersetzt („reflexive Subpolitisierung der Gesellschaft") 22 bzw. durch die Internationalisierung der gesellschaftlichen Aktionsformen aufgehoben 23. Er unterliegt aber den Erschütterungen aus den mannigfaltigen Entscheidungsfindungsebenen und aus der unkontrollierbaren Funktion der globalisierten Wirtschaft. In der Tat wird die traditionelle (autonome) nationale Wirtschaftspolitik abgeschwächt. Die Mannigfaltigkeit der europäischen Entscheidungs- und Legitimationsebenen ist gekennzeichnet durch die Tendenz zur Verflachung staatlicher und regionaler und zum Entstehen europäischer Grenzen. Die staatlichen Grenzen erleben den (institutionellen oder realen) Druck zur Öffnung in die Globalität durch die kooperative „Expansion" des Europäischen / Supranationalen auf Kosten des Nationalen und durch die „Forderungen" von nationalen Untergliederungen (Regionen, Selbstverwaltung). Innerhalb der EU übergibt der Staat Zuständigkeiten an die EG- bzw. EU-Ebene. Im Verlauf des Integrationsprozesses manifestiert sich die Fähigkeit des Mitgliedstaats nicht so sehr im Sinne der Handlung als im Sinne der Verhandlung. Auf (national)staatlicher Ebene ist eine progressive Tendenz zur Ermächtigung subnationaler (konsolidierter bzw. neugeschaffener) Akteure bei der Machtverwaltung zu beobachten. Auf Tendenzen zum Rückzug aus der politischen Kontrolle und des Verlusts der Verantwortung des Sozialstaates reagiert der EU/EG-Mitgliedstaat u.a. mit vertikaler Abgrenzung seiner Zuständigkeiten in Anlehnung an das Subsidiaritätsprinzip 24. Setzt man sich wieder mit der Frage des Verhältnisses zwischen dem Staat und den globalisierten Marktkräften auseinander, stellt man fest, daß selbst Märkte mit großer Mobilität zu ihrer Selbstorganisation tendieren 25. Wegen der zunehmenden Relevanz von nicht-staatlichen Akteuren für politische Regulierungsleistungen stellt sich die Frage nach der Beschaffung von neuen Legitimitäts- bzw. Legitimierungskonzepten 26 einer politisch anonymen Globalordnung. Die Bekräf21 So J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, BldintPol. 1998, S. 813. 22
So U. Beck, Die Erfindung des Politischen, 1993, S. 216.
23
Vgl. M. Zürn, Jenseits der Staatlichkeit. Über die Folgen der ungleichzeitigen Denationalisierung, Leviathan 1992, 508; G. Zellentin, Staatswerdung Europas? Politikwissenschaftliche Überlegungen nach Maastricht, in: R. Hrbek (Hrsg.), Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse, 1993, S. 49. 24
Vgl. Zellentin (Fn. 23), S. 50.
25
Das Eigentumsrecht kann ohne Absicherung nicht bestehen. Es müssen Regeln aufgestellt und beaufsichtigt werden; vgl. R. Bayer, State and Market. A new engagement for the twenty-first century?, in: R. Boyer/D. Drache (Hrsg.), States Against Markets. The Limits of Globalization, London 1996, S. 110. 26 Vgl. Ch. von Haldenwang, Staatliches Handeln und politische Regulierung. Die Legitimität politischer Ordnungen im 21. Jahrhundert, PVS 1999, 366 f.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
225
tigung der bestehenden internationalen und die Verabschiedung neuer Regeln stand auf der Tagesordnung einer neuen Verhandlungsrunde im Rahmen der WTO, der sog. Millennium-Runde, deren Eröffnung in Seattle erfolglos verlief 27 . Es wurde die Rückkehr des Nationalstaates zwecks monopolistischer Ausübung einer legitimierten Gewalt innerhalb des eigenen Staatsgebiets gefordert, um hauptsächlich die Transparenz, die Gleichbehandlung, den freien Marktzugang und Sanktionen bei Verletzung der Regeln zu sichern 28. Vertikal gesehen ist der Nationalstaat Teil des europäischen bzw. internationalen Mehrebenensystems, innerhalb dessen die nationalen Regierungen und Verwaltungsbehörden über eine regulative Politik der bi- und multilateralen Kooperation Verhandlungen führen 29. Das wachsende Ebenen- und Entscheidungsdilemma findet einen Ausweg in der horizontalen und vertikalen „Verflechtung" bzw. „Fusion" der Handlungsinstrumente von Regierungen und Verwaltungen der Wohlfahrts- und Sozialstaaten mit dem Gemeinschaftssystem (Fusionsthese)30. Die Aktivierung von nationalen Handlungsinstrumenten in der EG ist Index und Faktor zugleich für die weitere Entwicklung der Staatlichkeit des Mitgliedstaats31.
III. Das EG-Wirtschaftsmodell Die „Wirtschaftsverfassung" der Gemeinschaft 32, ein engerer Begriff als die EG-Wirtschaftsordnung 33, erschien in der Europa-Literatur, lange bevor das EGWirtschaftsmodell durch den Maastrichter Vertrag deutlich wahrgenommen 27 Die EG gehört zu den energischsten Befürwortern einer neuen Handelsverhandlungsrunde; s. EC Commission, The EU Approach to the Millenium Round, Brussels, 8.7.1999; Rat, WHO: Schlußfolgerungen, Sondertagung, Seattle, 3.12.1999, Press Release Nr. 226/1/99. 28
So R. Bover/D. Drache , Introduction (Fn. 25), S. 3.
2Q
Der Nationalstaat ist ebenfalls Träger von operativen Aufgaben der Marktüberwachung, Lütz (Fn. 16), S. 493. Über Variationen von Mehrebenenstrukturen der europäischen Politik in unterschiedlichen Politikfeldern s. A. Benz, Politikverflechtung ohne Politikverflechtungsfalle - Koordination und Strukturdynamik im europäischen Mehrebenensystem, PVS 1998, 566 ff. 30
So W Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration. Die Fusionsthese, in: M. Kreile (Hrsg.), Die Integration Europas. PVS Sonderheft 23, 1992, 36 ff.; W. Wessels, Auf dem Weg zur Staatswerdung? 27 politikwissenschaftliche Anmerkungen, in: Hrhek (Fn. 23), S. 66-67. 31
Wessels, Auf dem Weg zur Staatswerdung? (Fn. 30), S. 67.
32
Vgl. J. Pelkmans, European Integration. Methods and economic analysis, New York 1997, S. 29 f f ; ferner Ordnungspolitische Aspekte der europäischen Integration: Freiburgs Botschaft für ein offenes Europa, 1. Freiburger Wirtschaftssymposium, 1996, mit Beiträgen u.a. zur EG-Verfassungsdiskussion. 33
Vgl. T. Oppermann, Europarecht (Fn. I), Rn. 927.
15 FS Oppermann
Georgios Papastamkos
226
wurde 34. Dasselbe gilt fur die „Marktwirtschaft" als EG-Wirtschaftsverfassungsprinzip. Eine klare Ausrichtung zur Marktwirtschaft zeigt sich in den nachfolgenden Zielsetzungen der E(W)G 35 : -
Förderung einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens in der ganzen Gemeinschaft, hohes Beschäftigungsniveau und hohes Maß an sozialem Schutz, Gleichstellung von Männern und Frauen, beständiges, nichtinflationäres Wachstum, hoher Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Bei der Gründung der EWG hat es noch keinen Konsens über ein bestimmtes Wirtschaftsmodell gegeben36. Die verschiedenartigen Ansätze seit der EWGGründung bis zur Verabschiedung des EUV haben zu einer vielfältigen wissenschaftlichen (und zwangsläufig auch politischen) Diskussion über die EG-Wirtschaftsverfassung (Wirtschaftsordnung) geführt, wobei die verschiedenen Positionen von der totalen Ablehnung einer solchen „Verfassung" über die wirtschaftliche Neutralität bis zu Vorschlägen konkreter (von einander verschiedener) Modelle hin variierten 37. Der Binnenmarkt bereichert das EG-Wirtschaftsmodell; er beinhaltet die qualitative Erweiterung der Marktfreiheit und -gleichheit sowie die gemeinschaftsinterne Wettbewerbsfreiheit und trägt zur Stärkung der „Extrovertiertheit" des europäischen Marktes bei 38 . Selbst bei umfassender Regelungsfahigkeit 34 Vgl. C. F. Ophüls, Grundzüge europäischer Wirtschaftsverfassung, ZHR 1962, 136 ff.; J. Scherer, Die Wirtschaftsverfassung der EWG, 1970, besonders S. 201 ff.: „EWGVerfassung: Rechtlicher Rahmen für verschiedene Wirtschaftssysteme" (S. 201); M. Zuleeg, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: Arbeitskreis Europäische Integration (Hrsg.), Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, 1978, S. 73 ff.: „EGKS- und E WG-Vertrag verpflichten zur Ordnungspolitik im Sinne der ordoliberalen Schule", S. 99; T. Oppermann., Europäische Wirtschaftsverfassung nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in: P.-Ch. Müller- Graff / M. Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG, 1987, S. 53 ff. 35
Art. 2 EGV.
36
Vgl. Arbeitskreis Europäische Integration (Fn. 34), S. 101, 102, 105 (Diskussionsbeiträge G. Ni co lay sen, R. Hrhek , Η. Schneider). 37
Zusammenfassende Darstellung von D. Rahmsdorf Ordnungspolitischer Dissens und europäische Integration, 1982, S. 10 ff. 38 Vgl. K.-D. Borchardt, S. 206 ff.
Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 1996,
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
227
vermag er jedoch allein, von selbst kein Wirtschaftsmodell mit „Verfassungskompetenzen" ins Leben zu rufen. Einen neuen Impuls erfuhr die wissenschaftliche Diskussion um die „Europäische Verfassung" allgemein und die EG-„Wirtschaftsverfassung" 3g insbesondere durch die Verhandlungen und die Verabschiedung des EUV. „Man braucht die Verfassungsvorstellung nicht notwendig im Sinne des demokratischen Verfassungsprozesses auf nationalstaatlicher Ebene zu verstehen. Europäische Verfassung, das kann die hinreichend legitimierte Schöpfung oberster Normen bedeuten, die eine neugeschaffene europäische Einrichtung konstituieren" (Oppermann)40. Ausdrücklich wird auf das EG-Wirtschaftsmodell - sogar auf der Ebene einer Grundnorm - im EGV hingewiesen: „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" 41. Auf denselben Grundsatz, „wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird", trifft man im Titel über „die Wirtschafts- und Währungspolitik" des (durch den EUV) geänderten EGV 42 . Damit hängt auch die Formulierung für „ein System offener und wettbewerbsorientierter Märkte" 43 zusammen. Der Begriff „Marktwirtschaft" erscheint sowohl in Texten über die europäischen Außenbeziehungen in der Form der Konditionalitätsklausel in wirtschaftlicher Hinsicht 44 als auch in der EuGHRechtsprechung 45. Der konkrete Inhalt des Prinzips der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb wird nicht auf der Prinzipienebene des EGV, sondern durch eine Gesamtschau auf die entsprechenden Bestimmungen klargestellt. Unklar bleibt dabei sowohl der funktionale als auch der räumliche Geltungsbereich dieses Prinzips 46, da die allgemeine Wirschaftspolitik der richtungs3g Vgl. J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992, S. 26 ff.: E.-U. Petersmann, Grundprobleme der Wirtschaftsverfassung der EG, Außenwirtschaft 1993, S. 389 ff.; Mestmäcker, in: Hasse/Molsberger/ Watrin (Fn. 11), S. 263 ff.; P. Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: G. Brüggemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S. 73 ff.; Genschel (Fn. 9), S. 59 ff.; M. Dreher, Der Rang des Wettbewerbs im europäischen Gemeinschaftsrecht, WuW 1998, S. 657 ff. 40
So T. Oppermann, Der Maastrichter Unionsvertrag - Rechtspolitische Wertung, in: R. Hrhek (Fn. 23), S. 107. In diese Richtung s.a. EuGH, Slg. 1991, S. 1-6102, Gutachten 1/91. 41
Art. 4 (ex-Art. 3a) EGV.
42
Art. 98 (ex-Art. 102a) und 105 Abs. 1 EGV: „Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft handeln (das ESZB handelt) im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und halten (hält) sich dabei an die in Artikel 4 genannten Grundsätze." 43
Art. 154 und 157 (ex-Art. 129b Abs. 2 und 130 Abs. 1) EGV.
44
Vgl. z.B. die sogenannten „Kopenhagen-Kriterien" für den EU-Beitritt der zentralund osteuropäischen Länder. 45 4(1
15*
EuGH (Spanien/Kommission, C 278-280/92), Slg. 1994, S. 1-4153. Vgl. P.-Ch. Müller-Graff\
Die wettbewerbsverfaßte Marktwirtschaft als gemein-
Georgios Papastamkos
228
gebenden Koordinations- und Aufsichtszuständigkeit der Gemeinschaft unterliegt 47 , und der EGV - um einen wichtigen Bereich der nationalen Wirtschaftverfassungen zu nennen — „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt läßt" 48 . Mit der Etablierung des Binnenmarktes wurden Konvergenzen und Divergenzen sichtbar, die der Gestaltung und Weiterentwicklung des EG-Wirtschaftsmodells immanent sind. Das Streben nach Konvergenz der verschiedenartigen Konzepte der Mitgliedstaaten in bezug auf eine europäische Ordnungspolitik d.h. in bezug auf sämtliche Gemeinschaftspolitiken des Wirtschaftsverfassungsmodells, die den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Funktionsrahmen der Marktprozesse gestalten 49 - stieß damals wie heute in einzelnen Sektoren auf abweichende nationale Orientierungen in der Innen- und Außenwirschaftspolitik sowie im Hinblick auf das Ausmass und die Intensität der Politikintegration 50. Marktorientierte Grundsätze und Elemente der zentral geführten Wirtschaftsfunktionen — einige davon sogar konstitutionalisiert, wie die Kohle- und Stahlindustrie, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Umwelt- und letzlich teilweise die Industriepolitik - sind dem EG-Wirtschaftsmodell inkorporiert und bestimmen es als „gemischte Wirtschaft" mit der Marktwirtschaft im Vordergrund 51. Das EG-Wirtschaftmodell ist auf die Wirtschaftssubjekte (private bzw. öffentliche Unternehmen) ausgerichtet, beinhaltet jedoch nicht eine primäre Norm über die zu verfolgende Wirtschaftspolitik 52. Es stützt sich eher auf die Annahme, daß die Marktergebnisse die Qualität der Politik und die Notwendigkeit hervorheben, das politische Handeln entsprechend anzupassen53. Die Ausübung der Wirtschaftskompetenz seitens der Mitgliedstaaten und der EG aufgrund der richtungsweisenden Formulierung über „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungseuropäisches Verfassungsprinzip?, EuR 1997, 440; R. Bandilla, Art. 3a EGV, in: E. Grabitz/M. /////'(Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Lbl. Stand 12. Erg.-Lfg. 1998, S. 3. 47
Art. 102 ff. EGV.
4K
Art. 295 (ex-Art. 222) EGV.
4g
Ordnungspolitische Orientierung haben u.a. die Beiträge im Sammelband von E-J. Mestmäcker / H. Möller/H.-P. Schwarz (Hrsg.), Eine Ordnungspolitik für Europa. FS für H. von der Groeben zu seinem 80. Geburtstag, 1987, S. 9 ff. 50 van Scherpenberg, Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt, in: FS v. d. Groeben (Fn. 49), S. 345 f. 51 Vgl. Oppermann, Europarecht (Fn. 1 ), S. 352, und V. Skandamis, Europarecht (gr.), 3. Aufl. Athen 1997, S. 362. 52
So Skandamis. Staat, Recht und Gesellschaft (Fn. 4), S. 260.
Vgl. W. Hankel/W. Solling; Κ. A. Schachtschneider /J. Starhatt\\ Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, S. 55.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
229
bilanz" M zeigt eine „Stabilitätsgemeinschaft" an, die als Prinzip in Art. 2 EGV in der konsolidierten Fassung des EUV/ Amsterdam verankert ist. Es ist dasselbe Prinzip, welches das EG-Wirtschaftsmodell („Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb") unter dem Vorbehalt „des effizienten Einsatzes der Ressourcen" relativiert 55. Die Wirtschaftsstabilität ist die notwendige Voraussetzung der „Sozialität" der Gemeinschaft. Stabilität, insbesondere die Preisstabilität, hat eine überlegene Bedeutung in jedem Gesamtsystem"6. Andererseits vermag die Preisstabilität allein, d.h. die unveränderliche Kaufkraft einer Währungseinheit, nicht dem Prinzip der Wirtschaftsstabilität einer Gemeinschaft entgegenzukommen, wenn das der Preisstabilität gleichberechtige Prinzip „eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz"5" aufs Spiel gesetzt und demzufolge das erwünschte Wirtschaftsgleichgewicht gestört wird 58 . Das Prinzip der Marktwirtschaft geht indirekt sowohl aus den für die vier Grundfreiheiten der Gemeinschaft einschlägigen Regelungen als auch aus den die Unternehmen'^ und die Mitgliedstaaten60 betreffenden Wettbewerbsregeln hervor. Zu den impliziten Bekräftigungen des marktwirtschaftlichen Prinzips gehört auch die „Sorge-Klausel" der EG und der Mitgliedstaaten über die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Insbesondere bietet die industriepolitische Ermächtigung „keine Grundlage dafür, daß die Gemeinschaft irgendeine Maßnahme einfuhrt, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte" 61 . Immerhin umfaßt die Gemeinschaftstätigkeit unter anderem „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt" 62 . Auch die EuGH-Rechtsprechung hat zur Herausarbeitung von EGWirtschaftsgrundrechten beigetragen 63.
54
Art. 4 (ex-Art. 3a) EGV.
55
Art. 98 (ex-Art. 102a) und 105 Abs. 1 EGV.
56
Vgl. Hankel/Nölling/Schachtschneider/Starbatty
57
Art. 2 EGV.
5S
Vgl. Hankel/Nölling/Schachtschneider/Starbatty Art. 81 ff. (ex-Art. 85 ff.) EGV.
60
Art. 86, 87 ff. (ex-Art. 90, 92 ff.) EGV.
61
Art. 157 (ex-Art. 130) Abs. 3, UAbs. 2 EGV.
62
Art. 3 g) EGV.
63
Vgl. Müller-Graff
(Fn. 46), S. 445.
(Fn. 53), S. 202. (Fn. 53), S. 210 ff.
Georgios Papastamkos
230
IV. Europäische Integrationsstrategien Hauptziel der europäischen Integration war die Schaffung des Gemeinsamen Marktes. Die erwählte Strategie hatte die Marktintegration als Ziel. Es folgte das Ziel des Binnenmarkts, gesetzt in der EEA. Der Übergang der europäischen Integration zu höheren und stabileren Ebenen (zunächst mittels der EEA, aber hauptsächlich durch den EUV) brachte eine Erneuerung und Bereicherung des Gemeinschaftsmodells durch die Einfuhrung von flankierenden Gemeinschaftspolitiken bzw. durch die Stärkung der vorhandenen Politiken (Industriepolitik, Forschung und Entwicklung, Umwelt, Verbraucherschutz, transeuropäische Netze). Eine vor allem supranationale Projektion des EG-Wirtschaftsmodells stellt die WWU dar, welche die „Meta"-Phase der Politikintegrationsstrategie bildet 64 . Als Teilstück des Gemeinsamen Marktes 6· ist der Binnenmarkt ein Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen, gekennzeichnet durch die Aufhebung von Beschränkungen in den sog. vier Grundfreiheiten (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) zwischen den Mitgliedstaaten. Mit dem Ziel des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes hängen auch die verschiedenen Ansätze bzw. Methoden zur Aufhebung von nationalen Regelungen zusammen, die negative Folgen auf die Freizügigkeit (von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital) haben oder den Wettbewerb verfälschen: Verbot von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen bei der Ein- bzw. Ausfuhr von Waren sowie alle sonstigen Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten; Vereinheitlichung oder volle Harmonisierung (d.h. Ersetzung nationaler Regelungen durch europäische); Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes erforderlich ist (eine Variation dieser Methode bildet das Prinzip der „gegenseitigen Anerkennung" unterschiedlicher nationaler Rechtsvorschriften); ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt66. Betrachtet man die verschiedenen Ansätze bzw. Methoden der Realisierung des Binnenmarkts in Zusammenhang mit dem Gesamtprozeß der europäischen Integration, erkennt man die Grenzen des Dualismus von „negativer" und „positiver Integration" 67 . Der Dualismus bezieht sich auf die Unterscheidung zwiM
Der Begriff „Politikintegration" bezieht sich hier nur auf den ökonomischen Bereich; vgl. V. Nienhaus. Geschichte. Institutionen und Strategien der Europäischen Union, in: Ρ Klemmer (Hrsg.), Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik, 1998, S. 98. Vgl. u.a. Th. Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff. Die allgemeine Wirtschaftsfreiheit des EG-Vertrages, 1999, S. 133 ff. 66 67
Art. 3 EGV.
Vgl. Weiler, Yearbook of European Law 1981, 257 ff. Die Begriffe „negative" und „positive Integration" sind in die Theorie der Wirtschaftsintegration durch J. Tinhergen,
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
231
sehen der Aufhebung nationaler Handelshindernisse einerseits und der Wettbewerbsbeschränkungen zum Zweck der Realisierung des freien Binnenmarkts sowie der sich positiv gestaltende „europäische" Politik andererseits 68. Der supranationale Charakter der EG begünstigt eine negative Integration (hierfür treten auch die Kommission und die EuGH-Rechtsprechung ein). Die positive Integration stößt gewöhnlich auf Schwierigkeiten wegen der starren RatEntscheidungsprozesse69. Demnach besteht eine Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration, wobei verständlicherweise der negativen Integration wegen der Bedeutung grundlegender institutioneller Differenzen ein größeres Gewicht zukommt 70 . Entgegengesetzt zur europäischen Strategie der Marktintegration verläuft die Strategie der Politikintegration 71, die sich auf die Wirtschaftspolitik und allgemein auf die „erste Säule" der EU bezieht, d.h. europäische Politiken und Aktionen der Außen- und Sicherheitspolitik („zweite EU-Säule") und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres („dritte EU-Säule") werden vom Integrationsgefuge ausgenommen. Die Strategie der Politikintegration war bereits in der Gründungslogik der drei Gemeinschaften Inbegriffen (EGKS, EURATOM, EWG), und zwar mit dem Ziel, die funktionale Seite des Gemeinsamen Marktes durch Wettbewerbsregeln für Unternehmen und Mitgliedstaaten abzusichern sowie in bestimmten Wirtschaftszweigen nationale durch EG-Politiken zu ersetzen. Eine Erweiterung dieser Strategie auf neue Gebiete wurde durch den Zusatz von redistributiven Elementen zur Sicherung der Akzeptanz der Marktintegration seitens der „Kohäsion-Mitgliedstaaten" und durch die Einführung von Korrekturen der Marktprozesse (z.B. Forschung und technologische Entwicklung, Industrie- und Umweltpolitik) erreicht. Es geht dabei um Kohäsionspolitiken, Entwicklungspolitiken und um Politiken für die Lebensqualitätsverbesserung. Der EUV verlieh der Strategie der Politikintegration eine neue Dimension, wobei die WWU deren herangereifte Form darstellt. Im Maastrichter Revisionswerk wurde den Mitgliedstaaten das Recht des „opting-out" von der Währungsunion (eine Differenzierung gab es bereits unter dem EWS) und von RechtsvorInternational Economic Integration, 2. Aufl. Amsterdam 1965 eingeführt. Vgl. ferner J. van Scherpenberg, Ordnungspolitik im EG-Binnenmarkt. Auftrag für die Politische Union, 1992, S. 9. 68 Vgl. u.a. F. Scharpf,] Politische Optionen im vollendeten Binnenmmarkt, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Fn. 5), S. 110. 69
Vgl. Scharpf (Fn. 68), S. 109.
70
Vgl. P. Kaptern , „Civilization under Negotiation". National Civilizations and European Integration: The Treaty of Schengen, Archives Européennes de Sociologie 32/1991, S. 363 ff. 71
Vgl.
Nienhaus
( F n . 6 4 ) , S.
126
ff.
Georgios Papastamkos
232
Schriften über die Sozialpolitik gewährt. Übersieht man die Übergangsperioden, wird erstmalig eine Vertiefung der Integration ohne denselben Ausgangspunkt für alle Mitgliedstaaten unternommen. Diese sogar institutionell konsolidierte, abgestufte Integration stellt rechtlich und politisch ein „Novum" in der EG/EUGeschichte dar und wurde durch die Einführung der Flexibilitätsklausel, der „verstärkten Zusammenarbeit" der Mitgliedstaaten erweitert 72. Es bleibt noch abzuwarten, ob dieser nach Belieben offen stehende Einbruch in das institutionelle Gleichgewicht (entweder durch Mitgliedstaaten, die sich für fähig halten und eine größere Geschwindigkeit einlegen wollen, oder durch andere, die sich gegen bestimmte Vertiefungsformen auflehnen) eine Abweichung der Gemeinschaft vom bisherigen Kurs in Richtung auf andere Integrationsformen darstellt 73 . V. Währungsintegration: notwendiges Gegenstück der Wirtschaftsintegration Die Wirtschaftsunion umfaßt die integrierende Funktion des Binnenmarkts bei absoluter Abschaffung der Hindernisse für die Ausübung der vier Grundfreiheiten und die Vergemeinschaftung der nationalen Zuständigkeiten sowie die Harmonisierung bzw. Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der weiteren Wirtschaftspolitik. Wo es keine „Harmonisierung" gibt, läßt man freien Raum für den Wettbewerb der nationalen Systeme zu. Der Wettbewerb der Systeme bildet die andere Seite der Harmonisierung 74, kann aber auch zu einer „Harmonisierung" von unten her führen. Das Verhältnis zwischen dem Wettbewerb der Systeme und der Harmonisierung könnte in das flexible Prinzip münden: soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Harmonisierung wie nötig 75 . Übrigens umfaßt die EG-Tätigkeit „die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist" 76 . Die Währungsunion gilt als Ergänzung der Wirtschaftsunion und als unerläßliche Voraussetzung eines reibungslosen und effektiven Funktionierens des Binnenmarkts. Auf diese Weise werden die beiden Aspekte der WWU mitein72
Art. 11 (Art. 5a EUV/ Amsterdam neu) EGV. Vgl. dazu C.-D. Ehlermann, Engere Zusammenarbeit nach dem Amsterdamer Vertrag: Ein neues Verfassungsprinzip?, EuR 1997, 362 ff. Für den Inhalt und die Bedeutung von flexiblen Integrationsformen vgl. P. Huber, Differenzierte Integration und Flexibilität als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, EuR 1996, 349 ff. 73
Vgl. G. Papastamkos, Die unvollendete Institutionalisierung der Union. Der EUVertrag und seine Änderung (gr.), Athen 1994, S. 16. 74
Vgl. C.-D. Ehlermann, Ökonomische Aspekte des Subsidiaritätsprinzips. Harmonisierung versus Wettbewerb der Systeme, Integration 1995, S. 11. 75
Vgl. Ehlermann (Fn. 74).
76
Art. 3 Abs. 1 h) EGV.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
233
ander verbunden und voneinander abhängig gemacht. Die WWU besiegelt die Weiterentwicklung des EG-Wirtschaftsmodells durch die Übertragung der nationalen Währungszuständigkeit an die supranationale Institution, die „Union". Der Übergang von der nationalen zur postnationalen (Währungs-)Zuständigkeit vollzieht sich, indem die Grenzen des bisher akzeptierten Modells der europäischen Supranationalität überschritten werden sowie über das Modell des dualen Föderalismus (Festlegung der den Mitgliedstaaten verbleibenden Zuständigkeiten parallel zur Festlegung jener, die der supranationalen Institution verliehen werden) 77 . Hier lehnt man sich an die ideelle Grenze des Modells des kooperativen Föderalismus an. Durch die Währungsunion wird unausgesprochen partiell (in bezug sowohl auf die gesamte integrierte Materie als auch auf die Zahl der beteiligten Staaten) und institutionell der Bundesstaat berührt. Die wirtschaftliche Regulationszuständigkeit der Mitgliedstaaten78 leitet sich von der EGGrundnorm ab, die das europäische Wirschaftssystem einrichtet 79. Ihre Aufgabe ist es, zur Konsolidierung des zentralen, von vornherein akzeptierten Ziels der ständigen Fähigkeit zur Teilnahme an der Währungsunion beizutragen — mit Ausnahme der Staaten, die sich selbst (endgültig?) davon ferngehalten haben. Das funktionale Unterwerfungsverhältnis der nationalen Wirtschaftspolitik unter die supranationale Entscheidungszuständigkeit zeigt sich in Lenkungszuständigkeiten, koordinierter Ordnung, multilateraler Überwachung und „Sanktionen" gegenüber Mitgliedstaaten im Fall von Abweichungen80. Die WWU wird nicht etwa von einer „Sozialunion" mit Aktions-Zeitplan bzw. von flexiblen Entscheidungsprozessen begleitet. Der Vorrang des wirtschaftlichen vor dem sozialen Element setzt sich fort, und dies spiegelt eine Abschwächung der Glaubwürdigkeit bei der Legitimation des Integrationsunterfangens wider. Ferner stellt das zentrale EG-Ziel eines „beständigen, nichtinflationären Wachstums"81 und die Intensität bei der Formierung der Umweltschutzpolitik (in Richtung einer „ökologischen Rechtsgemeinschaft") nichts anderes dar, als allein den Ansatz eines Modells der ökologischen Marktwirtschaft.
77
Vgl. Papastamkos (Fn. 73), S. 37.
78
„Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordinieren sie im Rat (...)", Art. 99 (ex-Art. 103) Abs. 1 EGV. 79
„Offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb".
80
Art. 99 (ex-Art. 103) Abs. 2, 3 und 4 EGV entsprechend; ausführlich dazu Skandamis, Staat. Recht und Gesellschaft (Fn. 4), S. 265 ff. 81
Art. 2 EGV.
234
Georgios Papastamkos
VI. Asymmetrische Beziehung zwischen der Wirtschafts- und Sozialpolitik Die primärrechtliche Einbeziehung der Verbindung zwischen der Wirtschaftsintegration und der sozialen Sicherung 82 ist trotz zwischenzeitlicher Erneuerungen (Ersetzungen und Ergänzungen durch Bestimmungen des EUV und des Sozialprotokolles sowie durch die Bestimmungen des EUV/Amsterdam 83 ) noch nicht verwirklicht worden. Diese unter Bedingungen von konstantem Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung in der Gründerzeit offensichtliche Verbindung muß sich heute mit der Strategie der Deregulierung und Liberalisierung des Arbeitsmarkts anfreunden. Der unvorgesehene Eintritt von sozialpolitischen Ereignissen vermochte einen allgemeinen sozialen Wohlstand als automatische Folge des Wirtschaftswachstums nicht zu bestätigen, sondern brachte einen inneren Widerspruch zwischen wirtschaftlicher und sozialer Dimension ans Licht 84 . Dieser Widerspruch ging nicht aus Wirtschaftsautomatismen, sondern aus Defiziten der gemeinschaftlichen sozialpolitischen Intervention hervor. Die Verantwortung dafür liegt beim Protagonisten des europäischen Integrationsprozesses selbst: dem Mitgliedstaat. Er ist es, der die Wirtschaftsentscheidungsfindung auf die supranationale Institution übertrug. Er will sich, ohne es aber ganz zu können, wichtige Aspekte der Sozialpolitik als domaine réservé vorbehalten. Der „Sicherheitsstaat" tritt seine Position immer mehr an den „Wettbewerbstaat" 85 , mit anderen Worten an den Wettbewerb der einzelnen Wirtschaftssubjekte, ab. Auch die EG/EU als Ganzes will sich nach außen hin als wettbewerbsfähig zeigen. Die Forderung nach Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die aggressiven Strategien auf der Suche nach Handels- und Investitionsstandortvorteilen verschärfen den weltweiten Wettbewerb, bringen aber Unsicherheit und sprengen die soziale Kohäsion in dem sich neu formenden internationalen Umfeld. Sozial- und Beschäftigungspolitik passen sich flexibel und selektiv der Dynamik des Marktes an 86 . Die Integrationsstrategie neigt zur institutionellen Vollständigkeit in bezug auf die Marktkräfte, das „Europa der Unternehmen und des Geldes", enthüllt aber ihre Schwächen, wenn es um die politische Regulierung von Folgen und Desintegrationserscheinungen (z.B. Arbeitslosigkeit, regionale Ungleichgewichte, Mangel an sozialer Kohäsion) geht. Über die transnationale (intergovernmentale) Interessenzusammensetzung 82
Art. 136 (ex-Art. 117) EGV.
83
Vgl. die neuen Art. 136-143, 148 und 150, Abs. 4 (ex-Art. 117-120, 125 und 127, Abs.4) EGV. X4
So Skandamis, Staat Recht und Gesellschaft (Fn. 4), S. 212.
85
Vgl. J. Hirsch, Vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, Das Argument (203) 1994, S. 7 ff. Hirsch (Fn. 85), S. 13-14.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
235
hinaus muß das europäische Integrationsprojekt auch mit sozio-transnationalen Artikulations- bzw. Eingliederungsformen angereichert werden. Hier liegt, verglichen mit der nationalen Ebene, die Schwäche am Mangel einer europäischen politischen Gesellschaft und eines vollständig koordinierten gesamteuropäischen Organisations- und Kommunikationsnetzes der gesellschaftlichen Interessen im restriktiven Sinn. Wenn dies erfolgt, stößt es gegen den konkurrierenden „Filter" der bereits geformten Gewalt- und Strategiebeziehungen87. Trotz der Reorganisationsprozesse des Nationalstaates in Folge von dessen EG-Mitgliedschaft ist dieser weiterhin kompetent für die Artikulation und die politische Regulierung von konkurrierenden Sozialkräften in Richtung sozialer Veränderungen. Der Nationalstaat eignet sich die positiven Folgen seiner qualitativ und quantitativ verbesserten Lage durch seine Mitwirkung bei der europäischen Gesamtentwicklung an; er wird aufgerufen, die Erschütterungen der gesellschaftlichen Inkohärenz, der Verteilungspolitik und sogar der Krisen der politischen Legitimation aufzufangen. Folglich ist es übertrieben, die Korrosion des Wohlfahrtsstaats dem Prozess der europäischen Integration direkt zuzurechnen. Der Mitgliedstaat ist (mit)verantwortlich. Die Inkompatibilität zwischen der europäischen Marktintegration und der nationalen Sozialpolitik konnte nicht sofort erfaßt werden. Lange Zeit galt die Annahme, daß die Verwirkung der politischen Kontrolle auf nationaler Ebene von der höhergelegenen europäischen Ebene aufgefangen würde 88 . Die Sicherstellung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Dienstleistungen in der EG hat traditionelle Dimensionen der Aufgaben des Wohlfahrtstaats in Frage gestellt. Infolge der Mitwirkung auch anderer Organisationen bzw. Mitgliedstaaten haben Staat und nationale Institutionen die Autonomie einbüßen müssen, den Kreis der Berechtigten und der Leistungen, den Ort des Leistungskonsums, die soziale Sicherheit der Bürger nach dem eigenen Modell des Wohlfahrtsstaats, die Verwaltungsgewalt und den Zutritt von Berufskreisen, die Sozialleistungen erhalten, selbst zu bestimmen (beschränken sich doch die Sozialleistungen nicht mehr auf die eigenen Bürger) 89. Als Sozialstaat wird der europäische Staat mittels interner sozioökonomischer Homogenisierung angepaßt, d.h. die Systemanpassung ist keine vertikale (mittels europäischer Regulierung), sondern eine horizontale 90. Die Lage der Sozialpolitik ist von negativen Machtx7
Vgl. Bieling/Deppe
(Fn. 5), S. 499.
x
* Vgl. R. Geyer , Socialism and the EC after Maastricht. From Classic to New-Model European Social Democracy, in: A. W. Cafruny /G. G. Rosenthal (Hrsg.), The State of the European Community. The Maastricht Debates and Beyond, Bd. II, Boulder 1993, S. 91. * 9 So St. Leihfried, Wohlfahrtsstaatlichc Perspektiven der Europäischen Union. Auf dem Weg zu positiver Souveränitätsverflechtung?, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Fn. 5), S. 456-457. 90
Vgl. P. Flora, Europa als Sozialstaat?, in: B. Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnissc
236
Georgios Papastamkos
Verflechtungen gekennzeichnet. Der formelle und funktionale Verlust der Gestaltungszuständigkeit der Mitgliedstaaten in der Sozialpolitik geht nicht mit der Schaffung des europäischen Besitzstandes, sondern mit der Verflechtung von Gewalten einher 91. V I I . Europapolitiken Im Gründungsvertrag der EWG wurden Politiken verankert, die in der allgemeinen europäischen Wirtschaftsordnung einen besonderen Platz und eine wichtige Rolle innehatten. Das wurde bei der Förderung der europäischen Integration bewiesen: Gemeinsame Agrarpolitik, Gemeinsame (Außenhandelspolitik, Gemeinsame Verkehrspolitik, Wettbewerbs- und Sozialpolitik. Diese Politiken reichten aber nicht als Katalysatoren für eine positive EG-Integrationspolitik aus, die zu einem Binnenmarkt führt 92 . In der ersten Phase nach der Gründung schritt die Marktintegration schneller als erwartet voran. Mit Abschluß der Übergangsperiode (1968) und der erfolgten Erschöpfung der Vorteile aus der Arbeitsteilung innerhalb der Industrie verfiel die Marktintegration in die Stagnation93. Nicht allein das; es konnte eine bemerkenswerte Intensivierung versteckter nationaler Intervention und protektionistischer Umgehungen des acquis communautaire beobachtet werden, was die Erweiterung der Interventionsrolle des EuGH zur Wiederherstellung der einheitlichen Auslegung und Anwendung der EG-Wirtschaftsordnung mit sich brachte 94. Um den Vollendungsprozeß des Binnenmarkts zum Erfolg zu führen, mußten Gemeinschaftsprojekte einer positiven Integration entwickelt werden 9'. Durch die EEA wurden die Politiken des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (komplementär zum Binnenmarkt), die Förderung von Forschung und Technologie sowie die Umweltpolitik vertraglich vorangetrieben. Die beiden ersten wurden sogar durch praktische Anwendungsmaßnahmen („Delors-Paket" und entsprechende europäische Aktionsprogramme) vervollständigt. Die Umweltschutzpolitk wurde mit europapolitischen Ansätzen begleitet. Die sogenannten flankierenden europäischen Politiken einer positiven Integration blieben aber weiterhin mangelhaft in bezug auf Ausweitung und Intensität, verglichen mit dem Status des Wirtschaftsraums des Binnenmarkts. Der Mangel wurde politisch insbesonund soziale Konflikte im neuen Europa. Verhandlungen des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf 1992, 1993, S. 755. 91
Vgl. ausführlich Leibfried
92
Vgl. van Scherpenberg, Ordnungspolitik im EG-Binnenmarkt (Fn. 67), S. 9.
(Fn. 89), S. 465-466.
93
Vgl. H. Giersch, Mehr Wettbewerb im freieren EG-Binnenmarkt, in: H. Meffert/M. Kirchgeorg (Hrsg.), Marktorientierte Unternehmensführung im Europäischen Binnenmarkt, 1990, S. 5. 94
Vgl. Skandamis, Staat, Recht und Gesellschaft (Fn. 4), S. 253.
95
Vgl. van Scherpenberg (Fn. 67), S. 10.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
237
dere im Verlauf der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht festgestellt. Im EUV wurde die EG-Dynamik manifestiert, neue Aktionsfelder im Umfeld ihres Wirtschaftsmodells durch die Erweiterung der Gemeinschaftszuständigkeit einzubeziehen: transeuropäische Netze, Industrie, Entwicklungszusammenarbeit, Kultur, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, öffentliches Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, Politik der Einreise von Bürgern aus Drittstaaten. Als zentrale Ziele der Tätigkeit der Gemeinschaft wurden auch die Bereiche Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr anerkannt 96. Die integrationsfördernde Fülle bestimmter Bereiche erlaubt es, bei verwandten, institutionell unsichtbaren oder im Umkreis der Gemeinschaft liegenden Gebieten einen Handlungsbedarf festzustellen; auch der Ausdruck des notwendigen politischen Willens wird ermutigt. Bei den sog. flankierenden Politiken stellt sich eine gemeinsame Resultante ein, daß sie nämlich keine tiefgehende Vergemeinschaftung beabsichtigen, also inkomplette Integrationsformen bilden 97 . So geschieht es, daß sich ältere (bei der EEA) und neuere (mit dem EUV) flankierende Politiken des Binnenmarkts unter dem erforderlichen Integrationsgrad bewegen. Dies gilt auch bei der neugeschaffenen Beschäftigungspolitik des Amsterdamer Vertrags 98. Der innergemeinschaftliche Konsens über die ordnungspolitische Orientierung der positiven Integration des Binnenmarkts durch gestaltende-regulierende Gemeinschaftspolitiken soll im Hinblick auf die Interventionsintensität auch an den Bedingungen des für diese Politiken geltenden Subsidiaritätsprinzips gemessen werden. Es handelt sich um Milderungsbedingungen: die Gemeinschaftszuständigkeit wird nur „sofern und soweit" und stets nach der Annahme des optimalen Effektes herangezogen, d.h. unter der Voraussetzung des effektivsten Erfolgs der gemeinschaftlichen Ziele. Die Einführung des Subsidiaritätsprinzips ist nur eine partielle Antwort auf Vorbehalte von Mitgliedstaaten bezüglich der Übertragung von nationalen Regulierungskompetenzen auf die supranationale Institutionen im Rahmen des Binnenmarktprojekts 99. Die Europa-Politik ist nicht Sache der nationalen Regierungen bzw. der europäischen Institutionen allein. Sie wird auch im Rahmen der Interaktion der gesellschaftlichen Kräfte aufgebaut. Die Triebkräfte und die Dynamik des Binnenmarktprojekts sind hauptsächlich im Wirtschaftsfeld lokalisiert. Wettbewerb und Markt, Währungsstütze des Integrationsprozesses, Industriepolitik, Forschung und technologische Entwicklung und spezifische Aktionen zugunsten der mittleren und kleinen Unternehmen sind bevorzugte Gebiete des EG-GesetzArt. 3 u) EGV und entsprechende Erklärung zum EUV. 97
Vgl. Papastamkos (Fn. 73), S. 84.
9X
Art. 125-130 (ex-Art. 109n-109s) EGV.
w
Vgl. J. van Scherpenberg, Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch (Fn. 5), S. 345.
238
Georgios Papastamkos
gebungsverfahrens, das die Position und die Rolle der europäischen „Unternehmen" stärkt. Die Priorität des wirtschaftlichen Elements (oft als pointierter Export des Binnenmarktmodells anzutreffen) ist auch im Geflecht der EG-Außenbeziehungen enthalten. Die Verwirklichung der Binnenmarktprogrammatik schuf ein organisiertes Regelungssystem für die Unternehmen eher in Richtung dynamischer Wettbewerbs-, und weniger statischer Komparativvorteile. Der Komparativ vorteil wird nicht mehr von der Ausstattung des Mitgliedstaates in den eigenen Produktionsfaktoren, sondern von politischen Entscheidungen bestimmt, die hauptsächlich auf Investitionen, Infrastrukturen, Bildung, Forschung und Entwicklung und Verbesserung der Anziehungskraft des Standortes der Wirtschaftsaktivitäten abzielen. In bestimmten Bereichen trat die Strategie der Rechtsangleichung mittels Harmonisierung zugunsten der auf gegenseitige Anerkennung gestützten Konkurrenz der nationalen Regulierungssysteme zurück 100 . Obwohl der früheren Bevorzugung der Regulierungsinterventionen in den Markt durch die Kommission später die Deregulierung folgte, ist die Tendenz dieser Institution weiterhin sichtbar, die marktwirtschaftliche Koordination durch administrative Regelungen zu ersetzen 101. Dies umso mehr, als der Deregulierungskonsens des Binnenmarktprojekts nicht die ordnungspolitischen Differenzen abzuschaffen vermochte, sondern sie in den Bereich der positiven Integrationspolitik verschob, die gleichzeitig durch den Prozess des Binnenmarkts entsprechend erweitert wurde 102 . Der Binnenmarkt ließ die Mittel zur Anwendung der Wettbewerbspolitik unangetastet; eine Politik mit primärer Position in der europäischen Wirtschaftsverfassung. Markt, Wettbewerb und Unternehmen bilden ein unzertrennliches Triptychon. Die Regelung und Anwendung der Wettbewerbspolitik spiegelt die Auseinandersetzung zweier Denkschulen wider: einerseits jener, die die Überlebensfähigkeit der Unternehmen im weltweiten Wettbewerb hauptsächlich durch den vorherigen funktionellen Wettbewerb auf dem nationalen Markt sichern wird und andererseits derjenigen, die die Unternehmensgröße und den Erwerb eines hohen lokalen Marktanteils als die Voraussetzung einer internationalen Wettbewerbsfähigkeit ansieht103. Die Wettbewerbspolitik ist kein Selbstzweck, sondern ein grundlegendes Regelungsprinzip der EG-Wirtschaftsordnung, entscheidend für eine ungestörte Funktion des Binnenmarkts und für das Erreichen 100 Vgl. St. Woolcock , The Single European Market. Centralization or Competition among National Rules, The Royal Institute of International Affairs, European Programme, London 1994, S. 9 ff. 101
So H. Berg/F. Schmidt , Industriepolitik, in: Klemmer (Fn. 64), S. 867.
102
So van Scherpenherg , Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt (Fn. 99),
S. 361. 103 Vgl. van Scherpenherg, Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt (Fn. 99), S. 365.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
239
der Wirtschaftsziele der EG. Das ist der Grund für die Proklamation der Wettbewerbspolitik als grundsätzlicher Aufgabe der gemeinschaftlichen Tätigkeit: „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt" 104 . Darüber hinaus würde die Funktion des Binnenmarkts unproduktiv und unglaubwürdig sein, wenn restriktive Unternehmenspraktiken auf nationaler Ebene oder Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung effektive Wettbewerbsschranken gegen Unternehmen anderer Mitgliedstaaten bedeuten würden 105 . Die Wettbewerbspolitik beeinflußt selbst die Strukturen der europäischen Wirtschaft. Sie verleiht den Märkten die für die Entwicklung von unternehmerischem Geist und Innovationsfähigkeit notwendige Flexibilität und sichert eine effektive und dynamische Verteilung der Ressourcen. Die strukturelle Orientierung führt zu gegenseitigen Einwirkungen zwischen Wettbewerbspolitik und den meisten anderen Politiken (Binnenmarktvertiefung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, Kohäsion, Forschung und Entwicklung, Umwelt, Verbraucherschutz), mit denen sie sich überschneidet 106. Die Absicherung eines effektiven Wettbewerbs und die Sicherstellung eines zufriedenstellenden Rechtsschutzes stehen im Mittelpunkt von Überlegungen über die Reform der EGWettbewerbspolitik. Diese notwendige Reform wurde zum Gegenstand von Gesprächen innerhalb der Europäischen Kommission, innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten, innerhalb aller anderen EG-Institutionen und sonstiger Interessenten auf Grundlage des Weißbuchs „über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 81 und 82 EG-Vertrags" 107. Die Vereinheitlichung der im Wettbewerb stehenden EU-Märkte und die Ausübung einer effektiven Wettbewerbspolitik im Dienst der Verbraucherinteressen und der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, insbesondere der mittleren und kleinen Unternehmen, hat die Diskussion über vertikale Wettbewerbsbeschränkungen in der Wettbewerbspolitik der EG eröffnet 108. 104
Art. 3 (1) g) EGV.
105
Vgl. Pelkmans, European Integration (Fn. 32), S. 183.
106
Vgl. EG-Kommission, XXVI. Wettbewerbsbericht, 1996, S. 15.
107
EG-Kommission, KOM (1999) 101 endg./2, Brüssel, 12.5.1999.
I0X
EG-Kommission, KOM (96) 721 endg.; EG-Kommission, KOM (1998) 544 endg. Vgl. dazu F. O. 'Toole, The E.C. Green Paper on Vertical Restraints: Option IV Defended, ECLR 1999, S. 5 ff.; Ζ Biro/A. Fletcher , The E.C. Green Paper on Vertical Restraints: An Economic Comment, ECLR 1998, S. 129 ff.; W. Veelken , Anmerkungen zum Grünbuch der Kommission zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen, ZvglRWiss. 1998, 241; V. Korah, The Future of Vertical Agreements under E.C. Competition Law, ECLR 1998, 506, J. Nazerali/D. Cowan , Reforming E.U. Distribution Rules - Has the Commission Found Vertical Reality?, ECLR 1999, S. 159 ff. Ersetzt werden sollen durch die neue Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 2790/1999 für vertikale Vereinbarungen (ABl. L 336 vom 29.12.1999, S. 21 ff.) die Gruppenfreistellungsverordnungen 1983/83 über Alleinvertriebsvereinbarungen, 1984/83 über Alleinbezugsvereinbarungen und 4087/88 über Franchisevereinbarungen. Unberührt bleiben vertikale Vereinbarungen, die Regelungsgegenstand anderer
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In direkter Beziehung zur Stärkung der Wettbewerbsposition der europäischen Unternehmen steht auch die europäische Industrie- und Technologiepolitik als flankierende Politik gegenüber dem Markt. Die Auseinandersetzungen über Regelung und Anwendung einer europäischen Politik im Bereich der Industrie bewegen sich zwischen zwei Polen: einerseits der systemimmanenten Interventionsneigung und andererseits des Verlangens nach Deregulierung durch die fortschreitende Marktintegration 109 . Die EG-Industriepolitik wurde in der Tat sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch innerhalb der Industriekreise von zwei verschiedenen Ansätzen bestimmt: einerseits von ihrer Einfuhrung in der Form der sektoralen Politik (hauptsächlich von Frankreich) und andererseits von ihrer Ablehnung (vor allem durch das Vereinigte Königreich und Deutschland) 110 . Funktion und Leistung des Binnenmarkts werden durch die Einführung und Anwendung der komplementären Politik der transeuropäischen Netze begleitet, die im Auf- und Ausbau von miteinander verbundenen und interoperablen Verkehrs-, Telekommunikations- und Energiesysteme besteht. Die Sicherstellung von transeuropäischen Hochleistungsinfrastrukturen und deren gesamteuropäischer Erweiterung spielt eine grundlegende Rolle bei der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und hat besonders positive Folgen für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der EU. Eine wachsende Bedeutung erhalten die Förderung der Wirtschaftsbedingungen, die Schaffung eines günstigen Unternehmensumfelds sowie die Handels- und Investitionskooperation der EU / EG mit Drittländern bzw. Ländergruppen. Der äußere Aufbau der europäischen Unternehmenspolitik weist auf das Geflecht der europäischen Außenbeziehungen als Gesamtheit von vertraglich begründeten Beziehungen bzw. als institutionalisierter Dialog mit Dritten hin. Die wirtschaftliche Konditionalität (Klausel) wird in den EU/EG-Beziehungen zu sog. Transitions- und zu den Entwicklungsländern bzw. Ländergruppen eingeführt. Nach innen hin konzentriert sich diese Klausel auf die „strukturelle Anpassung" und die Schaffung eines geeigneten Wirtschaftsumfelds (Modernisierung von Strukturen, Marktwirtschaft, Priorität gegenüber der privaten UnterGruppenfreistellungsvereinbarungen sind. Die Grundlage für die von der EG-Kommission vorgeschlagene Änderung des Gruppenfreistellungsstatus für bestimmte vertikale Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen ist durch die Änderung der Ermächtigungsverordnung Nr. 19/65 durch die VO Nr. 1215/1999 (ABl. L 148/1 vom 15.6.1999) geschaffen worden. Als notwendige flankierende Maßnahme kam die Änderung der VO Nr. 17/62 durch die VO Nr. 1216/1999 (ABl. L 148/5 vom 15.6.1999) in Betracht. I0
" Vgl. H. Berg/F. Schmidt, Industriepolitik, in: Klemmer (Fn. 64), S. 868.
110
Für die Tradition der EG-Industriepolitik vgl. J. Simons, Industriepolitik. Theorie, Praxis, Politische Kommunikation, 1997, S. 220 ff.; V. Brösse, Industriepolitik, 1996, S. 306 ff.; Berg/Schmidt (Fn. 109), S. 911 ff.
Regulierungsleistungen in der gemeineuropäischen Wirtschaftsordnung
241
nehmerinitiative und Kooperation). Nach außen hin umfaßt diese Klausel die schrittweise harmonische Eingliederung der Transitions- und Entwicklungsländer in das weltweite Wirtschaftssystem. Unternehmenskooperation, Invenstitionskooperation, Unternehmerdialog, Einfuhrung von Mechanismen zur Unterstützung der Extroversion von Unternehmen stehen auf der Tagesordnung des institutionellen Dialogs zwischen der EU und anderer fortgeschrittener Industriekräfte sowie (wirtschaftlich) erstarkender Länder. Die europäische Strategie des Zugangs zu Drittländermärkten überschneidet sich mit den Wettbewerbsbedingungen des sich stets entwickelnden Weltmarktes.
V I I I . Zusammenfassung Das ökonomische Ordnungsmodell der europäischen Integration stellt eine dauerhafte, stets zur Erörterung zwingende Frage dar. Im Mittelpunkt der EGWirtschaftsordnung steht der Binnenmarkt und dessen Währungssicherung (hohe Vergemeinschaftung). Betrachtet man die verschiedenen Ansätze bzw. Methoden der Realisierung des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem Gesamtprozeß der europäischen Integration, erkennt man die Grenzen des Dualismus von „negativer" und „positiver Integration". Durch die Etablierung des Binnenmarktes wurden Konvergenzen und Divergenzen sichtbar, die der Gestaltung und Weiterentwicklung des EG-Wirtschaftsmodells immanent sind. Die WWU stellt ihrerseits eine vor allem supranationale Projektion des EG-Wirtschaftsmodells dar, welche die „Meta"-Phase der Politikintegration bildet. Die Währungsunion gilt als komplementär zur Wirtschaftsunion und als unerläßliche Voraussetzung eines reibungslosen und effektiven Funktionierens des Binnenmarkts. Auf diese Weise werden die beiden Aspekte der WWU miteinander verbunden und voneinander abhängig gemacht. Einen besonderen Platz in der EG-Wirtschaftsordnung haben auch die sogenannten flankierenden EG-Politiken (alte und neue) inne (niedrige Vergemeinschaftung). Bei diesen Politiken ist durchweg zu beobachten, daß sie keine tiefgehende Vergemeinschaftung beabsichtigen. Durch die wachsende Vergemeinschaftung bezieht das EG-System immer mehr wirtschaftsbezogene Aktionsfelder und sozialpolitische Faktoren in ein Gesamtkonzept ein, das sich zur marktwirtschaftlichen „Stabilitätsgemeinschaft" hin orientiert. Es handelt sich um Felder, auf denen Politikvereinbarungen die supranationale Stufe der EU in verschiedlich bindender Intensität überschreiten und in „internationalen Regimen" ausgehandelt werden. In wachsendem Maß wird Re- bzw. Deregulierungspolitik in Mehrebenensystemen supranationalen oder globalen Charakters gestaltet, durch die der Nationalstaat institutionell bzw. real in bezug auf autonom geformte Innenpolitik ausgehöhlt wird. Ausdrücklich wird auf das EG-Wirtschaftsmodell im EGV hingewiesen: „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Damit hängt 1
FS Oppermann
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auch die EGV-Formulierung „ein System offener und wettbewerbsorientierter Märkte" zusammen. Der Begriff „Marktwirtschaft" erscheint ferner auch in Texten über die EG-Außenbeziehungen in der Form der Konditionalitätsklausel in wirtschaftlicher Hinsicht, ebenso in der EuGH-Rechtsprechung. Zwischen der gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik besteht eine asymmetrische Beziehung. Die Verantwortung dafür liegt beim Protagonisten des europäischen Integrationsprozesses selbst: dem Mitgliedstaat. Er ist es, der die Wirtschaftsentscheidungsfindung auf die supranationale Institution übertrug. Er will sich, ohne es aber ganz zu können, wichtige Aspekte der Sozialpolitik als domaine réservé vorbehalten.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes über die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen* Von Jean-Pierre Puissochet
I. Einleitung Gerichtliche Auseinandersetzungen spiegeln die Entwicklung der Gesellschaft wider. Trotz ihrer scheinbaren Nüchternheit sind sie insoweit vielleicht sogar besonders aufschlussreich. Der Platz, den die Auseinandersetzungen um den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Gesamtspektrum der Fälle einnehmen, die dem Europäischen Gerichtshof zur Beurteilung vorgelegen haben, insbesondere in den letzten fünf Jahren, ist hierfür ein besonders deutliches Beispiel. Dieses Phänomen ist deswegen besonders bemerkenswert, weil der EG-Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung in dieser Hinsicht keine besonders ausführliche Regelung enthielt. Allein der frühere Art. 119 (heute ersetzt durch Art. 141) EGV ist dem Problem gewidmet, und dies auch nur unter einem besonderen, wenn auch entscheidenden Gesichtspunkt, nämlich dem der gleichen Bezahlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern für eine gleiche Tätigkeit. Es handelt sich hier also um die Verankerung des Grundsatzes: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit". Dieser Artikel verdankt seine Existenz insbesondere dem Wunsch von Frankreich, die eigenen Unternehmen, die bereits nach nationalem Recht diesem Prinzip verpflichtet waren, nicht im Verhältnis zu ihren europäischen Wettbewerbern zu benachteiligen.1 Diese zweifellos sehr wichtige Bestimmung hat eine recht erstaunliche Entwicklung genommen. Ursprünglich war sie allein mit Blick auf ökonomische Sorgen konzipiert worden: man wollte Wettbewerbsverzerrungen vermeiden. Ihre Bedeutung hat sich dadurch erheblich ausgeweitet, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofes sie relativ bald als unmittelbar anwendbar angesehen hat2. * Übersetzung aus dem Französischen. 1 S. hierzu die Darstellung der Überlegungen der französischen Regierung im Zusammenhang mit dem Zustimmungsgesetz zum Vertrag (Doc. Ass. nat. 5668, Sitzung vom 25. Juni 1957). 2
S. die Urteile Defrenne I (Slg. 1971, 445, Rs. 80/70) und Defrenne II (Slg. 1976, 455 Rs. 43/75).
16*
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Häufig ist man überrascht zu sehen, in welchen merkwürdigen Konstellationen ex-Art. 119 herangezogen wird; die Väter des Vertrages wären zweifellos in hohem Maße überrascht von der Vielzahl und der Unterschiedlichkeit ihrer Enkel. In diesem Sinne wurden etwa Klagen auf éx-Art. 119 gestützt, um den Soldatenberuf für Frauen zu öffnen, um die Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen mit verschiedengeschlechtlichen Paaren zu verlangen, um die nationalen Gesetze oder berufsrechtlichen Regelungen über die soziale Sicherheit anzugreifen oder auch um Diskriminierungen zu rechtfertigen, die das in bestimmten Bereichen unterrepräsentierte Geschlecht bevorzugen sollten. Man muss allerdings anerkennen, dass die richterliche Tätigkeit nicht den einzigen Grund darstellt für die erstaunliche Ausweitung der Bedeutung eines Textes, die als ziemlich klar begrenzt hätte angesehen werden können. Der gemeinschaftsrechtliche Gesetzgeber, aber auch die Verhandlungsführer bei den Regierungskonferenzen haben in dieser Hinsicht ebenfalls eine herausragende Rolle gespielt. Der Ministerrat hat mehrere Richtlinien zu Nachbargebieten beschlossen wie diejenige über den Zugang zum Beruf und die Arbeitsbedingungen oder diejenige über die gesetzlichen und berufsrechtlichen Regelungen der sozialen Sicherheit. Diese wurden jeweils gestützt auf ex-Art. 235 (heute Art. 308 EGV), der dem Ministerrat gestattet, die geeigneten Vorschriften zu erlassen, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen und die in diesem Vertrag hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. So haben die Regierungskonferenzen, die die Verträge von Maastricht und von Amsterdam erarbeitet haben, zu einer Erweiterung der Bestimmung von ex-Art. 119 geführt. Insbesondere haben sie, so scheint es jedenfalls, durch den heutigen Absatz 4 von Art. 141 EGV 3 den Weg zu bestimmten positiven Diskriminierungen eröffnet, die dem jeweils unterrepräsentierten Geschlecht die Ausübung einer Berufstätigkeit erleichtern sollen. Diese Entwicklungen des Vertrages und des abgeleiteten Rechts sowie der Rechtsprechung, die sich unter dem Einfluss der Entwicklung der Sitten, vor allem aber der großen Zahl von Fragen vollzogen haben, die - angeregt durch die jeweiligen Kläger — dem EuGH von den nationalen Gerichten vorgelegt wurden, verliefen jedoch nicht geradlinig und eindeutig. Sicherlich kann man sie in mancherlei Hinsicht als mutig ansehen, verbunden auch mit starken Zwängen für die Mitgliedstaaten. Letztere haben sich dadurch, was ganz selten ist, veranlaßt gesehen, ein Zusatzprotokoll anzunehmen, um die Wirkungen bestimmter EuGH-Urteile zeitlich zu beschränken4. Der Vergleich verschie3
Diese Bestimmung ist unmittelbar zurückzuführen auf Art. 6 Abs. 3 des im Maastrichter Vertrag enthaltenen Sozialprotokolls, dessen Bestimmungen überwiegend in das Sozialkapitel des Vertrages übernommen wurden. 4
Protokoll Nr. 2 zum Maastrichter Vertrag, das sogenannte „Barber-Protokoll", wegen des Namens des Urteils vom 17.5.1990 (Slg. 1-1889, Rs. C-261 /88 - Barber), in dem
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dener Entscheidungen gestattet jedoch, wenn nicht eine gewisse Zurückhaltung, so doch zumindest wichtige Nuancen aufzuzeigen, die die Bedeutung dieser Entwicklungen relativieren". Die Rechtsprechung der letzten Jahre zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen hat zwar eine erhebliche Ausweitung erlebt. Doch auch wenn der Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes recht weit verstanden wird, ist er doch nicht unbegrenzt. Zudem gibt es eine Reihe von Ausnahmen oder Sondersituationen. II. Ein weitverstandener Anwendungsbereich 1. Eine weite Auslegung des Begriffs „Entgelt" a) Gleich dreimal haben die belgischen Gerichte (nacheinander der Staatsrat, der Arbeitsgerichtshof von Brüssel und der Kassationshof) im Rahmen der Rechtssachen Defrenne den Gerichtshof angerufen und ihn veranlasst, in seinen Urteilen vom 25. Mai 1971, vom 8. April 1976 und vom 15. Juni 19786 den Anwendungsbereich des Grundsatzes der gleichen Bezahlung gemäß ex-Art. 119 EGV näher zu bestimmen. Zunächst wurde im Urteil Defrenne 1 einschränkend entschieden, dass die Systeme der sozialen Sicherheit wie die unmittelbar durch das Gesetz geregelten und zwingend auf die Allgemeinheit der Arbeitnehmer anwendbaren Regimes der Altersrenten nicht unter diese Bestimmung fallen 7. Ebenso hat er im Urteil Defrenne III entschieden, dass alle Maßnahmen, die die Arbeitsbedingungen betreffen und nicht zum Bereich der Entlohnung gehören, aus dem Anwendungsbereich von ex-Art. 119 herausfallen 8. Auf der anderen Seite hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Defrenne II eine Grundsatzposition zum Anwendungsbereich dieser Bestimmung bezogen, von der er bereits der Gerichtshof insbesondere entschieden hat, dass die Altersrenten, die auf vertraglicher Grundlage ohne zwingende gesetzliche Regelungen gezahlt würden, Vorteile darstellten, die vom Arbeitgeber mit Blick auf die Beschäftigung bezahlt würden und deswegen ein Entgelt darstellten, das dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen gemäß ex-Art. 119 EGV unterworfen sei. 5 S. hierzu etwa J. M. Binon, L'égalité de traitement entre hommes et femmes dans les régimes professionnels de sécurité sociale: la „valse-hésitation" du droit européen, CdE 1996, 636 ff. 0
Urteile Defrenne I (Slg. 1971, 445, Rs. 80/70), Defrenne II (Slg. 1976, 455, Rs. 43 / 75) und Defrenne III (Slg. 1978, 1365, Rs. 149/77). 7 Diese Systeme fallen hingegen unter die Richtlinie 7 9 / 7 / E W G des Ministerrates vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. L 6 S. 24). s
Diese anderen Arbeitsbedingungen können allerdings unter die Richtlinie 76/207/ EWG des Ministerrates vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen fallen (ABl. L 39, S. 40).
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in der Vorgängerentscheidung indirekt die unmittelbare Anwendbarkeit anerkannt hatte. Der Gerichtshof hat nämlich ausdrücklich deren unmittelbare Wirkung gegenüber allen „unmittelbaren, offenen Diskriminierungen (anerkannt), die sich schon an Hand der in der Vorschrift verwendeten Merkmale gleicher Arbeit und gleichen Entgelts allein feststellen lassen" (Rn. 18). In diesem Sinne kann der Grundsatz der Gleichbehandlung beim Entgelt daher vor den nationalen Gerichten eingefordert werden; diese haben die Verpflichtung, den Schutz der Rechte zu gewährleisten, den dieses Prinzip den Einzelnen zuerkennt. Im Hinblick auf die zeitliche Verwirklichung hat der Gerichtshof präzisiert, dass der genannte Grundsatz „bei Ablauf der ersten Stufe der Übergangszeit, also vom 1. Januar 1962 an, voll und unumholbar angewandt werden musste." (Rn. 56)9 Immerhin hat der Gerichtshof mit Blick auf zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich auf die Gesamtheit der in Frage stehenden öffentlichen und privaten Interessen stützen, entschieden, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von ex-Art. 119 nicht geltend gemacht werden könne für Zeiträume, die vor seinem Urteil liegen, außer von denjenigen Arbeitnehmern, die bereits eine Klage vor Gericht erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hätten. b) In der Folge hat der Gerichtshof die Bestimmung des Begriffs „Entgelt" in dem Sinne definiert, dass dieses „alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gezahlten Vergütungen erfasst, vorausgesetzt, dass sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Dienstverhältnisses zahlt" 10 . Weiterhin hat er präzisiert, dass es insoweit nicht darauf ankomme, ob diese Vorteile „aufgrund eines Arbeitsvertrages, kraft einer Rechtsvorschrift oder freiwillig geleistet werden." 11 c) Die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Entgelt" und „Leistung der sozialen Sicherheit" hat zu einer ausführlichen Rechtsprechung geführt. Diese Unterscheidung ist insofern von großer Bedeutung, als einerseits ex-Art. 119 im Gegensatz zu den Richtlinien auch in Streitigkeiten zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden kann und dass andererseits die genannte Vertragsbestimmung keine Ausnahmen kennt, wie sie in manchen Richtlinien enthalten sind. In diesem Sinne hat der Gerichtshof zum Entgelt im Sinne von ex-Art. 119 etwa gerechnet: -
Betriebliche Zusatzrenten auf Grundlage eines Vertrages zwischen Arbeitgeber und dem Betriebsrat 12;
q Der Gerichtshof hat sogar entschieden, dass diese Anwendung nicht berührt werde durch eine Resolution, die die Mitgliedstaaten kurz vor dem genannten Datum angenommen haben. Diese könne den im Vertrag enthaltenen Zeitplan nicht rechtswirksam verändern. 10
EuGH, Slg. 1982, 359 (Rn. 5), Rs. 12/81 - Garland.
11
EuGH, Slg. 1990, 1-1889 (Rn. 20), Rs. C-261 /88 - Barber.
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-
die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auch wenn ein Teil der entsprechenden Zahlungen dem Arbeitgeber durch die Krankenkasse ersetzt wird 1 3 ;
-
die Abfindungen, die einem Arbeitnehmer aus Anlass einer Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen gezahlt werden, sowie die Altersrenten, die auf einem privaten berufsrechtlichen System beruhen, auch wenn dieses System staatlich anerkannt ist und dann anstelle des allgemeinen gesetzlichen Systems von Altersrenten tritt, sofern es ohne jegliche staatliche Beteiligung finanziert wird 1 4 ;
-
die Zahlung, die ein Mitglied des Betriebsrates für die Fortbildung im Bereich des Arbeitsrechts und des Sozialrechts während seiner Arbeitszeit erhält 15 ;
-
die Altersrente, die in einem Rentensystem des öffentlichen Dienstes wie dem der Niederlande vorgesehen ist, da diese „völlig einer Rente gleich(steht), die ein privater Arbeitgeber seinen ehemaligen Arbeitnehmern zahlen würde" 16 .
Die letzte Entscheidung hat vor allem deswegen Aufsehen erregt, weil in ihr ausdrücklich betont wurde, dass „die Feststellung, dass das Rentensystem unmittelbar durch Gesetz geregelt ist, zweifellos einen wichtigen Anhaltspunkt dafür darstellt, dass die von diesem System gewährten Leistungen solche der sozialen Sicherheit sind" (Rn. 24). Ausschlaggebend war hierfür, dass die Rente dem Arbeitnehmer im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis zwischen diesem und seinem ehemaligen Arbeitgeber gezahlt wurde, wobei zu betonen ist, dass diese Rente nur eine bestimmte Kategorie von Arbeitnehmern betrifft, dass sie unmittelbar abhängt von der Dauer der verrichteten Arbeit und dass die Höhe auf der Grundlage des letzten Gehalts berechnet wird.
12
EuGH, Slg. 1986, 1607, Rs. 170/84 - Bilka.
13
EuGH, Slg. 1989, 2743, Rs. 171 / 88 - Rinner-Kühn.
14
EuGH (Fn 4). Die praktische Bedeutung der Subsumtion von berufsrechtlich geregelten Renten unter den Begriff des Entgelts im Sinne von ex-Art. 119 liegt darin, dass bestimmte Ausnahmen, die in der Richtlinie 86/378/EWG des Ministerrats vom 24.7. 1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (ABl. L 225 S. 40) enthalten sind, hier nicht vorgesehen sind. Angesichts der Tatsache, dass der genannte Artikel keine Ausnahme mit Blick auf das Alter des Ruhestands enthält, stellt die Festlegung eines unterschiedlichen Alters je nach Geschlecht durch eine Betriebsratsvereinbarung (Urteil Bilka, Fn. 12) oder durch eine vertragliche Vereinbarung (Urteil Barber, Fn. 4) einen Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Bezahlung dar. Die Richtlinie 86/378 wurde im Übrigen verändert durch die Richtlinie 9 6 / 9 7 / E G des Rates vom 20.12.1996 (ABl. 1997 L 46 S. 20), die die Möglichkeit von vorübergehenden Ausnahmen, die sich auf das Alter des Rentenbezuges beziehen, auf unabhängige Arbeitnehmersysteme beschränkt hat, die nicht zum Begriff des Entgelts im Sinne von ex-Art. 119 EGV gehören. 15
EuGH, Slg. 1992, 1-3589, Rs. C-360/90 - Bötel.
16
Slg. 1994, 1-4471 (Rn. 45), Rs. C-7/93 - Beune.
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Das Problem der Unterscheidung zwischen dem Anwendungsbereich von exArt. 119 und den Richtlinien zur sozialen Sicherheit bleibt auf der Tagesordnung, wie eine Reihe von beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen belegen17. 2. Ein weiter Anwendungsbereich für das Gleichbehandlungsgebot Der Anwendungsbereich der bereits zuvor zitierten Richtlinie 76/207 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit wird weit verstanden, auch wenn diese Richtlinie, im Gegensatz zu ex-Art. 119 EGV, bestimmte Ausnahmen enthält. In diesem Sinne hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie Anwendung findet auf Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst 18 oder im Bereich der öffentlichen Wirtschaft 19. Als sich die Frage nach einer Bereichsausnahme bei der Anwendung des Vertrages und der Richtlinie im Hinblick auf Maßnahmen gestellt hat, die im Namen der nationalen Sicherheit ergingen, hat der Gerichtshof klar eine negative Antwort gegeben. Er hat dabei unterstrichen, dass die einschlägigen Ausnahmen, die der Vertrag in bestimmten Artikeln enthält, klar begrenzte Sondersituationen erfasse 20. Jüngst wurde diese Rechtsprechung im Hinblick auf die Beschäftigung von Frauen in Streitkräften bestätigt21. In der Rechtssache Sirdar war der Gerichtshof von einem britischen Arbeitsgericht nach der Interpretation verschiedener Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts gefragt worden, und zwar im Hinblick auf die Weigerung, eine Frau als Köchin bei den Royal Marines zu beschäftigen. In erster Linie ging es darum, ob nicht die Frage des Ausschlusses von Frauen aus bestimmten Militäreinheiten mit dem Ziel, deren Kampffähigkeit zu sichern, vollständig aus dem Anwendungsbereich des EG-Vertrages und damit auch der Richtlinie 76/207 herausfalle. In der Rechtssache Kreil wurde der Gerichtshof von einem deutschen Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Weigerung gefragt, eine Frau in der Bundeswehr im Bereich der Instandsetzung (Elektronik) zu beschäftigen. In beiden Entscheidungen hat der Gerichtshof einerseits unterstrichen, dass es Sache der Staaten sei, die maßgeblichen Entscheidungen im Hinblick auf die Organisation ihrer Streitkräfte zu treffen, da sie die innere und äußere Sicherheit zu garantieren hätten. Dieses bedeute jedoch nicht, dass solche Entscheidungen 17 S. z.B. die Rs. C-366/99 - Griesmar, in der der französische Staatsrat den Gerichtshof insbesondere fragt, ob die nach dem französischen System für Beamte vorgesehenen Ruhestandsbezüge zum Entgelt im Sinne von ex-Art. 119 EGV gehören. 18
EuGH, Slg. 1985, 1459, Rs. 248/83 - Kommission/Deutschland.
19
EuGH, Slg. 1997, 5253, Rs. C - l / 95 - Gerster.
20
EuGH, Slg. 1986, 1651, Rs. 222/84 - Johnston.
21
EuGH, Urteile vom 26.10.1999, Rs. C-273 / 97 - Sirdar, und vom 11.1.2000, Rs. C285/98 - K r e i l .
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vollständig aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausschieden. Er hat insoweit auf sein Urteil in der Rechtssache Johnston verwiesen und betont, dass der Begriff der öffentlichen Sicherheit sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit erfasse 22. Der Gerichtshof hat weiterhin festgestellt, dass bestimmte Ausnahmen, die im Vertrag vorgesehen seien, nur die Regeln über den freien Verkehr von Waren, Personen und Dienstleistungen betreffe, nicht aber die zahlreichen Sozialbestimmungen des Vertrages, zu denen der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen gehöre. Folglich gebe es „für Maßnahmen zur Organisation der Streitkräfte, die auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit begründet werden, keinen allgemeinen Vorbehalt gegenüber dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Etwas anderes mag für die Anwendung von Artikel 224 des Vertrages gelten, der einen ganz besonderen Ausnahmefall regelt" 23 . 3. Unterschiedliche Formen der auf das Geschlecht gestützten Diskriminierung a) Nach Ansicht des Gerichtshofes haben ex-Art. 119 EGV sowie die ergänzenden Richtlinien nicht allein im Auge, direkte, auf das Geschlecht gestützte Diskriminierungen zu untersagen, die im Übrigen zunehmend selten werden. Sie gestatten ebenfalls, indirekte Diskriminierungen zu sanktionieren, die vor allem dann vorliegen, wenn eine augenscheinlich neutrale Maßnahme oder Praxis in unverhältnismäßiger Weise und ohne sachlichen Grund die Angehörigen des einen Geschlechtes benachteiligen. Begonnen hat diese Rechtsprechung mit einem Urteil zur Teilzeitarbeit vom 31. März 198124. Seither ist anerkannt, dass eine Situation, in der eine erheblich größere Zahl von Frauen als Männer benachteiligt wird, als Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung anzusehen ist, es sei denn, dass der Arbeitgeber oder der nationale Gesetzgeber beweisen kann, dass sich diese Situation durch objektive Gesichtspunkte erklären lässt, die nichts mit einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung zu tun haben. Diese Rechtsprechung ist in gleicher Weise anwendbar mit Blick auf die Bezahlung 22
S. in diesem Sinne bereits die Entscheidungen des EuGH Slg. 1991,1-4621, Rs. C367/89 - Richardt und „Les accessoires scientifiques"; Slg. 1995, 1-3231, Rs. C-83/94 - Leifer u.a. 23 Urteil Sirdar (Fn. 21), Rn. 21. Nach den Bestimmungen dieses Artikels (heute Art. 297 EGV) setzen sich die Mitgliedstaaten „miteinander ins Benehmen, um durch gemeinsames Vorgehen zu verhindern, dass das Funktionieren des gemeinsamen Marktes durch Maßnahmen beeinträchtigt wird, die ein Mitgliedstaat bei einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, im Kriegsfall, bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder in Erfüllung der Verpflichtungen trifft, die er im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat". 24
EuGH, Slg. 1981, 911, Rs. 96/80 - Jenkins.
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wie im Bereich der sozialen Sicherheit und unabhängig davon, ob die Diskriminierung ihren Grund in einer Betriebsvereinbarung oder in einer gesetzgeberischen Bestimmung findet 25. Im Hinblick auf die tatsächlichen Feststellungen, die erforderlich sind, um eine solche Vermutung einer indirekten Diskriminierung zu begründen, ist es im Normalfall Aufgabe des nationalen Richters, die statistischen Erhebungen auszuwerten. Dabei müssen diese Daten verlässlich sein, dürfen also nicht Ausdruck rein zufälliger oder vorübergehender Phänomene sein26. Die Schwierigkeiten, denen sich die nationalen Gerichte ausgesetzt sehen können, veranlassen den Gerichtshof allerdings gelegentlich, Hinweise zu den Kriterien zu geben, die hierbei zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch für die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung, wie die Entscheidung vom 9. Februar 1999 gezeigt hat 27 . In diesem Fall befaßte das House of Lords den Gerichtshof mit der Interpretation von ex-Art. 119 EGV und der Richtlinie 76/207, und zwar im Hinblick auf die damals in geltenden britischen Bestimmungen über Schadensersatz im Fall einer ungerechtfertigten Entlassung. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens hatten vorgebracht, dass die fragliche Regel einen indirekt diskriminierenden Charakter habe, weil sie mehr Frauen als Männer betreffe. Der Anspruch war nämlich abhängig davon, dass der Arbeitsvertrag zum Zeitpunkt der Entlassung mindestens zwei Jahre bestanden hat. Der Gerichtshof hat zunächst auf seine einschlägige Rechtsprechung hingewiesen und die Bedingungen präzisiert, unter denen sie im vorliegenden Fall Anwendung finden müsse. Im Weiteren hat er festgestellt, dass die übermittelten statistischen Daten keinen wirklich deutlich schwächeren Prozentsatz an weiblichen Arbeitnehmern im Vergleich zu männlichen Arbeitnehmern zeigten, die die fragliche Bedingung erfüllten. Nichtsdestoweniger hat der Gerichtshof auf die ihm gestellten Vorlagefragen geantwortet, die vor allem die rechtlichen Voraussetzungen betrafen, die im Fall einer indirekten Diskriminierung das Vorliegen einer objektiven Rechtfertigung anzunehmen gestatteten, soweit es um eine Maßnahme eines Mitgliedstaates im Bereich der Sozialpolitik geht. Nach ständiger Rechtsprechung 28 bedeutet allein der Umstand, dass eine gesetzgeberische Bestimmung einen erheblich größeren Prozentsatz von weiblichen als männlichen Arbeitnehmern trifft, nicht für sich genommen eine Verletzung von exArt. 119 EGV, wenn der Mitgliedstaat beweisen kann, dass die von ihm gewähl25 Zu präzisieren ist allerdings, dass die Richtlinie 9 7 / 8 0 / E G des Ministerrats vom 15.12.1997 über die Beweislast bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts (ABl. 1998 L 14, S. 6) die nachhaltig durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes inspiriert wurde, nicht im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbar ist. 26
EuGH, Slg. 1993, 1-5535, Rs. C-127/92 - Enderby.
27
Slg. 1999, 1-623, Rs. C-167/97 - Seymour-Smith.
28
S. z.B. EuGH, Slg. 1995, 1-4741, Rs. C-444/93 - Megner und Scheffel.
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ten Mittel einem legitimen Ziel seiner sozialen Politik entsprechen sowie geeignet und erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen. Auch wenn beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Sozialpolitik im Wesentlichen in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt, dürfe deren Beurteilungsspielraum, so der Gerichtshof, allerdings nicht dazu führen, dass die Verwirklichung eines grundlegenden Prinzips des Gemeinschaftsrechts wie etwa desjenigen der gleichen Bezahlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern seines Wesensgehalts beraubt werde. Schlichte allgemeine Erklärungen zur Eignung einer bestimmten Maßnahme, die Einstellung von Arbeitnehmern zu fördern, reichten daher nicht aus, um deutlich zu machen, dass das Ziel der streitigen Regelung nichts mit einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung zu tun habe. Ebensowenig reichten solche Erklärungen aus, um vernünftigerweise anzunehmen, dass die gewählten Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet seien. b) Der Begriff der geschlechtsbezogenen Diskriminierung hat den Gegenstand einer bemerkenswerten Interpretation des Gerichtshofes gebildet, als dieser in seinem Urteil vom 30. April 199629 zugelassen hat, dass die Entlassung eines Transsexuellen allein unter Hinweis auf die vorgenommene Geschlechtsumwandlung im Widerspruch zur Richtlinie 76/207 stünde. In seinen Schlussanträgen hatte der Generalanwalt Tesauro dem Gerichtshof vorgeschlagen, eine mutige Entscheidung zu treffen. Dieser solle davon ausgehen, dass die Richtlinie auch die Diskriminierungen der Transsexuellen erfasse, selbst wenn diese nicht ausdrücklich erwähnt seien. Er machte deutlich, dass die Richtlinie generell alle geschlechtsbezogenen Diskriminierungen untersage, wenn sie sich auf die traditionelle Unterscheidung von Männern und Frauen beziehe. Der Gerichtshof ist dem Generalanwalt uneingeschränkt gefolgt. Dabei ist er von dem Grundsatz ausgegangen, dass die Richtlinie ein Grundrecht schützen soll und deswegen sein Anwendungsbereich nicht restriktiv interpretiert werden dürfe. Weiterhin erfasse die Richtlinie alle Diskriminierungen, die wie im vorliegenden Fall ihren Grund in der Geschlechtsveränderung einer Person finde, weil solche Diskriminierungen maßgeblich, wenn nicht ausschliesslich auf das Geschlecht des Betroffenen gestützt werden. Dieses Urteil kann man daher verstehen als Ausdruck des Willens, den ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich von gemeinschaftsrechtlichen Normen auszuweiten, soweit es um das Ziel geht, einen besseren Schutz individueller Rechte zu sichern und die Entwicklungen der sozialen Wirklichkeit in Rechnung zu stellen. Immerhin machen andere Formulierungen im Urteil deutlich, dass sich der Gerichtshof nur mit Vorsicht in diese Richtung begibt und dass er sich darauf beschränkt, festzustellen, dass der Begriff der auf das Geschlecht gegründeten Diskriminierung nicht auf solche Benachteiligungen begrenzt ist, die auf die 29
Slg. 1996, 1-2143, Rs. C-13/94 - P./S.
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Zugehörigkeit zum einen oder zum anderen Geschlecht gestützt sind, sondern auch die Benachteiligungen einschließen könne, die sich aus dem Wechsel von dem einen zum anderen Geschlecht ergeben. In diesem Sinne darf daher aus dem Urteil P./S. nicht abgeleitet werden, dass die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen ganz generell die Benachteiligungen im Auge haben, die auf die eine oder andere Weise unmittelbar mit dem Geschlecht verbunden sind oder ganz einfach mit der sexuellen Identität der Beteiligten. Insbesondere hat der Gerichtshof wohl die Diskriminierungen aus dem Anwendungsbereich der einschlägigen Normen ausgeschlossen, die aus sexuellen Vorlieben oder Verhaltensweisen resultieren. I I I . Nicht zu überschreitende Grenzen Das Urteil vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache Grant 30 gab dem Gerichtshof Gelegenheit, zu dieser heiklen Frage eine klare Position zu beziehen, und zwar in einer Weise, die die Bedeutung der Überlegungen einschränkt, die der Gerichtshof im Urteil P./S. angestellt hatte. In diesem Fall hatte ein Arbeitsgericht des Vereinigten Königreiches dem Gerichtshof verschiedene Fragen vorgelegt, um zu wissen, ob die Weigerung einer Eisenbahngesellschaft, der gleichgeschlechtlichen Partnerin einer Angestellten eine Fahrpreisermäßigung zu gewähren, die einem (auch nichtehelichen, aber dauerhaften) Partner des anderen Geschlechts zugestanden wird, eine durch das Gemeinschaftsrecht verbotene Diskriminierung darstellt. Im Gegensatz zu seinem Generalanwalt Elmer, der vorgeschlagen hatte, hier eine Diskriminierung anzunehmen, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Weigerung, eine Fahrpreisermäßigung zuzuerkennen, im vorliegenden Fall keine Diskriminierung im Sinne von ex-Art. 119 EGV oder der Richtlinie 75/117 zur Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen31 darstellt. Dieses Ergebnis erreichte der Gerichtshof mit drei Argumentationsschritten. 1. Der Gerichtshof hat zunächst darauf hingewiesen, dass die Weigerung im vorliegenden Fall auf den Umstand gestützt war, dass die Betreffende nicht die Bedingungen erfüllte, die von der fraglichen Regelung gefordert waren. Sie lebte nämlich nicht seit zwei oder mehr Jahren mit einem Partner oder einer Person des anderen Geschlechts im Rahmen einer dauerhaften Beziehung zusammen. Diese zuletzt genannte Voraussetzung wird nämlich unabhängig vom Geschlecht des betroffenen Arbeitnehmers gefordert. Die Preisermäßigung wird einem männlichen Arbeitnehmer verweigert, wenn er mit einem Angehörigen des gleichen Geschlechts zusammenlebt, ebenso wie sie einer weiblichen Arbeitneh30 31
Slg. 1-621, Rs. C-249/96.
Richtlinie 75/117/EWG des Ministerrats vom 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (ABl. L 45, S. 19).
