Liber amicorum für Martin Winter 9783504380793

Mit diesem Liber amicorum würdigen rund 50 namhafte Autoren aus Wissenschaft und Praxis den im September 2009 viel zu fr

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Liber amicorum für Martin Winter
 9783504380793

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Liber amicorum für Martin Winter

LIBER AMICORUM FÜR

MARTIN WINTER herausgegeben von

Michael Hoffmann-Becking Uwe Hüffer Jochem Reichert

2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln TeL 02 21/9 37 38-{}1, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06219-4 ©2011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist w:heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Textfonnatierung: A Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Gennany

Vorwort Mit dem Liber amicorum für Martin Winter ehren Herausgeber und Autoren ihren Freund und Weggefährten, der vor zwei Jahren – am 22. September 2009 – im Alter von nur 53 Jahren nach schwerer Krankheit verstorben ist. Den Verlust für seine Frau Renate und seine Töchter Alexandra und Julia können Außenstehende nicht ermessen. Seine Freunde und Sozietätspartner, deren anwaltlicher Lehrer er teilweise gewesen ist, konnten das Unvermeidliche nur mit Bestürzung und Erschütterung hinnehmen. Martin Winter war Anwalt aus Begeisterung. Sein fachlicher Schwerpunkt lag in allen Teilen des Gesellschaftsrechts. Das Fundament dafür hatte er nach seinem Studium in Heidelberg in den sechs Jahren gelegt, die er dort von 1980 bis 1986 als Assistent an dem von seinem akademischen Lehrer Peter Ulmer geleiteten Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts-, Wirtschaftsund Sozialrecht tätig war. Nach seinem Eintritt bei Schilling, Zutt & Anschütz genügten ihm die knapp 25 Berufsjahre, die ihm noch verblieben sind, um das Vertrauen vieler und bedeutender Mandanten zu gewinnen, um ein gesuchter Ratgeber in wichtigen Gremien wie dem Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins und der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags zu werden und um als juristischer Autor wissenschaftliches Profil zu erlangen. Das alles hat schon im Rahmen der Martin Winter gewidmeten Gedächtnisfeier am 23. April 2010 seine verdiente Würdigung gefunden, vor allem in den persönlichen und anrührenden Worten von Wolfgang Zöllner, die wir an die Spitze des Liber amicorum stellen. Neben seinen beruflichen und wissenschaftlichen Qualitäten hatte Martin Winter die besondere Gabe, unter seinen Anwaltskollegen, seinen richterlichen Gesprächspartnern und auch den Fachgenossen aus der Wissenschaft Freunde zu gewinnen. Seine unverstellte Freundlichkeit, sein offenes Wesen und seine Bereitschaft, auf andere zuzugehen, waren ihm dabei eine Hilfe. Das Liber amicorum zu seinem Gedenken entspricht dem natürlichen Wunsch dieses Freundeskreises, seiner persönlichen und fachlichen Verbundenheit einen dauerhaften Ausdruck zu geben. Die 44 Beiträge spiegeln wider, dass Martin Winter ein umfassend tätiger und ausgewiesener Gesellschaftsrechtler war. Sie bieten insgesamt, was in seinem Sinne gewesen wäre, ein facettenreiches und doch konsistentes Bild des Gesellschaftsrechts in seinem aktuellen Diskussionsstand. Dafür ist allen Mitwirkenden zu danken, nicht zuletzt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und hier vor allem Frau Dr. Birgitta Peters, die das Projekt mit Umsicht und Geduld betreut hat. Im Juni 2011

Michael Hoffmann-Becking

Uwe Hüffer

Jochem Reichert

V

.

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Schriftenverzeichnis Dr. Martin Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

Wolfgang Zöllner Das wissenschaftliche Werk Martin Winters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Walter Bayer Gesellschafterliste und Aktienregister – Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Überlegungen de lege ferenda – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Stephan Brandes Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne nach Beendigung eines Ergebnisabführungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Volker Butzke Zur Entstehung des Bezugsanspruchs bei der Kapitalerhöhung der Aktiengesellschaft als selbständiges Gläubigerrecht . . . . . . . . . . . . . . .

59

Matthias Casper Whistleblowing zwischen Denunziantentum und integralem Baustein von Compliance-Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Christian E. Decher Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis

99

Joachim von Falkenhausen Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft – Der Anwalt im Spannungsfeld zwischen Vorstand und Aufsichtsrat – . . . . . . . . . . . . . .

117

Christian Gehling Insiderinformationen mit Zukunftsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Wulf Goette „Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Barbara Grunewald Durchsetzung von Ersatzansprüchen durch besondere Vertreter in Personengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Mathias Habersack Zur Reichweite des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens beim Formwechsel, dargestellt am Beispiel der Umwandlung von stimmrechtslosen Anteilen in Stimmrechte verkörpernde Anteile . . . .

177 VII

Inhalt Seite

Wilhelm Happ Zur Reichweite anwendbaren Gründungsrechts beim Formwechsel . . .

191

Stephan Harbarth § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG und kartellrechtliche Kronzeugenregelungen .

215

Michael Hoffmann-Becking Fehlerhafte offene Sacheinlage versus verdeckte Sacheinlage . . . . . . . .

237

Peter Hommelhoff Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System? – ein Zuruf im EU Corporate Governance-Diskurs – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

Ulrich Huber Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht nach der MoMiG-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Uwe Hüffer Kompetenzfragen bei der Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

Hans-Christoph Ihrig Die gebundene Beteiligung bei der Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Georg Jaeger Zur Problematik der Einbeziehung von „good leaver“-Klauseln in die Regelung der variablen Vergütung von Vorstandsmitgliedern . . . . . . . .

313

Jens Koch Beschränkungen des gesellschaftsrechtlichen Innenregresses bei Bußgeldzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Rainer Krause Zum beherrschenden Einfluss des Komplementärs in der KGaA . . . . .

351

Gerd Krieger Herabsetzung von Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG . . . . .

369

Dietmar Kubis Geklärte und ungeklärte Fragen bei der Geschäftsführer-Abberufung aus wichtigem Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387

Thomas Liebscher Der (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen nach MoMiG . . . .

403

Marc Löbbe Gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten des Debt Equity Swap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Marcus Lutter Zur Bindung der Organmitglieder an die Kodex-Erklärung nach § 161 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447

VIII

Inhalt Seite

Georg Maier-Reimer / Axel Bödefeld Haftung für spaltungsbedingte Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Reinhard Marsch-Barner Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien nach den Regeln des AktG oder des UmwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Welf Müller Der Geschäftsführer der GmbH und das Gesellschafterdarlehen in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Andreas Pentz Gemischte Sacheinlage ohne Offenlegung des Vergütungsbestandteils

499

Reinhard Pöllath Zu Wirken und Geschichte von Martin Winters Anwaltsfirma, SZA . .

519

Hans-Joachim Priester Gedanken zur Bilanzpublizität und ihren Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Jochem Reichert Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger – Auswirkungen auf Bilanzänderungen, Rücklagenbildung und Rücklagenauflösung nach Beendigung der Organschaft – . . . . . . . . . . . .

541

Carsten Schäfer Variable Vorstandsvergütung als unzulässiges Mittel der Einflussnahme des Aufsichtsrats auf die Unternehmensleitung? . . . . . . . . . . . .

557

Maximilian Schiessl Konkurrierende Angebote im Übernahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

569

Harry Schmidt Erhöhung der Barabfindung beim Squeeze out nach Einberufung der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

583

Karsten Schmidt Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601

York Schnorbus Gestaltungsfragen fakultativer Aufsichtsorgane der KGaA . . . . . . . . . .

627

Eberhard Stilz Zum Nachschieben von Anfechtungsgründen im Beschlussmängelstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671

Peter Ulmer Schuldrechtliche Gesellschafterabrede zugunsten der GmbH – Geeignetes Ersatzgeschäft für formnichtige Satzungsdurchbrechung? .

687 IX

Inhalt Seite

Eberhard Vetter Zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

701

Jochen Vetter Freigabeverfahren, Holzmüller und Änderung des Unternehmensgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Marc-Philippe Weller Die Klagbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten . . . . . . . . . . . .

755

Gerhard Wirth Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarungen im faktischen Konzern – OLG München, Urteil vom 22.12.2010, Az. 7 U 1584/10, n. rkr. – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

775

X

Verzeichnis der Autoren BAYER, WALTER Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und Internationales Privatrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht, Richter am Thüringer OLG a. D.; Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs BÖDEFELD, AXEL Dr., Diplom-Finanzwirt, Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Oppenhoff & Partner, Köln BRANDES, STEPHAN Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Frankfurt am Main/Mannheim BUTZKE, VOLKER Rechtsanwalt und Banksyndikus, Frankfurt am Main CASPER, MATTHIAS Dr. iur., Dipl.-Oec., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster DECHER, CHRISTIAN E. Dr., Rechtsanwalt, Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Frankfurt am Main FALKENHAUSEN, JOACHIM FRHR. VON Dr., LL.M. (Berkeley), Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Latham & Watkins LLP, Hamburg GEHLING, CHRISTIAN Rechtsanwalt, Partner der Sozietät SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Frankfurt am Main GOETTE, WULF Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Of Counsel der Gleiss Lutz Partnerschaftsgesellschaft Stuttgart, Honorarprofessor der RuprechtKarls-Universität Heidelberg GRUNEWALD, BARBARA Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Anwaltsrecht, Direktorin des Instituts für Gesellschaftsrecht, Universität zu Köln XI

Verzeichnis der Autoren

HABERSACK, MATHIAS Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München HAPP, WILHELM Dr., Rechtsanwalt in Hamburg HARBARTH, STEPHAN Dr., Rechtsanwalt in Mannheim, Mitglied des Deutschen Bundestags HOFFMANN-BECKING, MICHAEL Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller Düsseldorf, Honorarprofessor der Universität Bonn HOMMELHOFF, PETER Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), vormals Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie Richter am OLG Hamm und OLG Karlsruhe, Partner der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft HUBER, ULRICH Dr., em. Universitätsprofessor für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn HÜFFER, UWE Dr., Rechtsanwalt in Mannheim, Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, Richter am OLG Hamm a. D. IHRIG, HANS-CHRISTOPH Dr., Rechtsanwalt, Allen & Overy LLP, Mannheim JAEGER, GEORG Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Mitglied des Vorstandes der SZA Schilling, Zutt & Anschütz Rechtsanwalts AG KOCH, JENS Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Universität Konstanz KRAUSE, RAINER Dr., LL.M., S.J.D. (University of Pennsylvania), Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf KRIEGER, GERD Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf XII

Verzeichnis der Autoren

KUBIS, DIETMAR Dr., Rechtsanwalt, Partner der ACADA Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Jena LIEBSCHER, THOMAS Dr., Rechtsanwalt in Mannheim, Partner der Kanzlei SZA Schilling, Zutt & Anschütz Rechtsanwalts AG, Lehrbeauftragter an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg LÖBBE, MARC Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Frankfurt am Main LUTTER, MARCUS Dr. Dres. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Rechtsanwalt in Berlin MAIER-REIMER, GEORG Dr., Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Oppenhoff & Partner Rechtsanwälte, Köln MARSCH-BARNER, REINHARD Dr., Rechtsanwalt, Linklaters LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen MÜLLER, WELF Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater in Frankfurt am Main PENTZ, ANDREAS Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Partner der Rechtsanwaltskanzlei Rowedder Zimmermann Hass, Mannheim, Lehrbeauftragter an der Universität Mannheim PÖLLATH, REINHARD Dr. jur., LL.M., Rechtsanwalt P+P Pöllath & Partners, München, Honorarprofessor, Institut für Steuerrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster PRIESTER, HANS-JOACHIM Dr., Notar a. D., Honorarprofessor an der Universität Hamburg REICHERT, JOCHEM Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena SCHÄFER, CARSTEN Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim, Direktor des dortigen Instituts für Unternehmensrecht (IURUM) XIII

Verzeichnis der Autoren

SCHIESSL, MAXIMILIAN Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf SCHMIDT, HARRY Dr., Rechtsanwalt in Berlin, Honorarprofessor an der Universität Leipzig SCHMIDT, KARSTEN Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School, Hamburg SCHNORBUS, YORK Dr., LL.M. (University of Pennsylvania), Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, Sullivan & Cromwell LLP STILZ, EBERHARD Präsident des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Vorsitzender des 20. Zivilsenats des OLG Stuttgart ULMER, PETER Dr. Dr. h.c. mult., Rechtsanwalt (Of Counsel) bei der SZA RechtsanwaltsAG in Mannheim, Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg VETTER, EBERHARD Dr., Rechtsanwalt, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln VETTER, JOCHEN Dr. jur., Diplom-Ökonom, Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, München, Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln WELLER, MARC-PHILIPPE Dr., Universitätsprofessor, Licencié en droit, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Freiburg WIRTH, GERHARD Dr., Rechtsanwalt, Gleiss Lutz in Stuttgart ZÖLLNER, WOLFGANG Dr. Dr. h.c., Professor (em.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

XIV

Schriftenverzeichnis Dr. Martin Winter

I. Monographie Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht (Schriften des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, Bd. 55), München 1987 (= Dissertation Heidelberg 1986).

II. Mitherausgeber 1. Lutter, Umwandlungsgesetz, Kommentar, 3. Aufl., Bd. 1 (§§ 1–137), Bd. 2 (§§ 138–325, SpruchG), beide 2004; 4. Aufl., Bd. 1 (§§ 1–134), Bd. 2 (§§ 135– 325, SpruchG), beide 2009. 2. Ulmer/Habersack/Winter, Großkommentar zum GmbH-Gesetz (vormals Hachenburg), Tübingen, Bd. 1 (Einleitung, §§ 1–28), 2005; Bd. 2 (§§ 29–52), 2006; Bd. 3 (§§ 53–87), 2008; Ergänzungsband MoMiG, 2010. 3. Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (seit 2006).

III. Kommentierungen 1. Ulmer/Habersack/Winter, Großkommentar zum GmbH-Gesetz, Tübingen, Bd. 1 2005, §§ 15–18 (gemeinsam mit Marc Löbbe). 2. Lutter, Umwandlungsgesetz, Kommentar, 1. Aufl. 1996, §§ 46–59; 2. Aufl., Bd. 1 2000, §§ 46–59; 3. Aufl., Bd. 1 2004, §§ 46–59; 4. Aufl., Bd. 1 2009, §§ 46–59.

IV. Aufsätze; Beiträge in Sammelwerken 1. ZHR 148 (1984), 579: Verdeckte Gewinnausschüttungen im GmbH-Recht. 2. BB 1988, 981: Die Abberufung des geschäftsführenden Gesellschafters der Publikumsgesellschaft (gemeinsam mit Jochem Reichert) 3. ZHR 154 (1990), 259: Organisationsrechtliche Sanktionen bei Verletzung schuldrechtlicher Gesellschaftervereinbarungen? 4. In: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 209: Vinkulierungsklauseln und gesellschafterliche Treupflicht (gemeinsam mit Jochem Reichert). 5. ZGR 1994, 570: Eigeninteresse und Treupflicht bei der Einmann-GmbH in der neueren BGH-Rechtsprechung. 6. ZHR 158 (1994), 59: Folgen der Nichtigerklärung durchgeführter Kapitalerhöhungsbeschlüsse (gemeinsam mit Wolfgang Zöllner). XV

Schriftenverzeichnis Dr. Martin Winter

7. In: Festschrift für Marcus Lutter, 2000, S. 1279: Die Anteilsgewährung – zwingendes Prinzip des Verschmelzungsrechts? 8. In: Festschrift für Martin Peltzer, 2001, S. 645: Die Rechtsstellung des stillen Gesellschafters in der Verschmelzung des Geschäftsinhabers. 9. ZIP 2002, 1: Verhaltenspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft bei feindlichen Übernahmeangeboten nach dem WpÜG (gemeinsam mit Stephan Harbarth). 10. In: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, S. 699: Die Anfechtung eintragungsbedürftiger Strukturbeschlüsse de lege lata und de lege ferenda. 11. In: RWS-Forum Gesellschaftsrecht, 2004, S. 457: Der Rechtsschutz des Aktionärs – de lege lata, de lege ferenda. 12. In: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 709: Gesellschaftsrechtliche Schranken für „Wertgarantien“ der AG auf eigene Aktien. 13. In: Festschrift für Hans-Joachim Priester, 2007, S. 867: Die Rechtsfolgen der „verdeckten“ Sacheinlage – Versuch der Neubestimmung. 14. In: Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, Kapitel 2, S. 57: Gesellschafterdarlehen nach MoMiG: Anwendungsbereich, Tatbestand und Rechtsfolgen. 15. In: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 1103: Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“.

XVI

Wolfgang Zöllner

Das wissenschaftliche Werk Martin Winters1 Liebe Frau Winter, verehrte Angehörige, lieber Herr Reichert, meine Damen und Herren! Wem das Glück zuteil geworden ist, klaren Geistes alt zu werden, wird über den viel zu frühen Tod Martin Winters besonders erschüttert sein. Dass jemand Angehörige und Freunde verlassen muss, bevor sein Werk getan, sein Leben gelebt und seine Zeit erfüllt ist, gehört zum Unbegreiflichen, das uns Irdischen beschieden sein kann. Nie habe ich den Sinn jenes geflügelten Wortes verstanden, dass die Götter jung sterben lassen, wen sie lieben. Umso mehr verharren wir in Trauer über Martin Winters Tod, und diese Trauer ist so groß, weil das Licht, das da erloschen ist, so besonders hell geleuchtet hat. Von einer Quelle dieses Lichts zu Ihnen zu sprechen, ist mir aufgetragen worden. Eines Menschen Zeit verläuft nicht nur in einer Spur. Da ist fast immer eine private Person, die eine Familie hat, mit Freunden sich des Lebens freut, gar Hobbys frönt und sich an Dingen der Kunst begeistert. Mit dem weitaus größeren Teil seiner Zeit und dem gewichtigeren Teil seiner Kraft bewegt sich dieser Mensch in einer zweiten Spur durchs Leben, seinem Beruf, der ihn umso verlässlicher trägt, wenn er mehr ist als ein Beruf, nämlich wie im Fall Martin Winters gleichzeitig auch Berufung. Martin Winter war ein begnadeter Anwalt und als solcher ein echt Berufener. Meine ungeteilte Bewunderung für ihn hat sich freilich, das ist mir wichtig, nicht bloß aus der hohen Qualität seiner anwaltsberuflichen Fähigkeiten gespeist, sondern aus noch etwas anderem: seiner inneren Unabhängigkeit und Distanz zur jeweiligen causa und ihren Trägern. Gewiss findet man diese Unabhängigkeit und Distanz bei nicht wenigen Anwälten und oft bei den besten. Aber sie war bei Martin Winter von einer besonderen Qualität, indem sie von einer genuin wissenschaftlichen Gesinnung und Einstellung getragen war. Das führt mich unmittelbar hinein in mein Thema, ihnen eine dritte Spur in Martin Winters Leben nahe zu bringen, sein wissenschaftliches Werk. Diese Spur stand zwar in ihrem späteren Verlauf in mitunter enger Verbindung zu seinem anwaltlichen Wirken, aber sie war in ihrem Ursprung und damit namentlich in seinem Opus Maximum, der Schrift über die Treupflicht, vom Anwaltsberuf noch ganz und gar unbeeinflusst. Und auch später war, was und worüber er schrieb, von seiner anwaltlichen Aufgabe losgelöst oder zumindest innerlich ganz unabhängig. Gerade deshalb hat es in besonderer Weise in sein anwaltliches Tun und in seine berufliche Haltung hineingewirkt. Wer hier und da in Rechtsstreitigkeiten als Gutachter mitgewirkt hat, kennt den Unterschied zwischen Anwälten, die nach der wissenschaftlich sorgfältig begründeten Lösung suchen, gerade auch der rechtsfortbildenden, und jenen, die nichts

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1 Rede anlässlich des Gedächtnis-Symposions für Martin Winter am 23. April 2010.

1

Wolfgang Zöllner

weiter wollen, als den Prozess gewinnen. Dass Martin Winter in ausgeprägtem Maß zur ersten Gruppe gehört hat, durfte ich in der Zusammenarbeit mit ihm deutlich erfahren. Wissenschaftliche Gesinnung und wissenschaftliche Haltung sind dem Menschen nur selten angeboren. Fast immer bedarf sie der Formung durch Ausbildung und Beispiel. Martin Winter hatte das große Glück, beim besten gesellschaftsrechtlichen Lehrstuhl mitarbeiten zu dürfen, den es in der maßgeblichen Zeit in Deutschland gab. Und als er mit knapp 30 die Universität verließ, durfte er in einer Kanzlei anheuern, deren damaliger und jüngst erneuerter Namensgeber nicht nur über großes praktisches, sondern auch wissenschaftliches Renommee im Gesellschaftsrecht verfügt hat. Für etliche seiner Kollegen in der Kanzlei gilt mittlerweile das nämliche. In diesem Umfeld hat Martin Winter ein Achtung gebietendes Oeuvre geschaffen, das nicht durch Quantität auffällt, aber durch Qualität besticht. Der nicht selten bei Professoren, aber auch bei Anwälten festzustellende Hang, sich zu jedem neu auftauchenden Problem oder auch Problemchen mit einem Aufsatz oder Aufsätzchen zu äußern und insbesondere jeden Huster des II. BGH-Senats mit einer Anmerkung zu bedenken, oft auf Kosten gründlicher Überlegung, war Martin Winter fremd, ein sympathischer Zug, der ganz seiner Bereitschaft entsprach, sich nicht zu früh festzulegen und Meinungen und Dogmen fortgesetzt infrage zu stellen. Es wäre Martin Winter trotz seiner großen anwaltlichen Belastung ein leichtes gewesen, aufgrund seines phänomenalen Gedächtnisses, seiner großen Kenntnis von Literatur und Rechtsprechung und seiner unerhörten geistigen Präsenz ein Vielfaches an Beiträgen zu publizieren. Dass sein Opus nur etwa 10 % des Umfangs dessen aufweist, was ein jüngerer Anwaltskollege – ich sage nicht, wo er seinen Sitz hat –, und 1 % dessen, was ein berühmter Hamburger Professor publiziert hat, wollen wir dankbar und anerkennend registrieren. Wir wissen, dass er anders gekonnt hätte, denn das Schreiben fiel ihm keineswegs schwer. Zu den Inhalten. Das Schriftenverzeichnis umfasst eine Monographie, zwei Kommentierungen und etwa 15 Aufsätze. Ein Blick darauf in einer kurzen Rede kann nur ein ganz kursorischer sein, verbunden mit etwas näherer Betrachtung einzelner Veröffentlichungen, bei deren Auswahl ich nicht zufälliger Eklektik, sondern dem Bestreben folge, paradigmatisch vorzugehen, d. h. jene Veröffentlichungen auszuwählen, in denen sich die wesentlichen Leitlinien Martin Winter’schen Rechtsdenkens widerspiegeln. Fast am Anfang steht Martin Winters einzige Monographie, seine 1987 publizierte Dissertation „Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht“, die jeder Gesellschaftsrechtler kennt. Auf sie komme ich gleich näher zurück. Sie bildet die Grundlage seines Engagements im Gesellschaftsrecht und enthält bereits einen Großteil seiner gesellschaftsrechtlichen Grundüberzeugungen und wesentliche Teile seines Repertoires an Rechtsgedanken zur Sicherung guter Ordnung in der Kapitalgesellschaft. Ein 1984 vorausgegangener Aufsatz über verdeckte Gewinnausschüttungen, wohl Martin Winters erste Publikation, stellt im wesentlichen eine Vorausveröffentlichung eines Teils seiner Dissertation dar. 2

Das wissenschaftliche Werk Martin Winters

Die Kunst des Kommentierens, bei Anwälten seit jeher ein bevorzugtes Publikationsmetier, hat Martin Winter nur in relativ beschränktem Umfang gepflegt, obgleich er doch aus der Schule Peter Ulmers kam, dem vielleicht beeindruckendsten gesellschaftsrechtlichen Kommentator von Großkommentaren; auch für die Form des Kurzkommentars hatte Martin Winter einen unübertrefflichen Meister im Haus. Martin Winters Haupterzeugnis auf dem Kommentarfeld ist die Erläuterung der §§ 46–59 in Lutters Umwandlungsgesetz2. Er hat diese Spezialvorschriften über die Verschmelzung unter Beteiligung von GmbHs durch 4 Auflagen betreut und ist darüber zum Mitherausgeber des Kommentars aufgestiegen. Auch wenn der Charakter dieser Vorschriften vom Gesetzgeber eher als ein die allgemeinen Vorschriften der §§ 2–38 UmwG nur ergänzender gedacht war und die damit einhergehende eigentümlich verschränkte Regelungstechnik des Umwandlungsgesetzes dem Kommentator konzeptionelle Höhenflüge eher erschwert, hat Martin Winter sich seiner Aufgabe mit Bravour entledigt. Die 134 Seiten seiner Kommentierung enthalten kein Wort zu viel, sind von luzider Klarheit und spüren auch jener Problematik sorgsam nach, die sich aus den Parallelitäten der von ihm zu kommentierenden Spezialregelung zur allgemeinen Regelung und zur Spezialregelung über die Verschmelzung unter Beteiligung von Aktiengesellschaften ergibt. An dem von seinem Lehrmeister Peter Ulmer herausgegebenen Kommentar zum GmbH-Gesetz3 hat Martin Winter erst in dem 2005 erschienenen ersten Band kommentierend mitgewirkt durch die gemeinsam mit Marc Löbbe verfassten Erläuterungen zu den §§ 15–18. Bekanntlich handelt es sich bei diesem Kommentar um die verlagswechselnde, aber inhaltswahrende Umwandlung des Hachenburg4. Die durch Winter/Löbbe bearbeiteten Teile hatte in diesem Vorgängerkommentar noch Jörg Zutt betreut, dessen Kommentierung in Gliederung und Text in dem neuen Werk noch weithin präsent ist, während sein Name, den seltsamen modernen Verlagsgebräuchen folgend, trotz Textpräsenz nicht mehr aufscheint. Dass Winter/Löbbe den Text sorgsam überprüft, fortgeschrieben, verändert, ergänzt und erweitert haben, versteht sich. Neben der großen Monographie und den Kommentierungen stehen als dritte Werkgruppe die von Martin Winter veröffentlichten Aufsätze. Zwei große Themengruppen lassen sich ausmachen. Zum einen der Rechtsschutz des Kapitalgesellschafters, insbesondere durch Klagerechte, einschließlich seiner sachgerechten Begrenzung. Zum anderen der Vermögensschutz der Kapitalgesellschaft und ihrer Gesellschafter. Zur ersten Gruppe gehört etwa schon der Aufsatz über organisationsrechtliche Sanktionen bei Verletzung schuldrechtlicher Gesellschaftervereinbarungen5. Martin Winter begründet darin mit großer Klarheit, freilich auch mit dem gleichen die Rechtswirklichkeit weni-

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2 Lutter/Winter, UmwG, zuletzt 4. Aufl. 2009. 3 Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, Großkommentar, Band I 2005, Band II 2006, Band III 2008. 4 Hachenburg, GmbHG, Großkommentar, hrsg. von Peter Ulmer, zuletzt 8. Aufl., die einschlägige Lieferung erschien 1991. 5 ZHR 154 (1990), 259.