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merin verweigert wird, wenn sie mit einer Person des gleichen Geschlechts zusammenlebt. Diese Behandlung kann daher nicht als direkte geschlechtsbezogene Diskriminierung angesehen werden. 2. Der Gerichtshof hat sich weiterhin gefragt, ob das Gemeinschaftsrecht fordert, dass die Personen, die in einer dauerhaften Beziehung mit einem Angehörigen des gleichen Geschlechts leben, sich in der gleichen Situation befinden wie die verheirateten Personen oder diejenigen, die in einer stabilen nichtehelichen Beziehung mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zusammenleben. Insoweit hat der Gerichtshof einerseits hervorgehoben, dass die Gemeinschaft bis heute keinerlei Normen verabschiedet hat, die beide Situationen gleichstellen. Darüber hinaus hat der Gerichtshof daraufhingewiesen, dass eine Lebensgemeinschaft von Personen des gleichen Geschlechts in den meisten Mitgliedstaaten einer - dauerhaften - nichtehelichen heterosexuellen Beziehung allenfalls mit Blick auf eine eng begrenzte Zahl von Rechtspositionen gleichgestellt und auch keine besondere Anerkennung vorgesehen ist. Unabhängig von der derzeitigen Entwicklung der Einstellung gegenüber der Homosexualität fallen auch dauerhafte homosexuelle Beziehungen nicht unter den Anwendungsbereich des Familienlebens, der durch Art. 8 der EMRK geschützt wird 32 . Insgesamt ergibt sich daraus nach Ansicht des Gerichtshofes, dass beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts ein Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, eine Person, die in einer stabilen gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt, in gleicher Weise zu behandeln wie eine Person, die verheiratet ist oder die in stabiler nichtehelicher Beziehung mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zusammenlebt33. Schließlich geht das Urteil Grant der Frage nach, ob man eine auf die sexuelle Orientierung gestützte Diskriminierung einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen gleichstellen könne. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof zunächst klar die Bedeutung seines Urteils P./S. begrenzt auf die Diskriminierungen, die ihren Ursprung in der 32
Der Gerichtshof bezieht sich insoweit auf mehrere Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte. Darüber hinaus hat er die Entscheidungen zitiert, nach denen die nationalen Bestimmungen, die zum Zweck des Schutzes der Familie verheiratete Personen und solche Personen, die mit einem Partner des anderen Geschlechts zusammenleben, gegenüber Personen bevorzugen, die in dauerhafter gleichgeschlechtlicher Beziehung leben, keinen Verstoß gegen Art. 14 EMRK darstellen, der insbesondere geschlechtsbezogene Diskriminierungen untersagt. Darüber hinaus betont der Gerichtshof, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Art. 12 EMRK in dem Sinne interpretiert, dass diese Bestimmung allein die traditionelle Eheschließung zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts meine. 33
Der Gerichtshof unterstreicht, dass „unter diesen Umständen ... nur der Gesetzgeber gegebenenfalls Maßnahmen treffen (kann), die einen Einfluss auf diese Lage haben können" (Rn. 36).
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Geschlechtsumwandlung des Arbeitnehmers finden: „Der Gerichtshof hat die Ansicht vertreten, dass solche Diskriminierungen in Wirklichkeit hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich auf dem Geschlecht der betroffenen Person beruhen. Eine solche Begründung, die zu der Annahme führt, dass diese Diskriminierungen ebenso zu verbieten sind wie die Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit einer Person zu einem bestimmten Geschlecht, mit denen sie sehr eng zusammenhängen, ist auf den Fall der Geschlechtsumwandlung eines Arbeitnehmers beschränkt und gilt daher nicht für die unterschiedliche Behandlung aufgrund der sexuellen Orientierung einer Person" (Rn. 42). Der Gerichtshof hat weiterhin die Argumentation der Klägerin verworfen, die auf die Entwicklung des internationalen Rechts hingewiesen hatte, insbesondere auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, bei dem - entsprechend einer Stellungnahme des Menschenrechtsausschusses nach Art. 28 - der Begriff des „Geschlechts" auch sexuelle Vorlieben meine. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof präzisiert, dass, auch wenn der genannte Pakt zu den internationalen Menschenrechtsinstrumenten gehöre, die bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien, und auch wenn die Beachtung der Grundrechte, die einen integralen Bestandteil dieser allgemeinen Prinzipien darstellten, eine Bedingung für die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten sei, diese Rechte nicht als solche die Wirkung haben könnten, den Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrages über die Grenzen der Kompetenzen der EG hinaus zu erweitern 34. Eine solche schlichte Stellungnahme, die zudem nicht die heute allgemein anerkannte Interpretation des Begriffes der geschlechtsbezogenen Diskriminierung, wie er in den verschiedenen internationalen Menschenrechtsschutzinstrumenten enthalten sei, wiedergebe, könne daher in jedem Fall nicht den Gerichtshof veranlassen, den Anwendungsbereich von ex-Art. 119 EGV auszuweiten. Immerhin hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, wenn auch ohne hieraus unmittelbar konkrete Schlussfolgerungen abzuleiten, dass der Vertrag von Amsterdam einen neuen Artikel 6a EGV (nunmehr nach Inkrafttreten des genannten Vertrages: Art. 13 EGV) vorgesehen habe, der dem Ministerrat gestatte, unter bestimmten Voraussetzungen (einstimmige Beschlussfassung auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments) die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung verschiedener Formen von Diskriminierung zu erlassen, und insbesondere solcher, die sich auf die sexuelle Ausrichtung beziehen.
34
Der Gerichtshof hat im Zusammenhang insbesondere auf sein Gutachten 2 / 94 vom 28. März 1996 (Slg. 1-1759, Rdnr. 34 und 35) zur Bedeutung von ex-Art. 235 EGV im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz hingewiesen.
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3. Andere jüngere Entscheidungen, die allerdings deutlich geringere Aufmerksamkeit erregt haben als das Urteil Grant, haben ebenfalls dem Anwendungsbereich des Grundsatzes gleichen Entgelts Grenzen gezogen. a) Das Urteil vom 11. Mai 1999 in der Rechtssache Wiener Gebietskrankenkasse (C-309/97) betrifft die Frage, ob eine gleiche Tätigkeit eine gleiche Arbeit im Sinne von ex-Art. 119 EGV und der Richtlinie 75 /117 darstellt, wenn sie von Arbeitnehmern mit unterschiedlicher beruflicher Qualifikation ausgeübt wird. In diesem Fall ging es um die unterschiedliche Bezahlung, die den bei einer Gebietskrankenkasse beschäftigten Psychotherapeuten in Abhängigkeit von ihrer Ausbildung als Mediziner oder als Psychologe gewährt wurde, obwohl die Beteiligten eine augenscheinlich identische Tätigkeit verrichteten. Um zu überprüfen, ob Arbeitnehmer eine gleiche Arbeit ausüben, muss nach der Rechtsprechung untersucht werden, ob diese Arbeitnehmer in Anbetracht einer ganzen Reihe von Faktoren wie der Natur der Arbeit, den Anforderungen an die Ausbildung und den Arbeitsbedingungen insgesamt als in vergleichbarer Situation befindlich angesehen werden können35. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass, wenn eine augenscheinlich identische Tätigkeit von verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern ausgeübt wird, die nicht die gleiche berufliche Qualifikation besitzen, um ihren Beruf auszuüben, mehrere Gesichtspunkte bei der Prüfung herangezogen werden müssten, ob im Rechtssinne die gleiche Arbeit ausgeübt werde. Konkret seien dabei zu berücksichtigen die Natur der Aufgaben, die jeder der Gruppen von Arbeitnehmern anvertraut werden können, die Anforderungen an die Ausbildung, die für die Tätigkeit gefordert werden und die Arbeitsbedingungen, in deren Rahmen diese Aufgaben ausgeführt werden. Im konkreten Fall hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass, auch wenn Mediziner und Psychologen beide die Arbeit eines Psychotherapeuten leisten, sie doch für die Behandlung ihrer Patienten Kenntnisse und Fähigkeiten verwendeten, die in deutlich unterschiedlichen Disziplinen erworben seien. Hinzu kommt, worauf bereits das vorlegende Gericht hingewiesen hatte, dass die erstgenannten Personen auch ermächtigt sind, eine ganze Reihe anderer Aktivitäten zu verrichten als die zweitgenannte Gruppe, die allein eine Tätigkeit als Psychotherapeut ausüben kann. Der Gerichtshof hat daher gemeint, dass zwei Gruppen von Arbeitnehmern nicht als in gleicher Situation befindlich angesehen werden können, wenn diese eine unterschiedliche berufliche Ausbildung erhalten haben und sie im Hinblick auf die unterschiedlich weit reichende Befähigung, die aus ihrer Ausbildung resultiert, und auf deren Grundlage sie ausgesucht wurden, unterschiedliche Aufgaben oder Funktionen auszufüllen haben. b) Das Urteil vom 15. September 1999 in der Rechtssache Gruber (C-249/ 97) macht die Grenzen des Begriffs der indirekten Diskriminierung deutlich. In diesem Fall wurde der Gerichtshof von einem österreichischen Gericht gefragt, 35
S. in diesem Sinne EuGH, Slg. 1995, 1-1275, Rs. C-400/93 - Royal Copenhagen.
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ob ex-Art. 119 EGV verbietet, dass ein nationales Gesetz eine Abfindung nur in der Höhe der Hälfte des sonst üblichen Betrages vorsieht, wenn der Arbeitnehmer seinen Vertrag kündigt, um für seine Kinder zu sorgen, während man die volle Höhe erhalten kann, wenn die Kündigung aus schwerwiegenden Gründen im Sinne des Gesetzes erfolgt. Im Gegensatz zu seinem Generalanwalt Léger, der dem Gerichtshof vorschlug, eine bejahende Antwort zu geben, hat dieser gemeint, dass die Entscheidung des Streites zunächst davon abhänge, ob die Situation, in der sich Arbeitnehmer befinden, die kündigen, um sich stärker um ihre Kinder zu kümmern, derjenigen von solchen Arbeitnehmern vergleichbar ist, die aus schwerwiegenden Gründen kündigen. Bei näherer Betrachtung der verschiedenen, im Gesetz enthaltenen Regelungen hat sich insgesamt gezeigt, dass den „schwerwiegenden Fällen" gemein war, dass sie einen Bezug zu den Arbeitsbedingungen im Unternehmen oder zum Verhalten des Arbeitgebers aufweisen, so dass jegliche Fortsetzung der Arbeit unmöglich wäre, weswegen vom Arbeitnehmer nicht einmal erwartet werden könne, die normale Kündigungsfrist einzuhalten. Aus diesem Grund hat der Gerichtshof entschieden, dass die vorgenannten Situationen sich grundsätzlich unterschieden von denjenigen, in denen sich ein Arbeitnehmer wie die Klägerin befindet. Daraus folgt, dass der Ausschluss eines solchen Arbeitnehmers von der Bestimmung, die die Gewährung einer vollen Abfindung im Fall eines Arbeitsverhältnisses von einer Dauer von drei Jahren beinhaltet, keine indirekte Diskriminierung darstellt. IV. Ausnahmen und sonstige Sondersituationen 1. „Positive" Diskriminierungen Nach Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 76/207 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, steht diese „nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen beeinträchtigen, entgegen". In seinem Urteil vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache Kaianke 36 hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Bestimmung, die eine Ausnahme zu einem durch das Gemeinschaftsrecht anerkannten Individualrecht darstelle, restriktiv verstanden werden müsse. Demnach ginge eine nationale Regelung (im konkreten Fall die Gesetzgebung eines deutschen Landes), die den Frauen im Fall einer Ernennung oder einer Beförderung einen absoluten und unbedingten Vorrang garantiere, über die Förderung der Chancengleichheit hinaus, die im genannten Artikel vorgesehen sei. Der Gerichtshof hat sich dabei auf die Überlegung gestützt, dass ein solches System bereits das Ergebnis garantiere, zu dem die Verwirklichung der in Art. 2 Abs. 4 der Richt36
Slg. 1995, 1-3051, Rs. C-450/93.
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linie genannten Chancengleichheit ggf. erst führen könne. Mit anderen Worten: Das nationale System würde eine Ergebnisgleichheit an die Stelle der von der Richtlinie gewollten Chancengleichheit setzen und auf diese Weise eine Gleichheit am Ende des Weges anstelle einer solchen am Anfang des Weges verwirklichen. Dieses Urteil ist vielfach kommentiert und vor allem in Deutschland auch vielfach kritisiert worden. Eine ganze Reihe von Gerichten wurde dadurch angeregt, Fragen nach der Vereinbarkeit ähnlicher Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht zu stellen, um auf diese Weise dem Gerichtshof zu erlauben, seine Rechtsprechung zu präzisieren oder vielleicht sogar zu lockern. Der Fall Marschall 37 hat ihm hierzu die Gelegenheit gegeben. In diesem Fall war die Mitbewerberin des Klägers im Ausgangsverfahren um eine Beforderungsstelle in einer Schule auf Grundlage einer Bestimmung des Landesrechts von Nordrhein-Westfalen ausgewählt worden, wonach, soweit „im Bereich der für die Beförderung zuständigen Behörde im jeweiligen Beförderungsamt der Laufbahn weniger Frauen als Männer sind, ... Frauen bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt zu befördern (sind), sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen". Diese Bestimmung unterschied sich von der, die im Fall Kaianke ausschlaggebend war, und zwar durch die Existenz der zuletzt angesprochenen Öffhungsklausel. Nichtsdestoweniger war der Generalanwalt Jacobs der Meinung, dass dieser Unterschied nicht ausreiche, um die Gesetzgebung zu rechtfertigen, die nach seiner Ansicht einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie darstellte. Dabei verwies er deutlich darauf, dass der Text, der eine Ausnahme darstellt, aus diesem Grunde restriktiv interpretiert werden müsse. Der Gerichtshof teilte zwar die Einschätzung, dass diese Bestimmung restriktiv ausgelegt werden müsse, ist aber im Übrigen seinem Generalanwalt nicht gefolgt. Vielmehr ist er davon ausgegangen, dass die Öffnungsklausel dazu führen könne, dass die fragliche Bestimmung in Übereinstimmung mit dem Gemeinschafitsrecht stünde. Zugleich wurden zwei kumulativ hierfür erforderliche Voraussetzungen benannt: — zunächst muss diese Klausel in jedem Einzelfall den männlichen Kandidaten mit gleicher Qualifikation wie die weiblichen Bewerber garantieren, dass die Bewerbungen in einem objektiven Verfahren beurteilt werden, in dem alle Gesichtspunkte, die mit Blick auf die Personen der Bewerber von Bedeutung sind, berücksichtigt werden und dass die den weiblichen Bewerbern zugesicherte Priorität entfällt, wenn eine oder mehrere Kriterien die Waage zu Gunsten des männlichen Bewerbers ausschlagen lassen; — ferner muss sichergestellt sein, dass diese Kriterien nicht einen diskriminierenden Charakter gegenüber den weiblichen Bewerbern aufweisen. 37
EuGH, Slg. 1997, 1-6363, Rs. C-409/95.
17 FS Oppermann
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Sicherlich kann man dem Gerichtshof nicht vorwerfen, dass er unterlassen habe, eine ausgewogene Lösung zu suchen, die ihm erlaubt hat, ein Gleichgewicht zu wahren zwischen den widersprüchlichen Anforderungen der positiven und der negativen Diskriminierungen. Der Hauptnachteil dieser Lösung liegt vielleicht in der Verpflichtung, dem nationalen Richter die Beurteilung überlassen zu müssen, von Fall zu Fall zu prüfen, ob die beiden Bedingungen erfüllt sind, so dass ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit in Kauf genommen wird, die zu zahlreichen weiteren Rechtsstreitigkeiten führen kann. Immerhin ist daran zu erinnern, dass die Unterzeichnerstaaten des Vertrages von Amsterdam ihr besonderes Augenmerk auf das Problem der positiven Diskriminierung gerichtet haben. Sie haben nämlich eine besondere Bestimmung zu diesem Thema vorgesehen, die an das Ende von ex-Art. 119 EGV (nunmehr Art. 141 EGV) gesetzt wurde. Darin ist folgendes vorgesehen: „Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen." Diese Bestimmung ist seit dem 1. Mai 1999 in Kraft. Der Gerichtshof zieht sie bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts selbst dann heran, wenn es um Rechtssachen geht, bei denen er vor diesem Datum angerufen wurde. Dies ergibt sich aus seinem Urteil vom 28. März 2000 in der Rechtssache Badeck (Rs. C-158/97) betreffend die Gesetzgebung des Landes Hessen, die den Eintritt und die Beförderung von Frauen im öffentlichen Dienst fördern soll. Der Gerichtshof präzisiert hier, dass die Auslegung von Art. 141 Absatz 4 EGV erforderlich wäre, wenn er zu dem Ergebnis käme, dass die Richtlinie 76/ 207 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren zu prüfenden entgegensteht. 2. Der Schutz von schwangeren Frauen Die Entlassung einer Arbeitnehmerin wegen ihrer Schwangerschaft oder wegen eines unmittelbar hiermit zusammenhängenden Grundes kann nur Frauen betreffen und stellt daher nach ständiger Rechtsprechung38 eine geschlechtsbezogene Diskriminierung dar. Die Weigerung, Schwangerschaft mit Krankheit gleichzusetzen, kann jedoch zu recht überraschenden Ergebnissen führen, wenn man es vom Ziel eines Schutzes der schwangeren Frauen her betrachtet. In diesem Sinne hat der Gerichtshof etwa in einem Urteil vom 29. Mai 1997 entschieden39, dass die Richtlinie 76/207 nicht Entlassungen entgegenstünde, die 38
S. insb. EuGH, Slg. 1990, 1-3941, Rs. C-177/88 - Dekker; Slg. 1990, 1-3979, Rs. C-179/88 - Hertz. 39
Slg. 1997, 1-2757, Rs. C-400/95 - Larsson.
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unter Hinweis auf krankheitsbedingte Abwesenheiten ausgesprochen wurden, auch wenn die fragliche Krankheit ihren Ursprung in der Schwangerschaft oder in der Niederkunft findet (selbst wenn diese Krankheit während der Schwangerschaft aufgetreten ist und über den Mutterschaftsurlaub hinweg angedauert hat). Eine solche Überlegung, die sich auf den Gedanken stützt, dass männliche und weibliche Arbeitnehmer in gleicher Weise Krankheiten ausgesetzt sind, bedeutet, dass eine Frau nach der Richtlinie keinen Schutz gegen eine Entlassung wegen Fehlzeiten genießt, auch wenn diese durch eine Krankheit bedingt sind, die ihren Ursprung in einer Schwangerschaft bildet. Die einzige Ausnahme bildet insoweit der nach nationalem Recht bestimmte Mutterschaftsurlaub. Immerhin hat der Gerichtshof - den entsprechenden Schlussanträgen seines Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer folgend - diese Rechtsprechung in einem Urteil vom 30. Juni 1998 in der Rechtssache Brown 40 etwas aufgeweicht. In diesem Fall hat der Gerichtshof es für nötig erachtet, auf die Besonderheiten der Umstände hinzuweisen, die sich mit dem Zustand der Schwangerschaft verbinden: „Wenn nämlich der Zustand der Schwangerschaft auch keineswegs einem krankhaften Zustand gleichzustellen ist ..., so kann es doch während der Schwangerschaft ... zu Problemen und Komplikationen kommen, die die Frau zwingen, sich einer strengen ärztlichen Überwachung zu unterziehen und sich gegebenenfalls während der gesamten Schwangerschaft oder während eines Teils derselben in jeder Hinsicht zu schonen. Diese Probleme und Komplikationen, die eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben können, gehören zu den mit einer Schwangerschaft verbundenen Risiken und damit zu dem, was das Spezifische dieses Zustands ausmacht." (Rn. 22) Aus dieser Entscheidung folgt - im Gegensatz zu dem, was der Gerichtshof im Fall Larsson entschieden hatte — dass, wenn eine Frau krankheitsbedingte Fehlzeiten aufweist, die ihren Ursprung in der Schwangerschaft finden, diese bei der Berechnung der Frist außer Betracht bleiben müssen, die nach nationalem Recht eine Entlassung rechtfertigen, wenn die Krankheit während der Schwangerschaft aufgetreten ist und sich nicht nur über den Mutterschaftsurlaub hinaus erstreckt, sondern bereits vor dessen Beginn aufgetreten ist, also zwischen dem Beginn der Schwangerschaft und dem des Mutterschaftsurlaubs. Soweit es um die Abwesenheit der Frau nach dem Mutterschaftsurlaub geht, kann diese unter den gleichen Bedingungen berücksichtigt werden wie die Abwesenheit eines Mannes, wenn dieser in einem vergleichbaren Zeitraum nicht arbeiten kann. Weitere Urteile haben verschiedene Präzisierungen gebracht, insbesondere zum Bezug zwischen Mutterschaftsurlaub und Krankschreibungszeiten 41 und zur Unterscheidung zwischen normalen schwangerschaftsbedingten Schwierigkeiten und einem wirklich pathologischen Zustand42.
17*
40
Slg. 1998, 1-4185, Rs. C-394/96.
41
Slg. 1998, 1-6401, Rs. C-411 / 96 - Boyle.
42
Slg. 1998, 1-7327, Rs. C-66/96 - Hoj Pedersen.
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Jean-Pierre Puissochet
Darüber hinaus hat der Gerichtshof in einer Entscheidung vom 16. September 1999 in der Rechtssache Abdoulaye (Rs. C-218/98) entschieden, dass der Grundsatz der gleichen Lohnzahlung nicht der Beschränkung eines Pauschalbetrages auf weibliche Arbeitnehmer entgegensteht, die einen Mutterschaftsurlaub antreten, weil diese Leistung die beruflichen Nachteile ausgleichen soll, die speziell für diese Arbeitnehmer durch das Verlassen ihres Arbeitsplatzes entstehen. In diesem Fall befinden sich männliche und weibliche Arbeitnehmer in einer unterschiedlichen Situation, die einen Verstoß gegen den Grundsatz der Lohngleichheit ausschließt43. Schließlich wurde in einer Entscheidung vom 3. Februar 2000 in der Rechtssache Mahlburg (Rs. C-20/98) deutlich gemacht, dass Maßnahmen, die dem Schutz von schwangeren Frauen dienen, nicht bewirken dürfen, diese bei der Suche nach einer Beschäftigung zu benachteiligen. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof geurteilt, dass die Weigerung, eine schwangere Frau für einen unbegrenzten Zeitraum mit der Begründung einzustellen, dass ein gesetzliches Arbeitsverbot einer Beschäftigung während des Zeitraums der Schwangerschaft der Einnahme des vorgesehenen Arbeitsplatzes entgegenstehe, einen Verstoß gegen die Richtlinie 76/207 darstelle 3. Die Beschäftigung von Frauen in den bewaffneten Streitkräften Im bereits zitierten Urteil vom 26. Oktober 1999 im Fall Sirdar hat der Gerichtshof anerkannt, dass der Ausschluss von Frauen vom Dienst in bestimmten Teilen der Kampftruppen nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 76/207 gerechtfertigt werden kann45. Der Generalanwalt La Pergola hat zugestanden, dass die besonderen Umstände, unter denen die fragliche Tätigkeit auszuüben wäre, unter die Bestimmung dieser Ausnahme falle, auch wenn die Natur der Tätigkeit von Soldaten, die in den Royal Marines beschäftigt sind, nicht automatisch die Anwendbarkeit dieser Ausnahme der Richtlinie rechtfertige. Zugleich wies er darauf hin, dass es Sache der nationalen Gerichte sei, zu beurteilen, ob die 43
S. ferner EuGH, Urteil vom 21.10.1999, Rs. C-333/97 - Lewen, wonach ex-Art. 119 EGV verbietet, dass ein Arbeitgeber das Weihnachtsgeld entsprechend der mit einem Arbeitsverbot verbundenen Zeiten des Mutterschutzes kürzt. 44 In diesem Fall hatte sich die Klägerin, eine befristet beschäftigte Krankenschwester, um einen Arbeitsplatz mit einem unbefristeten Vertrag beworben, nachdem zwei Stellen als OP-Krankenschwestern frei geworden waren. Ihre Bewerbung war unter Hinweis auf die Schwangerschaft zurückgewiesen worden, und zwar mit der Begründung, dass die Stellen sofort oder sobald wie möglich zu besetzen seien und das Gesetz Arbeitgebern verbiete, schwangere Frauen in den Bereichen zu beschäftigen, in denen sie dem Einfluss schädlicher Substanzen ausgesetzt seien. 45 Nach dieser Bestimmung steht die Richtlinie „nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche beruflichen Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu erforderliche Ausbildung, für die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen".
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fragliche Maßnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, und zwar nach Maßgabe der üblichen Gesichtspunkte, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergeben. Der Gerichtshof selbst hat ebenfalls anerkannt, dass der Ausschluss von Frauen aus dem Dienst in besonderen Kampftruppen wie die der Royal Marines nach der genannten Bestimmung gerechtfertigt werden kann. Dabei hat der Gerichtshof zunächst daran erinnert, dass er bereits entschieden habe, dass in bestimmten Fällen das Geschlecht eine maßgebliche Voraussetzung für bestimmte Arbeitsplätze darstellen könne wie etwa denen eines obersten Gefängnisaufsehers 46 oder für bestimmte Tätigkeiten wie denen der Polizei, die im Rahmen von schweren inneren Unruhen ausgeübt werden 47. In einem solchen Fall kann ein Mitgliedstaat je nach Situation für Männer oder Frauen entsprechende Aufgaben vorbehalten, ebenso wie die Berufsausbildung, die dorthin führt. Dabei müssen die jeweiligen Ausnahmen vom allgemeinen Regime der Richtlinie, wie Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie deutlich macht, regelmäßig daraufhin überprüft werden, ob sie durch die fraglichen Tätigkeiten weiterhin gerechtfertigt sind. Darüber hinaus muss bei der Bestimmung der Reichweite einer jeglichen Ausnahme von einem individuellen Recht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beachtung finden, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, wie der Gerichtshof schon früher im Urteil Johnston entschieden hat. Die nationalen Behörden verfügen insoweit über einen bestimmten Beurteilungsspielraum, wenn sie die Maßnahmen ergreifen, die sie für notwendig erachten, um die öffentliche Sicherheit in einem Mitgliedstaat zu garantieren 48. Schließlich hat der Gerichtshof geprüft, ob im konkreten Fall die von den nationalen Behörden im Rahmen ihres Beurteilungsspielraumes getroffenen Maßnahmen tatsächlich das Ziel verfolgen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, und ob sie insoweit geeignet und erforderlich seien. In dieser Hinsicht hat er insbesondere darauf hingewiesen, dass sich nach den vom Ausgangsgericht getroffenen Feststellungen die Organisation der Royal Marines grundlegend von den anderen Einheiten der britischen Streitkräfte unterscheidet, von denen sie die Speerspitze bildeten. Es handelt sich um eine vergleichsweise kleine Truppe, deren Personal an vorderster Front zu kämpfen hat, vor allem als Infanteriesoldaten der Marine. Anerkanntermaßen müssen im Rahmen dieser Einheit auch die Köche tatsächlich in vorderster Front kämpfen, werden alle Männer zu diesem Zweck eingestellt und ausgebildet, und es gibt zum Zeitpunkt der Einstellung insoweit keine einzige Ausnahme von dieser Regel. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass „die zuständigen Stellen bei 46
Slg. 1988, 3559, Rs. 318/86 - Kommission/Frankreich.
47
EuGH (Fn. 20), Rs. 222/84 - Johnston.
4S
S. in diesem Sinne EuGH (Fn. 22) - Rs. C-83/94 - Leifer u.a.
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der Ausübung des Ermessens, über das sie im Hinblick auf die Möglichkeit verfugen, unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung den betreffenden Ausschluss aufrechtzuerhalten, (somit) ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit davon ausgehen (konnten), dass die speziellen Bedingungen in Kampfeinheiten, die die Royal Marines darstellten, und insbesondere der Regel der ,allseitigen Verwendbarkeit 4, der sie unterworfen sind, es rechtfertigen, dass die Einheiten ausschließlich aus Männern bestehen/4 (Rn. 31 ) Die Bedeutung dieser Rechtsprechung wurde weiter präzisiert im bereits genannten Urteil vom 11. Januar 2000 in der Rechtssache Kreil, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass im Gegensatz dazu nationale Bestimmungen wie die des deutschen Rechts, die in genereller Form Frauen von militärischen Arbeitsplätzen ausschließen, sofern dort eine Waffe getragen werden muss, und die allein den Zugang zum Sanitäts- und zum Musikdienst gestatten, mit der Richtlinie nicht vereinbar seien. Trotz einer gewissen Ähnlichkeit unterscheidet sich der zuletztgenannte Fall deutlich vom Fall Sirdan weil die Beschränkung des Zugangs für Frauen zu einer Tätigkeit in den Streitkräften in Deutschland deutlich stärker ausgeprägt ist als im Vereinigten Königreich. Das Verbot für Frauen, Dienst an der Waffe zu leisten, findet seine Grundlage im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 12a Abs. 4 letzter Satz). Nach § 1 Abs. 2 Soldatengesetz und § 3 Soldatenlaufbahnverordnung können Frauen nur eingestellt werden, um im Sanitäts- und im Musikdienst beschäftigt zu werden. Der Gerichtshof hat seine Überlegungen aus dem Urteil Sirdar übernommen und geprüft, ob die streitigen Maßnahmen geeignet und notwendig seien, um das Ziel der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. In Übereinstimmung mit den Schlussanträgen seines Generalanwalts La Pergola hat er entschieden, dass der vollständige Ausschluss der Frauen vom Dienst an der Waffe in den Streitkräften, der sich dementsprechend auf fast alle Tätigkeiten in der Bundeswehr erstreckt, angesichts seiner Reichweite nicht als gerechtfertigt angesehen werden kann durch die besonderen Eigenheiten der genannten Tätigkeiten oder die besonderen Bedingungen ihrer Ausübung. Mit Blick auf die Natur der bewaffneten Streitkräfte hat der Gerichtshof im Übrigen daraufhingewiesen, dass der Umstand, dass die Personen, die dort tätig sind, ggf. verpflichtet sein könnten, ihre Waffen zu gebrauchen, für sich genommen nicht den Ausschluss von Frauen vom Zugang zur Tätigkeit in den Streitkräften rechtfertigen könne. Er hat daher geurteilt, dass „die nationalen Stellen auch unter Berücksichtigung des ihnen zustehenden Ermessens hinsichtlich der Möglichkeit, den betreffenden Ausschluss aufrecht zu erhalten, nicht ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allgemein davon ausgehen (konnten), dass sämtliche bewaffneten Einheiten der Bundeswehr weiterhin ausschließlich aus Männern bestehen müssen4' (Rn. 29) 4g . 4g
Der Gerichtshof hat fernerhin ein Argument der deutschen Regierung zurückgewiesen, das sich auf Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie stützt, wonach „diese Richtlinie nicht den
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V. Schlussbemerkung Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Anwendung des Gleichbehandlungsgebotes von Männern und Frauen scheint von der Sorge um den gerichtlichen Schutz von Opfern der Diskriminierung geprägt zu sein. Diese wird vor allem deutlich bei der Anerkennung der unmittelbaren Wirkung des Grundsatzes oder der Festlegung von verfahrensrechtlichen Regelungen wie denen über die Beweislast. Nichtsdestoweniger hat der Gerichtshof bei der Reichweite seiner Interpretation gewisse Grenzen ziehen müssen, sowohl beim Anwendungsbereich der Entgeltgleichheit wie mit Blick auf bestimmte Formen indirekter Diskriminierung. In mancherlei Hinsicht scheint die Stellung des Gerichtshofes stark, um nicht zu sagen übermäßig, ausdifferenziert. Um ein Beispiel zu nennen, das in dieser Darstellung nicht behandelt wurde, kann etwa auf die Entwicklung der Rechtsprechung über die bei der Einlegung von Rechtsbehelfen durch die Opfer einer Diskriminierung zu beachtende Fristen verwiesen werden, soweit diese Schadensersatz oder Herausgabe des durch ungerechtfertigte Bereicherung Erlangten verlangen. In diesem Sinne wurde etwa im Urteil vom 25. Juli 199150 betreffend die Richtlinie 79/7 zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen eine für die Rechtsunterworfenen ausgesprochen günstige Lösung gewählt, indem davon ausgegangen wurde, dass, wenn sich ein Einzelner auf den Schutz einer Richtlinie beruft, die Fristen erst mit der Umsetzung der Richtlinie zu laufen beginnen. Die erheblichen Nachteile, die sich mit dieser Lösung verbinden, haben den Gerichtshof jedoch dazu veranlasst, die Bedeutung dieser Entscheidung in den nachfolgenden Urteilen erheblich zu begrenzen und sogar einzuschränken51. Die ursprünglich gewählte Lösung gilt insbesondere nicht, wenn es um Ausschlussoder Verjährungsfristen geht, die unabhängig davon Geltung beanspruchen, ob ein Rechtsbehelf auf eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts oder des nationalen Rechts gestützt ist 52 . Die zuletztgenannte Rechtsprechung hat eine besondere Rolle im Urteil des Gerichtshofs vom 1. Dezember 1998 in der Rechtssache Levez53 betreffend InVorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschutz, entgegen(steht)". Er hat dabei schlicht betont, dass diese Bestimmung, die den biologischen Schutz der Frau sicherstellen soll und die besonderen Bindungen zwischen einer Frau und ihrem Kind, nicht gestatte, Frauen von einer Tätigkeit auszuschließen „mit der Begründung, sie müssten im Verhältnis zu Männern stärker gegen Gefahren geschützt werden, die sich von den besonderen, in der Richtlinie ausdrücklich erwähnten Schutzbedürfnissen der Frau unterscheiden" (Rn. 30). 50
Slg. 1-4269, Rs. C-208/90 - Emmott.
51
S. insb. Slg. 1993,1-5475, Rs. 338/91 - Steenhorst-Neerings; Slg. 1994,1-5483, Rs. C-410/92 - Johnson; Slg. 1997, 1-6783, Rs. C-188/95 - Fantask. 52
EuGH, Slg. 1998, 1-4951, Rs. C-231 / 96 - Edis.
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terpretation der Richtlinie 75/117 zur Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen gespielt. Dabei wurde allerdings eine Lösung gewählt, die eher den gerichtlichen Rechtsschutz der Beteiligten stärkt. Einerseits wurde die im konkreten Fall einschlägige nationale Regelung als unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht angesehen, wonach die Geltendmachung von rückständigem Lohn auf die Frist von zwei Jahren beschränkt ist, auch wenn diese Regel nicht als solche zu kritisieren sei. Nach Ansicht des Gerichtshofes führt eine solche Regel unter den konkreten Umständen des Falles, in dem der Arbeitgeber falsche oder unvollständige Auskünfte erteilt hatte, dazu, dass es praktisch unmöglich oder zumindest sehr schwierig wird, Rückstände zu erhalten, obwohl die Gründe hierfür in der Arglist des Arbeitgebers liegen. Auf der anderen Seite hat der Gerichtshof, wie ihm sein Generalanwalt Léger vorgeschlagen hatte, angenommen, dass die Entgeltgleichheit einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz darstellt, den die nationale Gesetzgebung nur umsetzt. Daher könne man nicht die Einhaltung dieses Grundsatzes überprüfen anhand eines Vergleiches der Rechtsschutzmöglichkeiten für Klagen, die auf Gemeinschaftsrecht einerseits, auf nationales Recht andererseits gestützt sind. Notwendigerweise handelt es sich nämlich um die gleichen Klagen. Stattdessen ist es geboten, die Rechtschutzmöglichkeiten zu vergleichen mit denen, die in anderen vergleichbaren Fällen bestehen, etwa solchen, die die Nichterfüllung der arbeitsvertraglichen Verpflichtungen oder eine rassenbedingte Diskriminierung betreffen. Dieses letztgenannte Beispiel macht noch einmal die Schwierigkeiten deutlich, auf die der Gerichtshof trifft, wenn er klar die Kriterien bestimmen will, die bei der Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen von Bedeutung sind, obwohl dieser Grundsatz eine immer größere Bedeutung im Gemeinschaftsrecht einnimmt und die Rechtsstreitigkeiten insoweit immer häufiger werden.
53
Slg. 1-7835, Rs. C-326/96.
I I I . Europa und die Welt
The EU, Jerusalem and the Peace Process By Ruth Lapidoth*
I. Introduction One o f the subjects dealt w i t h by the European Union in the sphere o f foreign relations since an early stage is the Arab-Israel conflict, or the Middle East peace process 1 . This activity took place mainly in the framework o f the EPC (European Political Cooperation), and later o f the CFSP (Common Foreign and Security Policy). Since Jerusalem is a central issue in this context, the E U from time to time has dealt w i t h this question. The usual tools o f the CSFP are declarations, j o i n t actions 2 , common positions 3 and since 1999 also common strategies 4 . So far, in the Middle East con* This article was written while the author was visiting professor at the GeschwisterScholl-Institut für Politische Wissenschaft of the Ludwig-Maximilians-Universität in Munich. The author wishes to express her thanks to the Center for Applied Policy Research and its director, Prof. Dr. Werner Weidenfeld , and to the Bertelsmann Foundation. Many thanks are due to those who helped me at various stages to find the material upon which this article is based: Mr. Jonathan Quivel, Ms. Isahelle Reinery , Ms. Alexandra Meir , and Mr. Roman Maruhn. Special thanks are due to Ms. Victoria Reichl. I also wish to thank Ms. Silke Mayerl for her helpfulness and encouragement. The article was completed in January 2000. 1 D. Allen/M. Smith , Europe, the United States, and the Arab-Israeli Conflict, in D. Allen/A. Pijpers (eds.), European Foreign Policy Making and the Arab-Israeli Conflict, The Hague 1984, pp. 187-210, at p. 187; also published as D. Allen / M. Smith , "Europe, the United States and the Middle East: a Case Study in Comparative Policy Making", 22 Journal of Common Market Studies, 1983, pp. 125-146, at p. 125; /. Greilsammer /H. Weiler , Europe's Middle East Dilemma: The Quest for a Unified Stance, Boulder 1987, p. 26; S. Nuttall , Two Decades of EPC Performance, in E. Regelsberger /P. de Schoutheetede de Tervarent/ W Wessel (eds.), Foreign Policy of the European Union: From EPC to CFSP and Beyond, Boulder 1997, pp. 19-40, at p. 24. 2
Article 14 of the 1997 Treaty of Amsterdam. On joint actions, see e.g. R.A. Wessel, The European Union's Foreign and Security Policy: Legal Institutional Perspective, The Hague 1999, at pp. 116-121. 3 4
Article 15 of the 1997 Treaty of Amsterdam, see Wessel , ibid., pp. 119-124.
Article 13 (2) and (3) of the 1997 Treaty of Amsterdam; sec F. Algieri , Die Reform der GASP - Anleitung zu begrenztem gemeinsamen Handeln, in: W Weidenfeld (ed.), Amsterdam in der Analyse, Gütersloh 1998, pp. 89 -120, at pp. 9 5 - 9 8 ; U. Schmalz,
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text the EU has acted mostly by declarations and a few joint actions by the Council and by the European Council. However, we may also refer to certain resolutions adopted by the European Parliament and to answers given by the Council and the Commission to questions submitted by members of the European Parliament. Other documents may also have to be consulted. In dealing with EPC and CFSP matters, one has to bear in mind that these activities of the EU are of an intergovernmental nature and hence subject to international law, and not to community law 5 . This situation could of course change in the future. The discussion will center on two main subjects: The attitude of the EU with regard to the existing situation in Jerusalem, on the one hand, and its opinion on appropriate solutions, on the other hand. Two practical, less central, issues will also be mentioned, namely, the dispute between the EU and Israel about visits to the "Orient House", and the refusal of the EU to participate in the celebrations of the 3000th anniversary of the foundation of Jerusalem. In order to put the EU activities in the proper context, we will start by outlining the question of Jerusalem in the peace process. II. Jerusalem and the Peace Process When studying the Jerusalem question one has to bear in mind at least five aspects. The city is the object of conflicting national aspirations of two peoples — the Israelis and the Palestinians. It is holy to many millions of people — Christians, Jews and Muslims — who do not live there. The population is rather heterogeneous and includes members of some 40 different communities. There is a close relationship - social, economic, religious, cultural and technical between the city and its periphery, irrespective of the political status of the various areas. Many people have developed a strong emotional attachment to the city, and it has become of symbolic significance. These facts explain the difficulties involved in solving the Jerusalem question. The recent stages of the peace process started in 1991, with the convening of the Madrid Peace Conference, with the participation of Israel and all of its Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Amsterdamer Vertragsbestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik - Analyse, Bewertung und Perspektiven, Sankt Augustin 1998, at pp. 54-55. 5 T. Oppermann , Europarecht, 2. ed. München 1999, at p. 126; L. Münch , Die gemeinsame Aktion im Rahmen der GASP. Inhalt, Rechtsnatur und Reformbedürftigkeit, 1996 Europarecht, pp. 415-433, at p. 421; M. Koskenniemi , International Law Aspects of the Common Foreign and Security Policy, in id. (ed.), International Law Aspects of the European Union, The Hague 1998, pp. 2 7 - 4 4 , at p. 30 (The author also discusses the difficulty involved in the distinction between community law and international law); /. McLeod/I. D. Hendiy/S. Hvett , The External Relations of the European Communities, Oxford 1996, p. 412.'
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neighbours 6. It was convened after the Gulf War by the U.S. and the Soviet Union, and the European Community participated in a status similar to that of the convenors. The conference was followed by bi-lateral a well as multi-lateral negotiations. Jerusalem was not on the agenda of the conference, but it was mentioned in a letter of assurances from the U.S. that accompanied the letter of invitation to the conference sent to the Palestinians7. In 1993, the PLO and Israel conducted secret negotiations, and as a result, certain letters were exchanged and a Declaration of Principles was signed. The letters involved mutual recognition by the PLO and Israel, as well as renunciation of acts of violence by the PLO 8 . The Declaration of Principles on Interim Self-Government Arrangements 9 foresaw the peaceful solution of the conflict between Israel and the Palestinians in several stages, to start with a five year period of self-government, involving a transfer of powers from Israel and redeployment of the Israeli army. The process should be completed by an agreement on a permanent settlement based on Security Council resolutions 242 (1967) and 338 (1973). This declaration constituted a turning point in the attitude of the two parties on the question of Jerusalem. The parties agreed that Jerusalem would not be included in the interim self-government arrangements - a concession by the Palestinians. Israel, on the other hand, conceded that Jerusalem would be one of the subjects to be dealt with in the framework of the negotiations on the "permanent status"10. In addition, it was agreed that "Palestinians of Jerusalem who live there will have the right to participate in the election process" for the interim self-government authority for the West Bank and Gaza11, although Jerusalem is not within the jurisdiction of that authority. About a month after the Declaration of Principles was signed, a letter was sent by the Foreign Minister of Israel Shimon Peres to the Foreign Minister of Norway, Johan Jürgen Holst. According to this letter, 6 For the text of the letter of invitation, see R. Lapidoth/M. Hirsch (eds.), The ArabIsrael Conflict and its Resolution: Selected Documents, Dordrecht 1992, at pp. 384-386. 7
R. Lapidoth , Jerusalem: Past, Present and Future, 48 Revue internationale de droit comparé (1996), pp. 9 -33, at p. 25. x
For the text, see 28 Israel Law Review (1994), pp. 440-441.
9
For the text, see 32 International Legal Materials (1993), pp. 1525- 1544. Sec also J. Singer , The Declaration of Principles on Interim Self-Government Arrangements, 1 Justice (1994), pp. 4 - 2 1 ; E. Benvenisti , The Israel - Palestinian Declaration of Principles. A Framework for Future Settlement, 4 European Journal of International Law (1993), pp. 542-554; A. Cassese, The Israel - PLO Agreement and Self-Detcrmination, 4 European Journal of International Law (1993), pp. 564- 571; R. Shihadeh , Can the Declaration of Principles Bring About a "Just and Lasting Peace"?, 4 European Journal of International Law (1993), pp. 555-563. 10
Declaration of Principles, supra note 9, Article V (3), and Agreed Minutes to Article
IV. 11
Declaration of Principles, supra note 9, Annex I, para. 1.
Ruth Lapidoth
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"all the Palestinian institutions of East Jerusalem, including the economic, social, educational, cultural, and the holy Christian and Moslem places, are performing an essential task for the Palestinian population" and "will be preserved" 12. The details concerning the participation in the elections were agreed upon in the Israeli-Palestinian Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip of 199513, and in an additional agreement on the Initial Registration Canvass of 1995. Other questions were settled in the Palestinian Election Law of 7 December 199514. The Palestinians of the eastern neighbourhoods of Jerusalem participated in the elections which took place on 20 January 1996. The EU helped the Palestinians in the preparation of the elections and also took part in the monitoring". In 1994, Israel and Jordan concluded a Treaty of Peace. It did not deal with Jerusalem as such, but with the holy places: "... Israel respects the present special role of the Hashemite Kingdom of Jordan in Muslim Holy shrines in Jerusalem. When Negotiations on the permanent status will take place, Israel will give high priority to the Jordanian historical role in these shrines" 16. As these lines are being written, Israel and the Palestinians are negotiating on the permanent settlement, including the question of Jerusalem. According to the Sharm el-Sheikh Memorandum of September 1999, the parties agreed to "make a determined effort to conclude a Framework Agreement on all Permanent Status issues" by February 2000, and a comprehensive agreement by September
200017. 12
The Jerusalem Post, 7 June 1994, at p. 1.
13
For the text, see 36 International Legal Materials (1997), p. 551 (excerpts). The full text was published in 33 Kitvei-Amana, no. 1071, p. 1 (Israel's publication of treaties). See also J. Singer , The West Bank and Gaza Strip. Phase Two, 7 Justice (1995), pp. 5 - 1 7 ; R. M. Giladi , The Practice and Case Law of Israel in Matters Related to International Law, Review (1995), pp. 506-543; R. Shihadeh , From Occupation to Interim Accords: Israel and the Palestinian Territories, London 1997, at pp. 31-72. 14 Not published. The author expresses her thanks to Mr. Daniel Tauh who kindly equipped her with a copy of the agreement on the Initial Registration Canvass, and to Ms. Yael Ronen and Mr. Rotem Giladi who provided her a translation of the Election law. 15 E. Barbé /F. Izquierdo , Present and Future of Joint Actions for the Mediterranean Region, in: Martin Holland (ed.), Common Foreign and Security Policy. The Record and Reforms, London 1997, pp. 120-135, at p. 130. 16
34 International Legal Materials (1995), p. 43, Article 9. For an analysis see Reuven Merhav/Rotem Giladi , The Role of the Hashemite Kingdom of Jordan in a Future Permanent Status Settlement in Jerusalem. Legal, Political and Practical Aspects, The Jerusalem Institute for Israel Studies 1999 (Hebrew). 17 For the text, see http://www.israel.org/mfa/go.asp7MFA Hofo 30. See Article 1, para.c and d.
The EU, Jerusalem and the Peace Process
271
I I I . The EU and the Present Situation in Jerusalem As is well known, from 1948 until 1967 Jerusalem was divided between Israel and Jordan, in accordance with the 1949 General Armistice Agreement 18. At the beginning of the Six-Day War of 1967, Jordan attacked the areas under Israeli control. Israel repelled the Jordanian attack and took the areas which had been under Jordanian control. After the end of the hostilities, Israel extended its "law, jurisdiction and administration" to eastern Jerusalem and enlarged the municipal area of Jerusalem 19. In addition, since the new areas included many holy places, it adopted the Protection of the Holy Places Law, of 5727-196720. The unification of the city and its status as capital of the State as well as the protection of the holy places were reconfirmed by the Basic Law: Jerusalem Capital of Israel, of 198021. The EU has disapproved these acts undertaken by Israel. Thus, in the 1980 Venice Declaration adopted by the European Council it is said that " they will not accept any unilateral initiative designed to change the status of Jerusalem ..." 2 2 . With regard to the new Jewish neighbourhoods established in the areas that came under Israeli control in 1967, the EU considers them illegal: "Jewish settlements in the territories occupied by Israel since 1967, including East Jerusalem, are illegal under international law and under the 4 t h Geneva Convention in particular" 23 .
18
42 United Nations Treaty Series (1949), no. 656, pp. 304-320.
19
Law and Administration Ordinance (Amendment No. 11) Law, 5727-1967, 21 Laws of the State of Israel, Authorized Translation 5727-1966/67, p. 75; Law and Administration Order (No. 1), 5727-1967, Kovets Hatakanot (collection of orders and regulations), no. 2064, 5727 (1966/67), p. 2690. 20
21 Laws of the State of Israel, Authorized Translation 5727-1966/67, p. 76.
21
34 Laws of the State of Israel, Authorized Translation 5740-1979/80, p. 209.
22
For the text, see Bulletin of the European Communities, 6-1980, p. 10. For a discussion of this declaration, see I. Greilsammer /J. H. Weiler , supra note 1, pp. 4 4 - 5 2 ; D. Allen /M. Smith (1983), supra note 2, at p. 133; G. Edwards , Common Foreign and Security Policy. Incrementalism in Action?, in M. Koskenniemi (ed.), supra note 5, pp. 3 - 1 7 , at p. 7. S. Nuttall , supra note 1, at pp. 2 6 - 2 7 ; P. Ifestos , European Political Cooperation. Towards a Framework of Supranational Diplomacy? Avebury, 1987, at pp. 451-470. 23 See e.g. among many examples the reply of the Commission to a question submitted by a member of the European Parliament, 10 Sept 1991, OJ No. C 2, 1992, Item 45. See also the Luxembourg Declaration of the European Council of 29 June 1991, Bulletin of the European Communities, 6-1991, p. 7. at p. 16; Declaration of the Council of Ministers of 1. October 1996 in Luxembourg, Bulletin of the European Communities, ΙΟΙ 996, para. 1.4.13; Declaration by the Heads of State and of Government of the European Union, Berlin 25 March 1999, Bulletin of the European Communities, 3-1999, p. 7, at p. 23.
Ruth Lapidoth
272
Without going into a detailed legal analysis, it should however be mentioned that there are also different opinions on the legality of the settlements. In particular, it has been maintained that by Article 49 (6) of the Fourth Geneva Convention of 1949, the parties have only committed themselves not to "transfer" civilian populations into occupied territories, namely, only forceful transfers, as practised in World War II, are excluded; the Convention does not preclude voluntary movement by individuals, according to this opinion 24 . Moreover, both the 1993 Declaration of Principles 25 and the 1995 Interim Agreement 26 have delayed the discussion of the settlements and put it on the agenda of the final status negotiations. On the other hand, the parties have agreed that "Neither side shall initiate or take any step that will change the status of the West Bank and the Gaza Strip pending the outcome of the permanent status negotiations"27. The general policy of the EU on the status of Jerusalem has been defined several times, e.g., in the declaration made by the Council on 1st October 1996 in Luxembourg 28 : "East Jerusalem is subject to the principles set out in UN Security Council Resolution 242, notably the inadmissibility of the acquisition of territory by force and is therefore not under Israeli sovereignty. The Union asserts that the Fourth Geneva Convention is fully applicable to East Jerusalem, as it is to other territories under occupation". The reference to Security Council resolution 242 (1967) raises certain problems 29. It will be remembered that this resolution, adopted in November 1967, has been the cornerstone of the treaties of peace between Israel and Egypt (1979) and Jordan (1994) respectively. Moreover, it is to be the basis for the permanent status negotiations with the Palestinians. The question is, whether the EU, by practically requiring a full withdrawal from all the territories occupied in 1967, including eastern Jerusalem, has drawn the right conclusions from the resolution.
24
Israel National Section of the International Commission of Jurists, The Rule of Law in the Areas Administered by Israel, Tel-Aviv 1981, at p. 55. 25
Supra, note 9, Article V (3) and Agreed Minutes Β, IV (1).
26
Supra, note 13, Article X X X I (5).
27
Ibid., Article X X X I (7).
28
Luxembourg Declaration by the Council of Ministers of 1 Oct 1996, supra note 23. See also Declaration by the Presidency of 27 February 1997, E /18/97, 6308/97 (Presse 59). 29
Security Council, Official Records, 22 nd year, Resolutions and Decisions, pp. 8 - 9 . This resolution has been the subject of differing interpretations by the parties (as shown in the text below) and of a great number of articles. Among the more recent publications, see articles by A. Abu Odeh, N. Elaraby ; M Rosetme , D. Ross, E. Rostow and V. Turner , in: UN Security Council Resolution 242: The Building Block of Peacemaking, The Washington Institute for Near East Policy, 1993; R. Lapidoth , Security Council Resolution 242 at Twenty Five, 26 Israel Law Review (1992), pp. 295-318.
The EU, Jerusalem and the Peace Process
273
The EU has singled out and has quoted one paragraph in the preamble to the resolution. A look at some of the provisions in the main text may lead to a somewhat different conclusion: "The Security Council ... i. Affirms that the fulfilment of Charter principles requires the establishment of a just and lasting peace in the Middle East which should include the application of both the following principles: (i) Withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict 30; (ii) Termination of all claims or states of belligerency and respect for and acknowledgement of the sovereignty, territorial integrity and political independence of every State in the area and their right to live in peace within secure and recognized boundaries free from threats or acts of force; ..."
Israel and the Arab States disagree on the interpretation of this withdrawal clause. While the Arabs insist on complete Israeli withdrawal from all the territories occupied by Israel in 196731, Israel is of the opinion that the call for withdrawal is applicable in conjunction with the call for the establishment of secure and recognized boundaries to be established by agreement32. It seems that the EU has fully endorsed the Arab attitude. The Arab States base their claim on the combination of the following phrases: the provision in the preamble on "the inadmissibility of the acquisition of territory by war", and "withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict", in the latter's French version: "retrait des forces armées israéliennes des territoires occupés lors du récent conflit". Israel's interpretation is based on the plain meaning of the English text of the withdrawal clause which was the draft presented by the British delegation. It is also based on the fact that proposals in the Council to add the words "all" or "the" before "territories" were rejected; and on the idea, that in interpreting the withdrawal clause one has to take into consideration the other provisions of the resolution, including the one on the establishment of "secure and recognized boundaries". It seems that the resolution does not require total withdrawal for a number of reasons: — (a) The inadmissibility of the acquisition of territory by war merely reiterates the principle of international law that military occupation, although lawful if 30
The French version reads: "retrait des forces armées israéliennes des territoires occupés lors du récent conflit". 31 See e.g. replies by Jordan (23 March 1969) and by Lebanon (21 April 1969) to questions submitted by Ambassador Gunnar Jarring, in the Report by UN SecretaryGeneral U Thant, UN Doc. S /10070, of 4 January 1971. 32
Statement by Ambassador Abba Eban, UN General Assembly Official Records, 23rd session, 1686th Plenary Meeting, 8 October 1968, pp. 9 - 13 at 9 (sec. 92), and 11 (sec.
110). 18 FS Oppermann
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it is the result of an act of self- defence, does not by itself justify annexation and acquisition of title to territory. -
(b) The English version of the withdrawal clause requires only "withdrawal from territories", not from all territories, nor from the territories. This provision is clear and unambiguous. As Lord Caradon, the representative of Great Britain, stated in the Security Council on 22 November 1967: " I am sure that it will be recognized by us all that it is only the resolution that will bind us, and we regard its wording as clear .,." 3 3 .
-
(c) Since there seems to be a discrepancy between the English and the French texts, the English version should be preferred because it is identical with the original version of the British draft on which the resolution is based34. It is a well-established rule in international law that multilingual texts of equal authority in the various languages should be interpreted by "accordant la primauté au texte original" 35 , or the "basic language"36. Various authorities deal with this question in the context of the interpretation of treaties, but by analogy the relevant rules may also be applied to the interpretation of other categories of documents. One should remember that English was not only officially a "working language" in the Council, but also in practice the language of most of the deliberations. Indeed, English was used by ten members of the Council, while French was used by three, and Russian and Spanish by one each37.
-
(d) The provision on the establishment of "secure and recognized boundaries" included in para.l, subpara, (ii) of the resolution would have been meaningless if there had been an obligation to a withdrawal of Israeli armed forces from all the territories occupied in 1967. Similarly, there would have been no need to negotiate on borders, as is foreseen for the negotiations on the
33
Security Council Official Records, 1382rd meeting of 22 November 1967, p. 7, sec. 61. See also C. R. Vance / J.J. Sisco , Resolution 242, Crystal Clear, The New York Times, 20 March 1988. 34
UN Doc. S / 8247, of 16 November 1967.
35
Ch. Rousseau, Droit International Public, vol. Ill, Paris 1977, at p. 290.
36
Sir A. Duncan McNait\ The Law of Treaties, London 1961, p. 434. The 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, too, implicitly refers to the original text of the document since it recommends having recourse to the preparatory work of the treaty and the circumstances of its conclusion (Article 33, sec. 4). See also M. Tahoty , Multilingualism in International Law and Institutions, Alphen 1980, at p. 211; /. Sinclair , The Vienna Convention on the Law of Treaties, 2nd ed., Manchester 1984, at p. 152; P. Weil, Le règlement territorial dans la résolution du 22 Novembre 1967, Nouveaux Cahiers, No. 23 (Winter 1970). 37 Sh. Rosenne, On Multi-Lingual Interpretation, 6 Israel Law Review (1971), pp. 360-365.
The EU, Jerusalem and the Peace Process
275
final status between Israel and the Palestinians38, if Israel had to withdraw from all the territories. To conclude, the gist of the withdrawal clause is that "[w]hen peace is made, the resolution calls for Israeli withdrawal to secure and recognized boundaries" 39 . The EU, by quoting only one provision taken from the preamble, contorts the meaning of that passage and ignores other provisions of the main text which are no less important. Like the UN, the EU is of the opinion that the eastern parts of Jerusalem are occupied territory subject to the Fourth Geneva Convention of 1949. Again, without going into a detailed legal analysis, it should be mentioned that there are also different opinions on this matter 40. Thus, some experts in international law maintain, that during the period 1949-1967 (the time it was under Jordanian rule), the area was under a vacuum of sovereignty: Britain had abandoned the area, but Jordan could not fill the gap because it had occupied east Jerusalem by an illegal act of aggression 41. This vacuum existed until Israel occupied east Jerusalem by a lawful act of self-defence and thus was entitled to fill the gap 42 . Under a slightly different interpretation, Israel has the strongest relative title to the area in the absence of a lawful "sovereign reversioner" due to Jordan's lack of valid sovereignty 43. As to west Jerusalem — the area which has been under Israeli jurisdiction since 1948, and is on the Israeli side of the armistice line established under the 1949 Agreement between Israel and Jordan 44, - the EU accepts the de facto control of Israel in these areas, without de jure recognition 45. 3S
Declaration of Principles of 1993, supra note 9, Article V (3); and Interim Agreement of 1995, supra note 14, Article X X X I (5). 39
E. V. Rostow, The Perils of Positivism. A Response to Professor Quigley, 2 Duke Journal of Comparative and International Law (1992), pp. 229-246, at p. 229. 40
See e.g. a summary of the main opinions on the status of Jerusalem in R. Lapidoth , Jerusalem. Some Jurisprudential Aspects, 45 Catholic University of America Law Review (1996), pp. 661-686, at pp. 671-676. 41
See, e.g., E. Lauterpacht, Jerusalem and the Holy Places, London 1968, repr. in 1980; Julius Stone, Israel and Palestine - Assault on the Law of Nations, Baltimore 1981, at pp. 116-118; St. SchwebeL What Weight to Conquest?; 64 American Journal of International Law (1970), p. 344. For a similar but not quite identical opinion, see M. I. Gruhin , Jerusalem. Legal and Political Dimensions in Search for Peace, 12 Case Western Journal of International Law (1980), p. 169. 42
Ibid.
43
Y. Z. Blum , The Juridical Status of Jerusalem, Jerusalem 1974.
44
Supra Note 18.
45
Reply of 20 December 1995 by the Council to a question submitted by a member of the European Parliament, OJ of the European Communities, 39th year, C 56, of 26 February 1996. 18*
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Several times the EU has urged the parties to refrain from activities which prejudge the outcome of the final status negotiations46. Has the EU itself lived up to this principle? Let us examine the "Orient House" affair. This building serves as headquarter for Mr. Faisal Husseini, the PLO's representative in Jerusalem47. The house serves as a centre for various administrative, political and quasi-political activities. Mr. Husseini even receives and briefs foreign diplomats in these premises. Israel claims that these activities contravene the commitments undertaken by the Palestinians in the 1993 Declaration of Principles 48 and in the 1995 Interim Agreement 49, namely, that the offices of the Palestinian authority "shall be located in areas under Palestinian territorial jurisdiction in the West Bank and the Gaza Strip". This activity in the Orient House no doubt prejudges the outcome of the permanent status negotiations on Jerusalem. Nevertheless, the EU supports this activity by insisting that its emissaries pay a visit to the place and hold there official talks with Mr. Faisal Husseini. When a member of the European Parliament raised the question whether "holding official talks with Palestinian officials in East Jerusalem" does not imply "recognition of Palestinian authority over that part of the city", the Council answered as follows: "Since the Israeli annexation of East Jerusalem, existing Palestinian institutions in this part of the city have continued to function and new ones, including Orient House, have been created. With the aim of reaffirming the EU s policy on the status quo in Jerusalem and exercising the right of free access to both parts of the city, foreign ministers of EU Member States make a point of visiting Orient House when they are in Jerusalem. However, Orient House is not an institution of the Palestinian Authority "50
On the other hand, the EU refused to participate in the celebrations of the 3000th anniversary of the foundation of Jerusalem - a mainly touristic enterprise - to which Israel had invited it. In response to a question submitted to the Council, the latter stated that, according to the Israeli organizers, the celebrations are intended to remind that King David established Jerusalem as his capital 46
See, e.g., the reply mentioned in note 46; Declaration of the Presidency of 27 February 1997, E/18/97, 6308/97 (Presse 59) of 5 March 1997; Luxembourg Declaration by the Council of Ministers, 10 October 1996, Bulletin of the European Communities, 10-1996, para. 1.4.13; Presidency Conclusions of the Berlin meeting of the European Council of 25 March 1999, supra note 23. 47 On the Orient House, see M. Klein , Doves Over Jerusalem's Sky. The Peace Process and the City 1977-1999, Jerusalem Institute for Israel Studies 1999, at pp. 137-138 (Hebrew). 4H
Supra, note 9, Annex II Article 5.
4g
Supra, note 13, Article I (7).
50
Reply by the Council of 2 April 1996 to three written questions submitted in the European Parliament, OJ No. C 137, 1996, Item 7 (96/C 137/07).
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3000 years ago. King David founded his city in what is today East Jerusalem. The EU's attitude towards these celebrations is therefore a consequence of the non-recognition of the annexation of East Jerusalem by Israel. Moreover, the EU has always maintained that nothing should be undertaken which could prejudge the outcome of the permanent status negotiations"1. No wonder that a member of the European Parliament raised the question whether these two attitudes of the Council were consistent52. To conclude, the attitude of the EU towards Jerusalem can be summarized as follows: The EU accepts Israel's de facto control over the western neighbourhoods but does not recognize Israeli sovereignty in these areas. The eastern parts are considered to be occupied territory subject to the Fourth Geneva Convention and Israel is requested to withdraw completely from these areas. The EU considers the establishment of new Jewish neighbourhoods in these eastern areas to be contrary to international law. The parties should refrain from activities which may prejudge the outcome of the permanent status negotiations, but it is doubtful whether the EU itself lives up to this principle with regard to the "Orient House". IV. The EU and the Future of Jerusalem On several occasions representatives of the EU have expressed support for the implementation of agreements reached by the parties to the conflict and have also strongly supported the negotiations on the permanent status"3. It may be assumed that the EU will accept and welcome any agreement which the parties may reach. But what is the solution preferred by the EU itself? The answer is: internationalization of the city. This solution has been continuously advocated by the EU, at least since 1971. On 13 May 1971, the European foreign ministers unanimously approved a paper which stated inter alia that "an international status
51 Reply of the Council of 20 December 1995 to a question submitted in the European Parliament, OJ, 39th year, C 56/21, of 26 February 1996. 52 Questions no. E-3151 / 95, P-3316/95 and P-238/96 of November 1995, to which the Council replied on 2 April 1996, supra note 50. 53 See e.g. the Florence Declaration of the European Council of 22 June 1996, Press Release Florence (21-06-1996) - Document SN 300/96 (Presse O); Resolution of the European Parliament of 18 September 1997, OJ, 40th year, C 304, of 6 October 1997; Luxembourg Declaration by the European Council of 13 December 1997, para. 71, 75 and 79, Bulletin of the European Communities, 12-1997, p. 8. at p. 16-17; Berlin Declaration of the European Council (Presidency Conclusions) of 25 March 1999, supra, note 24; Luxembourg Declaration of the Council of 1 October 1996, Bulletin of the European Communities 10-1996, para. 1.4.13.
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must be given to Jerusalem" 54. In the Venice Declaration of 13 June 1980 the Heads of State and of Government expressed their opposition to "any unilateral initiative designed to change the status of Jerusalem", and stated that "any agreement on the city's status should guarantee freedom of access for everyone to the Holy Places"55. With the aim of clarifying and giving substance to the Venice principles, the directors for political affairs of the foreign ministries prepared a document with a list of options on four subjects: 1. Withdrawal of all Israeli troops; 2. Palestinian self-determination; 3. Security guarantees for all states in the region; 4. The status of Jerusalem'6. The text was approved by the European Council in its Luxembourg statement of 2 December 1980: the Council declared that new contacts should be established with the parties concerned on the basis of the above recommendations*7. The report remained classified, but its contents was published in two newspapers58 from which the following quotations on the question of Jerusalem are taken: " A l l changes in Jerusalem are illegal which have occurred since the UN plan for the Partition of Palestine in 1947. Several solutions are possible. One would be to return the city to the international status accorded in the UN partition plan. Another would be to divide the city between Israel and the new Palestinian entity while placing the holy places under their respective religious authorities. A final option would be to divide the city and give international status to 'the old city' in East Jerusalem." 54
In 1990, the European Parliament adopted a resolution dealing with oppression in the territories under Israeli occupation. One paragraph in the preamble deals with Jerusalem. The parliament took into consideration that members of the Community adhere to the status of the city of Jerusalem as it has been defined by the UN General Assembly resolution 181 of 29 November 1947 54
I. Greilsammer/ J. Weiler,
55
Ibid. p. 48.
56
Ibid. p. 59.
57
Ibid. p. 58.
supra note 1, at p. 27.
5
* Le Soir of 28 and 29 December 1980, pp. 1 and 3; International Herald Tribune of 2. March 1981, pp. 1 and 2. 59
That is the quotation from the International Herald Tribune. The text concerning Jerusalem in Le Soir reads as follows: "Plusieurs options pour Jérusalem. En ce qui concerne Jérusalem, les Neuf considèrent, en conformité avec les résolutions de 1O.N.U., tout ce qui a été fait depuis le plan de partage de la Palestine du 27 [sic.] novembre 1947, comme illégal. Ils proposent des lors plusieurs solutions: - Retour au statut international de 'corpus separatum ' prévu par le plan de partage de 1947; - Division de la ville en plaçant les lieux saints sous l'autorité religieuse: - Division de la ville avec internationalisation de la vieille ville. Dans le cas d'une division de la ville, celle-ci pourrait être placée sous administration commune."
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(which will be outlined below) 60 . The same opinion was reiterated in a Note Verbale sent by the Embassy of Germany in Tel Aviv in the name of the EU to Israel's ministry of foreign affairs on 1st March 1999: "... The EU reaffirms its known position concerning the specific status of Jerusalem as a corpus separatum . This position is maintained in strict accordance with international law. The EU therefore does not intend to change its existing practices over meetings in Jerusalem
This Note Verbale was sent in the context of the disagreement over visits to "Orient House" by emissaries of the EU. The expression corpus separatum refers us to the above mentioned resolution 181 of the UN General Assembly which will now be discussed. It will be remembered that in 1947, after World War II, Britain requested the UN General Assembly to consider the Palestine question, and on 29 November 1947 the Assembly adopted its famous resolution on the future government of Palestine62. The resolution recommended the establishment of an Arab state, a Jewish state, and a special entity of Jerusalem. Part III of the resolution dealt with Jerusalem. The General Assembly recommended the establishment of a " corpus separatum under a special international regime" 63 . The objectives were to be the preservation of the unique spiritual and religious interests in the city, and "to this end to ensure that order and peace, and especially religious peace, reign in Jerusalem" 64. In addition, the regime was intended to foster cooperation among all the inhabitants of the city. The UN Trusteeship Council and a governor appointed by it were to administer the corpus separatum 6\ while preserving existing local autonomous units and considering the establishment of new ones. The city was to be demilitarized and neutralized. In case of obstruction by one or more sections of the population, the governor was to have authority to take all necessary effective measures. Jerusalem was to have a police force composed of people recruited outside Palestine. A legislative council, elected by the adult residents of the city, would have had powers of legislation and taxation. However, the governor was authorized to veto any legislative or other measures that contravened the provisions of the Statute to be adopted by the Trusteeship Council for the city. In case of failure of the legislative council to act, the governor could adopt necessary temporary ordinances. The Statute was 60 Resolution of 18 January 1990, published in the OJ No. C 38 of 19 February 1990, at p. 77. 61
A. Eldar , EU Asserts Jerusalem is not Israel, Ha aretz, English edition, 11 March
1999. 62
General Assembly Official Records, 2nd session 1947, pp. 131-151.
63
Section A.
64
Section C (1) (a).
65
Section A, and C (2).
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to provide for the establishment of an independent judiciary system, including a court of appeal. In the economic sphere, the General Assembly recommended the establishment of an economic union between Jerusalem and the Jewish and Arab states, that were to be established in Palestine. The resolution also dealt with freedom of transit and visits, relations with the Arab and Jewish states, citizenship and human rights, in particular in matters of religion. Special provisions were intended to ensure existing rights at holy places (a hint to the historical status quo decreed by the Ottoman Empire in the 19th century 66) including rights of access and of worship. The Governor was authorized to undertake repairs at holy places in case the relevant community failed to carry out the necessary repairs. Another provision dealt with the taxation of holy places. The protection of the holy places in Jerusalem was entrusted to the governor and he was also to have certain responsibilities with regard to holy shrines in the Jewish and the Arab state. Moreover, he was to be authorized to adopt decisions - on the basis of existing rights - in case of disputes between different religious communities or rites with regard to holy places in the Jewish and the Arab state. The regime was to be established in the first instance for a period of ten years, after which the Trusteeship Council was to re-examine it in light of the experience acquired and in light of the wishes of the residents. The corpus separatum was to apply to a large area, from Ein Karim in the West to beyond the Eastern slopes of Mount Scopus and the Mount of Olives in the East, thus including El-Ezariya and Abu Dis; and from Shu'afat in the North to beyond Bet Jala, Bethlehem and Beit Sahur in the South (see attached map). The General Assembly resolution received the consent of the national leadership of the Jewish community of Palestine67, but the Arabs categorically rejected it 6 8 and immediately initiated attacks on Jewish towns and villages, including the Jewish neighbourhoods of Jerusalem. This, then, is the resolution and the corpus separatum to which the EU still subscribes. Moreover, according to the 1999 Note Verbale, this is in strict accordance with international law. The reference to international law is problematic. It should be remembered that this is a Gen66 On the status quo, see L G. A. Cust , On the Status Quo in the Holy Places, London 1929, repr. in 1980 by A.Sh. Berkovitz , The Legal Status of the Holy Places in Israel, Ph.D. Thesis submitted in 1978 to the Hebrew University, pp. 3 5 - 4 5 ; I. Englard , The Legal Status of the Holy laces in Jerusalem, 28 Israel Law Review (1994), pp. 589-600, at pp. 591-593. 67
UN General Assembly Official Records, 2nd session, 1947, Ad Hoc Committee on the Palestinian Question, at pp. 12-19 (reprinted in Lapidoth/ Hirsch, supra note 6, at pp. 55-56). 68 UN General Assembly Official Records, 2nd session, 1947, Ad Hoc Committee on the Palestinian Question, at pp. 5—11; ibid., plenary meetings, vol. 2, at pp. 1425 - 1427 (reprinted in Lapidoth/ Hirsch, supra note 6, at pp. 57-60).
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eral Assembly resolution, and, as is well known, resolutions of the Assembly are mere recommendations. Only in matters of its internal regulations and of the UN budget is the Assembly authorized to adopt binding decisions69. If the two parties had accepted the resolution, it could have become binding for them because of their mutual consent. But, as mentioned, the Arabs rejected it vehemently. Since it was rejected by the Arabs, Israel's consent has not matured into a binding commitment and lost its effect. If the drafters of the Note Verbale of 1999 intended to say, that the opinion which favours the implementation of the corpus separatum idea is in conformity with international law, this would be acceptable. Internationalization is not contrary to international law. But if the drafters wished to convey the idea, that there is an obligation under international law to accept and implement the corpus separatum regime, it would be difficult to agree with them 70 . The UN General Assembly in 1947 and the EU are not the only ones who have favoured an internationalization of Jerusalem. Some have recommended the internationalization of the whole city while others limited that solution to the Old City or the holy places71. However, these proposals are hardly anymore relevant today since all the parties directly involved reject territorial internationalization. The development of the attitude of the Holy See is revealing in this regard. In the past, the Vatican was in favour of territorial internationalization of the city of Jerusalem and in 1947 supported the corpus separatum solution. However, after the 1967 Six Day War, the Holy See adopted a different proposal which would leave the question of sovereignty to be agreed upon by the parties, but would call for a special internationally guaranteed "statute" (or "status") for Jerusalem. This status should involve geographical, individual and communal aspects: the recognition of Jerusalem's sacredness (in particular of the Old City) and the obligation to preserve it both physically and demographically; equality of rights of all residents and freedom of access for all pilgrims; the right of the religious communities to function; and international guarantees for that regime 72. Maybe the time has come for the EU, too to abandon the corpus separatum idea, and adopt a more practical proposal. 69 Charter of the United Nations, Articles 10 and 17. See also B. Simma (ed.), Charter of the United Nations. A Commentary, Oxford 1995, at p. 237. 70
Certain authors have, however, maintained that the resolution is binding upon the parties; see S. V. Mallison /IV. T. Mallison , The Jerusalem Problem in Public International Law. Juridical Status and a Start Towards Solution, in: Hans Koechler (ed.), The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem, Wien 1981, pp. 98-119, at p. 107; A. Cassese, Legal Considerations on the International Status of Jerusalem, ibid., pp. 144-153, at pp. 149 and 151. 71
M. Hirsch /D. Housen-Couriel / R. Lapidoth , Whither Jerusalem? Proposals and Positions Concerning the Future of Jerusalem, The Hague and the Jerusalem Institute for Israel Studies 1995, at pp. 139-141. 72
Ibid., pp. 127-128.
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Ruth Lapidoth
To conclude: the E U supports the ongoing negotiations on the permanent status, including those about Jerusalem. It may be assumed that the E U w i l l accept whatever solution the parties may adopt, provided that free access and freedom o f worship at the holy places are ensured 73 . However, the E U seems still to favour a solution based on the corpus separatum notion, namely, territorial internationalization o f the city — a notion which is out o f date.
V. Conclusion The European U n i o n has in certain areas contributed positively to the peace process in the M i d d l e East 74 . Thus, it has appointed an able special envoy to the area 75 , it is prepared to participate in a system o f guarantees 76 , it is prepared to make suggestions in the search for a permanent settlement 77 , troops o f its members participate in the various peace-keeping forces in the area — M F O , U N D O F and U N I F I L ; the E U has played an important role in the multilateral working groups established after the 1991 Madrid Peace Conference, in particular it has been very active in the Regional Economic Development w o r k i n g 73 Conclusion of the Presidency on the Florence deliberations of the European Council, 22 June 1996, Press Release Information: Florence (21-06-1996), Document SN 300/96 (Presse Ο), chapter V I I I (Declaration on the Peace Process in the Middle East); The 1980 Venice Declaration, para. 8, supra, note 22. 74 See e.g. S. Behrendt , Europe in the Middle East. The Underestimated Actor Introduction, in: S. Behrendt /Ch. P. Hanelt (eds.), The Political Role of the European Union in the Middle East, Munich / Gütersloh 1998, pp. 1 - 1 0 , at p. 1 - 4 ; G. M. Steinberg , The European Union and the Middle East Peace Process, Jerusalem Letter/Viewpoints, No. 418, 15 November 1999 (published by the Jerusalem Center for Public Affairs); id., Searching for a Sustainable Peace Settlement Between Israel and its Neighbours: An Israeli View, in: S. Behrendt/ Ch. P. Hanelt (eds.), Security in the Middle East, Munich / Gütersloh 1999, pp. 19-24; J. Peters , Europe and the Arab-Israeli Peace Process. The Declaration of the European Council of Berlin and Beyond, ibid., pp. 2 5 - 4 0 , at p. 2 7 , 3 1 - 3 7 . 75 J. Peters , ibid., p. 3 2 - 3 4 ; J. Alpher , The Political Role of the EU in the Middle East: Israeli Aspirations, in: S. Behrendt / Ch. P. Hanelt (eds.). The Political Role of the European Union in the Middle East, supra note 75, pp. 71-79, at pp. 74-75. The Special Envoy's mandate was defined in a Joint Action adopted on 25 Nov. 1996 by the Council (96/676/CFSP), OJ No L 315/1, of 4 December 1996. The author wishes to express her thanks to Dr. Sven Behrendt for having provided her this document. 76
See the Venice Declaration, supra note 55.
77
The Luxembourg Declaration of the European Council of 13 December 1997, para. 83, supra note 53; The Berlin Declaration (Presidency Conclusions) of the European Council of 25 March 1999, supra note 24. 78
A. Pijpers , European Participation in the Sinai Peace-Keeping Force (MFO), in: D. Allen/A. Pijpers (eds.), European Foreign Policy-Making and the Arab-Israeli Conflict, The Hague 1984, pp. 211 -223.
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group which it has chaired (it is its "gavelholder"); the EU has a counter-terrorism programme of assistance to the Palestinians79 and has granted them considerable financial assistance in other spheres80; it has initiated the Barcelona Process which may indirectly encourage the peace-making81; it has decided to work for the termination of the economic boycott against Israel by the Arab States82; it has even been said that at the origin of the secret negotiations in 1993 lay a research work funded by the EU. However, on the subject of Jerusalem, the EU has not been helpful so far. As to its attitude with regard to the existing status of the city, it has completely adopted the Arab view. Moreover, it is possible that the dispute between Israel and the Palestinians about the "Orient House" would not have reached such intensity but for the inflammatory attitude of the EU. As to the future of the city, while supporting the negotiations between the parties, the EU still seems to prefer the corpus separatum solution which is unsuitable under the present circumstances. However, the EU can contribute considerably to the search of a solution for the city, or different solutions for its various parts. It can serve as an inspiring precedent for models of compromise, in particular for a reduced relevance of territorial sovereignty as practised by the EU itself, and for the possibility of cooperation between neighbours without agreement on the exact location of the borders 83.
79
E. Barbé /F. Izquierdo , supra note 15, at p. 130.
K0
Ibid.
Hl
J. Peters , The Barcelona Process and Arab-Israeli Multilateral Talks. Competition or Convergence?, in: S. Behrendt / Ch. P. Hanelt (eds.), The Political Role of the European Union in the Middle East, supra note 74, pp. 4 3 - 5 6 , at pp. 5 0 - 5 4 ; E. Barbé / F. Izquierdo , supra note 15, at pp. 120-129. K2
Resolution of the Council about a Joint Action to support the Peace Process in the Middle East, Resolution 94/276/GASP, Bulletin of the European Communities, 4-1994, p. 66. E.g., the cooperation between Germany and the Netherlands in the Ems-Dollard area, despite disagreement about the location of the boundary. See G. Nolte , Ems-Dollard, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, vol. 2 (1995), pp. 78-80.
Der Verfassungsgerichtshof und die „europäische Klausel64 in der polnischen Verfassung von 1997 Von Leszek Lech Garlicki
I. Einführung „Seit der politisch-wirtschaftlichen Wende in Europa 1989/91 hat der Prozess der Annäherung einer größeren Zahl von mittel- und osteuropäischen Staaten an die Gemeinschaft begonnen"1. Polen gehört auch zu diesem Kreis der „beitrittsvorbereitenden Staaten". Bisher ist der Prozess der politischen Transformation, der in Polen 1989 angefangen hat, in den Integrationsbestrebungen im militärischen sowie im wirtschaftlichen Bereich zum Ausdruck gekommen. Nach zehn Jahren hat er zum Beitritt Polens zur NATO und zum Abschluss des Assoziierungsvertrags mit den Europäischen Gemeinschaften geführt. Es finden Verhandlungen über den vollen Beitritt Polens in die Europäische Union statt. Auf dem Hintergrund dieser politischen Ereignisse wurden die bekanntlich 1997 abgeschlossenen Arbeiten an der neuen Verfassung vorgenommen. „Die Väter" der Verfassung waren sich, ungeachtet der politischen Unterschiede zwischen ihnen, darüber im Klaren, dass sowohl die Stellung des Völkerrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung im Allgemeinen als auch der Umfang des Integrationsprozesses und die Weise, in der er sich vollzieht, im Speziellen geregelt werden müssen. (Diese Fragen waren in den früheren Verfassungen nicht erwähnt worden). Dies ist in den Art. 89—91 der Verfassung zum Ausdruck gekommen, wobei Art. 90, die „europäische Klausel" genannt, den Beitritt Polens zu supranationalen Strukturen betrifft 2. Zwar steht es nicht ausdrücklich 1 2
T. Oppermann. Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 810.
Artikel 89: (1) Die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages durch die Republik Polen sowie dessen Kündigung bedürfen einer vertraglichen Zustimmung durch Gesetz, falls der Vertrag folgende Gegenstände betrifft: - Frieden, Bündnisse, politische oder militärische Abkommen, - Freiheiten, Rechte oder Pflichten der Staatsbürger, die in der Verfassung bestimmt worden sind, - die Mitgliedschaft der Republik Polen in einer internationalen Organisation, - erhebliche finanzielle Belastung des Staates,
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Leszek Lech Garlicki
i m Verfassungstext, doch ist offensichtlich, dass hier der Beitritt zur Europäischen Union gemeint ist. Es soll daran erinnert werden, dass gerade diese Vorschrift Gegenstand scharfer politischer Auseinandersetzungen war, w e i l die Gruppierungen, die gegen die Verfassung waren, sich die sog. Integrationsgefahr als einen der Hauptpunkte ihrer K r i t i k ausgesucht haben. Diese K r i t i k hat die Mehrheit der am Verfassungsreferendum Beteiligten nicht überzeugt, doch sie hat die Redaktion des Art. 90, bei der politische Vorsicht und die Hoffnung auf einen Kompromiss ausschlaggebende Faktoren waren, in gewisser Weise beeinflusst. In dieser Betrachtung konzentriere ich mich auf zwei Probleme: einmal das Verfahren zur Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags, der den Beitritt -
Angelegenheiten, die im Gesetz geregelt worden sind oder für die die Verfassung ein Gesetz voraussetzt. (2) Der Vorsitzende des Ministerrates hat den Sejm von der Absicht zu unterrichten, dem Präsidenten der Republik Polen einen völkerrechtlichen Vertrag zur Ratifizierung vorzulegen, der der durch Gesetz geäußerten Zustimmung nicht bedarf. (3) Grundsätze und Verfahrensweise des Abschlusses, der Ratifizierung und der Kündigung von völkerrechtlichen Verträgen regelt das Gesetz.
Artikel 90: (1) Aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages kann die Republik Polen einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organ die Kompetenz von Organen der staatlichen Gewalt in bestimmten Angelegenheiten übertragen. (2) Das Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Abs. 1 wird vom Sejm mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl und vom Senat mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Zahl der Senatoren angenommen. (3) Die Zustimmung zur Ratifizierung eines solchen Vertrages kann auch in einer Volksabstimmung gemäß Art. 125 beschlossen werden. (4) Ein Beschluß über die Weise, in welcher der Ratifizierung zugestimmt werden soll, wird vom Sejm mit absoluter Mehrheit der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl angenommen. Artikel 91: (1) Nachdem ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag im Gesetzblatt der Republik Polen veröffentlicht worden ist, bildet er einen Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung und wird unmittelbar angewandt, es sei denn seine Anwendung setzt die Verabschiedung eines Gesetzes voraus. (2) Der völkerrechtliche Vertrag, dessen Ratifizierung ein Zustimmungsgesetz vorausgegangen ist, hat den Vorrang einem Gesetz gegenüber, falls das Gesetz mit dem Vertrag unvereinbar ist. (3) Das von einer internationalen Organisation hervorgebrachte Recht wird unmittelbar anwendbar und hat im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Gesetz den Vorrang, wenn es sich so aus einem von der Republik Polen ratifizierten Vertrag, durch den eine internationale Organisation gebildet wird, ergibt. (Nach: Verfassung der Republik Polen, übersetzt von E. Misior, Kanzlei des Sejms, Warszawa 1997)
Die „europäische Klausel" in der polnischen Verfassung von 1997
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Polens zur Europäischen Union betrifft, zum anderen die Stellung des Gemeinschaftsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Dagegen lasse ich die Frage nach Umfang und Charakter der Übertragung von staatlichen Kompetenzen an die supranationalen Organe (Art. 90 Abs. 1) außer Acht 3 .
I I . Das Ratifikationsverfahren 1. Der Beitritt zu europäischen Strukturen kann nur kraft eines entsprechenden völkerrechtlichen Vertrags (bzw. entsprechender Verträge) erfolgen. Art. 89 der Verfassung bestimmt allgemeine Grundsätze des Verfahrens, nach denen ein völkerrechtlicher Vertrag zustande kommt, und verlangt - nach Vorbild der meisten modernen Staaten - , dass die wichtigsten Verträge (in Art. 89 Abs. 1 aufgezählt) v o m Staatsoberhaupt ratifiziert werden, und zwar erst nach der Zustimmung des Parlaments in Form eines Gesetzes. Ein solches Ratifikationsgesetz ist eine besondere A r t des Gesetzes i m materiellen Sinne, kommt aber in demselben Verfahren wie alle einfachen Gesetze zustande 4 . Ähnliches gilt für das Verfahren bezüglich der Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages.
3 In dieser Hinsicht findet insbesondere die Diskussion statt, inwiefern die „Kompetenzübertragung" mit der „Souveränitätsübertragung" gleichgesetzt werden kann. Siehe u.a.: A. Wasilkowski, Uczestnictwo w strukturach europejskich a suwerennosc panstwowa, Panstwo i Prawo 1996, Heft 4 - 5 , S. 18 ff; J. Barcz, Konstytucyjnoprawne podstawy stosowania prawa Unii Europejskiej w Polsce, in: Prawo miedzynarodowe i wspólnotowe w wewnetrznym porzadku prawnym, pod red. M. Kruk, 1997, S. 207; K. Dzialocha, in: Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz pod red. L. Garlickiego, 1999, Art. 90 Rn. 3. 4 Das gesetzgeberische Verfahren umfasst also: 1. die Gesetzesinitiative (in der Lehre ist umstritten, ob der Entwurf eines Ratifikationsgesetzes nur durch die Regierung oder auch durch andere Subjekte der gesetzgeberischen Initiative eingebracht werden kann); 2. die Erörterung des Entwurfs und Verabschiedung des Gesetzes durch den Sejm (mit der einfachen Stimmenmehrheit in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl); 3. die Erörterung des Gesetzes durch den Senat und - in der Frist von 30 Tagen eventuell Beschluss von Änderungen; 4. - falls der Senat Änderungen beschlossen hat - ihre Erörterung durch den Sejm (der Sejm kann die Änderung des Senats mit absoluter Stimmenmehrheit ablehnen, wobei das Fehlen dieser Mehrheit zur Folge hat, dass die Änderung des Senats in den Gesetzestext einbezogen wird); 5. die Unterzeichnung des Gesetzes vom Staatspräsidenten, was innerhalb von 21 Tagen erfolgen muss; der Staatspräsident kann jedoch ein Veto einlegen (das der Sejm mit der Dreifünftelmehrheit überstimmen kann) oder das Gesetz dem Verfassungsgerichtshofs vorlegen (die Entscheidung des Gerichts ist für den Staatspräsidenten bindend). Siehe W. Sokolewicz, Ustawa ratyfikacyjna, in: Prawo miedzynarodowe ... (Fn 3), S. 93 ff.
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Der den Beitritt Polens zur Europäischen Union betreffende völkerrechtliche Vertrag hat einen besonderen Charakter. Das hat auch Besonderheiten für das Ratifikationsverfahren zur Folge. Im Allgemeinen geht es darum, der demokratischen Entscheidung über den Beitritt zur EU eine besondere Legitimation zu verleihen und gleichzeitig zu vermeiden, dass solche Entscheidungen ohne Zustimmung der parlamentarischen Opposition Zustandekommen können. Die Bestimmungen des Art. 90 Abs. 2 - 4 sehen zwei alternative Verfahrensweisen für die Zustimmung zur Ratifizierung vor: den Erlass eines Zustimmungsgesetzes durch das Parlament oder die Entscheidung in einer Volksabstimmung. Die Wahl der Verfahrensweise ist dem Sejm überlassen (Art. 90 Abs. 4), und an dieser Entscheidung sind weder die zweite Kammer (der Senat) noch Organe der Exekutive (der Präsident oder die Regierung) beteiligt. Da die Entscheidung mit absoluter Stimmenmehrheit getroffen wird, ist sie Sache des politischen Ermessens der jeweiligen Regierungsmehrheit. Sie wird sich danach richten, wie groß die Chancen sind, die Zustimmung zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags zu erreichen. 2. Grundlegende Bedeutung kommt dem parlamentarischen Verfahren, d.h. der Billigung des zu ratifizierenden Vertrags durch das Verabschieden eines Zustimmungsgesetzes, zu. Dies geht bereits aus der Systematik des Art. 90, aber vor allem aus der allgemeinen Konzeption der Verfassung hervor, die der direkten Demokratie eine zweitrangige Bedeutung beimisst und voraussetzt, dass das Parlament selbst dazu berufen ist, die wichtigsten Entscheidungen zu treffen 5. Insbesondere spricht dafür die Regelung des Art. 125 der Verfassung 6, die es erschwert, bindende Entscheidungen im Wege einer Volksabstimmung zu treffen, und nicht gerade ermutigt, diese oft durchzuführen. Das Zustimmungsgesetz zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags wird in einem besonderen Verfahren verabschiedet, das erhebliche Erschwernisse im Vergleich zur Verabschiedung eines „normalen" Ratifikationsgesetzes mit sich bringt. 5 6
Ebenso K. Dzialocha (Fn. 3), Art. 90 Rn. 6.
Artikel 125: (1) In Fällen von besonderer Bedeutung für den Staat kann eine landesweite Volksabstimmung durchgeführt werden. (2) Das Recht, eine landesweite Volksabstimmung anzuordnen, hat der Sejm mit absoluter Stimmenmehrheit in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl und der Präsident der Republik Polen mit Zustimmung des Senats, die mit der absoluten Mehrheit der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Senatorenzahl erteilt werden muss. (3) Das Ergebnis der Volksabstimmung ist bindend, wenn sich an der landesweiten Volksabstimmung mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten beteiligt. (4) Die Gültigkeit einer landesweiten Volksabstimmung sowie einer Volksabstimmung gemäß Art. 235 Abs. 6 stellt das Oberste Gericht fest. (5) Grundsätze und Verfahrensweise der Durchführung einer Volksabstimmung regelt das Gesetz.
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Erstens ist die Annahme des Gesetzestextes durch beide Kammern erforderlich. Damit wird die Stellung des Senats gestärkt, weil der Sejm keine Möglichkeit hat, den Einspruch des Senats abzulehnen, wie es im normalen Gesetzgebungsverfahren der Fall ist. Insoweit werden die Kammern gleichberechtigt, mit der Einschränkung, dass das Gesetzgebungsverfahren zunächst vom Sejm aufgenommen werden muss. Dies weist Ähnlichkeiten mit dem Verfahren zur Verfassungsänderung (Art. 235 Abs. 2) auf 7. Es gibt keine Frist, in der der Senat zu dem vom Sejm beschlossenen Gesetzestext Stellung nehmen muss; das Ausbleiben einer Stellungnahme des Senats darf auch keinesfalls mit dessen Zustimmung gleichgesetzt werden (wie es in einem normalen Gesetzgebungsverfahren der Fall wäre). Zweitens ist die qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in jeder der Parlamentskammern erforderlich. Dieses Erfordernis ist sogar strenger als im Falle einer Verfassungsänderung 8. Da es in der polnischen Parlamentspraxis noch nie eine „große Koalition" gab, ist es mit dem Erfordernis der qualifizierten Mehrheit so gut wie ausgeschlossen, ein Zustimmungsgesetz gegen den geschlossenen Widerstand aller Oppositionsparteien zu verabschieden. Wird der Entwurf des Ratifikationsgesetzes abgelehnt oder die Zweidrittelmehrheit nicht erreicht, so wird das Ratifikationsverfahren eingestellt. In einem solchen Fall gibt es keine Möglichkeit mehr, eine Volksabstimmung einzusetzen; die Rückkehr zum Ratifikationsverfahren wäre dann erst nach einer grundlegenden Änderung der Machtverhältnisse im Parlament oder nach Neuverhandlungen des Beitrittsvertrags möglich. Das Ratifikationsgesetz bedarf der Unterzeichnung des Staatspräsidenten. Es ist nicht klar geregelt, ob er hierbei von seinem Vetorecht Gebrauch machen darf. Da der Verfassungsgeber jedoch eine solche Möglichkeit ausdrücklich nicht ausgeschlossen hat (wie er dies im Falle eines Haushaltsgesetzes explizit - Art. 224g - und im Falle eines Verfassungsänderungsgesetzes implizit 7
Artikel 235 Abs. 2: Die Verfassungsänderung erfolgt durch ein Gesetz, das zunächst vom Sejm und dann wortgleich innerhalb einer Frist von nicht länger als sechzig Tagen vom Senat verabschiedet wird. x Zur Verfassungsänderung erfordert Art. 235 Abs. 4 die Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen (in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl) nur im Sejm, dagegen reicht im Senat die absolute Stimmenmehrheit (in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Senatorenzahl) aus. Theoretisch ist es demnach denkbar, die Verfassung dahin zu ändern, dass das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit im Senat nach Art. 90 Abs. 2 aufgehoben wird, falls das politische Kräfteverhältnis im Senat keine Zweidrittelmehrheit der Kammer erreichen lässt. g
Artikel 224 Abs. 1 : Der Präsident der Republik Polen unterzeichnet das Haushaltsgesetz oder das Gesetz über das Haushaltsprovisorium innerhalb von sieben Tagen, nachdem ihm das Gesetz vom Sejmmarschall vorgelegt worden ist. Die Vorschrift des Art. 122 Abs. 5 findet auf das Haushaltsgesetz und das Gesetz zum Haushaltsprovisorium keine Anwendung. 19 FS Oppermann
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- Art. 235 Abs. 7 1 0 - getan hat), kann angenommen werden, dass dies rechtlich zulässig ist. Wenn aber bedacht wird, dass die Ablehnung des Vetos durch den Sejm die Mehrheit von drei Fünfteln, d.h. eine geringere als die für das Beschließen des Zustimmungsgesetzes notwendige Mehrheit erfordert, erweist sich die Anwendung des Vetorechts als sinnlos. Kein Zweifel besteht hingegen darüber, dass der Präsident seine Unterzeichnung zuerst verweigern und, statt ein Veto einzulegen, den Verfassungsgerichtshof (VerfGH) mit dem Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes (und somit — indirekt - des Vertrags selbst) anrufen kann. Soll die Zustimmung im Wege einer Volksabstimmung erfolgen, findet auf diese Art. 125 der Verfassung Anwendung (Art. 90 Abs. 3), allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Entscheidung über die Durchführung einer Volksabstimmung nur vom Sejm getroffen werden kann. Gegenstand einer solchen Volksabstimmung soll die „Zustimmung zur Ratifikation" sein. Folglich ist anzunehmen (was im Schrifttum jedoch umstritten ist), dass im Referendum kein „Ratifikationsgesetz" verabschiedet wird und dass der Vertrag unmittelbar auf Grund einer in der Volksabstimmung getroffenen Entscheidung ratifiziert werden kann. Am Zustimmungsverfahren ist der Staatspräsident dann nicht beteiligt, weil er keine Möglichkeit hat, gegen die Ergebnisse der Volksabstimmung ein Veto einzulegen oder den VerfGH anzurufen. Die größten Schwierigkeiten können jedoch im Hinblick auf Art. 125 Abs. 3 entstehen, der den bindenden Charakter der Volksabstimmung davon abhängig macht, dass die Hälfte der Stimmberechtigten daran beteiligt war. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so steht es außer Zweifel, dass mit einem positiven Ergebnis der Volksabstimmung der Präsident zur Ratifizierung ermächtigt - und auch verpflichtet - wird. Bei einem negativen Ergebnis ist das Verfahren beendet, und zwar ohne die Möglichkeit, auf die Variante der Verabschiedung des Ratifizierungsgesetzes durch das Parlament auszuweichen. Wenn aber die Beteiligung an der Volksabstimmung keine 50 Prozent erreicht hat, hat deren Ergebnis keine bindende Wirkung. Es stellt sich dann die Frage, ob nunmehr ein Verfahren im Parlament zur Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes — nach Maßgabe des Art. 90 Abs. 2 — zulässig wäre. Der positiven Antwort auf diese Frage durch K. Dzialocha ist zuzustimmen, weil das Ergebnis der Volksabstimmung in diesem Artikel 122 Abs. 5: Ruft der Präsident der Republik Polen den Verfassungsgerichtshof mit dem Antrag gemäß Abs. 3 nicht an, kann er das Gesetz mit einem begründeten Antrag an den Sejm zur erneuten Beratung zurückverweisen (...). 10
Artikel 235 Abs. 7: Nach der Beendigung des in den Abs. 4 und 6 bestimmten Verfahrens legt der Sejmmarschall dem Präsidenten der Republik das verabschiedete Gesetz zur Unterzeichnung vor. Der Präsident unterzeichnet das Gesetz innerhalb von einundzwanzig Tagen nach dem Vorlagetag und ordnet dessen Verkündung im Gesetzblatt der Republik Polen an.
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Fall nur eine „empfehlend-konsultative" Bedeutung hätte und die Sache unentschieden bliebe11. Dennoch können in dieser Hinsicht verschiedene Zweifel aufkommen, da eine mechanische Anwendung von allgemeinen Regelungen zur Volksabstimmung auf das Ratifizierungsverfahren keine glückliche Lösung ist. Der Art. 90 beschränkt sich auf die mit dem Zustandekommen der Zustimmung zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags zusammenhängenden Angelegenheiten. Anzunehmen ist, dass dieselben besonderen Verfahrensregeln im Falle der Vertragskündigung Anwendung finden müssten. Es ist nochmals zu betonen, dass hier hohe Anforderungen gelten, die zwar eine Beschlussfassung erschweren, doch gleichzeitig deren angemessene demokratische Legitimation gewährleisten. Hingegen fehlt es in der Verfassung an Mechanismen und Verfahren, die nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union Anwendung finden könnten. Es handelt sich hier um die Gewährleistung einer Beteiligung des Parlaments am Entscheidungsprozess innerhalb der Union und insbesondere des Einflusses auf das Handeln der Regierung gegenüber der Union, wie es etwa in Art. 23 GG oder Art. 88 Abs. 4 der französischen Verfassung vorgesehen ist. Diese Probleme wurden im Rahmen der Arbeiten an der polnischen Verfassung außer Acht gelassen, weil man, nicht zu Unrecht, kein neues Feld für politische Auseinandersetzungen öffnen wollte, doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine entsprechende Verfassungsergänzung in Zukunft erforderlich wird. I I I . Das Gemeinschaftsrecht in der innerstaatlichen Rechtsordnung 1. Zu den wesentlichen Neuheiten in der Verfassung von 1997 gehört die Bestimmung von Stellung und Rang des Völkerrechts im Verhältnis zur innerstaatlichen Rechtsordnung. In keiner der vorherigen polnischen Verfassungen wurde dieser Frage Rechnung getragen, was zu vielen Komplikationen geführt hat und Anlass für manche Zweifel im Schrifttum und in der Rechtsprechung war. „Die Republik Polen befolgt das Völkerrecht, das für sie verbindlich ist" — so heißt es in Art. 9 der neuen Verfassung. Es ist ein universales Gebot, das die Rechtsnormen aus allen Quellen des Völkerrechts umfasst; so sind nicht nur die völkerrechtlichen Verträge, sondern auch alle allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts gemeint. Zwar erwähnt die Verfassung der Republik Polen, anders als etwa das deutsche Grundgesetz, nicht ausdrücklich die genannten Grundsätze und verleiht ihnen keinen Quasi-Verfassungsrang, doch ergibt sich aus Art. 9 11 K. Dzialocha (Fn. 3), Art. 90 Rn. 7; L. Garlicki, S. 156.
19*
Polskie prawo konstytucyjne, 1999,
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zweifellos die Anerkennung ihrer Geltungskraft und die Pflicht aller Staatsorgane, sie anzuwenden12. Ausführlicher regelt die Verfassung dagegen die völkerrechtlichen Verträge. Laut Art. 87 Abs. 1 sind ratifizierte Verträge Quellen des allgemein bindenden Rechts der Republik Polen'3. Damit haben die Verträge, die ohne Ratifikation zustande gekommen sind, diese rechtliche Qualität nicht. Es bestehen grundsätzlich keine rechtlichen Hindernisse, derartige Verträge abzuschließen (auf der Regierungs- oder Ministerialebene); da sie aber keine Quelle des allgemein bindenden Rechts sind, können sie nur die dem vertragsschließenden Organ untergeordneten Stellen binden und keine Grundlage für nach außen wirksame Entscheidungen sein. Ratifizierte Verträge sind hingegen - kraft des Art. 91 Abs. 1 der Verfassung - Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung und unmittelbar anwendbar, es sei denn, dass ihre Anwendung vom Erlass eines Gesetzes abhängt. Die oben genannten Regeln gelten einheitlich für alle ratifizierten Verträge und bestimmen ihre materielle Charakteristik. Die Stellung der völkerrechtlichen Verträge in der innerstaatlichen Rechtsordnung hängt wiederum von einem weiteren Faktor ab, nämlich vom Umfang der Einbeziehung des Parlaments in das Ratifikationsverfahren. Art. 89 Abs. 1 der Verfassung erfordert, dass die Ratifizierung der wichtigsten völkerrechtlichen Verträge mit Zustimmung des Parlaments erfolgt, die in Form eines Ratifikationsgesetzes erteilt wird. Die auf Grund eines solchen Gesetzes ratifizierten Verträge haben Vorrang vor Gesetzen (Art. 91 Abs. 2), und für die Entscheidung über die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit einem völkerrechtlichen Vertrag ist der VerfGH zuständig (Art. 188 Nr. 2 der Verfassung)14. Die in Art. 91 erwähnten Verträge haben dagegen keinen Vorrang gegenüber der Verfassung, was ausdrücklich aus Art. 188 Nr. 1 hervorgeht. Wenn die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit „völkerrechtlicher Verträge" dem 12 Auf die Notwendigkeit einer expliziten Regelung des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts verweist insbesondere A. Wyrozumska, Zapewnianie skuteeznosei prawu miedzynarodowemu w prawie krajowym w projekeie Konstytucji RP, PiP 1996, Nr. 11, S. 18 ff.
'· Artikel S 7 Abs. I: Die Verfassung, Gesetze, ratifizierte völkerrechtliche Verträge und Rechtsvcrordnungen sind Quellen des allgemein geltenden Rechtes der Republik Polen. 14
Artikel ISS: Der Verfassungsgerichtshof entscheidet über: 1. die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträge mit der Verfassung; 2. die Vereinbarkeit der Gesetze mit den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen, deren Ratifizierung eine vorherige Zustimmung durch Gesetz voraussetzt; 3. die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften, die von zentralen Staatsorganen erlassen werden, mit der Verfassung, den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen und den Gesetzen (...).
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VerfGH anvertraut wird, so wird damit vorausgesetzt, dass ein Vertrag (auch ein solcher, der auf Grund eines Zustimmungsgesetzes ratifiziert worden ist) in der innerstaatlichen Normenhierarchie unterhalb der Verfassung steht. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags kann auf zweierlei Weise vorgenommen werden 15. Die unmittelbare Kontrolle besteht darin, (durch einen Antrag oder eine Richtervorlage an den VerfGH) die Verfassungsmäßigkeit eines Vertrags bzw. seiner einzelnen Bestimmungen anzufechten. Das war nach der vorherigen Verfassungsrechtslage nicht zulässig16; nach dem neuen Stand hingegen ist es sowohl im Wege der präventiven als auch der nachträglichen Normenkontrolle möglich. Bei der mittelbaren Kontrolle ist dagegen das Zustimmungsgesetz zur Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags Gegenstand der Prüfung. Wie im vorgenannten Beschluss W. 10/94 des VerfGH ausgeführt wurde, ist bei der Kontrolle eines solchen Gesetzes auch die Prüfung der Vertragsbestimmungen möglich, da ein der Ratifizierung eines verfassungswidrigen Vertrags zustimmendes Gesetz ebenfalls nicht verfassungsmäßig sei. Diese Meinung hat im Hinblick auf die neue Verfassung nicht an Aktualität verloren, obwohl die nunmehr gegebene Möglichkeit der unmittelbaren Anfechtung völkerrechtlicher Verträge die Praktikabilität des mittelbaren Wegs (Anfechtung des Zustimmungsgesetzes) wesentlich beeinträchtigt 17. 2. Es taucht die Frage auf, inwieweit das oben genannte Modell auf das Gemeinschaftsrecht Anwendung findet. Was das primäre Gemeinschaftsrecht betrifft, geht dessen Inhalt bekanntlich über die völkerrechtlichen Vertragstexte hinaus, weil es von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), insbesondere durch die in ihr herausgearbeiteten „allgemeinen Rechtsgrundsätze", reichlich ergänzt wurde. Ohne hier den Begriff und den Anwendungsbereich des acquis communautaire eingehend zu analysieren, soll nur bemerkt werden, dass für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vornehmlich die Bindung polnischer Gerichte an die auf der Gemeinschaftsebene festgelegte Auslegung von Bedeutung sein wird. 15 L. Garlicki, Prewencyjna kontrola konstytucyjnosci umów mièdzynarodowych, in: Konstytucja, ustrój, system fìnansowy panstwa (Festschrift Gajl), 1999, S. 277 ff. 16
Siehe Beschluss des VerfGH vom 30.11.1994, W. 10/94 - die deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Garlicki, Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen. Analysen und Entscheidungssammlung 1986-1997, 1999, S. 255 ff. 17 Es bleibt aber die Frage nach dem Umfang der Vertragskontrolle durch die Gesetzeskontrolle. In dem Beschluss W. 10/94 wurde unterschieden zwischen: den Vertragsbestimmungen, die sog. unmittelbar anwendbare Normen beinhalten (ihre unmittelbare Kontrolle wurde zugelassen), und den Vertragsbestimmungen, die zu Änderungen in der nationalen Gesetzgebung verpflichten (die Möglichkeit ihrer mittelbaren Kontrolle wurde ausgeschlossen). Damals war das aber eine Folge der fehlenden Zuständigkeit des VerfGH für eine unmittelbare Kontrolle eines Vertrages. Deswegen ist nicht klar, ob diese Unterscheidung in der gegenwärtigen Rechtslage aktuell bleibt.
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Es ist offensichtlich, dass das besondere Ratifikationsverfahren der nach Maßgabe des Art. 90 ratifizierten Verträge diesen auf jeden Fall all die Eigenschaften verleiht, die der Art. 91 den auf Grund eines Zustimmungsgesetzes ratifizierten Verträgen gibt. Zweifellos sind diese Verträge Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung und besitzen die Qualität der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs gegenüber einfachen Gesetzen. Dieser Vorrang ist derselbe wie im Falle jedes völkerrechtlichen Vertrags, dem diese Qualität zusteht. Es wird also möglich sein, ein Gesetz vor dem VerfGH wegen der Unvereinbarkeit mit den Verträgen, die das primäre Gemeinschaftsrecht bilden, anzufechten (Art. 188 Nr. 2 der Verfassung). Auch den Fachgerichten dürfte die Kompetenz nicht abgesprochen werden, die Vereinbarkeit polnischer Gesetze mit den hier in Rede stehenden völkerrechtlichen Verträgen selbstständig zu beurteilen. Ein solches Rechtsprechungsmodell bezüglich der Unvereinbarkeit zwischen Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht ist heutzutage ein weithin anerkanntes Element des acquis communautaire, und im Hinblick auf den EU-Beitritt wird es wohl kaum denkbar sein, seine Anwendung in der innerstaatlichen Rechtsordnung Polens zu bestreiten. Da die Verfassung von 1997 dieses Modell ausdrücklich nicht verbietet, kommt es nun auf die Rechtsprechungspraxis des Obersten Gerichts, des Obersten Verwaltungsgerichts und der ordentlichen Gerichtsbarkeit an. 3. Da das primäre Gemeinschaftsrecht in völkerrechtlichen Verträgen enthalten ist, muss es — wie alle Bestimmungen solcher Verträge - im Einklang mit der Verfassung der Republik Polen stehen. Zwar wird im Schrifttum die Meinung vertreten, es sei „anzunehmen - obwohl es ausdrücklich nicht geregelt ist - dass ein [solcher] Vertrag nicht nur den Gesetzen, sondern auch der neuen Verfassung der RP selbst gegenüber Vorrang haben wird" 1 *, da ein völkerrechtlicher Vertrag dieser Art bei Einhaltung der für die Annahme einer neuen oder die Änderung der bestehenden Verfassung geltenden Anforderungen in Kraft trete. Diese Auffassung erscheint jedoch als fraglich 14. Vor allem gibt es keine vollständige Identität des in Art. 90 Abs. 2-4 vorgesehenen Verfahrens und des Verfahrens zur Verfassungsänderung, das in Art. 235 geregelt ist. Insbesondere hat die Etappe der Volksabstimmung eine andere Bedeutung, weil beim Verfahren nach Art. 90 eine Volksabstimmung die Annahme eines Gesetzes durch das Parlament ersetzen kann (was bei der Verfassungsänderung nicht möglich ist) und die Entscheidung über die Durchführung der Volksabstimmung Befugnis des Sejms ist, während bei der Durchführung von Verfassungsänderungen (soweit sie eine bestimmte Materie betreffen) die Volksabstimmung auf Antrag des Präsidenten, des Senats oder einer Gruppe von 92 Abgeordneten beschlossen werden kann. Ix
R. Szafarz, Miedzynarodowy porzadek prawny i jego odbicie w polskim prawie konstytucyjnym, in: Prawo miedzynarodowe ... (Fn. 3), S. 34. ,g
Ähnlich z.B. W. Sokolewicz (Fn. 4), S. 125.
Die „europäische Klausel" in der polnischen Verfassung von 1997
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Gegen die Gleichsetzung der Rechtskraft der in Rede stehenden Verträge mit der Verfassung spricht auch die Bestimmung des Art. 8 Abs. 1 der Verfassung. Wenn die Verfassung hier als „das oberste Recht der Republik Polen" bezeichnet wird, muss ihr der höchste Rang unter allen Gliedern der innerstaatlichen Rechtsordnung zukommen, und völkerrechtliche Verträge sind ja Bestandteile dieser Ordnung kraft der ausdrücklichen Bestimmung des Art. 91 Abs. 1. Die klare Fassung des Art. 188 Nr. 1, der die Entscheidung über die Vereinbarkeit völkerrechtlicher Verträge mit der Verfassung zur Kompetenz des VerfGH macht, und zwar ohne Ausnahmen, kann auch nicht außer Acht gelassen werden. Freilich kann man sich eine Regelung vorstellen, die den europäischen Verträgen eine verfassungsgleiche Rechtskraft verleiht. Dies müsste jedoch explizit im Verfassungstext zum Ausdruck kommen, wie es vor kurzer Zeit — wenngleich mit vielen Einschränkungen — im Art. 23 des deutschen Grundgesetzes geschehen ist. Somit soll angenommen werden, dass die Verträge, von denen in Art. 90 der Verfassung die Rede ist, mit dieser vereinbar sein müssen und als Teile der innerstaatlichen Rechtsordnung der Verfassung untergeordnet sind 20 . Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dieser Verträge kann auf dem gleichen Wege wie bei jedem anderen ratifizierten Vertrags erfolgen. Prüfungsgegenstand kann sowohl der Vertrag selbst als auch das Gesetz über die Zustimmung zu seiner Ratifizierung sein. Wenn aber die Zustimmung zur Ratifizierung in Form einer Volksabstimmung geäußert würde, wäre sie vor dem VerfGH nicht anfechtbar 21. In diesem Fall könnte die Verfassungsmäßigkeit nur durch unmittelbare Anfechtung des Vertrags als solchen überprüft werden. Die Prüfung des Vertrags oder des Zustimmungsgesetzes (falls ein solches verabschiedet wurde) kann entweder im Wege der präventiven Kontrolle, deren Einleiten ausschließlich Befugnis des Staatspräsidenten ist 22 , oder der nachträglichen Kontrolle, die von einer Reihe 20
Siehe J. Galster, Konstytucyjno-prawne aspekty przystapienia RP do Unii Europejskiej, in: Wejscie w zycie nowej Konstytucji Rzeczpospolitej Polskiej, pod red. Z. Witkowskiego, 1998, S. 69 ff. 21 K. Wojtowicz, Skutki przystapienia Polski do Unii Europejskiej dia sadów i Trybunalu Konstytucyjnego, in: Wejscie w zycie ... (Fn. 20), S. 88. 22
Es wird die Meinung vertreten, dass die präventive Kontrolle der Europäischen Verträge durch den VerfGH geboten wäre {J. Galster [Fn. 20], S. 72; ähnlich S. Biernat). Es soll aber bemerkt werden, dass die Kontrollinitiative nur dann möglich wäre, wenn der Staatspräsident Zweifel daran hätte, dass der ganze Vertrag oder dessen einzelne Bestimmungen verfassungsmäßig sind. Der Präsident kann nicht „dafür und zugleich dagegen" sein und die Bestimmungen in Frage stellen, die er für verfassungsmäßig hält. Vielleicht wäre die Forderung nach präventiver Kontrolle sinnvoll, wenn ausdrücklich formulierte Vorbehalte bezüglich konkreter Vertragsbestimmungen während der Beitrittsdiskussion auftauchten (so wie es in Frankreich, Spanien oder Deutschland bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrags der Fall war). Es gibt aber kein Verfahren, das erlaubt, alle Gründungsverträge im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit allen Verfassungsnormen durch den VerfGH prüfen zu lassen, nicht zuletzt, weil keine dafür aus-
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hierzu berechtigter Subjekte (z.B. durch eine Richtervorlage) ausgelöst werden kann, erfolgen. 4. Wenn es um die sekundären Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts geht, ergibt sich ihre unmittelbare Wirksamkeit in der innerstaatlichen Rechtsordnung aus den Bestimmungen der Gründungsverträge, also aus dem primären Gemeinschaftsrecht. Die Ratifizierung dieser Verträge wird die Bindung Polens an alle ihre Bestimmungen bedeuten, wie sie in den Verträgen festgelegt und in der Rechtsprechung des EuGH ausgelegt werden. Damit wird sich Polen durch die Ratifikation allen Regelungen und Grundsätzen unterwerfen, welche die Rechtsordnung der Gemeinschaft bilden und Bezüge zu dem von innerstaatlichen Organen erlassene Recht haben. Gleichzeitig sind einige diesbezügliche Grundsätze auch in der Verfassung von 1997 festgelegt, doch haben sie keinen selbstständigen Charakter, sondern bringen vielmehr die Verpflichtungen zum Ausdruck, die sich aus dem Beitritt Polens zur EU ergeben werden, und stellen eine klare Verbindung zwischen diesen Verpflichtungen und der innerstaatlichen Rechtsordnung her. Dies gilt insbesondere für das sekundäre Gemeinschaftsrecht (vor allem die Verordnungen, die in Art. 249 [ex-Art. 189] EG-Vertrag erwähnt werden), die nicht analog zu den völkerrechtlichen Verträgen behandelt werden können, deren Stellung und Rang in Art. 91 Abs. 1 und 2 geregelt sind. Daher weist Art. 91 Abs. 3 darauf hin, dass das von einer internationalen Organisation erzeugte Recht unmittelbar anwendbar ist und im Falle der Unvereinbarkeit mit nationalen Gesetzen vor diesen Vorrang hat, wenn es auf Grund eines von Polen ratifizierten, die betreffende internationale Organisation konstituierenden völkerrechtlichen Vertrags erlassen wird. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht wird natürlich von dieser Regelung mit erfasst und war sogar vorrangig bei der Schaffung der zitierten Verfassungsbestimmung im Blickfeld. Art. 91 Abs. 3 hat überwiegend einen verweisenden Charakter, weil er nicht entscheidet, welche Akte einer internationalen Organisation (ihrer Organe) in der innerstaatlichen Rechtsordnung wirksam werden, sondern die Beantwortung dieser Fragen den entsprechenden völkerrechtlichen Verträgen, im Falle der Europäischen Union den Gründungsverträgen, überlässt. Aus diesen Verträgen ergibt sich, in welcher Form und mit welchem Bindungsgrad die Akte des Gemeinschaftsrechts beschlossen werden; das polnische Recht hat keinen Einfluss darauf. In dieser Fassung des Art. 91 Abs. 3 kommt zum Ausdruck, dass reichende juristische Vorstellungskraft vorhanden ist. Eine solche Kontrolle, auch wenn sie eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit zur Folge hätte, könnte nicht absolut garantieren, dass der VerfGH in Zukunft keine inhaltlich andere Entscheidung treffen wird; aus der Rechtsprechung des VerfGH geht dabei hervor, dass den im Rahmen der präventiven Normenkontrolle ergangenen Entscheidungen keine Rechtskraftwirkung bei einer etwaigen künftigen nachträglichen Normenkontrolle zukommt.
Die „europäische Klausel" in der polnischen Verfassung von 1997
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hierbei den Verträgen und nicht der Verfassung grundlegende Bedeutung zukommt. In Art. 91 Abs. 3 weist der polnische Verfassungsgeber dem sekundären Gemeinschaftsrecht eine sehr hohe Stellung in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu, da es ihm sogar den Vorrang vor nationalen Gesetzen einräumt. Es ist somit die gleiche Stellung, welche völkerrechtliche, auf Grund eines Zustimmungsgesetzes ratifizierte Verträge besitzen (Art. 91 Abs. 2). Der Vorrang vor dem Gesetz zieht den Vorrang vor allen Normen der innerstaatlichen Rechtsordnung unterhalb des Gesetzesranges nach sich. Die Verfassungsbestimmungen entscheiden nicht, wer dazu berufen ist, den Vorrang des sekundären Gemeinschaftsrechts zu überwachen und zu implementieren. Diese Frage wurde aber in der Rechtsprechung des EuGH umfassend geklärt. Wie bereits erwähnt, vertritt der EuGH den Standpunkt, dass die nationalen Gerichte, denen die Anwendung des Gemeinschaftsrechts obliegt, befugt und zugleich verpflichtet sind, von der Anwendung einer nationalen Rechtsnorm abzusehen, wenn diese mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. Das nationale Gericht hebt in diesem Fall die betreffende nationale Rechtsnorm nicht auf, sondern verweigert lediglich deren Anwendung, soweit sie mit der einschlägigen Norm des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist. In solchem Fall ist es nicht erforderlich, den VerfGH anzurufen, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um die Unvereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht handelt. Die oben genannten Grundsätze wurden von den die Europäische Union bildenden Staaten anerkannt und werden auch Polen uneingeschränkt binden. Die Problematik der Anwendung des sekundären Gemeinschaftsrechts und der Lösung von Kollisionsfällen wird demnach vom VerfGH nicht erörtert werden. Darüber, ob ein nationales Gesetz mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, werden das Oberste Gericht, das Oberste Verwaltungsgericht und ordentliche Gerichte befinden, und über die Gültigkeit bzw. Auslegung der Normen des Gemeinschaftsrechts wird der EuGH in seinen Vorabentscheidungen urteilen. Wenn oben angenommen werden konnte, dass Gerichte die Anwendung eines Gesetzes im Falle seiner Unvereinbarkeit mit dem primären Gemeinschaftsrecht verweigern dürfen, ohne den VerfGH anzurufen, gilt das umso mehr für die Fälle der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht. Der VerfGH könnte dagegen — gleichsam parallel — mit der Frage konfrontiert werden, ob ein Gesetz, das mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, aus diesem Grunde von ihm aufgehoben werden kann. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass diese Frage in Praxis große Bedeutung haben wird. 5. Wichtiger erscheint dagegen die Frage, ob das sekundäre Gemeinschaftsrecht zum Prüfungsgegenstand hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit der Verfassung der RP werden kann.
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In materieller Hinsicht kann ein Vorrang des sekundären Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsnormen (anders als im Falle einfacher Gesetze) nicht behauptet werden. Gegen einen solchen Vorrang können verschiedene Argumente vorgebracht werden 23. Zuerst muss festgestellt werden, dass der Verfassungsgeber, wenn er in Art. 91 Abs. 3 den Vorrang des sekundären Gemeinschaftsrechts vor den Gesetzen vorsieht, den Begriff „Gesetz" nicht auf die Verfassung erstreckt. Dieser Schluss resultiert vor allem aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung. War noch in dem bereinigten Entwurf des Verfassungsausschusses vom 19. Juni 1996 vom Vorrang „im Falle der Unvereinbarkeit mit innerstaatlichen Rechtsnormen" die Rede (was auch die Verfassung mit erfassen würde), so bringt die Beschränkung dieser Formulierung auf die „Unvereinbarkeit mit dem Gesetz", die schließlich in Art. 91 Abs. 3 angenommen wurde, die Absicht „der Väter der Verfassung" zum Ausdruck, den absoluten Vorrang der Verfassung zu bewahren 24. Wurde zudem oben der Vorrang der Verfassung gegenüber den Verträgen, die die primären Quellen des Gemeinschaftsrechts bilden, festgestellt, so muss erst recht der Vorrang der Verfassung gegenüber allen Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts anerkannt werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, wer und mit welchen rechtlichen Wirkungen diesen Vorrang der Verfassung festzustellen hätte, für den Fall, dass es zu einer Unvereinbarkeit mit den Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts käme. Selbstverständlich kann kein nationales Organ diese Normen außer Kraft setzen. Dürfen die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten über die Vereinbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit der jeweiligen nationalen Verfassung befinden? Zwar ist es noch nirgendwo dazu gekommen, dass ein nationales Verfassungsgericht eine Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts als verfassungswidrig verworfen hat, doch bedeutet das nicht, dass die Verfassungsgerichte sich jeglicher Möglichkeit der Rechtsprechung in diesen Angelegenheiten entzogen sehen. Die deutsche und die italienische Verfassungsrechtsprechung liefert hierzu viele Beispiele. Beide Modelle - das deutsche und das italienische - können mit Blick auf die polnische Rechtslage in Erwägung gezogen werden. Es gibt bei uns keine rechtlichen Hindernisse für die nachträgliche Anfechtung der Gründungsverträge; wie bereits erwähnt, bietet der Art. 188 Nr. 1 eine ausreichende Grundlage. So ist in der polnischen Rechtsordnung die Variante denkbar, die in der italienischen Entscheidung Frontini angewendet wurde, doch in politischer Hinsicht wäre sie so gut wie unmöglich, da Polen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebt und eher an die Anpassung seiner Verfassung an das Gemeinschaftsrecht als umgekehrt denken sollte. 23 24
Siehe u.a. K. Wójtowicz
(Fn. 21), S. 86.
K. Dzialocha spricht hierbei von einer „bewussten Formulierung", was als eine maßgebende Auskunft über die Absichten, die die Arbeit an der Verfassung begleitet haben, betrachtet werden könne (Κ . Dzialocha [Fn. 3], Art. 91 Rn. 7).
Die „europäische Klausel" in der polnischen Verfassung von 1997
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Die deutsche Variante, d.h. die Kontrolle von einzelnen Normen des sekundären Rechts, ist politisch leichter vorstellbar, erfordert aber eine kreative Auslegung auf dem Gebiet der Zuständigkeit des polnischen VerfGH. In Art. 188 der Verfassung wird das sekundäre Gemeinschaftsrecht als Gegenstand der Normenkontrolle nicht erwähnt, doch könnte es dem allgemeinen Begriff der „Rechtsvorschrift" (Art. 188 Nr. 3) 25 oder des „Normativaktes" (Art. 193 und Art. 79 Abs. I) 2 6 zugeordnet werden 27. Ein Anwendungsfall dieser Konstruktion ist nicht völlig undenkbar, doch er ist schon angesichts der weitgehenden Identität der Regelung von Rechten und Freiheiten des Einzelnen in den Unionsverträgen (insbesondere in dem Vertrag von Amsterdam), in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der polnischen Verfassung von 1997 wenig wahrscheinlich. So müsste erst einmal ein Konflikt auftreten, der die Identität der polnischen Verfassungsordnung so stark gefährdete, dass ein Eingriff des VerfGH gerechtfertigt wäre. In den letzten vierzig Jahren gab es in Westeuropa keinen derartigen Präzedenzfall, und es scheint unwahrscheinlich, dass er zum ersten Mal in Polen vorkommen sollte. Aus diesem Grund sollen bei den Überlegungen zu Stellung und Rang des sekundären Gemeinschaftsrechts gegenüber der polnischen Rechtsordnung nach künftigem EU-Beitritt nicht die Probleme der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dieses Rechts, sondern die Frage, wie die polnischen Gerichte das sekundäre Gemeinschaftsrecht optimal anzuwenden haben, im Vordergrund stehen. Insbesondere geht es hier um die korrekte Auslegung des Gemeinschaftsrechts, um die Nichtanwendung nationaler Gesetze im Falle ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht und, falls erforderlich, um das Anrufen des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens.
25
Siehe Fn. 14.
26
Artikel 193: Jedes Gericht kann dem Verfassungsgerichtshof eine Rechtsfrage bezüglich der Vereinbarkeit eines Normativaktes mit der Verfassung, den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen oder dem Gesetz vorlegen, wenn von der Beantwortung der Rechtsfrage die Entscheidung einer bei dem Gericht anhängigen Sache abhängig ist. Artikel 79 Abs. 1: Gemäß den durch Gesetz geregelten Grundsätzen hat jedermann, dessen verfassungsmäßige Freiheiten oder Rechte verletzt worden sind, das Recht, Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof einzulegen und die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder eines anderen normativen Aktes prüfen zu lassen, auf dessen Grundlage ein Gericht oder ein Organ der öffentlichen Verwaltung endgültig über seine in der Verfassung bestimmten Freiheiten, Rechte oder Pflichten entschieden hat. 27
Siehe K. Wojtowicz
(Fn. 21), S. 89.
Die Teilhabe mittel- und osteuropäischer Staaten an wirtschaftlichen Integrationsräumen, am Beispiel der Tschechischen Republik Von Gerald G. Sander
Die ganze Kunst der Politik besteht darin, sich der Zeitumstände richtig zu bedienen. (Ludwig XIV., Memoiren)
I. Einleitung Die politische Wende in den Jahren 1989/90 in Mittel- und Osteuropa machte den Weg für globale Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalströme frei. Nicht nur die zunehmende internationale Wirtschaftsverflechtung, sondern die umfassende Denationalisierung gesellschaftlicher Bereiche stellt die Staaten in den nächsten Jahren vor gewaltige Herausforderungen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art. Die hiervon ebenso betroffenen Länder Mittel- und Osteuropas (MOE) befinden sich zusätzlich in einer schwierigen Phase der Systemtransformation. Zurzeit wird die Diskussion von zwei Richtungen dominiert, welche die künftige weltpolitische Entwicklung entweder als „Kampf der Kulturen" 1 oder als „Globalisierung" 2 begreifen. Nach erstgenannter Ansicht zerfallen die beiden Blöcke in verschiedene Staatengruppen, die miteinander konkurrieren und globale Auseinandersetzungen fuhren werden. Ausschlaggebend fur die Zusammensetzung der Bündnisse ist die Zugehörigkeit zum jeweiligen Kulturkreis. Die zweite Strömung prognostiziert die Entstehung einer homogenen Weltgesellschaft als Endstadium. Zunächst verläuft die Konfliktlinie jedoch zwischen den gesellschaftlichen Gewinnern und Verlierern des globalisierten Handelns. Beiden Zukunftsprognosen ist gemeinsam, dass nach einer Steuerungsgewalt zur Regulierung der Wirtschafts- und Finanzströme gesucht wird, entweder als Führer einer Staatengruppe oder zur Verminderung der sozialen Kosten, die 1 2
Huntington , The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 1993, S. 22 f f
Beck, Was ist Globalisierung?, 6. Aufl. 1999, und Forrester, mie, 1997.
Der Terror der Ökono-
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Gerald G. Sander
durch die Globalisierung entstehen. Die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge überschreiten zunehmend nationale Grenzen, so dass wirksames staatliches Regieren oft nicht mehr möglich ist. Die EU stellt eine solche Zentralgewalt zur Rückgewinnung eines wesentlichen Teils politischer Gestaltungsfähigkeit dar, die durch die Globalisierung verloren gegangenen ist. Aufgrund der größeren Reichweite der EG-Regulierungen kann partiell wieder eine Deckungsgleichheit mit den sozialen Handlungszusammenhängen erreicht werden. Künftig werden deshalb weniger die Nationalstaaten als vielmehr transnationale Organisationen weltweit agierende Akteure sein3. Auch die mittel- und osteuropäischen Staaten reihen sich in Integrationsräume ein, um handlungsfähig nach innen und außen zu bleiben. Die MOE-Staaten stehen einer völlig neuen Situation mit Entwicklungsprozessen auf verschiedenen Ebenen gegenüber. Zum einen findet in den MOELändern ein politischer Transformationsprozess statt, der von einem totalitären System zu einer freiheitlichen Ordnung mit den Grundsätzen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Pluralismus fuhrt. Eine Überleitung der früheren Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft ist ebenso zu bewältigen wie die Wendung der MOE-Länder von einer Zwangsgemeinschaft des Ostblocks hin zu einer nationalen, politischen Unabhängigkeit. Zum anderen muss die Wirtschaft dieser Staaten die Einbindung ihrer Güterströme in das europäische Handelssystem und in den Welthandel leisten. Dies geschieht in einer Zeit, in der selbst die „alten" westlichen Industriestaaten die Härte des Anpassungsdrucks in Folge der Globalisierung spüren4. In dieser sensiblen Phase besteht für die mittel- und osteuropäischen Staaten ein großes Interesse an verlässlichen und berechenbaren Regeln im internationalen Handel. Ferner sind auf regionaler und globaler Ebene Rechtssysteme zu entwickeln, die in der Lage sind, die vereinbarten Handlungsprinzipien durchzusetzen5. Nur durchsetzbare Bestimmungen gewährleisten eine Vorhersehbarkeit der Rechte und Pflichten im Welthandel und befördern dadurch eine gewisse Planungs- und Entwicklungssicherheit auf staatlicher und unternehmerischer Seite. Einerseits richtet sich die Hoffnung der MOE-Staaten auf einen zügigen Beitritt zur EU, an deren globaler Wirtschaftsmacht sie teilhaben möchten. Andererseits erwarten die MOE-Staaten im Vertragswerk der Welthandelsorganisation (WTO) verbindliche Regeln vorzufinden, die ihnen helfen, sich im internationalen Handel zu etablieren und von den Liberalisierungen im Warenund Dienstleistungsverkehr zu profitieren.
3
Hierzu Sander, Internationaler und europäischer Gesundheitsschutz, 2001, 4. Teil.
4
Hänsch, Die EU - keine Selbstverständlichkeit, Integration 1996, 189 f.
5 Messner/Nuscheier, Global Governance, Stiftung Entwicklung und Frieden (Policy Paper, 2) 1996, S. 8 und 10.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
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Die wirtschaftliche Einbindung der MOE-Staaten in transnationale Güterströme soll beispielhaft an der Tschechischen Republik beleuchtet werden. Am 1. Januar 1993 wurde die Teilung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (CSFR) in die Tschechische und die Slowakische Republik vollzogen. Das unbewegliche Vermögen und das damit im Zusammenhang stehende bewegliche Vermögen gingen auf diejenige Teilrepublik über, in der sie belegen waren. Die Schulden und das sonstige Staatsvermögen wurden zwischen beiden Staaten im Verhältnis 2:1 aufgeteilt, nach dem Anteil an der Gesamtbevölkerung6. Eine ursprünglich geplante Währungsunion bestand nur bis Ende Februar 1993, während die Zollunion bis heute Geltung besitzt. Beide Staaten sind außerdem in die Rechte und Pflichten der internationalen Verträge der CSFR eingetreten. II. Die wirtschaftliche Ausgangslage der Tschechischen Republik Die Volkswirtschaften der MOE-Staaten haben einen langen Weg von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft zurückzulegen. Dabei kann die ökonomische Systemtransformation als Wechsel von der Politiker- zur Konsumentensouveränität verstanden werden. Ordnungspolitisch wird den meisten Ländern bescheinigt, eindrucksvolle Fortschritte in Richtung moderner Marktwirtschaft gemacht zu haben7. Zugleich ist größtenteils die Gesetzgebungsreform in wichtigen Bereichen des Zivil-, Handels-, Gesellschafts-, Steuer- und Wettbewerbsrechts realisiert worden. Die Gesetzesvorhaben profitierten insbesondere von der Hilfe westlicher Rechtsexperten im Rahmen des PHARE-Programms. Leitlinie der Kodifizierungen ist dabei die Angleichung der nationalen Gesetze an das europäische Gemeinschaftsrecht, als Vorbedingung für einen EU-Beitritt. In den Jahren 1991 bis 1995 wurden die Eigentumsrechte an größeren staatseigenen Betrieben an Einzelpersonen vergeben8, wobei das Gesamtvolumen dieser Privatisierung Ende 1997 ca. 165 Mrd. Kronen 9 betrug. Die Staatsbürger konnten nicht übertragbare Koupons kaufen und für Unternehmensanteile in landesweiten Computerauktionen bieten. Die Gebote mussten dabei so lange abgegeben werden, bis ein Gleichstand von Angebot und Nachfrage erreicht 6
Art. 3 Abs. 1 lit. a und b des Verfassungsgesetzes Nr. 541/1992 Sammlung vom 13.11.1992 über die Teilung des Vermögens der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik. 7 Vgl. Europäische Kommission, Agenda 2000. Eine stärkere und erweiterte Union, Beilage 5/1997 zum Bulletin der EU. 8
Zur sog. „großen" Privatisierung Vernv, Das neue Wirtschaftsrecht in der Tschechoslowakei, EuZW 1992, 86 f. 9
PRAVO vom 26.2.1998, S. 17.
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Gerald G. Sander
wurde, das heißt, sämtliche Koupons aufgebraucht und alle Unternehmen verkauft waren. Von der Bevölkerung investierten 72% ihre Gutscheinspunkte in Privatisierungs-Investmentfonds. Nach der ersten Runde existierten 400 solcher Fonds, von denen die neun größten fast 50% aller Gutscheinspunkte verwalteten. Bezeichnend ist, dass sechs der neun Fonds Filialen von tschechischen und slowakischen Staatsbanken waren. 37% aller abgegebenen Koupons befanden sich in Investmentfonds, die von staatlichen Handelsbanken errichtet wurden 10 . Dieser langwierige Privatisierungsprozess verzögerte und erschwerte die Kapitalbeteiligungen aus dem Ausland. Soweit Banken als Eigentümer auftreten, haben sie das Interesse, auch marode Unternehmen am Leben zu halten, selbst wenn ein Konkurs wirtschaftlich am sinnvollsten wäre. Dies hatte zur Folge, dass seit 1993 über 15 Banken Bankrott gegangen sind sowie über 20% der Kredite als verloren und weitere 10% als fragwürdig gelten. Ferner wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Rechtsschutzinstrument im Rahmen der Privatisierung ausgeschlossen, um den Prozess zu beschleunigen („Ökonomen müssen schneller laufen als Juristen"). Die Fehlentwicklungen bei der Privatisierung haben der wirtschaftlichen Entfaltung und dem Bankwesen allerdings eine große Hypothek aufgebürdet. Die Liberalisierung der Preise, der Märkte und des Außenhandels wurde zügig umgesetzt, wobei die tschechische Wirtschaftspolitik stärker vom Monétarisme als vom keynsianischen Konzept beeinflusst wurde. Dies kann als neoliberale Reaktion auf die Erfahrungen, die man mit dem „Dritten Weg" während des Prager Frühlings 1968 gemacht hat, erklärt werden 11. Der Prozess der sozialen Kosten fiel in der Tschechischen Republik zunächst deutlich schwächer aus als in anderen MOE-Staaten12. Dies wurde durch einen Verzicht auf die sofortige vollständige Freigabe der Mietpreise sowie mit Blick auf den Arbeitsmarkt, durch die Verschiebung der Inkraftsetzung der Konkursgesetzgebung und die Entschuldung von konkursbedrohten Schlüsselunternehmen erreicht. Die Kosten der Transformation, erkauft durch geringere Zuwächse an Produktivität, werden durch die ökonomisch-politischen Gegenstrategien jedoch nicht umgangen, sondern nur aufgeschoben. Gegenwärtig wird dies vor allem in der sich verschlechternden sozialen Situation deutlich. Die hohe Staatsverschuldung erschwert außerdem den Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Anfang der 90er Jahre kam es in den MOE-Staaten zunächst zu einer starken Rezession. Nachdem die tschechische Wirtschaft Tritt gefasst hatte, folgte Tschechiens Aufstieg zum östlichen Musterknaben. Wachstum und geringe 10 Randzio-Plath /Friedmann, EG, 1994, S. 69 f.
Unternehmen Osteuropa - eine Herausforderung für die
11 Zemanek , Problems and Perspectives of the Legal Adaption to the Market Economy in the Czech and Slovak Republics, in: Miiller-Graff ( Hrsg.), East Central European Communities. Legal Adaptation to the Market Economy, 1993, S. 55 f. 12 Dauderstädt, Ostmitteleuropas Demokratien im Spannungsfeld von Transformation und Integration, Integration 1996, 215.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
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Arbeitslosigkeit waren die Markenzeichen des wirtschaftlichen Erfolges. In den letzten Jahren stürzte das Land jedoch erneut in eine ernsthafte, bis heute anhaltende Krise, mit einem negativen Bruttoinlandsprodukt von -2,7% im Jahre 1998. Die aktuellen Daten lassen allerdings eine kontinuierliche Steigerung auf 5,5% bis 2005 erwarten 13. Die Inflationsrate ist in Tschechien stetig bis auf 2,2% im Jahre 1999 zurückgegangen. Für die kommenden Jahre wird indessen eine Steigerung auf 5,0% (2002) prognostiziert und ein Rückgang auf 3,0% erst für das Jahr 2005 vorhergesagt 14. Die wirtschaftliche Berg- und Talfahrt gilt gleichermaßen für die Arbeitslosenquote, um die Tschechien lange Zeit von seinen Nachbarn beneidet wurde. Ende 1995 lag sie beispielsweise bei 2,9%. In den Jahren 1991 bis 1994 ging in der Landwirtschaft die Beschäftigung am stärksten zurück, während sie im Finanzsektor, in der öffentlichen Verwaltung, im Handel und bei den Dienstleistungen am kräftigsten anstieg. Im Bereich der Personalabteilungen liegt Tschechien mit 1,99 Beschäftigte auf 100 Arbeitsplätze in der europäischen Spitzengruppe, was die Arbeitslosigkeit relativ gering hielt 15 . Auch der Dienstleistungssektor beschäftigt eine wachsende Zahl an Arbeitskräften. Aufgrund der negativen wirtschaftlichen Entwicklung hat die Arbeitslosenrate allerdings bis August 2000 auf 9,0% zugenommen, mit weiter steigender Tendenz. Der Höhepunkt wird erst für das Jahr 2002 mit 12,8% erwartet 16. Die Volkswirtschaft Tschechiens profitiert insbesondere von hohen Auslandsinvestitionen. Sie betrugen im ersten Halbjahr 1995 insgesamt 402,5 Mio. US-$, von denen 38% aus Deutschland stammten. Der Außenhandel weist allerdings ein beachtliches Leistungsbilanzdefizit auf. Dies rührt vor allem daher, dass die Einfuhren aus der EG wesentlich höher als die tschechischen Exporte in die Gemeinschaft sind 17 . Für das Jahr 1997 lag dieses Defizit beispielsweise bei 140.829 Mio. Kronen, umgerechnet etwa 70.414,5 Mio. DM 1 8 . Die Gründe sind in der Bevorzugung von Westprodukten durch die Bevölkerung und in der Verteuerung der Preise von tschechischen Waren aufgrund der stabilen Wechselkurse und des steigenden einheimischen Preisniveaus gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu sehen19. Für die Zukunft wird jedoch eine Verringerung des Außenhandelsdefizits erwartet 20. 13
Für 2000 werden 2,0% erwartet, Hospodârské noviny vom 27.6.2000, S. 1.
14
PRÀVO vom 7.9.1999, S. 18.
15
Im Vergleich hierzu kommen Belgien auf 1,96, Großbritannien auf 1,77 und Deutschland auf 1,29 Beschäftigte; vgl. PRAVO vom 29.1.1998. 16
PRÀVO vom 7.9.1999, S. 18.
17
Brunner, Zwei Seiten der Integrationsmedaille - Beitrittsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft, in: Stern (Hrsg.), Zukunftsprobleme der EU, 1997, S. 16. 18
Vgl. monatliches Außenhandelsbilanzdefizit für 1997 in PRAVO vom 26.1.1998.
19
Mandl u.a., Tschechische Republik, in: Weidenfeld auf dem Weg in die EU, 1995, S. 237. 20 FS Oppermann
(Hrsg.), Mittel- und Osteuropa
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306
Insbesondere das niedrige Lohnniveau sichert das Überleben tschechischer Unternehmen, die ihre Güter zu Niedrigpreisen auf den ausländischen Märkten anbieten können. So betrug der Bruttostundenlohn im Jahre 1994 in WestDeutschland 43,97 DM, in Ost-Deutschland 26,53 DM, in Ungarn 4,63 DM, in Polen 3,77 D M und in Tschechien 3,36 DM 2 1 . Dieser Kostenvorteil geht allerdings bei einem EU-Beitritt verstärkt verloren. Bedenklich entwickelt sich das Auseinanderklaffen der Einkommensschere innerhalb der Tschechischen Republik. Die Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft erreichten beispielsweise im IV. Quartal 1997 eine durchschnittliche Bruttolohnsteigerung von 13%. Dagegen sank das Einkommen der in staatlichen Unternehmen und Einrichtungen Beschäftigten um 6,6% 22 . Die Gewinner der Umwälzungen sind vor allem die Beschäftigten im Exportsektor. Mittelstand, Bauern, Arbeitern und Rentnern fallt es dagegen zunehmend schwerer, ihren Lebensstandard zu halten. Aus diesem Grund wächst die Armutsbevölkerung in allen MOE-Staaten weiter an 23 . Zurzeit herrscht in der Bevölkerung große Unzufriedenheit bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung, den Lebenshaltungskosten, der sozialen Frage und der Innenpolitik 24 . Im Herbst 1999 waren in Tschechien nur 13% der Einwohner mit ihrem Lebensstandard zufrieden; ein Jahr zuvor waren dies noch 22% 25 . Die durchschnittlichen Reallöhne sind in den Jahren 1990 bis 1994 um 20% gesunken und erst jetzt wieder im Steigen begriffen. Demzufolge nehmen die sozialen Spannungen zwischen marktwirtschaftlich erfolgreichen Schichten und den Transformations Verlierern zu. Problematisch ist auch die unterschiedliche Verteilung der Einkommen innerhalb eines Berufsstandes in Tschechien. So variiert der Verdienst eines Marketing Assistenten zwischen 10.052 Kronen in Ostböhmen und 24.526 Kronen in Prag 26. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Politik des ehemaligen Ministerpräsidenten Vaclav Klaus, der den Kurs einer „Marktwirtschaft ohne Adjektive" vertrat, wie dies auch in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Europäischen Sozialcharta zum Ausdruck kam. Nicht zuletzt wegen der zunehmenden gesellschaftspolitischen Spannungen war seine Regierung zum Scheitern verurteilt. Die Hoffnung der Tschechen ruht nunmehr auf der Minderheitsregierung des Sozialdemokraten Milos Zeman.
20
PRAVO vom 22.6.1999, S. 17.
21
Wagener/Fritz, Auf dem Weg in ein neues Europa, Stiftung Entwicklung und Frieden (Policy Paper, 5) 1997, S. 8. 22
Prager Wirtschaftszeitung (Beilage der Präger Zeitung) vom 19.-26.3.1998, S. 1.
23
Handl u.a., Tschechische Republik (Fn. 19), S. 239.
24
Handl u.a., Tschechische Republik (Fn. 19), S. 223.
25
Stuttgarter Zeitung vom 21.9.1999, S. 5.
26
PRAVO vom 16.2.1998.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
307
III. Regionale Wirtschaftsbeziehungen der Tschechischen Republik 1. Kooperation der Visegrad-Staaten in der CEFTA Die nach dem Tagungsort in Ungarn benannten „Visegrad-Staaten" Polen, Ungarn, die CSFR und als deren Nachfolger, die Tschechische und Slowakische Republik, strebten den Ausbau ihrer wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Ziel der Schaffung einer Freihandelszone an 27 . Die politische Zusammenarbeit der Visegrad-Staaten entwickelte sich allerdings nur sehr zögerlich. Diese Zurückhaltung beruhte im Wesentlichen auf dem fehlenden Engagement der Tschechischen Republik und Ungarn. Der ehemalige Ministerpräsident Vaclav Klaus wandte sich gegen eine Institutionalisierung, weil er einen politischen Alleingang Tschechiens in den internationalen Beziehungen für erfolgversprechender hielt. Hinzu kamen Konflikte zwischen Ungarn und der Slowakei über den Umgang mit Minderheiten sowie die Befürchtung, in die damalige Krise der polnischen Wirtschaft hineingezogen zu werden 28. Die Kooperationen mündeten in das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (Central European Free Trade Agreement, CEFTA), das seit 1. März 1993 vorläufig durchgeführt wurde und am 1. Juli 1994 in Kraft trat. Das CEFTA ist auf den schrittweisen, symmetrischen Abbau von Zöllen und Kontingenten gerichtet. Für empfindliche Produkte, wie z.B. Rohstoffe, fanden die Zollsenkungen sofort Anwendung. Bezüglich teilweise empfindlicher Waren und besonders sensibler Güter, insbesondere Textilien und Eisenwaren, sind die Zölle in mehreren Stufen innerhalb eines speziellen Zeitplans abzubauen. Auf bestimmte, zwischen den einzelnen Vertragsparteien bilateral vereinbarte Produkte dürfen Zölle noch bis zum Jahr 2002 erhoben werden. Das CEFTA schließt eine wesentliche Lücke im Handelssystem der MOEStaaten, weil der Handel zwischen Staaten auf gleichem Entwicklungsniveau oft bedeutsamer für die eigene Entwicklung ist als der Warenverkehr mit höher entwickelten Volkswirtschaften 29. Trotz der handelsumlenkenden Wirkung und generellen Protektionismustendenzen von regionalen Freihandelszonen ist ihre Gründung nach Art. X X I V GATT zulässig. Vorbildfunktion für das Abkommen zwischen Polen, Ungarn sowie der Tschechischen und Slowakischen Republik besaß vor allem das EFTA-Übereinkommen 30. Die zentraleuropäische Frei27
Perczynski , La collaboration subrégionale dans le cadre du Groupe de Visegràd, Revue du Marché Unique Européen 1993, 541 ff. 28
Zukrowska , Probleme der regionalen Zusammenarbeit der CEFTA-Staaten, Osteuropa-Wirtschaft 1996, 38 ff. 2g Krupp, Die EG und Mittel- und Osteuropa, in: Schenk/Seeler ein größeres Europa, 1992, S. 73. 30 Borrmann /Fischer/Jungnickel/Koopmann Welthandel, 1995, S. 57.
20*
/Scharrer,
(Hrsg.), Chancen für
Regionalismustendenzen im
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handelszone stellt sich für die teilnehmenden Staaten als Versuchsfeld erster Integrationsschritte dar und soll auf einen Beitritt zur EU vorbereiten. Eine doppelte Mitgliedschaft in beiden Integrationsräumen ist allerdings nicht beabsichtigt31. Auch im Rahmen des CEFTA lehnte die tschechische Regierung eine Institutionalisierung der Kooperation ab, damit das Freihandelsabkommen nicht zum Hindernis für eine Integration in das westliche System wird. Im Jahre 1996 wurde Slowenien als weitere Vertragspartei des CEFTA aufgenommen. Hierbei sollte es sich nicht um die letzte Erweiterung handeln. Allerdings herrschte Uneinigkeit zwischen den Vertragsparteien darüber, welche Staaten als nächste beitreten sollten. Polen strebte die Aufnahme der baltischen Staaten an, während Ungarn und die Tschechische Republik eine Süderweiterung favorisierten. Schließlich traten 1997 Rumänien und 1999 Bulgarien der CEFTA bei. Der Abschluss des Übereinkommens wurde von den westlichen Industriestaaten in der Hoffnung auf positive Wirtschaftsimpulse in den Transformationsländern unterstützt und gefördert 32. Es zeigt sich jedoch, dass der wirtschaftliche Stellenwert der Integrationszone gering ist und der Zusammenschluss vor allem symbolische Bedeutung besitzt. Für die CEFTA-Länder steht nicht der Handel untereinander, sondern der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur EU im Vordergrund. Eine Ausnahme bildet der Außenhandel Tschechiens mit diesen Staaten. Dieser betrug vor allem aufgrund der engen Wirtschaftsbeziehungen zur Slowakei im Jahre 1994 immerhin 20,4%. Der vergleichbare Außenhandelsanteil der anderen CEFTA-Teilnehmer liegt jeweils nur bei 10%33. Mit zunehmender Liberalisierung verstärken sich innerhalb des Integrationsraumes jedoch die handelsschaffenden Wirkungen. Insofern ist die Gründung der Freihandelszone zu begrüßen, zumal protektionistische Absichten angesichts der geringen Wirtschaftsmacht im Schatten der EU nicht zu erwarten sind.
31
Jacobsen, Ostmitteleuropa und die Weltwirtschaft. Die Rolle europäischer und globaler Wirtschaftsorganisationen, Berlin (Institut für Internationale Bildung) 1997, S. 53. 32 Czaplinski, Rechtliche Probleme des Europaabkommens und des Beitritts Polens zur EU, Veröffentlichungen des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Univ. Bonn, Nr. 63, 1996, S. 25. 33 Cassette / Rode, Neue Mitspieler im Welthandelssystem. Mittelosteuropa in der WTO, in: Rode (Hrsg.), Die Integration Mittelosteuropas in die Weltwirtschaft, 1998, S. 140.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
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2. Die Beziehungen zur Europäischen Union a) Handelsabkommen und PHARE-Programm In den Jahren 1988 bis 1991 kam es auf Grundlage der ex-Art. 113, 235 EGV (jetzt Art. 133, 308 EGV) zum Abschluss von Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EG und Staaten des früheren Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die politische Bedeutung dieser Verträge war jedoch wesentlich höher, als deren wirtschaftlicher Gehalt. Mit der CSFR wurde zunächst lediglich ein Handelsabkommen ohne Kooperationselemente gem. exArt. 113 EGV geschlossen, das am 1. April 1989 in Kraft trat 34 . Am 7. Mai 1990 wurde dieses Abkommen erweitert und ein Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Gemeinschaft und der CSFR vereinbart. Jenes hatte zum Ziel, mengenmäßige Beschränkungen zu beseitigen und den Handel zu liberalisieren. Zum 1. Januar 1991 wurde die CSFR darüber hinaus in das Allgemeine Präferenzsystem der EG einbezogen. Die einseitige Präferenzierung wurde damit begründet, dass die momentane wirtschaftliche Lage des Staates der ökonomischen Situation von Entwicklungsländern entspräche35. Im Rahmen der G-24, einer Gruppe von 24 westlichen Industrienationen, setzte 1989 unter Federführung der EG eine umfassende Unterstützung von Polen und Ungarn ein. Seit Juli 1990 wurde diese Hilfe auf 10 Staaten, unter anderem die Tschechische Republik, erweitert. Ziel der PHARE 36 -Aktion ist die sukzessive Einbeziehung der MOE-Staaten in das Allgemeine Präferenzsystem und der Abbau mengenmäßiger Beschränkungen. Seit 1990 umfasste die Hilfe einen Betrag von über 10 Mrd. ECU. Die EU und ihre Mitgliedstaaten brachten davon 60% der Zahlungen auf. Bei den finanziellen Mitteln handelt es sich um nicht rückzahlbare Zuschüsse für staatliche Programme im Bereich Wirtschaft und Entwicklung. Konkret geht es um die technische und wissenschaftliche Unterstützung durch Beraterorganisationen und Experten, Anschubfinanzierungen, Bereitstellung von Erstausrüstungen sowie humanitäre Hilfsmaßnahmen. Das Hauptgewicht der Unterstützung liegt im industriellen Sektor, im Handelsund Dienstleistungsbereich, in der Landwirtschaft, der Ausbildung, im Umweltschutz, bei Investitionen sowie in der Energieversorgung. Kritiker sehen in den Unterstützungsprogrammen vor allem Beschäftigungsmaßnahmen fur Berater aus den EU-Mitgliedstaaten, die den MOE-Staaten selbst kaum Nutzen bringen. Außerdem werden Bedenken hinsichtlich der effizienten Verwendung der Finanzhilfen durch die Empfängerländer geäußert. In Zukunft soll die PHAREHilfe vor allem beitrittsfördernde Wirkung in den betreffenden Staaten entfalten. 34
Lippert, Etappen der EG-Osteuropapolitik, Integration 1990, 117 f.
35
Inotai, Assoziierungsabkommen, Integration 1992, 26.
3f t
Pologne et //ongrie: Assistance à la Restructuration £conomique-Programm; phare ist aber auch das französische Wort fur Leuchtturm.
310
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Dafür wird in den Jahren 2000 bis 2006 ein Betrag in Höhe von 10,5 Mrd. ECU bereitgestellt. b) Europa-Abkommen als Rahmen der Wirtschaftsbeziehungen Am 16. Dezember 1991 fand die Unterzeichnung der ersten sog. „EuropaAbkommen" mit der CSFR, Polen und Ungarn 37 nach ex-Art. 238 EGV statt. Die Geltung des handelspolitischen Teils der Übereinkommen wurde nach exArt. 113 EGV als Interimsabkommen vorgezogen, da die Assoziierungsabkommen zusätzlich einer Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten bedurften. Das Interimsabkommen mit der CSFR wurde nach deren Auflösung am 7. Dezember 1992 vom EU-Rat mit der Tschechischen Republik verlängert. Infolge der Auflösung der CSFR konnte das bereits abgeschlossene EuropaAbkommen keine Wirksamkeit mehr erlangen. Im Anschluss an die erforderlichen Nachverhandlungen wurde das Übereinkommen mit der Tschechischen Republik am 4. Oktober 1993 unterzeichnet und am 1. Februar 1995 in Kraft gesetzt38. Hierbei handelt es sich um eine Assoziierung nach Art. 310 EGV mit der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft. Diese politische Absichtserklärung befindet sich ausdrücklich in der Präambel der einzelnen Abkommen, in die sie erst auf Druck der MOE-Staaten Eingang fand. Ziel der Europa-Abkommen ist die Schaffung einer Freihandelszone in einem Zeitraum von 10 Jahren. Begonnen wurde mit einer asymmetrischen Marktöffnung in dem Sinne, dass sich der EG-Markt bei der Aufhebung von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen schneller öffnet als die assoziierten Staaten. Die EG hat ihre Zölle und Kontingente innerhalb von fünf Jahren abzubauen, während Polen sieben Jahre, Ungarn und die Tschechische Republik neun Jahre Zeit haben. Für 60% der Industriewaren greift die Einfuhrliberalisierung allerdings sofort. Bei ernsthaften Marktstörungen bleibt die Anwendung der vertraglichen Schutzklausel möglich. Diese Vereinbarungen gelten jedoch nicht für Agrargüter. Die Preise für diese Produkte liegen in den MOE-Staaten 20-30% unter dem EG-Niveau und sind deshalb weltweit konkurrenzfähig. In diesem Bereich ist nur eine Senkung der Abschöpfungen und die Erhöhung der Kontingente durch die Gemeinschaft, aber kein vollständiger Abbau der Beschränkungen vorgesehen31'. Die Zölle auf Kohle und Stahl liefen zum 31. Dezember 1995 für Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn aus. Im Textilbereich wurden die Zölle zum 1. Juli 1997 und die 37 ABl. EG 1992 Nr. L 115, S. 1 (CSFR), ABl. EG 1992 Nr. L 114, S. 1 (Polen) und ABl. EG 1992 Nr. L 116, S. 1 (Ungarn). 38
ABl. EG 1994 Nr. L 360, S. 1.
39
Brunner, Zwei Seiten der Integrationsmedaille (Fn. 17), S. 17.
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311
Kontingente zum 31. Dezember 1997 abgebaut. Um der besonderen Situation der MOE-Staaten Rechnung zu tragen, können sie für junge Industriezweige sowie zum Schutz der in der Umstrukturierung befindlichen alten Industrien noch befristet höhere Zollsätze beibehalten. Die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen wird nur auf Gegenseitigkeit gewährt 40. Wichtig für die künftige Aufnahme der MOE-Staaten in die EU ist deren vertraglich zugesicherte Absicht, ihre Rechtsvorschriften dem Gemeinschaftsrecht anzugleichen. Außerdem enthalten die Abkommen Erklärungen über wirtschaftliche, wissenschaftliche, soziale, kulturelle und finanzielle Zusammenarbeit. Durch das Europa-Abkommen sind insgesamt 80% des Handels der Tschechischen Republik betroffen. Die wirtschaftliche Verflechtung der MOE-Staaten mit der EU hat im Laufe des Transformationsprozesses stark zugenommen. So ist der Export Tschechiens in die EU zwischen 1994 und 1998 von 275,8 Mrd. Kronen auf 545,8 Mrd. Kronen gestiegen sowie der Import von 298,7 auf 588,6 Mrd. Kronen 41 . Trotzdem hat diese Handelsbeziehung für die EU nur eine geringe Bedeutung im Außenhandel. Ihr Anteil betrug z.B. im Jahre 1995 jeweils nur 3% der Ein- und Ausfuhren. Durch die Zunahme der preiswerteren Importe aus den MOE-Ländern profitieren letztlich die Verbraucher und jene Unternehmen der EU, die Zulieferfirmen in Mittelosteuropa besitzen42. Negative Auswirkungen besitzt diese Entwicklung allerdings für arbeitsintensive Wirtschaftssektoren innerhalb der EU und auf geringer qualifizierte Arbeitskräfte, die bereits durch die Globalisierung unter Anpassungsdruck geraten. Kritisiert wird an den Abkommen, dass die Übergangsfristen für sensible Güter, vor allem Textilien, Stahl und Kohle, zu lang sind 43 . Gerade in diesen Bereichen zeigen sich die MOE-Staaten als besonders wettbewerbsfähig 44. Dieser Vorteil geht aufgrund des EG-Protektionismus nun weitgehend verloren. Im Agrarsektor wurden mittlerweile alle MOE-Staaten mit Ausnahme von Ungarn zu Nettoimporteuren. Der Anteil dieser sensiblen Waren an der Produktion in den MOE-Staaten belief sich im Jahre 1991, einschließlich der Agrargüter, in Ungarn auf 46%, in Polen auf 55% und in der CSFR auf 26%, da hier nur eine geringe landwirtschaftliche Erzeugung existiert. Die große Bedeutung dieser Güter für den Export der MOE-Länder 45 erklärt deren Wunsch nach einer raschen EU-Mitgliedschaft. 40
Dazu Kuschet, Die Niederlassungsfreiheit fur Unternehmen der EG in den Europaabkommen der EG mit der CSFR, Polen und Ungarn, EuZW 1992, 571 ff. 41
PRAVO vom 16.6.1999, S. 15.
42
Weise, Der EU-Beitritt ostmitteleuropäischer Staaten, Integration 1997, 175.
43
Winterberg, Westliche Unterstützung der Transformationsprozesse in Osteuropa, Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien Nr. 92/1994, S. 60. 44 45
Brunner, Zwei Seiten der Integrationsmedaille (Fn. 17), S. 16.
Ausfuhrlicher Randzio-Plath, Die EG und Mittel- und Osteuropa, in: Schenk/Seeler (Hrsg.), Chancen für ein größeres Europa, 1992, S. 100.
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Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern wurde in den Abkommen nicht geregelt und bleibt damit Gegenstand bilateraler Übereinkommen. Dieser Bereich ist politisch äußerst empfindlich und bedarf auch im Falle der EU-Beitritte längerer Übergangsfristen. Seitens der Alt-Mitgliedstaaten wird vor allem ein Zuzug „billiger Arbeitskräfte", speziell im Baugewerbe, befurchtet, während die MOELänder Angst vor einem Wegzug von dringend benötigten Fachkräften haben. Mit dem Abschluss der Europa-Abkommen kam es zu einer außenpolitischen Absicherung der Unabhängigkeit der MOE-Staaten von Russland und zu einer demokratischen Stabilisierung der Länder. Außerdem fördert der Zugang zum westeuropäischen Markt industrielle Direktinvestitionen aus dem Ausland, die eine wichtige Voraussetzung für eine rasche ökonomische Entwicklung sind. Trotz der Schutzklausel, der Ausklammerung sensibler Bereiche und der langen Übergangsfristen besitzen die Reformländer eine größere Planungssicherheit für ihren Außenhandel, als dies beispielsweise im Rahmen des GATT der Fall ist 46 . Das Verhältnis des GATT zu den Europa-Abkommen ist nicht unproblematisch. Bedenken ergeben sich im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung im GATT 47 . Die EG muss Vorteile, die sie einer Vertragspartei der WTO gewährt, nach dem Prinzip der Meistbegünstigung in Art. I GATT an alle anderen Mitglieder weiterreichen. Die Vergünstigungen in den EuropaAbkommen werden allerdings ausschließlich den MOE-Staaten gewährt. Eine Rechtfertigung dieser Sonderbehandlung als regionale Integrationszone gem. Art. X X I V GATT ist problematisch, da nicht nahezu der gesamte Handel zwischen den Ländern betroffen ist und nur eine asymmetrische Marktöffnung vereinbart wurde 48 . c) Beitritt zur Europäischen Union aa) Beitrittsvoraussetzungen für die MOE-Staaten Rechtsgrundlage für den Beitritt zur Europäischen Union ist Art. 49 EUV 4 9 . Diese Vorschrift verlangt als einzige geschriebene Voraussetzung, dass der Beitrittsstaat europäisch 50 sein muss. Darüber hinaus wird erwartet, dass der Staat bereit ist, die Vertragsziele zu unterstützen und den gemeinschaftsrecht46
Borrmann u.a., Regionalismustendenzen im Welthandel (Fn. 30), S. 74.
47
Neumann / Welge, Die gemeinsame Handelspolitik und ihre Mechanismen, in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Integration, 1991, S. 671 f. 48 Hilpold, Wirtschaftlicher Regionalismus - Koordination und Wettbewerb der Integrationszonen, Integration 1996, 224 ff. 49 50
Ausfuhrlich zu den Beitrittsbedingungen Richter, Die Erweiterung der EU, 1997.
Zu den mit dem Begriff „europäisch" verbundenen Problemen Bruha / Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, VRÜ 1997, 479 ff.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
313
liehen Besitzstand (wzs-Tatbeständen erreicht werden. Auch die neue Subventionsordnung dient dem Vorhaben einer stärkeren Disziplinierung der Vertragsparteien bei der Vergabe staatlicher Beihilfen. Da den MOE-Staaten oft finanzielle Mittel für eine breite Unterstützung bestimmter Wirtschaftszweige fehlen, wird hierdurch eine gewisse Chancengleichheit mit den reicheren Staaten erzielt. Die Bereiche der Textilherstellung und des Agrarhandels spielen für die MOE-Staaten eine große Rolle. Diese Sektoren werden nach dem WTO-Textilwaren- und den WTO-Landwirtschaftsabkommen schrittweise dem Regime des GATT unterstellt. Bezüglich der Bestimmungen über sensible Produkte in den Europa-Abkommen befindet sich die EG derzeit noch in Übereinstimmung mit dem GATT. Die EG-Agrarpolitik steht jedoch unter zunehmendem Reformdruck infolge der zeitlich gestaffelten WTO-Verpflichtungen.
88
Sereghyovà , Sind die mittel- und osteuropäischen Länder und die EU reif für eine Erweiterung?, in: Mayer/Scharrer (Hrsg.), Osterweiterung der EU, 1997, S. 143. 89
WTO, Annual Report 1996, Volume I, Special Topic: Trade and Foreign Direct Investment, S. 169. w 1)1
WTO, Trade Policy Review, Czech Republik, S. 32 Fn. 3. Dazu ausfuhrlicher Beise/Oppermann /Sander, Grauzonen im Welthandel, 1998.
21 FS Oppermann
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b) Dienstleistungsabkommen Durch die Einbeziehung von Dienstleistungen in das WTO-Vertragswerk ist nun ein umfassendes Regelwerk für den Welthandel entstanden. Auch im General Agreement on Trade in Services (GATS) finden analog zum GATT grundsätzlich die Prinzipien der Meistbegünstigung und Inländerbehandlung Anwendung 92 . Zudem verlangt Art. III Transparenz in Bezug auf die nationalen Regelungen, z.B. durch eine Veröffentlichungspflicht der für den Dienstleistungshandel relevanten einzelstaatlichen Gesetze. Neben dem Rahmenabkommen spielen Sektorvereinbarungen in Form von Protokollen eine besondere Rolle. In ihnen werden die Liberalisierungsverpflichtungen für die einzelnen Sektoren konkretisiert. In der Zwischenzeit wurden Protokolle über die Freizügigkeit natürlicher Personen als Dienstleistungsanbieter 93, über Basistelekommunikation94 sowie Finanzdienstleistungen95 und freiberufliche Dienstleistungen96 vereinbart. Im Bereich audiovisueller Medien kam es im Rahmen der Uruguay-Runde hingegen zu keinen Zugeständnissen97. Durch die Teilnahme am GATS hoffen die MOE-Staaten, ihre Wirtschaft zu modernisieren 98. Der gegenwärtig noch niedrige Stand im Dienstleistungssektor wird sich in diesen Ländern gravierend ändern. Vor allem in den Bereichen Banken, Versicherungen und Telekommunikation werden hohe Steigerungsraten erwartet 99. Aufgrund der eingegangenen Liberalisierungsverpflichtungen kann Tschechien zwar den Erwerb von Boden durch Ausländer beschränken, nicht aber den Kauf von Immobilien. Ausländische Firmen, die ihre Tätigkeit in der Tschechischen Republik unbeschränkt aufnehmen können, sind deshalb in der Lage, über ihre Niederlassungen Immobilien zu erwerben. Auch der vorübergehende Aufenthalt von Managern, Personal und Fachkräften sowie Handelsvertretern ist erlaubt 100 . 92 Vgl. Barth, Das Allgemeine Übereinkommen über den internationalen Dienstleistungshandel (GATS), EuZW 1994, 455 ff. 93
Drittes Protokoll zum GATS vom 6.10.1995.
94
Viertes Protokoll zum GATS vom 15.2.1997.
95
Fünftes Protokoll zum GATS vom 14.11.1997.
96
Richtlinie für gegenseitige Anerkennungsübereinkommen im Sektor des Rechnungswesens, WTO Focus 19 (May 1997), S. 8, und Nr. 20 (June/July 1997), S. 5. 97
Vgl. Sander, „Cultural Exception" in der WTO - eine Bereichsausnahme für audiovisuelle Medien?, in: Dittmann/Fechner/Sander (Hrsg.), Der Rundfunkbegriff im Wandel der Medien. Symposion zum 65. Geburtstag von Professor Dr. iur. Dr. h. c. Thomas Oppermann, 1996, S. 177 ff. 98 Piontek , East European Expectations Towards the EC and GATT in the Nineties, in: Oppermann /Molsherger (Hrsg.), A New GATT for the Nineties and Europe '92, 1991, S. 328. 99
Weise u.a., Ostmitteleuropa auf dem Weg in die EU, 1997, S. 16.
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c) Schutz geistigen Eigentums Das Abkommen über Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) enthält Mindeststandards für den Schutz geistigen Eigentums 101 . Es handelt sich somit um kein Liberalisierungs-, sondern um ein Schutzabkommen, von dem die MOE-Staaten mit zunehmender forschungsintensiver Produktion profitieren werden. Deshalb hat die Tschechische Republik auch nicht von der Möglichkeit für Transformationsländer Gebrauch gemacht, die Umsetzung von Teilen des TRIPS-Abkommens zeitlich hinauszuzögern. Im audiovisuellen Sektor besitzen die USA bei Kino- und Fernsehfilmen einen Marktanteil von 80-90% in den MOE-Staaten. Da es sich jedoch zumeist um B-Produktionen handelt, braucht die US-amerikanische Filmindustrie keine Befürchtungen hinsichtlich Urheberrechtsverletzungen und Schwarzkopien zu haben. d) Streitbeilegungsverfahren Für die Durchsetzungsfahigkeit des WTO-Vertragswerkes ist die Vereinbarung des verbesserten StreitbeilegungsVerfahrens im Dispute Settlement Understanding (DSU) von zentraler Bedeutung. Anders als das GATT 1947, das nur rudimentäre Regelungen bezüglich der Streitschlichtung enthielt, wurde das neue Verfahren gerichtsähnlich ausgestaltet. Während ursprünglich die Einstimmigkeit für die Annahme der Panel-Berichte notwendig war, gilt der Bericht des Panels, einer unabhängigen Prüfungs- und Feststellungsinstanz, nach den neuen Regeln als angenommen, wenn ihn der Dispute Settlement Body nicht einstimmig ablehnt oder eine der Parteien den Appellate Body anruft. Dieses Prinzip des „umgekehrten Konsenses" deutet den Übergang von einem machtorientierten zu einem regelorientierten System an. Kommt es zur Annahme des Panel- bzw. des Berufungsberichts, besteht für die unterlegene Partei die Verpflichtung, die vertragswidrige Handlung aufzuheben (Art. 17:14, 21 DSU). Zur Durchsetzung der Entscheidungen können Kompensationen ergriffen und vertragliche Zugeständnisse in anderen Bereichen ausgesetzt werden (cross-retaliation ). Unilaterale Handelssanktionen als Mittel der Streitbeilegung werden gemäß Art. 23 DSU ausdrücklich verboten. Auf diese Weise wird eine Waffengleichheit für die Vertragsstaaten garantiert. Vor allem die kleineren Staaten Mittel- und Osteuropas, deren Wirtschaftsmacht eher gering ist, profitieren von einem rechtsförmig ausgestalteten Verfahren, in dem die normative Verbindlichkeit entscheidend gestärkt wird 1 0 2 . 100
WTO, Trade Policy Review, Czech Republik, S. 114.
101
Oppermann /Baumann, Handelsbezogener Schutz geistigen Eigentums („TRIPS") im GATT, ORDO 1993, 121 ff. 102 Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO), RIW 1995, 919 ff.