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Wolfgang Zöllner

ger in Rechnung stellenden systematisch-dogmatischen Rigor wie sein Lehrer Peter Ulmer, warum der BGH in zwei bekannten Entscheidungen6 aus den achtziger Jahren zu Unrecht omnilaterale Nebenabreden der Gesellschafter als anfechtbarkeitsbegründende Grenze von Gesellschafterbeschlüssen anerkannt habe. Mittlerweile hat das Verständnis mehrgleisiger kapitalgesellschaftsrechtlicher Ordnungen durch die Habilitationsschrift von Ulrich Noack7 eine Wandlung erfahren, die mich in meiner dem BGH seinerzeit zustimmenden Auffassung8 bestärkt hat. Bedeutsam aus der Gruppe der dem Rechtsschutz des Gesellschafters gewidmeten Aufsätze sind Arbeiten zur Anfechtung eintragungsbedürftiger Strukturbeschlüsse de lege lata und de lege ferenda9 in der Ulmer-Festschrift 2003 und ein 2006 im Liber amicorum für Wilhelm Happ erschienener Aufsatz zur Reform des Beschlussanfechtungsrechts10. Beide Aufsätze kreisen um die gleichen Fragen, im ersten aus der Perspektive vor dem UMAG, im zweiten nach diesem Gesetz. Rechtspolitisch nach wie vor wichtig sind daraus vor allem die Bemerkungen zur noch immer nicht voll gelungenen Zurückdrängung der Beschlussanfechtung zu Gunsten des Spruchverfahrens. Ausführlich geht Martin Winter auf das Freigabeverfahren ein. Seine Vorteile stellt er klarsichtig dar, der Auseinandersetzung mit seinen Gerechtigkeitsdefiziten, wie ich sie – später – in der Festschrift Westermann artikuliert habe11, öffnet er sich hingegen nicht. Ich will das hier nicht erneut ausbreiten, weil die derzeit durch die Erfahrungen mit den zahlreichen missbräuchlichen Anfechtungsklagen verengte Sicht auf das Beschlussmängelrecht eine vertiefte Diskussion schwierig macht. Es gibt immer wieder Zeiten, in denen man bestimmte Dinge nicht hören will. Martin Winter wäre freilich einer von denen, die ich mir vordringlich als Diskussionspartner wünschen würde, in dieser wie in anderen Fragen. Auch darum vermisse ich ihn. Aus der Gruppe der dem Vermögensschutz der Kapitalgesellschaft und ihrer Gesellschafter gewidmeten Aufsätze hebe ich hervor die kritische Untersuchung, ob die Anteilsgewährung ein zwingendes Prinzip des Verschmelzungsrechts darstellt, in der Festschrift für Lutter 200012, und, wichtiger vielleicht, aus dem Jahr 2005 die Untersuchung gesellschaftsrechtlicher Schranken für Wertgarantien der Aktiengesellschaft auf eigene Aktien in der Festschrift für Röhricht13. Auch einer der letzten Aufsätze Martin Winters, der die Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage in der Festschrift für Priester 200714 thema-

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6 BGH, ZIP 1983, 297 = NJW 1983, 1910; BGH, ZIP 1987, 293 = NJW 1987, 1890. 7 Ulrich Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994. 8 Zöllner, Wechselwirkungen zwischen Satzung und Gesellschaftervereinbarungen, in Henze/Timm/Westermann, RWS Forum 8 Gesellschaftsrecht, 1995, S. 107 f.; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 47 Rz. 118. 9 Festschrift Peter Ulmer, 2003, S. 699. 10 Liber amicorum Wilhelm Happ, 2006. 11 Zöllner, Evaluation des Freigabeverfahrens, Festschrift Harm Peter Westermann, 2008, S. 1631. 12 S. 1279. 13 S. 709. 14 S. 867.

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Das wissenschaftliche Werk Martin Winters

tisiert, gehört in diese Gruppe. In ihm stellt Martin Winter zunächst in unübertroffen luzider Kurzform das vor dem MoMiG geltende Recht der verdeckten Sacheinlage dar, um sodann seine Reformüberlegungen zu entwickeln, die in eine Abmilderung der Rigorosität der Folgen verdeckter Sacheinlagen münden. Die Reform sollte, dem Handelsrechtsausschuss des DAV tendenziell folgend, an die Stelle der Pflicht zu nochmaliger Einlageerbringung die Differenzhaftung setzen. Für die gesetzestechnische Umsetzung hat Martin Winter eine in § 19 Abs. 5 GmbHG aufzunehmende Formulierung vorgeschlagen. Die vom MoMiG in § 19 Abs. 4 GmbHG getroffene Regelung entspricht mit geringen Modifikationen diesem Vorschlag. Martin Winter, der die Reform ja noch erlebt hat, wird sich insoweit gewiss gefreut haben, auch wenn ihn mancher andere Aspekt des MoMiG vielleicht eher mit Sorgen erfüllt hat. Dass seine Formulierung des Gesetzestextes der vom MoMiG normierten an Kürze und Eleganz überlegen ist, sei festgehalten. Was Martin Winter in diesem Aufsatz geschrieben hat, ist trotz des inzwischen erfolgten gesetzgeberischen Wirkens noch keineswegs Makulatur. Denn zu den Fragen des Kapital- und Vermögensschutzes ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Martin Winter hat die „Reform der verdeckten Sacheinlage und des Hin- und Herzahlens“15 nach Erlass des MoMiG selbst noch einmal aufgegriffen und – wiederum mit der ihm eigenen Luzidität – das nunmehr dafür geltende Recht dargestellt. Die Reform wird dabei im ganzen trotz der ihr innewohnenden Widersprüche und unbewältigten Zielkonflikte positiv beurteilt. Zu Recht merkt Martin Winter an, dass die Rechtslage in der vom Reformgesetzgeber besonders ins Auge gefassten Cash-Pool-Problematik keineswegs einfacher, sondern eher komplizierter geworden ist als nach altem Recht. Nicht ganz in das von mir zugrunde gelegte Zweierschema passt der wohl letzte Aufsatz Martin Winters: sein Beitrag zur Festschrift für Uwe Hüffer über „Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für Coporate Compliance“16. Dass der Aufsichtsrat eine Verantwortung für die Einhaltung der Gesetze hat – um nicht mehr und nicht weniger geht es bei dem Modebegriff –, versteht sich. Mit Bewunderung liest man, mit welcher Grundsätzlichkeit und gleichzeitig mit welcher Frische Martin Winter, von seiner Krankheit bereits schwer betroffen, sich des Themas bemächtigt. Der mit 24 Seiten recht umfangreiche Beitrag arbeitet insbesondere die Frage der Einrichtung und Ausgestaltung einer Compliance-Organisation heraus und grenzt sodann sorgsam die Compliance-bezogenen Pflichten zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ab. Es überrascht nicht, dass Martin Winter die Grenzen der Überwachungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats sehr deutlich akzentuiert – kein erfahrener Praktiker wird etwas anderes tun –, dabei aber die erhöhte Verantwortlichkeit solcher Aufsichtsratsmitglieder herausarbeitet, die aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat gewechselt sind und über Kontrollbedürfnisse auslösende Kenntnisse des Compliance-Überwachungssystems verfügen.

__________ 15 So der Untertitel seines Aufsatzes „Die Kapitalaufbringung nach MoMiG“ in Goette/ Habersack (Hrsg.), Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, S. 57. 16 Festschrift Hüffer, 2010, S. 1103 ff.

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Die größte wissenschaftliche und praktische Bedeutung in Martin Winters Oeuvre hat freilich und selbstverständlich seine große, über 300 Druckseiten umfassende Monographie „Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbHRecht“. Vornehmlich an solchen Werken lässt sich die Qualität und Kraft eines Wissenschaftlers wirklich ermessen, die Schrittlänge seiner Argumentation und die Fähigkeit zur folgerichtigen Entwicklung grundlegender Gedanken und Prinzipien. Martin Winter hat mit diesem Buch ein weit über den Rahmen einer gewöhnlichen Dissertation hinausragendes Opus vorgelegt, das über seine Entstehungszeit hinaus Bedeutung und Wirkung erlangt hat und wie ein rocher de bronce noch lang an ihn erinnern wird. Meine alte Mahnung, liebe Gesellschaftsrechtler: Lest mehr grundsätzliche Literatur statt Tagesaufsätzchen!, sie bezieht ganz prominent Martin Winters Monographie ein. Kaum ein wesentliches Problem des GmbH-Rechts, das nicht durch Martin Winters Überlegungen Förderung erführe und so das Buch fast zu einer Bibel des GmbH-Rechts macht. Zum Ausgangspunkt seiner Darlegungen hat Martin Winter das nun 35 Jahre alte ITT-Urteil des BGH gewählt, das nicht nur den Umschwung in der Rechtsprechung zur Treupflicht bei der GmbH gebracht hat, sondern auch im allgemeinen Verständnis der Anwendbarkeit und Wirkung dieses Rechtsinstituts im GmbH-Recht. Es war aber nach vielen Richtungen interpretierbar, weil es zahlreiche Unklarheiten enthielt und der gedanklichen Ergänzung bedurfte. Martin Winter hat die Klärung und Entfaltung der Treupflicht im GmbH-Recht in umfassendem systematischem Ansatz unternommen. In geglückter Weise beginnt er mit einem kursorischen Überblick über die Funktionen der Treupflicht im Personengesellschaftsrecht, fährt mit ausführlicher Grundlegung der Treupflicht im GmbH-Recht fort, die er anschließend inhaltlich präzisiert und konkretisiert, dabei immer, wie das in guter Jurisprudenz nicht anders sein darf, die praktischen Konsequenzen aller theoretischen Präzisierungsgrundsätze in den Blick nehmend. Wer diese scheinbar nur theoretischen Kapitel, die etwa die Hälfte des Buches ausmachen, überschlägt und meint, sich mit dem Einblick in die freilich nicht minder gewichtigen spezielleren Kapitel begnügen zu dürfen, in denen Stimmpflichten kraft Treupflicht, verdeckte Gewinnausschüttungen, Wettbewerb durch Gesellschafter, Bezugsrechtsausschluss und Gewinnverwendung eigens thematisiert werden, wird nicht nur dem hohen theoretischen Rang des Buches nicht gerecht, sondern bringt sich um grundlegende und wichtige Ausführungen zu Anwendungsfragen. Die klare, ungemein differenzierte und realistische Sicht auf die Praxis und ihre Bedürfnisse, die Martin Winter offensichtlich schon in seiner Zeit als universitärer Theoretiker ausgezeichnet hat, hebt das Werk weit über den Status einer Anfängerarbeit hinaus. Zum Schluss lassen Sie mich noch auf Erzeugnisse gemeinsamer wissenschaftlicher Bemühung von Martin Winter mit Wolfgang Zöllner zu sprechen kommen. Die eine Zusammenarbeit fand im Rahmen der Tätigkeit einer unter der Leitung von Marcus Lutter tagenden selbst ernannten Kommission statt zur Vorbereitung einer Stellungnahme gegenüber der EG zu deren Plänen, das Recht der Kapitalaufbringung und -erhaltung bei Aktiengesellschaften abzubauen. Martin Winter und ich hatten es übernommen, gemeinsam einen Ent6

Das wissenschaftliche Werk Martin Winters

wurf über bestimmte Grundsatzfragen dieses Themas vorzulegen. Die Zusammenarbeit gab mir nicht nur Gelegenheit, seine große Hilfsbereitschaft kennenzulernen, sondern auch die Leichtigkeit zu bewundern, mit der er auch rechtspolitisch ausgerichtete Texte zu verfassen verstand. Wichtiger war für mich die Zusammenarbeit, die zu einer Veröffentlichung geführt hat, für die er und ich gemeinsam firmiert haben: über „Folgen der Nichtigerklärung durchgeführter Kapitalerhöhungsbeschlüsse“. Sie beruht auf einem Vortrag, den wir gemeinsam verfasst und auf dem ersten Symposion zum Gedächtnis Wolfgang Schillings geteilt gehalten haben. Vorausgegangen war, dass ich auf Wunsch Martin Winters in einem bereits beim BGH angelangten Anfechtungsprozess gegen einen Kapitalerhöhungsbeschluss der Südzucker AG ein Rechtsgutachten über die Rechtsbeständigkeit des angefochtenen Beschlusses erstellt hatte. Der Kapitalerhöhungsbeschluss war Teil einer Verschmelzung der Südzucker AG mit einer relativ großen Tochtergesellschaft. Die Kapitalerhöhung war vollzogen, die Verschmelzung eingetragen, die Freigabeproblematik spielte folglich keine Rolle. Auch war die Verschmelzung selbstverständlich rechtsbeständig. Das Problem der Südzucker, die zwar vor dem Landgericht obsiegt, vor dem Oberlandesgericht aber verloren hatte, bestand darin, dass im Falle ihres Unterliegens die dann unausweichliche Reparatur der für nichtig erklärten Kapitalerhöhung auf beträchtliche Schwierigkeiten gestoßen wäre mit katastrophalen Folgen, weil nach der damals allgemeinen Meinung die Übernehmer der mit der Kapitalerhöhung geschaffenen Anteile nur Bereicherungsansprüche in Höhe der von ihnen erbrachten Leistungen gehabt hätten, für deren Wertbemessung wegen der ex-tunc-Wirkung des Anfechtungsurteils ein weit zurückliegender Zeitpunkt maßgeblich war, während eine zwecks Reparatur notwendige neue Kapitalerhöhung den neuen Wertverhältnissen hätte entsprechen müssen. Die Bereicherungsansprüche hätten bei weitem nicht ausgereicht, die nunmehr erforderlichen Einlagen abzudecken. Ich war zuversichtlich, dass der Prozess gewonnen werden würde – schon wegen meines Gutachtens –, aber der um seinen Job bangende Vorstand und sein Anwalt Martin Winter hielten es mit der alten Weisheit, dass man sich vor Gericht – auch vor dem II. BGH-Senat – nicht sicherer befindet als in einer Nussschale auf hoher See, und so wurde ich (nicht zu meinem Leidwesen) mit einem weiteren Gutachten beauftragt, die Rechtslage im Fall einer Nichtigerklärung der Kapitalerhöhung zu analysieren. Nie zuvor war mir so deutlich geworden, zu welch unmöglichen Ergebnissen die ex-tunc-Wirkung der erfolgreichen Anfechtung führen kann, und nie zuvor bin ich in so angestrengtes Nachdenken über einen sinnvollen Ausweg verfallen. Die Lösung fand sich schließlich in dem Gedanken, dem Beitritt der Übernehmer junger Anteile bei einer Kapitalerhöhung ähnlich dem Beitritt von Gesellschaftern zu Personengesellschaften wenigstens vorläufige Bestandskraft zu verleihen. Das Gutachten erwies sich als überflüssig. Der Kläger des Anfechtungsprozesses, ein Berufskläger, steckte in einem Strafverfahren und wollte seine einschlägigen Zivilverfahren rasch bereinigt haben, zu welchem Behuf er die Anfechtungsklage zurücknahm. Zurückgeblieben ist so etwas wie eine kleine juristische Entdeckung, die sich in der Literatur durchgesetzt hat. Martin Winters 7

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Anteil daran ist groß. Sie kennen – hoffentlich – das wunderbare Gedicht von Bertolt Brecht: „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration.“ Ich bringe Ihnen vorsichtshalber die Schlussstrophe in Erinnerung: Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, dessen Name auf dem Buche prangt! Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt. (Nach der im Gedicht berichteten Legende hatte der Zöllner den Weisen Laotse, bevor er die Grenze passieren durfte, angehalten und ihm auferlegt, Spruchweisheiten niederzuschreiben). Ich möchte die Strophe dahin verändern, dass an die Stelle des Weisen – ohne inhaltliche Gleichsetzung der Begriffe – der Professor tritt. Der Schlussvers muss dann heißen: „Darum sei der Winter auch bedankt, er hat sie dem Zöllner abverlangt.“ Dieses Abverlangen bestand nicht nur im Auftrag, sondern in intensiven Gesprächen, die mir Martin Winters Sachverstand und Wissenschaftlichkeit, aber nicht zuletzt auch seinen Charme in unvergesslicher Weise nahe gebracht haben. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Meine Damen und Herren, auch wenn man über Verstorbene nach einer bekannten lateinischen regula nur Gutes sagen soll, habe ich davon abgesehen, Martin Winter zu einem genialen wissenschaftlichen Autor zu stilisieren. Aber er war wissenschaftlich hochbegabt und hätte, davon bin ich überzeugt, wäre er einer wissenschaftlichen Laufbahn gefolgt, das Zeug dazu gehabt, ein bedeutender Professor der Rechte zu werden. Mit Shakespeare kann man von ihm – in August Wilhelm Schlegels Pathos – wie Fortinbras über Hamlet sagen: „Er hätte, wär’ er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt.“

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Gesellschafterliste und Aktienregister – Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Überlegungen de lege ferenda –

Inhaltsübersicht I. Gesellschafterliste und Aktienregister: Überblick und strukturelle Unterschiede 1. Funktion der Gesellschafterliste und Überblick zur gesetzlichen Regelung 2. Funktion des Aktienregisters und Überblick zur gesetzlichen Regelung 3. Einblick in Gesellschafterliste bzw. Aktienregister 4. Eintragung von Kürangaben? 5. Pflicht zur Eintragung II. Legitimationswirkung und Auseinanderfallen von Eintragung und materieller Rechtslage 1. Einführung 2. Entkoppelung der Legitimationswirkung von der materiellen Rechtslage 3. Legitimationswirkung zu Lasten des Eingetragenen

4. Legitimationswirkung zugunsten des Eingetragenen 5. Pflichtenstellung des nichteingetragenen Aktionärs gegenüber der AG 6. Übertragung der aktienrechtlichen Grundsätze auf die GmbH? III. Ordnungsgemäße Eintragung 1. Grundsatz 2. Eintragungsverfahren 3. Zurechnung 4. Besonderheiten im Hinblick auf den gutgläubigen Erwerb von GmbHGeschäftsanteilen IV. Korrektur einer unrichtigen Eintragung 1. Verfahren 2. Rechtsfolgen V. Weitere Einschränkungen der Legitimationswirkung

Martin Winter, der am 22. September 2009 im Alter von 53 Jahren verstorben ist, war zunächst und vor allem ein guter Freund. Die gemeinsamen Tage und Abende, die zahlreichen Gespräche werden unvergessen bleiben, genauso wie seine Besuche in Jena, bei denen er – zusammen mit Jochem Reichert, dem gemeinsamen Freund und heutigen Honorarprofessor der Friedrich-SchillerUniversität – unsere Studentinnen und Studenten mit Praxisproblemen der GmbH und der Aktiengesellschaft vertraut gemacht hat. Als exzellenter Anwalt und Partner einer der führenden Sozietäten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts war er dafür prädestiniert wie kaum ein anderer. Martin Winter war indes auch ein glänzender Rechtsdogmatiker – seine Dissertation über „Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht“ hat nach allgemeiner

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Walter Bayer

Auffassung das Niveau einer Habilitationsschrift1 und übertrifft manche Qualifikationsarbeit aus dem Kreis der „hauptberuflichen“ Rechtswissenschaftler. Vom Heidelberger Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht kommend, hätte ihm ohne Weiteres der Karriereweg auf einen renommierten Lehrstuhl offen gestanden. Doch Martin Winter strebte in die Praxis und erfüllte sich dort seine beruflichen Träume. Allerdings ließ er den Kontakt zur Wissenschaft nie abreißen. Seine Aufsätze, aber insbesondere auch seine Kommentierungen, sind von beeindruckender dogmatischer Stringenz, berücksichtigen aber stets die Anforderungen der Praxis. In der 1. Auflage des in der Hachenburg-Nachfolge stehenden2 und von ihm mitherausgegebenen Großkommentars3 hat Martin Winter die §§ 15 bis 18 GmbHG bearbeitet, gemeinsam mit seinem jungen Anwaltskollegen Marc Löbbe und aufbauend auf den Vorgängerkommentierungen von Wolfgang Schilling und Jürg Zutt4. Es war Martin Winter indes nicht mehr vergönnt, die zahlreichen und teilweise grundlegenden Rechtsveränderungen, die durch das MoMiG5 bewirkt wurden, zu analysieren und wissenschaftlich zu ergründen6. Daher konnte auch der in den Jahren 2004/2005 begonnene wissenschaftliche Meinungsaustausch zwischen dem Verfasser dieser Zeilen als Kommentar der betreffenden Vorschriften im Lutter/Hommelhoff7 nicht fortgesetzt werden. Allerdings bestand in der Sache eine sehr große Übereinstimmung: So wurden Lutter/Bayer in der Kommentierung des § 16 GmbHG von Winter/Löbbe 44 Mal zustimmend zitiert, nur ein einziges Mal wurde eine abweichende Auffassung vertreten. Und umgekehrt finden sich selbst in der neuen MoMiGKommentierung des § 16 GmbHG im Lutter/Hommelhoff noch 34 übereinstimmende Zitierungen von Winter/Löbbe gegenüber 2 abweichenden Auffassungen. Diese weitgehenden Übereinstimmungen setzen sich in der MoMiGKommentierung fort: So zitiert Löbbe im Rahmen von § 16 Abs. 1 und 2 GmbHG den Verfasser dieses Beitrags 72 Mal zustimmend, allerdings finden sich nunmehr auch 6 Abweichungen. Im Rahmen des gutgläubigen Erwerbs (§ 16 Abs. 3 GmbHG) finden sich sogar 40 übereinstimmende Zitate bei nur einer Abweichung.

__________ 1 S. nur Ulmer, ZIP 2009, 2175 (Nachruf); J. Reichert, Beilage zu ZIP 39/2010, S. 1, 2 (Begrüßung zum Gedächtnis-Symposion für Martin Winter am 23.4.2010); in diesem Sinne auch Zöllner, ebd. S. 3, 5 (Würdigung des wissenschaftlichen Werkes von Martin Winter), auch hier abgedruckt S. 1 ff. 2 Auch dazu Zöllner (Fn. 1), S. 4. 3 Peter Ulmer/Mathias Habersack/Martin Winter (Hrsg.), GmbHG, Großkommentar, Bd. I, 2005. 4 Wolfgang Schilling war – neben anderen Vorschriften – Bearbeiter der §§ 15 bis 18 GmbHG in der 6. und 7. Aufl. des Hachenburg, Jürg Zutt war in der 7. Aufl. Mitarbeiter und in der 8. Aufl. Alleinbearbeiter. 5 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 6 Im „Ergänzungsband MoMiG“, 2010, werden die §§ 16, 17 GmbHG daher allein von Löbbe bearbeitet. 7 Vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, bzw. Lutter/Bayer, ebd., 16. Aufl. 2004.

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Gesellschafterliste und Aktienregister

Kann nun aus der Beobachtung, dass zwei der führenden GmbH-Kommentare in nahezu allen Aspekten und Streitfragen weitgehend übereinstimmen, gefolgert werden, dass sich die Praxis im Rahmen der Anwendung des § 16 GmbHG auf relativ sicherem, wissenschaftlich gut durchdrungenem Terrain befindet? Die Frage ist eindeutig zu verneinen. Nahezu jede Einzelheit der gesetzlichen Neuregelung ist im Schrifttum umstritten, und auch die ersten, oftmals umstrittenen Entscheidungen der Obergerichte haben kaum Rechtssicherheit geschaffen. Es wäre schön gewesen, die zahlreichen Streitfragen mit Martin Winter zu diskutieren. Da dies nicht mehr möglich ist, soll in seinem liber amicorum ein einseitiges Zwischenfazit gezogen werden, verbunden mit Vorschlägen de lege ferenda an den Gesetzgeber, genauso, wie es Martin Winter als aktives Mitglied des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins oftmals – und mit Erfolg – getan hat.