21*
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e) Der Handelsüberprüfungsmechanismus Der Trade Policy Review Mechanism (TPRM), der während der UruguayRunde eingeführt wurde, ist unter dem Regime der WTO beibehalten worden. Mit ihm wird in regelmäßigen Abständen die Handelspolitik einzelner Vertragsparteien in Bezug auf die Einhaltung ihrer Vertragspflichten überprüft. Die vier wirtschaftsstärksten Länder/Handelsblöcke werden alle 2 Jahre, die nächsten 16 Staaten alle 4 Jahre und die übrigen Staaten alle 6 Jahre der Kontrolle unterworfen. Diese Überprüfung soll zu einer Disziplinierung der Mitgliedstaaten in ihrer Außenwirtschaftpolitik beitragen. Der Trade Policy Review Body hat bereits einen ersten Bericht über die Handelspolitik der Tschechischen Republik erstellt. Der Vorsitzende des TPRM hat in diesem Zusammenhang das Assoziierungsabkommen mit der EU als Reorientierung der Handelspolitik und der Güterströme begrüßt. Im Übrigen wurden der Tschechischen Republik beeindruckende ökonomische Fortschritte und die Erfüllung ihrer WTO-Verpflichtungen bescheinigt. Herausgestrichen wurde, dass die tschechischen Zölle grundsätzlich auf dem Meistbegünstigungsprinzip mit mäßigen Sätzen beruhen 103. Regionale Freihandelszonen besitzen aus Sicht der WTO allerdings auch kritische Effekte 104 . Die Gesamtzahl der Marktzugangshemmnisse wird zwar durch regionale Integrationsräume reduziert, es entstehen aber regionale Handelsumlenkungen, die der weltwirtschaftlichen Verflechtung entgegenwirken 10". Tschechien hat mit der Slowakei eine Zollunion vereinbart, mit Rumänien, Slowenien und der EFTA Freihandelsabkommen abgeschlossen sowie die Assoziierung mit der EG ausgehandelt. Von diesen Übereinkommen sind 80% des Außenhandels der Tschechischen Republik betroffen 106. Angesichts der zahlreichen Handelsabkommen sieht die WTO die Gefahr, dass Tschechien seinen Verpflichtungen gegenüber dritten WTO-Mitgliedern nicht mehr ausreichend nachkommt. Außerdem regte der erste Bericht an, die tschechischen Handelsgesetze so auszugestalten, dass Antidumping-Maßnahmen nicht protektionistisch angewendet werden können und kritisiert einzelne Verletzungen der Meistbegünstigung durch die Verhängung von Zöllen, die abhängig vom Herkunftsland der Ware erhoben werden 107 .
103
WTO, Trade Policy Review, Czech Republik, S. 5. sowie WTO FOCUS, No. 9, March-April 1996, S. 7. 104
Hilpold, Integration 1996. 224 ff.
105
van Scherpenberg, Konkurrenz um die Weltmärkte, Internationale Politik 1997. 13.
106
WTO. Press Release vom 1.3.1996 (Fn. 84), S. 1.
107
WTO, Trade Policy Review, Czech Republik, S. 1.
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2. Zukünftige WTO-Bereiche Die Handelspolitik der WTO setzt auf die Beseitigung staatlicher Maßnahmen, die den internationalen Handel behindern. Demgegenüber strebt die Wettbewerbspolitik die Bekämpfung privater Missbräuche von Marktmacht an. Handelspolitische Zugeständnisse der Staaten im Rahmen des GATT können konterkariert werden, wenn der Marktzugang durch private Absprachen wieder beeinträchtigt wird, weil wirksame weltweit gültige wettbewerbsrechtliche Vorschriften fehlen. Wettbewerbspolitik und Handelspolitik ergänzen sich damit in einer am Freihandel orientierten Welthandelsordnung 108. Auf der Ministertagung in Singapur 1996 wurde deshalb das Thema der Schaffung einer internationalen Wettbewerbsordnung im Rahmen der WTO aufgegriffen und eine Arbeitsgruppe fur diesen Bereich eingesetzt. Einheitliche, weltweit geltende Wettbewerbsregeln erhöhen ebenfalls die Marktzugangschancen der Unternehmen aus Staaten Mittelosteuropas, die kaum Durchsetzungsmöglichkeiten der extraterritorialen Anwendung ihrer nationalen Wettbewerbsregeln besitzen. Diese Fähigkeit besitzen nur wirtschaftsstarke Staaten, die infolgedessen oft der Ansicht sind, ihre Interessen im Wege bilateraler Verträge besser durchsetzen zu können. Aus diesem Grund stehen auch die USA einem Weltkartellrecht zurückhaltend gegenüber. Auf WTO-Ebene wird außerdem über die Aufnahme von Sozialklauseln in die Handelsverträge beraten 109. Die Befürworter einer solchen Einbeziehung streben die globale Gewährleistung von grundsätzlichen Kollektiv- und Individualrechten, wie z.B. das Verbot der Kinderarbeit, an. Die Diskussion über Sozialdumping stärkt allerdings nicht das Vertrauen der MOE-Länder in die WTO 1 1 0 . Bei diesem Schutzbereich besteht die Gefahr, dass die geringen Arbeitskosten der MOE-Länder als komparative Kostenvorteile aus protektionistischen Motiven nivelliert werden sollen, um an eigener Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. 3. Ergebnis Die Staaten Mittel- und Osteuropas haben sich weitgehend den internationalen Handelsströmen geöffnet. Protektionistische Maßnahmen spielen nur eine den anderen Industriestaaten vergleichbare Rolle und werden lediglich übergangsweise ergriffen. In Anbetracht ihrer noch schwachen wirtschaftlichen Lage befolgen die Staaten Mittelosteuropas damit überraschend gewissenhaft die 108
Sander, WTO jako râmec budoucich pravidel svètové hospodârské soutèze = Die WTO als Rahmen einer künftigen Weltwettbewerbsordnung, Evropské a mezinärodni pravo 1998, Heft 9 - 1 0 , 3 ff. 109 110
Ausführlich Lempp, Sozialdumping - eine „unangemessene" Handelspraktik?, 1995.
Sereghyovä, Sind die mittel- und osteuropäischen Länder und die EU reif für eine Erweiterung? (Fn. 88), S. 150.
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liberalen Forderungen des Welthandelssystems. Ein Grund kann darin gesehen werden, dass sich nationale wirtschaftliche Interessengruppen in diesen Ländern noch nicht ausreichend etabliert und positioniert haben111. Das gesamte WTO-System ist von einer zunehmenden Verrechtlichung geprägt 112 . Die Pflichten und Rechte der Vertragsparteien sind nicht mehr als flexible Bestimmungen, sondern als rechtlich verbindlich zu begreifen 113. Damit ist auch die Frage der Qualität des WTO-Rechts in regionalen Rechtsordnungen zu überdenken und eine unmittelbare Anwendbarkeit der WTO-Vorschriften zu befürworten 114. Insbesondere der Grundsatz der Transparenz und Kontrolle wurde wesentlich gestärkt. Informationspflichten und Transparenzgebote ziehen sich konsequent durch die einzelnen Übereinkommen (z.B. Art. X GATT, Art. III GATS, Art. 6 TRIMS, Art. 7 SPS-Abkommens). Von der gerichtsförmigen Streitbeilegung, der stärkeren Disziplinierung durch den TPRM und der gesteigerten Transparenz profitieren speziell kleinere Handelsländer, zu denen auch die MOE-Staaten zählen. Sie haben ein besonderes Interesse an der Stärkung des Rechts und der Überprüfung der Vertragstreue von wirtschaftlich stärkeren WTO-Mitgliedstaaten115. Als kleinere Länder, die ansonsten dem politischen Druck größerer Staaten ausgeliefert wären, gewinnen sie durch die Verbindlichkeit und gesteigerte Durchsetzbarkeit der WTO-Vorschriften ein wichtiges Maß an Rechtssicherheit im Wirtschaftsvölkerrecht. V. Schlusswort Neben den souveränitätsbeschränkenden Verpflichtungen, die aus der WTOMitgliedschaft folgen, büßen die MOE-Staaten bei einem Beitritt zur EU einen weiteren Teil ihrer handelspolitischen Eigenständigkeit ein. Ziel der Staaten muss es deshalb sein, die Chancen, welche die relative Souveränität im Außenhandel derzeit noch bietet, erfolgreich zu nutzen. Bei einem EU-Beitritt sind von den umfassenden Liberalisierungskonzessionen der Transformationsländer Rückschritte nicht mehr möglich. Der Durchschnittszoll liegt in den MOE-Staaten mit 6,5% noch doppelt so hoch wie die Sätze in der Gemeinschaft mit durchschnitt111 112
Cassette /Rode. Mittelosteuropa in der WTO (Fn. 33). S. 161.
Ipsen/Haltern, RIW 1994. 722.
Rule of Law in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen,
Oppermann, RIW 1995, 919 ff. 114
Vgl. Sander, Rechtsprobleme der EG-Bananenmarktordnung, 1997, S. 30 ff.; Cascante /Sander, Der Streit um die EG-Bananenmarktordnung, 1999, und Sander, Rezim ES ν oblasti dovozu banänu = The EC Banana Regime, Evropské a mezinârodni pravo 1999, Heft 4, S. 21 ff. 115 Piontek, East European Expectations Towards the EC and GATT in the Nineties (Fn. 98), S. 327 f.
Die Teilhabe Tschechiens an wirtschaftlichen Integrationsräumen
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lieh 3% 116 . Nach einem Beitritt sind diese Zölle zwar anzupassen, im Gegenzug bietet die EU jedoch einen einflussreichen Zusammenschluss für die Durchsetzung der Interessen ihrer Mitgliedstaaten, denn auch die Gemeinschaft verfolgt in ihren Außenbeziehungen nicht die reine Lehre des Freihandels. Ferner erhöht sich mit der Erweiterung um die Staaten Mittel- und Osteuropas zudem das ökonomische und politische Gewicht der EU in der Weltwirtschaft 117 . Die Rückkehr nach Europa bildet für die Beitrittsländer neben der sicherheitspolitischen Absicherung auch die Grundlage für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung. Eine Alternative zur EU-Osterweiterung kommt deswegen nicht in Betracht. Der mit der EU-Mitgliedschaft verbundene Souveränitätsverlust wird aber noch zu kontroversen Diskussionen in den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften führen 118. Vor allem Nationalisten und Landwirte sind derzeit die größten Kritiker der geplanten Beitritte. Ferner ist es notwendig, einen Rahmen für jene Staaten in Osteuropa zu schaffen, die in der ersten Erweiterungsrunde nicht beitreten können. Sie dürfen nicht in ein politisches Vakuum fallen, statt dessen muss ihnen eine Perspektive fur die Zukunft eröffnet werden. Auch bezüglich der Teilnahme am Welthandel besitzen die MOE-Staaten ein Interesse an verlässlichen Regeln, welche die internationalen Handelsbeziehungen kalkulierbarer gestalten. Mit Hilfe der WTO-Mitgliedschaft und der Assoziierung als Vorbereitung eines EU-Beitritts gewinnen die einzelnen Transformationsländer gesteigerte Rechtssicherheit im Handelsverkehr. Darüber hinaus fordern die Teilnahme an der CEFTA-Integrationszone und der Abschluss weiterer Freihandelsabkommen, wie im Falle Tschechiens, die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Die EU hat auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten in den MOELändern Rücksicht genommen und eine asymmetrische Marktöffnung vereinbart. Derzeit profitieren die Staaten Mittelosteuropas vom Standort vorteil geringer Arbeitskosten. Aus diesem Grund fordern sie insbesondere den Abbau von Protektionismus in sensiblen Bereichen, wie der Landwirtschaft, Textilien, Kohle und Stahl. Mit Hilfe von Zöllen und Antidumpingmaßnahmen wird weltweit immer noch versucht, wettbewerbsfähigere Produkte, wie z.B. Agrarerzeugnisse, vom heimischen Markt fernzuhalten. So wandelten sich die MOE-Staaten mit Ausnahme von Ungarn zu Agrarnettoimporteuren, obwohl sie im Vergleich zur westeuropäischen Landwirtschaft durchaus konkurrenzfähig waren. Weiteres Beispiel für die Wahrung eigener Interessen ist die EG-Entsenderichtlinie 119, die sich vor allem gegen die Beschäftigung polnischer Bauarbeiter innerhalb der EU richtet. 116
Dauderstädt,
117
Weifens,
Integration 1998, 151 f.
Konsequenzen einer Osterweiterung (Fn. 68), S. 177.
118
Zurzeit spielt diese Diskussion in der Tschechischen Republik noch keine Rolle, vgl. Hoskovà , Die tschechische Perspektive, in: Stern (Hrsg.), Zukunftsprobleme der EU, 1997, S. 124. I|q
ABl. EG 1997 Nr. 18, S. 1.
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Die Teilnahme am internationalen Handel erweist sich für die MOE-Staaten als optimale Entwicklungspolitik für ihre Industrien („aid by trade ik). Vornehmlich die Tschechische Republik hat sich durch die Teilhabe an wirtschaftlichen Integrationsräumen und verschiedenen Freihandelsabkommen ökonomisch stark mit anderen Handelsnationen verbunden. Zur Stärkung der Standortattraktivität Mittelosteuropas ist künftig jedoch ein Technologietransfer notwendig 120 , der es diesen Ländern erlaubt, auch hochwertige Güter herzustellen. Hierdurch erhöht sich gleichzeitig aber die Konkurrenz zu Produkten der westeuropäischen Unternehmen 121 . Um in der heutigen Weltwirtschaft zu bestehen, ist eine regionale Arbeitsteilung unerlässlich. Diese wird sich in Europa im Zuge der wachsenden Handelsverflechtungen mit den Transformationsstaaten in den nächsten Jahren neu definieren. Schließlich wird durch die Osterweiterung die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Kontinents gestärkt werden können.
120 Weidenfeld / Turek, Standort Europa. Handeln in der neuen Weltwirtschaft, 2. Aufl. 1996, S. 111. 121
Dönges u.a., Globalisierter Wettbewerb. Schicksal und Chance, 1998, S. 21.
Europäische Integration Erfahrungen eines japanischen Diplomaten Von Teruyoshi Inagawa
Vorwort Es ist mir eine besondere Ehre, zu dieser Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von Herrn Professor Thomas Oppermann beitragen zu dürfen. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Professor Dr. Claus Dieter Classen von der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, der diese Festschrift geplant und mir die Möglichkeit gegeben hat, daran mitzuwirken. Dass mir diese Ehre zuteil geworden ist, verdanke ich wohl der Tatsache, dass ich vom Wintersemester 1969 bis Juli 1971 vier Semester an der Universität Tübingen die Vorlesungen und Seminare von Herrn Professor Oppermann zum Europarecht besucht hatte. Zu dieser Zeit bekam ich die Gelegenheit, die Europäische Integration, die gerade erst begonnen hatte, zu studieren und war danach als japanischer Diplomat, angefangen mit der Bundesrepublik Deutschland, oft in europäischen Ländern tätig. Jederzeit stand mir Herr Professor Oppermann mit Ratschlägen hilfreich zur Seite, wenn ich mich mit der weiteren Entwicklung der europäischen Integration beschäftigen und Studien über sie betreiben wollte. Auch die Familie Oppermann, besonders Frau Professor Oppermann, kommt meiner Frau und mir stets herzlich entgegen. Unsere Freundschaft besteht nun über 30 Jahre. Dank des Einsatzes von Herrn Professor Oppermann konnte ich die ganze Zeit über die Beziehung zur Universität Tübingen aufrechterhalten. 1980, zum Beispiel, war ich gemeinsam mit Herrn Professor Oppermann an den Vorbereitungen der Rede des damaligen Botschafters von Japan Bunroku Yoshino an der Universität Tübingen beteiligt. 1995 konnte ich am Asienseminar der Universität Tübingen in Baubeuren und 1998 an der auch von der Universität Tübingen veranstalteten Jubiläumsfeier anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Ostasiatischen Vereins der Universitäten Tübingen, Stuttgart und Pforzheim als Gastredner teilnehmen. Ich bin mir sicher, dass ich durch meinen Studienaufenthalt in Deutschland, zwei Jahre an der Universität Tübingen und davor von 1965 bis 1966 an der Universität Freiburg, und auch danach durch die dauerhaften Kontakte zur Universität Tübingen immer die persönliche Verbindung zu Deutschland und
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Teruyoshi Inagawa
Europa aufrechterhalten habe, ohne meine Identität als Japaner aufzugeben, und dass ich als Diplomat mein wissenschaftliches Interesse an der Entwicklung Europas nie verloren habe. Ich möchte an dieser Festschrift mitwirken und dadurch meinen großen Dank an Herrn Professor Oppermann, der mir das alles ermöglicht hat, bezeugen. Hierbei handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung über die Europäische Integration, sondern ich möchte vielmehr erstens über persönliche Erlebnisse und Begegnungen eines einzelnen japanischen Diplomaten, der über 30 Jahre lang die Europäische Integration beobachtet hat, mit dem Prozess der Integration berichten. Zweitens möchte ich mich zum Verständnis und zur Interpretation der Europäischen Integration eines außenstehenden Dritten äußern. Und drittens möchte ich versuchen, die heutige Situation Japans und seine Perspektive für die Zukunft zu erklären, verglichen mit denen Europas, das die Vertiefung und Erweiterung weiterführt, die europäische Identität verstärkt und gleichzeitig versucht, die europäische Rolle in der internationalen Politik und Wirtschaft zu vergrößern.
I. Der Neuanfang Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg Die Idee zur Europäischen Integration ist mit dem Namen desjenigen, der Anfang des vorigen Jahrhunderts (1923) die Paneuropa-Union gegründet hat, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894 - 1972), eng verbunden und ist auch in Japan bekannt. Ein Grund dafür ist, dass er als Sohn von Geschäftsträger Graf Coudenhove-Kalergi, der Ende des 19. Jahrhunderts vom Österreichisch-Ungarischen Reich zur Meiji-Regierung gesandt wurde, und seiner japanischen Ehefrau Mitsuko Aoyama in Tokyo geboren wurde. Außerdem ist auch die Tatsache, dass der Prozess der Europäischen Integration durch die Wiederauferstehung aus dem Elend des Zweiten Weltkrieges motiviert wurde, ein Grund, warum Japaner ein so großes Interesse an der Europäischen Integration haben. Nach dem Krieg entwickelten sich Japan und Deutschland als Staaten des Friedens und als Staaten, die auf einer parlamentarischen Demokratie und der Marktwirtschaft basieren, also als sogenannte westliche Staaten. Japan hat gleich nach Kriegsende den Wiederaufbau und die Entwicklung Deutschlands, das ein so schweres Schicksal mit Japan teilte und das das Unglück der Ost-West-Teilung begleitete, immer mit großem Interesse und Sympathie betrachtet. Als die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität 1954 wiedererlangte (die vier Siegermächte behielten sich bestimmte, aus der Kapitulation Deutschlands resultierende Rechte vor), wurde deren Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der NATO gewährleistet. Nachdem Japan seine Souveränität 1952 wiedererlangte, wurde der bilaterale Sicherheitsvertrag mit den USA zur Grundlage seiner Sicherheit. Japan verstärkte die Beziehungen zu Amerika und Europa, mit
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denen Japan die Wertvorstellung einer freiheitlichen Demokratie und der Marktwirtschaft gemeinsam hat, und nutzt auf der Grundlage des Japanisch-Amerikanischen Sicherheitsvertrages die japanisch-amerikanischen Beziehungen als Säule der Außenpolitik, um geopolitisch als ein Land Asiens freundschaftliche Verhältnisse zu verschiedenen benachbarten Ländern Asiens, die durch den Krieg zerstört worden waren, wiederherzustellen und weiterzuentwickeln.
II. Die Ziele der Europäischen Integration Es musste ein Mechanismus entwickelt werden, der auf der einen Seite in Europa, wo Deutschland liegt, Sicherheit durch die NATO vor der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten, den Staaten des Warschauer Vertrages, gewährleistet und auf der anderen Seite verhindert, dass innerhalb Europas wieder ein Krieg ausbricht. Die Länder, die durch den Krieg viele Kolonien verloren hatten, mussten eine Identität für eine neue Entwicklung aufbauen. Weiterhin musste eine Wirtschaftskraft aufgebaut werden, die der aufkommenden Wirtschaftskraft der USA und Japans entgegensteht. Dafür war die Schaffung eines großräumigen gemeinsamen Binnenmarktes notwendig. Europa, das sich zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion befand, musste sich eine Stellung aufbauen, damit ihm weiterhin eine wichtige Rolle in der internationalen Politik zukommt. Dazu war es notwendig, unter dem Einfluss der gewaltigen militärischen Kraft der USA seine Eigenständigkeit zu wahren und noch weiter zu entwickeln. Mit dem Ziel, die Gefahr eines Krieges in Europa zu bannen, wurden zuerst 1951 die Montanunion und 1958 die Euratom und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Diese drei Gemeinschaften wurden dann am 1. Juli 1967 zu den Europäischen Gemeinschaften zusammengeschlossen. Danach streben die Europäischen Gemeinschaften entsprechend den Bestimmungen der Römischen Verträge und dem Maastrichter Vertrag an, „eine immer engere Union der Völker Europas" zu realisieren. In diesem Prozess übertragen die EUStaaten einen Teil ihrer Souveränität einer supranationalen Organisation, der EU. Ich habe diesen Prozess lange beobachtet und möchte hier einige Punkte, die ich für besonders beachtenswert halte, anführen. Im folgenden werde ich versuchen, diese zu erläutern und meine Meinung darzulegen. 1. Die Übertragung der Souveränität a) Die wirtschaftliche
Integration
Die Supranationalität in der EU wurde hauptsächlich auf wirtschaftlichem Gebiet verwirklicht. Am 1. Juli 1968 wurde die Zollunion hergestellt und die
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sechs Beitrittsstaaten haben beschlossen, der EG-Kommission die Kompetenz für die Außenhandelsverhandlungen zu übertragen. Wenig später studierte ich in Tübingen. Zu dieser Zeit befürchtete man in Japan, dass die EG die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes beschleunigen und gleichzeitig möglicherweise die Schranken für den Außenhandel verstärken würde. Auch wenn die Kompetenzen für Außenhandelsverhandlungen und für den Abschluss von Abkommen an die Kommission übertragen wurden, so haben die Mitgliedsstaaten doch eigentlich nach wie vor eine starke Kompetenz behalten. In Japan hatte man zum Beispiel die Befürchtung, dass die Handelsverhandlungen zwischen Japan und der EG komplizierter statt einfacher werden könnten. Ich erinnere mich, gerade zu dieser Zeit, im Januar 1971, im Hauptseminar von Herrn Professor Oppermann ein Referat über derartige Befürchtungen Japans gehalten zu haben. Aber obwohl offiziell die Kompetenzen für den Außenhandel auf die EGKommission übertragen waren, musste Japan nach wie vor mit den jeweiligen Ländern, zum Beispiel mit Italien oder den Benelux-Ländern, „Verhandlungen" über die Exportmengen für japanische Elektronikerzeugnisse führen. Dabei handelte es sich aber in Wirklichkeit um eine Selbstbeschränkung. Ein weiteres Beispiel sind die noch bis vor kurzem geführten „inoffiziellen" Verhandlungen über die Beschränkung der Exportmengen für japanische Autos in einige Länder der EU, die wiederum eine Selbstbeschränkung darstellen. Aber die wirtschaftliche Integration Europas schritt schneller voran, als von uns außenstehenden Dritten vorausgesagt. Die Gründe dafür sind, dass wirtschaftliche Rationalisierung und die Erhöhung der Leistungsfähigkeit Ländergrenzen und verschiedene innerstaatliche Barrieren überwandt und man so einen noch größeren Markt mit gemeinsamen Regeln anstrebte. Um die auch als „Eurosklerose" bezeichnete Wirtschaftsstagnation der siebziger Jahre zu beenden, entstand die Notwendigkeit, mit den USA und besonders mit Japan, das sich zu einer wirtschaftlichen Großmacht entwickelt hatte, wirtschaftlich zu konkurrieren. Die Einheitliche Europäische Akte, die für einen freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr eintritt, wurde 1986 unterzeichnet und trat 1993 in Kraft. Damit war der Europäische Binnenmarkt entstanden. Im Juli 1998 gründete die EU die Europäische Zentralbank, basierend auf dem Plan zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Dieser Plan bildet den Mittelpunkt des 1992 unterzeichneten Maastrichter Vertrages zur Gründung der Europäischen Union. Gleichzeitig erlässt die EU einheitliche Kriterien zur Preisstabilität, zum Staatshaushalt, zur Währungsstabilität und zur Zinshöhe. Die 11 Länder, die diese Kriterien erfüllt hatten, führten im Januar 1999 den Euro ein. Im Juli 2002 wird dann der Euro an die Stelle der jeweiligen Landeswährung treten und die einzig gültige Währung werden. Ich glaube, dass die Einführung
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des Euro die Vollendung der Wirtschaftsunion bedeutet. Mit der Einführung des Euro wird innerhalb der Union die Transparenz der Wirtschaft zunehmen und eine Aktivierung und Stärkung der Wirtschaft verbunden sein. Die derzeit 11 Euro-Länder haben eine Gesamtbevölkerung von 290 Millionen Einwohnern. Sollte in naher Zukunft Großbritannien beitreten, würde sich die Bevölkerung auf 350 Millionen erhöhen und die Eurozone der größte Währungsraum der Welt werden. Auch wenn mittel- und osteuropäische Länder nicht beitreten, könnte die wirtschaftliche Wiedererstarkung Europas erreicht werden. Ich glaube, dass die Entstehung einer so großen Währungszone die Vorherrschaft des Dollars als internationale Schlüsselwährung verringern, von der Finanzpolitik der USA mehr Disziplin erzwingen und auch der gesamten Welt mehr finanzielle Stabilität bringen könnte. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine Folge der wirtschaftlichen Integration. Sie wurde durch die etwa 30 Jahre währenden langwierigen und konsistenten Bemühungen Europas verwirklicht, nachdem Luxemburgs Ministerpräsident Christian Pierre Werner den Werner-Plan verfasst hatte. Mich beeindrucken die Bemühungen der Europäer, die so eine Idee entwickelten und dann lange Zeit daran bis zur Verwirklichung arbeiten, sehr. Außerdem bin ich mir bewusst, dass die Wirtschafts- und Währungsunion eine hervorragende politische Leistung darstellt. Die Europäische Integration begann eigentlich mit dem Ziel, die Beziehungen der früheren Erzfeinde Frankreich und Deutschland, die auch der Auslöser für europäische Kriege waren, auf eine neue Stufe zu heben. Doch um das 1990 wiedervereinigte Deutschland zu einem „Deutschland für Europa" (nicht „Europa für Deutschland") zu machen und um den Prozess der Europäischen Integration unumkehrbar zu machen, verzichtet Deutschland sogar auf seine starke D-Mark. Diese politische Entscheidung Deutschlands wird wohl historische Anerkennung finden.
b) Der Weg zur politischen Integration Im Bereich Politik, insbesondere Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sind die Bemühungen, ein einheitliches Europa zu erreichen, durch die politische Zusammenarbeit und die Regierungskooperation relativ fortgeschritten. Die Idee, Europa außenpolitisch eine einheitliche Stimme zu verleihen, wird seit Beginn der siebziger Jahre im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) in die Tat umgesetzt. 1987 wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte erstmals der EG eine vertragliche Grundlage für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gegeben. Außerdem ist im Maastrichter Vertrag und im darauffolgenden Amsterdamer Vertrag das Verfahren verankert, als EU gemeinsame Standpunkte festzulegen und gemeinsame Aktionen zu beschließen. Es ist auch vorgesehen, stufenweise eine gemeinsame Verteidi-
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gungspolitik einzuführen. Die EU machte im Juni 1999 beim Europäischen Rat in Köln die Westeuropäische Union (WEU) zum Pfeiler der GASP und möchte beider Verhältnis zueinander bis Ende 2000 festlegen. Der ehemalige Generalsekretär der Nato Solana wird zum Hohen Vertreter der GASP bestimmt, der die EU nach außen vertritt. Europa verfolgt weiterhin die Verwirklichung der Idee von der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESDI) und nimmt weitere Untersuchungen vor. Auch Frankreich und England waren 1998 in Saint Malo damit einverstanden, dass die EU selbstständig für ihre Sicherheit sorgen können müsse. So hat die gemeinsame Außenpolitik schon relativ konkrete Formen angenommen. Aber weil alles einstimmig beschlossen werden muss, kommt man zu keiner Entscheidung, wenn die Interessen verschiedener Staaten nicht übereinstimmen. Bei der Verteidigungspolitik hatte die EU im Bosnien-Krieg und besonders im Kosovo-Konflikt des vergangenen Jahres wieder schmerzlich erfahren müssen, dass sie von der militärischen Kraft der USA abhängig ist. Das hatte zur Folge, dass die EU begann, sich ernsthaft um den Aufbau einer eigenen militärischen Kraft zu bemühen. Für Drittstaaten wie Japan, die am Frieden und an der Sicherheit der Welt großes Interesse haben, ist es wichtig, dass erstens Europa eine weltpolitisch bedeutende Außen- und Sicherheitspolitik rasch und einheitlich ausarbeitet und dass zweitens Europa nicht absichtlich auf Konfrontationskurs zu den USA geht, indem es seine Identität allzusehr in den Vordergrund stellen möchte, sondern bei Bedarf schnellstmöglich die USA und Japan konsultiert. Die EU wird durch den laufenden Erweiterungsprozess in naher Zukunft an die 30 Mitgliedsstaaten umfassen. Für die Verwirklichung der Erweiterung und einer politischen Union wird es ein wichtiger Prüfstein sein, ob die bis Ende 2000 angestrebten Reformen des Meinungsbildungsprozesses (Größe und Zusammensetzung der Kommission, neue Gewichtung der qualifizierten Mehrheit, Vergrößerung des Bereichs für die Anwendung der qualifizierten Mehrheit) der EU gelingen. Da es nahezu ausgeschlossen ist, dass Großbritannien und Frankreich auf ihre ständigen Sitze im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verzichten würden und da ein ständiger Sitz Deutschlands in diesem Gremium im Zuge der Erweiterung des Sicherheitsrates in den Bereich des Möglichen gerückt ist, scheint es ferner als je zu sein, dass diese Länder ihre Souveränität über die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gänzlich auf die EU übertragen. Daher gehe ich davon aus, dass die EU zwar einen großen Teil der Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten übertragen bekommt und eine wichtige politische Einheit wird, dass sie aber für eine sehr lange Zeit ein Gebilde souveräner Nationalstaaten bleiben wird.
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2. Die europäische Identität a) Innere Identität Angesichts der Entwicklung der Europäischen Integration stand stets das große Engagement der Europäer, eine europäische Identität als Motivation der Integration zu definieren, im Mittelpunkt meines Interesses. Ich verstehe unter der europäischen Identität eine Festlegung der gemeinsamen europäischen Werte wie Menschenrechte, parlamentarische Demokratie, Humanismus, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Rechte von Minderheiten und deren Realisierung. Wenn man diese als Werte der Freiheit und Demokratie zusammenfassen kann, so waren sie nicht allein die Motivation zur Europäischen Integration sondern auch zur Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Überwindung der Teilung Deutschlands und seine Wiedervereinigung hatten vordergründig zum Ziel, die menschlichen Leiden durch die Teilung von Familien zu überwinden. Auch die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 ging über bloße Verhandlungen über die Sicherheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost und West hinaus und wurde von der westlichen Motivation zur Realisierung der Menschenrechte geleitet. Auch der Standpunkt Westeuropas, dass die Menschenrechtsverletzungen eine Ausnahme vom Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten bilden, das eine wichtige Norm des internationalen Gewohnheitsrechts darstellt, beweist dies. 1981 war ich an der japanischen Botschaft in der Tschechoslowakei tätig. Damals wurden die Aktivitäten der polnischen Solidarnosc-Bewegung stärker. Auch hat sich der Druck auf die sogenannte 77er-Gruppe in der Tschechoslowakei verstärkt, deren zentrale Figur der Schriftsteller Vaclav Havel, der jetzige Präsident, war. Zu dieser Zeit bildeten die westlichen Diplomaten in Prag den sogenannten „Club de Prague", an dem auch ich teilnahm, und tauschten dort regelmäßig Informationen aus. Eines Tages schlug mir dort ein EG-Vertreter vor, mit ihm gemeinsam an einer Gerichtsverhandlung gegen Havel als Beobachter teilzunehmen, um eine zu strenge Prozessführung zu verhindern. Ich fragte in Tokyo nach, ob ich dies dürfe und bekam die Anweisung, Japan aus dieser Angelegenheit eher herauszuhalten. Ich gehe zwar davon aus, dass Tokyo nicht genau über die Situation, unter der Havel und seine Mitstreiter standen, informiert war, gleichzeitig spürte ich aber die sehr starken Überzeugungen der Westeuropäer die Menschenrechte betreffend. Ich bin überzeugt, dass gemeinsame Werte wie die Menschenrechte stets Merkmale der Erweiterung der EG und nach der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages der EU gewesen sind. Spanien und Portugal sind erst Mitglieder geworden, nachdem in beiden Ländern das diktatorische politische System beseitigt worden war. Auch der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten würde nicht nur den Übergang dieser Staaten zur Marktwirtschaft beschleunigen, sondern auch politische Werte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern fördern. Ich sehe den Grund, warum die Türkei, deren einer Teil zu Europa gehört und obwohl viele Türken zur
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wirtschaftlichen Entwicklung vieler EU-Staaten beitragen, noch keine sichere Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft hat, nicht so sehr in religiösen Gründen sondern eher in der Menschenrechtssituation der Kurden in der Türkei. Bei der Entscheidung zum militärischen Eingreifen im Kosovo am 24. März 1999 ist es auch offensichtlich geworden, dass die EU sehr stark auf dem Schutz der Menschenrechte und der Minderheiten besteht. Kosovo liegt zwar außerhalb der EU und auch außerhalb des Gebietes der Mitgliedsstaaten der NATO, gehört aber zu Europa. Angesichts dieser Tatsache hat die EU ohne einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates entschieden, gemeinsam mit der NATO einzugreifen. Damals beteiligte sich die Deutsche Bundeswehr zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg an militärischen Handlungen außerhalb des NATO-Gebietes. Dieser Beschluss der EU ist gegenwärtig völkerrechtlich im Hinblick auf die Charta der Vereinten Nationen umstritten, zeugt aber vom starken Willen der Europäer, den Schutz der Menschenrechte als Ausdruck europäischer Identität zu erachten. b) Außere Identität Die politische Zusammenarbeit begann im Oktober 1970, als sie auf dem EGAußenministerrat auf der Grundlage des sogenannten Davignon-Berichts beschlossen wurde. Das Jahr 1973, als Großbritannien, Irland und Dänemark der EG beitraten und die erweiterte EG die europäische Einheitlichkeit und die politische Zusammenarbeit verstärkte, ist ein wichtiger Meilenstein. Das war auch die Zeit, als die Ostpolitik des Bundeskanzlers Brand Erfolge zeigte (zum Beispiel: Viermächteabkommen über West-Berlin, Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten, Vertrag zwischen der Sowjetunion und der BRD etc.). Der damalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten H. Kissinger hat am 23. April 1973 vorgeschlagen, eine neue transatlantische Charta zu erarbeiten und dieses Jahr zum „Europäischen Jahr" zu erklären, um angesichts der neuen Situation die Last der Europäer für die Verteidigung zu erhöhen und ein neues gemeinsames Ziel für die USA und Europa zu definieren. Er hatte weiterhin vorgeschlagen, in vielen Bereichen auch Japan daran zu beteiligen. Die EG, insbesondere Frankreich, sprachen sich vehemend gegen diesen Vorschlag aus, denn er zielte auf die Verstärkung der transatlantischen Beziehungen. Sie hatten die Befürchtung, dass dieser Vorschlag die sich gerade herausbildende Eigenständigkeit und die Einheitlichkeit Europas in der jetzigen Situation, wo Europa immer noch sicherheitspolitisch auf die gewaltige Kraft der USA angewiesen war, schwächen könnte. Japan war bereit, eine Dreiererklärung der USA, Europas und Japans zu unterstützen, weil diese zur Verstärkung der Beziehungen zwischen Europa und Japan führte, die die schwächste der drei war. Die EG schlug aber inoffiziell Japan eine gemeinsame Erklärung zwischen ihr und Japan vor. Damals beschäftigte ich mich im japanischen Außenministerium gerade mit den Beziehungen zu Europa und hatte den Eindruck bekommen, dass Europa seine Eigenständigkeit und Einheitlichkeit herausstellen wollte, indem es offen
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mit den USA konkurrierte. Wir hatten auch gleich verstanden, dass die EG Japan benutzen wollte, um ihre Eigenständigkeit und Identität zu stärken. Am Ende kam eine von Kissinger vorgeschlagene Dreiererklärung nicht zustande. Es gab aber auch andere Gründe dafür. Zum Beispiel war der damalige USPräsident Nixon in die Watergate-Affare verwickelt, in Frankreich war der damalige Staatspräsident Pompidou schwer erkrankt und Großbritannien und Deutschland hatten innenpolitische Schwierigkeiten. Das alles führte dazu, dass die transatlantische Koordination nicht reibungslos vonstatten gehen konnte. Was die politische Zusammenarbeit der EG anbelangt, ist auf dem EG-Außenministerrat am 6. November 1973 eine Erklärung bezüglich des dritten Nahostkrieges im Oktober und des Ölembargos durch die arabischen Staaten zum Nahen Osten verabschiedet worden. Das war das erste Mal, dass die EG in einer international wichtigen Angelegenheit mit einer Stimme gesprochen hatte. Die europäische Identität nach außen zu vertreten heißt, die weltpolitische Macht Europas zu stärken, also die Wiedererstarkung Europas zu ermöglichen. Gleichzeitig bedeutet dies eine Herausforderung für die Globalmacht USA. Deshalb kommt es manchmal dazu, dass eine Koordination zwischen Europa, den USA und Japan in einer Situation, wo alle demokratischen Staaten zusammen halten sollten, schwierig wird.
3. Ein bürgernahes Europa und das Prinzip der Subsidiarität Das Beeindruckendste für uns Ausländer ist, dass die Grenzen innerhalb der EU tatsächlich verschwunden sind. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre habe ich in Bonn und Düsseldorf gelebt. Damals habe ich sehr oft Paris, Brüssel und Den Haag besucht. Die Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich, Belgien und den Niederlanden waren praktisch verschwunden und die Menschen konnten sich frei bewegen. Als ich in der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, lebte, hat mich sehr beeindruckt, dass dieses Land einen sehr regen Verkehr mit den Menschen und Regionen Belgiens und der Niederlande hatte. Von 1998 bis 1999 lebte ich in Berlin. Auch hier habe ich enge Beziehungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Bayern sowie den Staaten Polen und der Tschechischen Republik erfahren. Eines Tages hat mir mein Freund, Ministerpräsident Clement von Nordrhein-Westfalen, in Berlin erzählt, dass den Bürgern von Nordrhein-Westfalen die Belgier und Niederländer viel näherstünden als die Menschen in Berlin oder Brandenburg. Viele Bundesländer, unter ihnen Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen, sind besorgt, dass die fortschreitende Europäische Integration eine zu starke Konzentration der Macht auf Brüssel sowie eine neue Bürokratisierung der EU mit sich bringen könnte. Deshalb betonen sie neben der Notwendigkeit der Verstärkung des Europäischen Parlaments das Prinzip der Subsidiarität als Grundsatz für den Aufbau eines bürgernahen Europas. Dieser Begriff der Subsidiarität ist für uns Japaner, die wir keine kirchliche Tradition 22 FS Oppermann
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haben, schwer zu verstehen. Als ich aber die Verstärkung und die Kooperation der Regionen selbst erlebte, konnte ich die Bedeutung dieses Wortes verstehen. Ich bin überzeugt, dass sich die EU auch weiterhin nach Mittel-, Ost- und Südeuropa erweitern wird. Das wird besonders für die Vertiefung der Integration viele schwierige Probleme mit sich bringen. Aber dass im Zuge der Erweiterung vielfältige Regionen außerhalb Westeuropas ihre eigene Politik, Wirtschaft und Kultur einbringen und ein Europa mit vielfältiger Kultur entsteht, wird für uns Japaner bedeuten, dass Europa noch mehr an Attraktivität gewinnt. Es ist in Bezug auf die Realisierung eines bürgernahen Europas bemerkenwert, dass das Europäische Parlament keine besonders ausgeprägte Rolle spielt. Es hat zwar die Kompetenz dazugewonnen, den Präsidenten der Europäischen Kommission zu bestätigen, aber es hat für mich den Anschein, dass das fehlende Interesse der Bürger an der Verstärkung der Kompetenz des Europäischen Parlaments ein Problem werden könnte.
I I I . Die EU und Japan 1. Wie bereits erwähnt, geht die Europäische Integration in die Richtung, der EU die Souveränität der Nationalstaaten allmählich zu übertragen. Im Mittelpunkt der Europäischen Integration steht die EU. Sie strebt nach Vertiefung und Erweiterung, was aber nicht bedeutet, dass diese immer parallel verlaufen. Die Antriebskraft der Integration liegt in ihrer Identität, Werte wie die historischen Gemeinsamkeiten Europas, die grundlegenden Menschenrechte, die politische Freiheit, die parlamentarische Demokratie, die freie Marktwirtschaft usw. zu teilen. 2. Die Situation in Asien unterscheidet sich sehr von der Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Mehrzahl der Länder Asiens ihre Entwicklung als gerade von der Kolonialherrschaft verschiedener europäischer Staaten befreite Länder. In den sechziger Jahren erreichte Asien endlich seine heutige Form. Doch abgesehen davon, dass die Staaten geografisch in Asien liegen und sich viele Menschen in Asien als Asiaten fühlen, haben sie, ganz im Gegenteil zu Europa, nicht viel gemeinsam. Sie besitzen eine unterschiedliche Geschichte, Kultur und Wertvorstellung. Seit den siebziger Jahren, nach Ende des Vietnamkrieges, haben viele asiatische Länder Stabilität dadurch erreicht, dass sie das Wirtschaftswachstum zum obersten Ziel erklärten und ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärkten. Das hatte die Herausbildung einer gewissen Abhängigkeit zur Folge. So entstanden regionale Organisationen wie die ASEAN und die APEC. Aber diese Organisationen befinden sich erst auf dem Niveau, einen Freihandelsraum anzustreben, und sind nicht mit der Europäischen Integration vergleichbar. Länder wie China oder Vietnam fördern zwar die Einführung der Marktwirtschaft, aber es ändert sich nichts daran, dass sie Einparteiendiktaturen sind. Niemand zweifelt daran, dass China ein wichtiger Faktor für die Stabilität
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im Asien des 21. Jahrhunderts ist. Aber es lässt sich nur schwer vorstellen, dass China in naher Zukunft ein Staat mit parlamentarischer Demokratie würde, in dem die grundlegenden Menschenrechte gewahrt werden. Demzufolge fehlt in Asien eine wichtige Grundlage, um eine regionale Integration anzustreben. Vorsichtig ausdrückt, würde eine regionale Integration Asiens nicht gerade einfach sein. In so einer Situation ist das ARF (ASEAN Regional Forum), an dem auch die USA und Europa teilnehmen, ein konstruktiver „Platz der Zusammenarbeit", an dem Sicherheitsfragen gemeinsam besprochen werden. Und neuerdings ist auch das ASEM (Asian-European Meeting) ein wichtiges Forum, die Zusammenarbeit zwischen Asien und Europa voranzutreiben. 3. Mit der Aussicht, dass eine regionale Integration in Asien schwierig sein wird, glaube ich, gibt es fur Japan zukünftig wohl folgende Alternativen: a) Für die Sicherheit und Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist es wichtig, dass Japan die ASEAN unterstützt, mit den APEC-Staaten kooperiert und sich weiterhin fur die Stabilität und Entwicklung verschiedener Länder Asiens, insbesondere für die Erhaltung des Friedens auf der Koreanischen Halbinsel, einsetzt. b) Um die komplizierte Kraftbalance im asiatisch-pazifischen Raum zu wahren, ist die Erhaltung und Pflege des japanisch-amerikanischen Bündnisses, das auf dem Sicherheitspakt zwischen Japan und den USA basiert, ein wichtiger Grundstein fur die Stabilität und den Frieden in diesem Raum. c) Japan leistet einen Beitrag für die Stabilität und den Frieden der Welt, indem es mit Nordamerika, der EU und anderen Staaten oder Regionen zusammenarbeitet, die die Werte parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft mit ihm gemein haben. d) Für eine freundschaftliche und friedliche Entwicklung in Asien ist es wichtig, dass Japan seine eigene Vergangenheit richtig aufarbeitet. e) Beim Management der Weltwirtschaft versucht Japan auf einem multilateralen Forum wie der WTO ein noch freieres und offeneres Wirtschaftssystem aufzubauen. Japan arbeitet mit regionalen Zusammenschlüssen zusammen und fordert, dass diese nach außen hin offen bleiben. f) Japan forciert eine weitere Öffnung des japanischen Marktes und die Stabilisierung und Entwicklung der japanischen Wirtschaft. Heute steht die Welt im Zeichen der Globalisierung. Mit der Globalisierung häufen sich Probleme wie Umweltverschmutzung, regionale Konflikte, Flüchtlingswellen, die Verbreitung von Nuklearwaffen, organisiertes Verbrechen und Drogenmißbrauch, bei deren Lösung viele Länder zusammenarbeiten müssen. Mit der wachsenden Globalisierung verschwinden auch nach und nach die Ländergrenzen und durch den ungehinderten Kapital- und Informationsfluss wird 22'
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der Unterschied zwischen wirtschaftlichen Gewinnern und Verlierern immer deutlicher. In einer solchen Zeit ist es notwendig, dass Japan mit den Ländern und Regionen eng zusammenarbeitet, die dazu fähig sind und die mit ihm die Werte parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft teilen. Daher ist die EU, die sich durch die Erweiterung und Vertiefung zu einer Gemeinschaft entwickelt, die große Leistungen vollbringt und auch außenpolitisch vereint handelt bzw. dieses anstrebt, für Japan ein immer wichtigerer Partner geworden und wird wohl in Zukunft ein noch engerer Partner werden. Im Zuge der Globalisierung verstärken sich zwar durch den Zusammenschluss und die Kooperation ihrer Unternehmen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Japan und Europa, gleichzeitig werden aber die Schattenseiten der Globalisierung immer deutlicher, nämlich die Reformen des sozialen Sicherheitsnetzes, zum Beispiel im Bereich der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung, die durch die Arbeitslosigkeit, die soziale Sicherheit und die Überalterung der Gesellschaft notwendig werden. In diesen Bereichen haben Japan und die EU im Gegensatz zu den USA relativ ähnliche Systeme und Vorstellungen. Außerdem sehe ich politisch einen großen Sinn in der Zusammenarbeit zwischen Japan und der EU, damit die Außenpolitik der USA, die als einzige Supermacht nach dem Ende des Kalten Krieges Übriggeblieben ist, nicht einseitig und unausgewogen wird. 4. Die Geschichte der europäisch-japanischen Beziehungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in den fünfziger und sechziger Jahren von der Forderung nach Abschaffung der diskriminatorischen Handelsmaßnahmen gegenüber Japan überschattet. Durch den Beitritt Japans zur OECD im Jahre 1964 wurde Japan als ein industrialisiertes Land anerkannt. Europa und Japan begannen sich anzunähern. Aber noch bis in die siebziger Jahre waren keine klaren Linien in der Japanpolitik der EU zu erkennen. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde Japan zu einer durch die Hightech-Industrien gestützten wirtschaftlichen Großmacht und der japanische Markt dadurch sehr interessant für Europa. Und zum Beispiel dadurch, dass Japan in Europa investierte, was zur Ausweitung der Beschäftigung führte, begann eine gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit. Symbolhaft war die Aufnahme Japans in die Gruppe der sieben führenden Industriestaaten (G7). Bis in die achziger Jahre verbesserte sich die Zusammenarbeit im Bereich der Weltwirtschaft, zum Beispiel bei der Leitung des GATT und der OECD, des IWF und der Weltbank, stetig. Auch in politischen Bereichen, wie zum Beispiel bei der Sicherheit und der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, und auch in den Bereichen Energie, Technologie und Umweltschutz wurde die Zusammenarbeit ausgebaut. Das japanisch-europäische Verhältnis wurde mehr und mehr gefestigt. Das zeigt die Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung der Europäischen Gemeinschaft und Japan im Juli 1991 in Den Haag. Auf Grundlage dieser gemeinsamen Erklärung finden jedes Jahr ein EU-Japan-Gipfel, Außenministertreffen zwischen der EU-Troika und Japan
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und Konsultationen auf Ministerebene statt, und es werden Gespräche über die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf hohem Niveau geführt. Zum Beispiel kooperierte Japan als ein G8-Mitglied mit der EU, um die serbischen Truppen aus dem Kosovo zu vertreiben und den Luftangriff der NATO auf Rest-Jugoslawien zu beenden. Japan setzt sich auch als ein Land, das den 1999 von der EU erarbeiteten Stabilitätspakt für Südosteuropa unterstützt, für die Demokratisierung, die Achtung der Menschenrechte und die Wahrung der Sicherheit in dieser instabilen Region Europas ein. Als ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung sind die gemeinsamen Bemühungen Japans und der EU im Rahmen der G7 zu nennen, die Sicherheit der osteuropäischen Atomkraftwerke (die Unterstützung der Stilllegung des Atomkraftwerks in Tschernobyl eingeschlossen) zu erhöhen und den illegalen Transfer von radioaktivem Material zu verhindern. Ich bin über die derzeitige Zusammenarbeit zwischen Japan und der für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wichtigen OSZE sehr erfreut, da ich an den Verhandlungen zum Beobachterstatus Japans in der OSZE persönlich teilgenommen hatte. Aber auch umgekehrt engagiert sich die EU in Asien. So beteiligt sie sich durch finanzielle Unterstützung an der Gründung der KEDO (Korean Peninsula Energy Development Organisation), deren Ziel die Verhinderung der Entwicklung von Kernwaffen in Nordkorea und der Erhalt des Friedens und der Stabilität in Nordostasien ist. Auch für die Stabilisierung in Osttimor engagiert sich die EU. Im Juni 1999 wurde vom Europäischen Rat in Köln festgehalten: „Japan ist in Asien ein besonders wichtiger Partner." Aber es gibt nicht nur eine enge Zusammenarbeit der Regierungen, sondern auch eine auf wirtschaftlichem Gebiet. Auf europäischer Seite erschienen verschiedene an die Wirtschaft gerichtete Interessenbekundungen für Japan. Als Beispiele sind „Gateway to Japan" der EU, die Asieninitiative des Ostasienausschusses von BDI und DIHT in Deutschland, „Opportunity Japan" in Großbritannien, „Le Japon, c'est possible" in Frankreich zu nennen. Von japanischer Seite aus wurden in den neunziger Jahren in Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland („Japanwochen in Düsseldorf 4 1993, „Japan in Deutschland" 1999-2000) verschiedene Projekte durchgeführt, um die japanische Kultur dort vorzustellen, und ich finde es sehr erfreulich, dass sich das gegenseitige kulturelle Verständnis auf der Bürgerebene zwischen Japan und der EU vertieft. *
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Die erste Begegnung mit Europa hatte ich während meiner Gymnasialzeit. Damals las ich Goethes Werk „Hermann und Dorothea". Später interessierte ich mich neben meinem Studium des Rechts und Staatsrechts immer mehr für deutsche Literatur und europäische Geschichte und Kunst. Mein Europarechts-
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Studium an der Universität Tübingen steigerte mein Interesse für die Geschichte Europas und die der Europäischen Integration. Meine Tätigkeit als Diplomat hat mich oft nach Mitteleuropa gefuhrt, und ich bekam so die Gelegenheit, auf den Spuren des 30-jährigen Krieges von Prag bis nach Münster zu wandern. Der Gedanke, dass das Subjekt der internationalen Gesellschaft ein Staat ist, der das höchste und dazu absolute und ausschließliche Recht der Souveränität gewährleistet, wurde im Westfälischen Frieden aufgestellt. Heute, 350 Jahre danach, machen die Staaten der EU die ersten Schritte zu einem Experiment, einen beträchtlichen Teil ihrer Souveränität einer supranationalen Organisation, der EU, zu übertragen. Dieser Prozess wird für unumkehrbar gehalten. Die Europäer haben das hohe Ideal der Schaffung eines friedlichen und fortschrittlichen Europas verkündet und diesen 40 Jahre währenden Prozess der Europäischen Integration zuverlässig verfolgt. Das zukünftige Europa, das ich mir vorstelle, ist ein Raum, der aus der EU, souveränen Staaten und Regionen besteht, mit vielfältigen Kulturen. Japan wird wohl auf den jeweils entsprechenden Ebenen die Beziehungen zu Europa ausbauen. Die rasche Entwicklung der Europäischen Integration übt einen großen Einfluss auf regionale Zusammenschlüsse wie die NAFTA oder den Mercosur aus und gibt ihnen Mut für eine mögliche Integration. Ich arbeite zur Zeit in Uruguay und beobachte interessiert die regionale Integration der Mercosur-Staaten. Auch in Zukunft möchte ich den Prozess der Europäischen Integration und dessen Bedeutung für die internationale Politik und Wirtschaft mit großem Interesse verfolgen.
IV. Konstitutionalisierung der Weltwirtschaft
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und die Frage der internationalen Kartelle Von Knut Wolfgang Nörr und Dieter Waibel
I. Zum politischen und wirtschaftlichen Kontext - das Versailler System Der Erste Weltkrieg und die ihm folgenden Friedensverträge hatten ein neues politisches, aber auch ökonomisches Europa geschaffen 1. Für die Mittelmächte brachte der Kriegsausbruch empfindliche Einschränkungen in der Teilnahme am Welthandel. Andererseits entfielen sie als Märkte der Entente, so dass die vormals bestehenden intensiven Handelsbeziehungen zwischen den nun entzweiten Industriestaaten mehr oder weniger zusammenbrachen. Im Gegenzug führten auf nationaler Ebene die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft zu industriellen Konzentrationsprozessen, die unter anderem die Kartellbildung in hohem Maße förderte. Nutznießer des Krieges, wenn man so will, waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Die amerikanischen Kriegsanstrengungen zogen eine Reihe von Modernisierungen und Produktionssteigerungen nach sich, von denen nach Kriegsende die amerikanische Wirtschaft profitieren konnte. Nach wie vor waren die Vereinigten Staaten im Hinblick auf ihren großen Binnenmarkt zudem weitgehend autark. Dagegen bot sich in Europa ein Bild der politischen und wirtschaftlichen Zerrüttung. Verantwortlich war, neben den unmittelbaren Kriegsschäden, vor allem das Versailler System. Territoriale Veränderungen hatten nicht nur eine Verlängerung der Zollgrenzen zur Folge, sondern führten zur Abtrennung ganzer Industrien und zur Kappung gewachsener Handels- und Kapitalverflechtungen. Neben umfangreichen Reparationszahlungen gewährten die Versailler Verträge den alliierten Siegerstaaten ein fünijähriges Meistbegünstigungsrecht gegenüber Deutschland und Österreich, das insbesondere für Frankreich und England erhebliche Startvorteile in den ehemals von Deutschland und Österreich beherrschten Interessenssphären bot2. 1 Ausführliche Literaturhinweise zur Zwischenkriegszeit bei E. Kolb, Die Weimarer Republik, 1998, S. 240 ff. Zu den wirtschaftlichen Veränderungen allgemein B. Harms, Strukturwandlungen der Weltwirtschaft, in: ders., Vom Wirtschaftskrieg zur Weltwirtschaftskonferenz (5. Vortrag), 1927, S. 245-315. 2
Hierzu Λ. Teichova, Internationale Großunternehmen. Kartelle und das Versailler Staatensystem in Mitteleuropa, 1988.
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Bekanntlich war das Versailler Vertragswerk von Anfang an Zielscheibe heftiger wirtschaftspolitischer Kritik 3 . Nicht allein Deutschland sah in ihm den größten Stolperstein, der einer Gesundung der europäischen Wirtschaft im Wege lag. Verhindert werde sie durch das Entschädigungs- und Repressionskonzept; diesem lag vor allem die von Frankreich mit Nachdruck vertretene These zugrunde, dass sich Europa auch ohne die integrative Kraft der deutschen Wirtschaft erholen werde. Gegen Mitte der 20er Jahre glaubte Deutschland für seine Bemühungen um eine Revision der Verträge in Großbritannien und den USA Verbündete gefunden zu haben4. Während die Vereinigten Staaten nach Etablierung des Versailler Systems beim europäischen Wiederaufbau vor allem als Kapitalgeber hervortraten und daher Interesse an solventen europäischen Schuldnern hatten5, sorgte sich Großbritannien in erster Linie um die Wiederaufnahme der abgebrochenen Handelsbeziehungen. Nach Ende des Weltkrieges war sich Großbritannien des Verlustes seines militärischen und politischen Führungsanspruchs in der Welt bewusst geworden; um nicht in den Status einer zweit- oder gar drittrangigen Macht zu verfallen, konzentrierte sich die britische Politik auf die Verteidigung der traditionellen Ausnahmestellung des Landes innerhalb des Welthandels. Ohne ein im Orchester der Großen mitspielendes Deutschland schien das Vorhaben jedoch aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt. Für die Wiederbelebung der internationalen Handelsbeziehungen konnte auf die vor dem Krieg in vielen Bereichen weltmarktführende deutsche Industrie nicht verzichtet werden. Unverzichtbar war auch der deutsche Markt für den Absatz britischer Güter. Als katastrophal wurde zudem das mögliche Szenario einer erneuten kriegerischen Auseinandersetzung in Europa eingeschätzt. Ein zweites Mal würde der Welthandel zusammenbrechen, ein zweites Mal die Großmachtstellung Großbritanniens ins Wanken geraten6. Das Gespenst eines neuen militärischen Konflikts schien jedoch solange nicht verscheucht, als Deutschland durch die Versailler Friedensordnung politisch und wirtschaftlich in die Isolation getrieben blieb und es sich gedemütigt fühlen musste. Ziel der britischen „Appeasement-Politik", der
3
Hierzu G. Niedhart, Multipolares Gleichgewicht und weltwirtschaftliche Verflechtung: Deutschland in der britischen Appeasement-Politik, in: M. Stürmer (Hrsg.), Die Weimarer Republik, 1980, S. 116 ff. Der britische Nationalökonom John Maynard Keynes beschrieb die zu erwartenden negativen Auswirkungen der Versailler Bestimmungen auf die betroffenen Volkswirtschaften bereits 1919 äußert drastisch in „The Economic Consequences of the Peace", London 1919, deutsche Übersetzung 1920. 4
Siehe W. Link, Die Beziehungen zwischen Weimar und den USA, in: Die Weimarer Republik (Fn. 3), S. 62-92. 5 Hierzu C.-L. Holtfrerich, Amerikanischer Kapitalexport und Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft 1919-1923 im Vergleich zu 1924-1929; in: Die Weimarer Republik (Fn. 3), S. 131 ff. 6
Siehe
Niedhart
(Fn. 3), S. 115 ff.
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927
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eine starke ökonomische Komponente innewohnte, musste es somit sein, in Europa das Orchester gleichberechtigter Staaten wieder anzustimmen. In diesem Kontext kollidierte die englische mit der französischen Deutschlandpolitik, die von Sicherheitsinteressen dominiert war. Großbritanniens wirtschaftsliberaler und auf Mäßigung zielender Ansatz wurde von der deutschen Seite oft als Sinneswandel der englischen Politik, ja sogar einseitige prodeutsche Parteinahme interpretiert. Doch die Hoffnungen erfüllten sich nicht, die an Großbritanniens dezente Verurteilung der französischen Obstruktionspolitik geknüpft wurden und die man für die eigene Revisionspolitik nutzen zu können glaubte7. Immerhin machten die wirtschaftlichen Krisen zu Beginn der 20er Jahre deutlich, dass an eine Gesundung der Weltwirtschaft ohne die Wiederherstellung der deutschen Produktion und Kaufkraft kaum zu denken war. Dieser Tatsache musste sich angesichts seiner Finanzschwäche letztlich auch Frankreich beugen, wollte es nicht Gefahr laufen, von amerikanischen und britischen Krediten abgeschnitten zu werden 8.
II. Der Völkerbund und das System der internationalen Konferenzen In der Erkenntnis des Ineinandergreifens der nationalen Volkswirtschaften und der gegenseitigen Bedingtheit des nationalen Wohlstandes lag einer der Gründe für das sich seit 1919 entwickelnde System internationaler Konferenzen, mit dessen Hilfe die europäischen Staaten zunehmend versuchten, ihre politischstrategischen und ökonomischen Probleme auf bilateraler oder internationaler Ebene zu lösen9. Das neue Konferenzensystem war mit der Institutionalisierung internationaler Zusammenarbeit im Rahmen der Völkerbundakte bereits im Versailler Vertrag angelegt10. Die Reihe wurde durch die Arbeitskonferenz von Washington (1919) eröffnet; in kurzen Zeitabschnitten folgten die Brüsseler Finanzkonferenz (1920), die Verkehrskonferenz von Barcelona (1921), die Konferenzen von Portorose (1921), Cannes (1922) und Genua (1923), die allesamt aktuellen Fragen der Weltwirtschaft gewidmet waren. Das Konferenzwesen wurde dann vor allem durch die Behandlung des Themas der Reparationen weiterentwickelt, das nicht nur in Deutschland als Kardinalproblem der Zwi-
7
Zum Ganzen Niedhart (Fn. 3).
x
Niedhart (Fn. 3), S. 120; s.a. S.A. Schuker, Frankreich und die Weimarer Republik, in: Die Weimarer Republik (Fn. 3), S. 102, und C.A. Wurm, Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924- 1926, 1979, S. 194 f. y
Zum Konferenzwesen allgemein L. Sommer, Die Vorgeschichte der Weltwirtschaftskonferenz (Genf 1927), Weltwirtschaftliches Archiv 28 (1928 II), 344- 362. 10
Versailler Vertrag, I. Teil.
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schenkriegszeit galt, weil es die finanz- und wirtschaftspolitische Lage der europäischen Länder aufs Engste miteinander verknüpfte". Auf den Konferenzen von Cannes und Genua, die von der Weltöffentlichkeit mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurden, war man der Reparationsfrage auf Druck Frankreichs noch ausgewichen12. Aber in der Folgezeit machten mehrere Reparationskonferenzen die Komplexität des internationalen Wirtschafts- und Finanzgefüges deutlich und trugen zu einem schrittweisen Abrücken von der repressiven Haltung gegenüber Deutschland bei. Am Ende dieser Entwicklung zog der Dawes-Plan von 1924 einen Strich unter die bisherigen unflexiblen Positionen in der Reparationsfrage. Ein neues Kapitel der internationalen Finanzpolitik wurde aufgeschlagen, in welchem die Vereinigten Staaten die Hauptrolle spielen sollten. Diese Zäsur kam auch den Tendenzen zugute, einen gleichberechtigt-vertrauensvollen Umgang miteinander zu pflegen; sie trug damit zur Entwicklung jener „weltwirtschaftlichen Atmosphäre" bei, die von den Teilnehmern und Beobachtern der Genfer Weltwirtschaftskonferenz wenige Jahre später unisono beschworen werden sollte. Neben der Einsicht, dass ohne ein politisch und wirtschaftlich gesundes Deutschland der nachhaltige Aufschwung der Weltwirtschaft nicht gelingen könne, rückten die negativen Folgen einer Abschottung der nationalen Märkte und einer weltweit betriebenen Schutzzollpolitik ins allgemeine Bewusstsein. Der Völkerbund begann, sich mit den Problemen dirigistischer Handelspolitik und Handelspraxis auseinanderzusetzen. Auch wenn die Genfer Konferenz zur Vereinfachung der Zollformalitäten 1925 noch auf formale Fragestellungen beschränkt blieb, wurde sie als Auftakt zu dem neuen Engagement des Völkerbundes um die Öffnung der nationalen Märkte verstanden 13. Die Dinge gerieten in Bewegung und der Plan wurde Realität, auf der einzuberufenden Weltwirtschaftskonferenz die Frage eines möglichst unreglementierten Warenflusses zum zentralen Thema zu erheben. Hatte der Dawes-Plan den Grundstein zur wirtschaftspolitischen Annäherung in Europa gelegt, so folgte ein Jahr später mit der Konferenz von Locamo der außenpolitische Durchbruch. In einem umfassenden Garantie- und Sicherungs11 Die Literatur zu diesem Komplex ist mittlerweile uferlos. In unserem Zusammenhang sei speziell auf R Krüger, Deutschland, die Reparationen und das internationale System in den zwanziger Jahren (in: G. Schmidt [Hrsg.], Konstellationen internationaler Politik 1924-1932, 1983, S. 131-139) hingewiesen. 12 Harms, Die Weltwirtschaftskonferenz, in: ders., Vom Wirtschaftskrieg zur Weltwirtschaftskonferenz (6. Vortrag), 1927, S. 323 ff. Der Vortrag ist auch wiedergegeben im Weltwirtschaftlichen Archiv 25 (1927 I), S. 211-244. Ausführlich zur Konferenz von Genua Sommer (Fn. 9), S. 368-376. 13 Zur Genfer Konferenz von 1925 und den weiteren Anstrengungen des Völkerbundes zum Abbau von Ein- und Ausfuhrbeschränkungen Sommer (Fn. 9), S. 376-384, und E. Hantos, Die Weltwirtschaftskonferenz, Probleme und Ergebnisse, S. 70 ff.
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927
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pakt wurden den Interessen der beteiligten Mächte und hier vor allem Frankreichs und Deutschlands Rechnung getragen14. In einer neuen Atmosphäre internationaler Verständigung blieb zum Beitritt Deutschlands in den Völkerbund 1926 nur noch ein kleiner Schritt. Am Vorabend der Genfer Weltwirtschaftskonferenz waren die nach Ende des Krieges festgezurrten Positionen von Siegern und Besiegten einem offenen Gedankenaustausch der Nationen auf einer weitgehend souveränen und gleichberechtigten Basis gewichen. Dieser „Geist von Locarno", der nicht zuletzt den unlöslichen Zusammenhang aller politischen und wirtschaftlichen Aspekte bewusst werden ließ, hat dann auch der Weltwirtschaftskonferenz von 1927, wie einmal gesagt worden ist, die ideelle Unterlage geboten15. I I I . Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz Im Laufe der 20er Jahre hatten sich die Stimmen vermehrt, die zur Lösung der weltwirtschaftlichen Fragen die Einberufung einer internationalen Konferenz forderten 16. Der formelle Antrag auf Einberufung der Weltwirtschaftskonferenz und Einsetzung eines vorbereitenden Ausschusses wurde auf der Völkerbundsversammlung vom 10. September 1925 eingebracht, und zwar von französischer Seite, vertreten durch Louis A. Loucheur 17. Begründet wurde der Antrag mit der Notwendigkeit einer konzertierten Aktion gegen den „ökonomischen Nationalismus", von dem eine akute Gefahr für den Weltfrieden ausginge18. Der Antrag wurde von der Vollversammlung des Völkerbunds dem Grunde nach angenommen. Loucheur darf daher mit Recht als der unmittelbare Initiator der Konferenz bezeichnen werden 19. Der vorbereitende Ausschuss, dem 35 Sachverständige aus 21 Ländern angehörten 20 , konnte seine Arbeit im April 1926 aufnehmen. Bis Ende 1926 hatte er das Tagungsprogramm der Konferenz ausgearbeitet und gleichzeitig einen umfassen14
Kolh (Fn. 1), S. 66 f.
15
Sommer (Fn. 9), S. 386.
16
Siehe K. Pribram , Weltwirtschaftskonfcrenz, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. 1927, S. 935 ff.; Harms (Fn. 12), S. 327 ff. 17
Loucheur bekleidete im Laufe seiner Karriere mehrere Ministerämter. Er galt als enger Vertrauter Aristide Briands und als Fürsprecher einer europäischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet. Siehe H. John, in: D. Bell (Hrsg.), Biographical Dictionary of French Political Leaders sincc 1870, 1990, S. 253 f. ,x
Pribram (Fn. 16), S. 937.
Zum fruchtlosen Streit über die „wahre" Urheberschaft der Konferenz Harms (Fn. 12), S. 327 ff. 20
Es handelte sich nicht um Regicrungsvertreter, sondern ausschließlich um verdienstvolle Repräsentanten der unterschiedlichsten Bereiche aus Wirtschaft und Gesellschaft der beteiligten Länder.
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den Informationsapparat erstellt, der den weiteren Verhandlungen als Grundlage dienen sollte. Deutschland schickte vier Vertreter: den Reichstagsabgeordneten und Vertreter des Reichsverbands der deutschen Industrie, Clemens Lammers, den Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Ernst Trendelenburg, das Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Wilhelm Eggert, sowie den ehemaligen Reichsminister Andreas Hermes; sie alle sollten später auf der Weltwirtschaftskonferenz eine wichtige Rolle spielen21. IV. Themenschwerpunkte der Konferenz Das Tagungsprogramm der Konferenz bestand aus zwei Teilen: Einer allgemein gehaltenen Analyse der gegenwärtigen Weltwirtschaftslage, die als Diskussionsgrundlage gedacht war, sollte eine spezifische Untersuchung der aktuellen Probleme aus den Bereichen Handel, Industrie und Landwirtschaft folgen 22 . Der allgemeine Teil der Tagesordnung erlaubt einen Blick auf die übergeordneten Motive der Konferenz. Den beteiligten Staaten sollte die Möglichkeit gegeben werden, aus ihrer Sicht zu den brisanten Fragen der Weltwirtschaft Stellung zu nehmen. Hiervon erhoffte man sich eine „Prüfung der wirtschaftlichen Ursachen der gegenwärtigen Zerrüttung auf dem Gebiete von Handel und Industrie" und eine Darstellung der „wirtschaftlichen Tendenzen, die den Weltfrieden beeinflussen können". Trotz des umfassenden Anspruchs der Konferenz verzichtete man auf die Behandlung einiger zentraler Problemfelder, die das internationale Konferenzwesen bis dahin bestimmt hatten. So sollten alle finanz- und währungsspezifischen Fragestellungen, mit denen sich bereits die Konferenzen von Brüssel und Genua ausführlich beschäftigt hatten, in Genf nicht erörtert werden 23. Dasselbe galt für die aktuellen Fragen der Arbeitsverhältnisse sowie des sich seit Ende des Krieges negativ bemerkbar machenden Bevölkerungsproblems innerhalb Europas 24. 21 An der Konferenz selbst nahmen ungefähr 200 Teilnehmer aus 50 Ländern teil. Dieselbe Anzahl entfiel auf die Gruppe von Sachverständigen, die unterstützend tätig wurden. Auch aus den Vereinigten Staaten reisten Delegierte an, obwohl man nicht zu den Mitgliedern des Völkerbundes gehörte. Allen Seiten war jedoch bewusst, dass ohne die Teilnahme der bedeutendsten Industrienation die Konferenz erfolglos bleiben musste. 22
Eine erste Agenda wurde wegen ihres Umfanges heftig kritisiert und daraufhin wesentlich gekürzt. Vollständiger Wortlaut der Tagesordnung in: Rapports et actes de la Conférence Economique Internationale, Bd. I, Genève 1927, S. 9; s.a. Respondek , Verlauf und Ergebnis der internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes zu Genf (vom 4. bis 23. Mai 1927), 1927, X I I I - X V . 23 Die mittlerweile eingetretene relative Währungsstabilität hatte die Währungsfrage der frühen 20er Jahre bis zum Beginn der Konferenz wesentlich entschärft. 24
Hierzu K.J. Bade, Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer
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Neben einer Überfrachtung des Konferenzprogramms sprach gegen die Einbeziehung detaillierter Finanzprobleme einschließlich der Frage der Reparationen und der internationalen Schuldenregulierung die Gefahr einer Politisierung der Konferenz 25. In diesem Punkt gingen die Interessen der teilnehmenden Staaten natürlich weit auseinander. Für Deutschland schien die Erörterung der weltwirtschaftlichen Lage ohne die Behandlung der Reparationsfrage geradezu illusorisch; hier ist daran zu erinnern, dass die Reparationen ein vorrangiges Thema deutscher Innenpolitik während der Weimarer Republik darstellten 26. Mit seiner Forderung nach einer Überarbeitung des Dawes-Planes vermochte sich Deutschland im Vorfeld der Konferenz jedoch kein Gehör zu verschaffen 27. Die Befürchtungen, die Aufnahme des neuralgischen Reparationsthemas würden Charakter und Intention der Konferenz verändern, waren nicht unbegründet. So war die Konferenz von Beginn an nicht auf die Lösung konkreter Probleme hin konzipiert. Sie sollte vielmehr dem internationalen Disput dienen und die nationalen Regierungen von der Notwendigkeit einer veränderten Wirtschaftspolitik überzeugen. Unmittelbare Bindungswirkung war den Beschlüssen der Konferenz dagegen niemals zugedacht. In diesem Sinne präsentierte sich die Konferenz als Vehikel zur evolutionären Weiterentwicklung jener „weltwirtschaftlichen Atmosphäre", in welcher die neuentdeckte „internationale Interessensolidarität" der Weltwirtschaft gedeihen sollte. Jahrelang ausgetragenen politischen Streitfragen, die keine Hoffnung auf eine Einigung boten, sollte die Konferenz kein Forum bieten, vor allem wollte sie keine Diskussion über eine Revision des Versailler Vertrages vom Zaun brechen 28. Bereits die TagesordRepublik, in: Die Weimarer Republik (Fn. 3), S. 160-187. Die Behandlung des zweiten Punktes sollte der im September 1927 ebenfalls in Genf abgehaltenen internationalen Bevölkerungskonferenz vorbehalten bleiben. 25 Wie der Präsident der Konferenz, der belgische Staatsminister G. Theunis, in seiner Eröffnungsrede betonte, war eine Erörterung der Finanz- und Bevölkerungsprobleme nicht gänzlich ausgeschlossen. Sie sollte erfolgen, soweit sie mit den festgesetzten Tagungspunkten unlösbar verbunden war; Rede Theunis vom 4.5.1927, in: Responded Verlauf und Ergebnis der internationalen Weltwirtschaftskonferenz (Fn. 22), S. 3. Im folgenden wird auf die deutsche Übersetzung der Konferenzdebatten Bezug genommen, wie sie von Respondek zusammengestellt und herausgegeben wurde. Diese entspricht weitgehend der vom Völkerbund veröffentlichten Konferenzniederschrift: Rapport et Actes de la Conférence Economique Internationale, Genève 1927. Die Verhandlungen werden teils wörtlich, die Protokolle des Industrieausschusses überwiegend in indirekter Rede nachgezeichnet. Die Wiedergabe bei Respondek weicht in wenigen Punkten von der französischen Vorlage ab; für unser Thema sind diese Abweichungen aber größtenteils ohne Belang. 26
Besonders deutlich in Harms (Fn. 12), S. 344 ff.
27
Hantos (Fn. 13), S. 30 f.
28
Dieser Intention entsprach auch die umstrittene Entscheidung, die Konferenz nicht als Diplomatenkonferenz zu konzipieren und mit RegierungsVertretern zu beschicken,
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nung ließ erkennen, dass die Schwerpunkte der Konferenz im Bereich des Handels liegen würden. Mit dem Handel eng verflochten war das Thema der Industriepolitik, so dass sich die Aufmerksamkeit auch auf die weitverbreitete Tendenz zur internationalen Kartellbildung richtete29.
V. Der wirtschaftstheoretische Aspekt Als größte Gefahr für die Weltwirtschaft wurde auf der Konferenz die Diskrepanz zwischen Produktion und Absatz betrachtet. Über die Ursachen dieser Erscheinung war man sich weitgehend einig: Sie wurden in erster Linie im „wirtschaftlichen Nationalismus" gesehen, der dadurch entstanden war, dass die Staaten nach Kriegsende die Stärkung der eigenen Volkswirtschaften als sakralnationale Aufgabe empfanden. Unter dem Primat einer solchermaßen national überfrachteten „Wirtschaftslehre" wurden wirtschaftswissenschaftliche Gesetzlichkeiten vernachlässigt und das Wirtschaftsethos einer nach außen abgeschlossenen, autarken Volkswirtschaft propagiert. Der Rückgriff auf neomerkantilistische Ansätze hatte die Förderung der inländischen Industrien und Produktionskapazitäten, die Abschottung der eigenen Märkte und die Errichtung zahlreicher Zollschranken zur Folge. Die nachteiligen Auswirkungen dieser Wirtschaftspolitik fanden ihren Niederschlag in den wirtschaftlichen Krisen der 20er Jahre 30 . Das Versiegen des internationalen Handels zeigte sich in der Kluft zwischen Produktion, Kaufkraft und Absatz und war Ursache einer Arbeitslosigkeit, sondern auf einen Sachverständigenaustausch hin auszurichten. Zu diesem Zweck sollten die Teilnehmer zwar von den nationalen Regierungen ernannt werden, jedoch als Sachverständige keinerlei Weisungen unterliegen und alle Bereiche des nationalen Wirtschaftslebens repräsentieren. 29
Auf den dritten Konferenzgegenstand, die Landwirtschaft, soll hier nicht näher eingegangen werden. Seiner Vorbereitung wurde die geringste Aufmerksamkeit gewidmet. Siehe hierzu die Ausführungen bei Pribram (Fn. 16), S. 938 f. (943). 30 Der Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr, Bernhard Harms, war einer der ersten, der für die Verwirklichung einer von „weltwirtschaftlicher Interessensolidarität" geprägten, freien Weltwirtschaft eingetreten war. Die Krise der Weltwirtschaft sah er 1922 im Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf den Weltmärkten, das er auf die folgenden sieben Ursachen zurückführte: „1. Vermehrung der gewerblichen Produktivkräfte. 2. Räumliche Verschiebungen der gewerblichen Produktivkräfte. 3. Verminderung der agrarischen Produktivkräfte in Europa und deren Vermehrung in Übersee. 4. Verminderte Rationalisierung im Produktionsprozeß und Verschiebungen im Verhältnis zwischen gesellschaftswirtschaftlich produktiver und unproduktiver Arbeit. 5. Verminderung der Konsum- bzw. Kaufkraft, vornehmlich in Europa. 6. Das in Unordnung geratene Geldwesen. 7. Störung der überkommenen internationalen Austauschverhältnisse durch wirtschaftspolitische und allgemeinpolitische Bestrebungen und Maßnahmen"; Harms, Die Krisis der Weltwirtschaft, in: ders. (Fn. 1), (3. Vortrag), S. 177-211 (177).
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der sich viele Staaten gegenübersahen, wenn auch das Ausmaß zeitlichen Schwankungen unterlag 31. Soweit der Kampf gegen den „wirtschaftlichen Nationalismus" als Voraussetzung für eine nachhaltige Erholung der Weltwirtschaft angesehen wurde, fand er seine hauptsächlichen Fürsprecher in den Konferenzteilnehmern des angloamerikanischen Kultur- und Rechtskreises. Die Hinwendung zu einer liberaleren Handelspolitik entsprach aber auch deutschen Vorstellungen von der Rückkehr zum System multilateraler Handelsbeziehungen, das auf dem Prinzip der Meistbegünstigung und auf niedrigen Zöllen beruhte 32. Großbritannien und die Vereinigten Staaten hatten seit jeher ihr liberales Wirtschaftsverständnis mit der Forderung nach einem (möglichst) freien Welthandel verbunden; diese Einstellung kollidierte natürlich mit den Interessen Frankreichs, des Protagonisten eines „wirtschaftlichen Nationalismus" auf dem europäischen Kontinent. Frankreich — mit seiner traditionell etatistisch-neomerkantilistisch orientierten Wirtschaftspolitik 33 und seinem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis - musste jedoch von der Politik der Isolierung Deutschlands abrücken und sich dem Zeitgeist beugen, der sich der anglo-amerikanischen Entspannungspolitik seit Mitte der 20er Jahre verschrieben hatte. Sonst hätte eine Verschlechterung der seit der Ruhrbesetzung 1923 angespannten Beziehungen zu seinen ehemaligen Entente-Partnern gedroht 34, auch die Gefahr, ins wirtschaftliche Abseits zu geraten, war nicht von der Hand zu weisen. Die Umorientierung der französischen Politik war möglich geworden, nachdem man in Locamo dem zentralen Moment europäischer Politik — der Friedenssicherung - ein neues Fundament geschaffen hatte. Der „wirtschaftliche Nationalismus", von dem man sich nach Ende des Krieges die nationale Wehrhaftigkeit und damit die Aufrechterhaltung des Friedens erhofft hatte, erschien nun plötzlich antiquiert. Er musste der nach 1914 verschütteten Lehre weichen, wonach der wirtschaftliche Erfolg eines Landes nur durch internationale Verständigung und Zusammenarbeit der einzelnen Volkswirtschaften zu sichern ist. Auch auf der Genfer Weltwirtschaftskonferenz stellte die Symbiose von Friedenssicherung und wirtschaftlicher Entwicklung den Leitgedanken schlechthin dar. So begann Theunis seine Eröffnungsrede am 4. Mai 1927 mit den Worten: „Der Völkerbund verfolgt unermüdlich die Verstärkung des Friedens in der Welt. Dies ist seine erhabene Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die 31 Zur Situation in Deutschland L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 1949, Nachdruck 1978, S. 164 ff. 32
U. Nocken, Das Internationale Stahlkartell und die deutsch-französischen Beziehungen 1924-1932, in: Konstellationen internationaler Politik (Fn. 11), S. 168. 33
Hierzu Nocken (Fn. 32), S. 165 ff.
34
Zur Ruhrbesetzung Kolb y Die Weimarer Republik (Fn. 1), S. 49.
23 FS Oppermann
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wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu untersuchen und im Maße des Möglichen die allgemeinen wirtschaftlichen Richtlinien festzusetzen, die dazu beitragen könnten, die so teuer erkaufte Aufrechterhaltung des Friedens zu fördern." 35 VI. Das Thema der internationalen Kartelle Kartelle haben sich in Europa überall dort gebildet, wo der Wettbewerb nicht mehr als Formprinzip der Wirtschaft anerkannt wurde, vielmehr das organisierte Wirtschaftsdenken sich vordrängte mit der Folge, dass es nicht nur zahlreiche Wirtschaftszweige, sondern auch die Politik und die öffentliche Meinung zu beherrschen begann36. Wo dann nationale Kartelle entstanden, war die internationale Kartellbildung nicht weit. Als man aber nun, wie geschildert, sich darauf besann, die Lösung der Probleme der Weltwirtschaft in der Überwindung der nationalen Wirtschaftsegoismen zu suchen, rückte auch die Frage der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit auf internationaler Ebene zunehmend in den Blickpunkt von Wissenschaft und Politik 37 . So ebenfalls auf der Weltwirtschaftskonferenz von 1927; und hier gehörte dann die Behandlung der internationalen Kartelle zu den umstrittensten Themenkreisen. Denn in der Kartelldebatte prallten die gegensätzlichsten wirtschaftstheoretischen Konzeptionen aufeinander. Uneinig war man sich darüber, welche Rolle die internationalen Kartelle in der von Krisen geschüttelten Weltwirtschaft der Nachkriegsjahre spielen sollten. In den internationalen Kartellen erblickten einige die Ausprägung einer „solidarischen Interessengemeinschaft"; als solche verhießen sie die Überwindung der „Desorganisation der Weltwirtschaft" und des nationalen Wirtschaftsegoismus. Andere wiederum sahen in der koordinierten Wirtschaftslenkung durch die internationalen Kartelle bei gleichzeitiger Beschneidung des Marktes eine fatale Entwicklung für Produktion, Preisbildung und Arbeitsmarkt.
35
Theunis (Fn. 25), S. 3.
36
Vgl. K. W Nörr, Die Leiden des Privatrechts, 1994, insbesondere S. 27 ff. und S. 31 ff.; ders., Zwischen den Mühlsteinen, 1988, § 24, S. 143; jeweils mit weiteren Nachweisen; W Möschel, 70 Jahre deutsche Kartellpolitik, 1972; D.J. Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe, 1998. 37 Siehe z.B. S. Tschierschky, Internationale Kartelle und europäische Zollunion, in: //. Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion, 1926, S. 222-235; Zadow, Internationale Kartelle und europäische Wirtschaftsunion, Recht und Handel, 1927, 2, S. 515-523; R. Wolff, ] Die Rechtsstellung der internationalen Kartelle, Recht und Handel, 1927, 2, S. 687-692; R. Liefmann, Internationale Kartelle, Weltwirtschaftliches Archiv 25 (1927 I), S. 260-294; R Berkenkopf Internationale Industriekartelle und ihre Bedeutung für die Gestaltung der weltwirtschaftlichen Beziehungen, Weltwirtschaftliches Archiv 28 (1928 II), S. 300-317; O. Lehnich, Internationale Kartelle und Trusts, 1929; C. Lammers, Internationale Industrie-Kartelle, 1930; E. Hantos, Mitteleuropäische Kartelle im Dienste des industriellen Zusammenschlusses, 1931.
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Während die Vereinigten Staaten ihrer wirtschaftsliberalen Tradition entsprechend auf eine mehr oder weniger ausgereifte Antitrust-Gesetzgebung und -Rechtsprechung zurückgreifen konnten38, war die Lage in Europa nicht eindeutig. In Großbritannien fehlte zwar ein analoges Regelwerk 39, auch hielten sich die offiziellen britischen Organe mit Stellungnahmen zur internationalen Kartellierung eher zurück; aber mit dem liberalen Handelsverständnis Großbritanniens war die Kartellbildung nur schwer zu vereinbaren 40. Ganz anders die französische Position: hier verkörperte die internationale Kartellbildung einen, wenn nicht den zentralen Punkt in den Überlegungen zur Neustrukturierung der Weltwirtschaft 41. Auch die deutsche Industrie hatte Kartellierungsphasen durchlaufen, ohne dass man jedoch hieraus ein allgemeines Ordnungsprinzip der Wirtschaft entwickelt hätte42. Dem stand die schon erwähnte Tatsache entgegen, dass von der deutschen Politik Konzepte favorisiert wurden, die an das multilaterale Handelssystem der Vorkriegsjahre anknüpfen sollten. Wieweit dann internationale Kartelle in ein solches Handelskonzept gepasst hätten, blieb freilich ohne klare Antwort 43 . Von vielen Stimmen in Politik und Wirtschaft wurde den Kartellen als dem Inbegriff der internationalen Verknüpfung nationaler Wirtschaftsinteressen eine bedeutsame ordnungs- und damit friedensstiftende Funktion zugeschrieben. Wieweit sich die Praxis hiervon beeindrucken ließ, mag offenbleiben; jedenfalls kam es zwischen den europäischen Industrien zu einer Reihe von Kartellvereinbarungen; als „Flaggschiff 4 galt hierbei die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG) von 192644.
38
Beginnend mit dem Sherman Antitrust Act von 1890.
3g
Zur Rechtslage in den Teilnehmerstaaten der Konferenz Lammers, Kartellgesetzgebung des Auslandes; Bericht an den Völkerbund fur die internationale Wirtschaftskonferenz, Schriften der Kartellstelle des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Nr. 3, 1927, S. 21-68. 40 Wurm, Großbritannien und die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG), 19241931 /32; in: Konstellationen internationaler Politik (Fn. 11), S. 218 f.; ders., Industrielle Interessenpolitik und Staat, 1988, S. 110 ff. 41
Hierzu Nocken (Fn. 32), S. 165 ff., S. 168 ff., S. 192.
42
Zur Kartellverordnung von 1923 gegen den „Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen" Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (Fn. 36), S. 147 ff. 43
Siehe hierzu die einzelnen Interpretationen bei Hantos, Mitteleuropäische Kartelle im Dienste des industriellen Zusammenschlusses (Fn. 37), S. 50 ff., S. 57-66. 44
Hierzu ausführlich Nocken (Fn. 32), S. 186 ff.; K.H. Pohl, Die Internationale Rohstahlgemeinschaft aus deutscher Sicht, in: Konstellationen internationaler Politik (Fn. 11), S. 203 ff.; Wurm, Großbritannien und die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG) (Fn. 40), S. 211 ff.; ders., Industrielle Interessenpolitik und Staat (Fn. 40), S. 102-120. 23*
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Im folgenden soll der Werdegang der Kartelldiskussion, die in allen Stadien der Weltwirtschaftskonferenz breiten Raum eingenommen hat. näher betrachtet werden. V I I . Der Meinungsstand im vorbereitenden Komitee und auf den einleitenden Plenarsitzungen Euphorie und Argwohn hielten sich in der Einschätzung der internationalen Kartelle etwa die Waage, und so war es nicht verwunderlich, dass die Frage nach Einbeziehung und Behandlung des internationalen Kartellwesens bereits in der Vorbereitungsphase zur Weltwirtschaftskonferenz eine zentrale Rolle spielte45. Angeregt wurde die Diskussion innerhalb des vorbereitenden Komitees vom französischen Gewerkschaftsführer Jouhaux, der auf der ersten Sitzung im April 1926 seine Besorgnis über die zunehmende internationale Verflechtung auf betrieblicher Ebene zum Ausdruck brachte 46. Jouhaux sprach im Namen der internationalen Gewerkschaften: Von den internationalen Kartellen ( ententes industrielles internationales) ginge eine den Interessen der Arbeiter entgegenlaufende Lohn- und Preisentwicklung aus, dies berge die enorme Gefahr einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer in sich. Jouhaux wollte mit seiner Warnung aber nur die unreflektierte Kartelleuphorie dämpfen, keineswegs jedoch die Figur der internationalen Kartelle grundsätzlich in Frage stellen. Wie dem immer sei, das Thema war angestimmt und wurde nicht mehr von der Tagesordnung genommen. Um den Informationsstand zu verbessern, wurden zahlreiche Gutachten eingeholt47. Besondere Aufmerksamkeit schenkte man in diesem Zusammenhang der jahrzehntelangen Kartelltradition Deutsch45 Im Vordergrund standen wirtschaftspolitische und damit pragmatische Fragestellungen. Rechtliche Aspekte spielten in den Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle: siehe Lammers, Kartellgesetzgebung des Auslandes (Fn. 39). S. 9 f. 46 47
Hierzu Lammers (Fn. 39), S. 7 f.
Zur Kartell frage wurden folgende Memoranden verfasst: C. Lammers. Die Gesetzgebung über Kartelle und Trusts, C.E.I. 35: K. Wiedenfeld, Kartelle und Trusts, C.E.C.P. 57 (1) (= Kartelle und Konzerne, 1927); D.H. Mac Gregor, Internationale Kartelle. C.E.C.P. 93; W. Qualid, Die internationalen Industrievereinbarungen und ihre sozialen Folgen, C.E.C.P. 94; P. de Rousiers, Die Kartelle und Trusts und ihre Entwicklung; C.E.C.P. 95; G. Cassel, Die monopolistischen Tendenzen in Industrie und Handel im Laufe der letzten Jahre. Wesen und Ursachen der Verarmung der Völker. C.E.C.P. 98; J. Hirsch, Die nationalen und internationalen Monopole vom Standpunkt der Interessen der Arbeiter, der Verbraucher und der Rationalisierung; C.E.C.P. 99. Ausführliche Besprechungen der Memoranden bei K. Pribram , Die weltwirtschaftliche Lage im Spiegel des Schrifttums der Weltwirtschaftskonferenz, Weltwirtschaftliches Archiv 26 (1927 II), S. 408 ff. Weiterhin lagen der Konferenz umfangreiche Materialien zur Organisation von Kartellen sowie eine Darstellung der rechtlichen Behandlung der Kartelle in den teilnehmenden Ländern vor.
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lands, das gemeinhin als „Land der Kartelle" galt; ein Umstand, der ebenso beargwöhnt wie bewundert wurde 48 . Auch auf den einleitenden Plenarsitzungen nahm die Karte 11 debatte breiten Raum ein. Man sprach von der Gesundung der Weltwirtschaft und forderte um ihretwillen die Solidarität der wirtschaftlichen Interessen49. Das führte zur Frage nach der Legitimation internationaler Kartelle und nach der Art und Weise, wie sie in das Konzept der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einzubeziehen seien. Zunächst wandte sich die aus Österreich stammende Emmi Freundlich, Vertreterin der Internationalen Konsumgenossenschaften, gegen die wettbewerbsbegrenzende und preistreiberische Wirkung internationaler Kartelle" 0. Der Leiter der deutschen Delegation, Carl Friedrich von Siemens"1, hingegen stand dem Kartellgedanken positiv gegenüber. Die guten Erfahrungen seines Unternehmens erwähnend gab er jedoch zu bedenken, dass nur eine kleine Zahl von Branchen und Betrieben die Eignung zur internationalen Zusammenarbeit besäße. Letztlich entscheide auch nicht die Organisationsform über den Fortschritt einer Wirtschaftseinheit, sondern der individuelle Beitrag des Einzelnen'2. Henry M. Robinson, Präsident der First National Bank in Los Angeles, verfolgte einen traditionell kartellskeptischen amerikanischen Ansatz: Zwar scheine die internationale Kartellierung zur kurzfristigen Überwindung der europäischen Wirtschaftsprobleme, insbesondere zum Abbau von Handelshindernissen geeignet, auf Dauer bestünde jedoch die Gefahr der Monopolbildung und in ihrem Gefolge der Ausbeutung. Das amerikanische Volk stehe einer solchen Entwicklung ablehnend gegenüber; dies gelte im übrigen auch für jede Art staatlicher Beteiligung an privaten Unternehmen oder Kartellen. Erfolg oder Misserfolg der industriellen Zusammenarbeit hinge allein von der „Weisheit und den guten Absichten der ausschlaggebenden Persönlichkeiten" ab 53 . Robinsons wirtschaftlicher Ansatz stand im krassen Gegensatz zu den französischen Kartellierungsmodellen, die von Loucheur vorgetragen wurden und dem Organisationsgedanken der Wirtschaft gerecht zu werden suchten. Ausgehend vom Primat der Produktionssteigerung forderte Loucheur die industrielle Organisation Europas auf horizontaler Ebene. Der Weg zum allgemeinen Wohlstand 4
* Hierzu Lammers (Fn. 39), S. 11.
49
S. nur die Eröffnungsrede Theunis vom 4.5.1927, in: Respondek (Fn. 22), S. 3 (5).
50
Freundlich,
in: Respondek (Fn. 22), S. 16(17).
M
Sohn des Firmengründers Werner von Siemens; Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens & Halske AG und zeitweise Präsident des Reichswirtschaftsrates. Carl Friedrich von Siemens war zusammen mit Clemens Lammers deutsches Mitglied des Industrieausschusses. Zur weiteren deutschen Beteiligung an der Konferenz s. Respondek (Fn. 22), XII-XIII. 52 5
Siemens, in: Respondek (Fn. 22), S. 18 (25 f.).
- Robinson, in: Respondek (Fn. 22), S. 45 (50 f.); s.a. S. 208, 270.
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führe über die Zusammenarbeit im Rahmen von Syndikaten, Kartellen und Trusts. Deren Missbrauchspotential dürfe zwar nicht übersehen, im Hinblick auf die Kontrolle durch die öffentliche Meinung jedoch auch nicht überbewertet werden. Um möglichen Nachteilen für die Arbeiterschaft und die Konsumenten zuvorzukommen, verband Loucheur sein kartellfreundliches Plädoyer mit der Forderung nach Errichtung einer Zentralstelle zum Zwecke der Information und Beobachtung, die sinnvollerweise in die Organisation des Völkerbundes einzugliedern wäre 54 . Am Ende der einleitenden Vollsitzungen zog der italienische Abgeordnete und Podestà von Mailand, Ernesto Belloni, eine erste Folgerung aus der bisherigen Kartelldebatte. Durch die überwiegend kartellfreundlichen Diskussionsbeiträge drohe das Kartellproblem verwischt zu werden; eine unheilvolle Entwicklung könnte hier ihren Anfang nehmen. Kartelle dürften keinesfalls als Ausfluss eines allgemeinen Wirtschaftsprinzips angesehen werden, sondern höchstens als Notbehelf zur kurzfristigen Überwindung wirtschaftlicher Missstände55. Schon mit Abschluss der Plenarsitzungen war zu erwarten, dass die Bandbreite der vorgetragenen Ansichten eine eindeutige Stellungnahme der Konferenz in der Kartellfrage nicht zulassen würde. Die weitere Debatte wurde aber zunächst in den Industrieausschuss verwiesen, der sich mit dem Kartellproblem auf mehreren Vollsitzungen intensiv auseinandersetzte56. 54 Loucheur, in: Respondek (Fn. 22), S. 82 (83 f.); ähnlich Jouhaux, ebd., S. 35 (39 f.), und der Holländer Serrarens als Sprecher der christlichen Gewerkschaften, ebd., S. 91 f. Den Organisationsgedanken betont auch der Brite Layton, ohne freilich vom Prinzip des Freihandels abzuweichen, ebd., S. 56 (62 f.). Nicht näher behandelt werden sollen im folgenden die Vorschläge der sowjetischen Delegationsmitglieder, OholenskiOssinski (Chef der sowjetischen Zentralverwaltung für Statistik) und Sokolnikoff ΐ stellvertretender Präsident der Kommission für die Planwirtschaft) zur Sozialisierung und Sowjetisierung der Weltwirtschaft. Ihrer Ansicht nach könnte auf dem „Boden der kapitalistischen Wirtschaft" von den internationalen Kartellen nur eine dramatische Verschlechterung der Weltwirtschaftslage erwartet werden. Internationale Kartelle, in Kombination mit einer mäßigen Herabsetzung der Zölle, garantierten 1. den Stillstand der Industrialisierung der Agrarländer, 2. die Aufrechterhaltung der Zölle in den mächtigen Industriestaaten, 3. die Vernichtung der kleineren, kartellfreien Länder, 4. die Steigerung des Kampfes zwischen den europäischen und amerikanischen Kartellen, 5. eine Preissteigerung in Europa und 6. einen stärkeren Druck der kartellierten europäischen Unternehmer auf die Arbeiterklasse; Oholenski-Ossinski, in: Respondek (Fn. 22), S. 78 (80 f.). Die Pläne Loucheurs erschienen Ossinski als „freihändlerisch"; die Forderung Loucheurs liefe allein auf eine „Handelsfreiheit für die monopolistischen Kartelle" hinaus. Die russische Delegation hatte sich während der Konferenz ins Abseits manövriert. So musste Jouhaux auf der 4. Vollsitzung am 10.5.1927 enttäuscht feststellen, dass die von ihm gerne gesehene Zusammenarbeit der internationalen Gewerkschaften mit den sowjetischen Delegierten unmöglich wäre; Jouhaux, in: Respondek (Fn. 22), S. 173 (174). 55
Belloni, in: Respondek (Fn. 22), S. 84 (85 f.).
56
Die Tagesordnung des Industrieausschusses stellte die Kartellfrage in den Mittel-
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V I I I . Die Arbeit des Industrieausschusses Der Industrieausschuss erblickte in der Disparität von Produktion und Verbrauch die Ursache der wirtschaftlichen Misere 57. Der Lösung des Problems konnte man sich auf verschiedenen Wegen nähern; da jedoch die eher theoretische Möglichkeit einer Produktionssenkung auf der Konferenz nicht ernsthaft zur Diskussion stand, galt das besondere Augenmerk den Alternativen einer effektiven Nachfragepolitik. Hier stand das Feld offen für eine wirtschaftspolitische Debatte über das Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Lohnpolitik, eine Debatte, die bekanntlich bis heute nichts an Attraktivität verloren hat 58 . In der Sprache der Zeit kann von einem „kapitalistischen" und einem „sozialistischen" Ansatz gesprochen werden; je nach Betrachtungsweise wurde die Überwindung der Diskrepanz von Angebot und Nachfrage in einer Steigerung der Produktion („kapitalistischer" Ansatz) oder in einer Erhöhung der Löhne gesehen („sozialistischer" Ansatz)59. Versprach der erste Weg die Senkung von Produktionskosten und Abnehmerpreisen und mittel- bis langfristig die Einstellung weiterer Arbeitskräfte, so lockte der Ansatz der direkten Lohnanhebung mit einer unmittelbaren Steigerung der Kaufkraft der Konsumenten. Dieser Weg barg jedoch die Gefahr von Preissteigerungen und sonstigen inflationären Tendenzen und konnte sich daher trotz engagierter Protagonisten 60 letztlich nicht punkt der Debatten: „... 3. Praktische Möglichkeiten [zur Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Verf.]: a.) Internationale Organisation der Produktion, besonders industrielle Vereinbarungen (Kartelle), ihre Beurteilung vom Standpunkt der Produktion, des Verbrauchs und der Arbeiterschaft, ihre rechtliche Regelung, ihr Zusammenhang mit Zollfragen; ...". Die 7 . - 9 . Vollsitzung war der ausschließlichen Diskussion der Kartellfrage gewidmet. 57 Siehe für viele die Anmerkungen des italienischen Berichterstatters Pirelli , in: Respondek (Fn. 22), S. 155 f. Detaillierte Ausführungen zur allgemeinen Wirtschaftslage und zur Situation der Industrie sind den einzelnen Abschnitten des Konferenzberichts vorangestellt; der Konferenzbericht in einer amtlichen Übersetzung der Deutschen Reichsregierung ist unter anderem abgedruckt in: Respondek (Fn. 22), S. 314-358; s. insb. S. 314 ff. und S. 344 ff. 58 Dieser „zeitlose" Konflikt erlebte Mitte der 20er Jahre in Deutschland einen ersten Höhepunkt; hierzu Preller (Fn. 31), S. 358, 362 f. Die Debatte wurde maßgeblich von dem schwedischen Nationalökonom Gustaf Cassel angeregt, der sich auf der Genfer Konferenz als Wirtschaftsliberaler fur eine Steigerung der Produktion und einen freien Waren- und Kapitalverkehr einsetzte; Cassel, in: Respondek (Fn. 22), S. 6, sowie ebd., S. 108, 121 f., 124, 128. S.a. seine oben in Fn. 47 erwähnte Abhandlung. In jüngster Zeit sei nur an die Flügelkämpfe innerhalb der SPD erinnert, die zum Rücktritt Oskar Lafontaines im Frühjahr 1999 führten. 59 Siehe Jouhaux, in: Respondek (Fn. 22), S. 173. Die französische Wiedergabe spricht bezüglich des Vorrangs der Lohnpolitik allerdings nicht von einer „sozialistischen These"; vgl. Rapport et actes de la Conférence Économique Internationale (Fn. 22), Vol. 2, S. 148. 60
Für eine Erhöhung der Löhne setzten sich insbesondere die Gewerkschaftsvertreter
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durchsetzen. Der abschließende Konferenzbericht verhielt sich zu diesem Streitpunkt dann aber wieder bedeckt: Die zentrale Frage der Industriepolitik laute: „ ( . . . ) wie die Produktionskosten und damit die Preise gesenkt werden könnten, um zu einem besseren Gleichgewicht zwischen Leistungsfähigkeit und Nachfrage zu gelangen, ohne daß dabei die Interessen des Verbrauchers oder des Arbeiters geschädigt werden." 61 Nur indirekt ließ sich dieser Formulierung entnehmen, dass man den Weg über eine Produktions- und nicht über eine allgemeine Lohnanhebung einzuschlagen bereit war. Am Ende glaubte man, die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage durch eine Kombination von Rationalisierung 62 und internationaler Kartellierung nebst Errichtung eines „industriellen Nachrichtenwesens" (Austausch von Industrieinformationen, Statistiken etc.)63 zu erreichen. Über die Notwendigkeit einer umfassenden Rationalisierung und der Einrichtung eines flankierenden Nachrichtenwesens war man sich weitgehend einig, nicht hingegen über Bedeutung und Nutzen internationaler industrieller Vereinbarungen und Zusammenschlüsse; allerdings gab es niemanden, der die internationale Kartellierung uneingeschränkt bejaht oder uneingeschränkt bekämpft hätte64. Den Debatten lag noch nicht jenes Argumentationsmuster zugrunde, das uns von späteren Kartellrechtskontroversen - man denke nur an die Auseinandersetzungen während der Entstehungsphase des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 — her bestens bekannt ist und das seinen Ausdruck im Verbotsprinzip mit Genehmigungsvorbehalt einerseits und in der grundsätzlich freien Kartellbildung ein; s. Jouhaux, in: Respondek (Fn. 22), S. 160, 173; den Generalsekretär des belgischen Arbeitersyndikats Mertens, ebd., S. 176 sowie den Sekretär der Schweizerischen Arbeitervereinigung Weber, ebd., S. 186 (187); differenzierend Lammers, ebd., S. 162 (166). 61
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 346.
62
Mit Fragen der Rationalisierung beschäftigte sich der Industrieausschuss auf den Vollversammlungen am 10. und 11.5.1927. Einig war man sich über deren Vorzüge, nämlich Senkung von Produktionskosten und Endabnehmerpreisen, Steigerung der Produktion, Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Rationalisierungsmaßnahmen - hierunter verstand man die „wissenschaftliche Organisation der Arbeit, Normung sowohl der Stoffe wie auch der Erzeugnisse, Vereinfachung der Verfahren und Verbesserung der Beförderungs- und Absatzmethoden" - sollten weitgehend sozialverträglich durchgeführt werden. Besondere Berücksichtigung sollten die Belange der Arbeitnehmer finden, denen in einer ersten Phase der Rationalisierung „Verlust, Arbeitslosigkeit oder Erschwerung der Arbeit" drohten; Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 346 ff. An dieser Stelle bleiben die Ausführungen des Konferenzberichts jedoch recht vage. 63 Dem Informationsaustausch zwischen den Industrien lag der Gedanke der verstärkten internationalen Zusammenarbeit zugrunde. Entsprechendes Nachrichtenmaterial sollte von den teilnehmenden Ländern erstellt und im Rahmen des Völkerbundes kompiliert, ausgewertet und vereinheitlicht werden; s. Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 350 ff. 64 Eine Einteilung der Komiteemitglieder in einzelne Gruppen versucht Hantos, Mitteleuropäische Kartelle (Fn. 37), S. 57 ff.
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mit Missbrauchskontrolle andererseits gefunden hat 65 . Im Unterschied zur Verrechtlichung der erwähnten Kartelldebatte der 50er Jahre war die Genfer Konferenz fast ausschließlich von wirtschaftspolitischen Erwägungen geleitet. Dies schlug sich im Inhalt der Debatte nieder und führte dazu, dass die Mitglieder des Ausschusses ihr Votum ohne Rücksicht auf juristische Differenzierungen abgaben66. Der Industrieausschuss enttäuschte all die, welche in den Kartellen ein geltendes Wirtschaftsprinzip, eine neue Organisationsform des Wirtschaftslebens 67 oder eine „natürliche Entwicklungsstufe des kapitalistischen Wirtschaftssystems" erblicken wollten 68 . Denn er brachte die überwiegende Ansicht der Teilnehmer zum Ausdruck, Kartelle stellten zwar in gewissem Umfang eine wirtschaftliche Notwendigkeit dar, doch zu einer prinzipiellen Stellungnahme gäben sie keinen Anlass. Als Kinder der Not 6 9 erfassten sie nur bestimmte Industriezweige, und sie könnten daher nicht als eine „Organisationsform angesehen werden, die allein aus sich heraus geeignet ist, die Ursachen der Schwierigkeiten zu beseitigen, unter denen die Weltwirtschaft und besonders die europäische Wirtschaft leidet" 70 . In diesem Sinne hatte bereits Clemens Lammers in seinem Bericht an den Völkerbund 1927 zu bedenken gegeben: „Nicht nur im gesellschaftlichen, sondern auch im wirtschaftlichen Leben gibt es Dinge, die zeitweilig als m o dern' zu bezeichnen sind. Wiederbeschaffungspreis, Erhaltung der Substanz, Entbehrungsfaktor, Flucht in die Sachwerte, wohlbekannte Schlagworte aus der Inflationszeit, deren jedes zwar einen Kern von sachlicher Bedeutung enthielt, gleichzeitig aber in der Diskussion des Tages einseitig in den Vordergrund gerückt wurde. Auf organisatorischem Gebiete liegt es ähnlich mit den Begriffen der Sozialisierung, staatliche oder private Planwirtschaft, Normalisierung, Typisierung, Amerikanisierung, Rationalisierung. Jede dadurch ausgedrückte Strö65
Zur Entstehungsgeschichte des Wettbewerbsgesetzes ausführlich Nörr, Leiden des Privatrechts (Fn. 36), S. 159 ff. 66
Für eine rechtliche Debatte stellte die Konferenz aus mehreren Gründen ein denkbar ungeeignetes Forum dar. Wollte man konkrete wirtschaftliche Missstände beheben, schied sie von vorneherein aus. (Anders die Situation in den 50er Jahren, wo mit der Grundsatzdiskussion zur Kartellfrage Einfluss auf die bestehende und künftige Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik genommen werden sollte.) Ferner standen einer rechtlichen Behandlung internationaler Kartelle die Souveränitätsrechte der teilnehmenden Staaten entgegen. 67 So beispielsweise der ehemalige Bürgermeister von Rotterdam Zimmermann, in: Respondek (Fn. 22), S. 190; und der Pole Battaglia (Mitglied des Wirtschaftsrates und Direktor der polnischen Textil-Industrievereinigungen), ebd., S. 189.
Sokolnikofj\ in: Respondek (Fn. 22), S. 199. Zur Theorie der Wirtschaftsstufen Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (Fn. 36), S. 143 f., und ders., Leiden des Privatrechts (Fn. 36), S. 38. 69
Für viele Lammers, in: Respondek (Fn. 22), S. 162 (166), 191 (192).
70
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 348.
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mung hatte ,ihre' Zeit von längerer oder kürzerer Dauer. Kartellierung, insbesondere internationale Kartellierung, heißt heute einer der Hauptgänge in der Speisefolge einer wirtschaftspolitischen Geistesmahlzeit. Europäische Wirtschaftsverständigung und Zollunion bilden vielfach den mehr oder minder genießbaren Nachtisch."71 Ungeachtet dieser Bedenken verband man mit der internationalen Kartellierung gewisse Hoffnungen, die freilich nur vorsichtig geäußert wurden. So sollten Kartelle „in bestimmten Industriezweigen" und unter „gewissen Bedingungen und Vorbehalten" folgendes bewirken können: eine „systematische Entwicklung der Produktion und Herabsetzung der Unkosten durch bessere Ausnutzung der bestehenden Produktionsmittel, rationellere Entwicklung neuerer Produktionsanlagen und zweckmäßigere Gruppierung der Unternehmungen", darüber hinaus eine Milderung des „unwirtschaftlichen Konkurrenzkampfes" und die Verminderung der aus „den Konjunkturschwankungen entstehenden Schäden"72. Auf dem Arbeitsmarkt sollte die Kartellierung eine konstante Beschäftigungsentwicklung garantieren; der Verbraucher würde von fallenden Herstellungs- und Verteilungskosten profitieren. Am Ende rang man sich zu der Feststellung durch, dass „gewisse Kartelle" sowohl den Produzenten als auch den Verbrauchern und der Allgemeinheit nutzen könnten73. Im Grunde stand man der Kartellierung, trotz der an sie geknüpften Erwartungen, aber skeptisch gegenüber. Konzeptionelle Kritik an den Kartellen wurde nicht nur außerhalb der Konferenz 74, sondern verstärkt auch unter den Konferenzteilnehmern geübt75. So versäumte es der Industrieausschuss nicht, eindring71
Lammers, Kartellgesetzgebung des Auslandes (Fn. 39), S. 10. Die Idee einer europäischen Zoll- und Wirtschaftgemeinschaft war in der Mitte der 20er Jahre eingehend diskutiert worden; s. Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion, 1926, mit 22 verschiedenen Beiträgen. 72
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn 22), S. 349. Ganz dieser Sichtweise verpflichtet, stellten die internationalen Kartelle für de Peyerimhoff, den Präsidenten des französischen Kohlensyndikats, die Krönung des Rationalisierungswerkes dar; in: Respondek (Fn. 22), S. 271. 73
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 348 f.
74
Sehr deutlich gegen die marktzerstörerische Tendenz internationaler Kartelle der Berliner Professor Zado\\\ in: Respondek (Fn. 22), S. 523: „ A n und für sich vermögen die Kartelle durch ihr System der Quoten Verteilung und absatzterritorialen Aufteilung im Verhältnis zu den von ihnen geänderten Verhältnissen durchaus nutzbringend zu wirken; aber die Wirkung solcher Abkommen liegt nicht auf der Linie, die eine Zollunion einschlagen würde, sondern auf einer absolut konträren. Sie würden offensichtlich doch dazu dienen, gerade das auszuschließen, was das Wesen der Zollunion sein würde, nämlich die absolute freie Konkurrenz." 75
An dieser Stelle seien neben dem Amerikaner Robinson nur einige Delegierte genannt. Widerspruch war insbesondere aus den liberalen skandinavischen Ländern zu vernehmen, die sich auch gegen eine staatliche Kontrolle aussprachen: siehe Jahn (Direk-
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lieh vor den Missbrauchsgefahren zu warnen, die von internationalen Kartellen dann drohten, wenn sie sich nicht dem Wohl der Allgemeinheit unterordneten, sondern der Bildung monopolistischer Strukturen und dem eigennützigen Streben nach Gewinn Vorschub leisteten76. Wie eine Kartellierung zu bewerten sei, hänge jedoch letztlich von dem ihr „zugrundeliegenden Geiste", von dem „Grade ab, in dem sich die führenden Persönlichkeiten von der Rücksicht auf das Gemeinwohl leiten lassen"77. Aber die Gefahr des Missbrauchs erkennen ist eine Sache, ihr vorzubeugen eine andere. Nach kontroversen Debatten über mögliche Kontrollorgane einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Internationale Kartellinstanzen vorzuschlagen schien im Hinblick auf die unterschiedliche Rechtslage in den Teilnehmerstaaten ein unrealistisches Unterfangen; die internationalen Kartelle würden dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber unterstellt bleiben. So sollte sich der Völkerbund darauf beschränken, die Tätigkeit der internationalen Kartelle kritisch zu verfolgen. Aktuelles Material sollte gesammelt und der Öffentlichkeit im Rahmen des einzurichtenden „industriellen Nachrichtenwesen" zur Verfügung gestellt werden 78. Mit dieser „weichen" Kontrollmaßnahme glaubte man, die öffentliche Meinung für die Kartellfrage sensibilisieren zu können; gleichzeitig sollten die Kartelle zu einer Art Selbstdisziplin angehalten und an ihre soziale Verantwortung appelliert werden 79. An diese Hoffnung schien sich die Konferenz auch zu klammern, als sie den Wunsch äußerte, die Kartellmitglieder mögen sich einer freiwilligen Schiedsgerichtsbarkeit zur Beilegung von Streitigkeiten unterwerfen. IX. Ergebnis und Ausblick Die Augen der Welt hatten sich während der Weltwirtschaftskonferenz auf Genf gerichtet. Mit Spannung wurden die Ergebnisse der Konferenz erwartet, auch wenn sie nur empfehlenden Charakter besaßen und damit Gefahr liefen, tor im norwegischen Statistischen Amt), in: Respondek (Fn. 22), S. 194, und Lundvik (Leiter der schwedischen Industrie-Vereinigungen), ebd., S. 197. 76
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 349. Diese Gefahr wurde von allen Interessen Vertretern gesehen, am deutlichsten freilich von der Gewerkschaften und Konsumentenvereinigungen artikuliert; s. ebd. 77
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 348.
7H
S. hierzu bereits Fn. 63.
79
Aufgrund der Unbestimmtheit des Kartellbegriffs und der ihrer Ansicht nach zu laxen Haltung des Komitees enthielt sich die Delegation der Vereinigten Staaten bei der Abstimmung in der Kartellfrage, die im Rahmen der Resolutionen des Industrieausschusses durchgeführt wurde. Zudem sprachen sich die amerikanischen Teilnehmer gegen jede Art der staatlichen Beteiligung an privaten Unternehmen und Kartellen aus; siehe Robinson, in: Respondek (Fn. 22), S. 208, 270. Zum Abstimmungsverhalten einzelner Komiteemitgliedcr s. bei Respondek, ebd., S. 206 ff.
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Knut Wolfgang Nörr/Dieter Waibel
als rein „platonische Geste"80 missverstanden zu werden. Der weitere Erfolg der Konferenz lag nach deren Abschluss nicht mehr in den Händen des Völkerbundes. Zur Umsetzung der Empfehlungen waren die nationalen Regierungen aufgerufen, von denen sich ja die meisten der Politik eines eigennützigen Wirtschaftsnationalismus verschrieben hatten. Von ihrer Bereitschaft hing es nun ab, wieweit das gewachsene Bewusstsein um die Korrelation zwischen Politik und Wirtschaft und die Notwendigkeit einer „internationalen Interessensolidarität" politische Realität werden würde 81 . In diesem Sinne sollte die Weltwirtschaftskonferenz erst auf der Schwelle zu einer neuen Ära der friedlichen wirtschaftlichen Kooperation stehen82. Von ihr unmittelbar ausgehende wirtschaftliche Impulse zu erwarten, hätte daher auf Missverständnis beruht 83. Auch der Wunsch, in den Beschlüssen der Konferenz eine „Magna Charta" der Weltwirtschaft zu entdecken, war eher als vermessen oder abwegig zu bezeichnen84. Die Konferenz hatte eben nur wenig Greifbares zu Tage gefördert. Trotzdem verdienten einige Ergebnisse Beachtung. So war auf dem Gebiet der Handelspolitik fast unisono die Rückkehr zu einem liberalen Welthandelssystem proklamiert worden 85 . Zur Frage der internationalen Kartelle wollte die Konferenz zwar keine grundsätzliche Stellungnahme abgegeben; implizit wurde aber den französischen Vorstellungen von einem international organisierten Kartellwesen eine klare Absage erteilt. Natürlich waren auch die konzeptionellen Kritiker der Kartellierung vom Ausgang enttäuscht, soweit sie sich überhaupt eine deutliche Distanzierung versprochen hatten. Die Stellung der internationalen Kartelle 80
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 323; s.a. Stresemann, Stellungnahme zur Konferenz am 16.6.1927, in: Respondek, ebd., S. 296. 81 In ersten Stellungnahmen zeigten sich die Regierungen von den Ergebnissen der Konferenz recht angetan, wie die überwiegend positive Aufnahme in Deutschland und anderen europäischen Staaten belegt. Einzelne Stellungnahmen sind wiedergegeben in: Respondek (Fn. 22), S. 300-313. In Großbritannien wurde der Beschluss zur Öffnung der Märkte sowie die indifferente Stellungnahme der Konferenz in der Kartellfrage als Sieg liberaler Positionen gegenüber französischen Ordnungsvorstellungen gewertet; s. Wurm, Großbritannien und die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG), 1924 — 1931 / 32; in: Konstellationen internationaler Politik (Fn. 11), S. 219 Fn. 14. Gleichzeitig hegte man jedoch Zweifel am Willen der führenden Industrienationen, von ihren Schutzzöllen Abstand zu nehmen; E. v. Bastineller, Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz des Jahres 1927, 1927, S. 77 f. 82
Stresemann (Fn. 80), S. 293.
83
Insbesondere deutschsprachige Kommentatoren hatten sich bereits früh pessimistisch geäußert, da die zentralen Themen der Zeit, die Reparationsfrage und die internationale Schuldenregulierung, bei den Beratungen nicht angetastet wurden, um eine Generaldebatte über eine Revision der Versailler Bestimmungen zu vermeiden; Harms, Die Weltwirtschaftskonferenz (6. Vortrag) (Fn. 12), S. 344 ff.; Hantos, Die Weltwirtschaftskonferenz (Fn. 13), S. 35; v. Bastineller (Fn. 81), S. 73 ff. m.w.N., s.a. S. 83 f. 84 Hierzu Hantos, Die Weltwirtschaftskonferenz (Fn. 13), S. 35; L. Imhoff, Die handelspolitischen Probleme der Genfer Weltwirtschaftskonferenz, Nauticus 19 (1928), 91. 85
Konferenzbericht, in: Respondek (Fn. 22), S. 323.
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927
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innerhalb des anvisierten liberalen Welthandelssystems blieb ungeklärt, zu weit waren die Positionen voneinander entfernt. Vor allem im Bereich der Handelspolitik wurden die in Genf geknüpften Fäden zunächst weitergesponnen. Mit der Einberufung einer internationalen Konferenz zur Beseitigung von Ein- und Ausfuhrverboten im Herbst 1927 nach Genf und mit dem Zollfriedensabkommen von 1930 setzte der Völkerbund seine Bemühungen um die Öffnung der Märkte fort 86 . Nicht als unmittelbare Folge, aber unter dem Eindruck der Weltwirtschaftkonferenz stand der im August 1927 zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossene Handelsvertrag, der zu einer Rückführung der Hochzollpolitik beider Länder führte 87. Auch der Weg der politischen Entspannung, der in vielerlei Hinsicht über eine ökonomische Brücke führen musste, wurde nach 1927 zunächst weiterbeschritten. Die Völkerbundstagung im September 1928 in Genf widmete sich den Fragen der alliierten Räumung des Rheinlands und der endgültigen Regelung des Reparationsproblems. Mit der Unterzeichnung des Young-Plans im Juni 1929 wurde die Normalisierung der internationalen Beziehungen weiter vorangetrieben. Einen Höhepunkt erreichte die Phase der Annäherung im September 1929 mit der Vorlage eines Planes zur Bildung einer europäischen Zoll- und Wirtschaftsunion durch den französischen Außenminister Aristide Briand 88 . Freilich, all das, und manches mehr, befand sich noch auf keinem festen Fundament, war zu wenig abgestützt und gesichert, als dass es dann der Sturmgewalt, die mit der Weltwirtschaftskrise über Europa hereinbrach, hätte Stand halten können. Auch die Einschätzung der Weltwirtschaftskonferenz durch die Nachwelt litt gleich anderen Habenposten der 20er Jahre unter diesem Geschehnis (wie schon oft gezeigt worden ist); offenbar fällt es den Nachgeborenen immer wieder schwer, die Vergangenheit als je für sich Gegenwärtiges zu begreifen, und nicht nur als Vehikel einer Zukunft (die sich ja erst den Blicken zu öffnen pflegt, wenn sie in Gegenwart transformiert worden ist). Hierzu J. Pentmann, Die Internationale Diplomatische Konferenz zur Abschaffung der Ein- und Ausfuhrverbote und -beschränkungen (Genf, 17. Oktober bis 8. November 1927), Weltwirtschaftliches Archiv 27 (1928 I), S. 407-426, und κ Bastineller (Fn. 81), S. 80 f. Aufgrund vielfältiger nationaler Vorbehalte ließ die Konferenz vom Herbst 1927 aber bereits eine Abkehr von den Prinzipien der Weltwirtschaftskonferenz erkennen. Zur Entstehung und Bedeutung des Handelsvertrages Nocken (Fn. 32), S. 166, 171, 173- 177, 180 ff., 192 ff., 199. Zur Umsetzung der Empfehlungen der Weltwirtschaftskonferenz //. Rabinowitsch, Die Ergebnisse der ersten Tagung des Beratenden Wirtschaftsausschusses des Völkerbundes, Weltwirtschaftliches Archiv 28 (1928 I), Chronik und Archivalien, S. 173- 179; dies., Die zweite Tagung des Beratenden Wirtschaftsausschusses des Völkerbundes, Weltwirtschaftliches Archiv 31 (1930 I), S. 377- 381. KX Der Europagedankc wurde von Briand im Mai 1930 noch einmal aufgegriffen. Danach musste er jedoch den politischen und wirtschaftlichen Realitäten innerhalb Europas weichen.
Europäisches und weltweites Integrations-, Verfassungs- und Weltbürgerrecht Von Ernst-U. Petersmann
Thomas Oppermann gehört zu den wenigen Juristen, die praktische Berufstätigkeit (z.B. in der Europaabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums) und akademische Lehrtätigkeit harmonisch verbunden und sich in beiden Tätigkeitsbereichen für eine Berücksichtigung der Funktionszusammenhänge zwischen nationalem, europäischem und weltweiten Wirtschaftsintegrationsrecht eingesetzt haben, um die Freiheit, Rechtsgleichheit und Wohlfahrt der Bürger über die Grenzen hinaus zu schützen. Als Präsident des Ausschusses für Internationales Handelsrecht der International Law Association hat Thomas eine weltweite ILA Resolution zur Förderung der Rule of Law im Welthandelsrecht vorgeschlagen, welche die Rechtspflichten aller 136 WTO-Mitgliedstaaten betont, die Freiheitsgarantien, Diskriminierungsverbote und Streitbeilegungsentscheidungen im Recht der Welthandelsorganisation (WTO) auch innerhalb des europäischen und nationalen Rechts wirksamer zu beachten. Aufgrund seiner kosmopolitischen Zusammenschau von nationalem, europäischem und weltweitem Integrationsrecht hat Thomas seit langem erkannt, dass aus dem europäischen Integrationsrecht nicht nur Lehren für die „Konstitutionalisierung" des weltweiten Integrationsrechts zu ziehen sind, sondern auch umgekehrt das weltweite WTO-Recht zur Stärkung des europäischen und nationalen Rechts und zum Entstehen eines „Weltbürgerrechts" (Kant) beitragen kann. Der folgende Beitrag zu Ehren von Thomas Oppermann erörtert - in Fortführung jahrelanger Diskussionen in dem von Thomas gegründeten Deutschen Gesprächskreis für Internationales Wirtschaftsrecht sowie bei unseren gemeinsamen Arbeiten in den ILA-Ausschüssen für Internationales Handelsrecht sowie für Rechtsfragen einer neuen Weltwirtschaftsordnung - einige aktuelle Funktionszusammenhänge zwischen europäischem und weltweitem Integrationsrecht und Verfassungsrecht.
I. Zum Paradigmenwechsel im Völkerrecht: vom Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht zum Integrations- und Verfassungsrecht Ähnlich wie die Grund- und Menschenrechtsgarantien und die grenzüberschreitenden Wirtschaftsfreiheiten im europäischen Integrationsrecht zu einem
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Ernst-U. Petersmann
grundlegenden Paradigmenwechsel im Staats- und Europarecht der EG-Staaten geführt haben, spiegeln die heute weltweite Anerkennung der Menschenrechte im UN-Recht und das globale Integrationsrecht der WTO einen strukturellen Wandel des Völkerrechts wider mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Regeln. Der internationale Schutz von Menschenrechten und „demokratischem Frieden" wird zunehmend als wichtiger anerkannt als die formalen Souveränitätsprinzipien des anarchischen Koexistenzvölkerrechts. 1. Konstitutionalismus: eine unendliche Geschichte Die politischen Grundideen des „Konstitutionalismus" haben sich in einem über zweitausend Jahre alten Prozess des „trial and error" in der politischen Theorie und Praxis Europas und Nordamerikas schrittweise durchgesetzt. So wurde das „Paradox der Freiheit" und auch das „Paradox der Demokratie" — d.h. die Gefahr, dass Freiheit und Demokratie ohne rechtliche Sicherungen zur Selbstzerstörung durch Missbrauch politischer und wirtschaftlicher Macht neigen - bereits von Piaton diskutiert 1. Die in Piatons Frühwerk Politeia enthaltene Empfehlung einer Regierung durch Philosophenkönige wurde von Piaton selbst - beeinflusst auch durch seine negativen Erfahrungen mit politischem Machtmissbrauch seitens der Tyrannen von Athen und Syrakus - in seinen späteren Werken Politikos und Nomoi zugunsten einer Gesetzesherrschaft (Nomokratie) korrigiert. Die in den Nomoi enthaltenen Empfehlungen für eine Machtbändigung durch Gesetze, die durch „Gesetzeswächter" mit Zustimmung des Volkes verbesserungsfahig und durch Gerichtsschutz zu ergänzen waren, machten Piaton zu einem Vordenker einer „Mischverfassung" mit monarchischen, oligokratischen und demokratischen Elementen2. Die Unterscheidung von Verfassung und Gesetz, sowie die Forderung nach Verfassungsmässigkeit der Gesetze, wurde von Piatons Schüler Aristoteles im Werk Politik und der dortigen Untersuchung von 158 Stadtverfassungen vorgenommen. Heute bekennen sich nicht nur die mehr als 40 Mitgliedstaaten des Europarates, sondern auch nahezu alle 188 UN-Mitgliedstaaten zu den Menschenrechten und zur damit verbundenen Rechts- und Verfassungsstaats-Idee. Die konkrete Ausgestaltung und der reale Schutz von Menschenrechten, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechts- und Verfassungsstaat bleiben jedoch von Land zu Land verschieden und überall unvollkommen. 1 2
Vgl. K.R. Popper, The Open Society and its Ennemies, Bd. I: Plato, 1962. S. 123.
Vgl. A. Riklin , Platon - Vordenker der nomokratischen Mischverfassung, 1995, mit berechtigter Kritk (S. 30) an Karl Poppers Irrtum, Piaton habe das Grundproblem der Politik auf person-orientierte Fragen reduziert („Wer soll den Staat regieren?") und habe die wichtigeren, institution-orientierten Fragen verkannt („Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu grossen Schaden anzurichten?").
Europäisches Integrations-, Verfassungs- und Weltbürgerrecht
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2. Vom macht-orientierten Koexistenzvölkerrecht zum freiheitlichen Integrationsrecht In Übereinstimmung mit dem Freiheits-Paradox haben die dem völkerrechtlichen Koexistenzrecht zugrundeliegenden Souveränitätsprinzipien weder periodische Kriege, Imperialismus und Kolonialismus verhindern können noch die Menschenrechte wirksam geschützt. Auch die durch völkerrechtliches Kooperationsrecht gegründeten internationalen Organisationen leiden häufig unter dem Missbrauch staatlicher Macht (z.B. im UN-Sicherheitsrat während der Zeit des kalten Krieges) und privater Interessengruppen (z.B. an Protektionismus und Preiskartellen interessierter Agrar-, Textil-, Stahl-, Luft- und Schiffahrtsindustrien). Dass Freiheit, Rechtsgleichheit, wirtschaftliche Wohlfahrt und „demokratischer Friede" zwischen den Menschen eine Integration von „Staastsbürgerrecht", Völkerrecht und „Weltbürgerrecht" erfordern, und dem „Handelsgeist" eine Schrittmacherrolle fur die Herausbildung eines kosmopolitischen Integrationsrechts zukommt, hat als erster Immanuel Kant nachgewiesen3. Der EGKS-Vertrag von 1951 und der E WG-Vertrag von 1957 wurden ausdrücklich als Friedensverträge konzipiert, um „an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen" und „durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren" (Präambel EGKS-Vertrag). Das erfoglreiche, schrittweise Fortschreiten von der sektoralen Kohle- und Stahlgemeinschaft zur umfassenden Zollunion, einem „Binnenmarkt ohne Binnengrenzen" (Art. 14 EGV), einer Wirtschafts- und Währungsunion und einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (Art. 61 EGV) mit zunehmend „gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP, Art. 11 EUV) und demnächst ausdrücklicher Grundrechtscharta bestätigen die wechselseitigen Funktionszusammenhänge von Wirtschafts- und Verfassungsrecht. Die gemeinschaftsrechtlich beschlossenen Wirtschaftssanktionen z.B. gegenüber dem früheren Jugoslavien, und die im Rahmen von NATO, WEU und EU koordinierten Militäreinsätze in Kosovo, bestätigen die Richtigkeit der Anerkennung der EG- und EU-Verträge als regionales Sicherheitssystem im Sinne von Kapitel V I I I der UN-Charta 4.
3
Vgl. Zum Ewigen Frieden, in: W. Weischedel (Hrsg.), Kant Werkausgabe, Bd. XI, 1977, S. 203, 226. 4 Hierzu J.A. Frowein, Ordnungspolitik für die Staatengemeinschaft, in: FS für E. J. Mestmäcker, 1996, S. 139, 144.
24 FS Oppermann
Ernst-U. Petersmann
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3. „Verfassungsfunktionen 44 freiheitlichen Integrationsrechts Der EG-Vertrag unterscheidet sich von allen anderen Völkerrechtsverträgen durch die umfassenden Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Rechtsprechungsbefugnisse der EG-Institutionen und durch die Direktwirkung, den Vorrang und die unmittelbare Anwendbarkeit des „autonomen", immer umfangreicheren EGPrimär- und Sekundärechts im Landesrecht aller Mitgliedstaaten. Im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtlichen Garantien von Grundrechten, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien hat nicht nur der EG-Gerichtshof den EG-Vertrag wiederholt als „grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft" bezeichnet5, sondern auch das deutsche Bundesverfassungsgericht sah bereits frühzeitig im EG-Vertrag „gewissermassen die Verfassung dieser Gemeinschaft" 6. Eine dynamische, funktionelle Fortentwicklung z.B. vom Handelsliberalisierungsrecht des GATT zu einem globalen Integrationsrecht lässt sich auch auf weltweiter Ebene besonders im Recht der WTO feststellen. Die obligatorischen Rechts- und Gerichtsschutzgarantien der WTO - sowohl auf internationaler Panel- und Berufungsebene als auch innerhalb des Landesrechts - und die mit 188 Fällen (1995-1999) auf internationaler Ebene sehr häufige Anwendung des WTO-Streitbeilegungssystems, bieten ein in der Völkerrechtsgeschichte bislang einmaliges Rechtsschutzsystem. Auch die Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote des WTO-Rechts, und der umfassende Schutz individueller Eigentumsrechte im WTO Abkommen über Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), gehen weit über das autonome Landesrecht hinaus. Die weltweiten und regionalen Menschenrechtskonventionen und das WTO-Integrationsrecht übernehmen zunehmend „Verfassungsfunktionen" zum Schutze von Freiheit, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit der Bürger gegenüber freiheitseinschränkenden Missbräuchen staatlicher und auch gemeinschaftsrechtlicher Gewalt.
II. Das Freiheitsparadox und die Notwendigkeit weltweiten Wettbewerbsrechts Zur Zeit der Gründung der EWG hatten lediglich zwei EG-Mitgliedstaaten nationale Wettbewerbsgesetze und Wettbewerbsbehörden. Das in Art. 81 ff. im EG-Vertrag enthaltene gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsrecht ging maßgeblich auf die politische Initiative der deutschen Bundesregierung zurück, welche bei den EG-Vertragsverhandlungen durch die Staatssekretäre Hallstein und Müller-Armack vertreten war, die sich auch für die deutsche Wettbewerbsgesetzgebung von 1957 führend eingesetzt hatten. Zugrunde lag die ordoliberale 5
EuGH, Slg. 1991, 1-6079, Rn. 21.
6
BVerfGE 22, 134.
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371
Einsicht der Freiburger Schule, dass ebenso wie die Freiheit auch der wirtschaftliche Wettbewerb durch das Recht dauerhaft und umfassend gegen Missbräuche staatlicher und privater Macht geschützt werden muss. Als Folge des EG-Wettbewerbsrechts haben inzwischen nicht nur alle 15 EG-Mitgliedstaaten auch nationale Wettbewerbsgesetze und Wettbewerbsbehörden eingeführt. Darüberhinaus haben die am gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht orientierten Wettbewerbsregeln in den bilateralen Freihandels-, Kooperations-, Europa- und Assoziationsverträgen der EG nahezu auch alle anderen europäischen Länder zu nationalen Wettbewerbsgesetzen, Wettbewerbsbehörden und zum rechtlichen Schutz einer freiheitlichen „Wettbewerbskultur" veranlasst. Im Wettbewerbsrecht der USA hat demgegenüber die ökonomische Chicago School dazu beigetragen, dass die Rechtspraxis sich mehr auf den Schutz produktiver und allokativer Unternehmenseffizienz durch Verhindern von Preisoder Mengenbeschränkungen konzentriert und gegenüber Monopolbildungen und Wettbewerbsbeschränkungen in höherem Masse auf wettbewerbliche Selbstregulierung vertraut. Den von der EG vorgeschlagenen WTO-Verhandlungen über weltweite Wettbewerbsregeln stehen die USA zurückhaltend gegenüber7. Auch fur die zunehmend globalen Märkte und fur die oft kleinen, durch Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen verzerrten Märkte vieler Entwicklungsländer gilt jedoch: Die „unsichtbare Hand des Wettbewerbs" und das spontane Entstehen von „countervailing powers" (Galbraith) müssen durch die sichtbare Hand des nationalen und internationalen Verfassungs- und Wettbewerbsrechts gefördert werden, damit Freiheit und Wettbewerb nicht durch staatlichen und privaten Machtmissbrauch aufgehoben werden 8. Betrachtet man Märkte als „Dialog über Werte" und als notwendiges „Freiheitskorrelat" für eine dezentrale Koordinierung von Angebot und Nachfrage unter Respektierung der Präferenzen und Eigenverantwortung der Marktteilnehmer, so kommen dem Wettbewerbsrecht und einer freiheitlichen „Wettbewerbskultur" auch demokratiepolitische Funktionen für die Aufrechterhaltung freiheitlicher Willensbildungsprozesse und Chancengleichheit zu9. Demokratische und wirtschaftliche Freiheitssicherung müssen als verfassungs- und völkerrechtliche Ordnungsaufgaben anerkannt werden.
7 Vgl. E. U. Petersmann , Competition-oriented Reforms of the WTO World Trade System. Proposals and Policy Options, in: R. Zäch (Hg.), Towards WTO Competition Rules, 1999, S. 4 3 - 7 2 . 8
Zu den rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Zielen von Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspolitik vgl. E. U. Petersmann, Legal, Economic and Political Objectives of National and International Competition Policies: Constitutional Functions of WTO „Linking Principles" for Trade and Competition, New England Law Review 34 (1999), 145-162. 9
24*
Hierzu W. Fikentscher , Die Freiheit und ihr Paradox, 1997, Kapitel 4.
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Ernst-U. Petersmann
III. Das „Paradox der Diskriminierung": vom „Primat der Außenpolitik'4 zum nicht-diskriminierenden Integrations- und Verfassungsrecht Die Erkenntnis von Adam Smith und David Ricardo, dass die wirtschaftliche Wohlfahrt Englands auf dessen freiheitlichen Rechtsgarantien beruhte und durch Freihandel maximiert werden konnte, ist heute weltweit anerkannt. Die jährlichen empirischen Studien über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und Wirtschaftswachstum bestätigen eindeutig, dass die Länder mit der grössten wirtschaftlichen Freiheit (wie Hongkong, Singapur, Neuseeland, die USA) auch ein größeres Wirtschaftswachstum vorweisen 10. Je wirksamer individuelle Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsrechte rechtlich und gerichtlich geschützt werden, desto größer sind die individuellen Anreize für Sparen, Investieren, wirtschaftliche Produktivität und Handel". 1. Nichtdiskriminierung als ökonomischer und rechtlicher Wert Aus ökonomischer Sicht ist offensichtlich, dass Diskriminierungen (z.B. von Unternehmen, Minderheiten, Einfuhrwettbewerb) die Produktions- und Allokationseffizienz, Preise und Wettbewerb verzerren und die Verbraucherwohlfahrt vermindern. Während Nationalstaaten sich traditionell durch vielfältige Diskriminierungen gegenüber Ausländern abgrenzen, ist das EG-Recht durch das umfassende Verbot ,jede(r) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" gekennzeichnet (Art. 12). Der Binnenmarkt umfasst einen „Raum ohne Binnengrenzen" (Art. 14), in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital auf der Grundlage der Nichtdiskriminierung gewährleistet ist. Nichtdiskriminierung als rechtlicher Wert wird über den Bereich der Wirtschaftsintegration hinaus zum Beispiel durch das Recht eines jeden Unionsbürgers gewährt, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ... frei zu bewegen und aufzuhalten" (Art. 18). Auch bei der gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen „Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben", insbesondere hinsichtlich des „Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, einschließlich des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher und gleichwertiger Arbeit" (Art. 141), gehen die gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbote und Gleichheitsgarantien weit über die entsprechenden staatsrechtlichen Grundsätze hinaus.
10 11
Vgl. J. Gwartnew Economic Freedom of the World, 1999.
Vgl. Kirkpatrick / Holmes / O'Driscoll Heritage Foundation 2000.
(Hrsg.), Index of Economic Freedom 2000,
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2. „Primat" und „Diskriminierungsparadox 4' der Außenpolitik Die im europarechtlichen Wettbewerbs-, Binnenmarkt-, Währungs- und Verfassungsrecht enthaltenen Garantien gegen freiheitseinschränkende Missbräuche nicht nur von öffentlicher Staats- und Gemeinschaftsgewalt, sondern auch von privater Wirtschaftsmacht stellen zwar für das interne, regionale Integrationsrecht eine vorbildliche Lösung des erwähnten Freiheitsparadoxes dar. Für die Außenbeziehungen zu Drittstaaten haben jeoch weder das Staatsrecht noch das Europarecht bislang eine wirksame verfassungsrechtliche Lösung für das schon in der Verfassungstheorie von John Locke erkannte Problem des „Primats der Außenpolitik" gefunden. Obgleich außenpolitische Kompetenzen aus der Sicht der Bürger zu den gefährlichsten Regelungsbefugnissen gehören, weil sie die individuelle Sicherheit (z.B. im Falle militärischer Aktionen), Freiheit (z.B. im Falle von Einfuhrbeschränkungen), Gleichheit (z.B. im Falle wettbewerbsverfälschender Exportsubventionen) und das Realeinkommen der Bürger (z.B. im Falle von Wechselkursabwertungen) unmittelbar gefährden können, unterwerfen das Landesrecht der meisten Staaten und auch das EG-Recht die außenpolitischen Regelungsbefugnisse keinen wirksamen verfassungsrechtlichen Kontrollen 12 . 3. Das Beispiel der gemeinsamen Handelspolitik der EG So ist die gemeinsame Handelspolitik im EG-Vertrag lediglich in 4 vage formulierten Artikeln geregelt (Art. 131-134). Art. 26 und 133 sehen ein extrem weites handelspolitisches Regelungsermessen des Rates vor, ohne parlamentarische Mitentscheidungsrechte die Freiheit, Rechtsgleichheit und Wohlfahrt der EG-Bürger durch Steuern (z.B. in Form von Zöllen und Exportsubventionen), Mengenbeschränkungen und Diskriminierungen einzuschränken. Der EGVertrag (z.B. Art. 300 Abs. 7) erkennt dem Völkerrecht zwar Vorrang gegenüber EG-Sekundärrecht zu. Der EG-Gerichtshof betont dementsprechend, dass alle Gemeinschaftskompetenzen in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Bindungen der EG ausgeübt werden müssen. In seiner über 45-jährigen Rechtsprechungspraxis hat der EuGH jedoch nur ein einziges Mal eine Verletzung von Völkerrecht durch EG-Rechtsakte festgestellt 13. Zum Beispiel die über 30 GATT- und WTO-Streitbeilegungsberichte über völkerrechtswidrige Einfuhrbeschränkungen, Diskriminierungen und Subventionen der EG wurden in der politisierten, mit dem gemeinschaftsrechtlichen Vorrang völkerrechtlicher Bindungen unvereinbarenden Rechtsprechung des EG-Gerichtshofs regelmäßig ignoriert 14 . 12 Zu diesem „Lockeschen Dilemma" siehe E. U. Petersmann, Constitutionalism and International Organizations, Northwestern Journal of International Law & Business 17 (1997), 398-469. 13
EuGH Slg. 1997, 11-39, Rs. T-115/94 - Opel Austria.
14
Vgl. dazu E. U. Petersmann, Darf die EG das Völkerrecht ignorieren? Zu den
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Ernst-U. Petersmann
Das aus dem „Lockeschen Dilemma" resultierende, im Staats- und Europarecht bislang ungelöste „Diskriminierungsparadox" lässt sich am Beispiel der seit 1993 über hundert EG-Bananenmarktverordnungen verdeutlichen 15. Deren offensichtliche Unvereinbarkeit mit den Freiheitsgarantien und Diskriminerungsverboten des GATT- und WTO-Rechts wurde seit 1993 in einem Dutzend von GATT- und WTO-Streitbeilegungsberichten formell festgestellt 16. Die völkerrechtswidrigen - und im Hinblick auf Art. 300 Abs. 7 EG-Vertrag auch gemeinschaftsrechtswidrigen — diskriminierenden Zölle, Einfuhrquoten und Lizenzverteilungen der EG zum Nachteil der von den EG-Verbrauchern qualitativ bevorzugten, preiswerteren lateinamerikanischen Bananen hatten auch innerhalb der EG erhebliche Protektionskosten zu Lasten der EG-Verbraucher (nach Weltbankberechnungen in Höhe von 2,3 Mrd. US-S jährlich) und wettbewerbsverzerrende Diskriminierungen der traditionellen Importeure zur Folge. Dennoch wurde die offensichtliche Völkerrechtswidrigkeit der EG-Beschränkungen seitens des EuGH in über 40, auf Antrag privater und staatlicher Kläger erlassenen EuGH-Urteilen durchweg ignoriert 17. Die unter Berufung auf den Vorrang der Völkerrechtsbindungen von deutschen Finanz- und Verwaltungsgerichten verweigerte Anwendung der rechtswidrigen EG-Bananenmarktregelungen haben die Rechtstaatlichkeit innerhalb der EG nicht wirksam schützen können18.
4. Funktionszusammenhänge zwischen Staats-, Europa- und Völkerrecht Aus verfassungsrechtlicher Sicht lassen sich die Freiheits- und Diskriminierungsgefahren diskretionärer Außenpolitik nur dann zugunsten der Freiheit und Rechtsgleichheit der Bürger lösen, wenn die staats- und europarechtlichen Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote - wie im EG-Vertrag vorgeschrieben - in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverboten ausgelegt und angewendet werden. Völkerrechtswidrige Freiheitsbeschränkungen und Diskriminierungen — wie sie in der EG-Praxis aufgrund verfassungs- und völkerrechtlichen Grundlagen des Europäischen Wirtschaftsrechts, in: FS für W. Fikentscher, 1998, S. 966-984. Im jüngsten Urteil in der Rechtssache C-149 / 96 vom 23.11.1999 stellt der EuGH fest: „les accords OMC ne figurent pas en principe parmi les normes au regard desquelles la Cour contrôle la légalité des actes des institutions communautaires" (Rn. 47). 15 Aufgelistet in: J. C. Cascante /G. G. Sander, Der Streit um die Bananenmarktordnung, 1999, S. 133-162, 188-197. 16
Hierzu E. U. Petersmann , The WTO Panel and Arbitration Reports on the EC Banana Regime, in: Bridges Between Trade and Sustainable Development, April 1999, 3-4. 17
Die Urteile sind aufgelistet in: Cascante / Sander (Fn. 15), S. 180-187.
18
Hierzu Petersmann (Fn. 14).
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mangelnder parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle protektionistischer Interessengruppenpolitik leider häufig zum Nachteil der EG-Bürger praktiziert werden - untergraben auch die Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EG. In seiner Schrift über den „Ewigen Frieden" hat Immanuel Kant bereits vor über 200 Jahren erklärt, warum nationaler Konstitutionalismus nur im Zusammenwirken mit internationalen Verfassungsregeln die Freiheit, Rechtsgleichheit und den „demokratischem Frieden" der Bürger wirksam schützen kann 19 . Diskretionäre außenpolitische Befugnisse zur Diskriminierung zwischen den heute nahezu 200 Staaten geben den Regierungen auch über 200 rechtliche Möglichkeiten zur Diskriminierung innerhalb des eigenen Landes, z.B. zwischen konkurrierenden Importeuren, Exporteuren, Produzenten und Verbrauchern. Die globale Integration macht die Trennung von Innen- und Außenpolitik immer künstlicher und eine wirksamere, verfassungsrechtliche Regelung des doppelseitigen „Janus-Charakters" außenpolitischer Freiheitsbeschränkungen und Diskriminierungen immer notwendiger. IV. Das „Paradox der Demokratie" als Verfassungs-, Europa- und Völkerrechtsproblem Das für die deutsche Verfassungsgeschichte traumatische „Paradox der Demokratie" wurde bereits von Piaton diskutiert 20: Wie kann verhindert werden, dass eine demokratische Mehrheit die Regierungsgewalt auf einen Diktator überträgt? Aus der Sicht der Menschen- und Grundrechte der Bürger - und noch mehr aus der ethischen Sicht eines auf Maximierung gleicher individueller Freiheiten ausgerichteten „kategorischen Imperativs" - stellt sich die Geschichte der Staatsgewalt weithin als Geschichte des Missbrauchs innen- und außenpolitischer staatlicher Macht auf Kosten der „Untertanen" dar 21 . Dies gilt nicht nur für monarchische und diktatorische, sondern auch fur viele republikanische Staatssysteme, in denen demokratische Staatsgewalt durch gewählte Organe zum Vorteil einflussreicher Interessengruppen ohne wirksame Kontrolle durch die Bürger ausgeübt wird. Die meisten Demokratien der Gegenwart lassen sich realistischer als „Mischverfassungen" deuten: „Denn dass in den repräsentativen und halbdirekten Demokratien' das Volk herrsche, hat mehr mit Fiktion als mit Realität zu tun. Die Etikettierung zeitgenössischer Regime als Demokratien ist eine Falschdeklaration." 22 |g Hierzu E. U. Petersmann, How to Constitutionalize International Law and Foreign Policy for the Benefit of Civil Society?, Michigan Journal of International Law 20 (1998), 1 - 3 0 . 20
Vgl. Popper (Fn. 1), S. 265.
21
So die Schlussfolgerung der vergleichenden Verfassungsgeschichte von: W. Reinhardt, Geschichte der Staatsgewalt, 1999. 22
Riklin (Fn. 2), S. 1.
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1. Der „kategorische Imperativ" als Demokratiegebot? Neben dem Entstehen freiheitlicher Verfassungsstaaten stellen die grenzüberschreitenden Freiheitsgarantien, Diskriminierungsverbote und Rechtsschutzgarantien im europäischen Integrationsrecht und GATT/WTO-Welthandelsrecht die rechtshistorisch wohl wichtigste Entwicklung zur Befreiung der Bürger von wohlfahrtsreduzierender, staatlicher Bevormundung dar. Während die regionalen und weltweiten Menschenrechtskonventionen in den meisten Bereichen nicht über den in konstitutionellen Demokratien staatsrechtlich gewähleisteten Menschenrechtsschutz hinausgehen, haben das europäische und globale Integrationsrecht neuartige regionale und globale Freiheitsräume erschlossen und rechtlich gesichert, die in vergangenen Jahrhunderten aufgrund staatlicher Willkür meist verschlossen waren. Für die Selbstbestimmung und den „demokratischen Frieden" der Gemeinschaftsbürger sind die grenzüberschreitenden Freiheits-, Gleichheits- und Rechtsschutzgarantien oft nicht weniger wichtig als Wahl- und Verfahrensrechte für repräsentative, von den Bürgern aber oft nicht wirksam kontrollierte Institutionen. Demokratische Selbstherrschaft hängt nicht nur von Verfahrensgarantien, sondern ebenso von Gerechtigkeitsprinzipien ab, die durch maximalen Schutz individueller Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit allseits zustimmungsfähig und legitimierbar sind 23 . Die moralische und demokratische Aufgabe, die Selbstbestimmung und Willkür des einen mit der Willkür aller anderen auf der Grundlage allgemeiner Freiheits- und Gleichheitsgarantien miteinander vereinbar zu machen, kann allein durch demokratische Verfahren und wirtschaftliche Nützlichkeitstheorien nicht erreicht werden. 2. Demokratische Funktionen des EG- und WTO-Integrationsrechts Die universalisierbaren Freiheits-, Gleichheits- und Rechtsschutzgebote des EG- und WTO-Rechts haben aus dieser Sicht demokratische und menschenrechtliche „Verfassungsfunktionen" und bilden eine notwendige Ergänzung staats- und europarechtlicher Verfassungsgarantien. Insbesondere das europäische Integrationsrecht hat die Individualrechte der Gemeinschaftsbürger in einem vorher unbekannten Ausmaß erweitert, etwa durch die grenzüberschreitenden Marktgrundfreiheiten, das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, oder das transnationale aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und Wahlen zum europäischen Parlament (Art. 19 EGV).
23
Zur Rechtslehre Kants, wonach menschliche Selbstbestimmung nur in Gemeinschaft auf der Grundlage staats- und völkerrechtlich geschützter Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit möglich ist, vgl. etwa G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, 1999.
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Die gemeinschaftsrechtliche „Befreiung" der Bürger von staatlicher Bevormundung war weitgehend Ergebnis eines individuellen „Kampfes ums Recht" der EG-Bürger, die sich vor staatlichen Gerichten auf die Durchsetzung ihrer Marktfreiheiten beriefen und aufgrund der verfassungsrechtlichen Auslegung der EG-Verträge seitens des EuGH und seitens der nationalen Gerichte ihre Freiheitsrechte gegenüber staatlichem Protektionismus durchsetzen konnten. Das bei den noch begrenzten parlamentarischen Mitentscheidungs- und Kontrollrechten sichtbare „Demokratiedefizit" der EG wird insofern zum Teil durch gemeinschaftsrechtliche Erweiterung individueller Freiheits-, Gleichheits- und Rechtsschutzgarantien der Gemeinschaftsbürger ausgeglichen. Auch die universellen Freiheits-, Gleichheits-, Eigentums- und Rechtsschutzgarantien des WTO-Rechts dienen nicht nur der wirtschaftlichen Wohlfahrt der Bürger, sondern ebenso ihrer Freiheit und Rechtsgleichheit sowie dem „demokratischen Frieden". Der „Kampf ums Recht" der Importeure, Produzenten und Verbraucher auf völkerrechtskonforme Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen und nicht-diskriminierenden Zugang zu den Weltmärkten wurde bislang allerdings vom EuGH und den staatlichen Gerichten kaum unterstützt: Sowohl die nationalen und EG-Bürokratien also auch die meisten nationalen und EGRichter halten außenpolitische Machtpolitik („Reziprozität") und Verzicht auf gerichtliche Durchsetzung völkerrechtlicher Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote für wichtiger als den Schutz der Freiheit und Rechtsgleichheit der EG-Bürger. Die gemeinschaftsrechtlichen Garantien zum Schutze der Grundrechtsinteressen der Bürger gegenüber politisch mächtigen Gruppeninteressen und bürokratische Eigeninteressen werden in den Außenhandelsbeziehungen der EG leider häufig nicht respektiert. Die Legitimität der EG als Rechtsgemeinschaft wird durch rechtswidrige Freiheitsbeschränkungen und Diskriminierungen im Bereich der Außenhandelspolitik von den EG-Institutionen selbst in Frage gestellt. V. Grundrechts- und völkerrechtskonforme Außenpolitik der EU als Verfassungsgebot Einige Konsequenzen der hier vorgeschlagenen Grundrechts- und völkerrechtskonformen Auslegung des Europarechts seien abschließend thesenartig zusammengefasst: 24 (1) Die Legitimität von EG- und EU-Recht leitet sich auch in den völkerrechtlichen Außenbeziehungen aus den Grundrechten der Bürger und der parlamentarischen Ratifikation der EG- und EU-Verträge ab. Die Grundrechte verlangen eine auf Maximierung der Freiheits- und Gleichheitsrechte der EG-Bür24 S. hierzu mein auf dem Kolloquium des Hamburger Europa-Kollegs über Welche Verfassung für Europa? am 27.11.1999 dargelegtes Thesenpapier.
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ger gerichtete Politik auch in den grenzüberschreitenden Beziehungen. Art. 11 EUV bestätigt dieses Ziel der „Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" als Verfassungsgebot der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP). (2) Die EG-Verfassung (z.B. Art. 302—307) beruht auf dem Prinzip völkerrechts-konformer Integration und erkennt die Verfassungsfunktionen völkerrechtlicher Bindungen als „integrierender Bestandteil" des EG-Rechts mit Vorrang vor EG-Sekundärrecht ausdrücklich an (Art. 300 Abs. 7) 25 . Auch in der politischen EG-Praxis hingen Konsensfähigkeit und Erfolg der Zoll-, Wirtschafts-, Währungsunion und gemeinsamen EG-Politiken entscheidend von der Einhaltung völkerrechtsverbindlicher, parlamentarisch ratifizierter Regeln ab (Beispiel: GATT-, WTO- und IWF-Recht). Eine grundrechts- und völkerrechtskonforme Außenpolitik dient den außenwirtschaftlichen Wohlfahrtszielen und außenpolitischen Friedenszielen wirksamer als die von protektionistischen Interessengruppen und EG-Bürokratien oft bevorzugte, völkerrechtswidrige Machtpolitik. (3) Nationalstaaten und auch die EG sind aus innenpolitischen Gründen zum Abbau ihrer Ausländerdiskriminierung oft nur aufgrund gegenseitiger völkerrechtlicher Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote in der Lage. Derartige Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote - z.B. in Menschenrechtskonventionen, Niederlassungs- und Investitionsschutzverträgen, ILO- und WIPOKonventionen - haben Grundrechtfunktionen für die grenzüberschreitende Ausübung individueller Freiheits- und Gleichheitsrechte. Sie werden von staatlichen Gerichten in der EG daher regelmäßig direkt zugunsten der Bürger angewandt. Freihandelsgarantien wurden dagegen bislang vom EuGH nur innerhalb von Freihandels- und Zollunionsabkommen als individuelle Grundfreiheiten geschützt. Die gerichtliche Ignorierung der Völker- und gemeinschaftsrechtlich verbindlichen Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote des GATT/WTORechts seitens des EuGH widerspricht den Grundrechts-, Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien des Gemeinschaftsrechts und lässt sich Völker- und gemeinschaftsrechtlich (z.B. mit dem Reziprozitätsprinzip) nicht überzeugend begründen 26. 25 Ausfuhrlich zum gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz völkerrechtskonformer Integration E. U. Petersmann, Kommentierung von Artikel 234, in: v. d. Groeben / Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, 5. Aufl., Bd. V, 1997, S. 564 ff. 26 Die im Urteil C-149/96 vom 23.11.1999 vom EuGH mit Art. 22 der WTO-Streitbeilegungsvereinbarung begründete Ablehnung einer gerichtlichen Kontrolle der Einhaltung des WTO-Rechts durch die EG ist ein erneutes Beispiel für die bei den EuGHRichtern verbreitete Unkenntnis des WTO-Rechts (Art. 22 schränkt nicht die Verbindlichkeit des WTO-Rechts, sondern nur das Recht zu Gegenmassnahmen ein) und setzt die für den EuGH leider traditionelle Ignorierung von GATT- und WTO-Recht fort. Zu den politischen Motiven dieser EuGH-Rechtsprechung vergleiche die deutliche Kritik von Generalanwalt Tesauro in seinen Schlussanträgen zum Hermes-Fall (Rs. C-53/96, EuGH
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(4) Die etwa 30 GATT- und WTO-Streitbeilegungsberichte über Verletzungen von GATT / WTO Recht seitens der EG bestätigen, dass die Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote des G ATT / WTO-Rechts von den Gemeinschaftsorganen häufig verletzt werden. Derartige Völkerrechtsverletzungen verstoßen gleichzeitig gegen EG-Verfassungsrecht (z.B. das Zollunionsprinzip, den Grundsatz völkerrechtskonformer Integration) und haben desintegrierende Rückwirkungen auf den EG-Binnenmarkt und auf die rechtliche und demokratische Legitimität der EG (Beispiel: die seit 1993 offensichtlich völkerrechtswidrige Bananenmarktordnung der EG). Die häufige Verletzung von Völkerund Gemeinschaftsrecht durch EG-Kommission and EG-Rat, und deren gerichtliche Tolerierung durch den EuGH ungeachtet der parlamentarischen Ratifizierung der gemischten WTO-Abkommen und des Fehlens einer EG-Kompetenz zum Völkerrechtsbruch, zeigen grundlegende Verfassungs-, Rechtsstaats- und Demokratiedefizite der EG-Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung. (5) Die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Ziele der Wirtschafts-, Währungs-, Außen-, Sicherheits-, Asyl- und Justizpolitik der EU erfordert eine Stärkung der Völkerrechtsverfassung der EU auf der Ebene des EU-Primärrechts (z.B. Klarstellung der Völkerrechtspersönlichkeit der EU, generelles Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge) und des EU-Sekundärrechts (z.B. Gerichtsschutz gegenüber völkerrechtswidrigem EG-Sekundärrecht und demokratisch nicht legitimierten „ausbrechenden Rechtsakten" der EG). (6) Die Verwirklichung der Unionsziele erfordert eine aktivere Völkerrechtspolitik der EU (z.B. für die Anpassung des Völkerrechts weltweiter Organisationen an das gemeinschaftsrechtliche Erfordernis einer EG-Mitgliedschaft in UNO und UN-Sonderorganisationen wie dem IWF). „Gemischte" Völkerrechtsverträge und „Doppelmitgliedschaft" von EG und EG-Mitgliedstaaten in internationalen Organisationen (z.B. WTO) sind wegen ihrer „doppelten Rechtsschutzmöglichkeiten" gegenüber Verletzungen völkerrechtlicher Freiheitsgarantien und Diskriminierungsverbote vorteilhafter für die EG-Bürger als reine Gemeinschaftsabkommen (Beispiel: die zahlreichen GATT-Streitbeilegungsentscheidungen über völkerrechtswidrige EG-Agrarmarktbeschränkungen). Ähnlich wie im Rahmen bilateraler Freihandels-, Assoziations- und Europaabkommen sollte das interne EG-Recht (z.B. Wettbewerbsrecht) als Modell für EG-Initiativen zur Reform auch weltweiter Völkerrechtsorganisationen verwendet werden (z.B. WTO-Wettbewerbsrecht, Einsetzung eines beratenden, repräsentativen WTOWirtschafts- und Sozialausschusses nach dem Vorbild des EG-Wirtschafts- und Sozialausschusses).
Slg. 1998, 1-3603, 3606 ff.). S. dazu auch den nachfolgenden Beitrag von Nettesheim (bei Fn. 37 ff.).
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(7) Das unter aktiver Mitwirkung der EU entstehende „internationale Verfassungsrecht" (z.B. obligatorischer WTO-Gerichtsschutz völkerrechtlicher Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsgarantien, humanitäre EU-Interventionen zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen) sollte als Chance für gemeinschafts- und völkerrechtliche Verfassungsreformen genutzt werden (z.B. innergemeinschaftliche Beachtung von WTO-Streitbeilegungsentscheidungen als „res judicata", gemeinschaftsrechtliche Repräsentation der Währungsunion im IWF und der GASP im UN-Sicherheitsrat). Die EU sollte Vorbild für völkerrechtskonforme Außenpolitik sowie Initiator fur die notwendigen Verfassungsreformen des Völkerrechts werden anstatt durch völkerrechtswidrige Machtpolitk (Beispiel: die neo-koloniale Bananenpolitik) das Völker- und Gemeinschaftsrecht und die demokratische Legitimität der EU zu schwächen. Die „Unionsbürgerschaft" (Art. 17-22) sollte durch gemeinschaftsspezifische Grund- und Menschenrechte erweitert und Leitbild für ein kosmopolitisches Weltbürgerrecht werden.
Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung Zur Entwicklung der Ordnungsformen des internationalen Wirtschaftsrechts Von Martin Nettesheim
Zu den wesentlichen Forschungsschwerpunkten Thomas Oppermanns gehört neben dem Kulturverwaltungsrecht und dem Europarecht das internationale Wirtschaftsrecht. Thomas Oppermann trieb die Erforschung und Entwicklung dieses Rechtsgebiets seit Mitte der achtziger Jahre mit gewichtigen und wegweisenden Studien voran. Seiner Analyse widmete sich auch eine von ihm gegründete und von der DFG finanzierten Forschungsgruppe, aus deren Mitte wichtige Studien zu Einzelaspekten des Wirtschaftsvölkerrechts hervorgingen. Thomas Oppermann begleitete das internationale Wirtschaftsrecht damit in einer seiner tiefgreifendsten und bedeutsamsten Umbruchsphasen. Nicht nur hat sich das internationale Wirtschafts recht in den letzten Jahren so schnell wie kaum eine andere Materie des Völkerrechts verändert 1. Vor allem hat diese Teilrechtsordnung des Völkerrechts mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 2 einen erheblichen Entwicklungsschub erfahren 3. Inzwischen wird häufig von der „Verfassung" der WTO gesprochen; ebenso liest man immer wieder das Wort von der konstitutionellen Qualität des WTO-Systems4. Hinter diesen Redewendungen steht eine Sichtweise, derzufolge die Geschichte der völkerrecht1
Überblick bei P. Verloren Economic Law, 1981.
van Themaat, The Changing Strukture of International
2 Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) vom 15.4.1994, BGBl. II S. 1625, ABl. EG 1994 L 336 S. 3. Allgemein: R. Senti , GATT - WTO. Die neue Welthandelsordnung nach der Uruguay-Runde, 1994; H. Hauser/K.-U. Schanz, Das neue GATT. Die Welthandelsorganisation nach dem Abschluß der Uruguay-Runde, 1995; T. Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO), RIW 1996, 919 ff.; D. Thürer/S. Kux, GATT 94 und die Welthandelsorganisation, 1996; Ρ T. StolL Die WTO, ZaöRV 54 (1994), 241 ff. 1
Zum Einfluß des internationalen Wirtschaftsrechts auf das allgemeine Völkerrecht D. M. Mcrae, The Contribution of International Trade Law to the Development of International Law, RdC 260 (1996), 103 ff. 4 Vgl. auch E.-U. Petersmann, From the Hobbesian International Law of Coexistence to Modern Integration Law. The WTO Dispute Settlement System, Journal of International Economic Law 1 (1998), 175 ff.
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Martin Nettesheim
liehen Ordnung des internationalen Wirtschaftsgeschehens mit der Gründung der WTO einen qualitativen Sprung gemacht hat und in eine neue Epoche eingetreten ist. Es ist das Anliegen dieser Untersuchung, diese These durch eine Analyse des WTO-Statuts verfassungstheoretisch zu überprüfen. Die Prüfung soll auf dem Hintergrund einer Skizze der wesentlichen Entwicklungschritte des internationalen Wirtschaftsrechts erfolgen. Dabei erweist sich zur Beschreibung der Geschichte des internationalen Wirtschaftsrechts die Unterscheidung von kontraktualistischem, institutionellem und konstitutionellem Ordnungsmodus als fruchtbar. Die Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß das internationale Wirtschaftsrecht in Gestalt der WTO in der Tat im Begriffe ist, den Übergang vom etatistisch geprägten und souveränitätsorientierten System des westfälischen Völkerrechts zu einem konstitutionell geprägten supranationalen System zu vollziehen. Zugleich aber zwingen die Ergebnisse der Untersuchung zu der Schlußfolgerung, daß der Schritt zur konstitutionellen Ordnung bislang noch nicht vollzogen wurde. Noch ist die Geschichte der völkerrechtlichen Ordnung internationalen Wirtschaftsgeschehens nicht in eine neue und dritte Epoche eingetreten. I. Das Zeitalter des Kontraktualismus 1. Die Durchstaatlichung des Wirtschaftsgeschehens 5 Ordnungsformen des modernen Wirtschaftsvölkerrechts treten erstmalig zu dem Zeitpunkt in Erscheinung, zu dem sich das Herrschaftsprinzip monopolistischer Territorialhoheit herauszubilden beginnt und das feudale Geflecht von Abhängigkeitsverhältnissen zurückdrängt 6. In diesem Prozeß der Staatswerdung, 5 Die Frage, inwieweit sich bereits in der klassischen Antike Formen des Völkerrechts nachweisen lassen, soll hier nicht beantwortet werden. Sie wird bekanntlich nicht einheitlich beantwortet. M.E. ist es sinnvoll und zweckmäßig, das Zeitalter des Völkerrechts im heutigen Sinne mit der Entstehung der neuzeitlichen Staatsidee einsetzen zu lassen. Auch wenn außer Frage steht, daß zwischen den Herrschaftsträgern früherer Zeiten Verträge abgeschlossen worden sind, ist doch zweifelhaft, ob diese Verträge als solche völkerrechtlicher Natur angesehen werden sollten. Zu sehr unterscheiden sich die rechtlichen Strukturen eines antiken Verbandes von jenen eines modernen Staates, als daß ihr Zusammenwirkung mit dem Zusammenwirken der Staaten gleichgesetzt werden könnte. Der Verzicht auf eine begriffliche und kategorische Unterscheidung ist wenig erkenntnisdienlich. Im übrigen sind Kenntnisse über das Rechtsregime, auf dessen Hintergrund diese Verträge abgeschlossen wurden, kaum vorhanden; über das hinter den (sekundären) Verträgen stehende (primäre) Vertragsrecht der damaligen Zeit ist wenig bekannt. Wer vom Völkerrecht der Antike spricht, muß einräumen, daß dessen Strukturen uns fremd sind. 6
Darstellungen der Entwicklung des Wirtschaftsvölkerrechts bei G. Erler, Grundprobleme des Internationalen Wirtschaftsrechts, 1956; G. Schwarzenberger, Standards for International Economic Law, The International Law Quarterly 2 (1948), 402 (408
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der im 14. Jahrhundert einsetzte und mit der Herausbildung des absolutistischen Fürstenstaates im 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt erlebte, verwirklichte sich die Idee der einen, ausschließlichen und souveränen Herrschaftsgewalt, der ein Gebiet und die dort befindlichen Menschen unterworfen sind. Im 14. Jahrhundert setzte folgerichtig auch die „Durchstaatlichung" des Wirtschaftsgeschehens ein. Sie manifestierte sich nach innen durch die schrittweise Begründung einer staatlichen Wirtschaftsordnung, die sich zur unabdingbaren Grundlage wirtschaftlichen Handelns entwickelte, zugleich aber auch diesem Handeln im Lichte der „Staatsraison" inhaltliche Grenzen setzte. Der werdende Staat nahm die Regelung des Wirtschaftsrechts und die Ordnung des Berufswesens in seine Hände; er nahm sich schrittweise auch der Aufgabe einer Bereitstellung und Gewährleistung der Währung an. Nach außen trat die werdende Staatlichkeit durch den Anspruch einer Regelung und Ordnung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsgeschehens in Erscheinung. Im Prozeß der „Durchstaatlichung" 7 des zwischenstaatlichen Wirtschaftsgeschehens bildeten sich bereits im 14. und 15. Jahrhundert viele der außenwirtschaftsrechtlichen Steuerungsmittel heraus, die das staatliche Außenwirtschaftsrecht bis heute prägen8. Nicht nur nahm sich die werdende Staatsgewalt des Zollrechts und der Außenhandelsverbote an, die der Kompetenz der Städte und sonstigen Untergliederungen entzogen und zum Gegenstand staatlicher Rechtsetzung gemacht wurden. Außenhandelspolitik betrieb der Staat zudem durch die Begründung von Handelsmonopolen, wie sie nicht zuletzt ab dem 17. Jahrhundert im Handelsverkehr zwischen Kolonialstaat und Kolonie begründet wurden. Auch das Instrument des handelspolitischen Boykotts machte sich bereits früh bemerkbar; schon im 16. und 17. Jahrhundert wurden die europäischen Kriege nur zu häufig auch von handelspolitischen Sanktionen begleitet. Es gehörte zu den Ausprägungen der Idee souveräner Staatlichkeit, daß es eine völkerrechtliche Pflicht zur Freistellung und Ermöglichung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs nicht geben konnte. Das klassische Völkerrecht begriff die Freiheit eines Staates, seine Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland zu regeln, als Ausdruck der staatlichen Souveränität. Es war den Staaten anheimgestellt zu entscheiden, ob und wie sie grenzüberschreitenden Handel ermöglichen wollten. Es blieb der Willkür der Träger der Staatsgewalt überlassen, über Öffnung und Abschließung zu bestimmen. Das allgemeine Völkerrecht kannte zu keiner Zeit — und bis heute nicht — ein Gebot, wonach Staaten am ff.); U. Scheuner, Die völkerrechtlichen Grundlagen der Weltwirtschaft in der Gegenwart, Verhandlungen des 40. DJT, 1954, Bd. II, S. A 27; E. L. Heckscher, Der Merkantilismus, 2 Bde., 1932; vgl. auch F.A. Frhr. v.d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952. 7 8
G. Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, 1951, S. 22.
Zu den Instrumenten der Außenhandelssteuerung G. Erler, Grundprobleme des Internationalen Wirtschaftsrechts, 1956, S. 56 ff.
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internationalen Handel teilzunehmen hätten. In den vagen Grenzen des allgemeinen Schädigungsverbotes und vorbehaltlich vertraglicher Bindungen konnte und kann ein Staat über den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr frei bestimmen. 2. Ordnung durch Vertrag Unter Ordnungsformgesichtspunkten war die erste Entwicklungsphase des internationalen Wirtschaftsrechts durch das Instrument des bilateralen Austauschvertrages gekennzeichnet. War den Staaten nach allgemeinem Völkerrecht die Regelung des Außenwirtschaftsverkehrs ins Belieben gestellt, bedurfte es vertraglicher Absprachen, um eine rechtliche Pflicht der je anderen Seite zur Öffnung des Marktes zu begründen. Nur so ließ sich Verhaltenssicherheit herstellen. Auch zur Abgrenzung handelspolitischer Sphären oder zur Verwirklichung sonstiger handelspolitischer Ziele bedurfte es des Einsatzes der Vertragsform. Zwischenstaatliche Verträge zur Regelung des grenzüberschreitenden Grenzverkehrs wurden von den Trägern der werdenden Staatsgewalt bereits im 14. und 15. Jahrhundert abgeschlossen. Sie prägten auch in den darauffolgenden Jahrhunderten das Wirtschaftsvölkerrecht 9. Einige dieser Verträge erlangten Berühmtheit und Vorbildcharakter 10. Hinter der Ordnungsform des Vertrages stand die Idee der kontraktualistischen Reziprozität. Die völkerrechtliche Ermächtigung zum Abschluß wirtschaftsrechtlicher Verträge setzt die Staaten in die Lage, in Absprache mit ihren Vertragspartnern ihr jeweiliges Eigeninteresse zu verwirklichen (do ut des) u. Welchen Inhalts die Vereinbarungen waren, die von den Staaten getroffen wurden, bestimmte das Völkerrecht jenseits bestimmter Schranken 12 grundsätzlich nicht. Die Funktion des Völkerrechts war es, Kompetenzen zu verleihen; demgegenüber war dem klassischen Völkerrecht ein inhaltlicher Ordnungsanspruch fremd. Insbesondere begriff es dieses Recht nicht als seine Aufgabe, für die materiell-reziproke Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung in einem bi- oder plurilateralen Vertrag zu sorgen. Die Ordnungsform des Vertrages sicherte formale Gleichheit. Unmittelbar war das Ziel des Kontraktualismus nicht die Fixierung eines gerechten Austauschergebnisses; hierzu hätte es der Festlegung materieller Vorgaben bedurft. Das Ziel des Kontraktualismus war es, über die Ermächtigung der Staaten zur Verfolgung ihres je individuellen Inter9 U. Scheuner, Zweiseitige Handelsverträge und multilaterale Handelsvereinbarungen, Friedenswarte 52 (1954), 97. 10
B. Nolde, Droit et Technique des Traités de Commerce, RdC 1924, Vol. II, S. 293.
11
L. Henkin, How Nations Behave. Law and Foreign Policy, 1968.
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Einschlägig sind vor allem Bestimmungen zum Schutze der Willensfreiheit der Vertragsparteien, Bestimmungen zum Schutze Dritter sowie Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts.