I. Gesellschafterliste und Aktienregister: Überblick und strukturelle Unterschiede 1. Funktion der Gesellschafterliste und Überblick zur gesetzlichen Regelung a) Die durch das MoMiG konzeptionell veränderte und in den §§ 16, 40 GmbHG neu geregelte Gesellschafterliste soll im Hinblick auf die Personen der Gesellschafter und ihre Beteiligung für höhere Transparenz und zugleich auch für Rechtssicherheit sorgen8. Dieses Ziel soll zum einen unmittelbar durch die an den Geschäftsführer der GmbH bzw. den mitwirkenden Notar adressierte gesetzliche Pflicht, im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeit nach Wirksamwerden jeder Veränderung in den Personen der Gesellschafter oder des Umfangs ihrer Beteiligung9 eine neue Gesellschafterliste zu erstellen und beim Handelsregister einzureichen10 (vgl. § 40 Abs. 1 und 2 GmbHG), sowie zum anderen mittelbar durch die Legitimationswirkung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, wonach im Verhältnis zur Gesellschaft nur derjenige als Gesellschafter gilt, „wer als solcher in der im Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste … eingetragen ist“, erreicht werden11. Die Gesellschafterliste ist seit Inkrafttreten des MoMiG aber auch Rechtsscheingrundlage für einen gutgläubigen Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 1 GmbHG). Das Gesetz unterscheidet hier zwischen der Unrichtigkeit der Gesellschafterliste, die dem wahren Gesellschafter zuzurechnen ist, und einer nicht zurechenbaren Unrichtigkeit: Während im ersteren Fall ein gutgläubiger Erwerb sofort möglich ist, riskiert im zweiten Fall der

__________ 8 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 3; Brandes in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 16 Rz. 2; Löbbe in Ulmer, Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 16 Rz. 6; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., Nachtrag MoMiG, 2010, § 16 Rz. 4. 9 Dazu näher Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 5 ff., 40 Rz. 6 ff. m. w. N. 10 Zur Pflichtenstellung von Geschäftsführer bzw. Notar: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 18, 23; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., Nachtrag MoMiG, 2010, § 40 Rz. 17, 24, 31, 42 f., vgl. weiter Bussian/Achenbach, BB 2010, 778 ff. 11 Dazu näher unter II.

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wahre Gesellschafter den Verlust seines Geschäftsanteils erst nach Ablauf einer Frist von 3 Jahren seit Unrichtigkeit der Gesellschafterliste (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 2 GmbHG)12. Ungeachtet dieser Unterscheidung wird die Gesellschafterliste gegenüber der früheren Rechtslage jedenfalls in erheblichem Umfang aufgewertet; sie ist neben der Satzung nunmehr das wichtigste Dokument der GmbH13. b) Einzutragen sind gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 GmbHG Angaben zur Person des Gesellschafters sowie zum Umfang seiner Beteiligung14. Der genaue Zeitpunkt des Erwerbs des Geschäftsanteils bzw. allgemein der Rechtsänderung ist de lege lata zwar nicht unbedingt anzugeben15; doch muss die Gesellschafterliste im Zeitverlauf eine lückenlose Nachvollziehung der Entwicklung gewährleisten16. Auf diese Transparenz ist bei der Abfassung der Gesellschafterliste unbedingt zu achten. Wird etwa der abgetretene Geschäftsanteil kurze Zeit später weiterübertragen, so sind daher zwei Gesellschafterlisten einzureichen17, wobei dem Registergericht die richtige Reihenfolge offenzulegen ist18. Die Gesellschafterliste wird – ebenso wie die Liste der Gründungsgesellschafter gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 GmbHG – vom Registerrichter19 in das Handelsregister aufgenommen (nicht: eingetragen!), und zwar in den für das entsprechende Registerblatt bestimmten elektronischen Registerordner (vgl. § 9 Abs. 1 HRV)20. Rechtspolitisch zu begrüßen wäre es, wenn sowohl der genaue Zeitpunkt der Rechtsänderung als auch der genaue Zeitpunkt der Aufnahme der Gesellschafterliste im Handelsregister verpflichtend gemacht würde. Weiterhin sollte das Registergericht jeden Gesellschafter, dessen Rechtsposition durch die geänderte Gesellschafterliste aufgegeben bzw. neu begründet wird, von Amts wegen hierüber informieren; insbesondere im Hinblick auf die Gefahr, den Geschäfts-

__________ 12 Einzelheiten bei Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 77 ff.; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 148 ff. 13 So bereits Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 1; zustimmend etwa Wachter, GmbHR 2010, R 337. 14 Einzelheiten bei Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 5 ff.; zur Nummerierung der Geschäftsanteile auch OLG Bamberg, ZIP 2010, 1394; OLG Jena, GmbHR 2010, 598 = BB 2010, 1179 m. Anm. Herrler; ausf. auch Melchior, NotBZ 2010, 213 ff.; Wicke, MittBayNot 2010, 283. 15 Dazu Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 9; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 16; a. A. Paefgen in Ulmer, Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 40 Rz. 19 a. E. 16 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 40 Rz. 8; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 18; Wicke, GmbHG, 2008, § 40 Rz. 4; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 40 Rz. 34; vgl. auch OLG Jena, GmbHR 2010, 598, 599 unter Hinweis auf Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 5, 9. 17 So auch LG München, GmbHR 2010, 151 m. zust. Anm. Wachter. Dagegen für Vermerkung beider Rechtsänderungen in derselben Gesellschafterliste Terlau in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 40 Rz. 20. Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass mehrere Geschäftsanteile mit sofortiger Wirkung abgetreten werden; hier genügt die Einreichung einer geänderten Liste: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 9, Wicke (Fn. 16), § 40 Rz. 4. 18 S. auch Melchior, GmbHR 2010, 418, 419. 19 Dazu OLG München, GmbHR 2009, 825; Melchior, GmbHR 2010, 418. 20 Näher Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 32; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 76.

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anteil trotz fehlender Zurechenbarkeit an einen gutgläubigen Erwerber zu verlieren, wäre ein solcher Schritt dem Gesetzgeber dringend anzuraten21. c) Nach § 40 GmbHG besteht eine gespaltene Zuständigkeit: Der Notar ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 GmbHG immer dann (und vorrangig) für die Erstellung und Einreichung der Gesellschafterliste zuständig, wenn er an der Rechtsänderung mitgewirkt hat, also insbesondere bei Anteilsabtretungen (vgl. § 15 Abs. 3 GmbHG)22. Unabhängig von jeglicher Mitteilung und weiteren Nachweisen hat er die Gesellschafterliste zu unterzeichnen, wenn er von der Wirksamkeit der Rechtsänderung sicher überzeugt ist23, und zusammen mit der Notarbescheinigung gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 GmbHG in der Form des § 39a BeurkG24 beim Handelsregister einzureichen. Hat der Notar an der Rechtsänderung hingegen nicht mitgewirkt, so wird gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 GmbHG eine (ausschließliche) Zuständigkeit des Geschäftsführers begründet. Er (allein) hat eine neue Gesellschafterliste zu erstellen und unter Anwendung von § 12 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 HGB25 zum Handelsregister einzureichen26. Allerdings darf der Geschäftsführer die neue Gesellschafterliste gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 GmbHG nur aufgrund einer mitgeteilten und nachgewiesenen Rechtsänderung ändern27. Diese gesetzliche Voraussetzung ist zwingend und auch nicht satzungsdispositiv28; anders als nach § 16 Abs. 1 GmbHG a. F.29 kann somit auf den Nachweis nicht verzichtet werden30. Bereits im Gesetzgebungsverfahren wurde diese Aufspaltung der Zuständigkeit zu Recht kritisiert31. De lege ferenda sollte diese Entscheidung korrigiert werden, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen ist die bisherige Zuständigkeitsabgrenzung unklar, insbesondere bei einer nur mittelbaren Mitwirkung des Notars32. Zum anderen ist aber der GmbH-Geschäftsführer bei den Sach-

__________ 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Richtig Wachter, GmbHR 2010, R 113, 114. Ausf. hierzu Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 23 ff. m. w. N. Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 28 m. w. N. Dazu näher OLG Jena, DNotZ 2010, 793 m. Anm. Bettendorf/Mödl. Entgegen verbreiteter Praxis darf das Registergericht somit nicht auf einer elektronischen Signatur bestehen: Richtig Apfelbaum, BB 2008, 2470, 2472; vgl. auch OLG Jena, DNotZ 2010, 793, 794 m. zust. Anm. Bettendorf/Mödl. Zum Verfahren: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 10 ff. m. w. N. Dazu näher Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 19; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 43 ff. Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 29; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 27. S. nur BGH, GmbHR 2009, 38, 39; Winter/Löbbe in Ulmer, GmbHG, 2005, § 16 Rz. 19 m. w. N. Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 20 a. E.; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 50 m. w. N. Bednarz, BB 2008, 1854, 1859 f.; zu Abgrenzungsschwierigkeiten Tebben, RNotZ 2008, 441, 453 f. S. nur die umstrittene Entscheidung OLG Hamm, GmbHR 2010, 205 m. Anm. Wachter = DNotZ 2010, 214 m. Anm. Ising = DNotZ 2010, 216 m. Anm. Heckschen = EWiR 2010, 251 m. Anm. Omlor, ausf. Ising, NZG 2010, 812 ff.; vgl. aber auch zur Geschäftsführer-Zuständigkeit, wenn die vom Notar eingereichte Gesellschafterliste durch Anfechtung der Anteilsabtretung nachträglich unrichtig wird: OLG Frankfurt, GmbHR 2011, 198, 200 m. Anm. Biebinger; zur Korrektur einer selbst erstellten Liste durch den Notar, der die Unrichtigkeit bemerkt: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 32 m. w. N.

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verhalten, die ihm de lege lata typischerweise verbleiben, teilweise häufig überfordert (z. B. im Erbfall), teilweise besteht die Gefahr der Manipulation (z. B. im Falle der Einziehung). Die Richtigkeitsgewähr ist bei Erstellung der Gesellschafterliste durch den Notar einfach höher. Diesem Aspekt kommt insbesondere im Zusammenhang mit der Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs von Geschäftsanteilen große Bedeutung zu. Und drittens verhindert nur die Einreichung durch den Notar im elektronischen Signaturverfahren die Fälschung einer Gesellschafterliste durch einen Unbefugten33. Daher sollte de lege ferenda eine ausschließliche Notarzuständigkeit für die Einreichung der Gesellschafterliste angeordnet werden34. 2. Funktion des Aktienregisters und Überblick zur gesetzlichen Regelung Vorbild für die durch das MoMiG neu konzipierte Gesellschafterliste ist das in § 67 AktG geregelte Aktienregister (früher: Aktienbuch), das von der Aktiengesellschaft einzurichten und vom Vorstand zu führen ist35, wenn satzungsgemäß Namensaktien (oder Zwischenscheine) ausgegeben wurden36, was rechtstatsächlich für einen Teil der börsennotierten und die Mehrzahl der nichtbörsennotierten Gesellschaften zutrifft37, und zwar insbesondere dann, wenn sie vinkulierte Anteile ausgegeben haben38. Für Gesellschaften mit Inhaberaktien gilt § 67 AktG hingegen nicht; Kenntnisse über die Aktionärsstruktur vermitteln hier nur die gesetzlichen Mitteilungspflichten gemäß §§ 20, 21 AktG bzw. – für börsennotierte Gesellschaften – gemäß §§ 21 ff. WpHG39. Auch das Aktienregister soll Rechtsklarheit im Hinblick auf den Kreis der Aktionäre vermitteln40. Nach § 67 Abs. 1 AktG sind daher auch in das Aktienregister Angaben zur Person des Aktionärs sowie zum jeweiligen Aktienbesitz einzutragen41. Der Vorstand korrigiert das Aktienregister grundsätzlich nur auf

__________ 33 Zum Problemkreis ausf. Lieder, AcP 210 (2010), 857, 898 ff. 34 So bereits Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 4; Lieder, AcP 210 (2010), 857, 905 jeweils m. w. N.; vgl. auch Wachter, GmbHR 2010, R 337, 338 (mit Gesetzesvorschlag); ebenso Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 6 (mit Kritik am Gesetzgeber); Bednarz, BB 2008, 1854, 1859; Ries, NZG 2010, 135, 136. 35 Es handelt sich um eine Leitungsaufgabe des Vorstands, der seine Verantwortlichkeit nicht delegieren kann, sondern lediglich Hilfspersonal (auch externe Dienstleister) zur technischen Abwicklung einsetzen darf: Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 67 Rz. 14; Cahn in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 67 Rz. 11; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 67 Rz. 5; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 67 Rz. 9; vgl. auch OLG München, NZG 2005, 756; dazu Kort, NZG 2005, 963 ff. 36 Dazu näher Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 15; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 10; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 5. 37 Aktuelle Rechtstatsachen bei Bayer/Hoffmann, AG-Report 2011, R 28 f. 38 Dazu Bayer/Hoffmann, AG-Report 2007, R 375 ff. 39 S. zum RefE zur Änderung des AktG v. 2.11.2010, mit dem für alle nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften Namensaktien vorgeschrieben werden sollen, kritisch Bayer, Editorial NJW 2011 Heft 8. 40 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 1; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 1; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 1. 41 Ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 17 ff.; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 30; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 7; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 14, 22.

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Mitteilung und Nachweis (§ 67 Abs. 3 AktG)42. Soweit Aktien jedoch nicht nur auf einen neuen Inhaber übergehen, sondern sich die Mitgliedschaft selbst verändert43, hat der Vorstand die erforderlichen Änderungen von Amts wegen vorzunehmen44. Ein gutgläubiger Aktienerwerb auf der Grundlage der Eintragungen im Aktienregister ist de lege lata – anders als nach § 16 Abs. 3 GmbHG – nicht möglich45. Während von §§ 16, 40 GmbHG n. F. im Unterschied zur früheren Rechtslage46 unstreitig sowohl rechtsgeschäftliche als auch gesetzliche Erwerbstatbestände erfasst werden47, ist die Erstreckung von § 67 AktG auf gesetzliche Erwerbstatbestände umstritten und noch weitgehend ungeklärt48. Richtigerweise kommt dem Regelungsregime des § 67 AktG auch bei gesetzlichen Erwerbstatbeständen (insbesondere im Falle der Gesamtrechtsnachfolge durch Erbfall und Umwandlung49) große Bedeutung zu50. Die Diskussion der Problematik und zahlreicher Einzelfragen wird indes an anderer Stelle vertieft werden. 3. Einblick in Gesellschafterliste bzw. Aktienregister Während die in das Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste von jedermann online eingesehen werden kann (vgl. § 9 HGB)51, hat Einblick in das nicht öffentlich zugängliche, im Regelfall von spezialisierten Dienstleistungsunternehmen verwaltete52 Aktienregister53 grundsätzlich nur der Vorstand; die Aktionäre hingegen nur, wenn die Satzung dies anordnet, was nach § 67 Abs. 6 Satz 2 AktG allerdings nur bei nichtbörsennotierten Gesellschaften gestattet ist54. Das mit der Aktienrechtsreform des Jahres 1965 neu eingeführte Ein-

__________ 42 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 72; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 17; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 59. 43 Beispiele: Nennwertveränderungen, Umwandlungen in eine andere Aktiengattung, Zusammenlegung, Einziehung und Kraftloserklärung von Aktien, Kaduzierung und Rechtsübertragung im Rahmen der Verwertung kaduzierter Aktien. 44 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 72; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 22; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 9; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 32. 45 Für alle: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 36. 46 Dazu nur Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 4 m. w. N. 47 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 5 ff.; § 40 Rz. 7; Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 2; Ebbing in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 16 Rz. 8. 48 S. nur einerseits Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 87: Beschränkung auf rechtsgeschäftlichen Erwerb; andererseits Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 59 („ohne Bedeutung, ob die Rechtsübertragung rechtsgeschäftlich oder kraft Gesetzes … erfolgt“); Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 67 Rz. 88 (Übergang kraft Rechtsgeschäfts, kraft Gesamtrechtsnachfolge oder kraft Gesetzes). 49 Dazu bereits RGZ 77, 268, 276 f. 50 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 61 ff., 67. 51 Altmeppen (Fn. 16), § 40 Rz. 2; Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 3; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 32 m. w. N. 52 Ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 12; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 11. 53 Das Aktienregister ist ein privates Dokument der AG i. S. von § 239 Abs. 4 HGB: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 13; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 11 (unstr.). 54 Dazu näher Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 128; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 30; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 108.

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sichtsrecht aller (eingetragenen) Aktionäre in das Aktienbuch (§ 67 Abs. 5 AktG a. F.)55 wurde mit dem NaStraG56 aus datenschutzrechtlichen Gründen (Gefahr des „gläsernen Aktionärs“) wieder abgeschafft57. Aktionäre können daher heute grundsätzlich nur noch in ihre eigenen Daten Einblick nehmen (§ 67 Abs. 6 Satz 1 AktG)58. Darüber hinaus kann im Einzelfall ein Auskunftsrecht nach Maßgabe des § 810 BGB bestehen59. Die unterschiedliche Rechtslage überzeugt nicht. So ist es wenig nachvollziehbar, dass jeder GmbH-Gesellschafter online abgefragt werden kann, bei nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften jedoch nicht einmal die Aktionäre Kenntnis ihrer Mitgesellschafter erhalten, sofern nicht eine Anteilsquote von 25 % über- oder unterschritten oder eine Mehrheitsbeteiligung erworben oder verloren wird (vgl. § 20 AktG)60; allein das Überschreiten bzw. Unterschreiten dieser Grenzwerte wird öffentlich bekannt gemacht (vgl. § 20 Abs. 6 AktG)61. Datenschutzrechtlich lässt sich diese gesetzliche Differenzierung jedenfalls nicht rechtfertigen. Bei börsennotierten Gesellschaften mit Namensaktien wird ein Einsichtsrecht in das Aktienregister vielfach deshalb für entbehrlich gehalten62, weil hier (veröffentlichte) Mitteilungspflichten bereits ab einer Beteiligungsquote von 3 % bestehen (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG). Zu bedenken ist jedoch, dass auch hier die früher bei Namensaktiengesellschaften bestehende Informationssymmetrie zwischen Verwaltung und Aktionären aufgegeben wurde63. Das mit dem UMAG64 eingeführte Internetforum65 (§ 127a AktG) ist jedenfalls kein annähernd gleichwertiger Ersatz. Die Beschränkung der Kenntnis von Mitaktionären unterhalb der Schwelle einer mitteilungspflichtigen Beteiligung widerspricht zudem der Rechtslage beim Verein sowie bei der (Publikums-)Personengesellschaft: Dort ist – unter ausdrücklicher Zurückweisung datenschutzrechtlicher Bedenken – höchstrichterlich anerkannt, dass jedes Vereinsmitglied bzw. jeder Gesellschafter Auskunft

__________ 55 Dazu nur Barz in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 67 Anm. 12; Lutter in KölnKomm. AktG, 1. Aufl. 1985, § 67 Rz. 43. 56 Gesetz v. 18.1.2001, BGBl. I 2001, 123; dazu näher Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 2 ff., 7 f. m. w. N. 57 Krit. Happ in FS Bezzenberger, 2000, S. 111, 128; Huep, WM 2000, 1623, 1626 ff.; Hüther, AG 2000, 68, 75; zustimmend hingegen Leuering, ZIP 1999, 1745, 1749 f.; Noack, ZIP 1999, 1993, 1997. 58 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 126, 129 ff.; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 154. 59 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 129; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 67 Rz. 52; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 28 (allg. M.). 60 Einzelheiten bei Bayer (Fn. 35), § 20 Rz. 12 ff. 61 Dazu näher Bayer (Fn. 35), § 20 Rz. 36 ff. m. w. N. 62 So etwa von Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 28 m. w. N. 63 Hierzu bereits Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 127 m. w. N. 64 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 65 Dazu näher Seibert, AG 2006, 16; Cahn (Fn. 35), § 127a.

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über die Namen und Anschriften der übrigen Vereinsmitglieder bzw. Gesellschafter verlangen kann66. Es ist dem Gesetzgeber daher unter rechtspolitischen wie unter rechtsdogmatischen Aspekten anzuraten, die Problematik der Auskunft über Mitgesellschafter bzw. der Einsichtnahme in Aktienregister und Gesellschafterliste in systematisch stimmiger Weise zu lösen. 4. Eintragung von Kürangaben? a) Die unterschiedliche Transparenz von Gesellschafterliste und Aktienregister hat weitere Konsequenzen: Während im Falle der in das Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste der Grundsatz, in öffentlichen Registern gesetzlich nicht geforderte Eintragungen im Interesse der Übersichtlichkeit möglichst zu unterlassen67, der Eintragung von Kürangaben, die über die gesetzlich geforderten Pflichtangaben hinaus gehen, entgegen steht, so dass nach ganz h. M. insbesondere die Eintragung von dinglichen Belastungen des Geschäftsanteils68 oder auch einer Testamentsvollstreckung69 nicht gestattet ist70, gilt diese Beschränkung für das Aktienregister nicht71, so dass nach allgemeiner Ansicht auch dingliche Belastungen72 und richtigerweise auch weitergehende Kürangaben – wie z. B. die Eintragung eines Testamentsvollstreckers73 – eingetragen werden dürfen74. Noch völlig ungeklärt ist allerdings, inwieweit solche (zulässigen) Kürangaben von der Legitimationswirkung des § 67 Abs. 2 AktG75 erfasst werden76.

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66 Zum Verein: BGH, ZIP 2010, 2397; zur BGB-Gesellschaft: BGH, ZIP 2010, 27; zur atypischen Treuhand-Publikums-KG: BGH, ZIP 2011, 322 (abl. insoweit allerdings Altmeppen, ZIP 2011, 326 ff.; zust. indes K. Schmidt, NZG 2011, 361 ff.). 67 Dazu näher BGH, NJW 1992, 1452; bestätigt durch BGH, NJW 1998, 1071; vgl. weiter Baumbach/Hopt, HGB, 34. Aufl. 2010, § 8 Rz. 5 m. w. N. 68 Vgl. Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 9; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 16 Rz. 3, 11; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 38; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 27; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 7; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 10; Lieder, Jura 2010, 801, 806; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 407; Preuß, ZGR 2008, 676, 684; Tebben, RNotZ 2008, 441, 455; Wachter, ZNotP 2008, 378, 397; Oppermann, ZIP 2009, 651, 652; a. A. (analoge Anwendung) LG Aachen, RNotZ 2009, 409, 410 m. zust. Anm. Reymann; vgl. weiter Link, RNotZ 2009, 193, 204; Reymann, WM 2008, 2095, 2098 ff. 69 Vgl. Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 27; Wachter, DB 2009, 159, 166. 70 Allgemein zur Unzulässigkeit von Kürangaben in der Gesellschafterliste: Zöllner/ Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 15. 71 Für alle: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 32; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 36. 72 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 30; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 25; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 33 ff. 73 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 32; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 9. 74 Ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 32; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 31; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 36 m. w. N.; a. A. Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 25; Barz (Fn. 55), § 67 Rz. 8. 75 Dazu ausf. unter II. 76 Nach h. M. werden dingliche Belastungen erfasst (vgl. nur Bayer [Fn. 35], § 67 Rz. 30, 34; Cahn [Fn. 35], § 67 Rz. 25; Hüffer [Fn. 35], § 67 Rz. 9; Lutter/Drygala [Fn. 35], § 67 Rz. 34 f.; Merkt [Fn. 48], § 67 Rz. 37 ff.); nach verbreiteter Auffassung auch die Testamentsvollstreckung (so Hüffer [Fn. 35], § 67 Rz. 9; Merkt [Fn. 48], § 67 Rz. 38;

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b) In der GmbH-Praxis besteht indes ein dringendes Bedürfnis, auch Belastungen von Geschäftsanteilen rechtssicher feststellen zu können, und zwar insbesondere deshalb, um in Ergänzung der bisherigen Regelung gemäß § 16 Abs. 3 GmbHG auch den gutgläubigen lastenfreien Erwerb des Geschäftsanteils zu ermöglichen, was bislang nicht der Fall ist77. Die verbreitete Forderung, de lege ferenda auch Belastungen (wie Pfandrecht und Nießbrauch) in die Gesellschafterliste aufzunehmen und somit auch in den Anwendungsbereich des § 16 Abs. 3 GmbHG einzubeziehen, so dass nicht eingetragene Belastungen gutgläubig „hinwegerworben“ werden können78, ist daher nachdrücklich zu unterstützen79. Den – bereits im Gesetzgebungsverfahren geltend gemachten – berechtigten Interessen des Mittelstands an einer (weiterhin) stillen Verpfändung von Geschäftsanteilen könnte dadurch in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden, dass solche Belastungen nur im Falle eines berechtigten Interesses und ggf. auch nur mit Zustimmung des Anteilsinhabers in der Gesellschafterliste einsehbar wären80. 5. Pflicht zur Eintragung Während unbestritten ist, dass die Gesellschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen verpflichtet ist, die Eintragung der Rechtsänderung unverzüglich vorzunehmen81, galt sowohl für das Aktien- als auch für das GmbH-Recht lange

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a. A. Cahn [Fn. 35], § 67 Rz. 25), nicht hingegen sonstige Kürangaben (Bayer [Fn. 35], § 67 Rz. 34; Lutter/Drygala [Fn. 35], § 67 Rz. 31; Noack, ZIP 1999, 1993, 1995; großzügiger möglicherweise Merkt [Fn. 48], § 67 Rz. 39). S. nur Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 60; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 26; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 132; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 27; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 20, 73; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 251; Lieder, AcP 210 (2010), 857, 900; ders., Jura 2010, 801, 805 f.; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 418; Vossius, DB 2007, 2299, 2303; Wachter, ZNotP 2008, 378, 397; obiter auch OLG München, ZIP 2009, 1911, 1912 m. Anm. König/ Bormann. So im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens: Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2007, 211, 215; vgl. weiter Grunewald, ZIP 2006, 685, 688; Harbarth, ZIP 2008, 57, 64; Klöckner, NZG 2008, 841, 844; Reichert in Bayer/Koch, Das neue GmbHRecht, 2008, S. 29, 43; Wachter, ZNotP 2008, 378, 397. S. bereits Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 60; ebenso Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 74; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 7; Kort, GmbHR 2009, 169, 174; Lieder, AcP 210 (2010), 857, 900; ders., Jura 2010, 801, 806. So bereits Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2007, 211, 215; vgl. weiter Harbarth, ZIP 2008, 57, 64 sowie aus der Kommentarliteratur: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 60; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 74; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 28. Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 91 m. w. N.; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 19, § 40 Rz. 18 m. w. N. Verpflichtet ist im Außenverhältnis allein die Gesellschaft, nicht der Vorstand bzw. die Geschäftsführung: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 18; zust. OLG München, BeckRS 2010, 20434; a. A. Preuß, ZGR 2008, 676, 679. Der Eintragungsanspruch kann ggf. auch im Wege einer einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden: Begr. RegE MoMiG, BR-Drucks. 354/07, S. 86; Kort, GmbHR 2009, 169, 174. Darüber hinaus kann der Gesellschafter das Registergericht veranlassen, dem Geschäftsführer aufzugeben seiner Pflicht nachzukommen (vgl. § 388 FamFG): Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 37. Für schuldhafte Pflichtverletzung haften die Geschäftsführer gemäß § 40 Abs. 3 GmbHG: Zu Einzelheiten Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 35 m. w. N.