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esses auf prozedural-formalem Wege angemessene Lösungen Zustandekommen zu lassen. Das Völkerrecht stellte dem Staat denn auch kaum mehr als eine formale Rahmenordnung zur Verfügung, die den rechtlich verbindlichen Abschluß handelsrechtlicher Abkommen ermöglichte. Den Staaten blieb es freigestellt, diesen Abkommen einen Inhalt zu geben. Bei der Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen waren die Staaten im wesentlichen frei. Es war weitestgehend dem Verhandlungsgeschick und der Potenz der Staaten überlassen, wie sie ihre Interessen im internationalen Raum durchzusetzen vermochten. Auch der sog. „ungleiche" Vertrag war ein gültiger Vertrag. Die Ordnungsform des bilateralen Vertrages ist im internationalen Wirtschaftsrecht nicht in Vergessenheit geraten. Noch heute überzieht die Welt ein kaum zu überschauendes Geflecht bilateraler Handels- und Niederlassungsverträge. Auch hat der Kontraktualismus seine überragende rechtliche Bedeutung in manchen Sachbereichen nicht verloren. Gerade im internationalen Waren- und Dienstleistungshandel zeigen sich allerdings inzwischen die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Die Kosten eines Systems bilateraler Verträge sind hoch, die Effektivität der Regelung häufig gering. Der Kontraktualismus ist von effektiveren Ordnungsformen verdrängt worden. Bilaterale Verträge lassen sich zur Lösung punktueller Regelungsprobleme im Verhältnis zweier Staaten einsetzen; eine internationale Wirtschaftsordnung von hinreichender Stabilität und Effizienz läßt sich mit diesem Instrument aber nicht errichten 13. 3. Generalisierung durch Meistbegünstigung Diese Feststellungen gelten ungeachtet des Umstandes, daß sich mit dem Institut der Meistbegünstigungsklausel bereits im 15. Jahrhundert ein generalisierendes und egalisierendes Element der internationaler Ordnungsbildung entwikkelt hatte14. Zwei Beispiele der Verwendung derartiger Klauseln sollen hier erwähnt werden: Am 17. August 1417 schlossen Johann Herzog von Burgund und Heinrich V. von England einen Vertrag, der vorsah, daß englische Schiffe zur Benutzung der flandrischen Häfen „in derselben Weise, wie es die Franzosen, Holländer, Seeländer und Schotten tun werden", berechtigt sein sollen. In dem Londoner Handelsvertrag vom 22. Juli 1486, abgeschlossen zwischen 13
An die Seite bilateraler Verträge traten schon bald mehrseitige Verträge des Wirtschafts- und Handelsrechts; sie lassen sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert nachweisen. Im darauffolgenden Jahrhundert gewannen sie nicht nur im Bereich des Handels, sondern auch im Bereich des Währungs- und Verkehrsrechts an Bedeutung. Dem Zuschnitt des damaligen Völkerrechts entsprechend beschränkte sich der Kreis der Vertragspartner zunächst auf die Mitglieder des ius publicum europeum. In der Mitte des 19. Jahrhunderts weitete sich der Kreis der Vertragspartner; mit der Hohen Pforte nahm 1856 erstmalig ein außereuropäischer Staat am Verhandlungstisch Platz. 14 F. Bonhoefer, Die Meistbegünstigung im modernen Völkerrecht, 1930; A. Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 502.
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Heinrich VII. und Franz Herzog von der Bretagne, findet sich die Klausel, daß die englischen Kaufleute in den Städten der Bretagne „alle solche und gleiche Freiheiten genießen sollen wie die übrigen fremden Kaufleute". Sie sollen „ebenso behutsam und gnädig" behandelt werden wie die Kaufleute anderer Nationen, die die Bretagne, seine Städte und Orte bereisen. Zugleich wird den bretonischen Kaufleuten die gleiche Rechtstellung in England, Irland und Calais eingeräumt. Seit dieser Zeit gehören Klauseln dieser Art zu den Standardelementen völkerrechtlicher Ordnung der Wirtschaftsbeziehungen. Sie finden sich nicht nur in handelspolitischen Austauschverträgen - zunächst in Form bedingter, später dann in Form unbedingter Gewährleistungen - , sondern gehören auch zu den konstitutiven Elementen des Vertragsrechts internationaler Organisationen wirtschaftsordnender Funktion. Es wäre verfehlt, die vertragliche Vereinbarung der Meistbegünstigung als Ausdruck einer universalistischen Idee anzusehen, der zufolge sich der europäische Handel im Rahmen einer auf Gleichbehandlung begründeten einheitlichen Gemeinschaftsordnung abzuspielen hat. Nicht kollektivistische Ordnungsvorstellungen standen hinter der Pflicht zur Meistbegünstigung, sondern die im Gerechtigkeitsempfinden tief verwurzelte Abneigung der Kaufleute vor Diskriminierung. Daß den Meistbegünstigungsklauseln in ihrer Rechtswirkung eine Generalisierungs- und Harmonisierungsfunktion zukommt, wird damit nicht verkannt. Durch die unbedingte Meistbegünstigungsklausel werden Absprachen in der Tat faktisch generalisiert. Auch dieser Typus der Meistbegünstigungsklausel begründet aber keine Pflicht zur Liberalisierung und beläßt den Staaten die Freiheit der Entscheidung zwischen handelspolitischer Liberalität und Protektionismus. Als Ausdruck eines ,,Prinzip[s] der multilateralen Liberalisierung" 15 läßt sich die Meistbegünstigungsklausel schwerlich deuten. Die Pflicht zur Meistbegünstigungsklausel nimmt den Staaten zwar die Freiheit zur relativen Differenzierung, tastet aber die Befugnis zur absoluten Gestaltung nicht an. Insofern spricht manches dafür, den Wert der Meistbegünstigungsklausel vor allem im sozialpsychologischen Bereich des Gerechtigkeitsempfindens zu verorten. Entsprechendes gilt für das Prinzip der Inländerbehandlung. Die Instabilität einer grundsätzlich bilateral organisierten und vom Prinzip der Verhandlungsdiplomatie beherrschten Ordnung läßt sich durch die Meistbegünstigungsklausel nicht beseitigen, wie nicht zuletzt die Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre belegen. II. Phase der Institutionalisierung Mit der Entwicklung der Ordnungsform einer internationalen Organisation trat das internationale Wirtschaftsrecht in seine zweite Entwicklungsphase ein. 15
G. Erler, Grundprobleme des Internationalen Wirtschaftsrechts, 1956, S. 66.
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In der Gründung erster internationaler Organisationen manifestierte sich die Tendenz zur Institutionalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Institution, Verfahren und Partizipationsrecht ermöglichten es, Spannungen zu elimieren, Rechtsicherheit zu gewährleisten und dem funktionalen Erfordernis einer die Interessen aller teilnehmenden Staaten einbeziehenden Regelung Genüge zu tun. Viele der Schwächen des Kontraktualismus konnten dadurch überwunden werden 16. 1. Die Ordnungsform der internationalen Organisation Es zeichnet die Ordnungsform der internationalen Organisation 17 aus, daß sie den materiellen Aspekt der Festlegung von Spielregeln und den institutionellen Aspekt der Einsetzung von handlungsbefähigten Exekutiv- bzw. Durchsetzungsorganen miteinander verbindet. Als Internationale Organisationen wird üblicherweise ein Verband bezeichnet, der die folgenden Voraussetzungen erfüllt: 18 -
Er muß durch (regelmäßig: multilateralen'^) völkerrechtlichen Vertrag begründet worden sein und eine mitgliedschaftliche Struktur aufweisen; das Grundstatut muß die Einsetzung von Organen vorsehen; es muß diese Organe zur Wahrnehmung von Rechtsetzungs-, Verwaltungsbzw. Durchsetzungs- oder auch Streitschlichtungsaufgaben ermächtigen.
Regelmäßig finden sich im Grundstatut einer internationalen Organisation auch materielle Regelungen, die die Mitgliedstaaten im Umgang miteinander zu beachten haben (code of conduct). 2. Die Entstehung und Verbreitung dieser Organisationsform Erste Formen institutionalisierter Ordnung des internationalen Wirtschaftsgeschehens traten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Leben20. Der 16
Vgl. H. Mosler, The International Society as a Legal Community, 1980, S. 175 ff.
17
Zur Begriffsgeschichte R. Potter , Origin of the Term International Organization, AJIL 39 (1945), 803. Vgl. z.B. H. G. Schermers /Ν. M. Blokker , International Institutional Law, 3. Aufl. 1995, §§ 32 ff.; R. Charpentier , Institutions Internationales, 8. Aufl. 1987, S. 61; E. Klein, Die Internationalen Organisationen als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, S. 267 (278); V Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, 1990, S. 68, 348. 19 Internationale Organisationen können auch durch bilateralen Vertrag gegründet werden (vgl. E. Klein, Die Internationalen Organisationen als Völkerrechssubjekte, in: W. Graf Vitzthum [Hrsg.], Völkerrecht, 1997, S. 267 [278]). Regelmäßig werden diese Organisationen aber nicht die funktionale Leistungsfähigkeit einer multilateral gegründeten Organisation aufweisen. 20
2 *
I. Seidl-Hohenveldern
/ G. Loihi
Das Recht der Internationalen Organisationen
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Bedarf institutionalisierter Ordnung ergab sich zunächst im Bereich technischer Koordination 21. Die frühsten Beispiele internationaler Organisationen lassen sich im Bereich der Ordnung des Post- und Fernmeldewesens, der Vereinheitlichung der Vorschriften zum Schutzes des geistigen Eigentums sowie im Bereich des Eisenbahn- und Transportwesens nachweisen. Während sich die Staatengemeinschaft im technischen Bereich schon früh dazu bereitfand, den Regelungs- und Koordinierungsbedarf durch Gründung internationaler Organisationen zu befriedigen, entwickelte sich diese Bereitschaft im Hinblick auf die als wesentlich „politisch" begriffene Regelung des internationalen Waren- und Dienstleistungshandels sowie des Währungswesens erst im zwanzigsten Jahrhundert. Ein echter Wendepunkt läßt sich erst in den späten vierziger Jahren erblicken, in denen sich die westlich-liberale Gruppe der Staaten nicht zuletzt aufgrund amerikanischen Drucks zum Abschluß von Verträgen entschloß, die einer liberalisierten Weltwirtschaft den Rahmen verleihen sollten. Daß die Verwaltung dieses Weltwirtschaftssystem in die Hände internationaler Organisationen gelegt werden mußte, stand außer Frage; ein System bi- oder multilateraler Austauschverträge hätte niemals vergleichbar effektiv wirken können. Das zu schaffende System sollte sich aus dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank sowie der International Trade Organisation zusammensetzen. Bekanntermaßen trat der Vertrag zur Gründung der ITO vor allem aufgrund des Widerstandes des U.S.amerikanischen Congresses nie in Kraft. Das provisorisch in Kraft gesetzte GATT entwickelte sich schnell zu einem erfolgreichen Ersatz - nicht zuletzt, weil es sich praeter legem institutionell verfestigte. Gedacht ist dabei vor allem an das GATT-Sekretariat und an die zur Streitbeilegung eingesetzten Ausschüsse (panels). Rechtlich gesehen verlor das GATT seine unzeitgemäße Natur als bloßer multilateraler Vertrag im Vorfeld internationaler Organisiertheit aber nicht. Erst mit der Gründung der WTO zum 1. Januar 1995 wurde dieser Mangel beseitigt. Damit fand das internationale Wirtschaftsrecht auch im Handelsund Dienstleistungsbereich zu jener Formensprache, die es anderswo längst zu beherrschen gelernt hatte und die die zweite Phase seiner Entwicklung kennzeichnet. Mag sich auch die vertragliche Struktur des GATT 1947 mangels institutioneller Verfestigung als unzeitgemäß dargestellt haben, so läßt sich doch nicht verkennen, daß sich im Wirken des GATT 1947 eine bemerkenswerte Zukunfts-
einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 6. Aufl. 1996, Rn. 207 ff.; H. Wehberg, Entwicklungsstufen der internationalen Organisationen, Friedenswarte 52 (1954), 193 ff.; nach H. Köck/P. Fischer, Grundzüge des Rechtes der Internationalen Organisationen, 2. Aufl. 1986, S. 31 ff. sollen die Wurzeln bereits in der Antike liegen. 21 Eine zweite Wurzel findet die Idee der internationalen Organisation in den Friedenskongressen des 19. Jahrhunderts, die auf Erhaltung und Sicherung eines europäischen Gleichgewichts abzielen („Europäisches Konzert"). Dazu W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, 1954.
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gerichtetheit ausdrückte 22. Damit meine ich nicht nur den Erfolg, den das GATT 1947 bei der rechtlichen Ordnung von Bereichen hatte, die außerhalb der ursprünglichen Reichweite seiner Vertragsartikel lagen. Ebensowenig ist lediglich sein Erfolg bei der Bekämpfung neuer protektionistischer Techniken angesprochen. Angesprochen ist vor allem der Umstand, daß sich in den knapp fünfzig Jahren seines Bestehens innerhalb des GATT 1947 ein Wandel vollzog, der sich mit den von John H. Jackson eingeführten Schlagworten vom „negatiation or diplomacy-oriented approach" und dem „rules-oriented approach" anschaulich machen läßt 23 . Während die vertragliche Struktur des GATT 1947 ebenso wie das Auftreten seiner Vertragspartner in den Anfangsjahren beinahe ausschließlich von der Idee der Verhandlungsdiplomatie geprägt war, verrechtlichte sich der Prozeß im Laufe der Jahre nicht unerheblich. Hierzu trug nicht nur der Umstand bei, daß die im Zuge nachfolgender Verhandlungsrunden vereinbarten „side agreements" die Reichweite des GATT 1947 ausdehnten. Einen Verrechtlichungsschub erfuhr das GATT 1947 vor allem durch die — praeter legem bewirkte — Einfuhrung eines Streitbeilegungsverfahrens, dessen Existenz und Funktionsweise die Rechtsqualität der eingegangenen Verpflichtungen den Vertragsparteien ins Bewußtsein hob. Diesen Entwicklungen zum Trotze darf der Grad der Verrechtlichung allerdings auch nicht überschätzt werden. Nicht nur blieb es jedem Vertragspartner überlassen, sich unter den Nebenabkommen jene herauszupicken, die den jeweiligen politischen Vorstellungen genehm waren; so entstand ein bunter Flickenteppich vertraglicher Bindungen24. Bedeutsam war auch, daß das Streitbeilegungsverfahren nur dann zu einem rechtlich bindenden Spruch führen konnte, wenn der zu verurteilende Staat die Annahme des Richterspruches nicht verweigerte: Jeder Staat hatte es so in der Hand, eine Verurteilung rechtlich zu verhindern. Daß darunter die Effektivität des Verfahrens erheblich litt, bedarf keiner Begründung. Und doch bleibt festzuhalten, daß sich bereits in der Spätphase des GATT jener Umschlag des politischen Leitbildes abzeichnete, der mit der Gründung der WTO dann eine erste, wenn auch noch recht vorläufige rechtliche Form annahm. I I I . An der Schwelle zum Konstitutionalismus Mit der Gründung der WTO ist ein Verband zur Entstehung gelangt, der nach Funktion, Struktur und Telos über die überlieferte Idee des Institutionalismus hinausweist. Mit der Gründung der WTO findet im internationalen Wirtschafts22
Siehe E. von Hippel, Grundfragen der Weltwirtschaftsordnung, 1980.
23
Zuletzt J.H. Jackson, The World Trade Organization. Constitution and Jurisprudence, 1998. 24
D. M. Mcrae /J. C. Thomas, The GATT and Multilateral Treaty Making. The Tokyo Round, AJIL 77 1983, 51; J. H. Jackson / J.-V. Louis/M. Matsushita, Implementing the Tokyo Round. National Constitutions and International Economic Rules, 1984.
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recht die Idee konstitutioneller Herrschaft einen ersten positiv-rechtlichen Kristallisationspunkt. Es zeichnet sich ab, daß die langjährig vorherrschende Leitmaxime institutioneller Ordnung der Weltwirtschaft in Form internationaler Organisationen durch die Idee konstitutioneller Ordnung überlagert und abgelöst werden wird. Ernst-Ulrich Petersmann macht die Größe des vollzogenen Entwicklungssprunges deutlich, wenn er von der „Transformation of the World Trading System throught the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization" 25 spricht. Die damit anbrechende dritte Epoche läßt sich mit dem Begriff des Konstitutionalismus anschaulich beschreiben 26. Vielfach wird inzwischen von der „Verfassung" der WTO gesprochen; ihrem Rechtssystem werden konstitutionelle Qualitäten zugeschrieben27. Dieser Sprachgebrauch ist semantisch möglich: Nirgends wird der Verfassungsbegriff mit verbindlicher Wirkung definiert. Insofern läßt er sich auch freigiebig auf eine Ordnung wie jene der WTO anwenden28. Der Verfassungsbegriff allerdings erleidet durch semantische Beliebigkeit Schaden. Der Verfassungsbegriff gehört dem Arsenal der politischen Theorie an; insofern steht er in einer Verwendungstradition, mit der nicht leichtfertig gebrochen werden sollte. Dies gibt Anlaß zu der Frage, inwieweit sich in den Strukturen der WTO bereits heute die Wesenszüge der konstitutionellen Ordnungsform auffinden lassen. 1. Die Idee des Konstitutionalismus Dem Begriff der Verfassung werden ebenso wie jenem des Konstitutionalismus durchaus unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Teilweise bezeichnet man als Verfassung die prägenden Kennzeichen eines gegebenen (empirischen) Zustands29. Die „Verfassung der Weltwirtschaft" ist diesem Begriffsverständnis zufolge die Essenz ihres Seins und Funktionierens. Diesem empirischen Verfas25
So der Titel des Aufsatzes in EJIL 6 (1995), 161.
2f t
Allgemein St. Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1995.
27
So z.B. J. H. Jackson, The World Trade Organization. Constitution and Jurisprudence, 1998, S. 1 ff. S. auch seinen nachfolgenden Beitrag in dieser Festschrift. 28 Teilweise meint man denn auch, konstitutionelle Qualität werde der WTO bereits durch die Grundsätze der Meistbegünstigung, Inländerbehandlung und Tranparenz verliehen. 24 So beispielsweise die Begrifflichkeit von T. Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in .P.C. MüUer-Graff / M. Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG, 1987, S. 53; P. Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: G. Brüggemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S. 73; P. Behrens, Weltwirtschaftsverfassung, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 2000, im Erscheinen; ähnlich: Ρ Badura, Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, JuS 1979, 205; J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992 (Vorträge und Aufsätze/Walter-Eucken-Institut, H. 137).
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sungsbegriff läßt sich ein solcher normativen Gehalts gegenüberstellen, demzufolge als Verfassung eine rechtliche Grundordnung mit normativem Anspruch zu bezeichnen ist. Während die erstgenannte Bedeutung der Kennzeichnung eines (wenn auch rechtlich geordneten) tatsächlichen Zustandes dient, geht es im Falle der letztgenannten Bedeutung um die Bezeichnung der rechtlich höchstrangigen Grundordnung eines Verbandes. Der Konstitutionalismus kreist um die Idee des Verbandes mit verfassungsrechtlichem Grundstatut. Konstitutionalismus ist diesem Verständnis zufolge der Inbegriff der Idee eines Gemeinwesens mit höchstrangig rechtlich eingesetzter und rechtlich gebundener Hoheitsgewalt. Als Verfassung ist danach ein rechtliches folgende Merkmale aufweist: 30
Grundstatut
zu bezeichnen, das
-
Es muß höchstrangiger Teil einer Rechtsordnung sein, in der zwischen dem Verfassungsrecht und nachrangigem Sekundärrecht normhierarchisch unterschieden wird, - es muß politische Herrschaft ermöglichen, indem es die Einsetzung von Organen und die Begründung von hinreichend gewichtiger Kompetenzen vorsieht 31 , - es muß die eingesetzten Organe dazu ermächtigen, auf das Individuum rechtsetzend und faktisch handelnd zugreifen zu können, - es muß die eingesetzte Herrschaftsgewalt durch prozedurale Verfahrensvorschriften, materielle Zielbestimmungen und Kompetenzschranken inhaltlich ausrichten, effektivieren und begrenzen; und - es muß schließlich die Individuen zu Verbandsmitgliedern machen, die die Rechtsordnung legitimatorisch zu tragen bestimmt sind. Damit sind notwendige Bedingungen benannt, die vorliegen müssen, um überhaupt von einer Verfassung im normativen Sinne sprechen zu können 32 . 30 Überlegungen zum Verfassungsbegriff insb. bei D. Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung 1991, S. 11; ders., Does Europe Need a Constitution?, European Law Journal 1 (1995), 282; U.K. Preuss , Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: ders. (Hrsg.), Der Begriff der Verfassung, 1994, S. 7, jeweils m.w.N. S.a. P. Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: Festgabe für U. Scheuner 1973, S. 19; M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1976; H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht - Politik - Verfassung, 1986, S. 261; W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945. 31
Auch im überstaatlichen Raum wird man den Verfassungshegriff Regelwerken vorbehalten müssen, die einen Herrschaftsverband mit territorial und funktional hinreichend gewichtigem Regelungsanspruch konstituieren. Nur dann kommt dem Regelwerk jener Charakter der Grundordnung eines wirklichkeitsmächtigen Herrschaftsverbandes zu, der das Wesen der Verfassung ausmacht. A u f der anderen Seite ist auch aus normativer Sicht Verfassungsbedarf nur dann zu erkennen, wenn einem Hoheitsträger Aufgaben und Funktionen von hinreichender Breite und hinreichendem Gewicht übertragen worden sind. 32
Zum Begriff der supranationalen Verfassung A. Stone Sweet, What is a Supranatio-
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2. Die WTO als Erscheinung konstitutionalisierter Ordnung? Im Kreis der Wissenschaftler des internationalen Wirtschaftsrechts besteht weitgehende Einigkeit, daß mit der Gründung der WTO ein qualitativer Sprung in der Ordnung der weltwirtschaftlichen Beziehungen gelungen ist. Ob mit dem Gründungsvertrag auch eine neue Epoche in der Entwicklungsgeschichte des internationalen Wirtschaftsrec/ite eingeleitet wurde, ist demgegenüber weniger sicher. Zur Beantwortung dieser Frage soll in einem ersten Schritt das geltende WTO-Statut auf seine konstitutionellen Qualitäten hin untersucht werden; in einem zweiten Schritt soll der Entwicklungsbedarf beleuchtet werden. a) Die Struktur
der Rechtsordnung
aa) Juridiflzierung Wie nie zuvor werden Interessenkonflikte im Recht der WTO einer detaillierten Regelung unterzogen und so verrechtlicht 33. Inzwischen sind nicht nur weite Bereiche, in denen zuvor die traditionellen Grundsätze des freien Interessenausgleichs galten, erstmalig überhaupt einer Regelung unterzogen worden. Geändert hat sich die Regelungsqualität auch in jenen Bereichen, in denen schon das GATT 1947 Geltung beanspruchte. Die eindeutigere Fassung der mitgliedstaatlichen Rechte und Pflichten, die Beseitigung von Ausnahmeklauseln, jedenfalls aber die Präzisierung ihrer Voraussetzungen, die Zurückdrängung „politischer" Vorbehalte, das Verbot bestimmter Protektionsformen sowie die weitere Verrechtlichung der verbleibenden handelspolitischen Schutzmaßnahmen: Jeder dieser Schritte nimmt dem internationalen Wirtschaftsrecht von jenem politischkoordinationsrechtlichen Charakter, der noch die wesentlichen Strukturen des GATT 1947 kennzeichnete, und verhilft ihm zu einer neuen Regelungsqualität. Die Akzente verschieben sich. An die Stelle einer zwar rechtlich eingefaßten, ansonsten aber bindungslosen internationalen Außenwirtschafts/?o/i7/& tritt der Vollzug international-außenwirtschaftsrechtlicher Pflichten. Der Gewinn dieser Verrechtlichung ist groß: Die Mitgliedstaaten können sich des Umstandes gewiß sein, daß die ihnen versprochenen Zugeständnisse anderer Staaten nicht einseitig entzogen werden dürfen. Nicht mehr die Macht des Stärkeren setzt sich im internationalen Handelsverkehr durch, sondern das jeweils bessere Recht ohne Ansehung seines Trägers. Die Handelsbeziehungen werden so vom Element des Politischen entlastet; Rechtssicherheit und Verhaltenssicherheit treten an die nal Constitution? An Essay in International Relations Theory, Review of Politics 56 (1994), 441. 33
A. Stone Sweet , The New GATT. Dispute Resolution and the Judicialization of the Trade Regime, in: M L. Volcansek (Hrsg.), Law Above Nations. Supranational Courts and the Legalization of Politics, 1997, S. 118.
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Stelle der Abhängigkeit von tagespolitischem Wohlgefallen. Hiervon profitieren auch die Subjekte des privaten Handelsverkehrs, die sich bei der Planung ihrer Vorhaben an einem festen und durchsichtigen Regelungsrahmen orientieren können. Die geschildeten Tendenzen belegen, daß der Modus der Verhandlungsdiplomatie im WTO-Recht an Bedeutung verliert und von Modi der Rechtsetzung und Rechtsbefolgung überlagert wird 34 . bb) Normhierarchische Ablösung einer Verfassung? Das internationale Wirtschaftsrecht hat so im WTO-Bereich in den letzten Jahren unzweifelhaft einen Juridifizierungsschub erlebt. Verrechtlichung bedeutet aber noch nicht notwendig Konstitutionalisierung. Wie weit, so läßt sich fragen, ist die Konstitutionalisierung der WTO-Ordnung vorangeschritten? In welchem Umfang hat sich das konstitutionelle Potential bereits realisiert? Nüchtern ist hierauf zu antworten: Der konstitutionelle Fortschritt ist bislang eher klein. Noch haben sich aller Juridifizierung zum Trotze in Aufbau und Gliederung der Rechtsordnung keine originär konstitutionellen Strukturen herausgebildet. Die normhierarchische Ablösung einer Verfassung ist bislang nicht eingetreten. Zwischen den grundlegenden Bestimmungen verfassungsrechtlicher Bedeutung und weniger wichtigen Bestimmungen des Wirtschaftsverwaltungsrechts wird bislang weder regelungstechnisch noch normenhierarchisch in hinreichendem Maße unterschieden. Im WTO-System äußert sich insofern die gleiche Schwäche, die sich auch im EU-Recht mit der dort nachweisbaren Überlastung der Gründungsverträge mit Ausführungs- und nachrangigen Bestimmungen bemerkbar macht. Im Lichte konstitutioneller Maßstäbe drückt sich hierin nur zu deutlich aus, daß die WTO im Prozeß der Konstitutionalisierung erst am Anfang steht. b) Die Verfaßtheit
politischer Herrschaftsgewalt
Zu den wesentlichen Kennzeichen einer Verfassung gehört die Konstituierung politischer Herrschaft. Verfassungen setzen Organe ein und begründen Kompetenzen, die zu rechtlichem und tatsächlichem Handeln mit hinreichender Wirksamkeit für das Individuum ermächtigen. Daß die WTO auf dem Weg der Konstitutionalisierung noch nicht allzuweit vorangeschritten ist, manifestiert sich auf diesem Hintergrund in dem Umstand, daß sie zwar eine organschaftliche Struktur aufweist (nachfolgend aa), daß aber die eingesetzten Organe politische Herrschaftsbefugnisse nur in geringem Umfang aufweisen (nachfolgend bb) und sie zu einem Durchgriff auf die Individuen bislang nicht berechtigt sind (nachfolgend cc). 34
Dazu auch K. Ipsen/U. R. Haltern, Rule of Law in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, RIW 1994, S. 717.
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aa) Die organschaftliche Struktur Als internationale Organisation weist die WTO eine organschaftliche Struktur auf. Hierin ist ein wesentlicher Entwicklungssprung über das GATT 1947 hinaus zu erblicken. Das GATT 1947 war ein völkerrechtlicher Vertrag, der von der Anlage seiner Bestimmungen her keine Organe einsetzte - und auch nicht einsetzen sollte, weil er als Teil der zu gründenden und mit Organen versehenen International Trade Organisation (ITO) konzipiert war. Nunmehr ist die institutionelle Struktur der WTO bereits im Vertrag selbst festgelegt. Ihr organschaftliches Grundgefüge entspricht in den wesentlichen Zügen weiterhin dem klassischen Muster internationaler Organisationen. Mit der Einsetzung einer Ministerkonferenz und eines Allgemeinen Rats sowie eines vom Generaldirektor geleiteten Sekretariats bewegt sich die WTO-Charta in überkommenen Bahnen, ohne daß der Spung zu einem System mit horizontaler Gewaltenteilung bzw. Gewaltenverflechtung gelänge. Lediglich die zur Streitschlichtung eingerichteten Ausschüsse sowie das Berufungsgericht fallen aus dem überkommenen Muster internationaler Organisationen heraus.
bb) Die Begründung politischer Herrschaftsgewalt Verfassungen konstituieren politische Herrschaft und binden sie ein. Den Begriff der Verfassung wird man daher Grundordnungen vorbehalten müssen, die den eingesetzten Organen die Kompetenz zu politisch gestaltendem Handeln verleihen. Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsauftrag sind unabdingbare Kennzeichen der Organe eines Verfassungsverbandes. Auch in dieser Hinsicht steht die WTO bislang erst am Anfang einer Konstitutionalisierung. Zwar wäre es unzutreffend, ihr jegliche Befähigung zu politisch-herrschaftlicher Gestaltung abzusprechen. Wesentliches Gewicht wird man jenen Kompetenzen, die die WTO dazu ermächtigen, Herrschaftsgewalt auszuüben, bislang nicht beimessen können. Daß die WTO ungeachtetet ihres Anspruchs auf umfassende Ordnung des internationalen Wirtschaftsgeschehens auf dem Weg der Konstitutionalisierung einer politischen Herrschaftsgewalt noch nicht weit vorangeschritten ist, manifestiert sich vor allem in dem Umstand, daß ihre Organe zu einer weltwirtschaftsrechtlichen „Gesetzgebung" nur in äußerst begrenztem Umfange befähigt werden. Eine allgemeine Kompetenz zur Setzung sekundären internationalen Wirtschaftsrechts steht den Organen der WTO nicht zu. Noch besteht keine wesentliche sekundäre Rechtsetzungsbefugnis; noch kann die WTO als Organisation keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründen, die nicht bereits im primären Regelwerk angelegt sind. Nach Art. IX Abs. 2 der WTO-Charta sind die Ministerkonferenz und der Allgemeine Rat allerdings dazu berufen, die Charta selbst und die Multilateralen Handelsübereinkommen auszulegen. Zwar
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dürfen diese Auslegungsbeschlüsse der ausdrücklichen Anordnung des Vertrages zufolge nicht zu einer Vertragsänderung führen. Auslegung bedeutet immer aber auch Rechtsetzung und Fortentwicklung des Rechts. Gleichwohl ist die damit begründete Kompetenz von Ministerkonferenz und Allgemeinem Rat begrenzt und umschließt die Befugnis zu wirklicher Gestaltung noch nicht. Noch liegt die Befugnis zur Fortentwicklung des WTO-Rechts außerhalb des Systems: Sie erfolgt weiterhin im wesentlichen durch multilateralen Vertragsschluß. Wenn es denn einen Bereich gibt, in dem sich die WTO zur Trägerin politischer Herrschaft entwickelt hat, ist es jener der Streitbeilegung. In keinem anderen Bereich ist der Prozeß der Konstitutionalisierung der WTO weiter fortgeschritten als hier. Durch die Einrichtung eines verbindlichen Streitbeilegungsverfahrens 35 tritt an die Stelle der Selbstbeurteilung ein rechtstaatlich geprägtes Prozedere 36; die Streitbeilegungsorgane haben gerichtsähnliche Züge. Als Ausdruck der Herausbildung politischer Herrschaft läßt sich die Einrichtung eines verbindlichen Streitbeilegungsverfahrens ansehen, wenn man sich die Doppelgesichtigkeit der Entscheidungen von Streitschlichtungsorganen vor Augen führt: Während sie sich aus der Innenperspektive des Streitschlichtungsverfahrens als Ausdruck rechtlich gebundener Ermittlung von Vorbefindlichem darstellen, müssen sie aus der beobachtenden Außenperspektive als Ausdruck der politisch-gestaltenden Wahrnehmung von Entscheidungsspielräumen erscheinen (Rechtsprechung als Rechtsetzung): Streitschlichtungsorgane werden regelmäßig nur dort tätig, wo es den Vorgaben des Rechts an Eindeutigkeit mangelt und wo sich daher Auslegungsspielräume eröffnen; ihre Entscheidungen bewegen sich im Bezugsfeld des Politischen. Daß sich die Mitglieder des Streitschlichtungsorgans im Prozeß der Entscheidungsfindung einer spezifischen 35 Dazu P. Pescatore , The New WTO Dispute Settlement Mechanism, in: P. Demaret/ J.F. Bellis/G. Garia Jimenez (Hrsg.), Regionalism and Multilateralism after the Uruguay Round, 1997, S. 661; E.-U. Petersmann (Hrsg.), International Trade Law and the GATT/WTO Dispute Settlement System, 1997; J.H. Jackson/A. Sykes (Hrsg.), Implementing the Uruguay Round, 1997; D. P. Steger /S. M. Hainsworth , World Trade Organization Dispute Settlement. The First Three Years, Journal of International Economic Law 1 (1998), S. 199; A. W. Shoyer , The First Three Years of WTO Dispute Settlement. Observations and Suggestions, Journal of International Economic Law 1 (1998), 277; allgemein auch: L. R. Helfer ΙΑ. M. Slaugther , Toward a Theory of Effective Supranational Adjudication, Yale L.J. 107 (1997), 273. 36 Dem klassischen Völkerrecht waren obligatorische Streitbeilegungsmechanismen fremd; Streitschlichtung fand nur dort statt, wo sich ein Staat einem Schlichtungsorgan (antizipierend oder im Hinblick auf einen konkreten Streit) unterworfen hatte. Regelmäßig war die Frage, ob ein Staat sich vertragstreu verhalten hatte, daher im Wege der jeweiligen Selbstbeurteilung durch ihn und durch seinen Vertragspartner zu beantworten. Ebenso kannte das klassische Völkerrecht keinen zentralisierten Rechtsdurchsetzungsmechanismus. Den Staaten war die Last auferlegt, für die Durchsetzung der Pflichten zu sorgen, die Vertragspartner ihnen gegenüber eingegangen waren. Es oblag jedem Staat, durch Repressalien selbst für die Durchsetzung seiner wirtschaftsrechtlichen Ansprüche zu sorgen - bis hin zur Führung eines handelspolitischen Krieges.
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Methode bedienen und in einem begrenzten Argumentationsrahmen bewegen müssen, steht dem nicht entgegen. Der Streitbeilegungsmechanismus der WTO ist von den Mitgliedstaaten angenommen worden und wird allenthalben als enorm erfolgreich eingeschätzt. Seit Anfang 1995 sind über 170 Streitbeilegungsverfahren eingeleitet worden. Davon sind gegenwärtig ungefähr 100 in unterschiedlichen Verfahrensstadien anhängig. Über mehr als 20 Beschwerden ist abschließend entschieden worden, in ungefähr 30 Fällen sind die Beschwerden zurückgezogen worden. In der bisherigen Praxis haben die Mitglieder der Streitbeilegungsausschüsse sowie die Mitglieder des Berufungsgerichts ein richterliches Selbstverständnis an den Tag gelegt, das sich teilweise erheblich vom Selbstverständnis mancher Vorgänger in den Streitbeilegungsausschüssen des GATT 1947 unterscheidet. Während heute Distanz, Neutralität und judiziell-argumentative Rationalität prägend sind, stand früher nicht selten das Bemühen um Erzielung eines diplomatischen Ausgleichs im Vordergrund. Verhandlungsdiplomatie ist so durch Adjudikation zwar nicht gänzlich ersetzt, wohl aber weitgehend überlagert worden. Nirgends zeigt sich diese Gewichtsverschiebung deutlicher als daran, daß es zu einem nicht unerheblichen Teil kleine und noch wenig entwickelte Staaten sind, die von den Möglichkeiten des WTO-Streitbeilegungsverfahrens Gebrauch machen. Auf diese Weise kommen Staaten zu ihrem Recht, die zuvor zur Austragung eines handelspolitischen Konfliktes nicht das wirtschaftliche Potential gehabt hätten. Während sich so im Bereich der Rechtsetzung erste Formen der Herausbildung politischer Herrschaftsgewalt abzeichnen, fehlen derartige Formen im Bereich der Durchsetzung noch vollständig. An zentralisierter Durchsetzungsmacht fehlt es der WTO. Noch immer kann sie zur Durchsetzung ihres Rechtes nicht mehr unternehmen, als den in seinen Rechten verletzten Mitgliedstaat zur Selbsthilfe zu ermächtigen. Hieran wird sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern. Dem Verfassungspotential der WTO steht dieser Umstand allerdings nicht entgegen, wie insbesondere das Beispiel der EU zeigt: Auch ihr fehlt es an physischer Durchsetzungsmacht, mit der sie die Beachtung ihres Rechtes faktisch erzwingen könnte. cc) Die Individualwirksamkeit Die öffentliche Gewalt schöpft ihre Wirksamkeit und Durchschlagskraft, aber auch ihre Gefahrenträchtigkeit aus ihrer Fähigkeit zum unmittelbaren Zugriff auf die Individuen. So gehört zu den wesentlichen Eigenarten staatlicher Hoheitsgewalt, daß sie unmittelbar auf die Individuen zuzugreifen befähigt ist. Hieraus ergibt sich Mäßigungs- und Bindungsbedarf; hieraus leitet sich auch das mit der modernen Idee der Verfassung untrennbar verbundene Erfordernis einer grundrechtlichen Einbindung der Hoheitsgewalt ab. Anschaulich hat sich dieser Zusammenhang von Regelungsanspruch und Verfassungsbedarf im Prozeß der
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europäischen Integration herausgestellt, wo sich das Erfordernis der Entwicklung europäischer Grundrechte in unmittelbarer Konsequenz aus der Entfaltung der Doktrinen von unmittelbarer Wirkung und Vorrang des Gemeinschaftsrechts ergab. Es ist die Verfassung, die diesen Mäßigungsbedarf zu befriedigen verspricht. Auf der anderen Seite ist der Mäßigungs- und Bindungsbedarf in einem Verband eher gering, wenn die Kompetenzen der Organe einen unmittelbaren Durchgriff nicht ermöglichen. Ob man die konstituierenden Grundlagen des Vertrags zur Errichtung der WTO als Verfassungsordnung ansehen kann, hängt daher nicht zuletzt von der Frage ab, ob die verliehenen Kompetenzen Rechtsetzungs- und sonstige Handlungsbefugnisse mit Individualwirksamkeit verleihen. Bei der Bestimmung des Konstitutionalisierungsstands des WTO-Systems ist insofern maßgeblich der Geltungsanspruch seines Rechts in Rechnung zu stellen. Von Seiten der USA und Kanadas wurde bei der Ratifizierung des WTO-Abkommens die ausdrückliche Festlegung getroffen, daß den Bestimmungen des WTO-Systems im jeweiligen nationalen Rechtskreis eine derartige Wirkung nicht zugeschrieben werden dürfe. Im Rechtskreis der EU ist die Rechtslage zwar weniger eindeutig. Hier fehlt es an einer ebenso eindeutigen Festlegung des ratifizierenden Gesetzgebers 37. Bislang wird den WTO-Bestimmungen aber auch von der hiesigen Praxis die Eignung zur Entfaltung unmittelbarer Wirksamkeit von den maßgeblichen Organen nicht zuerkannt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte noch keine Gelegenheit, sich unmittelbar mit der Frage der Berechtigungswirkung des WTO-Rechts für Individuen zu befassen 38. Im Urteil des Gerichtshofs vom 23. November 1999 ging es um die (allerdings mittelbar relevante) Frage, ob ein Mitgliedstaat im Normenkontrollverfahren des Art. 230 Abs. 1 EGV eine Überprüfung sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des WTO-Rechts verlangen kann 39 . Diese Frage hat der EuGH unter Verweis auf seine Bananenmarkt-Entscheidung vom 5. Oktober 199440 und unter Berufung auf das Ziel der Wahrung handelspolitischer Verhandlungsspielräume verneint. Mit dem An37
Siehe allerdings die (rechtlich unverbindliche) letzte Begründungserwägung des Beschlusses 94/800 vom 22.12.1994 über den Abschluß der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Nahmen der Europäischen Gemeinschaft in bezug auf die in ihre Zuständigkeit fallenden Bereiche (ABl. L 336 S. 1 ). Danach ist „das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation einschließlich seiner Anhänge nicht so angelegt, daß es unmittelbar von den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten angeführt werden kann". 3X Die Rechtswirkung von Art. 50 TRIPS-Abkommen hat der EuGH explizit offengelassen: EuGH, Urt. vom 16.6.1998, Rn. 35, Rs. C-53/96 - Hermès. 39 EuGH, Urt. vom 23.11.1999, Rs. C-149/96 - Portugal / Rat. Zu Recht verweist die portugiesische Regierung auf den Unterschied zwischen unmittelbarer Wirksamkeit und Klagebefugnis (Rz. 32 des Urteils). Kritisch dazu der vorstehende Beitrag von Petersmann in dieser Festschrift. 40
EuGH, Slg. 1994, S. 1-4973, Rs. C-280/93 - Deutschland/Rat.
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spruch eines Individuums, sich auf WTO-Recht berufen zu können, war der EuGH bislang nicht konfrontiert. Insofern fehlt es bislang an einer unmittelbar einschlägigen Stellungnahme der Stelle, die im EU-System mit Letztverbindlichkeit über Wirkweise und Rang des WTO-Rechts zu befinden hätte. Im Lichte des Urteils vom 23. November 1999 muß aber davon ausgegangen werden, daß der EuGH auch bei der Behandlung von Individualklagen nicht von seiner bisherigen Rechtsprechung zum GATT 1947 abrücken wird 41 . Dem Recht des GATT 1947 hatte der EuGH unmittelbare Wirkung nicht zugesprochen, obgleich er manche der GATT-Bestimmungen nach Struktur und Inhalt auf dem Hintergrund der Maßstäbe, die er bei der Beurteilung des EG-Rechts selbst sowie der Bestimmungen von Freihandelsverträgen anlegte, durchaus für unmittelbar wirksam hätte erklären können. Hinter dieser Haltung des EuGH standen Überlegungen zur handelspolitischen Reziprozität: Interessierte europäische Unternehmen sollten die Organe der EU nicht auf dem Gerichtswege zur Einhaltung der GATT-Verpflichtungen zwingen können, wenn nicht die Reziprozität einer derartigen Unterwerfung der Regierungen der großen Handelspartner der EU sichergestellt war. Es ging also in der Sache um den Schutz handelspolitischer Freiräume. An dieser Situation hat sich auch mit Inkrafttreten der WTO nichts geändert. Im Lichte dieses Entwicklungsstands muß weiterhin davon ausgegangen werden, daß die Bestimmungen des WTO-Rechts zwar die Vertragspartner völkerrechtlich binden, daß den Bestimmungen aber nicht die Eignung zukommt, Individuen und Unternehmen unmittelbar zu berechtigen und zu verpflichten 42. Noch fehlt den WTO-Organen jene Fähigkeit zur individualwirksamen Rechtsetzung, die für den konstitutionalisierten Verband kennzeichnend ist. Für die Bestimmung des von der WTO erreichten Konstitutionalisierungsstandes hat diese Feststellung erhebliche Bedeutung.
41 Dazu vor allem EuGH, Slg. 1972, S. 1219, Rs. 2 1 - 2 4 / 72 - International Fruit; vgl. auch EuGH, Slg. 1989, S. 1781, Rs. 70/87 - Fediol III; EuGH, Slg. 1991, S. I2069, Rs. C-69/89 -Nakajima; EuGH, Slg. 1994, S. 1-4973, Rs. C-280/93 - Bananenmarktordnung. 42
Sollte der EuGH über den Status des WTO-Rechts innerhalb der EU urteilen, wird darin immer auch eine verfassungstheoretische Einschätzung der WTO selbst liegen. Nur wenn der EuGH der WTO jenen Charakter rechtsstaatlicher Verfaßtheit zubilligt, der beispielsweise die EU kennzeichnet, wird er überhaupt in Erwägung ziehen können, ob es noch innerhalb seiner spezifischen Kompetenz liegt, den Rechtsätzen der WTO unmittelbare Wirksamkeit zuzuschreiben - und genau dadurch wiederum den Charakter der WTO als Rechtsorganisation zu fördern. Andernfalls muß sich der EuGH jenen Stimmen anschließen, die das internationale Handelssystem primär als Spielwiese politisch agierender Völkerrechtssubjekte begreifen wollen, auf der einzelne nichts zu suchen haben.
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c) Entscheidungsverfahren,
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Ziel- und Kompetenzstruktur
Im Lichte des Umstandes, daß sich die WTO noch nicht zu einem entwickelten Träger politischer Herrschaft entwickelt hat, kann es nicht verwundern, daß auch ihr Entscheidungsverfahren sowie ihre Ziel- und Kompetenzstruktur noch völkerrechtlich-kooperativen Mustern verhaftet sind und sich die Strukturgegebenheiten eines Verbandes mit überstaatlicher Hoheitsgewalt in ihnen noch nicht wiederfinden. Immerhin finden sich in der Struktur des Entscheidungsverfahrens inzwischen Ansätze einer Überwindung des klassischen kooperationsorientierten Paradigmas. Das Entscheidungssystem klassischer völkerrechtlicher Organisationen stand und steht ganz im Zeichen der Anerkennung und Förderung staatlicher Souveränität. Das Erfordernis mitgliedstaatlicher Zustimmung zu einer Vertragsänderung, die Befugnis zur Einlegung vertraglicher Vorbehalte, das Prinzip der Einstimmigkeit der Entscheidungsfindung, die Üblichkeit verhandlungsdiplomatischer Streitbeilegung, jedenfalls aber das Erfordernis einer besonderen Unterwerfung unter ein Streitbeilegungsverfahren: In diesen typischen Eigenarten klassischer internationaler Organisationen prägt sich der genossenschaftlichsouveränitätszentrierter Charakter des allgemeinen Völkerrechts aus. Nimmt man diese Ordnungsmerkmale zum Maßstab, wird die jedenfalls ansatzweise qualitative Andersartigkeit des WTO-Systems augenfällig. Das Ziel der Verfahrenseffektivität (unter Einschluß des Ziels der Effizienz) hat das Ziel eines Schutzes souveräner Freiheit zwar nicht vollständig verdrängt, wohl aber deutlich überlagert. In diesem Zusammenhang ist vor allem von Bedeutung, daß sich die WTO-Charta vom Prinzip der Einstimmigkeit der Vertragsänderung gelöst hat. Die hochkomplizierte Vorschrift des Art. X der Charta differenziert, was das Zustimmungserfordernis angeht, nach der Bedeutung der zu ändernden Vorschrift. In einer Vielzahl von Fällen kann sich ein Staat gegen eine Vertragsänderung nicht erfolgreich wehren. Während ihm in manchen Fällen immerhin der rechtliche status quo ante erhalten bleibt, treten Änderungen teilweise auch gegen seinen Willen in Kraft. Von Bedeutung ist ferner, daß im Entscheidungsverfahren der WTO nach Art. IX Abs. 1 der WTO-Charta zwar grundsätzlich auf Beschlußfassung durch Konsens hinzuwirken ist, daß aber bei Uneinigkeit das Mehrheitsprinzip zur Anwendung zu bringen ist. Auch Interpretationsbeschlüsse nach Art. IX Abs. 2 der WTO-Charta ergehen mit Mehrheit; erforderlich ist hier eine Dreiviertelmehrheit der Mitglieder. Einem Mitgliedstaat ist es nach Art. X V I Abs. 5 der WTO-Charta versagt, Vorbehalte zu diesem Abkommen einzulegen. Die materiellen Verpflichtungen der multi- und plurilateralen Handelsübereinkommen dürfen nur dann unter Vorbehalt gestellt werden, wenn dies im Abkommen ausdrücklich vorgesehen ist. Damit wird das Regel-Ausnahme-Prinzip des allgemeinen Völkerrechts, wie es beispielsweise in Art. 19 der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegt ist, umgekehrt. Insofern
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deutet sich im Hinblick auf die Entscheidungsstruktur der WTO durchaus ein Epochenwechsel an. Daß der Konstitutionalisierungsgehalt der WTO-Ordnung gleichwohl gering ist, zeigt sich auch daran, daß es an einer verfassungstypischen Ziel- und Kompetenzstruktur bislang fehlt. Daß es dem WTO-System an positiv-rechtlich gewährleisteten Grundrechten mangelt, ist Ausdruck des Umstandes, daß die Organe der WTO bislang nicht durch unmittelbar wirksames Recht auf Individuen und Unternehmen zugreifen können. Das verfassungstheoretische Bedürfnis, dem Handeln der WTO-Organe durch Grundrechte und Subsidiaritätsgebot einen freiheitssichernden Rahmen zu geben, ist konsequenterweise bislang gering. Konstitutionelle Defizite weist das WTO-Statut darüber hinaus insoweit auf, weil auch wesentliche Zielsetzungen der WTO bislang nicht zu mitgliedstaatlichen Grundpflichten gemacht worden sind. Auf Primärebene werden die Mitgliedstaaten zwar auf die Prinzipien der Gleichbehandlung (zu nennen wären in diesem Zusammenhang das Meistbegünstigungsprinzip und der Grundsatz der Inländerbehandlung) und Transparenz verpflichtet. Eine vertragliche Grundpflicht zur Liberalisierung des Wirtschaftsverkehrs kennt das WTO-Recht aber (anders als beispielsweise des EG-Recht mit den Grundfreiheiten) nicht; entsprechend steht auch den einzelnen kein Anspruch auf außenwirtschaftsrechtliche Betätigungsfreiheit nach WTO-Recht zu. Die Liberalisierung erfolgt vielmehr auf Sekundärebene in völkerrechtlichen Verhandlungsrunden zwischen den Mitgliedstaaten; dort werden Barrieren im Wege des gegenseitigen Austausches von Zugeständnissen niedergerissen. Ein konkreter mitgliedstaatlicher Liberalisierungsschritt ist daher noch immer nicht Ausdruck der Befolgung einer Grundpflicht, sondern Gegenstand seiner freien Willensentscheidung. Erst wenn auf primärer Ebene insbesondere die Gewähr des freien Außenwirtschaftsverkehrs verankert ist, wird man dem WTO-System einen erheblichen Sprung auf dem Weg der Verfassungswerdung zubilligen können.
d) Die Verbandsstruktur Den Sprung auf die konstitutionelle Ebene hat das WTO-Statut schließlich auch deshalb noch nicht vollzogen, weil es sich rechtlich und legitimatorisch bislang nicht auf Individuen stützt, sondern sich mit einer ausschließlich mitgliedstaatlichen Verbandsstruktur begnügt. Zwar wird man der WTO den Anspruch auf Universalität ihrer Mitgliederschaft (und damit ihrer territorialen Reichweite) zuschreiben müssen: Sie ist darauf angelegt, potentiell alle Staaten zu Mitgliedern zu machen. Ebenso wird man der WTO zubilligen können, daß sie bei der Realisierung des Anspruchs auf gutem Wege ist. Die WTO ist im Begriff, sich zu einer Organisation mit beinahe universeller Reichweite zu entwickeln. Ihr gehörten im Sommer 1999 135 Staaten an; weitere 36 Staaten befinden sich auf der Liste der Beobachterstaaten und begehren größtenteils
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Zutritt zur WTO. Kommt es zu deren Aufnahme, wird der WTO ein räumlich umfassender Regelungsanspruch zugebilligt werden müssen. Territoriale Reichweite allein bringt allerdings noch nicht eine Konstitutionalisierung mit sich. Der qualitative Sprung von der sich auf ihre Mitgliedstaaten stützenden internationalen Organisation zu einem sich auf Staaten und Individuen stützenden internationalen Verfassungsverband steht weiter aus. Noch hat die WTO -anders als etwa die EU- den Individuen keinen rechtlichen Status der Verbandszugehörigkeit verliehen. Sie stützt sich allein auf die Staaten, ohne die Individuen rechtlich einzubeziehen. Die Feststellung, daß die WTO auf dem Wege der Konstitutionalisierung erst am Anfang steht, gilt auch für die legitimatorische Rückbindung ihres Wirkens. Noch immer legitimiert sich die WTO nach eigenem Selbstverständnis und aus der Sicht der Individuen im wesentlichen über die Mitwirkung und Zustimmung mitgliedstaatlicher Amtsträger. Es sind die mitgliedstaatlichen Vertreter in den Organen, die durch ihr Wirken in den Organen der WTO die Rückbindung sicherstellen. Legitimation wird so nur über mitgliedstaatliche Kanäle vermittelt. Eine unmittelbar-legitimatorische Rückbindung zu den vom Wirken der WTO letztlich betroffenen Individuen erfolgt bislang nicht. Nach geltendem Recht stehen den Individuen keine Mitwirkungs- und Partizipationsrechte zu, auf deren Grundlage sie (input-orientiert) ihre Interessen und Wünsche unmittelbar gegenüber den Organen der WTO geltend machen könnten. Ebensowenig hat es die WTO bislang verstanden, der breiten Bevölkerung die Einsicht in die gemeinfördernde Effektivität ihrer Tätigkeit zu vermitteln und sich so output-orientierte Legitimität durch Zustimmung zu sichern. Insofern hat sich die WTO - anders als beispielsweise die EU - vom Paradigma klassischer internationaler Organisationen noch nicht gelöst. Innerhalb des konstitutionalistischen Legitimationsparadigmas würde sich die WTO erst bewegen, wenn es ihr gelänge, eine legitimatorische Rückbindung unmittelbar im Willen der einzelnen zu finden. 3. Der Konstitutionalisierungsbedarf Die vorstehenden Überlegungen lassen nur eine Schlußfolgerung zu: Noch gibt es im Weltwirtschaftsrecht eine Organisation mit konstitutioneller Grundordnung nicht. Auch die WTO erfüllt die Merkmale eines solchen Organisationstyps noch nicht. Wer den Verfassungsbegriff voraussetzungsvoll verwendet, kommt nicht umhin festzustellen, daß die WTO-Ordnung gegenwärtig noch nicht in vollem Umfang jene Ausprägung angenommen hat, für die üblicherweise der Verfassungsbegriff verwandt wird. Sie weist Charakterzüge auf, die über die traditionelle Ordnungsform der internationalen Organisation hinausgehen. Der Sprung auf die konstitutionelle Ebene ist ihr bislang aber noch nicht gelungen.
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Wenn aber die Gründung der WTO gleichwohl als Epochenwechsel in der Entwicklung der Ordnungsformen des internationalen Wirtschaftsrechts angesehen werden kann, dann liegt dies an zwei Umständen: Zum einen wohnt dem WTO-Statut das Potential zum Sprung auf die konstitutionelle Ebene bereits inne; es ließe sich durch vergleichsweise moderate Vertragsänderung realisieren. Im gegenwärtigen WTO-System sind die Wesenszüge eines Verfassungssystems bereits angelegt. Ernst-Ulrich Petersmann stellt zutreffend fest, daß das WTOÜbereinkommen „lays the legal foundation for a new global economic order with far-reaching implications for other international organizations and for the domestic legal systems of WTO member contries" 43. Das Wissen darum, daß sich die Idee des Konstitutionalismus nicht nur im staatlichen Kontext fruchtbar machen läßt, ist inzwischen Allgemeingut. Der Konstitutionalismus kann seine prägende Kraft auch auf überstaatlicher Ebene entfalten 44. Die sorgfältigen Bemühungen der Regierungen der USA und Kanadas, beim Abschluß der Uruguay-Runde eine unmittelbare Wirkung der Vertrag auszuschließen, macht die Prävalenz des konstitutionellen Paradigma deutlich; für derartige Bemühungen wäre kein Anlaß gewesen, wenn man nicht auch auf Regierungsebene inzwischen verstärkt über die Wirkweise nachdächte. Zum anderen entwickelt sich, wie Entwicklungen auf unterschiedlichster Ebene zeigen, im internationalen Wirtschaftsrecht genuiner Konstitutionalisierungsbedarf. Von politischer und ökonomischer Seite werden vermehrt Forderungen an das WTO-System herangetragen, die zu befriedigen eine Konstitutionalisierung der WTO verlangt 45. Eine rechtlich-institutionelle Fortentwicklung der WTO erweist sich aus Effektivitätsgründen als notwendig. Noch ist die WTO zu sehr völkerrechtlich-intergouvernementalen Mustern verhaftet, als daß sie die ihr zugewiesenen Regelungs- und Gestaltungsaufgaben effektiv wahrnehmen könnte. Insofern läßt sich prognostizieren, daß auf weltwirtschaftsrechtlicher Ebene in den nächsten Jahren eine Entwicklung zu beobachten sein wird, die dem bei der Entstehung der EU genommenen Verlauf in mancherlei Hinsicht nicht unähnlich ist.
43 E.-U. Petersmann, The Transformation of the World Trading System through the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization, EJIL 6 (1995), 161 (189). 44
Insofern fügt sich die Diskussion um die Konstitutionalisierung der WTO in einen größeren Rahmen ein. Im UN-Kontext vor allem B. Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto. A Constitutional Perspective, 1998. 45 Zum Diskussionsstand der frühen neunziger Jahre J. H. Jackson, Restructuring the GATT-System, 1990.
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a) Die Sicherung der Freiheit Eine Konstitutionalisierung der WTO ist zunächst aus politikökonomischen Erwägungen zur Stabilisierung des internationalen Wirtschaftsgeschehens erforderlich 46. Auch im Weltwirtschaftsbereich besteht Anlaß, die alte und wichtige Verfassungsfunktion „Selbstbindung in Zeiten politischer Klugheit als Vorkehrung für Zeiten der Abirrung" zur Anwendung zu bringen. Zum Schutze der Freiheit grenzüberschreitenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftens und zur Sicherung der wohlfahrtsökonomischen Gewinne des Freihandels bedarf es einer verfassungsrechtlichen Einbindung der Mitgliedstaaten des Welthandelssystems. Durch eine internationale Verfassungsordnung ist diesen die Möglichkeit selbstschädigenden und für die wirtschaftenden Individuen nachteiligen Verhaltens rechtlich wirksam aus der Hand zu schlagen47. Eine konstitutionelle Ordnung des internationalen Wirtschaftsgeschehens hätte erstens die Freiheit des grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austausches effektiv zu sichern 48 und gegen staatliche Interventionen abzuschirmen. Sie würde den Mitgliedstaaten Grundpflichten der Liberalisierung auferlegen und reziproke Grundrechte der privaten Wirtschaftssubjekte begründen. Das grenzüberschreitend wirtschaftende Subjekt wäre gegen staatliche Interferenz zu schützen; die WTO-Ordnung hätte individuelle Freiheit vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Gewiß finden sich in vielen mitgliedstaatlichen Ordnungen bereits effektive Verbürgungen der Außenwirtschaftsfreiheit 49. Nicht überall wird eine derartige Gewähr aber bereits von den Staaten aus eigenem Antrieb gegeben. Tatbestandliche Reichweite und Schutzgehalt fallen im einzelnen erheblich auseinander. Im übrigen sind die Unwägbarkeiten des mitgliedstaatlichen Freiheitsschutzes bekannt: Nicht immer wird die rechtliche Kraft und der Wille zur Beachtung freiheitsschützender Vorgaben vorhandeln sein; bei Interpretationsspielräumen besteht zudem immer die Gefahr, daß die Staatsorgane (unter Einschluß der Verfassungsgerichtsbarkeit) in „schlechten Zeiten" in den Protektio46
Ausfuhrlich vor allem E.-U. Petersmann Constitutional Functions and Constitutional Problems of International Economic Law, 1991. 47
E.-U. Petersmann, The Transformation of the World Trading System through the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization, EJIL 6 (1995), 161. 48 Die Errichtung der WTO „reflected not only the ,globalization4 of the world economy, which has made ,central planning' increasingly unmanageable. It also reflected the worldwide recognition by governments that they need more effective multilateral liberal trade rules and institutions so E.-U. Petersmann , The Transformation of the World Trading System through the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization, EJIL 6 (1995), 161 (188). 49 Siehe z.B. V. Epping , Die Außenwirtschaftsfreiheit, 1998, S. 10 ff. (Grundgesetz), S. 575 ff. (EU-Recht); zur EG auch E.-U. Petersmann, Wie kann Handelspolitik konstitutionalisiert werden? Verfassungsrechtliche Bindungen der Außenhandelspolitik, EA 1989, 55.
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nismus zurückfallen. Durch konstitutionelle Vorgaben des WTO-Systems ließen sich die bestehenden Schutzlücken schließen. Die konstitutionelle Ordnung des internationalen Wirtschaftsgeschehens hätte zweitens Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß der verteilungspolitisch agierende Staat durch Interventionsakte die Mechanismen der internationalen Marktwirtschaft unangemessen beeinträchtigt. So wenig es Aufgabe eines konstitutionalisierten WTO-Systems sein kann, die Mitgliedstaaten an der Verfolgung einer Interventions- oder Umverteilungspolitik grundsätzlich zu hindern, so wichtig ist es doch sicherzustellen, daß die Mitgliedstaaten bei der Verfolgung außerökonomischer Ziele Marktmechanismen nicht mehr als unabdingbar notwendig stören. Umverteilung hätte durch marktkonforme Mittel zu erfolgen; insbesondere wären die Staaten durch WTO-Recht an direkten Eingriffen in den Preismechanismen zu hindern. Konstitutionelle Vorkehrungen wären drittens zu treffen, um öffentliche Güter wie beispielsweise die Umwelt oder das Klima zu schützen. Das WTO-System müßte Regelungen treffen, die zwischen dem Ziel der Wirtschaftsfreiheit und dem Ziel der Erhaltung des Gutes einen angemessenen Ausgleich finden. Während es nach der bisherigen Rechtslage in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, sich unter Berufung auf die Bestimmung des Art. XX GATT 1947/1994 für den Erhalt derartiger öffentlicher Güter einzusetzen, ließe sich bei einer Konstitutionalisierung der WTO-Ordnung eine weitergehende allgemeine Zielbestimmung treffen. Schließlich ließen sich bei einer Konstitutionalisierung viertens auch effektive Schutzvorkehrungen gegen private Handlungen treffen, die dem Ziel der Herstellung und Erhaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung zuwiderlaufen. Wettbewerbsfeindliches unternehmerisches Verhalten ließe sich überstaatlich unterbinden; denkbar und vorzugswürdig wäre es allerdings, die Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines mindestharmonisierten nationalen Wettbewerbsrechts zu verpflichten und die Schließung von Schutzlücken vorzusehen 50. b) Die Durchsetzung des Rechts Mit den vorstehenden Erwägungen hängt eng die Feststellung zusammen, daß eine Konstitutionalisierung des WTO-Systems effektivere Formen der Durchsetzung des Rechts mit sich bringen müßte. So wirksam auch das gegenwärtige 50
Hierzu E.-U. Petersmann, International Competition Rules for the GATT - MTO World Trade and Legal System, JWT 1994, S. 35; E.M. Fox , Toward World Antitrust and Market Access, AJIL 91 (1997), 1; J. Basedow , Weltkartell recht. Ausgangslage und Ziele, Methoden und Grenzen der internationalen Vereinheitlichung des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen, 1998; E. Graham /J. Richardson (Hrsg.), Global Competition Policy, 1997.
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Streitbeilegungsverfahren ist, so wenig sinnvoll ist doch die Rechtsfolge einer „Verurteilung" eines Mitgliedstaates: Mit der Rücknahme reziproker Zugeständnisse wird das bereits erreichte Liberalisierungsniveau zurückgenommen und werden private Wirtschaftssubjekte geschädigt. Das Beispiel der EU belegt, daß sich die Durchsetzbarkeit des Rechts vor allem dadurch fördern läßt, daß interessierte Individuen in die Lage versetzt werden, ihre rechtlich geschützten Interessen unmittelbar — sei es vor nationalen, sei es vor überstaatlichen Instanzen — geltend zu machen. Mit der Konstitutionalisierung des WTO-Systems müßte und wird daher der Schritt zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts einhergehen. Rechtspolitisch lassen sich in der Tat viele der Gründe, die für die Entwicklung der Doktrin von der unmittelbaren Wirkung des EG-Rechtes in den sechziger Jahren angeführt werden konnten, auf den WTO-Kontext der späten neunziger Jahre des ausgehenden Jahrhunderts übertragen. Die inhaltliche Bestimmtheit und Präzision vieler der WTO-Bestimmungen ist groß genug, um ihnen unmittelbare Wirksamkeit zuschreiben zu können. Dadurch ließen sie sich als Rechtsnormen ausweisen, die die privaten Wirtschaftssubjekte zu Rechtsträgern des WTO-Rechts erhöben. Im Umfang dieser unmittelbaren Wirksamkeit könnten Wirtschaftsunternehmen vor den nationalen Gerichten die Rechtstreue der Staaten erzwingen. Seit Gründung der WTO hat die alte Diskussion um die Rechtswirkungen des internationalen Wirtschaftsrechts im Rechtskreis der Europäischen Integration denn auch wieder an Fahrt gewonnen. Vermehrt lassen sich inzwischen Stimmen vernehmen, die den strukturellen Veränderungen im WTOSystem - darunter vor allem dem Ausbau des Streitbeilegungsmechanismus hinreichendes Gewicht zuschreiben, um eine Revision der bisherigen Haltung für anzeigt zu erachten. Es liege nach Aufgabe und Funktion der WTO nahe, ihrem Recht unmittelbare Wirksamkeit zuzuschreiben. Nur so ließen sich Rechtssicherheit und Effektivität optimieren.
c) Die Zielstruktur Im Zuge der Konstitutionalisierung der WTO wäre weiter ein verfassungsrechtlicher Katalog von Zielen und Aufgaben der WTO zu bestimmen. Das WTO-System müßte in diesem Punkte die rechtliche Konsequenz daraus ziehen, daß es mit seinem Wirken zunehmend in den Bereich gesellschaftlicher Konfliktlinien vordringt und vor die Bewältigung von Zielkonflikten gestellt ist. Regelungsbedarf (und damit Verfassungsbedarf) ergab sich in diesem Punkte im GATT-System solange nicht, wie die Schöpfer und Träger des GATT-Systems einverständlich das ausschließliche Ziel der Handelsliberalisierung verfolgten. Zur Verwaltung und Durchsetzung eines internationalen Vertragswerkes, durch das eine schrittweise Senkung der Zölle und ein schrittweiser Abbau von Handelshemmnissen bewirkt werden soll, bedarf es keiner verfassungsrechtlichen
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Strukturen. Dies gilt vor allem dann, wenn Einverständnis darüber besteht, daß die durch die Zollsenkung hervorgerufenen innerstaatlichen Verteilungskonflikte ohne internationale Relevanz sind und auf dieser Ebene nicht thematisiert werden sollen. Das WTO-System befindet sich in den letzten Jahren nun aber gerade in diesem Punkte im Umbruch. Es löst sich aus der Verhaftung auf eine Zielsetzung und wächst in eine teleologische Multifinalität hinein. Die WTO ist gegenwärtig dabei, sich von der noch für das GATT 1947 kennzeichnenden Verpflichtung auf ein Rationalitätskriterium zu lösen und zu einem Akteur zu entwickeln, der in einem Geflecht kollidierender Rationalitätskriterien steht. Die Organe kommen nicht umhin, sich mit Zielkonflikten zu befassen und hierzu Stellung zu beziehen. Gewiß, noch immer gehört das Ziel einer weiteren Liberazu den vordersten Anliegen der WTO; und noch lisierung der Weltwirtschaft immer läßt sich die WTO vorrangig vom Rationalitätskriterium marktwirtschaftlicher Effizienz leiten. Hierzu besteht umso mehr Anlaß, weil das Ziel eines hinreichend freien und ungehinderten Wettbewerbs bislang nicht verwirklicht werden konnte und der Liberalisierungsprozeß daher nicht zum Abschluß gekommen ist. Inzwischen aber hat die Liberalisierung ein Maß erreicht, das die für ein Verfassungssystem kennzeichnenden Wertkonflikte auf internationaler Ebene aufbrechen läßt und die WTO-Ordnung zur genuin politischen Entscheidung zwischen verschiedenen Zielsetzungen zwingt. So erwächst beispielsweise im Streit um das EU-Einfuhrverbot von Hormonfleisch der Grundwert menschlicher Gesundheit in rechtliche Relevanz; im Streit um ökologisch motivierte Einfuhrverbote der USA bedurfte es der Bewältigung eines Konflikts zwischen den Grundsätzen der Handelsfreiheit und des Umweltschutzes. Zunehmend steht so das Wirken der WTO im Schnittfeld gesellschaftlicher Konfliktlinien 51 . Deutlich kristallisiert sich inzwischen im internationalen Wirtschaftsrecht die Verfassungsbedarf erzeugende Pluralität kollidierender Zielsetzungen heraus. Diese Konflikte in einer heteronomen Welt unterschiedlich entwickelter und je spezifisch interessierter Staaten zu bewältigen, wird die wohl größte Herausforderung darstellen, mit der die WTO in den nächsten Jahren konfrontiert sein wird 52 . Zwangsläufig wird die WTO darauf angewiesen sein, 51 Tauchen derartige Wertkonflikte unter dem Geltungsanspruchs von WTO-Bestimmungen auf, sind sie fallweise von den Streitentscheidungsgremien der WTO zu lösen. Die präjudizielle Wirkung der Erkenntnisse dieser Gremien ist dementsprechend groß. Teilweise zeichnen sich die Konflikte politisch aber auch so deutlich ab, daß sie Anlaß dazu geben, über eine Fortschreibung des WTO-Rechts nachzudenken. Seit mehreren Jahren beispielsweise wird darüber gesprochen, wie sich die WTO de lege ferenda auf den Umweltschutz verpflichten läßt; teilweise diskutiert man auch darüber, ob und wie sich Sozialstandards zum Regelungsgegenstand der WTO machen lassen. 52 Es wäre wenig weitsichtig anzunehmen, die WTO könnte der Herausforderung begegnen, indem sie sich auf die Position zurückzieht, ein Forum zu sein, das sich ausschließlich und einseitig der Wirtschaftsliberalisierung widmet. Die Entwicklung der letzten Jahre belegt nur zu deutlich, daß sich das Ziel der Wirtschaftsliberalisierung von
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Wertentscheidungen zu treffen. Sie wird es nicht verhindern können, daß ihr Recht eine materielle Werthaltigkeit gewinnt. Eine verfassungsrechtliche Anleitung ihrer Tätigkeit würde ihr die Tätigkeit im Schnittfeld gesellschaftlicher Konfliktlinien erheblich erleichtern. 4. Ausblick Die Annahme, daß das föderale Prinzip der verfassungsrechtlichen Organisation auch auf überstaatlicher Ebene zur Lösung gerade einiger der schwierigsten Probleme geeignet sei, findet sich bereits bei F. A. Hayek: „When we want to prevent people from killing each other, we are not content to issue a declaration that killing is undesirable, but we give an authority power to prevent it. In the same way there can be no international law without the power to enforce it. The obstacle to the creation of such an international power was very largely the idea that it need command all the practically unlimited powers which the modern state possesses. But with the devision of power under the federal system this is by no means necessary. The division of power would inevitably act at the same time also as a limitation of the power of the whole as well as of the individual state."53 Diese Überlegungen macht F. A. Hayek fur das Problem der Durchsetzung eines internationalen Wirtschaftsrechts fruchtbar. „What we need and can hope to achieve is not more power in the hands of irresponsible international economic authorities, but, on the contrary, a superior political power which can hold the economic interests in check. ... The need is for an international political authority which, without power to direct the different people what they must do, must be able to restrain them from action which will damage others." 54 Die internationale Gemeinschaft ist auf gutem Wege, diese Forderungen einzulösen. Sie kehrt sich von der jahrhundertealten Tradition einer auf Macht und Verhandlungsgeschick beruhenden Außenwirtschaftspolitik ab. Was im regionalen Integrationssystem der EU bereits vollzogen wurde, zeichnet sich nunmehr auch auf Weltwirtschaftsebene im WTO-System ab: 55 die Verwirklianderen Zielsetzungen der Mitgliedstaaten weder sachlich-inhaltlich noch institutionell trennen läßt. Internationale Wirtschaftspolitik läßt sich aus Effektivitätsgründen sowie zur Verhinderung von Wertungswidersprüchen und Koordinationsproblemen nur dadurch betreiben, daß auch die Folgen auf nichtwirtschaftlichem Gebiet in den Blick genommen und in Rechnung gestellt werden. Dies bedeutet beispielsweise, daß die WTO das Ziel eines angemessenen Schutzes der Umwelt bei liberalisierenden Maßnahmen selbst berücksichtigen muß und nicht in andere internationale Organisationen abschieben kann. Die Vorstellung, daß sich die WTO einseitig auf das Ziel der Wirtschaftsliberalisierung festlegen solle, während die Förderung anderer Ziele spezifisch eingerichteten internationalen Organisationen vorbehalten bleibt, erscheint wenig realistisch. 53
F.A. Hayek. , The Road to Serfdom, 1944 (ND 1979), S. 173.
54
F. A. Hayek , ebd., S. 172, 175.
55
Der prognostizierbare Konstitutionalisierungsprozeß wird gewiß nicht alle Teilmate-
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chung der Idee konstitutioneller Ordnung des Wirtschaftsgeschehens. Im Weltwirtschaftsrecht schlagen sich auf diese Weise Denktraditionen nieder, die heute im staatlichen Kontext weltweit prägende Wirkung entfalten: Kaum ein Herrschaftsverband kommt heute noch ohne rechtliche Verfaßtheit aus. Jedenfalls aus der Perspektive westlich-liberaler Anschauung wird man heute kaum noch behaupten können, daß gute Herrschaft außerhalb der Formensprache des Konstitutionalismus möglich ist. Insofern ist rechtlich verfaßte Herrschaft auch notwendige Bedingung fur gute Herrschaft 56. Die Bedeutung der Denktraditionen westlich-liberaler Verfassungstheorie ist groß genug, um auch bei der Fortentwicklung der WTO prägenden Einfluß zu entfalten. Zu gering ist das Gewicht herrschaftstheoretischer Alternativen, als daß nicht bei der institutionellen Entwicklung der WTO die westlich-liberalen Ideen gerechtfertigter und effektiver Herrschaftsausübung (und damit der Konstitutionalismus) leitende Funktion entfalten würden. Auch wenn sich nicht bezweifeln läßt, daß der Entwicklungsprozeß der WTO die Bahnen nationalstaatlicher Formensprache verlassen wird, wird der Bestand westlich-liberaler Verfassungstheorie in diesem Prozeß doch eine entscheidende Rolle spielen. Daß die WTO inzwischen auf dem Hintergrund des konstitutionellen Paradigmas betrachtet wird, ist weniger auf den inzwischen erreichten Entwicklungsstand als auf die Erwartung zurückzuführen, daß sich die WTO in den nächsten Jahrzehnten weiter konstitutionalisieren wird. Dabei wird es sich um einen langjähigen Prozeß handeln. Die gegenwärtigen Strukturen der WTO sind als Zwischenergebnis einer Entwicklung anzusehen, die nicht zum Abschluß gekommen ist. Die Entwicklung des WTO-Systems ist bislang weder in ihrem Endzustand bereits klar definiert noch zu einem Ziel gelangt. Gleichwohl zeichnen sich die allgemeine Entwicklungsrichtung und einige der wesentlichen Entwicklungslinien bereits deutlich ab. Vieles spricht dafür, daß sich im internationalen Wirtschaftsrecht im nächsten Jahrzehnt ein Prozeß der Verfestigung und Effektivierung abspielen wird, in dessen Verlauf das WTO-System die Ordrien des internationalen Wirtschaftsrechts in gleichem Maße erfassen. In seinem Zentrum wird das WTO-System stehen; andere Teilbereiche dieser Rechtsmaterie werden hingegen weiterhin von den Ordnungsformen des Kontraktualismus oder des Institutionalismus beherrscht werden. 56
Auf der anderen Seite steht aber auch außer Frage, daß nicht jede Verfassung gute Herrschaft konstituieren muß. Konstitutionalismus läuft diesem Begriffsverständnis zufolge nicht zwangsläufig auf eine Form guter Herrschaft hinaus. Ob die eingesetzte Herrschaft der Idee gerechter und angemessener Herrschaft entspricht, muß danach auch innerhalb des konstitutionalistischen Paradigmas diskutiert und im Lichte von Art und Inhalt der Verfassung beantwortet werden (ahnlich U. K. Preuss, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: ders. [Hrsg.], Der Begriff der Verfassung, 1994, S. 17 [26 f.]: Konstitutionalismus als „Inbegriff der theoretischen, praktischen Erfahrungen und normativen Ideen über die angemessene, vor allem auch rechtliche Form der politischen Ordnung"; vgl. auch S. 27: Konstitutionalismus als Form des „Nachdenkens über eine gute politische Ordnung").
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nungsform des Verbands mit verfassungsrechtlichem Grundstatut annehmen wird. Realisiert sich die Prognose, wird es später rückblickend heißen: Mit der Gründung der WTO wurde zugleich eine dritte Epoche der Entwicklung des internationalen Wirtschaftsrechts eingeleitet.
The WTO Evolving Constitution By John H. Jackson
I. Introduction The year 1999 marks a milestone in the history of the World Trade Organization (WTO) 1 . The WTO came into existence as a result of the 1994 Uruguay Round treaty, which entered into force on January 1, 1995. The WTO has thus been in existence for a full five years. Recent events may provide some context in which to examine the evolution of the WTO, namely, the Seattle Ministerial Meeting of November-December 1999 and the U.S.-China market access agreement. The U.S.-China agreement, which was concluded in November 1999, increases the probability that China will join the WTO in the near future. Both events create problems and challenges - as well as opportunities - for the WTO. The Seattle Ministerial meeting attracted troubling attention and diplomatic divisions almost as soon as it was scheduled in mid-1998. It became a lightening rod for protest, but, in addition, the major participating governments found it virtually impossible to achieve a consensus on the agenda. Deep divisions existed between various industrial countries, as well as between industrial and developing countries. Furthermore, the United States is approaching what may be a watershed election (in November 2000) and, with that pending, finds it quite difficult to exercise significant leadership. Other major participants have similar problems. Thus, the failure of the Seattle Ministerial is not too surprising, although the form and manner of the "suspension" of the meeting has many implications. The causes of the failure are numerous, and many fingers are pointed to various problems, both inside and outside the conference halls. The question now is the potential impact of this failure. Does it pose a risk of serious damage to the WTO as an institution and to the efforts to cope with the forces of globalization, or is it a temporary set back, not more serious than, say, the Uruguay Round ministerial failures in 1988 and 1990, which were followed in 1993 and 1994 by a stunningly successful result to the round? Arguments can be made on both sides (and in the middle) of these possibilities. 1
Portions of this article are based upon the author's previous works. See John H. Jackson, International Economic Law in Times that are Interesting, 3 Journal of International Economic Law (forthcoming); John H. Jackson , Dispute Settlement and the WTO: Emerging Problems, 1 Journal of International Economic Law 329 (1998).
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John H. Jackson
China's membership in the WTO will also be a major event for the WTO. Few people doubt that the China membership will have a serious impact on the world trading system and the WTO. Such a serious impact is inevitable, even without Chinese formal WTO membership. Worries are expressed about the suitability of the Chinese economic structure for the disciplines and rules of the WTO 2 . However, even those people who have expressed worry seem to feel that Chinese membership is better than the alternatives. Perceptive journalists have commented on the significance of the potential impact of the WTO and its rules structure on the further evolution of the Chinese economic structure 3. The 1994 Uruguay Round treaty called for further negotiations and reviews of its existing agreements or provisions. The treaty mandated negotiations by the year 2000 to further liberalize trade in agriculture and services. The treaty also called for a review of the WTO dispute settlement rules and procedures. The WTO dispute settlement rules and proceedings are located in the Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes (Dispute Settlement Understanding or DSU). These mandated negotiations and reviews constitute part of the so-called "built-in agenda" of future work agreed to at the end of the Uruguay Round. Many observers expected that these mandated negotiations and reviews would take place within the context of a new round of multilateral trade negotiations, originally expected to be launched at the Seattle Ministerial meeting. However, WTO members failed to agree upon a declaration that would achieve this. At the time of this writing, the WTO General Council has agreed to proceed with negotiations in agriculture and services, pursuant to mandates in the WTO multilateral trade agreements4. The DSU review is continuing on an informal basis. Under the WTO agreements, developing countries were to implement their obligations under the agreements on trade-related intellectual property and investment measures and on customs valuation by December 31, 1999. Currently, some developing countries are seeking extensions of these deadlines, and questions of implementation may arise in the future. This article will suggest some implications of the five-year history of the WTO, including the recent events just discussed. The article is divided into four additional parts. Part II examines how the WTO has evolved during its first five 2
James V. Feinerman , Free Trade, Up to a Point, N.Y. Times, Nov. 27, 1999, at A15; Robert Herzstein , Is China Ready for the WTO's Rigors?, Wall St. J., Nov. 16, 1999, at A30. 3 David E. Sanger , At the Last Hour, Down to the Last Trick, and It Worked, N.Y. Times, Nov. 17, 1999, at A14; John Pomfret , China's Bold Leap Into World Markets, Wash. Post, Nov. 16, 1999, at 1. 4
Agreement on Agriculture, art. 20; General Agreement on Trade in Services, art. XIX.
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years of existence. Part III addresses some emerging constitutional problems of the WTO. Part IV explores possible solutions and develops conclusions and prognoses for the future. Part V looks at international economic institutions in broader perspectives, and examines the implications of the global financial crisis on the world trading system. Part V I provides a short conclusion.
II. The Evolving World Trade Organization in Its Formation Years The WTO is having a profound impact on international economic relations. Noting the huge protests planned for the Seattle Ministerial conference, one observer writing in the New York Times said: "The trade group has become such a target of ire in part because it has proved one of the most powerful world bodies of any kind." 5 And the UN Secretary General Kofi Annan said recently "globalization should not be made a scapegoat for domestic policy failures ... the WTO must not be distracted from its own vital task: extending the benefits of free trade fully to the developing world" 6 . The Uruguay Round treaty that created the WTO has enormous implications for almost every topic of national economic regulation. Already it is being invoked for a variety of different economic problems, including some relating to the Asian/global financial crisis. Even after the Uruguay Round treaty was signed, negotiators continued to pursue agreements in other sectors, notably, telecommunications and financial services7. The telecommunications agreement reflects the reality that telecommunications are replacing ports as the new infrastructure for international trade. The financial services agreement is significant, particularly given that it was negotiated in the midst of the financial crisis. The negotiators of these agreements were basically trying to catch up with the fastmoving developments of globalizing markets. These agreements would truly astonish sovereigns of several decades ago, as they encroach upon national regulation and government.
5 Joseph Kahn , Global Trade Forum Reflects a Burst of Conflict and Hope, N.Y. Times, Nov. 28, 1999, at A l , A14. Kahn added: "Unlike the trade and tariffs group, its predecessor, this trade group has the power to decide disputes on its own and impose penalties on countries that do not abide by its conclusions. To avoid pressure from lobby groups and possible adverse effects on international financial markets, three-judge panels decide cases in closed chambers without having to reveal much about the process. Most of the appointee judges are trade lawyers." 6 7
Kofi Annan, Help the Third World Help Itself, Wall St. J., Nov. 29, 1999, at A28.
See Decisions Relating to the General Agreement on Trade in Services; Fourth Protocol to the General Agreement on Trade in Services, S / L / 2 0 (Apr. 30, 1996); and Fifth Protocol to the General Agreement on Trade in Services, S / L / 4 5 (Dec. 3, 1997).
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The WTO dispute settlement system is probably the most significant development of the Uruguay Round. The new dispute settlement system builds upon the GATT dispute settlement procedures, which were shaped by over 40 years of practice and experimentation, and it has corrected some of the GATT defects. The Uruguay Round treaty created a stronger, more rule-oriented, dispute settlement process. Key features of this new dispute settlement system include the automatic adoption of reports, which are binding under international law, and an appellate process. This appellate process has increased the rigor and careful reasoning of the dispute settlement reports. The panel and Appellate Body reports are grappling with sophisticated systemic "governing questions" of the world trading system. Such questions include reconciling interests that compete with international trade policies, such as national "sovereignty" and "subsidiarity", environmental considerations, and risk levels appropriate for human health impacts of food. The Shrimp-Turtle 8 and the Beef Hormones 9 cases are profoundly important and elaborately reasoned decisions that are clearly landmark tribunal opinions for international law. With treaty clauses as profound as those mentioned above, and with dispute settlement cases facing deep philosophical questions of national versus international governance, come some important constitutional problems. The Uruguay Round treaty contains numerous gaps and ambiguities, which is not surprising, given that more than 120 nations were negotiating. One key question is how these gaps and ambiguities will be resolved within the WTO framework. Some of these gaps and ambiguities are beginning to emerge in the discussions and dispute settlement proceedings of the WTO and seem to be particularly significant in the context of the subjects that are new to the WTO framework, namely, services and intellectual property rights. This raises the question of the role of the dispute settlement panels and the Appellate Body: is it appropriate or feasible for the dispute settlement system to resolve these gaps and ambiguities? In many cases, the panels and the Appellate Body would be required to undertake tasks that could be characterized as "law making" rather than "law applying". Such tasks would arguably be more appropriately taken up by a legislature (which does not exist within the WTO framework) or within the context of multilateral negotiations. Yet, the WTO rules on decision making and negotiation were purposely designed by the Uruguay Round negotiators to preserve so-called "sovereignty" for the nation-states, and thus impose a number of constraints on the exercise of power. These restraints could result in impasse. In such cases, the temptation will be greater to 8
US, Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, W T / D S 5 8 / A B / R (Oct. 12, 1998). 9 EC, Measures Affecting Meat and Meat Products (Hormones), WT/DS26 & 48/ A B / R (Jan. 16, 1998).