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Zeit der Grundsatz, dass die Aktionäre/Gesellschafter nicht verpflichtet waren, den Rechtsübergang „anzumelden“82 bzw. hiervon „Mitteilung“ zu machen83. Vielmehr stand es im Belieben von Veräußerer und Erwerber, ob sie der Gesellschaft die Rechtsänderung zur Kenntnis bringen oder nicht84, 85. Seit der Einfügung des § 67 Abs. 1 Satz 2 AktG durch das Risikobegrenzungsgesetz86 besteht indes die Verpflichtung des Aktionärs, der AG die Angaben gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 AktG mitzuteilen und (über den Wortlaut der Vorschrift hinaus) nachzuweisen87. Hierdurch soll erreicht werden, dass das Aktienregister möglichst vollständig und richtig ist88. Unterbleibt pflichtwidrig dennoch die Mitteilung, so darf die Änderung im Aktienregister allerdings nicht vorgenommen werden89. Denn nach wie vor gilt, dass ohne eine solche Mitteilung der Vorstand der AG die Eintragung nicht eigenmächtig vornehmen darf, und zwar selbst dann nicht, wenn er von der Rechtsänderung sichere Kenntnis hat90. In diesem Fall kann91 aber die AG zur Vermeidung eines freien Meldebestands (sog. Leerposten)92 gemäß § 67 Abs. 4 Satz 5 AktG die Eintragung des depotführenden Kreditinstituts als sog. Platzhalter verlangen93; damit ist zugleich die Basis für weitere Auskünfte gemäß § 67 Abs. 4 Satz 2, 3 AktG gelegt94. Dies gilt indes nicht, falls anstelle des Aktionärs ein sog. Legitimationsaktionär95 gemeldet wird (ggf. auch die Depotbank); denn dieser ist zur Ausübung der Aktionärsrechte berechtigt und zugleich auch gegenüber der AG verpflich-

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82 So zur Rechtslage in der AG vor dem NaStraG: Lutter (Fn. 55), § 67 Rz. 55; vgl. weiter RGZ 86, 154, 159; a. A. noch RGZ 79, 162, 164; für die GmbH vor dem MoMiG: Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 23 m. w. N. (allg. M.). 83 So zur Rechtslage nach dem NaStraG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 70, 71, 86; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 91 m. w. N. 84 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 86 m. w. N.; für die GmbH: RG, JW 1934, 2906, 2907; BGH, NJW 1969, 133. 85 Anders nur für das Recht der GmbH, wenn in der Satzung eine Verpflichtung zur Anmeldung der Rechtsänderung enthalten war: vgl. nur Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 23. 86 Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken v. 12.8. 2008, BGBl. I 2008, 1666. 87 Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 12; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 26; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 14, 93; Noack, NZG 2008, 721; zweifelnd Grigoleit/Rochlitz, ZHR 174 (2010), 12, 38 f. 88 S. auch Begr. RegE BT-Drucks. 16/7438, S. 13. 89 Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 26; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 14. Streitig ist, ob die AG die Mitteilung im Wege der Leistungsklage erzwingen kann; vgl. bejahend Lutter/ Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 14, a. A. Noack, NZG 2008, 721; unentschieden Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 26 a. E. 90 Dazu näher unter III.1. 91 Zum Ermessen der AG: Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 40. 92 Ein Leerposten entsteht, wenn der Veräußerer seinen Rechtsverlust mitteilt, aber keine Angaben zum Erwerber macht; dazu näher Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 23; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 63; ausf. Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 37 ff. 93 Ausf. Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 110 ff.; vgl. weiter Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 29; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 21. 94 Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 8; Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 40. 95 Zum Begriff: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 21 m. w. N.

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tet, sofern er in das Aktienregister eingetragen wird96. Die Satzung kann gemäß § 67 Abs. 1 Satz 3 AktG die grundsätzlich zulässige Eintragung des Legitimationsaktionärs in das Aktienregister jedoch von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen97 (etwa der Offenlegung des Fremdbesitzes)98. Auch im GmbH-Recht sind die Gesellschafter heute nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, den Geschäftsführer über Rechtsveränderungen i. S. von § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zu informieren; nur auf diese Weise kann der Gesetzeszweck – Transparenz und Rechtssicherheit – erreicht werden99. Diese Verpflichtung, an der Aktualisierung der Gesellschafterliste mitzuwirken, folgt aus der Treuepflicht der Gesellschafter (auch von Altgesellschaftern nach ihrem Ausscheiden); bei schuldhafter Verletzung der Mitwirkung droht eine Schadensersatzhaftung100. Eine abweichende Regelung kann weder in der GmbH-Satzung noch etwa im Anteilsabtretungsvertrag getroffen werden101.

II. Legitimationswirkung und Auseinanderfallen von Eintragung und materieller Rechtslage 1. Einführung Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG gilt „im Verhältnis zur Gesellschaft“ nur derjenige als Gesellschafter, „wer als solcher in der im Handelsregister aufgenommenen Gesellschafterliste (§ 40) eingetragen ist“. Hierbei hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich an die Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG angelehnt102, die lautet: „Im Verhältnis zur Gesellschaft gilt als Aktionär nur, wer als solcher im Aktienregister eingetragen ist“103. Die Bedeutung beider Regelungen liegt in einer Legitimationswirkung der ordnungsgemäß erfolgten Eintragung104, die von der materiellen Rechtslage entkoppelt ist und sowohl zu Lasten als auch zugunsten des Eingetragenen

__________ 96 Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 44; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 16. 97 Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 43; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 30; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 8a; ausf. Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 17 ff. (mit Beispielen). 98 Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 43; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 8a; näher Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 22. 99 Altmeppen (Fn. 16), § 40 Rz. 10; Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 19; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 6; Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 16 Rz. 138; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 20; ausf. Reymann, BB 2009, 506, 509. 100 Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 19; Reymann, BB 2009, 506, 509. 101 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 33; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 25. 102 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks 16/6140, S. 37. 103 Gleichlautend (nur „Aktienbuch“ statt „Aktienregister“) bereits die Vorgängerregelung in § 62 Abs. 3 AktG 1937, die ihrerseits auf § 223 Abs. 3 HGB zurückgeht, der lautete: „Im Verhältnisse zu der Gesellschaft gilt nur derjenige als Aktionär, welcher als solcher im Aktienbuche verzeichnet ist“. Nahezu identische Vorgängerregelung ist Art. 183 Abs. 2 ADHGB: „Im Verhältnisse zu der Gesellschaft werden nur diejenigen als die Eigenthümer der Actien angesehen, welche als solche im Actienbuche verzeichnet sind“. Vgl. noch Lieder, NZG 2005, 159, 160 Fn. 10. 104 Dazu näher unter III.

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besteht105. Auf diese Weise soll rechtssicher festgestellt werden, wer im Verhältnis zur Gesellschaft mitgliedschaftliche Rechte ausüben darf und mitgliedschaftliche Pflichten erfüllen muss106. Bei der GmbH ist die Gesellschafterliste zudem Rechtsscheingrundlage für den gutgläubigen Erwerb von Geschäftsanteilen (§ 16 Abs. 3 Satz 1 GmbHG)107. Da jedoch die Eintragung die materielle Rechtslage im Regelfall zutreffend wiedergibt und somit gerade nicht ein nicht vorliegender Tatbestand fingiert wird, handelt es sich trotz der gesetzlichen Formulierung „gilt“ – entgegen verbreiteter Auffassung – allerdings nicht um eine Fiktion108, sondern um eine unwiderlegbare Vermutung109. Der Gesetzgeber hat indes die aktienrechtliche Regelung nicht vollständig in das GmbH-Recht übernommen; dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Verfahren für den Fall, dass nach Ansicht der Gesellschaft ein Aktionär zu Unrecht im Aktienregister eingetragen ist (vgl. § 67 Abs. 5 AktG)110. Darüber hinaus hat Altmeppen die h. M. zu § 67 AktG jüngst massiv in Frage gestellt und als „teilweise unhaltbar“ kritisiert; sie dürfe „unter keinen Umständen auf die GmbH … übertragen“ werden111. Daher erscheint es angebracht, die Problematik näher zu untersuchen. Betrachten wir somit in einem ersten Schritt zunächst näher, was die Legimitationswirkung im Rahmen des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG im Einzelnen bedeutet; in einem zweiten Schritt soll untersucht werden, ob die Erkenntnisse aus dem Recht der AG auf die GmbH übertragen werden können. Abschließend sollen noch die Auswirkungen auf den gutgläubigen Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen untersucht werden. 2. Entkoppelung der Legitimationswirkung von der materiellen Rechtslage Entkoppelung von der materiellen Rechtslage bedeutet nach ganz h. M. zweierlei: Zum einen ist die unzutreffende Eintragung bzw. Nichteintragung im Aktienregister für die materielle Rechtslage ohne jede Bedeutung. Alle Verfügungen

__________ 105 106 107 108

Ausf. bei II. 2. und 3. Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 2; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 1; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 1. Dazu bereits I. 1.a). So aber für die AG: v. Godin/Wilhelmi, AktG, 3. Aufl. 1967, § 67 Anm. 6; für die GmbH (vor MoMiG): BGHZ 84, 47, 49; BGHZ 112, 103, 113; BGH, ZIP 1991, 724; BGH, NJW 2008, 229; OLG Hamm, NJW-RR 2002, 762, 763; ebenso zum neuen Recht: Ebbing in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 16 Rz. 51; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 12. 109 Wie hier für die AG: OLG Hamburg, AG 2003, 694; OLG Jena, AG 2004, 268, 269; OLG Zweibrücken, AG 1997, 140; OLG Celle, AG 1984, 266; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 39, Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 32; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 13; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 46; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 49, 52; Lieder, NZG 2005, 159, 160; vgl. auch Begr. RegE zum UMAG, BT-Drucks 15/5092, S. 14; Begr. RegE z. NaStraG BT-Drucks 14/4051, S. 11; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 27; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 8; Heidinger (Fn. 98), § 16 Rz. 2, 14; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 5; Löbbe (Fn. 8), 2010, § 16 Rz. 18; Wicke (Fn. 16), Rz. 3; zur Rechtslage vor MoMiG auch: Reichert/Weller, Der GmbH-Geschäftsanteil, 2006, § 16 Rz. 27; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 16 Rz. 2. 110 Dazu näher unter IV. 111 Altmeppen, ZIP 2009, 345.

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über die Aktien erfolgen unabhängig von der Eintragung. Das Rechtsverhältnis zwischen einem entgegen der materiellen Rechtslage Eingetragenen und dem wirklichen Anteilsinhaber wird durch die Eintragung nicht berührt112. Die Eintragung ist – entgegen der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts, wo noch angenommen worden war, dass das Aktionärsverhältnis im Wege eines Vertrages zwischen der AG und dem Eingetragenen zustande kommt113 – weder Wirksamkeitserfordernis für das Einrücken in die Aktionärsstellung114 noch heilt sie materiellrechtliche Mängel des Anteilserwerbs115. Soweit die Ausnutzung der Legitimationswirkung (seitens des Eingetragenen) zu Eingriffen in die Rechtsstellung des wahren Aktionärs bzw. (seitens der AG) zu Belastungen des Scheinaktionärs führt, vollzieht sich der Ausgleich ausschließlich nach den allgemeinen Regeln des Bürgerlichen Rechts, etwa gemäß §§ 677 ff. BGB bzw. gemäß §§ 812, 816, 823 BGB116. Zum anderen legitimiert die Listen- bzw. Registereintragung aber auch dann, wenn sie der materiellen Rechtslage widerspricht, weil etwa der Anteilserwerb materiell fehlerhaft war. Hier gilt es jedoch zu unterscheiden: 3. Legitimationswirkung zu Lasten des Eingetragenen Legitimationswirkung zu Lasten des Eingetragenen bedeutet, dass er in jedem Fall von der Gesellschaft auf Erfüllung seiner mitgliedschaftlichen Pflichten in Anspruch genommen werden kann, und zwar aufgrund der Entkoppelung von der materiellen Rechtslage auch dann, wenn der Anteilserwerb materiell unwirksam war117. Dies gilt selbst dann, wenn der Gesellschaft der Mangel der materiellen Berechtigung positiv bekannt ist. Bereits das Reichsgericht hatte in ständiger Rechtsprechung geurteilt, dass die AG trotz ihrer positiven Kenntnis über die der materiellen Rechtslage widersprechende Registereintragung den im Aktienregister Eingetragenen zur Einlagenleistung heranziehen könne118. An diesem Grundsatz wird bis heute einhellig festgehalten119. Eine Ein-

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112 RGZ 123, 279, 282; OLG Hamm, AG 2008, 671, 672; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 36; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 1, 13; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 47; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 59. 113 RGZ 3, 162, 163; vgl. weiter RGZ 41, 9, 17; RG, JW 1906, 433. 114 Allg. M.: Grundlegend RGZ 79, 162, 163 und RGZ 86, 154, 157; aus dem aktuellen Schrifttum: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 36; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 1, 13; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 11; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 54 m. w. N. 115 So bereits RGZ 86, 154, 157; vgl. weiter Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 36; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 11; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 54. 116 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 38; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 15; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 47; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 81 f. 117 RGZ 41, 16, 18; RGZ 77, 268, 276; allgemein RGZ 86, 154, 158 ff.; RGZ 123, 279, 282 f.; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 40; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 13; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 15; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 62. 118 S. RG, JW 1931, 2097; OLG Köln, OLGE 11, 384 (positive Kenntnis von der zwischenzeitlichen Weiterveräußerung der Aktie). 119 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 40; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 13; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 14; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 50 f.; Leuering, ZIP 1999, 1745, 1748; Wicke, ZIP 2005, 1397, 1398 ff.; s. auch OLG Jena, AG 2004, 268, 269 f.

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schränkung ist allerdings dann zu machen, wenn der AG die Rechtsänderung mitgeteilt und nachgewiesen wurde, eine Eintragung im Aktienregister indes unterblieben ist120. 4. Legitimationswirkung zugunsten des Eingetragenen Legitimationswirkung zugunsten des Eingetragenen bedeutet: Die mitgliedschaftlichen Gesellschafterrechte kann nur derjenige gegenüber der Gesellschaft geltend machen, der im Aktienregister eingetragen ist121. Umgekehrt kann die Gesellschaft auch nur an den Eingetragenen befreiend leisten122 (z. B. Dividende). Da der materiellen Rechtslage aufgrund ihrer Entkoppelung von der Legitimationswirkung im Rahmen von § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG keine Bedeutung zukommt123, ist auch der eingetragene Scheinaktionär, dessen Anteilserwerb materiell fehlerhaft war, gegenüber der AG zur Geltendmachung aller Aktionärsrechte legitimiert124. Umgekehrt ist es der AG verwehrt, dem nicht eingetragenen, aber materiellrechtlich wahren Aktionär mitgliedschaftliche Rechte einzuräumen, und zwar auch dann, wenn die Rechtslage eindeutig und unschwer nachweisbar ist125. Zur Vorgängervorschrift des Art. 183 ADHGB hatte allerdings das Reichsoberhandelsgericht noch den Standpunkt vertreten, dass auch der im Aktienregister (noch) nicht eingetragene Erbe des eingetragenen Aktionärs berechtigt sei, die statutenmäßige Gegenleistung für gelieferte Zuckerrüben zu fordern126; ausdrücklich offen gelassen wurde allerdings, ob die Legitimationswirkung nur den Erwerb unter Lebenden oder auch den Erbfall erfasst127. Und auch das Reichsgericht hatte eine solche uneingeschränkte Legitimationswirkung zugunsten des Eingetragenen noch strikt abgelehnt und vielmehr der AG den Einwand gestattet, der Eingetragene sei mangels wirksam erlangter Aktionärsstellung nur Scheinaktionär und zu Unrecht eingetragen128. Ein Teil des Schrifttums hielt den Vorstand zur Vermeidung von Schadensersatz-

__________ 120 Dazu näher unter III. 2. d). 121 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 40; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 14; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 60; Lieder, NZG 2005, 159, 161. 122 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 40; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 44; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 61. 123 S. unter II. 2. 124 OLG Jena, AG 2004, 268, 269; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 41; Bezzenberger Fn. 59), § 67 Rz. 13; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 60; Lieder, NZG 2005, 159, 161. 125 Insoweit richtig bereits RGZ 86, 154, 158; vgl. weiter OLG Köln, OLGE 11, 384; OLG Hamburg, AG 2003, 694; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 39, 40; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 13; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 69; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 80. 126 ROHGE 23 Nr. 34 (S. 98, 100). 127 Dazu bereits bei I. 2. sowie ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 61 ff. m. w. N. zum Streitstand. 128 So RGZ 123, 279, 286 im Anschluss an RGZ 86, 160, 161; obiter auch RGZ 86, 154, 160; ebenso Staub/Pinner, HGB, 11. Aufl. 1921, § 223 Anm. 5 f.; abl. indes Flechtheim in Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, 3. Aufl. 1934, § 223 Anm. 7; Schlegelberger, AktG, 3. Aufl. 1939, § 62 Anm. 4.

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ansprüchen gegenüber dem materiell Berechtigten sogar für verpflichtet, der Geltendmachung von Aktionärsrechten durch den eingetragenen Scheinaktionär zu widersprechen129. Weitergehend hatte das Reichsgericht den Standpunkt eingenommen, dass die AG auch berechtigt sei, den nach ihrer Auffassung zu Unrecht Eingetragenen eigenmächtig aus dem Aktienbuch zu entfernen130; dagegen sollte sich der aus dem Aktienbuch gelöschte Aktionär seinerseits mit einer Klage auf Wiedereintragung wehren können131. Auch wenn diese Judikatur von Anfang an nicht unumstritten war132, so hat sich die heute herrschende, nahezu einmütig gegenteilige Auffassung erst im Zuge der Aktienrechtsreform 1965 herausgebildet. Spätestens nachdem der Gesetzgeber mit § 67 Abs. 3 AktG a. F. = § 67 Abs. 5 AktG n. F. eine Vorschrift geschaffen hatte, in der explizit geregelt wurde, wie zu verfahren ist, wenn zwischen der AG und dem Eingetragenen Streit darüber besteht, ob die Eintragung als Aktionär zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist, war die frühere Auffassung des Reichsgerichts, wonach die AG auch gegen den Willen des Eingetragenen dessen Eintragung eigenmächtig berichtigen durfte133, obsolet geworden. Nunmehr setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass „die Tatsache, dass … die Gesellschaft die Eintragung nicht einseitig löschen kann, … zu dem Schluß (zwingt), dass sie auch nicht einseitig dem eingetragenen Aktionär die Ausübung seiner Aktionärsrechte versagen kann“134. Daher ist heute anerkannt, dass die Legitimationswirkung des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG grundsätzlich auch dann zugunsten des Eingetragenen gilt, wenn der AG positiv bekannt ist, dass die Eintragung der materiellen Rechtslage widerspricht135. 5. Pflichtenstellung des nichteingetragenen Aktionärs gegenüber der AG Die h. M. entnimmt § 67 Abs. 2 AktG eine Sperrwirkung, die einer Inanspruchnahme des wahren Aktionärs entgegenstehen soll. Auch bei positiver Kenntnis von der materiellrechtlichen Unrichtigkeit des Aktienregisters darf die AG

__________ 129 So R. Fischer in Großkomm. AktG, 2. Aufl. 1961, § 62 Anm. 24. 130 RGZ 123, 279, 286 im Anschluss an RGZ 86, 160, 161; ebenso Staub/Pinner, HGB, 11. Aufl. 1921, § 223 Anm. 6; abw. allerdings die h. L.; vgl. nur Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 7, 12; Schlegelberger (Fn. 128), § 62 Anm. 21; R. Fischer (Fn. 129), § 62 Anm. 21 m. w. N. 131 So RG, LZ 1915, 893; ebenso Staub/Pinner (Fn. 128), § 223 Anm. 6. 132 Vgl. Fn. 128 und Fn. 130. 133 S. Fn. 130. 134 So zuerst Barz (Fn. 55), § 67 Anm. 15; vgl. weiter Lutter (Fn. 55), § 67 Rz. 26: „Nichts deutet darauf hin, dass Abs. 2 nur die Interessen der AG berücksichtigt, wie das RG … meint.“ Ähnlich Bungeroth in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1973, § 67 Rz. 28: „Diese Auslegung entspricht dem klaren Wortlaut des Abs. 2, der für die Wirkung der Eintragung im Verhältnis zwischen AG und Eingetragenem keine Einschränkungen vorsieht. Sie wird bestätigt durch Abs. 3, der die durch die Eintragung erlangte Rechtsstellung vor einseitigen Eingriffen der AG schützt.“ In diesem Sinne auch OLG Celle, AG 1984, 266, 268. 135 OLG Jena, AG 2004, 268, 269; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 41; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 14; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 44 f.; Leuering, ZIP 1999, 1745, 1748.

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mitgliedschaftliche Ansprüche allein gegen den eingetragenen Scheinaktionär, hingegen nicht gegen den wahren Aktionär geltend machen. Diese Auffassung geht auf RGZ 86, 154 zurück, wo das Reichsgericht im Hinblick auf die Geltendmachung rückständiger Einlageansprüche formulierte: „Unstreitig ist es die im Aktienbuche gegenwärtig eingetragene Person, bei der die Zahlung gesucht werden muß …“136. Der gegenteiligen Auffassung in RGZ 79, 162, wonach die AG gegen den nichteingetragenen Aktionär (konkret: Erbe des eingetragenen Erblassers) auch ohne vorherige Änderung im Aktienregister einen satzungsmäßigen Anspruch auf Zuckerrübenlieferung137 geltend machen könne138, wurde ausdrücklich widersprochen139. Die Lehre hat sich dieser Rechtsprechung in der Folgezeit einmütig angeschlossen140. Danach haftet auch bei wirksamem Aktienerwerb der Erwerber nicht, solange er nicht eingetragen ist; die AG darf nur den eingetragenen Veräußerer in Anspruch nehmen141. War dagegen der Aktienerwerb materiell unwirksam, der Erwerber indes in das Aktienregister eingetragen, so haftet der Veräußerer – der materiellrechtlich (noch) der Aktionär ist – (nur) als Vormann unter den zusätzlichen Voraussetzungen des (heutigen) § 65 AktG142, d. h. dann, wenn von dem eingetragenen Scheinerwerber die Zahlung nicht zu erlangen war und eine ordnungsgemäße Kaduzierung erfolgte143. Eine Ausnahme gilt allerdings, wenn der nichteingetragene Aktionär Leistungen erhalten hat, die gemäß § 57 AktG unzulässig waren; in diesem Fall steht § 67 Abs. 2 AktG der Inanspruchnahme aus § 62 AktG nicht entgegen144. Die von Altmeppen befürchtete „Haftungslücke“145 existiert somit nicht146; es gibt somit auch keinen Grund, in Abweichung zu § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG den nicht eingetragenen wahren Aktionär von Seiten der AG in Anspruch zu nehmen. Dies gilt auch dann, wenn etwa nach Löschung des Veräußerers der Erwerber der Aktie mangels fehlender Mitteilung147 nicht eingetragen, sondern stattdessen ein Leerposten (freier Melde-

__________

136 RGZ 86, 154, 159. 137 Zur Bedeutung der „Zuckerrüben-Aktiengesellschaften“ näher Bayer in Bayer/ Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, Kap. 17 Rz. 82 ff. 138 So RGZ 79, 162, 164 mit der Begründung, die AG könne vom Erben die für die „Berichtigung“ im Aktienregister erforderlichen Erklärungen verlangen (dazu näher unten IV. 1.b). 139 RGZ 86, 154, 159. 140 Zum HGB: OLG Köln, OLGE 11, 384; Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 11 m. w. N.; zum AktG 1937: R. Fischer (Fn. 129), § 62 Anm. 17; zum AktG 1965: Barz (Fn. 55), § 67 Anm. 16; Bungeroth (Fn. 134), § 67 Rz. 34; v. Godin/Wilhelmi (Fn. 108), § 67 Anm. 4. 141 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 41; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 57; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 80. 142 So ausdrücklich Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33; wohl auch RGZ 86, 154, 159; vgl. weiter unter IV. 2.; a. A. Altmeppen, ZIP 2009, 345, 350; ohne nähere Diskussion zust. Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 39. 143 Zu Einzelheiten: Bayer (Fn. 35), § 65 Rz. 12 ff.; Hüffer (Fn. 35), § 65 Rz. 2 ff. m. w. N. 144 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 42; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 84, 85; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 83; insoweit auch Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 39. 145 Altmeppen, ZIP 2009, 345, 349 f.; zust. Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 39. 146 Richtig Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 33. 147 Dazu näher unter III. 2.a) und 3.b).