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overburden the dispute settlement system, despite treaty clauses aimed at constraining the authority of that process 10. The GATT/WTO history stimulates many generalizations. It is worth mentioning some of these generalizations. First, treaties are often an awkward - albeit necessary - method of designing institutions that are needed in today's interdependent world, but they do not solve many problems. The human institutions established, like those in other contexts (including that of the U.S. constitution), have a way of evolving and surprising the participants, including the creators. Probably no nation that accepted the Uruguay Round treaty really knew quite what it was getting into. Second, these institutions need constant, ongoing attention to help them evolve in appropriate directions, because they certainly will evolve. The GATT history shows a strong tendency, at least in economic matters, for international institutions to develop in the direction of rule orientation. Third, these processes must be understood in the context of international law and practice, and in the context of the very great influence of national constitutions and diverse legal systems. The nation-state is still very important. Finally, there is continuing tension between the role of the nationstate and the need for international institutions to facilitate cooperative mechanisms to enhance the efficient and just operation of markets, especially as the markets become more globalized.
I I I . Emerging Constitutional Problems of the W T O Every human institution faces the task of evolving and changing in the face of conditions and circumstances that were not originally considered when it was set up. This is most certainly true of the original GATT, and now of the WTO. With the fast-paced change of a globalizing economy, the WTO will necessarily have to cope with new factors, new policies, and new subject matters. I f it fails to do that, sooner or later it will be marginalized. Marginalization of the WTO could be very detrimental to the broader multilateral approach to international economic relations, thereby pushing nations to solve their problems through regional arrangements, bilateral arrangements, and even unilateral actions. Although such forms can play an appropriate role and can be constructive innovators for the world trading system, they run the risk of ignoring key components of the diversity of societies and societal policies that exist in the world. In other words, they run a high risk of generating significant disputes and rancor among nations, which can inhibit or undercut the advantages of cooperation that are otherwise hoped for under the multilateral trading system. 10
See, e.g., DSU, art. 3.2. Article 3.2 of the DSU states that "[recommendations and rulings of the DSB cannot add to or diminish the rights and obligations provided in the covered agreements".
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New approaches may also be necessary in resolving ambiguities within the GATT, which was incorporated into the WTO system. For example, the evolution in thinking about the Article III national treatment obligations has been affected and perhaps embellished by other multilateral trade agreements in Annex IA to the WTO Agreement, such as the Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures and the Agreement on Technical Barriers to Trade 11. Already a number of other newer subjects have been suggested for allocation to cooperative mechanisms in the WTO context. These include questions about competition policy, investment rules, human rights issues, environment in trade, labor standards issues, sanctions (unilateral or otherwise) to enforce some of these policies, and also questions of threat to peace and arms control. The inventory of potential new issues does not stop there 12. How will the WTO solve or attempt to solve some of these issues? The First Ministerial meeting, held in Singapore in 1996, faced some of these questions. Many people conclude that the results of that meeting did not suggest very innovative ways to cope with new issues. Obviously, the ministers felt the legal constraints of the WTO Agreement, and the political and economic constraints of attitudes of constituents in a number of different societies. Both substantive and procedural issues will need to be resolved. Substantive issues that remain unresolved include, for example, competition policy and investment rules. It is clear that a variety of the dispute settlement procedures (particularly relating to the text of the Dispute Settlement Understanding), as well as other procedures regarding decision-making, waivers, and accessions, are being scrutinized, and various suggestions for improvement are being put on the table. With respect to dispute settlement, the treaty text itself called for a full review during the calendar year 1998, which did not occur 13. How can these issues be considered and dealt with within the WTO institutional framework? First, it is important to note the delicate interplay between the dispute settlement process, and the possibilities or difficulties of negotiating new 11
See, e.g., Japan, Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8, 10 & 11 / A B / R (Oct. 4, 1996); EC, Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS27/ A B / R (Sept. 9, 1997); and EC, Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), WT/DS26 & 4 8 / A B / R (Jan. 16, 1998). 12 See John H. Jackson , Global Economics and International Economic Law, 1 Journal of International Economic Law 1, 2 2 - 2 3 (1998) (listing potential policy areas that can cause clashes with international trade and other international economic policy goals). 13
See Decision on the Application and Review of the Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes (inviting "the Ministerial Conference to complete a full review of the dispute settlement rules under the World Trade Organization within four years of the entry into force" of the WTO agreements, i.e., during 1998).
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treaty texts or making decisions to amend existing text. The possibilities of negotiating new text or making decisions pursuant to explicit authority of the WTO Agreement are quite constrained. In the final months of the Uruguay Round, the diplomatic representatives at the negotiation felt that it was important to build a number of "checks and balances" into the WTO Agreement. These rules were designed to constrain the decision-making authority of the WTO and thereby protect national "sovereignty." Accordingly, the decisionmaking clauses and the amending clauses of the WTO Agreement established a number of limitations on what the WTO membership can do 14 . The WTO amending procedures are probably at least as difficult as those that existed under the GATT. In fact, the WTO procedures were largely copied from the GATT, with the possible exception of certain non-substantive procedural amendments. Under the GATT, by the time of the Tokyo Round in the 1970s, the GATT Contracting Parties perceived that amendment was virtually impossible, so they developed the technique of adding "side agreements". The theory of the WTO was to avoid this "GATT à la carte" approach and to pursue a "single agreement" approach. Various attitudes toward the "single agreement" approach persist in the WTO. Apart from the formal WTO amending clauses, one can look at the powers concerning decision making, waivers, and formal interpretations. But in each of these cases, the WTO Agreement contains substantial constraints. Decision making (at least as a fallback from attempts to achieve consensus) is generally ruled by a majority-vote system. However, the language in the WTO Agreement (Article IX:3), as well as the practice under the GATT, suggests that decisions cannot be used to impose new obligations upon members 15. The GATT Contracting Parties sometimes used waivers to innovate and to adjust to new circumstances. But that process fell into disrepute and caused the Uruguay Round negotiators to develop texts that substantially constrained the use of waivers and subjected waivers to explicit revocation authorities. The GATT had no formal provision regarding "interpretations", and thus the GATT panels probably had a broader scope for setting forth interpretations that would ultimately become embedded in the GATT practice and subsequent negotiated treaty language. However, the WTO Agreement addresses this issue of formal interpretations directly, imposing a very stringent voting requirement of three-fourths of the total membership 16. Since many people observe that often a quarter of the WTO membership is not present at key meetings, one can see that the formal interpretation process is not an easy one to achieve. 14 Article IX of the WTO Agreement contains provisions on decision making, and Article X contains provisions on amendment. 15
WTO Agreement, arts. IX:2, X:3 and X:4; DSU, art. 3.2.
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WTO Agreement, art. IX:2 (stating that "[t]he decision to adopt an interpretation shall be taken by a three-fourths majority of the Members"). 27 FS Oppermann
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Given these various constraints, it would be understandable if there were a temptation to try to use the dispute settlement process and the general conclusions of the panel and appellate reports regarding interpretation of many of the treaty clauses that have ambiguity or gaps. However, the Dispute Settlement Understanding itself in Article 3.2 warns against proceeding too far in this direction: "Recommendations and rulings of the DSB cannot add to or diminish the rights and obligations provided in the covered agreements." The emerging attitudes of the Appellate Body reports seem to reinforce a policy of considerable deference to national government decision making, possibly as a matter of "judicial restraint". The provision of an explicit power of "formal interpretation" with a supermajority requirement in the WTO Agreement also arguably constrains how far the dispute settlement system can push the idea of its report rulings and recommendations becoming "definitive". In short, there are indications that the dispute settlement system cannot and should not carry much of the weight of formulating new rules, either by filling gaps in the existing agreements, or by setting forth norms that carry the WTO into totally new territory, such as competition policy or labor standards. In addition, there are many procedural questions. Some of the procedures under the Dispute Settlement Understanding are now being questioned. Various suggestions are coming forward within the context of the DSU review, and some lists of proposals for change exceed 60 or 80 items or suggestions. Many of these suggestions are reasonable "fine-tuning", without dramatic consequences to the dispute settlement system. But even fine-tuning can be difficult to achieve, given some of the constraints on decision making. One of the geniuses of the GATT was its ability to evolve partly through trial and error and practice. Indeed, dispute settlement under the GATT evolved quite dramatically over four decades. Gradually, concepts such as "prima facie nullification" or the use of panels (rather than "working parties") became embedded in the dispute settlement process and, under the Tokyo Round Understanding on Dispute Settlement, became "definitive" through consensus action by the GATT Contracting Parties. The language of the DSU and of the WTO Agreement seems to greatly constrain some of this approach, in contrast with the GATT. Article 2.4 of the DSU reads as follows: "Where the rules and procedures of this Understanding provide for the DSB to take a decision, it shall do so by consensus." The definition of "consensus" is then supplied in a footnote and, although not identical with "unanimity", provides that an objecting member can block consensus17. Likewise, the WTO Agreement itself provides a consensus requirement for 17 Article IX: 1 of the WTO Agreement defines consensus as follows: 'The body concerned shall be deemed to have decided by consensus on a matter submitted for consideration, if no Member, present at the meeting when the decision is taken, formally objects to the proposed decision." WTO Agreement, art. IX: 1 η. 1.
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amendments to Annexes 2 and 3 to the WTO Agreement. It will be recalled that Annex 2 contains the dispute settlement rules and procedures. Thus, the opportunity to evolve by experiment and trial and error, plus practice over time, seems considerably more constrained under the WTO than was the case under the very loose and ambiguous language of the GATT. Therefore, we have a potential for stalemate, or a potential for the inability to cope with some of the problems that face the new WTO institution.
IV. Exploring Possible Solutions and Developing Conclusions and Prognoses for the Future Given that the WTO rules constrain the ability of the WTO to develop gradually, it may be useful to consider some ways in which the WTO can develop. Perhaps the WTO can develop a somewhat better opportunity for explicit amendment, using the two-thirds majority (and three-fourths majority in substantive cases) power of amendment in the WTO Agreement. Perhaps some of the decisions that are possible by the WTO membership in its ministerial meetings or various council meetings can "creep up on" some of the contentious issues, thereby resulting in certain small steps of reform. These decisions would then become part of the "practice under the agreement" referred to in the Vienna Convention on the Law of Treaties 18. How can the dispute settlement rules and procedures develop within the WTO framework? It may be possible to work within the consensus rule to make some changes to Annex 2 (the Dispute Settlement Understanding) 19. In other words, it may be possible for members to make some changes to the DSU without seeking the approval of their national government for the proposed amendment, thereby avoiding some of the elaborate procedures of national government ratification of treaties. The question of such consensus relates to at least two different kinds of decisions: (1) changes in the text of the DSU and (2) decisions by the DSB that could involve incidental or interstitial and ancillary procedural rules, assuming that such rules are consistent with DSU. Of course, the consensus rule apparently applies. In a few situations, basic, small and relatively unimportant decisions could be made as a matter of practice of the administration of the dispute settlement system. Such decisions might include how to interpret time deadlines, the form of complaints that should be 18 Vienna Convention on the Law of Treaties, art. 31.3(b). Article 31.3(b) provides that "any substantive practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation ... shall be taken into account together with the context". 19 Article X:8 of the WTO Agreement requires that members approve amendments to the DSU by consensus.
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filed, or the development of a relatively uniform set of procedural rules about activities of panels and panel members, translations, or documentation. Even then, there is at least some likelihood that an objecting member could force an issue to go to the DSB and dare to block consensus. New WTO rules on investment, competition policy, or the environment could not be accomplished merely through procedural means. I f amendment of the multilateral trade agreements proves not to be feasible, one could look at the plurilateral trade agreements, contained in Annex 4 to the WTO Agreement. These plurilateral agreements are optional, and thus in the drafting process do not necessarily need to be subject to consensus. However, adding a trade agreement to Annex 4 does require consensus. Once again, an objecting member could block consensus. This opportunity to block will translate back into the negotiating process about what can be negotiated to be placed in such a new potential plurilateral trade agreement. Other legal and procedural innovations to accomplish change may develop. For example, implementation of the results of both the telecommunications and the financial services negotiations rely heavily upon insertions into the individual service schedules of commitments by members 20. Thus, it may be that the critical development for the WTO is to address "consensus" procedures and give attention to the meaning and practice of consensus. It might be feasible to develop certain practices about consensus that would lead WTO members to restrain themselves from blocking a consensus in certain circumstances and under certain conditions. In other words, the General Council or the DSB might develop a series of criteria about consensus concerning certain kinds of decisions, which would strongly suggest to member states that, if these criteria were fulfilled, they would normally refrain from blocking the consensus. Perhaps this could develop a bit like the practice in the European Community history and jurisprudence of the "Luxembourg Compromise", where it has been understood that governments would refrain from exercising their potential vote against a measure in certain circumstances, unless the measure involves something of "vital interest" to the nation member involved. While not pursuing the analogy too far, one might see something similar develop in the context of the WTO. A "vital national interest" declaration could be in practice a condition for blocking consensus, and the practice could develop to subject such declarations to inquiry, debate, and criticism.
20 From discussions with WTO officials and from WTO documents. See Successful Conclusion of the WTO's Financial Services Negotiation (Dec. 15, 1997), available at http://www.wto.org/wto/services/press86.htm (visited Feb. 18, 2000); Basic Telecommunications - Schedules of Commitments and Lists of Article II Exemptions, April 1997, available at http://www.wto.org/wto/new/gbtoff.htm (visited Feb. 18, 2000).
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What conditions or circumstances might encourage nations to refrain from blocking consensus on some of the more purely procedural reforms that might be desired, either in amending the DSU or in decisions of the DSB? The major criterion is that a proposed procedural measure must be consistent with the fundamental principles of the WTO, including MFN treatment, and perhaps some of the substantive requirements of the treaty texts, such as national treatment or restraints on border measures. Normally, procedural changes would not challenge those particular rules. It might be possible to establish a supermajority threshold (such as 70 or 90 percent of the members present) or some threshold percentage of total WTO membership trade represented by agreeing members (such as 90 percent of WTO trade). Some ideas about a "critical mass" threshold have already been discussed in the WTO 21 . Another possibility is to set up a process by which a proposed procedural measure is first examined in depth by a special expert group that is appointed by the DSB or the WTO membership. The expert group would consist of persons with considerable expertise on legal procedures and would be recognized as impartial and not prone to pushing one reform over another for particular advantage to the nation concerned. It might be preferable that the members of the expert group should be, like panels, working and discussing in their own right and judgment rather than on the instruction of governments. Indeed, the expert group might draw upon individuals who are not part of the diplomatic missions in Geneva and, in some cases, not even government employees. The expert group could prepare certain recommendations or evaluate proposals that have otherwise been made, and then send them to the DSB or the General Council with a recommendation of adoption. Then, if the other criteria were fulfilled, members would be strongly encouraged to refrain from blocking consensus, partly with the notion that in the future they may be supporting other measures, which would similarly benefit from restraint of consensus-blocking techniques. With respect to more substantial reforms that might be developed through plurilateral trade agreements (which could be added to Annex 4), it might be useful to develop a set of criteria that would be used to persuade members to refrain from exercising consensus-blocking techniques. These criteria would not be part of a treaty; rather, they would be informal and would develop over time. The following criteria could be considered: First, the new proposed plurilateral agreement would not be inconsistent with any of the existing rules of the WTO Agreement and its Annexes, especially Annex 1 (GATT, GATS, and TRIPS). Thus, MFN treatment would be fulfilled 21
WTO Secretariat, Director General's Remarks at the 50th Anniversary Symposium (Apr. 30, 1998), available at http://www.wto.org/wto/new/symp_rem.htm (visited Feb.
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where otherwise required by the rules of Annex 1. The new agreement would also be consistent with other measures already embodied in the various WTO agreements. Of course, the new agreement would sometimes contain measures that call for rules that would apply to those accepting the new protocol but that would differ from the other WTO rules. There should be no detrimental impact on the non-members of the new protocol. Second, the proposed plurilateral agreement should have among its proponents a "substantial" number of members of the WTO. What constitutes substantial? It should be relatively clear that bilateral agreements would not be good candidates. Beyond that, how many members should be required? Perhaps 10 or 20. Or perhaps the minimum number would be left ambiguous, as long as it was not just a few members. It should be noted that smaller groups of members can enter into regional trading arrangements, provided that these are not inconsistent with the other rules of the WTO, particularly including Article X X I V of the GATT. Third, the proposed plurilateral agreement would be open to accession by any WTO member. Possibly this ability to accede to the plurilateral agreement should be unconditional. This would mean that the proposal for a plurilateral agreement would have within its text all the measures to be required, leaving nothing further to be negotiated for accession. There might be some exception for a "scheduling" type apparatus, analogous to GATT tariff schedules or GATS service schedules22. Fourth, it could be required that a majority vote of the Council would recommend the addition of the plurilateral proposal to Annex 4. This majority vote could be something of a supermajority, such as two-thirds. Other formulas for the vote could be envisaged. Again, a vital national interest declaration could be used, however, to block consensus. Finally, since bringing a new plurilateral agreement under the WTO "umbrella" by adding it to Annex 4 might have some financial implications for the budget of the Secretariat and for other assistance in enhancing and carrying out the plurilateral agreement, an additional principle to avoid consensus blocking could be that the financial costs of the additional activity created by the proposed plurilateral agreement would be carried entirely by the members who have acceded to the agreement, under a special budget item in the WTO financial system.
22 From discussions with WTO officials and from WTO documents. See Successful Conclusion of the WTO's Financial Services Negotiation (Dec. 15, 1997), available at http://www.wto.org/wto/services/press86.htm (visited Feb. 18, 2000); Basic Telecommunications - Schedules of Commitments and Lists of Article II Exemptions, April 1997, available at http://www.wto.org/wto/new/gbtoff.htm (visited Feb. 18, 2000).
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Possibly with an approach like this to providing some constraint on blocking a developing consensus, the risk of the consensus requirement creating stalemate and inability to evolve and cope with new problems in the global economy could be minimized. These criteria could be developed through resolutions of the General Council or the DSB, in the form of "recommendations to members" and might lead to relatively informal practice, which nevertheless could be effective over time. I f such practice was reasonably successful, it might achieve some of the best of several divergent policies, namely, allowing measures to go forward short of unanimity or total consensus, but at the same time protecting (in some sort of ultimate and "vital sense") the right and power of every member of the WTO to object, hopefully only in those very few cases that were strongly important to its vital national. Clearly this must develop as sort of a "gentlemen's agreement" over time, and the practice of this procedure in its formative period (perhaps several years) would be extraordinarily important.
V. International Economic Institutions in Broader Perspectives The evolution of the WTO should also be examined in light of its relationship to international financial institutions such as the International Monetary Fund (IMF) and the World Bank. In recent years, some of the international financial institutions have been criticized for such things as lack of transparency. The WTO has received similar criticism, with respect to both its internal decision-making process and its dispute settlement process. Thus, the history of these international financial institutions may shed light on the evolution of the WTO. On the other hand, there are differences between the WTO and the international financial institutions, with respect to voting structure, for example. Therefore, it may be useful to examine the relationship between the WTO and the international financial institutions, particularly in light of the Asian /global financial crisis. Accordingly, this part briefly examines some elements of this crisis. This part also focuses on some of the issues that confront both the WTO and the international financial institutions, such as, the balance of power between international institutions and nation-states. Both the many causes of this global financial crisis and the various remedies tried or proposed for it have been very controversial. It does appear that we witnessed an extreme case of "market failure". To put it more strongly, the events of those years suggested to some that markets are not working and that market economics is not the solution to the world's problems. The major clamor of that period, including that of many market-oriented advocates, was for government to do something, i.e., "to act". The markets themselves seemed at one point to watch for signals that governments would cope with the problems, whether using interest rate adjustments, bailout programs, ad hoc bankruptcy
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measures, lending of last resort, changes in international institutions, or other measures. Perhaps a decade's perspective would suggest that, with the fall of the Berlin wall as the symbol of the diminished popularity of socialist or statecontrolled economic structures and viewpoints, there arose an aura of overconfidence in market-oriented approaches to solve major human problems, and maybe this hubris itself is one source of fault in the crisis. Here, we cannot do more than ask the question, but clearly this thought remains relevant. From the legal scholar/practitioner's perspective, a very important feature of this financial crisis is what it says about the institutions of the global market. Economists in recent decades have been focusing more attention on the "human institutions" that are a necessary condition for markets to function successfully 23. In many ways, this is also lawyers' territory. Since the crisis, much has been written and discussed about the Bretton Woods system and its architecture. The context of these and other reactions to the crisis mingles deeply into the broad subject of the philosophy of government, or maybe what today we would describe as the philosophy of governance. This context, it seems clear, will necessarily be colored by many of the great ideas of civilization, such as: What is human nature (about which market economics is generally pessimistic and skeptical)? What form of government works best in some situations (referring sometimes to democratic forms compared with representative forms)? How in a democracy can the elite and those with high levels of expertise operate effectively and appropriately while avoiding abuse of power (the general dangers of concentration of power which the United States approaches through checks and balances or separation of powers, as well as its antitrust laws)? What is the role of human liberties or human rights? This is too vast a terrain for a brief article, so I will not elaborate much here. As government leaders attempt to deal with the international economic crisis, which has been described by some as the worst crisis since the beginning of the Bretton Woods system, clearly they are addressing the institutional framework for necessary government intervention, which generally means international government intervention with nation-state participation. Lessons from the history of many international institutions, but especially those of the Bretton Woods system including the GATT/WTO history, are obviously crucial parts of the necessary learning and expertise that will be needed for these measures.
23 Yet even when stressing the benefits of market economics, important thinkers note the importance of human institutions that guide and shape markets. Many economists, particularly in recent decades, have stressed this. Nobel Prize winners Ronald Coase and Douglas North have each made this point in their writings. See Ronald Coase, The Firm, the Market and the Law (1988); Douglas C. North , Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990).
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The legal structures of the institutions impose constraints and suggest potential for change. The very structure of international law (particularly, the normal rigidities of treaties and their formation), as well as the intricate links of treaty developments to many national constitutional structures, will often create barriers to what some policy makers perceive to be the optimum solutions to problems. Yet sometimes these constraints have important longer-range policy underpinnings and derive from fundamental "constitutional" considerations. For example, the IMF and the World Bank have an interesting structure of weighted voting, which has been highly criticized in some quarters and prized in others. The political realities of world economic institutions today are very strongly opposed to weighted voting or even certain other constructions that might be considered for new institutions so as to more realistically recognize the actual power relations in the world, for better or worse. To a great extent, the WTO Agreement has been heavily shaped by some of these considerations. As a result, it tilts towards consensus-based decision making for even detailed procedural rules. As to the IMF and World Bank, it seems unlikely that the major economic powers will lightly abandon these considerations or that those institutions will be discarded or set aside in favor of totally new institutions. Therefore, solutions are most likely to be arranged within the constitutional parameters of those existing institutions. Yet existing institutions tend to have inherited characteristics that may be difficult to overcome. Some of the current WTO discourse suggests this in relation to the very large shift in the dispute settlement process. Nevertheless, there are strong suggestions for similar large shifts of attitudes and practices in the financial institutions of the IMF and World Bank. There have been proposals for greater transparency, more checks and balances on discretionary exercise of power and decision making, and greater input from "civil society" (i.e., nongovernmental organizations and individuals). In discussing reform of the world financial system (whether we call it constitutional reform or architectural reform), it is necessary to consider the relationship between the financial institutions and the trade institution, namely, the WTO. Increasingly, the financial institutions are recognizing the microeconomic sources of important defects in the macroeconomic world structure, as they digest the failures within nation-state economic systems. These failures are linked to defects such as lack of transparency; lack of important economic information; arbitrary and capricious (and therefore unpredictable) governmental decisions; and decisions discriminating against those from outside the society. In today's global market, foreign capital is often the most significant source of input and can drive economic development. Virtually all of the solutions that were suggested involve a degree of intrusiveness into domestic governance that is unprecedented and would have been deemed impossible several decades ago.
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One key question will be whether the international and other non-domestic pressures (whether multilateral, bilateral, or non-governmental) will always be in the best interest of the target countries and world prosperity, or whether these pressures will be tilted to favor certain special interests that have the ability to strongly influence the direction of the reforms being hatched.
VI. Conclusion The challenge to the WTO manifested by the anti-WTO and Globalphobia activities at Seattle will probably not be a major cause of difficulty for the WTO, but it will nevertheless add to the many causes of such difficulties. Seattle was at least a "mini-crisis". Even if the WTO continues on its course as it likely will, there is a danger that its defects and difficulties will cause major WTO members to "take their business elsewhere", in other words, to utilize other multilateral organizations, regional associations, bilateral negotiations or pressures, or even unilateral measures. I f this occurred to the point where the WTO essentially atrophied and became irrelevant, the world would have lost a remarkable opportunity to enhance the world economic system so as to minimize the risks of economic crises, reduced standards of living worldwide, and dangers of armed conflict.
New Economy - New Democracy? Zur demokratischen Legitimation der WTO Von Meinhard Hilf
I. Ausgangslage: Ein demokratisches Defizit auch bei der WTO? Nach Seattle könnte alles anders geworden sein. Die achte Verhandlungsrunde seit der Gründung des GATT im Jahre 1947 sollte so beginnen, wie sie alle zuvor begonnen hatten: Eine feierliche Eröffnungskonferenz der Mitglieder der WTO, auf der Grundlage der Vorbereitung durch bestellte Verhandlungsführer, die Anreise von Ministern und Staatschefs und nach längerem Tauziehen hinter verschlossenen Konferenztüren die Verkündung einer Tagungsordnung für eine neue mehijährige Verhandlungsrunde: „Millenium-Runde" sollte sie heißen. Aber es kam bekanntlich anders: Straßenkämpfe, Aufmärsche, Demonstrationen von ungezählten zivilen Organisationen und Gruppen, die letztlich einen erfolgreichen Auftakt der Runde verhinderten. Die Öffentlichkeit hatte die WTO entdeckt und umgekehrt. Obgleich seit Monaten zuvor im Internet die unterschiedlichsten Kritiken und Strategien sichtbar wurden und zum Marsch auf Seattle aufgerufen worden war, zeigten sich viele überrascht. Die Konferenz wurde erfolglos abgebrochen. Die Verhandlungen über eine neue Runde sollen noch einmal vorbereitet werden und zwar in Genf, dem gewohnten Sitz der WTO. Eines der wichtigen Themen für Thomas Oppermann ist in den verschiedensten Variationen die Wahrung und Fortentwicklung der grundlegenden Verfassungsprinzipien. Wie kann und wie muss die Ausübung von Hoheitsgewalt im nationalen, europäischen und weltweiten Zusammenhang legitimiert werden, um den Anforderungen moderner Auffassungen von Demokratie zu genügen?1 Auf der Grundlage der gegenwärtigen Zeitläufe hat Oppermann die Legimationsdefizite auf allen Ebenen frühzeitig erkannt und hieraus die Herausforderungen für die Zukunft mit einem optimistischen Grundton angenommen. Bedächtig und engagiert zugleich und stets noch mit Bodenhaftung, von der manche sich nicht lösen können und andere losgelöst abheben. 1
Vgl. zum Demokratiedefizit T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 246.
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Was kann aus den Legitimationsfragen im nationalen Verfassungsrecht und im europäischen Recht gefolgert werden für die WTO, die nunmehr mit schneidigen Entscheidungen u.a. auf Grund ihrer obligatorischen Verfahren zur Streitbeilegung nachhaltig in den Rechtskreis Einzelner eingreift? Genügt nicht der in den Organen der WTO versammelte Sachverstand etwa im Sinne einer funktionellen Kooperation ähnlich wie es in den Frühzeiten der Europäischen Gemeinschaft durch die funktionelle Integration für ausreichend angesehen wurde?2 Ist nicht ein von den zur Zeit 139 Mitgliedern im Konsens gefundener Kompromiss ausreichend legitimiert, weil er vom Ansatz her jedenfalls die Interessen aller zum Ausdruck bringt? Also vielleicht eine Art verfahrensmäßige Legitimation, der angesichts zunehmend komplexer Entscheidungsabläufe Bedeutung zukommen könnte. Oder gibt es andere Modelle, die zumindest für den Wirtschaftsbereich eine Weltinnenpolitik vordenken könnten, ein WTO-Parlament mit entsandten oder gewählten Vertretern? Die herkömmlichen Verfahren der nationalen Parlamente, die die Entscheidungsprozesse in der WTO kaum wirkungsvoll begleiten bzw. die Verhandlungsergebnisse nicht mehr beeinflussen können, reichen nicht mehr aus. Seattle steht also als Synonym für die spontane Suche nach transnationalen Legitimationsprozessen. Bei dieser Suche scheint die Politische Wissenschaft derzeit der Rechtswissenschaft weit voraus zu sein. Hans Peter Ipsen hatte noch 1972 bedauernd feststellen können, dass die politische Wissenschaft die vorwärtsdrängenden Prozesse der europäischen Integration noch nicht erfasst habe3. Mit einer Armada sprachlicher Wucht und mit den Juristen oft fremden Wortkanonaden werden nunmehr kühne Entwürfe der „konstruktiven Rekonzeptualisierung von Politik" vorgelegt, die das „Regieren oberhalb des demokratischen Rechtstaats" erfassen sollen4. Es geht um die „soziale Integration" des einzelnen als Vorbedingung legitimierter Ausübung von Hoheitsbefugnissen, die im weltweiten Zusammenhang zur Zeit kaum vorstellbar erscheint. Aber auch im nationalen Bereich, in dem das Grundmuster der sozialen Integration noch am ehesten erkennbar ist, zeigen sich Krisensymptome. Ist hier die Staatsgewalt noch unmittelbar legitimiert, so verliert sie doch zunehmend ihre Steuerungskraft im Hinblick auf die gesellschaftlichen Prozesse: Der Staat steuert nicht mehr die Gesellschaft, sondern nur noch in der Gesellschaft - so die in großen Teilen der politischen Wissenschaft eingebürgerte Einsicht5. 2
So sinngemäß H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 6 / 4 6 f.
3
H.R Ipsen (Fn. 2), § 1 /18.
4
Zusammenfassend J. Neyer, Legitimes Recht oberhalb des demokratischen Rechtsstaates? Supranationalität als Herausforderung fur die Politikwissenschaft, PVS 1999, 390 ff. unter Hinweis u.a. auf N. Dahl, A Democratic Dilemma. System Effectiveness versus Citizen Participation, in: Political Science Quarterly 109 (1994), 23 ff.; F. W. Scharpf[ Regieren in Europa, 1998, sowie R. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung als Chance, 1998.
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Für die europäische Ebene ist bereits streitig, ob in ausreichendem Maße eine unmittelbare Legitimation von den Völkern ausgehen kann. Diese wählen unmittelbar das Europäische Parlament, das zunehmend dem Rat gleichgestellt wird und im Rahmen der Mitentscheidung und Zustimmung wenigstens der Form nach Legitimation bereitstellen kann. Dennoch soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Gemeinschaftsgewalt sich zuvörderst auf die nationalen Parlamente zurückfuhren lassen müssen6, da nur auf der nationalen Ebene ein Diskurs möglich sei, den man als demokratisch ansehen könne. Oppermann ist dieser begrenzten Sichtweise kritisch entgegengetreten7. In der Tat erscheint die europäische Ebene durchaus geeignet, demokratisch fundierte Legitimation hervorzubringen8. Eine „Willens- und Kommunikationsgemeinschaft aller Betroffenen" sei im Werden und könne mit der Zeit eine ausreichende Legitimationsgrundlage für den Integrationsprozess abgeben9. Die Verfassungsdiskussion verläuft in Schüben und ist derzeit wieder einmal in Gang gekommen. Die Frage nach der Finalität ist gestellt, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen über die Endgestalt. Bisher hatte es dem Einigungsprozess eher genützt, dass die Endgestalt der Integration bewusst offen geblieben war: Der Weg war das Ziel. Für die weltweite Ebene ist die politische Wissenschaft auf der Suche nach einem „deliberativen Supranationalismus", nach einem „praxeologisch relevanten Konzept", das einerseits keine gewaltbegabte supranationaler Instanzen hervorbringen müsse, andererseits aber doch die Macht der bisher weitgehend unbehindert handelnden Regierungs- und Interessenvertreter begrenzen müsse. „Supranationalismus" wird dabei einheitlich für die europäische als auch für die weltweite Ebene verwandt 10. Hier pflegt die Rechtswissenschaft deutlicher die europäische Ebene abzugrenzen, die allein im Sinne eines enger verstandenen Supranationalismus in der Lage ist, mit Vorrang und unmittelbarer Anwendbarkeit das von ihr gesetzte Recht durchzusetzen. Diese Kennzeichen einer Rechtsgemeinschaft sind jedenfalls zur Zeit auf der Ebene der WTO noch nicht zu erkennen. Aber ein Wandel ist sicher nicht ausgeschlossen. 5
Etwa F. W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, PVS 1991, 621 ff.; H. Willke, Ironie des Staates, 1996, S. 11. 6
BVerfGE 89, 155 (185): „Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolgt mithin demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten [...]." 7
T. Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, in: P. Hommelhoff/P. hof {Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 87 (95 f.).
Kirch-
* J. Neyer , Building Territoriality and Functionality? Globalization meets the Law, in: A.C. Budak/V. Gessner (Hrsg.) Emerging Legal Certainty. Empirical Studies on the Globalisation, 1998, S. 401 ff. 9
Vgl. demnächst A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union. Zur Kritik von Inhalt und Funktionen eines normativen Begriffs, Jur. Diss. Hamburg, 2000 (i.E.). 10
So insgesamt J. Neyer (Fn. 4), S. 392 ff.
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II. Die WTO unter dem Dualismus von Politik und Wirtschaft Die offenbare Unfähigkeit der nationalen Parlamente, die Entwicklungen in der WTO zu steuern, hat manche zu der Annahme verleitet, dass sich die einschlägigen Wirtschaftsinteressen des Entscheidungsprozesses bemächtigt hätten11 Wie auch sonst — der demokratisch eindeutig legitimierte Prozess komme zu spät und habe sich oft nur noch auf Reparaturen gegenüber Auswüchsen und Fehlentwicklungen zu beschränken. Der „entfesselte Liberalismus" habe die WTO fest in der Hand, ohne dass der allgemeine politische Prozess zur Wahrung aller und insbesondere schwächerer Interessen dem entgegentreten könne. Wie kann bei der wirtschaftlichen und sozialen „Entgrenzung" der Primat der Politik erhalten oder wiederhergestellt werden? Wie können verfassungsrechtliche Prinzipien auch jenseits der nationalen Grenzen gewahrt werden? Das schillernde Schlüsselwort hierzu ist die Forderung nach einer Konstitutionalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Zwei Ansätze beherrschen hierzu die gegenwärtige Diskussion. Sie stellen entweder das Individuum oder den Staat in den Mittelpunkt der - internationalen — Wirtschaftsbeziehungen. Sieht man die WTO als völkerrechtliche Nebenverfassung zur Verwirklichung individueller Freiheiten und zur Begrenzung protektionistischer Außenhandelspolitiken der Einzelstaaten, so trägt die WTO die von den einzelnen ausgehende Legitimation schon in sich. Die zwingende Folge ist die Forderung nach einer unmittelbaren Anwendbarkeit des WTORechts und insbesondere nach seinem Vorrang vor dem Recht der Einzelstaaten 12 . Für diese Auffassung sprechen zahlreiche Entwicklungen auf anderen Gebieten wie die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs bzw. der Ausbau des internationalen Menschenrechtsschutzes. Die Gegenthese sieht die Einzelstaaten nach wie vor als die Träger der sich fortentwickelnden internationalen Rechtsordnung. Sie blieben auf Grund ihrer unmittelbaren demokratischen Legitimation die wichtigsten Akteure, deren Willen sich entscheidend durchzusetzen vermag. Die Staaten als Mitglieder der WTO lehnten derzeit nahezu übereinstimmend die unmittelbare Anwendbarkeit und einen innerstaatlichen Vorrang des WTO-Rechts ab13. Sieht man einmal von den Vereinigten Staaten von Amerika ab, so werden die übrigen Staaten jedoch erkennen müssen, dass ihnen die Steuerung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen 11 Vgl. demnächst M. Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechts der Welthandelsorganisation (WTO), Dissertation Hamburg 2000 i.E., Ms. S. 102 ff. 12 Vgl. vor allem E.-U. Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional Problems of International Economic Law, 1991; ders., The WTO Constitution and Human Rights, JIEL 2000, 19 ff.; ders., in dieser Festschrift. 13 P.-T. Stoll, Freihandel und Verfassung. Einzelstaatliche Gewährleistung und die konstitutionelle Funktion der Welthandelsordnung (GATT/WTO), ZaöRV 57 (1997), 83 ff.
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schon längst entglitten ist oder sie zumindest einen äußerst ungleichen Einfluss auf den Entscheidungsprozeß innerhalb der WTO ausüben können. Vermittelnd könnte man festhalten, dass sich die Staaten der Mitwirkung der Einzelnen vergewissern müssen, um die Interessen des Allgemeinwohls zu wahren. Ohne die Kenntnisse der Einzelnen über die Wirtschaftsabläufe, ohne ihre dezentrale Interessenwahrnehmung bleiben die Staaten überfordert und hemmen sich gegenseitig in der Konsenssuche zur Auflösung von Konflikten. Und mehr noch: Ohne die Zustimmung der Einzelnen und ohne deren legitimierende Hinnahme der gesetzten Regeln im Sinne einer generellen Akzeptanz kommt es zu Vorgängen wie jenen in Seattle. Es kommt daher entscheidend darauf an, dass die Interessen aller berücksichtigt werden und eben auch aller, die nicht unmittelbar mit dem Wirtschaftsgeschehen in Verbindung stehen. Die innerhalb der WTO auszuhandelnden Kompromisse können die Zustimmung der Betroffenen nur erhalten, wenn sich in den Entscheidungsverfahren und letztlich in den Ergebnissen zumindest die dominanten gesellschaftlichen Anliegen wiederspiegeln. Und dies wird zur Zeit für die Anliegen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes, der Entwicklungsländer und der Interessen der Arbeitnehmer sowie der kleinen und mittleren Unternehmen immer wieder bestritten. I I I . Legitimationsansätze in der W T O Geht man im Rahmen der Kooperation, die weiterhin Grundlage der WTO bildet, von den legitimationsstiftenden Staaten aus, so zeigen sich mehrere Ansätze zur Legitimation. In den Blick geraten die nationalen Parlamente, die nationalen Regierungen bzw. die Regeln über die Streitbeilegung. Die nationalen Parlamente geben ihre Zustimmung zu den Übereinkommen, die zur Gründung der WTO geführt haben bzw. zu den Folgeübereinkommen. Die rechtsvergleichende Untersuchung von Jackson und Sykes14 lässt im Hinblick auf die nationalen Zustimmungsverfahren zum WTO-Übereinkommen kaum Illusionen zu: Bis auf den Kongress der Vereinigten Staaten haben die Parlamente der übrigen Mitglieder der WTO kaum Interesse oder Verständnis für das komplexe Regelungswerk aufgebracht, das am Ende der achtjährigen Uruguay-Runde herausverhandelt worden war. Das übliche Änderungsverbot 15 ist ohnehin nicht dazu angetan, größere Debatten im Detail herauszulocken. Und welches Parlament wollte sich schon dem auf weltweiter Ebene gefundenen Kompromiss noch in letzter Minute in den Weg stellen? Eine von den Parlamenten ausgehende Legitimationsquelle könnte aber auch in einer die Verhandlungen begleitenden Kontrolle und Einflussnahme liegen. 14
J.H. Jackson / A. O. Sykes (Hrsg.), Implementing the Uruguay-Round, 1997.
15
Vgl. beispielsweise § 82 Abs. 2 GO-BT und Art. 86 Abs. 1 GO-EP.
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Während auch hier wiederum der Kongress im sog. fast-track-Verfahren vorausplanend Einfluss nimmt und auch das Europäische Parlament über den REXAusschuss versucht, sich frühzeitig ein Bild über die Verhandlungen zu machen, scheint in den übrigen Parlamenten kaum Interesse zu bestehen, auf die Verhandlungsführer oder auf ihre von den Regierungen vorgegebenen Mandate im Rahmen des begrenzten verfassungsmäßigen Rahmens einzuwirken. Eine nähere Durchsicht der Bundestags-Drucksachen würde dies zumindest für die UruguayRund bestätigen. Inwieweit nunmehr die Vorkommnisse von Seattle und die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit für Fragen der WTO eine Änderung bewirken kann, muss abgewartet werden. Parlamentarier werden neuestens in zunehmendem Maße in Verhandlungsdelegationen angetroffen. Auch in Seattle waren Einzelne anwesend, die sich sogar zu einer gemeinsamen Sitzung zusammenfanden. Eine nachhaltige Beeinflussung des heimatlichen Parlaments dürfte allerdings hiervon kaum ausgehen. Die Regierungen dürften auch weiterhin eindeutig das Übergewicht im Hinblick auf den Fortgang der multilateralen Verhandlungen behalten. Nationale Parlamente sind in erster Linie auf die eigene Wählerschaft ausgerichtet. Solange Fragen der WTO diese noch nicht erreicht haben, dürfte auch das Interesse des jeweiligen nationalen Parlaments entsprechend gering bleiben. Auch insoweit könnten die Vorgänge von Seattle ein geändertes Verständnis der Basis hervorgerufen haben. GMOs, Hormonfleisch und Bananen sowie Umweltfragen könnten künftig Stichworte sein. Die Parlamente werden sicherlich auch weiterhin Überlegungen anstellen, wie sie ihren Einfluss auf die Regierung bzw. auf deren internationale Verhandlungen ausbauen können. Für die Mitgliedstaaten der EG kommt hinzu, dass die eigentlichen Verhandlungen von der Kommission geführt werden und sich von daher ihr Einfluss auf den jeweiligen nationalen Vertreter im begleitenden und keineswegs machtlosen „130er-Ausschuss" beschränken müsste16. Für die Bundesrepublik Deutschland hat der verfassungsändernde Gesetzgeber über Art. 23 GG die Begründung neuer Hoheitsbefugnisse auf der Ebene der Europäischen Union ermöglicht. Als Voraussetzung wurde u.a. die Beachtung demokratischer Grundsätze festgelegt. Dies gilt auch für die internationale Verhandlungsführung der EG. Eine entsprechende Struktursicherungsklausel für den Fall der Begründung neuer Befugnisse auf der Ebene der WTO kennt der EGV nicht, so dass insoweit die Beachtung demokratischer Grundsätze nicht ausdrücklich verlangt wird. Dennoch besitzt die EU über Art. 6 EUV einen gemeinsamen Kanon an Verfassungsgrundsätzen, der eine verstärkte Einflussnahme der Parlamente unter Einschluss des Europäischen Parlaments erlauben und sogar erfordern würde. Solange dem Recht der WTO noch kein unmittelbarer Durchgriff bzw. kein Vorrang zukommt, dürften derartige Forderungen kaum Gehör finden und dürfte somit der Einfluss der Parlamente entsprechend gering bleiben. 16 Vgl. E. Smith (Hrsg.), National Parliaments as Cornerstones of European Integration, 1996, sowie M Hilf/F. Schorkopf Das Europäische Parlament in den Außenbeziehungen der Europäischen Union, EuR 1999, 185 ff.
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Die Regierungen sind den nationalen Parlamenten zur Rechenschaft verpflichtet. Dies gilt auch für ihre Beteiligung an internationalen Verhandlungen. Im Falle der WTO dürften jedoch die Verhandlungsführer vor Ort kaum von ihren Heimatparlamenten erreicht werden. Es ist insbesondere für die EG und ihre Mitgliedsstaaten nur schwer zu überschauen, wo und wie letztlich die einzelnen Verhandlungspositionen festgelegt werden. Oder hatte jemals ein Parlament von den Codex Alimentarius-Verhandlungen gehört, in denen immerhin die für den Hormon-Streit letztlich maßgebenden Normen des Gesundheitsschutzes - mit Mehrheit! - festgelegt worden waren? Seit das Konsensprinzip der WTO durch das Verfahren der obligatorischen Streitbeilegung durchbrochen worden ist, ist auch der Einfluss der nationalen Regierungen auf diesen wohl zur Zeit wichtigsten Entscheidungsbereich der WTO begrenzt. Die in Abwesenheit eines negativen Konsenses zustande kommenden bindenden Entscheidungen finden ihre Legitimation nicht mehr durch die Zustimmung der Mitglieder, sondern durch die, die das Recht vermitteln kann. Die Durchsetzung vereinbarten Rechts und die damit einhergehende Effizienz dürften auf Dauer eine verbreitete tragfähige Teillegitimation darstellen. Indes hat das Streitbeilegungsverfahren der WTO seine endgültige Akzeptanz noch zu finden. Die anstehenden Verhandlungen zur Überprüfung dieser Verfahren wird weiteren Aufschluss über den Rückhalt geben, den dieses bei den Mitgliedern der WTO gefunden hat. Die vermehrten Verfahren in Bezug auf die ordnungsgemäße Erfüllung der Entscheidungen nach Art. 21:5 DSU lassen eine gewisse Besorgnis zurück, inwieweit alle Mitglieder bereit sind, Entscheidungen ohne Zögern umzusetzen. Allerdings hat noch kein Mitglied für sich die Möglichkeit eines Rechtsbruchs gefordert bzw. fur sich in Anspruch genommen17. Der Befolgungsgrad ist wie auch sonst im europäischen und internationalen Recht ausgesprochen hoch. Eine Rückstufung des Streitbeilegungsverfahrens ist zur Zeit nicht zu befürchten. Insgesamt erfährt also auch die WTO, die weitgehend den Regeln der internationalen Kooperation folgt, ihre fortlaufende Legitimation durch ihre Mitglieder. Die Vorgänge in Seattle haben indes gezeigt, dass diese Elemente der Legitimation offenbar nicht ausreichen, um den Einzelnen in den jeweiligen Staaten zu erreichen und ihm den Eindruck zu vermitteln, dass seine Interessen und Anliegen in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Welche Anforderungen müssten also auch unmittelbar in Bezug auf die WTO ins Auge gefasst werden, um die Legitimation der Einzelnen bzw. in besonderem Maße der Betroffenen zu erreichen? Für die Suche nach hinreichenden Legitimationsbedingungen für die Ausübung der der WTO übertragenen Befugnisse und damit für die Vorausset17 S. hierzu die Kontroverse zwischen E.-U. Petersmann, EuZW 1997, 325 ff., 651 ff., und J. Sack, EuZW 1997, 650.
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zungen für die „soziale Integration" der Einzelnen in Bezug auf die WTO werden neuestens von Vertretern der politischen Wissenschaft die Stichworte Öffentlichkeit, Integrität und Reflexivität zur Diskussion gestellt. Darüber hinaus schieben sich Modelle in den Vordergrund, die unmittelbare Elemente der Legitimation in die Verfassungsstruktur der WTO einbauen wollen, etwa in Gestalt eines gewählten Parlaments oder einer mit Abgeordneten der Parlamente der Mitglieder der WTO besetzten Versammlung zur kontinuierlichen Begleitung der rechtsetzenden Arbeiten der WTO 18 . IV. Reformen der W T O zur Stärkung der Legitimation Der in Seattle hinterlassene Zustand „konzeptioneller Irritation" (Neyer) dürfte kaum mit staatsorientierten Modellen überwunden werden. Auch die Frage nach einer ausreichenden Legitimation für die Europäische Union hat bisher noch keine befriedigende Antwort gefunden. Die Verknüpfung zwischen demokratischen und föderalen Elementen hat indes schon weite Fortschritte gemacht und mit dem Verfahren der Mitentscheidung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat eine Grundlage geschaffen, die in der öffentlichen Diskussion noch weithin unterschätzt wird. Dennoch dürfte sich das europäische Modell nicht auf die Ebene der WTO übertragen lassen. In der gegenwärtigen politischen Wissenschaft wird die für die Legitimation erforderliche „sozialer Integration" der Betroffenen auf der Ebene der WTO für möglich erhalten, wenn es gelingen könnte, erhöhte Transparenz und Öffentlichkeit (1.) zu erreichen und vor allem die Beachtung allgemeiner Anforderungen an Gerechtigkeit und Fairness (Integrität) (2.) zu gewährleisten. Ein ständiger Austauschprozess zwischen der WTO und den Betroffenen sei herzustellen Reflexivität (3.). Schließlich ist auch Vorstellungen nachzugehen, die eine unmittelbare Repräsentation der Einzelnen auf der Ebene der WTO in Gestalt eines Weltwirtschaftsparlaments hinauslaufen (4.). 1. Transparenz und Öffentlichkeit Eine erste Grundbedingung für die Schaffung von Legitimation ist die Transparenz in ihrer internen und externen Ausrichtung, die immerhin Ansätze für die Herstellung von Öffentlichkeit erbringen könnte.
18 Zu den konstruktiven Problemen eines Weltparlaments s. die Diskussion bei O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 308 ff. Zur Bildung einer parlamentarischen Versammlung der WTO s. den Bericht K. Schwaiger des Europäischen Parlaments (A5 - 62/ 1999) über die Mitteilung der Kommission zum Konzept der EU für die WTO-Jahrtausendwende, Nr. 71.
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Die Transparenz gehört zu den grundlegenden Prinzipien, die der WTO zugrunde liegen19. In den Zeiten des Internet ist eine stärkere Heranführung der Öffentlichkeit ohne größere technische Probleme möglich, wie es zur Zeit der Uruguay-Runde noch undenkbar gewesen wäre. Sicher ist der eigentliche auf Kompromiss zielende Aushandlungsprozess und damit das Entstehen weltweiter Handels- und Wirtschaftsregeln als solcher kaum geeignet, auf dem „Markplatz der Öffentlichkeit" ausgeführt zu werden. Dennoch gibt es bereits derzeit zahlreiche Ansätze zur Schaffung von Transparenz, die weiterverfolgt werden sollten. In den WTO-Übereinkommen selbst ist in einer Fülle von Regelungen festgehalten worden, so dass alle Mitglieder ständig über den wesentlichen Gang bilateraler und multilateraler Verhandlungen im Rahmen der WTO informiert sind 20 . Auch haben alle Mitglieder die Möglichkeit, sich an bilateralen Verhandlungen bzw. Konsultationen und Streitbeilegungsverfahren zu beteiligen. Darüber hinaus ist das Sekretariat der WTO um eine aktive Informationspolitik bemüht, wie sich anhand der im Internet verbreiteten Dokumente ablesen lässt. Regelmäßige Anhörungen von sachverständigen bzw. allgemein von nicht-regierungsamtlichen Organisationen (NGO) fuhren zu einer partiellen Öffentlichkeit. Die Anforderungen an die Repräsentativität der NGO stellen sich im Falle der WTO nicht anders dar als sonst im Rahmen der allgemeinen internationalen Beziehungen21. Während die unmittelbar betroffenen Wirtschaftskreise regelmäßig über die Vertretungen der Mitglieder bei der WTO bzw. über das Sekretariat selbst Zugang zu dem Vorfeld der wichtigsten Verhandlungen finden dürften, sind für die organisierte Beteiligung der NOG erst noch Regeln zu entwickeln 22 . Für das Streitbeilegungsverfahren hat der Appellate Body (AB) alle Möglichkeiten des Wortlauts des DSU ausgeschöpft und den NGO die Möglichkeit eingeräumt, schriftsätzliche Stellungnahmen einzusenden23. Diese können sowohl von dem AB selbst als auch in freier Entscheidung von den Mitgliedern im Rahmen ihres schriftsätzlichen Vorbringens 1Q
Vgl. C. Tietje, Normative Grundstrukturen der Behandlung nichttarifärer Handelshemmnisse in der WTO / GATT-Rechtsordnung, 1998, S. 183 f. m.w.N. in Fn. 211 und S. 270 f. 20
Vgl. die zahlreichen Notifikationsverpflichtungen und insbesondere den Trade Policy Review Mechanism. Weiterhin etwa Art. X GATT 1994, Art. 10 TBT, Art. III GATS und Art. 3 TRIPS. 21 Zur Beteiligung von NGOs s. Art. 71 UN-Charta und ECOSOC Resolution vom 25.7.1996, UN Doc. E/RES/ 1996/31; dazu V. Epping, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 6 Rn. 20 f. 22 Von Neyer (Fn. 4), S. 403 als „sukzessive Konstitutionierung sektoraler Öffentlichkeit" bezeichnet; umfassend zur Beteiligung von NGOs in der WTO vor dem Hintergrund des Transparenzgedankens G. Marceau/ Ρ. Ν. Pedersen, Is the WTO Open and Transparent?, JWT 33 (1999), 5 ff. 23 Vgl. den Bericht des Appellate Body in United States - Import Restriction of Certain Shrimp and Shrimp Products, W T / I S 5 8 / A B / R vom 12.10.1998, unter Ff.
28*
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berücksichtigt werden. Einen Anspruch allerdings auf Beteiligung gibt es bisher nicht. Dieses gilt selbst für den Fall, dass rechtliche Interessen geltend gemacht werden könnten. Der Zugang der Einzelnen zu den Streitbeilegungsorganen der WTO ist bisher nur in einem Ausnahmefall anerkannt 24. Ein besonderer Tätigkeitsbereich der WTO zielt bereits jetzt schon auf eine weltweite Diskussion der Handelspolitik der Mitglieder. Im Rahmen des handelspolitischen Überwachungsverfahrens (Trade Policy Review Mechanism TPRM) werden zahlreiche Grundbedingungen formuliert, die für transparente Verfahren sorgen sollen25. Für die Handels- und Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitglieder hat die WTO Regelungswerke in den Bedingungen26 formuliert, die von den Mitgliedern eingehalten werden sollen. In diesem Verfahren werden in regelmäßigen Abständen detaillierte Berichte auf der Grundlage eines Standardmusters erstellt, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Aus den öffentlichen Stellungnahmen der betroffenen Mitglieder sowie dritter Staaten ergibt sich im Ergebnis ein deutliches Bild über die WTO-Konformität der betreffenden nationalen Handelspolitiken27. Darüber hinaus finden sich am Beispiel des Art. X GATT 1994 in den Übereinkommen der WTO zahlreiche Vorschriften zur Transparenz nationaler Politiken. Exemplarisch sei insoweit auf die Vorschriften des Antidumping Übereinkommens verwiesen, die durch verfahrensrechtliche Anforderungen für transparente Untersuchungsverfahren seitens der Mitglieder sorgen 28. 2. Gerechtigkeit oder „Integrität" Für die Legitimation der WTO ist weiterhin bedeutsam, dass die von der WTO erlassenen Regeln dem Grundsatz der Integrität entsprechen. Hierunter wird die Übereinstimmung von gesetzten Normen mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Fairness bzw. dem Ausschluss jeglicher Willkür verstanden. Aus den Vorgängen in Seattle könnte entnommen werden, dass sich das im Rahmen der WTO herausgebildete Regelwerk allzu einseitig an liberalen Vorstellungen über den Welthandel orientiert und keineswegs den Grundgedanken eines gerechten und fairen Ausgleichs zwischen sämtlichen Mitgliedern und verschiedenen Schutzgütern (Umwelt!) widerspiegelt, obgleich in der Organstruktur der WTO grundsätzlich der Konsens zwischen allen Mitgliedern der 24 Vgl. Art. 4 des Übereinkommens über Kontrollen vor dem Versand vom 15.4.1994 (dort auch in Art. 2 Vorschriften über Transparenz). 25
Vgl. Art. III: WTO Übereinkommen i.V.m. Anhang 3, unter D.
26
BISD 36S/406-409.
27
Jüngst Trade Policy Review der Europäischen Union, s. PRESS/TPRB/137 vom 4.7.2000. 28
Vgl. Art. III ff. des Antidumping-Übereinkommens vom 15.4.1994.
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WTO gesucht wird und dieser erst bei der Überzeugung eines fairen Interessenausgleichs zu erreichen ist. Dennoch ist bisher die Öffentlichkeit, vor allem im Hinblick auf die Berücksichtigung der Interessen der Entwicklungsländer, keineswegs von einem angemessenen Ausgleich überzeugt. Zwar sind in der noch jungen Rechtsprechung des Appellate Body zahlreiche allgemeine Rechtsprinzipien herangezogen worden, um gerade im Interesse der Gerechtigkeit und des fairen Ausgleichs zwischen Mitgliedern und verschiedenen Schutzgütern zur allgemeinen Akzeptanz beizutragen 29. Dennoch hat die Öffentlichkeit von dieser Entwicklung noch zu wenig Kenntnis genommen. Insbesondere ergeben die Präambeln und detaillierten Erwägungsgründe aller rechtsetzenden Akte der WTO immerhin Ansatzpunkte, um zu einer überprüfbaren Integrität beizutragen 30. 3. Kommunikation und „Reflexivität44 In engem Zusammenhang mit der Integrität stellt die Reflexivität auf fortdauernde Verständigungsprozesse ab, die sich auf die Angemessenheit des sich fortentwickelnden WTO-Rechts beziehen. Die abschließende Entscheidung des Appellate Body im Hormonstreit hat deutlich gezeigt, dass die auf einem wissenschaftlichen Beweis des SPS-Übereinkommens hinauslaufenden Regeln auch so interpretiert werden können, dass sie letztlich auch gesamtgesellschaftliche Empfindungen mitberücksichtigen 31. Auch kulturelle und ethische Anliegen können danach als legitim anerkannt werden, so dass diese zumindest mit in den Interpretationsprozess einbezogen werden können. Zusammengefasst dürfte es schwierig sein, festzustellen, wieweit aus den genannten Grundsätzen sich eine ausreichende „soziale Integration" der Einzelnen ergeben kann. Das Sekretariat der WTO sucht offenbar seit Seattle nach verschiedenen Formen kontinuierlicher „Politikdeliberation", die zu einer „deliberativen Supranationalität" führen könnten (Neyer). Abgesehen von der Unangemessenheit des Begriffs der „Supranationalität" im Hinblick auf die WTO ist an den Überlegungen der politischen Wissenschaft zutreffend, dass legitimatorische Fragen nicht nur an der Ausgestaltung der Rechtstexte abgelesen werden können, sondern sozusagen am gesellschaftlichen Unterfutter, in dem zusammen mit den einzelnen Betroffenen über den Fortgang der WTO nachgedacht wird. Thomas Oppermann hätte diese Suche nach zusätzlichen legitimatorischen Abstützungen der WTO nachhaltig begrüßt und unterstützend aufgegriffen, wenngleich er sich in der Begriffssprache sicherlich schlichter ausgedrückt hätte. 29
Dazu M Hilf y Power, Rules and Principles - Which Orientation for WTO / GATT Law?, Journal of International Economic Law 4 (2001), Heft 1 (i.E.). 30 31
Neyer (Fn. 4), S. 403 ff.
EC Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Complaints by the USA and Canada, W T / D S 2 6 / A B / R und W T / D S 4 8 / A B / R vom 16.1.1998, AB1997-4, Abs.-Nr. 253 (j).
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4. Institutionelle Ergänzungen Für die Rechtswissenschaft eher greifbar sind Vorstellungen, die die einzelnen Bürger der Mitglieder der WTO in einer repräsentativen Versammlung zusammenfassen wollen, die sich ausschließlich auf die Anliegen der WTO beziehen würde. Bereits auf der Ministerkonferenz in Seattle haben sich, wie oben gezeigt, Vertreter nationaler Parlamente getroffen, ohne dass jedoch von dieser Zusammenkunft irgendwelche nachhaltigen Impulse ausgegangen wären. Die ständige Einrichtung einer zunächst sicherlich nur beratenen Versammlung könnte einen wesentlichen Beitrag insbesondere zur Öffentlichkeit bzw. zur Reflexivität leisten. Die Abgeordneten würden sich ähnlich wie bei der parlamentarischen Versammlung der EU / AKP in größeren Abständen treffen und die Gesamtpolitik der WTO zum Gegenstand öffentlicher Beratung machen. Sie würden zugleich für ihre Heimatparlamente einen Überblick der anstehenden Fragen zusammenstellen können, der sich in einem einzelnen nationalen Parlament kaum erreichen lässt. Hier werden naturgemäß die Handels- und Wirtschaftsfragen nur jeweils aus der nationalen Sicht behandelt. Bei den zur Zeit 139 Mitgliedern der WTO wäre auch die Größe einer solchen parlamentarischen Versammlung kaum ein Problem selbst nicht nach einem Beitritt der Volksrepublik China, die sich ebenso wie andere auf die Entsendung weniger Abgeordneter beschränken müsste. Es käme wesentlich darauf an, dass jedes Parlament der WTO-Mitglieder mit zumindest einem Abgeordneten vertreten sein müsste. Allerdings fehlen im Hinblick auf die bisher bei Internationalen Organisationen wie dem Europarat und der NATO einberufenen beratenden Versammlung - soweit ersichtlich - empirische Untersuchungen, die über den Grad des Einflusses Auskunft geben könnten. V. Ausblick Die Schaffung zusätzlicher Elemente demokratischer Legitimation für die Rechtsetzungsvorgänge im Bereich der WTO ist dringend, wird aber auf absehbare Zeit schwierig bleiben. Welche „inklusorischen und reflexiven" Formen sich durchsetzen werden 32, lässt sich nicht voraussagen. Wie wird eine „New Democracy" aussehen, die sich doch immer wieder auf den Volkswillen zurückführen lassen muss? Thomas Oppermann wird als engagierter Beobachter der entsprechenden Vorgänge weiterhin dazu beitragen wollen, um aus dem nach Seattle entstandenen „Zustand der konzeptionellen Irritation" herauszufinden 33. Mit seiner Gabe, Tendenzen und neuere verfassungsrechtliche Entwicklungen aufzuspüren, würde er sicherlich der Feststellung zustimmen, dass die Einbeziehung der Interessen der Einzelnen für das weitere Schicksal der WTO entscheidend sein wird. 32 33
Neyer (Fn. 4), S. 410 f.
Vgl. den zeitgleich aus seiner Feder verfassten Beitrag zur Festschrift Böckstiegel, 2001 (i.E.).
Aus der Praxis der internationalen Streiterledigung zwischen Staaten, staatlichen Institutionen, internationalen Organisationen und Privatunternehmen Von Karl-Heinz Böckstiegel
I. Vorbemerkung Als die Frage der Herausgeber mich erreichte, ob ich einen Beitrag zu der Festschrift für Thomas Oppermann leisten möchte, habe ich mit großer Freude zugestimmt. Oppermann ist nicht nur seit vielen Jahren einer der führenden deutschen Völkerrechtler und Europarechtler, mich verbindet mit ihm auch eine langjährige kollegiale Zusammenarbeit. Gerade in dem uns gemeinsam interessierenden Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts hat Oppermann prägende Wirkung sowohl im nationalen deutschen wie auch im internationalen Bereich gehabt. Dies geschah einmal durch sein vielfältiges Veröffentlichungswerk in diesem Bereich und zum anderen durch seine federführende Mitwirkung in der Deutschen Vereinigung für Internationales Recht und in der International Law Association (ILA). In der Deutschen Vereinigung bildete er schon früh den Gesprächskreis für internationales Wirtschaftsrecht, der sich auf seinen regelmäßigen Treffen und den dabei erarbeiteten Stellungnahmen und Entwürfen mit realistischer Kreativität prägend an der Fortgestaltung wichtiger Abschnitte des internationalen Wirtschaftsrechts beteiligte. Dies setzte sich dann auf internationaler Ebene fort dadurch, daß Oppermann Chairman des Committee for International Trade Law der International Law Association wurde. Auch die Arbeit dieses Committee, dem prominente Kollegen aus aller Welt angehören und das sich regelmäßig auch zwischen den ILA-Konferenzen trifft, gestaltete sich unter der Führung von Oppermann außerordentlich produktiv. Besonders verdienstvoll war in diesem Zusammenhang, daß gerade unter dem Einfluß von Oppermann dieses Committee nach den Irrungen früherer Diskussionen über eine - sozialistisch geprägte - Weltwirtschaftsordnung nunmehr einen Ansatz durchsetzte, der in realistischer Weise die Praxis des internationalen Wirtschaftsverkehrs zugrunde legte und dann von dort aus mit sehr viel Sorgfalt Vorschläge für eine Fortentwicklung des einschlägigen Rechtsrahmens erarbeitete. Schließlich „bestellte Oppermann auch sein Haus gut", als er kürzlich nach vieljähriger verdienstvoller Tätigkeit den Chair des Committee an den Kollegen Petersmann weitergab. Für all dies darf ich an dieser Stelle Thomas Oppermann sowohl in
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meiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Internationales Recht als auch als persönlich verbundener Kollege unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Dieser Beitrag befaßt sich ganz im Sinne von Thomas Oppermann mit einem in der Praxis des internationalen Wirtschaftsverkehrs kontinuierlich relevant werdenden Bereichs der Streiterledigung. Die Erfahrung zeigt, daß ein effektives System der Streiterledigung nicht nur der Durchsetzung rechtlicher und insbesondere vertraglicher Ansprüche dient, sondern auch im Vorfeld bereits eine starke präventive Wirkung im Verhalten der Beteiligten des internationalen Wirtschaftsverkehrs hat, weil diese sich bereits in der Ausführung und Erfüllung von Verträgen zur Rechtstreue angehalten sehen, da sie anderenfalls mit einer Durchsetzung im Rahmen des Streitverfahrens rechnen müssen. Die nachfolgenden Ausführungen, für welche die Herausgeber verständlicherweise eine Beschränkung des Umfangs vorgegeben haben, können nur einen kurzen Überblick über die in der Praxis vorhandenen und genutzten Optionen bieten. Dabei ist die Betrachtungsweise geprägt durch die eigenen Erfahrungen des Verfassers im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe der erwähnten Streiterledigungssysteme.
II. Die beteiligten Streitparteien Die hier behandelte und in der Praxis oft vorkommende Konstellation ist die, daß auf der einen Seite als Streitpartei ein Privatunternehmen steht und auf der anderen Seite entweder ein Staat oder eine staatliche Institution oder eine internationale staatliche Organisation. 1. Staaten Staaten stehen im internationalen Wirtschaftsverkehr in recht unterschiedlichen Zusammenhängen ausländischen Privatunternehmen gegenüber. Einmal ergibt sich diese Konstellation dann, wenn ein Privatunternehmen in einem fremden Staat Investitionen vornimmt und sich dann mit dem Gaststaat Streitigkeiten über diese Auslandsinvestition ergeben. Die Konstellation Staat - Privatunternehmen ergibt sich aber auch nicht selten aus Verträgen zwischen diesen beiden Parteien. Die Praxis des modernen internationalen Wirtschaftsverkehrs zeigt vielfältige solcher Verträge. Selbst westliche Industriestaaten mit ihrem typischerweise privatwirtschaftlichen System und selbst nach den etwa in den europäischen Staaten in den letzten Jahren vorgenommenen umfangreichen Privatisierungen traditionell öffentlicher Wirtschaftsbereiche schließen noch viele und wirtschaftlich bedeutsame Verträge mit ausländischen Privatunternehmen ab, so etwa bei der Beschaffung von Rüstungsgütern oder über die Neueinrichtung oder die Anpassung von Infrastrukturprojekten. In vielen Entwicklungsländern ist die Entwicklung der Privatwirtschaft noch nicht so weit fortgeschrit-
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ten, daß sie im Außenwirtschaftsbereich eine tragende Rolle spielen könnte, so daß große Teile des Export- und Importgeschäfts, des Handels mit Dienstleistungen und des Transfers von Technologie noch vom Staat selbst abgewickelt werden müssen. Dies gilt naturgemäß noch mehr für die wenigen verbleibenden sozialistischen Staaten mit ihrem typischen Außenhandelsmonopol. In all diesen Rechtsbeziehungen können sich naturgemäß Streitigkeiten ergeben, wobei sich dann auf der einen Seite der Staat und auf der anderen Seite ein ausländisches Privatunternehmen gegenüberstehen. 2. Staatliche Institutionen Nicht selten übertragen allerdings Staaten in den oben geschilderten Rechtsbeziehungen zu ausländischen Privatunternehmen ihre Rolle an staatliche Institutionen, die oft eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten. Dabei ist der Oberbegriff der staatlichen „Institution" gewählt, um zu charakterisieren, daß die rechtliche Ausgestaltung dieser separaten Rechtspersönlichkeit nach Wirtschaftsund Rechtssystem des jeweiligen Staates sehr unterschiedlich ausfallen kann. So finden sich in der Praxis viele Variationen in einer Palette zwischen dem, was man im deutschen Recht eine öffentlich-rechtliche Körperschaft nennen würde einerseits und andererseits einer privatrechtlichen Unternehmensform, wie sie in Deutschland als Aktiengesellschaft oder GmbH zur Verfügung steht, auf die der Staat als alleiniger oder mehrheitlicher Eigner entscheidenden Einfluß nimmt. Da in all diesen Fällen der Staat sich über diese Institution am internationalen Wirtschaftsverkehr beteiligt, findet sich dafür auch verständlicherweise nicht selten ohne Rücksicht auf die Rechtsform der Begriff „Staatsunternehmen" oder „State Enterprise". Die Praxis des internationalen Wirtschaftsverkehrs zeigt demgemäß eine Vielfalt insbesondere von Verträgen solcher staatlicher Institutionen mit ausländischen Privatunternehmen und auch eine Vielzahl von sich daraus ergebenden internationalen Streitverfahren, insbesondere Schiedsverfahren. 3. Internationale Organisationen Auch für internationale Organisationen ergeben sich vielfältige Rechtsbeziehungen zu Privatunternehmen. Diese sind typischerweise geprägt durch Verträge, welche die Organisation mit Privatunternehmen abschließt. Soweit es sich um nichtstaatliche internationale Organisationen, also „NGOs" handelt, sind diese Verträge und die entsprechenden Streitverfahren vergleichbar jenen zwischen Privatunternehmen im internationalen Wirtschaftsverkehr. Soweit es sich aber um internationale staatliche Organisationen handelt, ergeben sich Besonderheiten. In welchem Umfang und mit welchem Inhalt solche staatlichen internationalen Organisationen Verträge mit Privatunternehmen abschließen, richtet
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sich naturgemäß nach der Aufgabenstellung der Organisation. Immer werden Verträge abzuschließen sein, um die logistische Arbeit der Organisation abzuwickeln, d.h. Verträge über den Kauf oder die Miete von Bürogebäuden, die Versicherung und den Transport von Bediensteten, die Organisation von Konferenzen, etc. Andere Verträge werden sich aus der konkreten Aufgabenstellung einer Organisation ergeben. So schließen etwa die Vereinten Nationen regelmäßig Verträge mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung über den Transport der UN-Friedenstruppen in den verschiedensten Teilen der Welt mit privaten Transportunternehmen ab. Ein anderes Beispiel bietet die Europäische Weltraumorganisation ESA, bei der der größte Teil der von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellten finanziellen Ausstattung im Wert von vielen Milliarden D M in Aufträge an die Raumfahrtindustrie der beteiligten Staaten geht. Soweit solche Verträge zwischen staatlichen internationalen Organisationen und Privatunternehmen zu Streitigkeiten fuhren, ist typischerweise zunächst einmal die Schwelle der Immunität zu überwinden, die diesen Organisationen regelmäßig nicht nur vom Gaststaat, sondern auch von den anderen Mitgliedstaaten eingeräumt wird. Diese Immunität schließt normalerweise aus, daß die Organisation vor den staatlichen Gerichten dieser Staaten verklagt wird. Da die mit der Organisation Verträge abschließenden Privatunternehmen andererseits aber nicht ohne jeden Rechtsschutz bleiben wollen und können, unterwerfen sich die Organisationen nicht selten in diesen Verträgen über eine Schiedsklausel der Zuständigkeit internationaler Wirtschaftsschiedsgerichte. Diesen gegenüber ist dann die Berufung auf Immunität nicht mehr möglich.
4. Privatunternehmen Die Gestaltung der Privatunternehmen richtet sich naturgemäß nach der Rechtsordnung ihres Gründungs- und Sitzstaates, je nachdem um welche rechtlichen Aspekte es geht. Für einzelne besondere rechtliche Aspekte kommt bekanntlich außerdem noch die Kontrolltheorie in Betracht, ohne daß hier jetzt darauf näher einzugehen wäre. Typischerweise handelt es sich bei den an Verträgen und Streitverfahren mit staatlichen Parteien beteiligten Privatunternehmen um größere, oft transnationale Unternehmen mit einer regelmäßigen Beteiligung am internationalen Wirtschaftsverkehr.
I I I . Institutionen und Methoden der Streiterledigung 1. Innerstaatliche Gerichtsbarkeit Ausländischen Privatunternehmen wird normalerweise jedenfalls gegen Staaten und staatliche Institutionen oft der Weg zu den innerstaatlichen Gerichten des betreffenden Staates offenstehen. Beschränkungen können sich aber durch-
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aus aus der innerstaatlichen Rechtsordnung, insbesondere dem Gerichtsverfassungs- und dem Prozeßrecht ergeben, denn eine völkerrechtliche Verpflichtung eines schrankenlosen Zugangs zu den innerstaatlichen Gerichten überhaupt und insbesondere gegen den Staat selbst ergibt sich nicht aus dem völkerrechtlichen Fremdenrecht. Umgekehrt kann sich aber auch aus dem völkerrechtlichen „Local-Remedies-Rule" eine Pflicht des Privatunternehmens ergeben, zunächst vor die innerstaatlichen Gerichte zu gehen, bevor dann anschließend eine Völkerrechtsverletzung von dem Heimatstaat des Unternehmens oder von ihm selbst vor den noch unten zu behandelnden Streiterledigungssystemen geltend gemacht werden kann. 2. Diplomatischer Schutz für Privatunternehmen Der klassische Rechtsschutz für Privatunternehmen gegenüber fremden Staaten beschränkt sich auf den diplomatischen Schutz durch den Heimatstaat des Privatunternehmens. Viele Beispiele ergeben sich hierfür in Fällen vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof sowie neuerdings im Streiterledigungssystem der World Trade Organization (WTO) 1 . Ohne daß hier näher auf das WTO-Streitverfahren eingegangen werden könnte, sei zumindest darauf hingewiesen, daß einerseits sich innerhalb weniger Jahre eine große Zahl von Streitfällen bei der WTO - oft im Interesse bestimmter Privatunternehmen oder bestimmter Branchen der einheimischen Wirtschaft - ergeben hat und andererseits kritisiert wird, daß Privatunternehmen nicht selbst als Streitparteien im WTO-System auftreten können. Insgesamt hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, daß der moderne internationale Wirtschaftsverkehr in seiner Streiterledigung nicht auf den diplomatischen Schutz für Privatunternehmen beschränkt werden kann, weil dieser diplomatische Schutz durch die Heimatstaaten angesichts politischer Rücksichtnahmen des Heimatstaats und angesichts verfahrensmäßiger Komplikationen und Verzögerungen keinen effektiven Rechtsschutz bietet. Dies gilt unabhängig davon, ob nach dem Rechtssystem des betreffenden Staates ein innerstaatlicher Anspruch des Privatunternehmens auf diplomatischen Schutz anerkannt wird. Deshalb sind eine ganze Reihe von Streiterledigungssystemen geschaffen worden, in welchen Privatunternehmen selbst als Streitparteien auftreten und insbesondere Staaten, staatliche Institutionen und internationale Organisationen verklagen können. 1 Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten vom 15.4.1994, abgedruckt bei W. Benedek, Die Welthandelsorganisation (WTO), 1998, 459 ff. Dazu Ρ Backes, Die neuen Streitbeilegungsregeln der Welthandelsorganisation (WTO), RIW 1995, 916 ff.; J. W. Sittmann, Das Streitbeilegungsverfahren der World Trade Organization (WTO), RIW 1997, 749 ff.; zu ersten Reformansätzen des Systems T.J. Schoenbaum, WTO Dispute Settlement. Praise and Suggestions for Reform, ICLQ 1998, 647 ff., und Κ. -P. Leier, Fortentwicklung und weitere Bewährung. Zur derzeitigen Überprüfung des Streitbeilegungsverfahrens in der WTO, EuZW 1999, 204 ff.
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3. Privatunternehmen als Streitparteien in Investitionsstreitverfahren Neben dem Handel mit Waren und Dienstleistungen stellen die Auslandsinvestitionen die zweite Säule des internationalen Wirtschaftsverkehrs dar. Der Umfang der Auslandsinvestitionen hat sich in den letzten Jahrzehnten in einer früher kaum vorstellbaren Weise vergrößert und praktisch auf alle Regionen der Welt und fast alle Branchen der Wirtschaft verbreitert. Zugrunde liegt dabei eine gemeinsame Interessenlage der Beteiligten: Die Staaten versuchen, ein attraktives Investitionsklima zu schaffen, um entweder in der heimischen Industrie nicht vorhandene Kapazitäten finanzieller und technologischer Art in das Land zu ziehen - so bei vielen Entwicklungsländern - oder aber jedenfalls durch die Beteiligung ausländischer Unternehmen auf dem einheimischen Markt einen erhöhten Wettbewerb mit der Wirkung effektiverer Wirtschaftsleistungen zu erzielen. Umgekehrt sucht die internationale Wirtschaft die Möglichkeit von Investitionen in vielen Staaten, weil entweder der Export in diese Staaten nicht wirtschaftlich ist oder jedenfalls der jeweilige einheimische Markt über Investitionen in diesem Markt besser bearbeitet werden kann. Das Wachstum der Auslandsinvestitionen führt naturgemäß auch zu einer steigenden Zahl von diesbezüglichen Streitigkeiten. Obwohl gerade für den ausländischen Investor nicht selten der Weg über die einheimischen staatlichen Gerichte möglich und zum Teil erforderlich ist, ist damit doch oft nicht ein als ausreichend anzusehender Rechtsschutz gewährleistet. Jedenfalls aus der Sicht des Privatunternehmens ergibt sich die Gefahr, daß die einheimischen Gerichte bei Klagen gegen den sie tragenden Staat und dessen Institutionen nicht die gewünschte Objektivität und Unabhängigkeit zeigen. Und aus der Sicht des Gaststaates gehört es zu einer attraktiven Gestaltung des Investitionsklimas, daß der Gaststaat seinen Willen zur Einhaltung seiner rechtlichen und insbesondere vertraglichen Verpflichtungen dadurch dokumentiert, daß er sich entweder neben seiner staatlichen Gerichtsbarkeit oder auch unter Ausschluß seiner staatlichen Gerichtsbarkeit unmittelbar einem internationalen Streitverfahren unterwirft.
a) ICSID
Das schon seit 1965 zur Verfügung stehende wichtigste globale Streiterledigungssystem für Auslandsinvestitionen bietet das International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID), welches von der Weltbank geschaffen wurde und auch heute noch getragen wird. In den frühen Jahren von ICSID kam es zu relativ wenigen Streitfällen, da eine Zuständigkeit der im Rahmen von ICSID für jeden Streitfall dann gebildeten Schiedsgerichte nur durch eine gemeinsame Unterwerfung des Gaststaats und des ausländischen Investors begründet wird und es naturgemäß eine Weile dauerte, bis entsprechende Schieds-
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gerichtsklauseln in Verträgen zwischen Gaststaaten und Investoren in größerer Zahl vereinbart waren und dann auch zu Streitfällen führten. In den letzten Jahren hat jedoch die Zahl der Fälle bei ICSID erheblich zugenommen. Während in früheren Verfahren typischerweise Privatunternehmen gegen Entwicklungsländer klagten, wurde kürzlich das erste Verfahren gegen einen osteuropäischen Staat abgeschlossen (bei welchem der Verfasser dieses Beitrags Vorsitzender des Schiedsgerichts war) 2 und das erste Verfahren gegen die Bundesrepublik begonnen. b) Bilaterale Investitionsverträge (Bilateral Investment Treaties, BITs) Diese Zunahme der Streitfälle im ICSID-System ist in den letzten Jahren insbesondere auch darauf zurückzuführen, daß moderne bilaterale Investitionsverträge, wie sie viele Industriestaaten und insbesondere auch die Bundesrepublik in großer Zahl mit vor allem Entwicklungsländern in aller Welt abgeschlossen haben, eine unmittelbare Unterwerfung unter die ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit enthalten. Damit bedarf es nicht mehr einer individuellen ICSIDSchiedsklausel in einem Vertrag zwischen Gaststaat und Investor, vielmehr genügt es, wenn im Streitfall der Investor bei ICSID Klage erhebt, weil die Unterwerfung des Gaststaats bereits durch den bilateralen Investitionsvertrag mit dem Heimatstaat des ausländischen Investors vorliegt. c) Investitionsgesetze Um im Rahmen ihres oben schon angesprochenen Interesses das Investitionsklima in ihrem Land zu verbessern, haben viele Staaten besondere Gesetze für ausländische Investitionen erlassen, in welchen ausländischen Investoren besondere Rechtssicherheiten und Vergünstigungen, etwa Steuervergünstigungen, zugebilligt werden. In solchen Investitionsgesetzen finden sich auch Normen, durch welche der Gaststaat sich einseitig der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit unterwirft, so daß im Streitfall der ausländische Investor unmittelbar Klage bei ICSID erheben kann und die Unterwerfung des Gaststaates sich dann bereits aus dem Investitionsgesetz ergibt. Diese Konstellation lag z.B. vor in dem ersten oben erwähnten ICSID-Streitverfahren mit einem osteuropäischen Staat. In diesem Streitverfahren zwischen einem griechischen Investor und Albanien, bei welchem der Verfasser dieses Beitrags den Vorsitz des Schiedsgerichts hatte, wurde nach einem entsprechenden Vorverfahren durch besondere Zuständigkeitsentscheidung3 des Schiedsgerichts festgestellt, daß zwar für die betreffende 2 Tradex Hellas S.A. v. Republic of Albania, ICSID Case No. A R B / 9 4 / 2 , ICSID Review - Foreign Investment Law Journal 14 (1999), 159 ff. 3 Tradex Hellas S.A. v. Republic of Albania, ICSID Case No. A R B / 9 4 / 2 , Decision on Jurisdiction, ICSID Review - Foreign Investment Law Journal 14 (1999), 161, 195.
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Investition keine Unterwerfung durch den erst später abgeschlossenen bilateralen Investitionsvertrag zwischen Griechenland und Albanien bestand, wohl aber durch das albanische Gesetz über Auslandsinvestitionen von 1993. In der Sachentscheidung kam das Schiedsgericht dann aber zu dem Ergebnis, daß keine Enteignung vorliege 4. d) NAFTA
Das umfangreiche Vertragswerk, in welchem sich die USA, Kanada und Mexico in der North American Free Trade Area (NAFTA) verbunden haben, enthält in seinem Chapter 11 über Auslandsinvestitionen auch die Einrichtung eines besonderen Streiterledigungssystems, in welchem ausländische Investoren unmittelbar dem betreffenden Staat gegenüber stehen können. Dabei stehen drei Optionen zur Verfügung, je nach dem, ob es sich bei dem betreffenden Gaststaat und / oder dem betreffenden Heimatstaat um einen solchen handelt, der der ICSID-Konvention beigetreten ist oder nicht: Entweder kann der ausländische Investor ein Verfahren unmittelbar nach der ICSID-Konvention einleiten oder ein Verfahren nach den Additional Facility Rules von ICSID oder nach den UNCITRAL Arbitration Rules. Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags sind bereits sechs Streitverfahren dieser Art eingeleitet worden, wobei alle drei Optionen bereits in Anspruch genommen worden sind. Die erste Entscheidung in einem NAFTA-Streitverfahren erging durch ein Schiedsgericht, in welchem der Verfasser dieses Beitrags den Vorsitz hatte. In diesem Fall klagte ein USamerikanisches Unternehmen (Ethyl Corporation) gegen den kanadischen Staat, weil ein kanadisches Gesetz ihm den Import und Verkauf in den kanadischen Provinzen eines Produkts verboten hatte. In einem Verfahren, in welchem aus verständlichen Gründen fast jede Frage sehr streitig verhandelt wurde, weil die beteiligten Parteien in diesem ersten Fall Vorentscheidungen für künftige Fälle befürchteten, bejahte das Schiedsgericht nach einem umfangreichen Vorverfahren, an welchem sich auch Mexico als ebenfalls interessierter Staat beteiligte, in einer umfangreichen Entscheidung seine Zuständigkeit5. Nach dieser Zuständigkeitsentscheidung kam es dann zu einer gütlichen Einigung zwischen den Streitparteien dahingehend, daß Kanada das gesetzliche Verbot zurückzog und an Ethyl 13 Mio. US-$ zahlte.
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Tradex Hellas S.A. v. Republic of Albania, ICSID Case No. A R B / 9 4 / 2 , Award, ICSID Review - Foreign Investment Law Journal 14 (1999), 197, 248. 5 Ethyl Corporation v. Government of Canada, Award on Jurisdiction, Journal of International Arbitration 16 (1999), 149, 184, und I L M 38 (1999), 700 ff.