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bestand) vermerkt wird148. Denn hier kann die AG die Eintragung des depotführenden Kreditinstituts als Platzhalter verlangen (§ 67 Abs. 4 Satz 2 AktG)149 und das Kaduzierungsverfahren betreiben150. Anschließend kann der Haftungsregress auf den Veräußerer als Vormann erfolgen151. 6. Übertragung der aktienrechtlichen Grundsätze auf die GmbH? Auch im Rahmen von § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG gilt der Grundsatz der Legitimationswirkung zugunsten und zu Lasten des Eingetragenen; auch hier ist die Legitimationswirkung von der materiellen Rechtslage entkoppelt152. So kann – ungeachtet der materiellen Rechtsstellung – nur der in der Gesellschafterliste Eingetragene gegenüber der GmbH Gesellschafterrechte geltend machen153; die GmbH darf einen Nichteingetragenen keinesfalls als Gesellschafter behandeln154, während sie den Eingetragenen auch dann als Gesellschafter anerkennen muss, wenn ihr die materielle Unrichtigkeit der Gesellschafterstellung bekannt ist155. Umgekehrt haftet gegenüber der GmbH auch nur der in der Gesellschafterliste Eingetragene156. Der insoweit abweichenden Auffassung von Altmeppen, wonach die GmbH stets den wahren, aber nicht eingetragenen Gesellschafter in Anspruch nehmen kann157, ist somit nicht zu folgen. Da die Gesellschafterliste nur neu erstellt werden darf, nachdem eine Rechtsänderung wirksam geworden ist, geht eine Satzungsregelung, welche die Eintragung in die Liste zur Bedingung der Rechtsveränderung macht und somit die Entkoppelung zur materiellen Rechtslage überwinden will158, ins Leere159. Es ist indes zulässig, dass in der Satzung oder auch im Abtretungsvertrag die Mitteilung an den Geschäftsführer zur Bedingung für den Rechtsübergang gemacht wird160.

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S. zur Eintragung eines Leerpostens: oben I. 5. Näher Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 82. Richtig Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 82, 63. Übersehen von Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 39. Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 19, 22; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 8; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 154; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 20; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 26, 34. Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 28; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 9; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 20; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 124; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 34. Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 28; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 10; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 20; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 34. Abw. Ising, NZG 2010, 812, 815 (Verstoß gegen Treu und Glauben). Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 28; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 161; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 146 ff.; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 9, 16; Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 6, 10. Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 39; ausf. ders., ZIP 2009, 345, 352. So vorgeschlagen von Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 1. Wie hier Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 94 a. E.; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 149. Richtig Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 149.

Gesellschafterliste und Aktienregister

III. Ordnungsgemäße Eintragung 1. Grundsatz Die weitreichende Legitimationswirkung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, § 67 Abs. 2 AktG ist rechtspolitisch nur hinnehmbar, wenn die Eintragung in die Gesellschafterliste bzw. in das Aktienregister in einer Art und Weise vorgenommen wird, dass im Regelfall kein Widerspruch zur materiellen Rechtslage auftritt. Mindestvoraussetzung für diese Richtigkeitsgewähr ist, dass das gesetzliche Eintragungsverfahren im Großen und Ganzen eingehalten wird, d. h. nicht an schwerwiegenden Mängeln leidet161, und dass die Eintragung auch demjenigen zugerechnet werden kann, zu dessen Lasten sie wirkt162. Dies ist im Grundsatz sowohl für die AG als auch für die GmbH unbestritten163. Erfüllt daher eine Eintragung im Aktienregister bzw. in der Gesellschafterliste diese Voraussetzungen nicht, so kommt dem Eingetragenen die Legitimationswirkung gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG nicht zu; umgekehrt kann dem im Aktienregister Voreingetragenen bzw. dem aus dem Aktienregister bzw. aus der Gesellschafterliste irregulär Gelöschten von Seiten der Gesellschaft nicht entgegengehalten werden, es fehle ihm die Legitimation164. Dies gilt ungeachtet der materiellen Rechtslage165; der Mangel der unwirksamen Eintragung des materiell Berechtigten ist allerdings geheilt, sobald der Eingetragene mitgliedschaftliche Rechte ausgeübt hat166. Ist streitig, ob die Eintragung in das Aktienregister bzw. in die Gesellschafterliste ordnungsgemäß vorgenommen wurde, so trägt die Gesellschaft hierfür die Beweislast167. Daher kann es sich in der Praxis empfehlen, in der Satzung formelle Anforderungen (etwa Schriftform oä) vorzusehen168.

__________ 161 So ähnlich die Formulierung bei RG, JW 1931, 2097 f.; dazu näher unter III. 2. 162 Einzelheiten sogleich unter III. 3. 163 So für die AG Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 68 f.; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 8; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 38 f.; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 50; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 67 ff.; vgl. aus dem älteren Schrifttum nur Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 7 m. w. N.; für die GmbH: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 11; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 13 f.; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 5; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 43; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 23; im Grundsatz auch Heidinger (Fn. 98), § 16 Rz. 32 mit dem zutreffenden Hinweis, dass zwischen § 16 Abs. 1 und Abs. 3 GmbHG zu differenzieren ist; vgl. dazu auch unter 4. 164 So bereits RGZ 86, 154, 159; RGZ 123, 279, 285; vgl. aus neuerer Zeit auch OLG Zweibrücken, AG 1997, 140, OLG Jena, AG 2004, 268, 270. 165 So explizit und zutreffend Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 70; vgl. weiter Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 45. 166 So zutreffend für die AG: Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 70, 91; für die GmbH zustimmend Heidinger (Fn. 98), § 16 Rz. 65; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 56. 167 So zutreffend für die AG bereits RG, JW 1906, 433; ebenso Staub/Pinner (Fn. 128), § 223 Anm. 6; a. A. (für GmbH) neuerdings Reymann, BB 2009, 506, 509. 168 Für GmbH: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 19; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 45; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 22 m. w. N., inwieweit dies in der AG zulässig ist, ist allerdings umstritten und ungeklärt; vgl. einerseits Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 68 (zulässig), andererseits Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 97 (unzulässig).

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2. Eintragungsverfahren a) Bei der AG darf die Änderung im Aktienregister nur vom Vorstand bzw. seinen beauftragten Hilfspersonen vorgenommen werden169, und zwar grundsätzlich nur aufgrund einer zurechenbaren Mitteilung170. Ist zusätzlich der Nachweis des Rechtsübergangs erbracht171, so hat die AG die Umschreibung im Aktienregister unverzüglich vorzunehmen172. Eine eng begrenzte Ausnahme gilt für kurze Zeit vor Durchführung der Hauptversammlung (Umschreibestopp)173. Wird hingegen eine Person ohne jede Mitteilung174 oder irrtümlich eine falsche Person175 als Aktionär eingetragen, so wird keine Legitimationswirkung begründet176. Gleiches gilt, wenn die Eintragung weder vom Vorstand noch von einem hierzu bevollmächtigten Dritten vorgenommen wird177. b) Bei der GmbH ist zu differenzieren: Das Eintragungsverfahren ist bei Zuständigkeit des Geschäftsführers (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 GmbHG)178 nur dann ordnungsgemäß, wenn er die Gesellschafterliste aufgrund einer nachgewiesenen Rechtsänderung und einer zurechenbaren Mitteilung zum Handelsregister eingereicht hat179. Die Einreichung einer Gesellschafterliste durch den Geschäftsführer, die nicht aufgrund einer Mitteilung über eine Veränderung180, oder gar gegen den Widerspruch des materiell Betroffenen181 erfolgt182, ist ebenso unbeachtlich wie eine Liste, in die entgegen der Mitteilung versehentlich eine falsche Person eingetragen wird183. Gleiches gilt für eine Liste, die

__________ 169 Dazu bereits unter I. 2. 170 RGZ 123, 279, 285; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 72; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 12; Lutter/ Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 89; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 90; aus dem älteren Schrifttum Flechtheim (Fn. 128) § 223 Anm. 7 m. w. N. 171 Zu Einzelheiten: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 89 f.; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 96 ff. m. w. N. 172 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 91; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 100; Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361. 173 BGH, NZG 2009, 1270; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 20; ausf. Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361, 1362 f. 174 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 86; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 15; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 59, 74; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 50. 175 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 69; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 12; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 68; aus dem älteren Schrifttum Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 7 m. w. N. 176 S. zu Ausnahmen bei Korrekturen, die von Amts wegen vorgenommen werden, bei I. 2. sowie Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 72. 177 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 68; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 50; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 68. 178 Dazu bei I. 1. 179 Zum Verfahren: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 10 ff. m. w. N. 180 Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 53; 61; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 53, 56; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 13; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24. 181 Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 13; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 30; vorsichtiger Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 52. 182 Gleiches gilt bei widersprüchlichen Mitteilungen: Richtig Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 21. 183 Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 11; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 30; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 59; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 56; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 9.

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bewusst mit falschem Inhalt erstellt wird184, etwa weil der Geschäftsführer die Unrichtigkeit der Mitteilung kennt185. Dagegen steht ein unzulänglicher Nachweis der Legitimationswirkung nicht entgegen186. Der Notar erstellt hingegen die Gesellschafterliste im Rahmen seiner Zuständigkeit (vgl. § 40 Abs. 2 Satz 1 GmbHG)187, von Amts wegen, also losgelöst von jeglicher Mitteilung und weiteren Nachweisen188. Doch kommt auch der vom Notar in Kenntnis der Unrichtigkeit erstellten Gesellschafterliste keine Legitimationswirkung zu189. Strittig ist, ob dies auch gilt, wenn zwischen den Parteien der Anteilsübertragung Streit über deren Wirksamkeit besteht: Darf dann der Notar in eigener Machtvollkommenheit gegen den Widerspruch eines Beteiligten die Rechtsänderung als wirksam ansehen und durch Einreichung einer neuen Gesellschafterliste zumindest zeitweilig neue Fakten schaffen? Während dies teilweise verneint wird190, wird zu Recht darauf hingewiesen, dass auf diese Weise eine Obstruktion eines materiell nicht (mehr) Berechtigten möglich wäre191. Daher darf der Notar die Gesellschafterliste ändern, wenn er nach pflichtgemäßer Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die umstrittene Rechtsänderung wirksam ist. Die Erstellung und Einreichung192 einer geänderten Gesellschafterliste durch eine hierfür nicht zuständige Person, z. B. einen Gesellschafter193 oder einen ausländischen Notar194, kann die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1

__________ 184 Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 53, 76; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24. 185 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 26; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 58; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29; Kort, GmbHR 2009, 169, 170. 186 Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 59. 187 Dazu bereits bei I. 1. 188 S. Fn. 23 sowie Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 54; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 35; Hasselmann, NZG 2009, 441, 455. 189 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 26. 190 So von Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 13; zust. Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 30. 191 So richtig Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 52. 192 Insoweit abw. Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 74 (Einreichung einer ordnungsgemäß erstellten Liste durch einen Unbefugten sei unschädlich). 193 Gesellschafter sind generell nicht zuständig: Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 15, 16 m. w. N. 194 Ein ausländischer Notar ist generell nicht zuständig. Er kann lediglich als Hilfsperson für den zuständigen Geschäftsführer tätig werden: Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 27 m. w. N. Der Auffassung des OLG Düsseldorf, GmbHR 2011, 417, 420, wonach ein ausländischer Notar, der im Wege der Substitution … wirksam eine Abtretung im Ausland beurkundet hat, auch zur Einreichung der Gesellschafterliste berechtigt sei und sich im Hinblick auf das Erfordernis einer elektronischen Signatur eines inländischen Notars als Boten bedienen darf (ebenso Löbbe [Fn. 8], § 16 Rz. 48; Uwe H. Schneider [Fn. 10], § 40 Rz. 42 m. w. N.), ist nicht zu folgen. Wie hier auch Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 35; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 15; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 56 m. w. N. zum Streitstand, ausf. zur Problematik Bayer/MeierWehrsdorfer in Hauschild/Kallrath/Wachter (Hrsg.), Notarhandbuch Gesellschaftsund Unternehmensrecht, 2011, § 9 Rz. 11 ff., 24.

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GmbHG nicht begründen195, und zwar auch dann, wenn die Eintragung der materiellen Rechtslage entspricht196. Schädlich ist ebenso die Unterzeichnung der Gesellschafterliste durch nur einen von zwei gesamtvertretungsberechtigten Geschäftsführern197. Wurde die Gesellschafterliste statt vom Geschäftsführer vom Notar oder umgekehrt erstellt und eingereicht, so steht dieser Zuständigkeitsmangel angesichts der schwierigen Zuständigkeitsabgrenzung198 der Legitimationswirkung allerdings nicht entgegen199. Eine Ausnahme wird man indes bei einem gezielten Zuständigkeitsverstoß machen müssen200. Die Praxis behilft sich bei unklarer Zuständigkeitsabgrenzung damit, dass sowohl der Notar als auch der Geschäftsführer die Liste unterzeichnen201. Das Fehlen der Notarbescheinigung gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 GmbHG ist wiederum unschädlich202. c) Manipulationen, insbesondere eine gefälschte Liste203 oder auch kollusives Handeln zum Nachteil des materiell Berechtigten204, kann ebenfalls keine (Legitimations-)Wirkung beigemessen werden. Gleiches gilt für eine Eintragung, die nur zum Schein erfolgte205: Zu Recht hat daher schon das Reichsgericht entschieden, dass die AG den Aktionär, der seine Eintragung in das Aktienregister mit Wissen des Vorstands nur zum Schein beantragt hat, nicht auf Einlageleistungen in Anspruch nehmen kann206. In der Urteilsanmerkung

__________ 195 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 13; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 28; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 67, 73, 77; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 47; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 23; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 9; a. A. Hasselmann, NZG 2009, 449, 455 f.; Tebben, RNotZ 2008, 441, 454. Erst recht gilt das bei einer Fälschung durch eine unzuständige Person: Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 68; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24. 196 Insoweit abw. Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 12 im Anschluss an Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 124. 197 Wie hier Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 77; Vossius, DB 2007, 2299, 2300; Bohrer, DStR 2007, 995, 1000; a. A. Bednarz, BB 2008, 1854, 1856; Hasselmann, NZG 2009, 449, 456; Ising, NZG 2010, 812, 814; Tebben, RNotZ 2008, 441, 453 f. 198 Dazu bereits oben I. 1.c). 199 Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 78; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 69 ff.; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 50; Tebben, RNotZ 2008, 441, 454. 200 Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 78; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 72; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 50; Reymann, BB 2009, 506, 508. 201 Dies ist zulässig: OLG Hamm, Urt. v. 16.2.2010 – 15 W 322/09, I-15 322/09, BB 2010, 985 m. zust. Anm. Leitzen. 202 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 13; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 75; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 23; Kort, GmbHR 2009, 169, 172. 203 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 75; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Heidinger (Fn. 98), § 16 Rz. 76; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24; Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 11. 204 Für AG: RGZ 123, 279, 285; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 62; Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 7; für GmbH: Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 79; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 54; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 58; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29. 205 Für AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 70; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 62; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 79; a. A. Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24 im Widerspruch zu Rz. 29. 206 So RG, JW 1934, 363, 365.

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wird allerdings zutreffend darauf hingewiesen, dass es kein unwirksames Scheingeschäft (vgl. § 117 BGB) ist, wenn ein Legitimationsaktionär eingetragen wird207. d) Ebenfalls wird keine Legitimationswirkung begründet, wenn trotz Mitteilung und Nachweis die Rechtsänderung im Aktienregister bzw. in der Gesellschafterliste nicht vorgenommen wurde208. Eine Beschränkung auf Fälle von Rechtsmissbrauch (bewusste Nichteintragung) ist hier nicht veranlasst209. Auch die nur pflichtwidrige Nichteintragung trotz Mitteilung und Nachweis bzw. die pflichtwidrige Löschung ohne Mitteilung und Nachweis steht einer Legitimationswirkung entgegen; der Betroffene ist nicht nur auf Schadensersatzansprüche gegen die Gesellschaft beschränkt210. Dagegen wird zum Beispiel die Legitimationswirkung einer ordnungsgemäßen Eintragung, die auf einer Mitteilung des Erwerbers beruht, nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Gesellschaft davon Kenntnis hatte, dass die Aktien in betrügerischer Weise veräußert wurden211; denn Mängel der Rechtsübertragung sind generell unbeachtlich212. 3. Zurechnung a) Die Mitteilung muss weiterhin durch einen hierzu Befugten erfolgen. Mitteilungen von Unbefugten213 (insbesondere bei Fälschung der Mitteilung214 oder der Vollmacht215) begründen daher – ungeachtet der materiellen Rechtslage216 – keine Legitimationswirkung; ebenso wenig wie Mitteilungen von nicht

__________ 207 v. Godin, JW 1934, 363 ff.; vgl. dazu oben I. 5. 208 Anders für die AG allerdings RG, JW 1931, 2097, 2098 m. zust. Anm. F. Goldschmitt II. (Verschulden der Organe der AG sei unerheblich; daher schulde der noch eingetragene Aktienveräußerer die offene Einlage). 209 So aber Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 62; wohl auch Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 75; zu eng auch noch Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 69 (bewusste Nichteintragung). 210 So aber (für AG) Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 52, 62; wie hier jedoch Hueck/ Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 5 a. E.; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 31. 211 S. RGZ 77, 290, 294 f. 212 Dazu bereits bei II. 4 und nochmals eingehend unter III. 3.e). 213 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 70; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 59; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 72 f.; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 13, 14; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 62; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 56; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 6; insoweit unrichtig – weil nicht zwischen den Wirkungen von § 16 Abs. 1 und Abs. 3 GmbHG unterscheidend – Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 23; a. A. Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 73 und Hasselmann, NZG 2009, 486, 488 (Verstoß unbeachtlich). 214 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 70; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 72; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 79; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 57; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29. 215 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 70; für GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 14; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 6. 216 Insoweit abw. Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 72 im Anschluss an Hasselmann, NZG 2009, 486, 488.

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voll Geschäftsfähigen217. Wird die Mitteilung im Wege der vis absoluta erzwungen, so kann ebenfalls keine Zurechnung erfolgen218. b) Für das Recht der AG ist heute219 anerkannt, dass aufgrund einer (alleinigen) Mitteilung des Veräußerers zwar dessen Löschung im Aktienregister erfolgen kann, nicht hingegen die Neueintragung des Erwerbers, sofern dieser nicht zugestimmt hat220. Denn die Löschung des bisherigen Aktionärs kann auch ohne die Eintragung des neuen Aktionärs erfolgen221. Dagegen ist die Löschung des Veräußerers im Aktienregister notwendig, um den Erwerber aufgrund von dessen Mitteilung einzutragen. Doch liegt in der Veräußerung der Aktie zwingend auch die Zustimmung zur Löschung222. Behauptet der Erwerber unzutreffend eine Rechtsübertragung, so wird er regelmäßig den erforderlichen Nachweis nicht führen können. Wird der Veräußerer dennoch aufgrund einer wahrheitswidrigen Mitteilung gelöscht, dann fehlt es allerdings an der Zurechnung und die Legitimationswirkung des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG greift nicht ein223. c) Bei der GmbH ist für den Hauptfall der Anteilsübertragung aufgrund von §§ 15 Abs. 3, 40 Abs. 2 Satz 1 GmbHG keine Mitteilung erforderlich; der beurkundende Notar reicht die geänderte Gesellschafterliste vielmehr von Amts wegen ein224. Im Zuständigkeitsbereich des Geschäftsführers ist grundsätzlich jeder von der Rechtsänderung betroffene Gesellschafter mitteilungsbefugt; ähnlich wie im Falle der Aktienübertragung kann aufgrund einer einseitigen Mitteilung die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG jedoch nur begründet werden, wenn die Eintragung dem aus der Gesellschafterliste Gelöschten bzw. dem neu Eingetragenen zugerechnet werden kann225. d) Sonstige Nichtigkeits- oder Anfechtungsgründe, die gegen die Mitteilung oder die Bevollmächtigung eines Dritten ins Feld geführt werden, berühren nach heute ganz h. M. die Eintragung nicht226, sondern können nur mit Wir-

__________ 217 Für die AG: RGZ 92, 315, 317 f.; RGZ 123, 279, 285; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 74; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 59; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 71 f.; für die GmbH: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 11; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 63; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 57; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 25, 29. 218 Für die GmbH: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 11; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 57; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 24, 29. 219 Zur Rechtsentwicklung zusammenfassend Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 79 m. w. N. 220 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 80; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 16; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 62. 221 Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 62; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 80, 87; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 19; Drygala, NZG 2004, 893; dazu auch unter I. 5. 222 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 81; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 62; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 16; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 90 f.; Müller-von Pilchau, AG 2007, 181, 187; Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010), 12, 37; Reymann, BB 2009, 506, 507. 223 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 81; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 62. 224 S. bereits bei I. 1. und III. 2. 225 In diesem Sinne auch Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 20; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 18; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 46. 226 Abw. noch RGZ 123, 279, 285 für Anfechtung der Mitteilung.

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kung ex nunc geltend gemacht werden227, d. h. im Wege einer Korrektur von Aktienregister bzw. Gesellschafterliste228. Ist allerdings die Rechtsänderung im Aktienregister noch nicht vorgenommen bzw. die Gesellschafterliste noch nicht zum Handelsregister eingereicht, so ist die Geltendmachung von Nichtigkeits- bzw. Anfechtungsgründen als zulässige Rücknahme229 zu qualifizieren und die Eintragung bzw. Einreichung hat zu unterbleiben230. e) Mängel der Rechtsänderung oder des der Rechtsänderung zugrunde liegenden Kausalgeschäfts sind hingegen für die Legitimationswirkung der Eintragung ohne jede Bedeutung231. Dies gilt aufgrund der Abkoppelung der Legitimationswirkung von der materiellen Rechtslage232 ausnahmslos. Die gegenteilige Auffassung, die für bestimmte qualifizierte Mängel einer materiell unwirksamen Rechtsübertragung Ausnahmen zulassen will, wenn etwa der Veräußerer des Anteils geschäftsunfähig war oder vis absoluta angewendet wurde oder ein vollmachtloser Vertreter gehandelt hat233, ist verkürzend und zumindest missverständlich, denn es wird in unzulässiger Weise die Ebene der Zurechnung der Mitteilung mit der Ebene der Wirksamkeit der Rechtsänderung vermengt234. Der Grund für diese Vermengung resultiert im Aktienrecht aus der Befürchtung, dass andernfalls der (geschäftsunfähige, gezwungene, nicht vertretene) Veräußerer der Aktie seine Rechtsstellung an den Scheinerwerber verlieren könnte, wenn dieser den vermeintlichen Erwerb formal ordnungsgemäß der AG mitteilt235. Dies ist jedoch ein Trugschluss: Denn ohne die Zustimmung des Veräußerers zur Löschung kann der Erwerber nicht in das Aktienregister

__________ 227 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 75; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 71; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 69; nicht ganz eindeutig RGZ 86, 154, 159; nur terminologisch weitergehend RGZ 92, 315, 317 f. (Zustimmung zur Eintragung durch Geschäftsunfähigen); für die GmbH: Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 59; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29; Zöllner/ Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 22. 228 Zum Verfahren ausf. unter IV. 229 Ob auch die fehlerfreie Mitteilung zurückgenommen werden kann, ist allerdings streitig; dafür die h. M. im Aktienrecht, vgl. nur Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 76; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 72; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 99; dagegen im GmbH-Recht Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 38; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 31; anders Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 17; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 44; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 22. 230 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 76; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 72; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 99; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 17; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 59; insoweit auch Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 31. 231 Für die AG: RG, JW 1910, 154; RG, LZ 1915, 1150; RGZ 86, 154, 159 f.; RGZ 123, 279, 285; Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 77; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 73; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 73; Flechtheim (Fn. 128), § 223 Anm. 7 m. w. N. zum damaligen Streitstand; für die GmbH: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 14; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 25, 26; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 45, 46 ff.; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 79 ff. 232 Dazu bereits unter II. 2. 233 So nachdrücklich zur AG: Lutter (Fn. 55), § 67 Rz. 28; vgl. auch (allerdings weniger deutlich) Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 59 i. V. m. 60; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 71 i. V. m. 73, ebenso zur GmbH: Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 82; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 26; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 86 ff.; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 51 m. w. N. 234 Zur Kritik bereits (für AG) Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 77. 235 So deutlich etwa Lutter (Fn. 55), § 67 Rz. 28.

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eingetragen werden; seine Mitteilung an die AG enthält daher zugleich die Erklärung, der Veräußerer habe der Löschung zugestimmt236. Eine solche Zustimmung wird bei Wirksamkeit des Anteilserwerbs in der Regel konkludent erteilt. Ist der Anteilserwerb jedoch unwirksam, weil der Veräußerer geschäftsunfähig war, durch vis absoluta gezwungen wurde oder für ihn ein vollmachtloser Vertreter gehandelt hat, dann fehlt es an der erforderlichen Zustimmung und deshalb an der Zurechenbarkeit der Eintragung im Aktienregister237. In diesem – verkürzenden Sinne – hindert somit Geschäftsunfähigkeit, vis absoluta usw. im Zusammenhang mit der Rechtsübertragung die Zurechenbarkeit der Mitteilung. Die Unrichtigkeit dieser verkürzenden und vermengenden Betrachtungsweise zeigt sich jedoch dann, wenn trotz des qualifizierten Mangels der Rechtsübertragung der damals geschäftsunfähige Veräußerer nunmehr wieder geschäftsfähig der AG ordnungsgemäß den Aktienerwerb mitteilt: Jetzt steht der Legitimationswirkung trotz des materiell nach wie vor unwirksamen Rechtserwerbs kein Hindernis entgegen; die damalige Geschäftsunfähigkeit des Veräußerers hindert die Zurechnung gerade nicht. Trotz weitgehend übereinstimmendem Ergebnis238 ist somit dogmatisch zwischen fehlender Zurechnung der Mitteilung (keine Legitimationswirkung der Eintragung) und Mängeln der Rechtsänderung (unerheblich) strikt zu unterscheiden. Dies gilt in gleicher Weise für § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG n. F.: Auch dort hat die h. M. zum früheren GmbH-Recht die verfehlte aktienrechtliche Sichtweise übernommen: Trotz formal ordnungsgemäßer Anmeldung, sei es durch den Erwerber, sei es durch den Veräußerer239, sollten die Rechtswirkungen des § 16 Abs. 1 GmbHG a. F. – wonach der Erwerber des Geschäftsanteils nur nach ordnungsgemäßer Anmeldung gegenüber der GmbH in die Gesellschafterstellung einrücken konnte240 – dann nicht eintreten, wenn die Anteilsübertragung wegen Geschäftsunfähigkeit, vis absoluta, Fälschung oder Handeln eines vollmachtlosen Vertreters unwirksam war und deshalb dem Berechtigten nicht zugerechnet werden konnte241. Auch hier wurde die Ebene der Zurechnung der Anmeldung nicht sorgfältig von der Ebene der Rechtsänderung getrennt242. Dogmatisch ist indes auch hier die Trennung der Ebenen strikt zu beachten. Irrig ist es daher, wenn zu § 16 Abs. 1 GmbHG n. F. in Fortführung der bisherigen Auffassung die Zurechnung zum einen verneint wird, weil die Mitteilung infolge Geschäftsunfähigkeit, vis absoluta usw. unwirksam ist243, zum anderen

__________

236 S. bereits bei Fn. 220. 237 So i. E. Baumbach/Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, § 67 Anm. 10; Barz (Fn. 55), § 67 Anm. 5; trotz terminologischer Abweichung in der Sache auch Bungeroth (Fn. 134), § 67 Rz. 44. 238 So bereits Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 77; zustimmend Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 73. 239 Sowohl der Veräußerer als auch der Erwerber sollten die Anteilsübertragung gegenüber der GmbH „anmelden“ und die Wirkungen des § 16 Abs. 1 GmbHG a. F. herbeiführen können: Für alle Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 9, 10 m. w. N. 240 Ausf. Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 24, 27. 241 So etwa Winter/Löbbe (Fn. 29), § 16 Rz. 51 m. w. N. 242 Kritik daher bereits bei Lutter/Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 11. 243 So deutlich bei Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 63, 68; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29.

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aber auch, wenn die Anteilsübertragung an eben diesen Mängeln leidet244. Diese Doppelung ist verfehlt. Zu fragen ist vielmehr nur, ob der Mangel im Rahmen der Rechtsänderung auf die Mitteilung „durchschlägt“ und somit eine Zurechnung verhindert245. 4. Besonderheiten im Hinblick auf den gutgläubigen Erwerb von GmbHGeschäftsanteilen Die Gesellschafterliste ist nach der MoMiG-Reform auch Rechtsscheinträger für den gutgläubigen Erwerb von Geschäftsanteilen246. Voraussetzung ist, dass die Gesellschafterliste in den für das entsprechende Registerblatt bestimmten Registerordner des zuständigen Handelsregisters aufgenommen wurde und zumindest ihrem äußeren Anschein nach den formalen Anforderungen des § 40 GmbHG entspricht247. Während hingegen zur Begründung der Legitimationswirkung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG weitergehende Erfordernisse erfüllt sein müssen, gilt im Hinblick auf den gutgläubigen Erwerb eine differenzierende Betrachtung248: Insbesondere ist nicht erforderlich, dass die materiell fehlerhafte Liste dem Berechtigten zugerechnet werden kann249. So kann etwa auch die gefälschte Liste oder auch eine Liste, die aufgrund einer Mitteilung eines Geschäftsunfähigen erstellt und in das Handelsregister aufgenommen wurde, Rechtsscheinträger für einen gutgläubigen Erwerb sein250. Dieses Ergebnis mag im Hinblick auf die allgemeine Dogmatik des gutgläubigen Erwerbs kritikwürdig sein251. Es folgt indes aus der Konzeption des MoMiG-Gesetzgebers, der den gutgläubigen Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen auch dann ermöglicht, wenn die Fehlerhaftigkeit der Gesellschafterliste dem Berechtigten nicht zuzurechnen ist; der gutgläubige Erwerb kann in diesem Fall lediglich erst nach einer Frist von drei Jahren erfolgen252.

__________ 244 Wiederum Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 51; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 26. 245 So in der Sache (für AG) auch Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 73, (für GmbH) Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 17. 246 Näher Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 52 ff.; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 142 ff.; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 200 ff.; Lieder, AcP 210 (2010), 857, 898 ff.; ders., Jura 2010, 801, 804 ff. 247 So bereits Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 53 m. w. N. 248 So auch Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 26, 54, 55; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 64; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 217; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 44; Kort, GmbHR 2009, 169, 170; Reymann, BB 2009, 506, 510. 249 Wie hier die h. M.: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 54; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 224; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 197 f.; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 33; nicht ganz eindeutig und tendenziell abw. Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 49; ebenfalls unklar Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 82. 250 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 54, 55; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 43 ff.; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 198; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 29; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 217, 221, 224; Apfelbaum, BB 2008, 2470, 2472; Hasselmann, NZG 2009, 486, 487; Reymann, BB 2009, 506, 510; Vossius, DB 2007, 2299, 2301; a. A. Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 14; Bohrer, DStR 2007, 995, 998; Link, RNotZ 2009, 193, 216; ausf. Lieder, AcP 210 (2010), 857, 898 ff. 251 Dazu ausf. Lieder, AcP 210 (2010), 857, 898 ff. 252 Hierzu, auch zur Fristberechnung, Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 77 ff.

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IV. Korrektur einer unrichtigen Eintragung Das Aktienrecht sieht für den Fall, dass „jemand … zu Unrecht als Aktionär in das Aktienregister eingetragen“ wurde, in § 67 Abs. 5 AktG ein spezielles „Korrekturverfahren“ vor: Der Eingetragene wird gelöscht, so dass nunmehr wieder der unmittelbare Vormann, d. h. der Voreingetragene in die Aktionärsstellung einrückt. Hat dieser etwa die Aktien an einen Erwerber übertragen, so ist anschließend dieser im regulären Mitteilungs- und Nachweisverfahren gemäß § 67 Abs. 3 AktG253 in das Aktienregister einzutragen. Das Löschungsverfahren gemäß § 67 Abs. 5 AktG erfasst sowohl den Fall, dass die Eintragung entgegen der materiellen Rechtslage bewirkt wurde254, als auch den Fall, dass die Eintragung an einem schwerwiegenden Mangel leidet255, und zwar selbst, wenn diese nicht ordnungsgemäße Eintragung der materiellen Rechtslage entspricht256. Auch wenn die Legitimationswirkung des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG bei schwerwiegenden Mängeln des Eintragungsverfahrens nicht gilt257, so ist es doch der AG generell258 untersagt, das Aktienregister eigenmächtig zu korrigieren259. Eine solche eigenmächtige Korrektur260 ist wirkungslos261. Dagegen gilt § 67 Abs. 5 AktG analog, sofern im ordnungsgemäßen Löschungsverfahren (also gemäß § 67 Abs. 5 AktG) eine Löschung zu Unrecht erfolgt ist262. 1. Verfahren a) Ist der Vorstand der AG der Auffassung, dass eine Eintragung im Aktienregister zu Unrecht erfolgt ist, so ist er verpflichtet, das Löschungsverfahren einzuleiten263. Alle Personen, deren Rechte durch die Löschung berührt werden (sog. Beteiligte)264, sind über die beabsichtigte Löschung zu informieren und es ist ihnen eine angemessene Frist zur Erhebung eines Widerspruchs zu setzen265. Stimmen alle Beteiligten ausdrücklich zu oder unterbleibt ein frist-

__________ 253 Dazu unter III. 254 Insbesondere auch Unrichtigkeiten nach erfolgter Anfechtung: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 104; vgl. weiter Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 130. 255 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 104 f.; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 33; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 87; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 129; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 121. 256 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 105; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 23; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 127; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 121. 257 Dazu ausf. unter III. 258 Zur Abgrenzung von sog. einfachen Berichtungen: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 102 f.; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 90; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 124 ff. 259 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 105; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 33; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 91; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 133; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 118, vgl. dazu bei II. 2. 260 Dazu auch unter III. 261 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 121 ff. m. w. N. 262 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 125 m. w. N. 263 Keine Ermessensentscheidung: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 106; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 32; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 145; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 151; vgl. auch OLG Jena, AG 2004, 268, 270. 264 Ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 108 m. w. N. 265 Ausf. Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 107 ff.

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gerechter Widerspruch, dann darf die AG eine unberechtigte Eintragung löschen266. Wird hingegen – auch offensichtlich unbegründet – widersprochen, so hat die Löschung zu unterbleiben, und zwar auch dann, wenn die zu löschende Eintragung offensichtlich zu Unrecht erfolgt ist267. Die AG sowie jeder Beteiligte kann nunmehr gegen den Widersprechenden auf Rücknahme des Widerspruchs klagen268; eine Verpflichtung der AG, die Klage auf eigenes (Kosten-)Risiko durchzuführen, besteht allerdings nicht269. Die unwiderlegbare Vermutung des § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG gilt im Rahmen des Löschungsverfahrens nicht270. Daher gelten die allgemeinen Regeln der Darlegungs- und Beweislast: die Beweislast trägt demnach derjenige, der die Unrichtigkeit der Liste behauptet271. b) Der MoMiG-Gesetzgeber hat das Verfahren gemäß § 67 Abs. 5 AktG nicht explizit in das GmbH-Recht übernommen272. Daher ist unklar, wie zu verfahren ist, wenn der Notar bzw. der Geschäftsführer aufgrund zwischenzeitlicher Kenntnis der Auffassung ist, dass die aktuelle Gesellschafterliste unrichtig ist, sei es, weil das vorangegangene Eintragungsverfahren an einem schwerwiegenden Mangel leidet273, sei es, weil die materielle Rechtsänderung, die zur Erstellung der neuen Gesellschafterliste geführt hat, gar nicht stattgefunden hat (Beispiel: Gesellschafter ist auf Auslandsreise gar nicht verstorben), unwirksam war (Beispiele: unzulässige Einziehung oder nicht ordnungsgemäß beurkundeter Anteilserwerb) oder nachträglich vernichtet wurde (Beispiel: Anfechtung des Anteilserwerbs wegen arglistiger Täuschung). Ausgangspunkt aller Überlegungen hierzu ist, dass es – ebenso wie im Aktienrecht – sowohl dem Notar als auch dem Geschäftsführer grundsätzlich verwehrt ist, die Unrichtigkeit durch Einreichung einer neuen, geänderten Gesellschafterliste eigenmächtig zu korrigieren; mangels tatbestandlicher „Veränderung“ i. S. von § 40 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GmbHG fehlt hierzu jede Kompetenz274. Der Notar ist somit „schlichtweg aus dem Spiel“ und kann lediglich die Betroffenen und die Gesellschaft auf seinen Rechtsstandpunkt hinweisen. Allein im Falle, dass der Notar die Unrichtigkeit der von ihm selbst erstellten und eingereichten Liste erkennt, kommt die Einreichung einer neuen – korrigierten – Liste in Betracht275.

__________ 266 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 112; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 35. 267 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 123; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 97; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 25; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 139; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 133. 268 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 114; Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 97. 269 Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 115; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 145 (allg. M.). 270 Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 119, 136. 271 So zutreffend Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 42 a. E. 272 Dies anregend Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2007, 211, 214. 273 Dazu eingehend unter III. 274 So dezidiert Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 6; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 13; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 38; i. E. auch Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 22; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 17; Bednarz, BB 2008, 1854, 1859; Mayer, DNotZ 2008, 403, 412. 275 Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 32.

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Zu den Aufgaben des Geschäftsführers gehört indes, für die Richtigkeit der Gesellschafterliste zu sorgen, so dass er im Falle seiner Kenntnis von der Unrichtigkeit verpflichtet ist, die Betroffenen – also den Listengesellschafter sowie den nach seiner Auffassung wahren Gesellschafter – zu informieren und zur Klärung der Sach- und Rechtslage aufzufordern276. Darüber hinaus kann auch die Gesellschafterversammlung mit der Problematik befasst werden277. Ein Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung besteht indes nicht, die Aufgabe zur Überwachung der Gesellschafterliste ist vielmehr eine höchstpersönliche Pflicht der Geschäftsführer278. Wird über die Korrektur der Gesellschafterliste Einigkeit erzielt, dann hat der Geschäftsführer die Liste zu ändern und zum Handelsregister einzureichen. Erfolgt allerdings ein Widerspruch eines Betroffenen – insbesondere des Listengesellschafters – gegen die Korrektur der Gesellschafterliste, dann ist dem Geschäftsführer eine solche Korrektur verwehrt (§ 67 Abs. 5 AktG analog)279. Der Streit ist vielmehr zwischen den Betroffenen auszutragen; doch kann auch die GmbH Klage gegen den nach ihrer Ansicht fehlerhaft Eingetragenen auf Zustimmung zur Änderung der Gesellschafterliste (bzw. Rücknahme seines Widerspruchs) erheben280. Für die Zwischenzeit hat die GmbH die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zu beachten281. Zur Vermeidung eines gutgläubigen Erwerbs kann der wahre Gesellschafter gegen den Scheingesellschafter einen Widerspruch erwirken282. Hierdurch wird indes allein der gutgläubige Erwerb verhindert (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 GmbHG), während die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG unberührt bleibt283. Entgegen verbreiteter Auffassung kann indes allein derjenige, der geltend macht, er sei anstelle des Eingetragenen der wahre Inhaber des Geschäftsanteils, einen Widerspruch im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens beantragen284, nicht hingegen sonstige Dritte wie Mitgesellschafter oder Geschäftsführer285. In der Regierungsbegründung zum MoMiG heißt es hierzu, dass „zur Verhinderung von Missbräuchen“ die „Zuordnung

__________

276 So im Anschluss an Begr. RegE BT-Drucks. 16/6140, S. 37: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 40, § 40 Rz. 7; Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 22; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 42; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 55; Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 39; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 5; Kort, GmbHR 2009, 169, 171; a. A. Bednarz, BB 2008, 1854, 1859. 277 Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 22; Uwe H. Schneider (Fn. 10), § 40 Rz. 393, 395; zu eng Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 51. 278 Bayer (Fn. 7), § 40 Rz. 17; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 51. 279 Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 42; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 6; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 42; Wicke (Fn. 16), § 16 Rz. 5; a. A. Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 39; ausf. auch C. Goette/Liebscher, DStR 2010, 2038, 2042 ff. 280 Richtig Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 40 ff.; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 6; Paefgen (Fn. 15), § 40 Rz. 51. 281 So auch Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 41; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 6. 282 Ausf. Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 70 ff. m. w. N. 283 Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 71; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 7; Harbarth, ZIP 2008, 57, 60; Kort, GmbHR 2009, 169, 175 (allg. M.). 284 Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2007, 735, 739. 285 So bereits Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 74; ebenso Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 94; a. A. etwa Harbarth, ZIP 2008, 57, 61; Kort, GmbHR 2009, 169, 175; D. Mayer, DNotZ 2008, 403, 422 f.

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eines Widerspruchs in Anlehnung an § 899 Abs. 2 BGB“ nur dann in Betracht kommt, wenn „derjenige zustimmt, gegen dessen Inhaberschaft sich der Widerspruch richtet, oder eine entsprechende einstweilige Verfügung vorliegt, die nur erlassen wird, wenn der Anspruch auf Einreichung einer korrigierten Liste glaubhaft gemacht ist“286. 2. Rechtsfolgen Nach der Korrektur von Aktienregister bzw. Gesellschafterliste – durch Wiedereintragung des wahren Aktionärs/Gesellschafters – greift die Legitimationswirkung gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG wieder zugunsten wie zu Lasten des Eingetragenen287. Mit Wirkung ex nunc haftet der bislang materiell zu Unrecht eingetragene Scheinaktionär/-gesellschafter weder für neue noch für alte Verpflichtungen, die aus der Mitgliedschaft folgen288. Er haftet auch nicht als Rechtsvorgänger des wiedereingetragenen Aktionärs/ Gesellschafters nach § 65 AktG bzw. § 22 GmbHG289. Bereits erbrachte Leistungen sind indes im Verhältnis zur AG/GmbH nicht rückabzuwickeln, da sie aufgrund der Legitimationswirkung gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG mit Rechtsgrund erbracht wurden290; der Ausgleich291 kann allein im Verhältnis des leistenden Scheinaktionärs/-gesellschafters zum wahren Aktionär/Gesellschafter erfolgen292. Umstritten ist allerdings – für das Recht der GmbH –, ob die Befreiung des Scheingesellschafters nach erfolgter Korrektur der Gesellschafterliste auch im Hinblick auf solche Verpflichtungen eintritt, die bereits in der Vergangenheit fällig waren, aber noch nicht geleistet wurden. Die h. M. begründet die fortdauernde Leistungspflicht des Scheingesellschafters mit dem Argument, er

__________ 286 Begr. RegE zum MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 39. 287 Für die AG: Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 142; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 141; für die GmbH: Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 199. 288 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 118; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 99; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 26; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 16, 48; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 31; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 199; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 84; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 56. 289 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 118; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 143; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 141; vgl. weiter Bungeroth (Fn. 134), § 67 Rz. 86 m. w. N. zum älteren Schrifttum; für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 16, 48; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 31; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 199; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 84; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29, 56; zur Rechtslage vor dem MoMiG ebenso: Reichert/Weller (Fn. 109), § 16 Rz. 63; Grunewald, ZGR 1991, 452, 462; Zutt in FS Oppenhoff, 1985, S. 555, 567. 290 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 118; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 99; Hüffer (Fn. 35), § 67 Rz. 26; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 143; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 141; a. A. noch v. Godin/Wilhelmi (Fn. 108), § 67 Anm. 7; für die GmbH: Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 37; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 16; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 31; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 189; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 85; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 29; Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 150. 291 Dazu bereits oben II. 2. 292 Für die AG: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 119; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 99; Lutter/Drygala (Fn. 35), § 67 Rz. 144; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 142.

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dürfe sich aus der Verzögerung der fällig gestellten Forderung keinen Vorteil gegenüber einer fristgerechten Leistung verschaffen293. Dieses „Belohnungsargument“ überzeugt indes nicht294. Denn mit Kenntnis der Unwirksamkeit der eingetragenen Rechtsänderung ist die GmbH verpflichtet, die Gesellschafterliste wieder zu ändern und zum Handelsregister einzureichen295; ab diesem Zeitpunkt haftet wieder der „formale Rechtsvorgänger“, der jedoch materiellrechtlich seine Gesellschafterstellung nie verloren hat296. Es ist nun nicht gerechtfertigt, für einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt den Scheingesellschafter in Anspruch zu nehmen; insoweit würde die Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG in begriffsjuristischer und damit kritikwürdiger Weise überdehnt297. Die Gesellschaft würde andernfalls auf der Grundlage einer lediglich formal begründeten Gläubigerstellung in die Vermögensrechte eines Nichtschuldners eingreifen, dem dann zwar Regressansprüche gegenüber dem wahren Gesellschafter zustehen, ihn jedoch ohne innere Rechtfertigung mit dessen Insolvenzrisiko belasten. Dogmatisch und rechtspolitisch überzeugend ist daher insoweit nur eine teleologische Reduktion der nach ihrem Wortlaut zu weiten Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG. In diesem Sinne hat der BGH kürzlich entschieden, dass die Haftung für rückständige Stammeinlagen nach § 16 Abs. 3 GmbHG a. F. einen wirksamen Abtretungsvertrag und eine wirksame Anmeldung nach § 16 Abs. 1 GmbHG a. F. voraussetzt298. Gleiches muss auch für die AG gelten299. Auch die h. M. folgt dieser Auffassung übrigens, wenn der Geschäftsführung der GmbH die Anfechtbarkeit der Rechtsübertragung im Rahmen der Anmeldung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG a. F. bekannt oder grob fahrlässig unbekannt war300.

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293 BGHZ 84, 47, 49 ff.; BGH, NJW 1990, 1915; BGH, ZIP 1991, 724, 726; BGH, NJW 2007, 1058, 1059; OLG Hamm, GmbHR 1985, 22, 23; OLG Celle, NZG 2000, 1034, 1035; Reichert/Weller (Fn. 109), § 16 Rz. 96; Pentz (Fn. 109), § 16 Rz. 41; ebenso für das neue Recht: Ebbing (Fn. 47), § 16 Rz. 153; Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 180, 198; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 56. 294 Abl. bereits Limmer, ZIP 1993, 412, 417 f.; K. Müller, GmbHR 1996, 881, 885; Weiler, ZIP 2006, 1754, 1760; Krafczik/Gerlach, GmbHR 2006, 1038; zust. jedoch Pentz, DStR 2006, 855, 857 ff. 295 Dazu oben I. 5. 296 So zutreffend schon RG, JW 1915, 588, 589; insoweit auch BGHZ 84, 47, 50. 297 Altmeppen (Fn. 16), § 16 Rz. 35 ff.; Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 47; Brandes (Fn. 8), § 16 Rz. 34; Hueck/Fastrich (Fn. 68), § 16 Rz. 24; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 118; aus der Rspr. auch OLG Hamm, GmbHR 2006, 252 ff. (zur Rechtslage vor dem MoMiG); vgl. auch RG, DJZ 1897, 385 und RG, JW 1915, 588. 298 BGH, ZIP 2010, 1446 Tz. 5. 299 Insoweit ist der Kritik von Altmeppen, ZIP 2009, 345, 350 beizutreten. Allerdings verkennt Altmeppen, dass die h. L. diesen Standpunkt für das Recht der GmbH bereits vor dem MoMiG eingenommen hat. Für das Recht der AG wurde die Problematik, ob fällige, aber noch nicht erbrachte Leistungen auch noch nach erfolgter Löschung im Aktienregister vom bislang eingetragenen Scheinaktionär gefordert werden können, in der Vergangenheit nie erörtert. Neuerdings wohl wie hier Bezzenberger (Fn. 59), § 67 Rz. 36 a. E. 300 So OLG Hamburg, NJW-RR 1998, 899, 900 im Anschluss an Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 274 und K. Schmidt, BB 1988, 1053, 1059; a. A. jedoch auch insoweit Pentz, DStR 2006, 855, 859.

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V. Weitere Einschränkungen der Legitimationswirkung Eine Einschränkung der Legitimationswirkung wird man über die unter III. beschriebenen Sachverhalte hinaus dann machen müssen, wenn der Gesellschaft eine Rechtsänderung mitgeteilt und nachgewiesen wurde301, diese aber noch nicht zu einer Änderung des Aktienregisters bzw. der Gesellschafterliste geführt hat. Hier hat die Pflicht zum unverzüglichen Handeln seitens des Vorstands der AG bzw. der Geschäftsführung der GmbH302 zur Folge, dass die materielle Rechtslage nicht ignoriert werden darf; die Gesellschaft darf daher den Zeitraum bis zur Änderung des Aktienregisters bzw. bis zur Aufnahme der geänderten Gesellschafterliste zum Handelsregister nicht dazu nutzen, um unter Einbeziehung des formell noch legitimierten Registeraktionärs bzw. Listengesellschafters „vollendete Fakten“ zu schaffen303. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine der materiellen Rechtslage widersprechende Eintragung korrigiert werden soll. Ein Zuwiderhandeln kann hier neben Schadensersatzansprüchen gegenüber der Gesellschaft und ihren Organen304 auch zur Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit erfolgter Beschlussfassungen wegen Verletzung der Treuepflicht führen305. Auch einstweiliger Rechtsschutz ist in einem solchen Fall möglich306. Gleiches muss gelten, wenn im Falle einer zu Unrecht erfolgten Eintragung berechtigterweise das Löschungsverfahren gemäß § 67 Abs. 5 AktG bzw. ein entsprechendes Berichtigungsverfahren bei der GmbH eingeleitet wurde307. Hier kann die Gesellschaft gehalten sein, dem noch im Aktienregister eingetragenen (Schein-)Aktionär bzw. dem Listengesellschafter die Ausübung mitgliedschaftlicher Rechte zunächst zu verweigern. Diese zeitweilige Aussetzung der mitgliedschaftlichen Rechte gilt allerdings dann nicht mehr, wenn der Scheinaktionär bzw. der Listengesellschafter der Korrektur von Aktienregister bzw. Gesellschafterliste widersprochen hat. Denn nun ist zunächst der Streit zwischen den Beteiligten über die materielle Berechtigung zu entscheiden, bevor die Gesellschaft das Aktienregister bzw. die Gesellschafterliste korrigieren darf308. Entstehende Nachteile können nach der Konzeption der lex lata nur noch nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen ausgeglichen werden309.