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e) Europäische Menschenrechtskonvention Ohne daß hier auf Einzelheiten eingegangen werden kann, sei zumindest daran erinnert, daß Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention einen auf das Völkerrecht verweisenden Eigentumsschutz garantiert, der bereits mehrfach von und fur Investoren in Straßburger Verfahren in Anspruch genommen wurde. β Energie-Charta Schließlich sei der Vollständigkeit halber auf das umfangreiche Rechtsschutzsystem in der kürzlich in Kraft getretenen Energie-Charta 6 hingewiesen, obwohl in der Praxis noch keine Streitverfahren sich in diesem Zusammenhang ergeben haben. IV. Internationale Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit Auch außerhalb des Bereichs der Auslandsinvestitionen, also insbesondere für den Bereich des internationalen Handels mit Waren und Dienstleistungen und des Technologietransfers, zeigt die Praxis eine große Zahl von Verträgen zwischen einerseits Staaten, staatlichen Institutionen und internationalen Organisationen und andererseits Privatunternehmen. Dies ergibt sich aus der oben unter II. kurz geschilderten Situation. Aus den bereits erwähnten Gründen wird in den einschlägigen Verträgen auch hier überwiegend unter Ausschluß der staatlichen Gerichtsbarkeit für den Streitfall die Zuständigkeit eines internationalen Schiedsgerichts vereinbart. Gewählt werden dabei durchweg jene Schiedsgerichtsinstitutionen, welche auch im internationalen Wirtschaftsverkehr zwischen Privatunternehmen eine Rolle spielen. So zeigt z.B. die Statistik der Internationalen Handelskammer 7, deren Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Wirtschaftsverkehr weiterhin führend ist, daß im Jahr 1997 von den 1.290 Parteien aus 103 Staaten etwa 100 staatliche Parteien waren. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Fällen des London Court of International Arbitration 8 , wo insbesondere staatliche Parteien aus 6
Energy Charter Treaty vom 17.12.1994, abgedruckt in I L M 34 (1995) 360 ff. Dazu W Wälde, Investment Arbitration under the Energy Charter Treaty. From Dispute Settlement to Treaty Implementation, Arbitration International 12 (1996), 429 ff. 7 Schiedsgerichtsordnung der Internationalen Handelskammer (ICC) vom 1.1.1998, abgedruckt bei A. Bülow/K.-H. Böckstiegel/R. Geimer/R.A. Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, 1999, 752-1 ff. 8 Schiedsordnung des London Court of International Arbitration vom 1.1.1998, abgedruckt bei Bülow/Böckstiegel/Geirrter/Schütze (Fn. 7), 754-1 ff. Dazu S. N. Lehedev, The LCIA Rules for International Commercial Arbitration, Arbitration International 8 (1992), 321 ff.
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Entwicklungsländern und aus Osteuropa als Parteien auftauchen. Selbst in Verfahren nach nationalen Schiedsordnungen, welche im internationalen Wirtschaftsverkehr eine Rolle spielen, tauchen nicht selten staatliche Parteien auf. Dies gilt etwa für die Schiedsgerichtsbarkeit der Stockholmer Handelskammer 9, der Kammer für gewerbliche Wirtschaft in Wien 10 , der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) 11 und der American Arbitration Association (AAA) 1 2 . Eine besondere Situation ergibt sich bei der chinesischen Schiedsgerichtsinstitution CIETAC 13 , welche jährlich eine große Zahl von allerdings meist kleinen Schiedsverfahren abwickelt, da chinesische Vertragsparteien oft auf der Vereinbarung der CIETAC-Schiedsgerichtsbarkeit bestehen und es sich bei diesen chinesischen Parteien nicht selten um staatliche Institutionen handelt. Auch im Rahmen der sogenannten Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit, bei welcher also das Schiedsgericht nicht nach der Schiedsordnung einer der Schiedsgerichtsinstitutionen gebildet wird, zeigen sich eine ganze Reihe von Verfahren, in welchen sich Staaten, staatliche Institutionen oder internationale Organisationen einem Privatunternehmen gegenüberstehen. Dies gilt insbesondere für nicht wenige der großen Zahl von internationalen Schiedsverfahren, die jährlich in der Schweiz, insbesondere in Genf, abgewickelt werden. In vielen dieser Ad-hocVerfahren vereinbaren die Parteien, um nicht jede Verfahrensfrage noch einmal einzeln im Vertrag bestimmen zu müssen, die von der United Nations Commission for International Trade Law (UNCITRAL) vor vielen Jahren unter Beteiligung von Experten aus Industrie- und Entwicklungsländern erarbeitete Schiedsordnung. Obwohl diese Schiedsverfahren durchweg vertraulich sind, kann der Verfasser immerhin — da die Parteien dies öffentlich bekanntgemacht haben - als Beispiel auf ein Schiedsverfahren nach der UNCITRAL-Schiedsordnung hinweisen, in welchem die kanadische SkyLink-Gruppe die Vereinten Nationen im Zusammenhang mit den über mehrere Jahre laufenden Lufttrans9 Schiedsgerichtsinstitut der Handelskammer Stockholm, Regeln für das Schiedsgerichtsinstitut vom 1.1.1988, abgedruckt bei H. W. Labes /K. Lörcher, Schiedsverfahrensrecht, 1998, S. 285 ff. Vgl. auch Stockholm Chamber of Commerce, Arbitration in Sweden, Stockholm 1977. 10
Schiedsordnung des Internationalen Schiedsgerichts der Wirtschaftskammer Österreich, Wien (Wiener Regeln) vom 1.9.1991, abgedruckt bei Labes/Lörcher (Fn. 9), 273 ff. Dazu W. Melis, Die neue Schieds- und Schlichtungsordnung des Internationalen Schiedsgerichts der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Wien (Wiener Regeln), AnwBl 1991, 776 ff. 11 Schiedsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) vom 1.7. 1998, abgedruckt bei Bülow/Böckstiegel/Geimer/Schütze (Fn. 7), 751-1 ff. 12 International Arbitration Rules of the American Arbitration Association (AAA) vom 1.4.1997, abgedruckt bei Labes/Lörcher (Fn. 9), 345 ff. Dazu E. Vetter, Schiedsgerichtsbarkeit der American Arbitration Association, RIW 1993, 191 ff. 13 Arbitration Rules of the China International Economic and Trade Arbitration Commission (CIETAC) vom 1.10.1995, abgedruckt bei Labes/Lörcher (Fn. 9), 359 ff.
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porten von UN-Sicherungstruppen verklagte. Grundlage des Verfahrens war ein Settlement Agreement, in welchem die Vereinten Nationen zwar einerseits auf die ihnen zustehende Immunität verwiesen, jedoch andererseits sich für einen eventuellen Streitfall der Schiedsgerichtsbarkeit nach der UNCITRAL-Schiedsordnung unterwarfen. In einem umfangreichen Verfahren, an welchem der Verfasser dieses Beitrags als Schiedsrichter beteiligt war, kam es dann zu einem Schiedsurteil, welches die Klage als zwar zulässig, aber unbegründet abwies. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß das Schiedsgericht im Einverständnis mit den Parteien hinsichtlich des anwendbaren Rechts zu dem Ergebnis kam, daß eine staatliche Rechtsordnung für diese Art von Vertragsbeziehung zwischen einem Privatunternehmen und den Vereinten Nationen nicht in Betracht komme und daß die relativ beste Lösung ein Rückgriff auf die vor einigen Jahren erarbeiteten UNIDROIT-Prinzipien für internationale Wirtschaftsverträge 14 sei. V. Iran-United States Claims Tribunal Ein Sonderfall der Streiterledigung zwischen einerseits einem Staat und staatlichen Institutionen und andererseits Privatunternehmen ist das durch eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen den USA und dem Iran 15 1981 gebildete Iran-United States Claims Tribunal in Den Haag, dem unter Ausschluß der staatlichen Gerichtsbarkeit der beiden Staaten alle Streitigkeiten zwischen den beiden Staaten und ihren Staatsangehörigen nach der Revolution im Iran von 1979 übertragen wurden. In den fast 4.000 vor dem Tribunal anhängig gemachten Klagen standen sich in einer kleineren Anzahl von Fällen die beiden Staaten unmittelbar gegenüber, in der überwiegenden Zahl der Fälle auf der einen Seite ein - normalerweise amerikanisches - Privatunternehmen und der andere Staat — meist der Iran. Neben der genannten Zahl der Fälle ergibt sich die wirtschaftliche Bedeutung des Tribunal auch daraus, daß es mit einem Gesamtstreitwert von etwa 60 Mrd. US-$ das bis dahin vom Streitwert her größte internationale Streitverfahren war. Für die juristische Aufarbeitung der internationalen Streiterledigung ist die Rechtsprechung des Tribunal deshalb von besonderer Bedeutung, weil alle seine Entscheidungen veröffentlicht sind und inzwischen in 29 Bänden16 zur Verfügung stehen, die fast zu jeder möglichen prozessualen Frage 14
Die deutsche Übersetzung der UNIDROIT-Prinzipien findet sich bei M. J. BonelL An International Restatement of Contract Law, 1994, S. 204 ff. S.a. K.P. Berger, Die UNIDROIT-Prinzipien für Internationale Handelsverträge, ZvglRWiss 94 (1995), 217 ff.; J. C. Wiehard, Die Anwendung der UNIDROIT-Prinzipien für internationale Handelsverträge durch Schiedsgerichte und staatliche Gerichte, RabelsZ 60 (1996), 269 ff. 15
Declaration of the Government of the Democratic and Popular Republic of Algeria concerning the Settlement of Claims by the Government of the United States of America and the Government of the Islamic Republic of Iran, 19.1.1981, abgedruckt in: 1 IRAN - U.S.Claims Tribunal Reports, 9 ff. 16
Iran-United States Claims Tribunal Reports (Iran-U.S. C.T.R.), Volumes 1 - 2 9 .
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der internationalen Streiterledigung und materiell-rechtlichen Frage der internationalen Vertragsbeziehungen und des Investitionsschutzes eine Rechtsprechung bieten. Wie der Verfasser aus seiner eigenen Tätigkeit als Präsident dieses Tribunals von 1984 bis 1988 gut beurteilen kann, führten die schwierigen und zum Teil feindlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten zwar nicht selten zu Problemen, ergab sich aber trotzdem fast ausnahmslos eine letztlich geordnete und effektive Abwicklung der vielen und umfangreichen Streitigkeiten. Ohne daß hier näher auf Einzelheiten eingegangen werden kann, sei zumindest darauf verwiesen, daß die Verfahrensordung des Tribunal im wesentlichen eine leicht veränderte Fassung der UNCITRAL Arbitration Rules war und daß in der materiell-rechtlichen Rechtsprechung insbesondere der Schutz der Auslandsinvestitionen einschließlich des internationalen Enteignungsrechts eine große Rolle spielten 17 . VI. United Nations Compensation Commission Hinsichtlich des gesamten Streitwertes wurde das Iran-United States Claims Tribunal inzwischen von dem Streitwert der bei der United Nations Compensation Commission (UNCC) 18 eingebrachten Klagen übertroffen, die insgesamt nach derzeitiger Bewertung etwa 180 Mrd. US-$ ausmachen. Allerdings handelt es sich bei der UNCC nicht um eine den oben genannten Systemen und Institutionen vergleichbare Streiterledigungsinstanz, da die UNCC-Zuständigkeit hauptsächlich auf Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen beruht und das Verfahren von vornherein von einer völkerrechtlichen Haftung des Irak für die durch den Golfkrieg verursachten Schäden ausgeht, so daß die Verfahren sich auf die Höhe der Schadensersatzansprüche konzentrieren und die Beteiligung des Iraks an den Verfahren teilweise eingeschränkt ist. Wie der Verfasser aus seiner eigenen Tätigkeit als Panel Chairman der UNCC beurteilen kann, ist im Laufe weniger Jahre mit Unterstützung des effektiven Sekretariats der UNCC in Genf für die in Zahl und Volumen gewaltigen Streitfälle ein effektives Streiterledigungssystem entwickelt worden. Soweit vom Sicherheitsrat die Verfahrensregeln nicht festgelegt worden sind, gilt das Verfahren der UNCITRAL Arbitration Rules. Eine größere Zahl von Fällen konnte bereits entschieden und dann auch durch betreffende Zahlungen aus dem Fonds der UNCC erledigt werden, für welchen aus den Öleinkünften des Irak jeweils 30 Prozent abgezweigt werden. 17 K.-H. Böckstiegel, Zur Bedeutung des Iran-United States Claim Tribunal für die Entwicklung des internationalen Rechts, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, 605 ff. 18 Siehe zur UNCC: J. P. Gaffney, The United Nations Compensation Commission. A Structural and Procedural Overview, Arbitration 65 (1999), 212 ff.; sowie K.-H. Böckstiegel, Ein Agressor wird haftbar gemacht. Die Entschädigungskommission der Vereinten Nationen (UNCC) für Ansprüche gegen Irak, V N 1997, 89 ff.
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V I I . Schlußbemerkung Der obige kurze Überblick zeigt einerseits, daß die traditionellen strikten Unterscheidungen zwischen der völkerrechtlichen Streiterledigung und der privatrechtlichen Streiterledigung durch separate Verfahrenswege heute nicht mehr in der früher üblichen Weise durchgehalten werden. Ein breites Spektrum von unterschiedlichen Mechanismen der Streiterledigung steht jedenfalls für die hier behandelten Verfahren zwischen einerseits einem Privatunternehmen und andererseits Staaten, staatlichen Institutionen oder internationalen staatlichen Organisationen zur Verfugung. Auch die traditionelle Unterscheidung zwischen Gerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit verwischt sich: Schon die vor einer Reihe von Jahren eingeführte Möglichkeit, Special Chambers des Internationalen Gerichtshofs mit individuell ausgesuchten Richtern anzurufen, führt den IGH in die Nähe der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Andererseits hat sich die internationale Schiedsgerichtsbarkeit mehr und mehr institutionalisiert. Dies ergibt sich einmal daraus, daß statt der Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit in der ganz überwiegenden Zahl der Streitfälle im internationalen Wirtschaftsverkehr die institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit gewählt wird, bei welcher das Verfahren nach einer Schiedsordnung einer Institution, wie etwa der Internationalen Handelskammer, stattfindet. Immerhin werden selbst bei dieser institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit die Einzelfalle immer noch von individuell für jeden Fall ernannten Schiedsrichtern oder aus drei Personen bestehenden Schiedsgerichten entschieden. Trotzdem spielen die permanenten Institutionen zwar nicht bei der eigentlichen Entscheidungsfindung, wohl aber bei der Abwicklung der Fälle eine erhebliche Rolle. Die Schiedsgerichtsbarkeit rückt dann noch näher an die klassische Gerichtsbarkeit, wenn — wie etwa bei dem Iran-United States Claims Tribunal — ein langfristig mit den selben Personen besetztes Schiedsgericht eine Vielzahl von Fällen entscheidet. Ohne daß darauf im Rahmen des obigen kurzen Berichts eingegangen werden konnte, sei schließlich daraufhingewiesen, daß sich in der internationalen Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, insbesondere aber gerade in Streitigkeiten zwischen Privatunternehmen und Staaten oder internationalen Organisationen, traditionelle Grenzen des anwendbaren Rechts verschieben. Schon in internationalen Streitfällen zwischen Privatunternehmen sind nicht selten neben dem Kollisionsrecht und dem danach bestimmten anwendbaren Privatrecht Normen des öffentlichen Rechts von Relevanz, etwa aus dem Bereich des Karte 11 rechts, des Außenwirtschaftsrechts und des Patentrechts. Dazu kommt eine heute sehr viel liberalere Akzeptanz der Privatautonomie, die beispielsweise dazu geführt hat, daß in dem ab 1.1.1998 in Kraft gesetzten neuen 10. Buch der ZPO gemäß §1051 die Parteien die Entscheidung des Rechtsstreits statt einem staatlichen Recht auch sonstigen „Rechtsvorschriften" unterwerfen können. Dazu paßt der 29*
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vergleichbare Fall, daß in dem erwähnten Schiedsverfahren zwischen einem Privatunternehmen und den Vereinten Nationen das Schiedsgericht statt auf ein nationales Recht auf die Vertragsprinzipien von UNIDROIT zurückgriff. Dazu kommt in den hier behandelten Fällen noch die nicht seltene Anwendung weiterer öffentlich-rechtlicher Vorschriften, wenn z.B. ein Staat ausländischen Investoren Zusagen im Bereich des Steuerrechts oder des Zollrechts macht oder einen Schutz vor Enteignung sichert. Gerade bei Streitfällen, in welchen eine Enteignung von dem Privatunternehmen behauptet wird, kommt es dann auch — wie etwa in ICSID-Verfahren, NAFTA-Verfahren oder vor dem Iran-United States Claims Tribunal - zur Anwendung von einschlägigem Völkerrecht.
Exploring the Edge: The Personal Reach of a Transnational Agreement to Arbitrate By Siegfried Wiessner
A Tribute
to an Eminent Legal Scholar and a Great Human Being
Professor Thomas Oppermann is my revered first teacher of international law. In 1974, he helped kindle a flame that burns today: an enduring affection for matters outside the realm of the ordinary, the common, the familiar. His teaching was unfailingly inspiring. I remember vivid details, such as his references to the Consolât del Mar , intricate issues of diplomatic law and procedure, the little quizzes he prepared for us, the neat rewards he shared. The honoree's approach to teaching was guided by a keen sense for the essential: he provided a grounding in the vernacular, the new language needed for professional communication in the global arena of international law. In interacting with his students, first and foremost, he showed, and thus instilled, a deep culture of respect: respect for the neophyte student thirsty for enlightenment, tolerance for his or her views if they diverged from his own, intolerance for insufficient analysis, but unending support for the young who gave the discipline their best effort. In 1977, he encouraged four of us Tübingen law students to form the first German team to compete in the Philip C. Jessup International Law Moot Court Competition - on the other side of the Atlantic World, in San Francisco, California. Our relationship continued, and grew deeper, when I pursued an academic career in the United States. Professor Oppermann visited my law school at St. Thomas University in Miami in 1991, and he invited me to spend the summer of 1992 as a visiting professor at my alma mater in Tübingen. Beyond being a mentor, he had become a trusted friend. As a scholar, Professor Oppermann is a Renaissance person: the dominant author of his time not only in European Law, but also in the law regulating culture and education, as well as public law regulating commerce as well as international trade. Above all, horribile die tu , he and we had fun dealing with the law, particularly with the law relating to the powers and functions of government. His seminars and colloquia were brimming with enthusiasm and invariably situated at the cutting edge of law and policy. Beyond the academy, the honoree is close to, and respected by, holders of highest office. One impressive example was his organization, for the 1977 celebration of Tübingen University's
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quinquecentenary, of a colloquium on the future of Europe with statespersons from all over the Continent, led by Prime Minister Harold Wilson of the United Kingdom. Professor Thomas Oppermann's life as a scholar and teacher is a model to follow. In this vein, and in celebration of the honoree's contributions to academic diversity, I shall endeavor to address a topic at the margins of international law, business law, and the resolution of disputes: the reach ratione personae of a transnational agreement to arbitrate a commercial dispute.
I. The Problem In the early 1970s, a large field of natural gas, the so-called "Heimdal field", was discovered in the North Sea off the Norwegian coast. Marathon Oil Co., a multinational corporation headquartered in Texas, had its wholly-owned subsidiary, Marathon International Oil, purchase a European concern which held a production license for gas in the Heimdal field. Within the Marathon corporate family, the original holder of the license was Marathon Petroleum Norge A / S , a Norwegian company. For the purposes of commercial exploration and exploitation of the Heimdal gas, Marathon established a wholly-owned subsidiary — Marathon Petroleum Co. (Norway) (MPCN) - with no employees of its own and staffed and controlled by personnel from other corporate family members. This project vehicle, the ultimate holder of the license by virtue of a passthrough agreement with Marathon Petroleum Norge, with rights to 24% of the Heimdal field, entered into a gas supply contract with the principal German natural gas company, Ruhrgas AG and several other buyers. This contract included a clause according to which all disputes arising out of or relating to this contractual agreement would be arbitrated in Sweden under ICC rules of procedure and Norwegian substantive law. Disputes over the price of gas and hardship claims of the buyers led to an arbitration proceeding against the buyers initiated in 1987 by MPCN. The resulting award was challenged by the buyers in Swedish court. This litigation was settled by a May 11, 1990, amendment to the contract which had the effect of lowering the contractual price of gas from the Heimdal field. In 1995, Marathon Oil Co., the parent of PCN, Marathon International Oil Co., and Marathon Petroleum Norge A / S - but not MPCN itself - sued Ruhrgas AG in Texas state court for fraud, misrepresentation, civil conspiracy, and tortuous interference with business relations. They claimed that Ruhrgas and other European companies secretly conspired to monopolize the Western European gas market by funneling a large portion of North Sea gas reserves through Ruhrgas's production facilities in Germany, and that they were induced to provide MPCN with $300 million to participate in extensive construction and drilling operations
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under the allegedly false premise of the original, contractual premium prices. They maintained that they were not bound by the arbitral clause, and that their claims sounded in tort, not contract. Ruhrgas transferred the case to federal court, invoking jurisdiction under diversity of citizenship, federal question, and 9 U.S.C. § 205, the Federal Arbitration Act. After removal, the district court denied Ruhrgas' motion for a stay pending arbitration, but granted Ruhrgas' motion to dismiss for lack of personal jurisdiction. A three-judge panel of the U.S. Court of Appeals for the Fifth Circuit found that, based on considerations of federalism, federal courts had to address the issue of their subject-matter jurisdiction first before addressing the issue of personal jurisdiction. They found subject-matter jurisdiction lacking, rejecting, inter alia, the argument based on 9 U.S.C. § 205. A majority of judges in active service then determined, on the Court's own motion, to rehear this case en banc1. At this stage, law professors specializing in international arbitration, including the author, decided to intervene in the proceeding pro bono publico to support the idea of a broad interpretation of the binding jurisdictional scope of the arbitral clause in order to promote a decision on international commerce in line with pertinent U.S. Supreme Court policies. The authors draft amicus curiae brief was circulated, revised, and ultimately joined by Professor R. Lea Brilmayer (Yale), Professor Thomas E. Carbonneau (Tulane), Dean and Professor Pamela Brooks Gann (Duke), Professor Harold G. Maier (Vanderbilt), Professor Luther L. McDougal, III (Tulane), Dean and Professor Edward F. Sherman (Tulane, Counsel of Record), Professor Hans Smit (Columbia), and Professor Ruth Wedgwood (Yale). The document was submitted to the Fifth Circuit on February 4, 19982. The proposition that a company be sued in the home country of its business partner for tortuous violations of the mutual contract by parents or sisters of the partner, who itself is bound to arbitrate, may strike us as patently unfair. After all, who would know the arcane details of foreign law, and the possibly byzantine structure and dynamics of the court system. Even if one could ascertain the "law on the books", would one not face the second hurdle of determining the "law in action" in that foreign country, the "operational code" instead of the "myth"? 3 Perhaps one would feel, as defendant in such proceeding, hopelessly outmatched by the business partner and its resources, operating in familiar territory, on home turf, knowing all the players, the umpires, and the code of spoken and unspoken rules, principles, and policies. 1 For details, see Marathon Oil Co. et al. v. Ruhrgas, A.G., 115 F.3d 315 (5th Cir. 1997), cert, denied, 118 S. Ct. 413 (1997), and reh'g en banc granted, 129 F. 3d 746 (5th Cir. 1997). 2 S. Wiessner , Marathon Oil Co. v. Ruhrgas AG: Amicus Curiae Brief by Professors of International Arbitration, 9 World Arbitration & Mediation Reporter 137 (1998) (hereinafter Ruhrgas Amicus Curiae Brief). 3
Cf. W.M. Re is man y Folded Lies (1979).
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The situation is not hypothetical or academic, as Ruhrgas found out. International business, large and small, tries to level the playing field of resolution of disputes about their contracts with foreign partners by appointing mutually agreeable, neutral, knowledgeable and effective decisionmaking agents in the nature of arbitrators or arbitral tribunals 4. As international trade grows by leaps and bounds, furthered by the worldwide opening of markets and the revolution of information technology heralding a global economy without frontiers, so does its necessary adjunct, transborder arbitration 5. At the beginning of the new century, it has become a booming service industry 6.The community of states accommodates the objective interest of transnational commerce in transnational arbitration by providing, by treaty, for a stay of domestic litigation and removal of such a case to the arbitral forum, where the dispute would be decided on the merits. The resulting arbitral award, would, under the same treaty, be recognized and enforced by domestic courts, subject only to a highly circumscribed public policy review 7. A principal legal issue under this treaty (as well as under a comity- or custom-based regime of recognition of foreign arbitral awards) is the scope of the agreement that gives rise to the authority of the arbitral body: What types of cases, i.e. legal claims, does it cover (reach ratione materiae )? Who exactly is swept within its compelling reach {ratione personae )? The Supreme Court of the United States has taken a leadership role in favoring a broad reading of the agreement to arbitrate in international contexts. It has allowed for transnational arbitration of domestic statutory claims highly expressive of public policy, such as those arising out of an alleged violation of federal securities and antitrust laws, even if those claims could not be arbitrated in a purely domestic 4 International arbitration is not a 20th-century phenomenon. Its historic roots go deep. In U.S.-British relations, for example, it reaches back to the Jay Treaty of Nov. 19, 1794, under which, inter alia, a three-person board of arbitration was to settle any dispute over the northeast boundary between the U.S. and Great Britain (art. 5). H.T. King , Jr. & J. D. Graham , Origins of Modern International Arbitration, 51 Dispute Resolution Journal 42 - 4 3 (January - March 1996). 5 For a brief overview of structure, processes and institutions of international commercial arbitration, see C. Larsen , International Commercial Arbitration, ASIL Insight (1997) http: // www.asil.org / insight6.htm. 6
P. Sanders , Quo Vadis Arbitration? 11 (1999), with further references. By the mid1980's, at least, it had become recognized that arbitration was the normal way of settlement of international commercial disputes. W. L. Craig , Some Trends and Developments in the Laws and Practice of International Commercial Arbitration, 30 Texas International Law Journal 1, 2 (1995), referring, inter alia, to Y. Derains , The Impact of International Political Crises on International Contracts and International Commercial Arbitration, 1992 Revue de Droit des Affaires Internationales 151, and K.P. Berger , Party Autonomy in International Economic Arbitration: A Reappraisal, 4 American Review of International Arbitration 1, 7 (1993) (citing other commentators). 7 The vehicle for implementing this procedure is the 1958 New York Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, 21 U.S.T. 2517, 330 U.N.T.S. 38, T.I.A.S. No. 6997.
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context. In the interest of efficiency, it has upheld the traditional extension of arbitrable claims from the contractual sphere to contract-related torts (fraud, tortuous interference with contracts, etc.). Should the personal scope of an international arbitral clause be similarly construed? Who should hold the right? Who should be covered by the obligation to arbitrate a dispute arising out of or relating to an international commercial relationship? The gamut of theoretically possible answers runs from a strict limitation of arbitration to the signatories of the arbitral clause8; a broadened scope using domestic legal theories such as the principal / agent relationship, succession by law, assignment9; the "piercing of the corporate veil 10 ; the doctrines of alter ego or equitable estoppel"; to more specifically transnational doctrines encompassing all natural or legal entities, corporate affiliates of signatories or not, who are arguably affected by, or whose claims are related to, the contract containing the arbitral clause12. The most intriguing of the latter theories has come to be known as the "group of companies" doctrine 13. This essay will seek to highlight the conflicting claims; review relevant past trends in decision, both domestic and international, in light of their conditioning factors; present and appraise alternative decisions; and recommend an initial solution to this problem in the global common interest. 14
8
This is the general rule, based on the principle of contractual autonomy: only parties who have agreed to arbitrate can be subjected to the arbitral procedure and be bound by the award of the arbitral tribunal. M E Hoellering , International Arbitration Agreements: A Look Behind the Scenes, 53 Dispute Resolution Journal 64, 66 (November, 1998). 9
See Hoellering , id., at 67.
10
„The doctrine, at least, in the context of the American legal system, is an equitable remedy which courts may apply when continued recognition of the separate corporate entity would promote or protect fraud or injustice, or contravene public policy or convenience", B. L. Graham , Navigating the Mists of Metaphor. An Examination of the Doctrine of Piercing the Corporate Veil, 56 Journal of Air Law and Commerce 1135, 1136 (1991). See also S. B. Kim , A Comparison of the Doctrine of Piercing the Corporate Veil in the United States, 3 Tulsa Journal of Comparative and International Law 73 (1995). 11
See infra notes 43, 55 and 57.
12
For a brief introduction to the typical situations, main issues and essential criteria applied, see M. Blessing , Extension of the Arbitration Clause to Non-Signatories, in Swiss Arbitration Association, The Arbitration Agreement-Its Multifold Critical Aspects, ASA Special Series No. 8 (Dec. 1994), at 151 et seq. 13
In essence, non-signatory entities of the same group of companies are deemed to have acted as direct or indirect parties to the agreement to arbitrate. Cf. Hoellering (supra note 8), at 67. For arguments in favor of such theory, see 5. Jarvin , The Group of Companies Doctrine, in Swiss Arbitration Association (supra note 12), at 181 et seq.; for arguments against, cf. Ο. Sandrock , Extending the Scope of Arbitration Agreements to Non-Signatories, in Swiss Arbitration Association (supra note 12), at 165 et seq.
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II. Conflicting Claims A societal problem results from the clash of claims by individuals or groups. If needed and asked, the legal system has to resolve a resulting dispute in the interest of preserving minimum and, ideally, promoting optimum, public order 15. In order to devise an effective solution to the problem, one benefits from a thorough assessment of the relevant conflicting claims, the claimants, their perspectives, identifications, bases of power, etc. Regarding the determination of the personal scope of the arbitration agreement, the relevant players and their interests are as follows. Some state governments feel they ought to preserve their territorial sovereignty by exercising the utmost control over persons and resources within their territory. As arms of that sovereign, courts are, in this view, best equipped to interpret and give effect to the nation-state's law and public policy. They perceive arbitration as evading the structures of sovereign control, and thus feel that has to be interpreted narrowly regarding both its substantive and personal scope. Also, as a matter of personal sovereignty, some states might want to keep open their own courts for their own citizens, in particular, when they approach them as claimants or plaintiffs. They desire, or may be constitutionally compelled, to offer them their day in court. Similarly, corporations, particularly when in the role of plaintiffs, might want to focus on the express language of the arbitration clause and its limiting range of parties, in order to seize the advantage of litigating on home turf. I f affiliates were supposed to be bound by the arbitral clause, both parties to the agreement (especially i f they were corporations with sophisticated legal departments) would have formulated the clause accordingly. On the other hand, other governments might be guided by policies of maximizing the production and distribution of wealth. In that vein, they would focus on facilitating and enhancing international commerce by offering broad avenues of resolving all disputes relating to transnational contracts governed by arbitral clauses in the arbitral forum. In the presence of such an alternate forum, the domestic court system would save its scarce and strained resources for matters central to government's primary functions: criminal law and other aspects of mandatory public policy. After all, if arbitrators go out of line, the courts still have the safety valve of public policy review according to Article V of the New York Convention when the arbitral award returns back to them for recognition and enforcement. This interest in judicial economy is joined by a desire to 14 For a detailed exposition of these important intellectual tasks, see S. Wiessner , International Law in the 21st Century. Decisionmaking in Institutionalized and NonInstitutionalized Settings, 26 Thesaurus Acroasium 129, 144-145 (1997). 15
In fact, "struggle" has been identified as "the life of the law". Cf. a forerunner of 20th-century Legal Realism, German interests jurisprudence, as promoted by R. v. Jhering , Der Kampf ums Recht 19 (1872).
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effectuate substantive justice: both contractual and corporate law principles might find it compelling to add a non-signatory person or entity to the agreement to arbitrate. As a matter of personal sovereignty and diplomatic protection, governments also might want to protect their citizens against suits lodged against them in foreign countries, by raising mandatory arbitration as a shield against foreign court action. Companies might hold the generalized expectation that all disputes arising out of and relating to a particular transnational business relationship be resolved by arbitration. They might expect not be sued by corporate affiliates of a business partner for contract-related alleged misconduct. This subjective view, prevalent particularly when companies find themselves on the defendant side of litigation, might be joined by more objective concerns for the speedy, neutral and expert resolution of any business dispute that crosses frontiers. I I I . Past Trends in Decision Law emanates from a social process of making decisions that are both authoritative and vested with control intent 16 . The relevant community must view the person or institution making the decision as authorized to do so. The decision must also be backed up by the credible threat of severe deprivation of values in the case of non-compliance or the lure of high indulgences or benefits in the case of compliance. Law in the field of international arbitration is made by both domestic and international actors. Prescriptively, the interlinkage of domestic courts and international arbitral fora has been formulated in the 1958 New York Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards: persons or entities bound by an international arbitral agreement have to refer any dispute arising out of their covered contractual relationship to the arbitral tribunal indicated in the agreement. If the persons so covered go to court instead, the court of any contracting party to the convention will have to stay the litigation and refer the matter, with few exceptions, to the designated arbitral forum (Article II). When the award is rendered, it is entitled to recognition and enforcement, subject to, again, minimal court review (Article V). This convention is now binding on 120 states, with 26 territorial extensions17. It ensures foreign arbitral awards a, generally speaking, more favorable reception in domestic courts than foreign court decisions, and it formulates public policy even for those countries that have not signed or ratified the New York Convention. Its mechanism authorizes both domestic actors (such as courts) and international actors (such as transnational arbitral tribunals) to make decisions both as to the subject-matter reach of an arbitral clause and as to the personal reach of an agreement to arbitrate. Domestic courts have to decide whether to stay proceed16
Wiessner (supra note 14), at 141, with further references.
17
P. Sanders (supra note 6), at 69 (as of March, 1999).
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ings initiated in them and refer a matter to arbitration, as well as whether to recognize and enforce an arbitral award rendered, and arbitral fora have to determine whether their jurisdiction has been properly invoked. Let us proceed first by identifying the pertinent decisions and rationales offered by international arbitral tribunals, followed by domestic courts' affirmations or rejections of those decisions and policies. 1. International Arbitral Practice The leading case in the field is the award rendered by a distinguished panel of arbitrators of the ICC Court of Arbitration in the Dow Chemical Case. The facts may be worth recounting: In 1965, Dow Chemical had licensed Isover St. Gobain to sell its products in France, with only Dow Chemical International S.A. (a predecessor of Dow Chemical AG of Zurich) signing the contract and ICC arbitration clause. Three years later, a similar contract was entered into between Dow Chemical (Europe) S.A., a subsidiary of Dow Chemical AG of Zurich, also including a clause requiring all disputes arising out of the distributorships to be settled by arbitration in Paris under the ICC Rules. In 1981, Dow Chemical Co. (the United States parent), Dow Chemical France, Dow Chemical AG of Zurich, two of its subsidiaries, and Dow Chemical (Europe) S.A. all filed a claim for breach of contract against Isover St. Gobain with the ICC. In ICC Award No. 4131 (1982) 18 , the arbitral tribunal consisting of Professor Pieter Sanders (President), Professor Berthold Goldman, and Professor Michel Vasseur held that it had jurisdiction over all the claimants and formulated the essence of what has come to be known as the group of companies doctrine: Considering that it is indisputable - and in fact not disputed - that DOW CHEMICAL COMPANY (USA) has and exercises absolute control over its subsidiaries having either signed the relevant contracts or, like DOW CHEMICAL FRANCE, effectively and individually participated in their conclusion, their performance, and their termination; Considering that irrespective of the distinct juridical identity of each of its members, a group of companies constitutes one and the same economic reality (une réalité économique unique) of which the arbitral tribunal should take account when it rules on its own jurisdiction subject to Article 13 (1955 version) or Article 8 (1975 version) of the ICC Rules, Considering, in particular, that the arbitration clause expressly accepted by certain of the companies of the group should bind the other companies which, by virtue of their role in the conclusion, performance, or termination of the contracts containing said clauses, and in accordance with the mutual intention of all parties to the proceedings, appear to have been veritable parties to these contracts or to have been principally concerned by them and the disputes to which they may give rise. ...
18 IX Yearbook of Commercial Arbitration 130 (1984). For the original decision in French, see 110 Journal du Droit International 899 (1983), with note Derains.
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[I]t is appropriate for the tribunal to assume jurisdiction over the claim brought not only by DOW CHEMICAL AG (Zurich) and DOW CHEMICAL EUROPE, but also by DOW CHEMICAL (USA) and DOW CHEMICAL FRANCE 19 . For the tribunal, thus, the common intent of the parties was decisive, as well as the history and performance of the contract: the parent company was the pivot of the contractual relationship finally established between certain entities of the group and the defendant 20. Also, in the negotiation stage, the defendants did not attach the slightest importance to the choice of the company within the Dow Chemical group that would sign the contract containing the [arbitral] clause21.
The Paris Cour d'Appel rejected a motion to set aside the award. In its decision, the Court acknowledged that it cannot be seriously doubted that the notion of groupe de sociétés exists as a usage of international commerce 22. The economic realities referred to by the Dow Chemical Award were summarized in an earlier award cited in the Dow Chemical Case, ICC Award No. 143423. It maintained that [i]t is a frequent phenomenon in international industrial relations of this size that the country (or the national company which intends to acquire and have built on its soil a new plant or other industrial ensemble) enters into a contract with a corporate group or a large multinational corporation which, for reasons of organization or internal structure, confers the execution of the operation to one or several of its subsidiaries which are already existing or have been created ad hoc. In a general sense, the co-contractors have no direct interest and do not consider to interfere with these internal organizational questions relating to the group as long as the latter guarantees, through appropriate clauses, the correct execution of the contract 24. In ICC Award No. 2375 25 , the arbitral tribunal included subsidiaries on both the claimant's and the defendant's side in the arbitral proceedings, even though only the parent companies had signed the arbitration clause. It based this decision on "the autonomy of the international community of merchants, especially in the field of corporate law which escapes any domestic law", and it employed the "group concept". This language may have given rise to the complaint that freewheeling decisionmaking under the guise of a lex mercatoria was at play, contrary to states parties' intentions whose courts ultimately have to recognize and enforce the arbitrator's verdicts 26. Still, as distinguished commentator Yves Derains 19
Id. at 136.
20
Id. at 135.
21
Cf. K.P. Berger , International Economic Arbitration 160 (1993).
22
Paris Court of Appeals of October 21, 1983, Revue de l'Arbitrage 1984, at 98.
23
103 Journal du Droit International 978 (1976).
24
Id. at 979.
25
103 Journal du Droit International 973 (1976), with note Derains , at 975.
2A
For a strong statement of the position anchoring any interpretation of the agreement to arbitrate in domestic law, see O. Sandrock , Arbitration Agreements and Groups of Companies, in: Etudes de Droit International en l'Honneur de Pierre Lalive 625, 646 (1993). For a similar critique, see H. Smit , A-National Arbitration, 63 Tulane Law Review 629 (1989).
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pointed out, the arbitral tribunal was not simply assessing the legal and economic structure of the corporate family, it carefully assessed also the nature of the participation of non-signatory companies in the formation, realization and termination of the contract, leading the arbitrators to treat these companies as "factual parties" to the contracts including the arbitration clause, and thus honoring all parties' implied mutual intentions and contractual expectations27.
That this detailed factual analysis is critically important, is illustrated in ICC Award 6519 28 . In this case, the arbitral tribunal expressly referred to the group of companies doctrine, and declined to apply an arbitral clause to non-signatory group members that were not expressly or impliedly represented or played an active role in the preceding negotiations or are directly concerned by the agreement that contains the arbitration clause29. This restrictive view of the group of companies rationale is reflected in Yves Derains and Eric Schwartzs commentary on the new ICC Rules of Arbitration, which do not require that each of the parties to the arbitration must have signed the arbitration agreement, and it may be the case, by virtue of any one of a number of different legal theories (such as, e.g., agency, assignment, alter ego, succession or the so-called group of companies theory), that a non-signatory may be bound by an arbitration agreement. In such cases, ... the Court may be required to make what is a difficult and delicate decision as to whether the arbitration ought to be allowed to proceed against such party 30 . A plausible argument must be made, based on, for example, a partys conduct or relationship with one of the signatory parties 31. The new ICC Rules, effective since January 1, 1998, procedurally reinforce this position as they restate the longstanding rule of arbitral practice that the arbitral forum determines its own jurisdiction, and that the tribunal will proceed with the arbitration i f the ICC International Court of Arbitration is prima facie satisfied that an agreement to arbitrate exists32. The international consensus that 27
See Derains (supra note 25), at 977.
28
118 Journal du Droit International 1065 (1991).
29
Id. at 1066.
30 Yves Derains/E. A. Schwartz , A Guide to the New ICC Rules of Arbitration 92 (1998). 31 32
Ibid.
In particular, Article 6 (2) states: I f the Respondent does not file an answer, as provided by Article 5, or if any party raises one or more pleas concerning the existence, validity or scope of the arbitration agreement, the [ICC International Court of Arbitration] may decide, without prejudice to the admissibility or merits of the plea or pleas, that the arbitration shall proceed if it is prima facie satisfied that an arbitration agreement under the Rules [of Arbitration of the ICC] may exist. In such a case, any decision as to the jurisdiction of the Arbitral Tribunal shall be taken by the Arbitral Tribunal itself. I f the [ICC International Court of Arbitration] is not so satisfied, the parties shall
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the question of the arbitrability of disputes in international commercial cases is properly reserved for arbitral determination is also exemplified in Articles 16(1) and 21(1) of the UNCITRAL Model Law (1985) and Arbitration Rules (1976). To the same effect are Article 14.1 of the Rules of the London Court of International Arbitration (LCIA) and Article 15(1) and (2) of the International Rules of the American Arbitration Association (AAA). A primary purpose of these and other provisions (such as Article 8.3 of the former ICC Rules) is to minimize diversionary resort to the courts in the early phases of international arbitration proceedings by expressly authorizing the arbitrators, in the first instance, to resolve arbitrability issues without the need to resort to court intervention. Even where exclusively domestic parties are involved, this extension of the personal reach of the agreement to arbitrate in a group of companies context has been expressed in an arbitral award relating to a dispute arising out of an international shipping contract. In its Partial Final Award No. 1510 of November 28, 198033, the Society of Maritime Arbitrators of New York stated that the "interests of subsidiary and associated companies of the same parent may be entered into the same arbitration proceeding along with its sister company charterer", and that "to consider the arbitration clause as one which limits the right to arbitrate to the chartering subsidiary and to no other company within the same corporate family involved in the venture is to narrowly restrict the parties' apparent intention to arbitrate" 34. The Panel concludes that it is neither sensible nor practical to exclude [from arbitration] the claims of companies who have an interest in the venture and who are members of the same corporate family. The practicality of such an approach is apparent. The major shipping organizations often charter through a subsidiary company, ship their cargoes through another and sometimes consign them to other related companies. To consider the arbitration clause as one which limits the right to arbitrate to the chartering subsidiary and to no other company within the same corporate family involved in the venture is to narrowly restrict the parties ' apparent intention to arbitrate their differences, 35 2. Domestic Decisions In many ways, the courts of the United States have led the way in paving the road for international commercial arbitration. The needs of international commerce have led the U.S. Supreme Court to mandate arbitration in international be notified that the arbitration cannot proceed. In such a case, any party retains the right to ask any court having jurisdiction whether or not there is a binding arbitration agreement. 33
V I I Yearbook of Commercial Arbitration 151 (1982).
34
Ibid.
35
Id. at 153 (emphasis added).
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contexts where domestic arbitration would not necessarily be compelled or even permitted. This broader reading of international arbitral clauses is warranted because of the expectations of parties to international contracts that disputes will be dealt with, as comprehensively as possible, by a settlement body that is neutral, knowledgeable, prompt, and effective. One of the reasons motivating businesspeople to avoid the domestic tribunals of their respective home countries appears to be the prevention of, at least perceived, "home court advantage" In Bremen v. Zapata Off-Shore Co. 36 , the U.S. Supreme Court recognized this need and gave effect to an international choice-of-forum clause, arguing that "the expansion of American business and industry will hardly be encouraged if, notwithstanding solemn contracts, we insist on a parochial concept that all disputes must be resolved under our laws and in our courts" 37 . This is a policy of the New York Convention, and it does not castigate any particular nation's courts, but recognizes that business entities may wish to avoid the variations in procedure and quality among the courts of over one hundred states parties. The U.S. Supreme Court was satisfied that it could entrust such disputes to international arbitral bodies because it was convinced of their expertise, and because Article V of the New York Convention assigns to national courts the jurisdiction to review arbitral awards before they are enforced. The celebrated cases of Scherl and Mitsubishi 39 establish that international trade would be severely impeded by the prospect of bifurcated settlement procedures arising out of the same contractual relationship, i.e., the arbitral route for contractual claims, and litigation for related statutory claims such as private antitrust or securities claims. Similarly, the argument has been made that it would be a blow to the certainty and efficiency needed for healthy international commercial relations i f a party could extricate itself from the arbitral forum selected in the contract by having the claims raised not by the formal party to the contract (the instrumentality used), but by a parent or sister company. This avenue also thwarts the purposes and policies of international arbitration and should be foreclosed as a tactical means40. Legal doctrines allowing for binding non-signatory corporate affiliates should thus be interpreted broadly to accom36
407 U.S. 1 (1972).
37
Id. at 9.
38
Scherk v. Alberto-Culver Co., 417 U.S. 506 (1974) allowed for the arbitration of claims arising out of alleged violations of United States securities laws in disputes arising out of international commercial transactions. 39 Mitsubishi Motors Corp. v. Soler Chrysler-Plymouth, Inc., 473 U.S. 614, 630 (1985), allowed for international arbitration of antitrust claims under U.S. law, reaffirming Bremen and interpreting it as "clearly eschewing a provincial solicitude for the jurisdiction of domestic forums". For further analysis, see D. G. Lange/S. Wiessner , Die Schiedsfëhigkeit internationaler Antitrust-Streitigkeiten. Zur Mitsubishi-Entscheidung des US Supreme Court, 31 Recht der Internationalen Wirtschaft 757 (1985). 40
Ruhrgas Amicus Curiae Brief, supra note 2, at 140.
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modate the national policy in favor of international arbitration 41. In particular, when a subsidiary is created for the purpose of carrying out a particular contractual obligation of the parent, is in a reporting relationship to its parent, has no personnel of its own, and is separated financially from its parent only to absorb potential losses, it would defy good policy and economic reality to allow the parent or controlled affiliates to extricate themselves from dispute settlement arrangements entered into by the project company. As in ordinary contract law, the expectations of both parties to the contract need to be taken into account. The U.S. Supreme Court does not seem to have squarely faced the issue presented here. Four circuits just below the highest court of the land, presented with cognate factual situations, have applied accepted various legal principles to reach a result upholding the effectiveness of the arbitration clause and binding nonsignatories in certain international contexts. The Second Circuit Court of Appeals, in Thomson-CSF, S.A. v. American Arbitration Associationstated that: This Court has recognized a number of theories under which non-signatories may be bound to the arbitration agreements of others. Those theories arise out of common law principles of contract and agency law. Accordingly, we have recognized five theories for binding non-signatories to arbitration agreements: 1) incorporation by reference; 2) assumption; 3) agency; 4) veilpiercing/alter ego; and 5) estoppel43.
In this case, the Second Circuit further noted that "[a] parent corporation and its subsidiary lose their distinct corporate identities when their conduct demonstrates a virtual abandonment of separateness"44. In Deloitte Noraudit AIS v. Deloitte Haskins & Sells*\ the Second Circuit further held that a non-signatory claimant is bound to an arbitration agreement where the non-signatory knowingly exploits the agreement containing the arbitration clause and accepts its benefits. In this case, the Second Circuit established a two-step inquiry: first, whether there is an agreement to arbitrate; second, what is the scope of the arbitration clause. The Second Circuit restated the settled principle that, " A party may be bound by an agreement to arbitrate even in the absence of a signature. ... [0]rdinary principles of contract and agency determine which parties are bound by an agreement to arbitrate." 46 With respect to the scope of the arbitration clause, the Second Circuit relied upon the Supreme Court's 41
H. Smit , The Arbitration Clause: Who Determines Its Validity and Its Personal and Subject Matter Reach?, 6 American Review of International Arbitration 395, 397 (1995). 42
64 F.3d 773 (2d Cir. 1995).
43
Id. at 776.
44
Id. at 778.
45
9 F.3d 1060 (2d Cir. 1993).
46
Id. at 1064 (citing McAllister Bros. v. A&S Trans. Co., 621 F.2d 519, 524 [2d Cir. 1980]). 30 FS Oppermann
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decision in Mitsubishi: "any doubts concerning the scope of arbitral issues should be resolved in favor of arbitration ..." 4 7 The Second Circuit also recalled its holding in S.A. Mineracao da Trindade-Samitri v. Utah Int'l , /hc. 48 , that federal policy "requires us to construe arbitration clauses as broadly as possible" 49 . In Dale Metals Corp. v. Kiwa Chemical Industry Co., Ltd. 50, the court held, in a case with many parallels to the factual scenario faced by Ruhrgas, that "[i]t is fair to say that in an arbitration proceeding between T M K and ODC, every issue that is raised here will be vigorously pressed. In such circumstances, a stay is appropriate even though it affects parties who are not bound to arbitrate" 51 . Accordingly, the court stayed adjudication in favor of arbitration 52. The Fourth Circuit, in J.J. Ryan & Sons, Inc. v. Rhone-Poulenc Textile , S.A 5 3 , declared, "[t]o decide whether an arbitration agreement encompasses a dispute a court must determine whether the factual allegations underlying the claim are within the scope of the arbitration clause, regardless of the legal label assigned to the claim. ... Moreover, the adoption and implementation of the Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards ... requires a federal policy in favor of arbitration to apply with special force in the field of international commerce" 54. In Sunkist Soft Drinks, Inc. v. Sunkist Growers , Ine.55, the Eleventh Circuit held that the lack of a written arbitration agreement is not an impediment to 47
Id. at 1065 (quoting Mitsubishi, 473 U.S. at 626).
48
745 F.2d 190 (2d Cir. 1984).
49
Id. at 194.
50
442 F.Supp. 78 (S.D.N.Y. 1977).
51
Id. at 81.
52
In this vein, other cases have imposed contractual obligations to arbitrate on nonsignatory corporate affiliates. In Chilean Nitrate Sales Corp. v. The Nortuna, 128 F.Supp. 938 (S.D.N. Y. 1955), the U.S. District Court for the Southern District of New York held that an arbitration clause contained in a charter party between a shipowner and the shipper of merchandise, a Chilean parent corporation, was binding on the consignee, the Chilean corporation's New York subsidiary. Also, in Farkar Co. v. R.A. Hanson Disc., Ltd., 441 F.Supp. 841 (S.D.N.Y. 1977), modified on other grounds, 583 F.2d 68 (2d Cir. 1978), on reh'g, 604 F.2d 1 (2d Cir. 1979), a parent corporation was compelled to arbitrate a contract dispute, pursuant to a contract between its international sales subsidiary and plaintiff Iranian corporation, where the subsidiary's officers and directors were identical to those of the parent, the subsidiary had no employees, those functions having been performed by the parent's employees, subsidiary and parent used the same trade name, and the subsidiary had neither inventory nor office separate from that of the parent. 53
863 F.2d 315 (4th Cir. 1988).
54
Id. at 319 (citing Mitsubishi, 475 U.S. at 622).
55
10 F.3d 753 (11th Cir. 1993), cert, denied, 513 U.S. 869 (1994).
Exploring the Edge
467
arbitration 56. The issue of whether a non-signatory, but affiliated corporate entity was bound to arbitrate under equitable estoppel was as a matter of law to be decided by the court. In both Sunkist and McBro Planning and Dev. Co. v. Triangle Elee. Constr. Co.' 1, the Eleventh Circuit has held that a dispute between a signatory and non-signatory regarding a contract with an arbitration clause must be arbitrated where there is a close relationship between the signatory and non-signatory and the claims are intimately founded in and intertwined with the underlying contractual obligations. The case law of the First Circuit is particularly relevant here to the proper judicial role in addressing arbitrability issues in international cases. In Apollo Computer Inc. v. Berg %, a U.S. computer company ("Apollo") entered into a distributorship agreement granting a Swedish company ("Dico") the right to sell Apollo products in Scandinavia. Thereafter, Apollo terminated the agreement, Dico went bankrupt, and the Swedish bankruptcy trustee assigned Dico's claims against Apollo to two ex-Dico officers, who filed an ICC arbitration claim. Apollo asserted that there was no arbitration agreement between it and the officers, and that the assignment was barred by the underlying agreement's nonassignment clause. The ICC Court determined that the arbitrators should resolve the arbitrability issues, and Apollo sued in U.S. federal court to stay the arbitration. The First Circuit upheld the denial of Apollo's request for a stay of arbitration, and dismissed Apollo's non-arbitrability arguments as follows: In this case, the parties agreed that all disputes arising out of or in connection with their contract would be settled by binding arbitration "in accordance with the rules of arbitration of the International Chamber of Commerce". [The Court goes on to quote Articles 8.3 and 8.4 of the ICC Rules of Arbitration, mentioned supra.]. ... The contract therefore delegates to the arbitrator decisions about the arbitrability of disputes involving the existence and validity of a prima facie agreement to arbitrate. Ordinarily, Apollo would be entitled to have these issues resolved by a court. By contracting to have all disputes resolved according to the Rules of the ICC, however, Apollo agreed to be bound by Articles 8.3 and 8.4. These provisions clearly and unmistakably allow the arbitrator to determine his own jurisdiction when, as here, there exists a prima facie agreement to arbitrate whose continued existence and validity is being questioned. The arbitrator should decide whether a valid arbitration agreement exists between Apollo and the defendants under the terms of the contract between Apollo and Dico 59 . 56
Id. at 757.
57
741 F.2d 342 (11th Cir. 1984). Thomson-CSF, supra note 43, Sunkist and McBro Planning make it clear that it is not quite correct to assume that the "doctrinal 'tool of authority by estoppel* ha[s] never been used by U.S. American courts when they had to decide on the problems under consideration here [implementing, instead, the doctrines of alter ego and piercing the corporate veil]" (Sandrock [supra note 26], at 642).
30*
58
886 F.2d 469 (1st Cir. 1989).
59
Id. at 473-74 (emphasis added) (citations omitted). Accord, Daiei, Inc. v. United
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Similarly, in Société Générale de Surveillances, S.A. v. Raytheon European Management and Sys. Co. 6 0 , then-Judge, now U.S. Supreme Court Justice, Stephen Breyer held, regarding an ICC arbitration clause, that whether a change order dispute was meant to be outside the scope of the arbitrability clause is itself a matter for the International Chamber of Commerce arbitrators. The issue of the scope of an arbitration clause in a contract is an appropriate matter for arbitration. In the present instance, the Rules of Conciliation and Arbitration of the International Chamber of Commerce expressly provide that as long as there is in the opinion of the ICC Court of Arbitration "prima facie" an agreement to arbitrate, "the arbitration shall proceed", and "any decision as to the arbitrator's jurisdiction shall be taken by the arbitrator himself'. Article 8, Section 3 6 1 . Judge Breyer also held: Once it is determined that [the arbitration clause] arguably governs this dispute, then it is appropriate to remit the dispute for resolution in the Swiss arbitration 62. The First Circuit's decisional law thus stands for the proposition that the appropriate response o f the United States courts, when a valid arbitration agreement exists, is to refer questions concerning arbitrability in the first instance to arbitration - including questions o f whether an entity is a proper party to an arbitration, as long as the parties are arguably bound. Frances domestic legal system has apparently accepted the group o f companies doctrine as developed by ICC arbitral practice. Not only did the Paris Court o f Appeals, in 1983, affirm the Dow Chemical Award 6 3 , the Court o f Appeals o f Pau formulated, in a very similar vein, in a decision o f 1986: Il est admis en droit que la clause compromissoire expressément acceptée par certaines des sociétés du groupe, doit lier les autres sociétés qui, par le rôle qu'elles ont joué dans la conclusion, e'exécution ou la résiliation [sic] des contrats contenant lesdites clauses, apparaissent selon la commune volonté de toutes les parties à la procédure comme ayant été de véritables parties à ces contrats, ou comme étant concernées au premier chef par ceux-ci et par des litiges qui en peuvent découler 64. States Shoe Corp., 755 F.Supp. 299, 303 (D. Haw. 1991 ) (parties to ICC clause "bargained for the arbitrator's determination of arbitrability"). The court in Daiei also held that, in the context of a dispute involving a contracting party who alleged that another company had succeeded to all of its contract rights and obligations, "[w]hether an entity is a proper party to the arbitration is a procedural question ... for the arbitrators to decide". Id. at 303. 60
643 F.2d 863 (1st Cir. 1981).
61
Id. at 869 (emphasis added) (citation omitted).
62
Ibid, (emphasis in original).
63
See supra note 22.
64
Pau Court of Appeals of November 26, 1986, Revue de l'Arbitrage 1988, at 153, cited in Sandrock , supra note 26, at 629.
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The acceptance of the group of companies doctrine also carries with it the limitations as outlined in the Pau courts opinion. Just being a part of a corporate family does not make all other members of the business organization bound to a commitment to arbitrate that a fellow member entered into. Thus, in a 1988 decision, the Paris Court of Appeals rejected the application of an arbitral clause against the non-signatory national oil company of a signatory state65; and in 1990, the Court of Appeals of Versailles denied the application of the doctrine to justify consolidating two arbitrations against the obvious desires of the parties involved in these arbitrations 66. Alternatively, the French doctrine of mandat apparent has been advanced as possibly allowing for arbitration in similar contexts67, a function performed in English law by the doctrines of apparent or ostensible representation 68. In German as well as Swiss law, the doctrines of Duldungsvollmacht and Anscheinsvollmacht play a similar role 69 . In the case of Duldungsvollmacht , the alleged principal notices unauthorized action by his purported agent, but does nothing to stop it, although he or she could effectively intervene, and a bonafide third party engaged by the supposed agent relies on the agents authority. In the case of Anscheinsvollmacht , unauthorized action occurs as well, over a substantial period of time, and a bona fide third party relies on the agents supposed authority, but the supposed principal does not notice the action of his or her purported agent due to negligence on his or her part 70 . These doctrines might be difficult to apply in the cases decided by application of the group of companies rule. Thus, theories well known to company law such as the doctrine of piercing the corporate veil, accepted throughout the realms of the civil and the common law, may offer additional assistance. The necessary prerequisites, or elements, of this doctrine, however, vary widely from country to country 71 .
65
Paris Court of Appeals of June 16, 1988, Société Swiss Oil v. Société Petrogap et République du Gabon, Revue de l'Arbitrage 1989, at 309, 314, cited in Berger , supra note 21, at 169. 66
Versailles Court of Appeals of March 7, 1990, OIAETI et Sofìdif v. COGEMA, SERU, Eurodif, CEA, Revue de l'Arbitrage 1991, at 326, cited in Berger , supra note 21, at 168. 67 For details, see Sandrock (supra note 26), at 640, referring to its application in ICC Award No. 5730, 117 Journal du Droit International 1029, 1036 (1990). 68
For details, cf. again Sandrock, ibid., at 642.
69
Sandrock, ibid., at 642-644.
70
Ibid.
71
For references to various legal systems, see Sandrock (supra note 13), at 173- 179; C. Schmidt , Der Haftungsdurchgriff und seine Umkehrung im Internationalen Privatrecht (Tuebingen 1993).
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IV. Appraisal There is one common ground among all decisionmakers, arbitral and judicial, as well as scholarly observers: The personal reach of an agreement to arbitrate, especially in a transnational context, cannot be limited to the parties having formally signed the commitment. Not even regular contract law would countenance such formalistic construction, and the arbitration of transnational commercial disputes may require an even broader extension of the personal reach of the obligation to arbitrate. Disagreement exists regarding the location of pertinent legal standards lex mercatoria vs. domestic law, however chosen and the technical doctrines involved general principles of contract law, agency, estoppel, corporate liability laws, alter ego theories, or doctrines specifically composed to address the context of transnational commercial arbitration, such as the group of companies rationale. As far as the practical effect of these doctrinal battles are concerned, there might be much ado about very little. The advocates of lex mercatoria have to face the reality that arbitral awards giving effect to such self-created standards have to undergo the ultimate scrutiny of domestic courts, including the public policy review of Article V of the New York Convention, before they are recognized and enforced by the powers that be of the critically important actors, the courts of the nation-states. When French courts, for example, affirm the group of companies doctrine, the battle over its origin is of little moment: it has now become part and parcel of French domestic law. The advocates of exclusively domestically tethered standards leave out of the equation the fact that private parties can, and in fact do, create law inter se. This autonomy of the parties applies with particular force among commercial actors engaging in transactions transcending nation-state boundaries. As to proper choice of doctrines, what should guide their formation, shaping and application requires a clear articulation of proper policy. Overall guiding policy should be the maximization of access by all to all the values humans desire. The critical value here is wealth and its maximization - arguably promoted by the facilitation of resolution of transnational business disputes. Arbitration, in the international context, has a clear advantage of being fair to both parties: it usually avoids the benefits of "home court" for one of the parties, thus negating, at least ideally, the difference as to whether the parties are cast in the roles of defendant or plaintiff. The party that initiates arbitration, unlike the one that chooses to litigate, cannot count on the comfort of a familiar forum with familiar rules and policies. Also, arbitration is usually perceived as providing competent and speedy resolution of disputes. These systemic considerations pull strongly in the direction of a broad public policy favoring international arbitration. In light of such compelling reasons, should then not all transnational business disputes be submitted to arbitration?
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Such a radical approach hurts itself not only at domestic legal boundaries some legal systems afford individuals and corporations a right to access courts, it also flies in the face of the principal engine of economic activity: individual drive and autonomy in decisionmaking. That is why, with good reason, the primary contract law principle of private party autonomy has been heeded, and deference has been extended to the choice of parties as to whether they desire to submit to arbitration, who would be the arbitrators, where the arbitration would occur, what standards would govern the arbitral decision, etc. The intentions, purposes and expectations of the parties, i f they have been clearly and unambiguously expressed and adhered to in their relations among each other before, during and after the contractual relationship are paramount. Reflecting modern contract law's complex mix of subjective and objective elements, however, these intents, purposes and expectations need to be shared and mutual, in order to be legally relevant. Express consent to extending arbitral clauses to nonsignatories makes such determinations comparatively easy. They might be third-party beneficiaries of an arbitral agreement. Such extensions work in order to confer a benefit to the third party; they would not be totally mutual, however: unless the third party consents, an arbitration clause could not be enforced against it (res inter alios acta). Many more problems arise regarding the phenomena of what has variably been called implied, tacit, or hypothetical consent. When should it be assumed? Should the apparent or actual control of a non-signatory over a signatory entity be sufficient to wrap it into the arbitral regime? Law needs to respond to reality as well as to shape it wisely. As far as the problem posed at the outset, the Marathon v. Ruhrgas scenario, the various law professors concerned with international arbitration came to the issue from very diverse jurisprudential backgrounds. Still, they agreed on the following assessment:72 In multinational corporate practice, many major transactions now are routinely carried out by specially-created corporations, so-called "project vehicles". These companies often have no personnel of their own, but are the formal signatories of the contracts and the arbitration clauses. Economically and administratively, they are part of the parents. I f this economic reality is overlooked and, in cases of disputes, these parent or family companies can use the contrived argument that they are not suing on the contract, but are suing for having been induced to invest in their project company, which alone, they argue, is bound by the arbitration clause, the arbitration clause always can be defeated and the other party will find itself constrained to litigate, despite the arbitration clause, in the national courts of the other party. Even i f the signatory to the arbitration clause is real and not a shell, not extending the arbitration clause in such cases would allow anyone holding a few 72
Cf. Ruhrgas Amicus Curiae Brief (supra note 2), at 143.
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shares in the signatory to frustrate the arbitration commitment and sue in its national court on the ground that it had been tricked into investing in the signatory. Such prospect would signal a major reduction in the effectiveness of international arbitration agreements. In light of prevailing case law, the strong policy favoring international arbitration, its accepted practices and systemic necessities, courts, the law professors recommended, should stay litigation and refer to arbitration cases in which there is a valid arbitration clause, there is effective identity between the party to the arbitral clause and the non-signatory seeking to initiate litigation, and the subject-matter is intertwined with matters covered by the arbitration clause. It is for the arbitral tribunal to address its jurisdiction in the first instance, subject, thereafter, to the national court controls and review mechanisms set out in Article V of the New York Convention. The point is not that Article II of the New York Convention, i.e. the obligation to stay the litigation and refer the matter to arbitration, is absolute, for it is not 73 . Article II requires judgment. That judgment must be consistent with the language of the provision and the essential objectives and purposes of the treaty as a whole 74 . V. Conclusion The case Marathon Oil Co. brought against Ruhrgas AG never reached the issue of the court's duty to stay the litigation and refer the parties to arbitration. The Fifth Circuit Court of Appeals en banc affirmed, by a thin margin, the decision of its Panel mandating the determination of subject-matter jurisdiction, including the issue of a referral to arbitration, prior to an inquiry into personal jurisdiction 75 . The U.S. Supreme Court, however, reversed the decision of the Fifth Circuit and held unanimously, per Justice Ginsburg, that personal jurisdiction inquiry could precede subject-matter jurisdiction inquiry 76 . Upon remand, the Fifth Circuit held that neither specific nor general jurisdiction existed over Ruhrgas in Texas, and thus finally affirmed the decision of the Texas district court to dismiss the case for lack of personal jurisdiction 77 . The fact that the issue was not addressed in the instant litigation does not make it go away. The problem arose and will again arise in very similar factual 73
In particular, Article 11(3) prescribes: The court of a Contracting State, when seized of an action in a matter in respect of which the parties have made an agreement within the meaning of this article, shall, at the request of one of the parties, refer the parties to arbitration, unless it finds that the said agreement is null and void, inoperative or incapable of being performed. 74
Ibid.
75
Marathon Oil Co. v. A.G. Ruhrgas, 145 F.3d 211 (5th Cir. 1998).
76
Ruhrgas AG v. Marathon Oil Company, 526 U.S. 574, 119 S.Ct. 1563 (1999).
77
Marathon Oil Company v. A.G. Ruhrgas, 182 F.3d 291 (5th Cir. 1999).
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incarnations. In conformity with the policies outlined above, and pending further refinement, I would suggest that the following two practical steps be taken: 1. I f litigation is initiated in a domestic forum, any case or claim in which the parties are arguably bound to proceed to arbitration should be referred by the court to the arbitral tribunal for initial determination of its jurisdiction, unless the court finds that the arbitration agreement is null and void, inoperative or incapable of being performed. 2. I f members of a corporate family who have not signed an arbitration agreement effectively control the signatory member, i f they participated actively in the negotiation, execution and termination, i f applicable, of the pertinent contract, and if their claims at issue are closely intertwined with or connected to this contract, the non-signatory members should be considered to fall within the personal reach of the arbitration agreement.
V. Nationales und internationales Recht
Der Kommentar der OECD zum Doppelbesteuerungs-Musterabkommen Von Klaus Vogel
Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist erwachsen aus der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) und wird daher von Thomas Oppermann in seinem großen Lehrbuch des Europarechts zu Recht mitbehandelt"1. Wenngleich ihre Kompetenzen „recht schwach ausgestaltet"2 sind, haben ihre Organe Regelwerke geschaffen, die, obwohl nicht Völkerrecht oder bindendes organisationsinternes Recht, in ihren Mitgliedsstaaten in weitem Umfang beachtet werden. Eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste, dieser Regelwerke ist der offizielle „Kommentar" der OECD zu dem von ihr herausgebrachten und regelmäßig erneuerten „Musterabkommen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen". Dabei sind seine Rechtsqualität und seine genaue Bedeutung für die Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen alles andere als klar. Selbst der schwammige Begriff „soft law" 3 scheint für eine rechtliche Einordnung des Kommentars noch zu anspruchsvoll. Trotzdem steht seine große Bedeutung für die Anwendung des Doppelbesteuerungsrechts außer Zweifel. Die Steuerverwaltungen ziehen den Kommentar bei der Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen heran; auch in gerichtlichen Entscheidungen wird er zitiert, und dies in den letzten Jahren immer öfter 4. Nachstehend soll versucht werden, der Problematik dieser eigenartigen „Rechtsquelle" nachzugehen. 1
T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 122 ff. (S. 60 ff.).
2
T. Oppermann (Fn. 1), Rn. 125 (S. 62).
3 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, S. 215 f.; J. M. Mössner, Art. „Rechtsquellen", in: I. Seidl-Hohenveldern, Lexikon des Rechts - Völkerrecht, 2. Aufl. 1992, S. 253 ff. (256). 4 Deutschland: BFH, BStBl. II 1972 S. 281, II 1973 S. 531 (532), II 1974 S. 616. USA: Court of Appeals of the 2nd Circuit, United States v. Burbank, 525 F.2d S. 9 (1975). Großbritannien: High Court of Justice (Chancery Division), Sun Life Assurance v. Pearson, 1984 Simon's Tax Cases S. 461 ff. (513). Niederlande: Höge Raad BNB 1976 Nr. 121, 1992 Nr. 379. Kanada: Federal Court of Appeal, The Queen v. Crown Forest Industries, 1994 DTC 6108, Canadian Tax Court, Hinckley v. MNR, 1991 DTC 1336. Australien: HighCourt, Thiel v. FCT, 90 Australian Tax Cases S. 4717 ff. Schweden: Regeringsrätt in Regeringsrätts Aftalen 1987 Ref. 158, 1991 ref. 107. - Die Beispiele ließen sich vermehren.
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Klaus Vogel
I. Der Kommentar als „Empfehlung" der OECD Die Beschlüsse des Rates der OECD werden regelmäßig durch Ausschüsse von Vertretern der Mitgliedstaaten vorbereitet, diejenigen in Steuersachen durch den Ausschuß für Steuerangelegenheiten {Committee of Fiscal Affairs), der sich seinerseits in eine Reihe von Arbeitsgruppen {Working Parties) gliedert. Derzeit bestehen fünf solcher Arbeitsgruppen 5; unter ihnen ist die traditionsreichste Working Party No. 7, die mit den Angelegenheiten der Doppelbesteuerungsabkommen befaßt ist. Bereits der Völkerbund hatte 1928 drei alternative Modelle für Doppelbesteuerungsabkommen publiziert und in der Folgezeit die Arbeit an ihnen fortgesetzt. 1956 übernahm der Steuerausschuß {Fiscal Committee) der OEEC diese Aufgabe; seine Funktionsnachfolger wurden dann der Ausschuß für Steuerangelegenheiten der OECD und innerhalb dessen die Arbeitsgruppe Nr. 1. Bereits 1963 beschloß die OECD ein neues Modell für Doppelbesteuerungsabkommen und dazu die „Urfassung" des hier interessierenden Kommentars, der die Bestimmungen des Modells erläuterte. 1977 und 1992 wurden Musterabkommen und Kommentar in neuer Form beschlossen und bekanntgemacht. Anläßlich der Neubekanntmachung von 1992 ging die OECD dazu über, beide zusammen in der Form einer Loseblattsammlung zu veröffentlichen, die auf laufende Überarbeitung und Ergänzung angelegt war 6. Solche Ergänzungen (Nachlieferungen zu der Loseblattsammlung) gab es in den Jahren 1992, 1994, 1995, 1997 und 2000. Formal macht jeweils die Arbeitsgruppe Nr. 1 Vorschläge zur Änderung des Modells und des Kommentars, über die dann der Ausschuß für Steuerangelegenheiten entscheidet. Ursprünglich mußten diese Änderungen anschließend noch durch Beschluß des Rates verabschiedet werden. Ein Beschluß des Rates vom 23.10.1997 hat nunmehr den Ausschuß für Steuerangelegenheiten ermächtigt, Änderungen des Musterabkommens und des Kommentars ohne hinzutretende Entscheidung des Rats zu beschließen7. Faktisch liegt indes die Fortentwicklung von Modell und Kommentar bei der Arbeitsgruppe Nr. 1.
5
Working Partys No. 1, 2, 6, 8 und 9. Die Lücken in der Zählung erklären sich daraus, daß frühere Arbeitsgruppen nach Erledigung ihrer Aufgaben aufgelöst wurden. 6
OECD Committee on Fiscal Affairs, Model Tax Convention on Income and on Capital, 1992 ff. Auf der Rückseite des Titelblatts und am Fuß der einzelnen Seiten wird durch die Verwendung des Zeichens „ © " unter Hinzufügung der Jahreszahl Urheberrechtsschutz in Anspruch genommen, was jedenfalls nach deutschem Recht, aber auch dem der meisten anderen Staaten, bedeuten müßte, daß es sich nicht um ein amtliches Werk handelt (fur Deutschland: § 5 UrhG). Dieser Widerspruch ist bislang nie geklärt worden. — Da die offiziellen Sprachen der OECD Englisch und Französisch sind, existiert auch eine entsprechend französische Ausgabe. Hier wird zur Vereinfachung jeweils die englische Fassung zugrundegelegt. 7
Model Tax Convention (Fn. 4) S. A-61.
Der OECD-Kommentar zum Doppelbesteuerungs-Musterabkommen
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Der Rat der OECD hat jeweils über das Musterabkommen und den Kommentar durch eine „Empfehlung" (recommendation) beschlossen. Nach Art. 18 Buchst, c der OECD-Verfahrensordnung werden die Mitgliedsstaaten durch solch eine Empfehlung verpflichtet zu prüfen, ob die empfohlenen Maßnahmen angebracht (opportune) sind. Sie brauchen der Empfehlung also nicht unbedingt zu folgen, müssen sie aber zumindest erwägen. Diese begründet demgemäß nur „eine gelockerte Rechtspflicht, aber immerhin eine wirkliche Rechtspflicht" 8. Bezüglich des Doppelbesteuerungs-Modells und seines Kommentars hat der Rat der OECD den Regierungen der Mitgliedsstaaten empfohlen, „1. ... 2. when concluding new bilateral conventions or revising existing bilateral conventions, to conform to the Model Tax Convention, as interpreted by the Commentaries thereon; 3. that their tax administrations follow the Commentaries on the Articles of the Model Tax Convention, as modified from time to time, when applying and interpreting the provisions of their bilateral tax conventions that are based on these Articles." 9
II. Anwendung auf bereits bestehende Abkommen? Die Vertreter der staatlichen Finanzverwaltungen in der Arbeitsgruppe Nr. 1, oder jedenfalls viele von ihnen, möchten den Kommentar als authentische Interpretation des Modells und der auf der Grundlage des Modells abgeschlossenen, meist bilateralen, Doppelbesteuerungsabkommen betrachten. Das kommt am deutlichsten bei der Frage zum Ausdruck, ob und inwieweit eine Äußerung des Kommentars auch für die Auslegung von Abkommen gelten kann und soll, die bei der Einfügung der betreffenden Äußerung in den Kommentar bereits abgeschlossen worden waren. Die amtliche Einleitung des Modells führt dazu gegenwärtig aus: „33. When drafting the 1977 Model Convention, the Committee on Fiscal Affairs examined the problems of conflicts of interpretation that might arise as a result of changes in the Articles and Commentaries of the 1963 Draft Convention. At that time, the Committee considered that existing conventions should, as far as possible, be interpreted in the spirit of the revised Commentaries, even though the provisions of these conventions did not yet include the more precise wording of the 1977 Model Convention. ... 34. The Committee believes that the changes to the Articles of the Model Convention and Commentaries that have been made since 1977 should be similarly interpreted. 8 G. Dahm, Die völkerrechtliche Verbindlichkeit von Empfehlungen internationaler Organisationen, DÖV 1959, 363 ff. (364). 9
S.o. Fn. 7.
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Klaus Vogel
35. ... [C]hanges or additions to the Commentaries are normally applicable to the interpretation and application of conventions concluded before their adoption, because they reflect the consensus of the OECD Member countries as to the proper interpretation of existing provisions and their application to specific situations. 36. ..."
Die jüngste Änderung des Musters und Kommentars vom Anfang 2000 hat dem hinzugefügt: „36.1 Tax authorities in Member countries follow the general principles enunciated in the preceding four paragraphs. Accordingly, the Committee on Fiscal Affairs considers that taxpayers may also find it useful to consult later versions of the Commentaries in interpreting earlier treaties."
Die Motivation hinter diesen Ausführungen ist klar. Wenn die Arbeitsgruppe Nr. 1 bei ihren Beratungen zu der Auffassung kommt, daß eine bestehende Regelung durch eine bessere ersetzt werden sollte, so kann sie das Modell ändern und darauf hoffen, daß alle Mitgliedsstaaten ihre Abkommen entsprechend ändern werden. Dazu müßte aber über alle bestehenden Abkommen neu verhandelt werden, die Änderungen müßten von den Verfassungsorganen der Mitgliedsstaaten gebilligt werden, und es müßten Ratifikationsurkunden ausgetauscht werden. Nach den Erfahrungen bei Abkommensverhandlungen ist es nicht unrealistisch, davon auszugehen, daß auf diese Weise bis zur Verwirklichung der neuen Regelung in allen bestehenden Abkommen etwa 25 Jahre vergehen würden. Wenn eine Änderung des Kommentars, die eine andere Auslegung herbeiführt, dasselbe Ergebnis ohne solche Verzögerung auch mit Wirkung für bereits bestehende Abkommen erreichen kann, wäre das natürlich eine große Erleichterung. Aber ist es möglich, daß der Rat der OECD, der „empfiehlt", einer veränderten Rechtsauffassung des Kommentars zu folgen, eine derartige Änderung der Auslegung bestehender Abkommen herbeiführen kann? Doppelbesteuerungsabkommen wirken unmittelbar auf das innerstaatliche Recht; sie sind self-executing. Ist ein Abkommen in Kraft getreten und haben die zuständigen Verfassungsorgane der beiden Vertragsstaaten seine innerstaatliche Anwendung angeordnet (es in das innerstaatliche Recht „transformiert"), so beschränkt es ihre Steuergesetze10: bestimmte Sachverhalte werden von der Besteuerung freigestellt, Steuersätze ermäßigt und die Vertragsstaaten für bestimmte Fälle zur Anrechnung von Steuern des anderen Staates verpflichtet 11. Für seine Auslegung gelten, soweit ein Vertragsstaat dem Wiener Überein-
10 Siehe § 2 AO und dazu D. Birk, in: W. Hübschmann /E. Hepp/A. Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung. Kommentar, Lbl. Stand 133. Lfg. Juli 1991. 11
Als Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung kann die Freistellung oder die Anrechnung überwiegen; praktisch alle Abkommen wenden aber, sei es auch in seltenen Fällen, auch die jeweils andere Methode an.
Der OECD-Kommentar zum Doppelbesteuerungs-Musterabkommen
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kommen über das Recht der Verträge 12 beigetreten ist, dessen Artikel 31-33. Diese Auslegung - so schwierig sie im Einzelfall sein mag - kann eine Empfehlung der OECD rechtsverbindlich nur dann beeinflussen, wenn sie entweder gleichen Rang wie das betreffende Abkommen hat, es also authentisch interpretieren und dadurch gegebenenfalls auch ändern kann, oder wenn sich ihre Maßgeblichkeit für die Auslegung des Abkommens aus den genannten Artikeln des Wiener Übereinkommens ableiten läßt. I I I . Rang der Empfehlungen im Verhältnis zu Abkommen Der Gedanke, daß eine Empfehlung des OECD-Rats in der Lage sein sollte, bestehende Abkommen unter den Mitgliedsstaaten der OECD authentisch zu interpretieren, scheint von vornherein abwegig. Die Vertreter der Mitgliedsstaaten im Rat müßten dann als ermächtigt angesehen werden, zu diesem Zweck multilaterale völkerrechtliche Verträge mit unmittelbarer innerstaatlicher Wirkung abzuschließen. Immerhin ist ein ähnlicher Gedanke für bilaterale Vereinbarungen über die Auslegung eines Doppelbesteuerungsabkommens unter den obersten Finanzbehörden der beiden Vertragsstaaten von dem obersten Gericht eines OECD-Mitgliedsstaats, Norwegen, vertreten worden. Traditionell sehen die Doppelbesteuerungsabkommen vor, daß bestimmte, im Abkommen benannte Behörden der Vertragsstaaten miteinander direkt über Fragen der Anwendung des Abkommens verhandeln können. Ohne solche Bestimmung müßten die diplomatischen Behörden der beiden Staaten eingeschaltet werden; die Doppelbesteuerungsabkommen kürzen das ab. Das OECD-Musterabkommen regelt dieses sog. „Verständigungsverfahren" in Art. 25. Dort ist vorgesehen, daß sich die zuständigen Behörden auf Antrag von Steuerpflichtigen über eine dem Abkommen entsprechende Besteuerung der Antragsteller verständigen können, ferner, daß sie sich bemühen werden, „Schwierigkeiten oder Zweifel, die bei der Auslegung oder Anwendung des Abkommens entstehen, in gegenseitigem Einvernehmen zu beseitigen", schließlich, daß sie auch „gemeinsam darüber beraten" können, „wie eine Doppelbesteuerung in Fällen vermieden werden kann, die im Abkommen nicht behandelt sind". Auf Grund dieser Ermächtigungen werden in Verständigungsverfahren nicht nur individuelle Fälle geregelt, sondern vielfältig Auslegungsvereinbarungen geschlossen. Einer derartigen Vereinbarung hat das norwegische Höchstgericht innerstaatlich bindende Wirkung mit der Begründung beigemessen, daß durch die Bestimmung des einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens über das Verständigungsverfahren den Vertretern der zuständigen Behörden die Befugnis zur völkerrechtlich wie innerstaatlich maßgebenden authentischen Interpretation 12
Vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II S. 926 ff.
31 FS Oppermann
Klaus Vogel
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des Abkommens delegiert worden sei 13 . Hier ist schon zweifelhaft, ob dem Art. 25 des Musterabkommens und den ihm entsprechenden Regelungen der individuellen Abkommen eine derart weittragende Ermächtigung wirklich entnommen werden kann. Selbst wenn das aber zutreffen sollte, bliebe doch noch die Frage, ob das Verfassungsrecht des betreffenden Staates eine Delegation dieses Inhalts gestattet. Sie mag nach norwegischem Verfassungsrecht zulässig sein. Nach deutschem Verfassungsrecht wäre ihre Zulässigkeit jedoch zu verneinen. Eine Übertragung von Hoheitsrechten gestattet das Grundgesetz nur auf die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG), zudem auf zwischenstaatliche und grenznachbarschaftliche Einrichtungen (Art. 24 Abs. 1 und la GG). Die Befugnis zur Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 GG könnte dagegen, wenn überhaupt, doch allenfalls nur in den Grenzen des Art. 80 Abs. 1 GG und nur auf die dort genannten Delegatare übertragen werden. Zutreffend hat daher der Bundesfinanzhof eine innerstaatliche Verbindlichkeit von Verständigungsvereinbarungen in seiner neueren Rechtsprechung konsequent verneint 14. Ähnlich liegt es, soweit ich sehe, auch in den meisten anderen Mitgliedsstaaten der OECD 15 . Aus den gleichen Gründen kommt auch eine Ermächtigung zu einer für alle Mitgliedsstaaten verbindlichen authentischen Interpretation an den Rat der OECD nicht in Betracht, noch weniger, wie es das seit 1997 geübte Verfahren voraussetzen würde, an deren Ausschuß für Steuerangelegenheiten. Der Kommentar der OECD kann daher die Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen zwischen OECD-Mitgliedsstaaten nur insoweit beeinflussen, als dies auf dem Wege über deren Auslegung möglich ist. IV. Auslegung nach dem Wiener Übereinkommen 1. Der OECD-Kommentar als „spätere Übereinkunft 44? Nach Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens ist ein völkerrechtlicher Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Ausdrücken 16 in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im 13
Hoyesterett,
Norsk Retstidende 1992, 1401 ff. (1413).
14
BStBl. II 1987 S. 171 (172): DBA Frankreich, II 1987 S. 253 (255): DBA USA, II 1990 S. 4: DBA Italien; ebenso FG Hamburg, EFG 1993, 586: DBA Schweiz; ÖstVGH, ÖStZB 1992, 127: DBA Österreich / Deutschland; Corte di Cassazione, Diritto e Pratica Tributaria 1989, 547: DBA Italien /Frankreich. 15 Über die Rechtslage in Österreich ausfuhrlich M. Lang, Doppelbesteuerungsabkommen und innerstaatliches Recht, 1992, S. 21 ff., mit übereinstimmendem Ergebnis. 16
In der englischen Originalfassung „terms", der gleichrangigen französischen „termes". Die amtliche deutsche Übersetzung dieser beiden maßgebenden Texte mit „Bestimmungen" ist falsch.
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Lichte seines Gegenstands17 und Zwecks auszulegen". Der „Zusammenhang" umfaßt nach Abs. 2 Übereinkünfte und Urkunden „anläßlich des Vertragsschlusses" wie etwa bei Doppelbesteuerungsabkommen die Protokolle, Noten und Briefwechsel, die sich auf ihre Unterzeichnung beziehen. Spätere Vereinbarungen sowie die Vertragspraxis sollen nach Abs. 3 ebenfalls beachtet werden. Schließlich ist einem Ausdruck eine „besondere Bedeutung" beizulegen, wenn feststeht, daß die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben. Dagegen können nach Art. 32 „ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses" nur ausnahmsweise fur die Auslegung herangezogen werden, nämlich dann, wenn die Auslegung nach Art. 31 „(a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt oder (b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt". Zum „Zusammenhang" eines auf der Grundlage des OECD-Modells geschlossenen Abkommens gehört der OECD-Kommentar nicht 18 , denn er ist nicht „anläßlich des Vertragsschlusses" vereinbart worden. Dagegen könnte er - wie Verständigungsvereinbarungen - als eine „spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen" nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. 2 des Wiener Übereinkommens verstanden werden. Bei der Anwendung der Vorschrift ist aber zwischen der Anwendung des Vertrags auf völkerrechtlicher und derjenigen auf innerstaatlicher Ebene zu unterscheiden. Daß die „spätere Übereinkunft" völkerrechtlich verbindlich ist, ergibt sich schon daraus, daß sie, obwohl als „Auslegung" bezeichnet, faktisch ein neuer, ergänzender Vertrag ist; solche Verträge können nach Art. 11 des Wiener Übereinkommens formfrei geschlossen werden. Innerstaatlich kann sie aber nur dann verbindlich werden, wenn die dafür erforderlichen verfasungsrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind, in Deutschland also, wenn ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG ergangen ist. Außerdem wird man schwerlich die schlichte Entsendung von Delegierten in den Rat der OECD schon als eine Vollmacht zum Abschluß einer multilateralen „Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien" über die Auslegung von unter den Mitgliedsstaaten der OECD abgeschlossenen bilateralen Abkommen (und außerdem zur Delegation dieser Vollmacht an den Ausschuß fur Steuerangelegenheiten) ansehen können. Schließlich könnte solch eine „Übereinkunft" - wenn es eine wäre - in der Form einer Empfehlung des Rates auch keineswegs eine stärkere Bindung bewirken als dessen sonstige Empfehlungen: also die Mitgliedsstaaten verpflichten zu prüfen, ob die empfohlenen Maßnahmen „