__________ 301 Zu Einzelheiten unter III. 302 Dazu bei III. 303 So für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 33; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 72; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 40; tendenziell auch Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 122. 304 Zum Schadensersatz bei schuldhafter Verzögerung der Änderung im Aktienregister: Bayer (Fn. 35), § 67 Rz. 91; Cahn (Fn. 35), § 67 Rz. 78; Merkt (Fn. 48), § 67 Rz. 100; bei verzögerter Änderung der Gesellschafterliste: Zöllner/Noack (Fn. 16), § 40 Rz. 44; Altmeppen (Fn. 16), § 40 Rz. 18; Terlau in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 40 Rz. 44; Wicke (Fn. 16), § 40 Rz. 20. 305 Für die GmbH: Bayer (Fn. 7), § 16 Rz. 33; Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 72; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 40; insoweit a. A. Heidinger (Fn. 99), § 16 Rz. 122. 306 Löbbe (Fn. 8), § 16 Rz. 72; Seibt (Fn. 8), § 16 Rz. 40. 307 Dazu näher unter IV. 308 Ausf. dazu IV. 309 Dazu bereits oben II. 2.

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Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne nach Beendigung eines Ergebnisabführungsvertrages Inhaltsübersicht I. Schutz der Organgesellschaft erfordert Rückzahlung übermäßiger Gewinnabführungen 1. Keine Rechtssicherheit bei Herleitung von Ansprüchen aus dem Unternehmensvertrag 2. §§ 300, 301 AktG beschränken Gewinnabführung der Höhe nach 3. Gewinnabführungen dürfen nicht zu Minderungen des zu Vertragsbeginn vorhandenen bilanziellen Vermögens führen 4. Während der Vertragslaufzeit gebildete Rücklagen zählen nicht zum gebundenen Vermögen

II. Schutz des Organträgers erfordert Beschränkungen des Rückzahlungsanspruches 1. Rückzahlung nur bei Verschulden des Organträgers? 2. Einwand der Entreicherung? 3. Gutglaubensschutz 4. Verjährung des Rückzahlungsanspruchs III. Rückzahlungsanspruch ist dem Recht der Kapitalerhaltung zuzuordnen 1. Bereicherungsrechtliche Ansprüche werden verdrängt 2. Für eine analoge Anwendung von § 302 AktG fehlt es an einer Regelungslücke IV. Ergebnis

Die Veräußerung einer Gesellschaft, welche mit der Konzernmutter oder einem anderen Konzernunternehmen über einen Beherrschungs- und/oder Ergebnisabführungsvertrag verbunden war, birgt Gefahren, denen in der kautelarjuristischen Praxis nicht immer angemessen Rechnung getragen wird. Nicht selten nutzt der Käufer nach Vollzug der Anteilsübertragung den gesetzlichen Verlustausgleichsanspruch des erworbenen Unternehmens, um beim Kaufpreis nachzubessern. Dabei macht er sich seinen Einfluss auf die Organe der Zielgesellschaft zunutze, um möglichst negative Ergebnisse zu erzielen. Beliebte Übung ist es, im Jahresabschluss für das letzte Geschäftsjahr der Organschaft, der nicht selten erst nach Anteilsübertragung aufgestellt werden kann, Ermessensspielräume und Bilanzierungswahlrechte soweit wie möglich zu Lasten des ehemals herrschenden Unternehmens auszuschöpfen. Noch erheblich gravierender können die wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Vorgehens für das herrschende Unternehmen sein, wenn Hand an die Bilanzen vorangegangener Geschäftsjahre gelegt wird. In der Praxis lässt sich vermehrt feststellen, dass Jahresabschlüsse zurückliegender Geschäftsjahre unter Hinweis auf tatsächliche oder vermeintliche Bilanzierungsfehler geöffnet werden, nicht selten im Anschluss an die Durchführung umfangreicher und kostspieliger Ermittlungen. Von dem Risiko eines möglichen Scheiterns der steuerlichen 43

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Organschaft abgesehen kann sich die frühere Organträgerin erheblichen Ansprüchen auf Zahlung von Verlustausgleich oder Rückzahlung in der Vergangenheit abgeführter Gewinne ausgesetzt sehen. Der Frage, inwieweit der ehemaligen Organgesellschaft bei einem solchen Vorgehen durch Rücksichtnahmepflichten aus dem Unternehmensvertrag oder sogar einem nachvertraglichen Weisungsrecht des ehemals herrschenden Unternehmens Einhalt geboten werden kann, geht in diesem Band Jochem Reichert1 nach. Auch vertragliche Regelungen, mit denen sich die ehemalige Organträgerin im Anteilskaufvertrag gegen derartige Risiken absichern kann2, sollen nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Untersucht wird vielmehr die bislang weitgehend ungeklärte Frage, welcher Rechtsnatur Ansprüche des ehemals abhängigen Unternehmens sind, wenn statt eines Verlustausgleiches die Rückzahlung übermäßig abgeführter Gewinne geltend gemacht werden soll. Bilanzkorrekturen können sich auf Ansprüche der Organgesellschaft gegen eine frühere Organträgerin in unterschiedlicher Weise auswirken. Denkbar ist zum einen, dass die ursprüngliche Bilanz einen (fiktiven) Jahresfehlbetrag auswies, dieser aber zu niedrig ermittelt wurde. Auszugleichen ist dann die Differenz zwischen bilanziellem und tatsächlichen Verlust. Enthielt der ursprüngliche Abschluss dagegen einen (fiktiven) Jahresüberschuss, besteht die Möglichkeit, dass dieser zu hoch ermittelt wurde. Dann stellt sich die Frage nach einem Rückzahlungsanspruch des abhängigen Unternehmens. Vorstellbar ist auch, dass statt des ursprünglich ermittelten positiven Ergebnisses ein Verlust ausgewiesen wird. Der vom herrschenden Unternehmen einzufordernde Betrag wäre dann teils Verlustausgleich, teils Gewinnrückzahlung. Weist die Bilanz der Organgesellschaft einen Verlust aus, so ist der Organträger verpflichtet, diesen auszugleichen. Anspruchsgrundlage ist § 302 Abs. 1 AktG. Der BGH hat entschieden, dass es weder für die Fälligkeit, noch für die Bestimmung der Höhe des Verlustausgleichsanspruchs auf den festgestellten Jahresabschluss ankommt3. Andernfalls könne eine unzutreffende Bilanz, die bestandskräftig werde, den Verlustausgleichsanspruch endgültig verkürzen. Zudem könne es nicht angehen, dass unter dem Einfluss des herrschenden Unternehmens die Realisierung des Verlustausgleichsanspruches durch Verzögerung verschleppt wird. Der BGH folgert daraus, dass Fälligkeit und Höhe des Verlustausgleichsanspruches bereits auf den Bilanzstichtag und nicht etwa den Zeitpunkt der Feststellung des Jahresabschlusses zu beziehen sind. Fällig wird der Anspruch in der Höhe, die sich bei zutreffender Ermittlung ergibt, und

__________ 1 S. 541 ff. 2 Hinweise zur Vertragsgestaltung finden sich bei Schwarz, DNotZ 1996, 68, 82 f.; Hoffmann-Becking in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 1, Gesellschaftsrecht, Form. X.1./2., S. 1385, 1388. 3 BGHZ 142, 382, 385 f.; BGH, ZIP 2005, 854, 855; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 302 Rz. 40; Hüffer, Aktiengesetz, § 302 Rz. 15; Hirte in Großkomm. AktG, § 302 Rz. 62; Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 302 Rz. 68–71.

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zwar unabhängig davon, ob die Ermittlung im Jahresabschluss pünktlich und richtig erfolgt4. Weitgehend ungeklärt ist die Rechtslage dagegen, wenn die Organgesellschaft in ihrem Jahresabschluss einen zu hohen Gewinn ausweist. Die Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne ist ebenso wenig wie der Gewinnabführungsanspruch selbst spezialgesetzlich geregelt. Im Schrifttum finden sich überwiegend Stellungnahmen, die davon ausgehen, dass im Fall zuviel abgeführten Gewinns ein verschuldensunabhängiger Rückerstattungsanspruch bestehe. Teilweise wird angenommen, dass sich dieser Anspruch aus § 62 AktG ergebe5. Andere Stimmen gehen davon aus, dass ein Rückerstattungsanspruch nur in Form einer verschuldensabhängigen Haftung in Betracht komme. Nur wenn der Organträger die Organgesellschaft schuldhaft dazu bewegt habe, mehr Gewinn abzuführen, als dem Organträger zugestanden hätte, komme ein Regressanspruch in Betracht. Dieser sei auf §§ 280 Abs. 1, 276 Abs. 1, 249 BGB zu stützen6. Vereinzelt wird zudem vertreten, dass sich der Ausgleichsanspruch des abhängigen Unternehmens nach Bereicherungsrecht richte7. Die Bestimmung der einschlägigen Anspruchsgrundlage setzt die Beantwortung einiger Vorfragen voraus: wessen Belange sind schutzwürdiger, die der Organgesellschaft oder die der Organträgerin? In welcher Höhe sind sie schutzwürdig? Führt – wie beim Verlustausgleich – grundsätzlich jeder Bilanzierungsfehler zu einem Ausgleichsanspruch? Wann wird ein Ausgleichsanspruch fällig? Wann verjährt er? Kann sich die Organträgerin auf Gutgläubigkeit berufen, oder gar auf Entreicherung?

__________ 4 BGHZ 142, 382, 385 f.; Cahn/Simon, Der Konzern 2003, 1, 14; Hirte in Großkomm. AktG, § 302 Rz. 21 f.; Altmeppen in MünchKomm AktG, § 302 Rz. 70; a. A. Krieger, NZG 2005, 787, 790 f., Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 687 ff., welche den festgestellten Jahresabschluss der abhängigen Gesellschaft für die Verlustausgleichspflicht nach § 302 AktG solange für verbindlich ansehen, wie dieser nicht nach § 256 AktG nichtig ist. 5 LG Bonn, AG 2006, 465; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 301 Rz. 24; Hirte in Großkomm. AktG, § 301 Rz. 25; Würdinger in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1975, § 301 Anm. 2; vgl. auch Bayer in MünchKomm. AktG, § 57 Rz. 139; Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 700; Pentz, ZIP 2006, 781, 786. 6 Veil in Spindler/Stilz, § 302 Rz. 20; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 301 Rz. 10 (entgegen 2. Aufl. 2001, wo noch das Bestehen eines verschuldensunabhängigen Anspruchs aus § 812 BGB angenommen worden war). 7 So Servatius in Michalski, GmbH-Gesetz, syst. Darst. 4 Rz. 263; ders. in Beck’scher Online-Kommentar zum GmbH-Gesetz, 5. Ed., Stand: 1.7.2010, Konzernrecht Rz. 334; ebenso Schubert in Heidel, Aktien- und Kapitalmarktrecht, § 301 Rz. 11 („Das herrschende Unternehmen muss die zuviel erhaltenen Beträge zurückzahlen, ohne sich auf den Wegfall der Bereicherung berufen zu können.“); auch Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 301 Rz. 24 stellt auf §§ 812 ff. BGB ab, falls mangels Aktionärsstellung keine Ansprüche aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG bestehen; ebenso auch LG Bonn, AG 2006, 465 (obiter dictum).

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I. Schutz der Organgesellschaft erfordert Rückzahlung übermäßiger Gewinnabführungen Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Organgesellschaft vor übermäßigen Gewinnabführungen zu schützen ist, ist § 291 Abs. 1 Satz 2 AktG. Dieser bezeichnet den Gewinnabführungsvertrag als einen Vertrag über die Abführung des „ganzen Gewinns“. Was darunter zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher definiert. 1. Keine Rechtssicherheit bei Herleitung von Ansprüchen aus dem Unternehmensvertrag Der Anspruch des herrschenden Unternehmens auf Abführung des Gewinns ist schuldvertraglicher Natur8. Das wirft die Frage auf, inwieweit sich Rückzahlungsansprüche des abhängigen Unternehmens durch Auslegung des Unternehmensvertrages gewinnen lassen. Verallgemeinernde Aussagen hierzu dürften sich bereits deshalb verbieten, weil die Regelungstiefe eines Ergebnisabführungsvertrages zur Ermittlung des abzuführenden Ergebnisses recht unterschiedlich sein kann. Soweit dort – dies dürfte wohl dem Regelfall entsprechen – ohne nähere Spezifizierung als abzuführender Betrag der „Jahresüberschuss“9 oder der „Gewinn“ genannt wird, ließe sich vertreten, dass damit – ebenso wie beim Verlustausgleich – nur der bei ordnungsgemäßer Bilanzierung ermittelte Jahresüberschuss gemeint sein kann. Mehr als das, was sich bei ordnungsgemäßer Bilanzierung ergeben würde, soll das herrschende Unternehmen nach dem vertraglichen Willen der Parteien nicht verlangen können. Ein entsprechender Zahlungsanspruch ließe sich im Wege ergänzender Vertragsauslegung aus dem Vertrag selbst ableiten10. In Betracht käme auch die Kondiktion einer rechtsgrundlos erbrachten Leistung (§ 812 Abs. 1, 1. Alt. BGB). Zwingend ist diese Lesart indessen nicht. Einwenden ließe sich, dass nicht das herrschende Unternehmen, sondern die Organe der abhängigen Gesellschaft den Jahresabschluss aufstellen11, aufgrund dessen die Ergebnisabführung erfolgt. Warum soll diese, wenn sie den abzuführenden Gewinn selbst ermittelt, einen Rückzahlungsanspruch haben, wenn ihre Organe bei der Aufstellung der Bilanz Fehler gemacht haben? Da die Aufstellung der Bilanz zumindest faktisch in Abstimmung mit der Organträgerin erfolgt sein wird, erschiene eine Vertragsauslegung, die den von der abhängigen Gesellschaft aufgestellten Jah-

__________ 8 Zur Rechtsnatur des Unternehmensvertrages als Organisationsvertrag mit schuldvertraglichen Elementen Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 291 Rz. 35–37; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 291 Rz. 27. 9 Dies entspricht in solcher oder abgewandelter Form der meist üblichen Formulierung; vgl. Muster von Hoffmann-Becking in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 1, Gesellschaftsrecht, Form. X.2, S. 1386. 10 So Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 301 Rz. 23; Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 699. 11 Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 291 Rz. 146; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 301 Rz. 65; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 71 Rz. 16.

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resabschluss als das für die Höhe der Gewinnabführung verbindliche Zahlenwerk ansieht, ebenso plausibel. Vertragliche oder bereicherungsrechtliche Rückzahlungsansprüche könnten dann wohl nur in Betracht kommen, wenn der Jahresabschluss, der den abzuführenden Gewinn ausweist, nichtig wäre12. Diese Überlegungen zeigen, dass vertragliche oder bereicherungsrechtliche Rückzahlungsansprüche aus Sicht der Organgesellschaft mit erheblichen Unsicherheiten behaftet wären. 2. §§ 300, 301 AktG beschränken Gewinnabführung der Höhe nach Einer Ergebnisermittlung nach Gutdünken stehen die §§ 300, 301 AktG entgegen, die die Gewinnabführung der Höhe nach begrenzen. Bei Bestehen eines Gewinnabführungsvertrages müssten ohne eine besondere Vorschrift keine Beträge in die gesetzliche Rücklage eingestellt werden, da kein Jahresüberschuss entsteht (§ 277 Abs. 3 Satz 2 HGB). § 300 AktG bestimmt deshalb zum Schutze der Gesellschaft und ihrer Gläubiger anstelle des Jahresüberschusses abweichende Bemessungsgrundlagen für die Einstellung von Beträgen in die gesetzliche Rücklage unter Hinzurechnung einer Kapitalrücklage. Dadurch soll die Auffüllung der gesetzlichen Rücklage auf ihre Pflichthöhe in den ersten fünf Geschäftsjahren nach Beginn der Verträge erreicht werden. Ein Jahresabschluss, der unter Verstoß gegen § 300 AktG aufgestellt ist, ist nichtig (§ 256 Abs. 1 Nr. 1, 4 AktG)13. Die in die gesetzliche Rücklage einzustellenden Beträge mindern gemäß § 301 Satz 1 AktG den abzuführenden Gewinn. In Höhe eines gleichwohl abgeführten Betrages muss der Organgesellschaft folglich ein Rückzahlungsanspruch zustehen. Gleiches gilt, wenn bei Abführung des Gewinns der Abzug eines Verlustvortrages aus dem Vorjahr oder des durch das Bilanzmodernisierungsgesetz (BilMoG) eingeführten ausschüttungsgesperrten Betrages aus der Aktivierung selbstgeschaffener immaterieller Vermögensgegenstände des Anlagevermögens (§ 268 Abs. 8 HGB)14 unterbleibt. Ebenfalls unzulässig und ggf. zurückzuzahlen sind Gewinnabführungen, die auf der Auflösung vorvertraglicher Gewinnrücklagen (§ 301 Satz 2 AktG a. E.) sowie der Berücksichtigung vorvertraglicher Gewinnvorträge15 beruhen.

__________ 12 So Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 701. 13 Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 300 Rz. 3; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 300 Rz. 4; Euler/Wirth in Spindler/Stilz, § 300 AktG Rz. 3; Hirte in Großkomm. AktG, § 300 Rz. 56; Stephan in K. Schmidt/Lutter, § 300 AktG Rz. 4. 14 Zur Gesetzesgenese dieser Regelung Funnemann/Graf Kerssenbrock, BB 2008, 2674 ff. 15 Diese stehen einer vorvertraglichen freien Rücklage gleich, die nach Satz 2 nicht zugunsten des anderen Vertragsteils aufgelöst und als Gewinn abgeführt werden kann; BGHZ 155, 110, 115; BGH, ZIP 2003 1933, 1934; Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 301 Rz. 20; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 301 Rz. 19; Hirte in Großkomm. AktG, § 301 Rz. 19; Hüffer, Aktiengesetz, § 301 Rz. 7; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 301 Rz. 16; Veil in Spindler/Stilz, § 301 AktG Rz. 16; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 71 Rz. 22.

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3. Gewinnabführungen dürfen nicht zu Minderungen des zu Vertragsbeginn vorhandenen bilanziellen Vermögens führen Übermäßige Gewinnabführungen können sich aber nicht nur aus Verstößen gegen die §§ 300, 301 AktG ergeben; Ursache können vielmehr auch sonstige Bilanzierungsfehler sein, beispielsweise die Überbewertung von Aktiva oder die Unterbewertung von Passiva. Ob das Kapitalschutzkonzept im Vertragskonzern den Ausgleich auch solcher Übermaßabführungen gebietet, könnte auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen. Denn die Vorschriften über die Kapitalbindung (§§ 57, 58, 60 Abs. 3 AktG) sind im Vertragskonzern gemäß § 291 Abs. 3 AktG aufgehoben. Vermögensverlagerungen von der Organgesellschaft auf den Organträger sind daher grundsätzlich legalisiert. Beispielsweise muss die Auflösung stiller Reserven zum Nachteil der abhängigen Gesellschaft uneingeschränkt hingenommen werden16. Andererseits gilt die Suspendierung der Kapitalerhaltungsregelungen im Vertragskonzern nur für solche Leistungen, die im Rahmen der Leitungsmacht gefordert werden können. Dies war bereits nach alter Rechtslage anerkannt17. Hieran hat sich durch die gesetzliche Neuregelung nichts geändert18. Es entspricht zudem allgemeiner Auffassung im Schrifttum, dass der Gesetzgeber mit den §§ 300 bis 302 AktG der abhängigen Gesellschaft zumindest ihr zu Beginn des Vertrages vorhandenes bilanzielles Vermögen für dessen Dauer zu sichern beabsichtigt19. Sichergestellt wird dies dadurch, dass für die Gewinnabführung ein Höchstbetrag bestimmt ist (§ 301 AktG), vorvertragliche Rücklagen nicht aufgelöst werden dürfen (§ 301 Abs. 2 AktG) und etwa entstehende Jahresfehlbeträge auszugleichen sind (§ 302 Abs. 1 AktG). Damit besteht auch im Vertragskonzern eine eingeschränkte Vermögensbindung. Werden zu hohe Gewinne abgeführt, weil z. B. eine uneinbringliche Forderung nicht wertberichtigt wird, führt dies zu einer Minderung der zu Beginn des Unternehmensvertrages vorhandenen bilanziellen Substanz (es sei denn, dass in einem vorangegangenen Jahr zu niedrige Gewinne abgeführt wurden). Versteht man die §§ 300 bis 302 AktG als einheitliches Kapitalschutzkonzept im Vertragskonzern, dann folgt daraus, dass neben Verstößen gegen die §§ 300,

__________ 16 Dazu BGHZ 135, 374, 378; OLG Düsseldorf, ZIP 1990, 1333; Altmeppen in MünchKomm. AktG § 301 Rz. 33; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, vor § 300 Rz. 6 und § 301 Rz. 22; Veil in Spindler/Stilz, § 301 Rz. 8; Hüffer, Aktiengesetz, § 301 Rz. 4; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 301 Rz. 19; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 71 Rz. 22. 17 Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 291 AktG Rz. 79; Würdinger in Großkomm. AktG, § 291 Anm. 19. 18 Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 291 Rz. 226; vgl. auch Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum RegE MoMiG vom 5.9.2007, Stn. Nr. 43/07, Rz. 57. 19 Begründung RegE zu § 300 bei Kropff, Aktiengesetz, S. 388; Altmeppen in MünchKomm. AktG, vor § 300 Rz. 4; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, vor § 300 Rz. 6; Euler/Wirth in Spindler/Stilz, § 300 AktG Rz. 2; Hirte in Großkomm. AktG, § 300 Rz. 2.

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301 AktG im engeren Sinne auch solche, auf sonstigen Bilanzierungsfehlern beruhenden Übermaßabführungen ausgeglichen werden müssen. Da es sich bei einer Auszahlung gebundenen Vermögens um einen Verstoß gegen aktienrechtliche Bestimmungen handelt, böte sich an, diesen Anspruch auf § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG zu stützen. Denkbar schiene auch eine Analogie zu § 302 AktG im Sinne eines allgemeinen Ausgleichsanspruches bei Minderungen der im Vertragskonzern geschützten bilanziellen Vermögenssubstanz der abhängigen Gesellschaft. 4. Während der Vertragslaufzeit gebildete Rücklagen zählen nicht zum gebundenen Vermögen Nicht leicht zu entscheiden ist, ob die ehemalige Organträgerin der Organgesellschaft entgegen halten kann, die Geltendmachung eines Gewinnrückzahlungsanspruchs setze zuvor die Auflösung während der Vertragslaufzeit gebildeter Rücklagen voraus. Das Kapitalschutzkonzept im Vertragskonzern stellt auf den bilanziellen Vermögensstand der Organgesellschaft zu Beginn des Unternehmensvertrages ab. Während der Vertragslaufzeit gebildete Rücklagen sind von seinem Schutzbereich nicht erfasst. Ein Verlustausgleichsanspruch gemäß § 302 Abs. 2 Satz 1 AktG bestünde dementsprechend nur, „soweit dieser [der Verlust] nicht dadurch ausgeglichen wird, dass den anderen Gewinnrücklagen Beträge entnommen werden, die während der Vertragsdauer in sie eingestellt worden sind.“ Über die Auflösung von Rücklagen der Organgesellschaft entscheiden die für die Feststellung des Jahresabschlusses zuständigen Organe nach freiem Ermessen20. Die Organträgerin kann die Auflösung von Rücklagen also nicht selbst vornehmen, sondern bedarf dazu der Mitwirkung der Organe des abhängigen Unternehmens. Die Frage, inwieweit die Organgesellschaft nach Beendigung des Ergebnisabführungsvertrages noch verpflichtet ist, auf die Interessen des ehemals herrschenden Unternehmens Rücksicht zu nehmen sowie gegebenenfalls sogar ein nachvertragliches Weisungsrecht des ehemaligen Organträgers zu beachten hat, wird in diesem Band in dem Beitrag von Jochem Reichert21 näher untersucht. Werden Rücklagen aufgelöst, wird dadurch die Differenz zwischen übermäßiger und tatsächlich zutreffender Gewinnabführung automatisch gemindert.

__________ 20 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 302 Rz. 34; Hirte in Großkomm. AktG, § 302 Rz. 33; Stephan in K. Schmidt/Lutter, § 302 AktG Rz. 28; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 70, Rz. 69. 21 Vgl. Fn. 1.

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II. Schutz des Organträgers erfordert Beschränkungen des Rückzahlungsanspruches Die Verantwortung für die Aufstellung des Jahresabschlusses und damit für die zutreffende Ermittlung des abzuführenden Ergebnisses verbleibt im Vertragskonzern bei den Organen des abhängigen Unternehmens22. Das herrschende Unternehmen hat zwar über die Ausübung eines Weisungsrechts (§ 308 Abs. 1 AktG) die Möglichkeit, Einfluss auf die Bilanzierung zu nehmen. An der grundsätzlichen Verteilung der Verantwortlichkeiten ändert das aber nichts. Selbstverständlich ist, dass sich die Organträgerin an ihren Weisungen festhalten lassen muss, wenn diese dazu geführt haben, dass die Gewinnermittlung der Organgesellschaft mit den §§ 300, 301 AktG oder sonstigen Bilanzierungsvorschriften nicht in Einklang steht. Wenn sie sich aber derartiger Einflussnahmen enthält, muss sie sich umgekehrt auch darauf verlassen können, dass die Organe der abhängigen Gesellschaft das Ergebnis zutreffend ermitteln. Die Organträgerin hat mit den abgeführten Mitteln zu wirtschaften. Dazu bedarf es eines gewissen Maßes an Rechtssicherheit, dass diese nicht nach Beendigung des Unternehmensvertrages von der ehemaligen Organgesellschaft wieder zurückgefordert werden können. Wie diesem Schutzbedürfnis Rechnung getragen werden kann, soll im Folgenden untersucht werden. 1. Rückzahlung nur bei Verschulden des Organträgers? Zu klären ist zunächst, ob die ehemalige Organträgerin einem Gewinnrückzahlungsanspruch entgegenhalten kann, sie habe die abgeführten Gewinne nicht selbst errechnet und die zu hohe Gewinnabführung folglich nicht zu vertreten. Eine rein verschuldensabhängige Haftung der ehemaligen Organträgerin, für die ein Teil des Schrifttums eintritt23, dürfte mit dem aktienrechtlichen Schutzkonzept zur Verhinderung von Zahlungen aus dem gebundenen Vermögen indes nicht vereinbar sein. Die Durchsetzung der Kapitalerhaltung erfordert es grundsätzlich, dass alle verbotswidrigen Zuwendungen wieder in das Gesellschaftsvermögen zurückgeführt werden. Daher ist grundsätzlich nicht Voraussetzung des Rückgewähranspruchs nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG, dass der Aktionär von der Verbotswidrigkeit der Leistung positive Kenntnis oder fahrlässig keine Kenntnis hatte. Er haftet der Gesellschaft vielmehr grundsätzlich ohne jegliches Verschulden24. Das Gleiche gilt für den Anspruch auf Verlustausgleich. Eine Anspruchskonkurrenz zu verschuldensabhängigen Ansprüchen ist dadurch nicht ausgeschlossen. Soweit das herrschende Unternehmen die unzulässige Zahlung durch Ausübung einer Weisung oder sonstige Einflussnahme veranlasst hatte, können auch Ansprüche aus Verletzung des Unternehmensvertra-

__________ 22 Vgl. die in Fn. 11 Genannten. 23 Vgl. die in Fn. 6 Genannten. 24 Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 7; Henze in Großkomm. AktG, § 62 Rz. 64.

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ges (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB)25 oder § 309 AktG analog26 in Betracht kommen. 2. Einwand der Entreicherung? Im Bereicherungsrecht besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dem Anspruch den Einwand der Entreicherung entgegenzuhalten. Sind die abgeführten Mittel beim herrschenden Unternehmen nicht mehr vorhanden, beispielsweise weil dieses damit eine Anschaffung getätigt hat, die ohne die Gewinnabführung nicht erfolgt wäre, so stünde dies einer Rückforderung durch die Organgesellschaft entgegen27. Hierfür spricht, dass die Organträgerin die abgeführten Mittel auch einsetzen können muss, um sinnvoll zu wirtschaften. Das wäre nicht gewährleistet, wenn sie ständig damit rechnen müsste, das Erhaltene nach Beendigung der Organschaft wieder an die Organgesellschaft herausgeben zu müssen. Andererseits würde das Recht der Kapitalerhaltung weitgehend leer laufen, wenn der zum Ersatz verpflichtete Aktionär der Gesellschaft stets den Einwand der Entreicherung entgegen halten könnte. Im Schrifttum besteht daher Einigkeit darüber, dass die §§ 818 ff. BGB auf Ansprüche, die der Kapitalerhaltung im Aktienrecht dienen, nicht passen. Daher entspricht es allg. Meinung, dass § 62 AktG etwaige Bereicherungsansprüche verdrängt28. 3. Gutglaubensschutz Umgekehrt ordnet § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG für gutgläubig bezogene Dividenden einen Anspruchsausschluss an. Ob diese Norm auch auf Gewinnabführung im Unternehmensvertrag angewendet werden kann, ist zu diskutieren. Grund für die Privilegierung des Dividendenbezugs ist der mangelnde Einblick der Aktionäre in die Zulässigkeit einer Gewinnausschüttung. Anders als die Zuwendung von Vorteilen an einzelne Aktionäre, etwa im Rahmen von Verträgen zwischen Aktionär und Gesellschaft, vollzieht sich die Gewinnfestsetzung nach einem gesetzlich geregelten Verfahren, an dem der Vorstand, der Abschlussprüfer, der Aufsichtsrat und schließlich die Hauptversammlung mit-

__________ 25 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 309 Rz. 21; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 309 Rz. 37; Langenbucher in K. Schmidt/ Lutter, § 309 AktG Rz. 41, jeweils m. w. N. 26 Mertens, AcP 168 (1968), 225, 228 f.; Ulmer in FS Stimpel, 1985, S. 705, 712; Hüffer, Aktiengesetz, § 309 Rz. 27, jeweils m. w. N.; vgl. auch Hirte in Großkomm. AktG, § 309 Rz. 31: Fall der Organhaftung nach § 31 BGB; ebenso wohl auch Veil in Spindler/Stilz, § 309 AktG Rz. 39. 27 Kritisch zum Entreicherungseinwand Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 301 Rz. 23; Schubert in Heidel, Aktien- und Kapitalmarktrecht, § 301 Rz. 11. 28 Hüffer, Aktiengesetz, § 62 Rz. 10; Henze in Großkomm. AktG, § 62 Rz. 59; Lutter in KölnKomm. AktG, § 62 Rz. 29; Flume, ZHR 144 (1980), 18, 27; Joost, ZHR 149 (1985), 419, 423.

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wirken. Mängel des Gewinnverwendungsbeschlusses29 oder des Jahresabschlusses, die sich auf ersteren auswirken, kann der Aktionär in aller Regel nicht erkennen. Gerade weil sich der Schuldner des Rückgewähranspruchs nicht auf Entreicherung berufen kann, wäre der Dividendenanspruch bis zum Eintritt einer eventuellen Heilung des Mangels mit einem latenten Rückzahlungsrisiko behaftet. Das Interesse des gutgläubigen Aktionärs an einem risikolosen Bezug der Dividende hat der Gesetzgeber mit der Privilegierung über die Belange der Kapitalerhaltung gestellt30. Es spricht vieles dafür, diesen Rechtsgedanken auch auf die Rückforderung übermäßiger Gewinnabführungen im Konzern anzuwenden31. Denn ebenso wie für den gutgläubigen Aktionär besteht auch für ein ehemals herrschendes Unternehmen eines Ergebnisabführungsvertrages ein schützenswertes Interesse, vor Ansprüchen auf Rückzahlung von Gewinnen geschützt zu werden, die die Organträgerin in gutem Glauben bezogen und deren Berechnung nicht sie, sondern die Organgesellschaft zu verantworten hat. Ebenso wie bei der Bestimmung der Dividende ist auch der im Rahmen eines Ergebnisabführungsvertrages an das Mutterunternehmen zu überweisende Gewinn das Ergebnis eines Prozesses, auf das der Organträger grundsätzlich keinen Einfluss hat. Von den Verfahrensschritten, die zur Festsetzung des Dividendenanspruchs führen, unterscheidet dieser sich dadurch, dass ein Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung nicht erforderlich ist. Vielmehr entsteht der Anspruch auf den abzuführenden Gewinn bereits mit Feststellung des Jahresabschlusses32. Im Regelfall entfällt auch die Prüfung des Einzelabschlusses der abhängigen Gesellschaft. Insoweit findet allenfalls eine Inzidentprüfung im Rahmen der Prüfung des Konzernabschlusses statt. Ein Schutzbedürfnis besteht besonders im Fall eines isolierten Ergebnisabführungsvertrages. Die Einfluss- und Einsichtsrechte des herrschenden Unternehmens unterscheiden sich hier nicht von denjenigen eines Mehrheitsaktionärs im faktischen Konzern. § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG gilt im faktischen Konzern auch für einen Mehrheitsaktionär. Lediglich an dessen Sorgfaltsmaßstab werden strengere Anforderungen gestellt als bei einem Kleinaktionär33. An der Gutgläubigkeit dürfte es demnach fehlen, wenn der Prüfer bei der Prüfung des Konzernabschlusses Beanstandungen erhebt. Eine Verpflichtung der Organ-

__________ 29 Mängel des Gewinnverwendungsbeschlusses sind praktisch der einzige Anwendungsfall des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG; vgl. Hüffer, Aktiengesetz, § 62 Rz. 11; Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 61; Henze in Großkomm. AktG, § 62 Rz. 71. 30 Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 58; Lutter in KölnKomm. AktG, § 62 Rz. 31; Henze in Großkomm. AktG, § 62 Rz. 64. 31 Ebenso Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 700 („Gewinnabführung entspricht funktional der Dividende“). 32 Wolf, NZG 2007, 641, 643 ff.; Hüffer, Aktiengesetz, § 291 Rz. 26; Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 291 Rz. 147a; Stephan in K. Schmidt/Lutter, § 301 AktG Rz. 18; a. A. Philippi/Neveling, BB 2003, 1685, 1691; Wernicke/Scheunemann, DStR 2006, 399 (bereits am Bilanzstichtag). 33 Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 69; Henze in Großkomm. AktG, § 62 Rz. 79; Hüffer, Aktiengesetz, § 62 Rz. 11; Lutter in KölnKomm. AktG, § 62 Rz. 33.

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Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne

trägerin, den Einzelabschluss des abhängigen Unternehmens selbst zu prüfen oder prüfen zu lassen, besteht aber nicht. Auch das Weisungsrecht beim Beherrschungsvertrag spricht nicht gegen eine Anwendbarkeit von § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG. Zwar kann der Mehrheitsaktionär über das Weisungsrecht auf die Ergebnisermittlung einwirken. Dadurch könnte seine Schutzwürdigkeit entfallen. Übt das herrschende Unternehmen das Weisungsrecht aus, fehlt es aber in aller Regel bereits an der Gutgläubigkeit. Verhält sich das herrschende Unternehmen dagegen passiv, so ist nicht ersichtlich, weshalb es nicht ebenfalls in den Genuss der Privilegierung kommen soll. Die Verantwortung für die Aufstellung des Jahresabschlusses der abhängigen Gesellschaft geht durch das Weisungsrecht nicht auf das herrschende Unternehmen über. Eine Konzernleitungspflicht wird durch das Weisungsrecht nicht begründet34. 4. Verjährung des Rückzahlungsanspruchs Sinn und Zweck der Verjährung ist es, nach Ablauf einer bestimmten Frist für alle Beteiligten Rechtssicherheit zu schaffen. Für den Schutz einer ehemaligen Organträgerin vor Gewinnrückzahlungsansprüchen für vorangegangene Geschäftsjahre spielt daher auch die Verjährung möglicher Ansprüche eine entscheidende Rolle. Für bereicherungsrechtliche Ansprüche gilt ebenso wie für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung des Unternehmensvertrages die dreijährige Regelverjährung des bürgerlichen Rechts, die allerdings erst mit Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis des Anspruchsberechtigten zu laufen beginnt. Auf Letztere wird sich die Organgesellschaft nur in seltenen Ausnahmefällen berufen können, da die Verantwortung für die Aufstellung des Jahresabschlusses beim Unternehmensvertrag bei der Organgesellschaft verbleibt. Diese hat den Bilanzierungsfehler, der zu einem zu hohen Gewinnausweis geführt hat, also in aller Regel selbst zu verantworten. Die Anwendung von Bereicherungsrecht böte dem Organträger also einen relativ sicheren Hafen, wenn sich die Organgesellschaft (oder deren neuer Eigentümer) nach Beendigung eines Ergebnisabführungsvertrages entscheiden sollte, die Bilanzen vergangener Geschäftsjahre zu öffnen und daraus Ansprüche herzuleiten. Anders verhält es sich mit den aktien- und konzernrechtlichen Erstattungsansprüchen. Beide verjähren innerhalb von zehn Jahren. Unterschiede bestehen beim Verjährungsbeginn. Für den Anspruch aus § 62 AktG ist maßgeblicher Zeitpunkt gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 AktG die unzulässige Auskehrung der

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34 Fleischer, DB 2005, 758, 761; Hüffer, Aktiengesetz, § 309 Rz. 10; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 309 Rz. 6 und § 308 Rz. 41; Veil in Spindler/Stilz, § 309 Rz. 17; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 70 Rz. 61; Langenbucher in K. Schmidt/ Lutter, § 309 AktG Rz. 17 sowie allgemein § 291 AktG Rz. 40 ff.; Kropff, ZGR 1984, 112, 116 ff.; Mertens in KölnKomm. AktG, § 76 Rz. 54 f.; Rehbinder, ZHR 147 (1983), 464, 467 ff.; a. A. Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, S. 165 ff., 178, 305 ff.; zustimmend Uwe H. Schneider, BB 1981, 249, 256; Emmerich in Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 309 Rz. 30 ff., 35 f.

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Stephan Brandes

Leistung an den Gesellschafter. Die Verjährung von Verlustausgleichsansprüchen beginnt erst mit Eintragung der Beendigung des Unternehmensvertrages im Handelsregister (§ 302 Abs. 4 AktG). Werden die Bilanzen der Organgesellschaft infolge einer Unternehmensveräußerung geöffnet, so würde eine Anwendung von § 302 AktG dem Organträger also quasi keinerlei rückwirkenden Schutz bieten. Zu beachten ist allerdings, dass beide Verjährungsvorschriften in den letzten Jahren geändert wurden. § 302 Abs. 4 AktG wurde durch Art. 11 Nr. 6 des Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9. Dezember 200435 neu eingeführt. Damit reagierte der Gesetzgeber darauf, dass die zuvor geltende Regelverjährung nach bürgerlichem Recht durch die Schuldrechtsreform 2002 (§ 195 BGB n. F.) von 30 auf drei Jahre herabgesetzt wurde. Damit hätten Ausgleichsansprüche schon während der Vertragslaufzeit verjähren können, obwohl die Gesellschaft erst drei Jahre nach dem Ende der Vertragslaufzeit verzichten kann36. Für Verlustausgleichsansprüche aus vergangenen Geschäftsjahren können somit unterschiedliche Verjährungsregime gelten. Die gesetzliche Neuregelung gilt zunächst für Ansprüche, die nach Inkrafttreten am 15. Dezember 2004 entstanden sind. Nach der Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 12 Abs. 2 Satz 1 EGBGB gilt sie ferner für Ansprüche, die bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung entstanden und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren. Beginn der Verjährungsfrist ist in diesem Falle der 15. Dezember 200437. Angerechnet wird dabei allerdings gemäß Art. 229 § 12 Abs. 2 Satz 2 EGBGB der Verjährungszeitraum, der zwischen dem Inkrafttreten der Neuregelung und dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform, also zwischen dem 1. Januar 2002 und dem 15. Dezember 2004, bereits abgelaufen war38. Verlustausgleichsansprüche, die vor Inkrafttreten der Neuregelung bereits entstanden waren, können damit frühestens zum 31. Dezember 2011 verjähren. Die Verjährungsfrist des § 62 Abs. 3 Satz 1 AktG ist durch Art. 11 Nr. 3 des Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts von fünf auf zehn Jahre verlängert worden.

III. Rückzahlungsanspruch ist dem Recht der Kapitalerhaltung zuzuordnen Die vorstehenden Überlegungen legen nahe, dass der Anspruch der abhängigen Gesellschaft auf Rückzahlung übermäßiger Gewinnabführungen dem Recht

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35 BGBl. I 2004, 3214, 3216. 36 Dazu Altmeppen, DB 2002, 879 f.; ders. in MünchKomm. AktG, § 302 Rz. 98; Hirte in Großkomm. AktG, § 302 Rz. 85; vgl. auch RegBegr zu § 302 Abs. 4, BT-Drucks. 15/3653, S. 22 f. 37 BGH, ZIP 2008, 643; OLG Köln, ZIP 2007, 819, 821; OLG Jena, ZIP 2006, 1862; Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 302 Rz. 101. 38 BGH, ZIP 2008, 643; OLG Düsseldorf, NZG 2006, 432, 433; OLG Köln, ZIP 2007, 819, 821; Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 302 Rz. 101; Stephan in K. Schmidt/ Lutter, § 302 AktG Rz. 77.

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Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne

der Kapitalerhaltung zuzuordnen ist. Einschlägige Anspruchsgrundlage ist § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG. Die Norm räumt der AG einen Rückzahlungsanspruch ein für sämtliche Leistungen, die entgegen den Bestimmungen des Aktiengesetzes erfolgen. Übermäßige Gewinnabführungen verstoßen gegen den Grundsatz der Kapitalerhaltung, weil sie – in aller Regel – zu einer Minderung des zu Beginn des Unternehmensvertrages vorhandenen bilanziellen Vermögens der abhängigen Gesellschaft führen, das durch die §§ 300–302 AktG geschützt ist. § 62 Abs. 1 Satz 1 ist unmittelbar anwendbar. Einer Analogie bedarf es nicht. Die Rechtsfolgen der Norm bieten ein schlüssiges Konzept, um den Grundsatz der Kapitalerhaltung wirksam durchzusetzen und gleichzeitig dem Interesse des herrschenden Unternehmens Rechnung zu tragen, vor der Rückzahlung von Ergebnisabführungen geschützt zu werden, die es in gutem Glauben bezogen hat. Da § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG unmittelbar nur für „Gewinnanteile“, also für Dividenden gilt, bedarf es insoweit einer Analogie. Von Vorteil ist auch, dass für alle Leistungen aus dem gebundenen Vermögen der AG, sei es im Vertragskonzern oder im faktischen Konzern, eine einheitliche Anspruchsgrundlage mit einheitlichen Verjährungsfristen gilt. 1. Bereicherungsrechtliche Ansprüche werden verdrängt Bereicherungsrechtliche Ansprüche bieten gegen Zahlungen aus dem gebundenen Vermögen der abhängigen Gesellschaft nur unzureichenden Schutz. Das gilt sowohl mit Blick auf den möglichen Einwand der Entreicherung als auch mit Blick auf die Regelverjährung nach BGB. Daher ist anerkannt, dass die §§ 812 BGB durch Ansprüche nach § 62 AktG verdrängt werden. 2. Für eine analoge Anwendung von § 302 AktG fehlt es an einer Regelungslücke Gegen die Anwendbarkeit von § 62 AktG ließe sich einwenden, dass der Gesetzgeber mit den §§ 300 bis 302 AktG für den Vertragskonzern ein eigenständiges Kapitalschutzkonzept39 geschaffen hat und in Gestalt von § 302 AktG eine eigenständige Anspruchsgrundlage zur Verfügung stellt. Geht man davon aus, dass § 301 AktG und § 302 AktG gleichermaßen bezwecken, dass die abhängige Gesellschaft jedenfalls am Ende des Geschäftsjahres mindestens über den gleichen (bilanziellen) Vermögensstand verfügt wie bei Vertragsbeginn, so könnte dies die Frage aufwerfen, ob es nicht möglicherweise naheliegender ist, übermäßige Gewinnabführungen im Vertragskonzern nicht über § 62 AktG, sondern über eine analoge Anwendung der Regelung über den Verlustausgleich wieder an die abhängige Gesellschaft zurückzuführen. Eine unmittelbare Anwendung von § 302 AktG auf übermäßige Gewinnabführungen kommt nicht in Betracht. Denn einen Zahlungsanspruch gewährt die

__________ 39 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 302 Rz. 17.

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Norm dem abhängigen Unternehmen nur in Höhe des (fiktiven) Jahresfehlbetrages. Eine analoge Anwendung würde voraussetzen, dass eine planwidrige Regelungslücke besteht. Das ließe sich wohl nur dann argumentativ vertreten, wenn § 302 AktG von den Anspruchsvoraussetzungen und den Rechtsfolgen zu erheblich überzeugenderen Ergebnissen führen würde als eine solche von § 62 AktG. Gegen § 62 AktG könnte sprechen, dass zu den Anspruchsvoraussetzungen die Aktionärseigenschaft des Zahlungsverpflichteten gehört. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass ein Gewinnabführungsvertrag mit einem Unternehmen abgeschlossen wird, das nicht zugleich Aktionär der abhängigen Gesellschaft ist. Fälle, in denen das Schutzkonzept des § 62 AktG leer liefe, sind aber gleichwohl kaum denkbar. Denn nach § 62 AktG haftet auch ein mit dem unmittelbaren Aktionär verbundenes Unternehmen. Das ist unumstritten, soweit es sich dabei um ein herrschendes Unternehmen handelt, der Aktionär also abhängiges Unternehmen ist40. § 62 AktG gilt aber nach ganz herrschender Meinung auch für ein Schwester- oder gar ein Tochterunternehmen des unmittelbar an der leistenden Gesellschaft beteiligten Aktionärs41. Fälle, in denen mangels Einschlägigkeit des § 62 AktG auf die §§ 812 ff. BGB zurückgegriffen werden muss, mit der Folge einer wesentlich kürzeren Verjährungsfrist und dem möglichen Entreicherungseinwand, können in der Praxis quasi nicht vorkommen. Gestaltungen, in denen Ergebnisabführungsverträge mit konzernfremden Unternehmen abgeschlossen werden, sind nicht bekannt. Auch die Rechtsfolgen des § 302 AktG sind nicht auf die Rückzahlung zuviel abgeführter Gewinne zugeschnitten. Die Möglichkeit, eine in gutem Glauben bezogene Leistung zu behalten, räumt die Norm anders als § 62 AktG nicht ein. Das ist konsequent, denn wenn Verluste anfallen, erhält das herrschende Unternehmen nichts, was es in gutem Glauben beziehen könnte. Unterschiedliche Rechtsfolgen bestehen auch mit Blick auf mögliche Gegenansprüche des Organträgers, die dieser zur Aufrechnung bringen könnte. Diese lässt der BGH bei § 302 AktG ausdrücklich zu, soweit die Gegenforderung vollwertig ist und die Leistung keine Kapitalersatzfunktion hat42. Demgegenüber ist die Aufrechnung gegen den aktienrechtlichen Erstattungsanspruch gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 AktG ausdrücklich ausgeschlossen.

__________ 40 Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 21. 41 Für die GmbH BGH, ZIP 1986, 456, 458; BGH, ZIP 1990, 1593, 1595; BGH, ZIP 1992, 242, 244; BGH, ZIP 1996, 68 ff.; Bayer in MünchKomm. AktG, § 62 Rz. 22 f.; einschränkend Cahn in Spindler/Stilz, § 62 AktG Rz. 18 (Haftung nur dann, wenn die Zuwendung gerade wegen der gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit mit dem Empfängerunternehmen erfolgt, wofür eine vom Empfänger zu widerlegende Vermutung spricht). 42 BGHZ 168, 285, 288 ff.; aus dem Schrifttum Altmeppen in MüchnKomm. AktG, § 302 Rz. 89; Hüffer, Aktiengesetz, § 302 Rz. 15; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 302 Rz. 40c; Veil in Spindler/Stilz, § 302 AktG Rz. 28; Krieger in Münchener Handbuch AG, § 70 Rz. 71; kritisch zum Postulat der Vollwertigkeit Stephan in K. Schmidt/Lutter, § 302 AktG Rz. 46.

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Rückforderung übermäßig abgeführter Gewinne

Da es nicht nur an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt, sondern auch die Rechtsfolgen des § 302 AktG auf die Rückforderung zuviel abgeführter Gewinne nicht passen, ist eine Analogie abzulehnen.

IV. Ergebnis Das Kapitalschutzkonzept im Vertragskonzern schützt das abhängige Unternehmen vor zu hohen Gewinnabführungen. Grundsätzlich sind solche Übermaßabführungen auszugleichen, ganz gleich ob sie auf Verstößen gegen die §§ 300, 301 AktG oder auf sonstigen Bilanzierungsfehlern beruhen. Aktienrechtlich geboten ist der Ausgleich allerdings nur, soweit nicht während der Vertragslaufzeit gebildete Rücklagen aufgelöst werden. Der Anspruch des abhängigen Unternehmens ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG. Dieser verjährt in 10 Jahren ab Empfang der Leistung. Empfangen hat das herrschende Unternehmen die Leistung grundsätzlich bereits mit Einbuchung einer entsprechenden Verbindlichkeit im Jahresabschluss der abhängigen Gesellschaft. Der Gewinnabführungsanspruch entsteht mangels abweichender Regelung im Unternehmensvertrag – anders als der Anspruch auf Verlustausgleich43 – erst mit Feststellung des Jahresabschlusses der Organgesellschaft44. Damit ist dies auch in aller Regel der für den Verjährungsbeginn maßgebliche Zeitpunkt. Wird der Jahresabschluss der Organgesellschaft, der eine zu hohe Gewinnabführung auswies, nachträglich geändert, so kann in dem geänderten Jahresabschluss keine Ausgleichsforderung gegen das herrschende Unternehmen eingebucht werden. Der Gewinnrückzahlungsanspruch entsteht erst mit Empfang der Leistung, also erst mit Feststellung des zu ändernden Jahresabschlusses. Die Feststellung aber erfolgt erst in dem Geschäftsjahr, welches dem zu berichtigenden Abschluss nachfolgt. In dem zu berichtigenden Abschluss selbst ist stattdessen in Höhe des zuviel abgeführten Gewinnes ein Bilanzverlust zu verbuchen. Dieser wirkt sich als Verlustvortrag gegebenenfalls über §§ 300 Ziff. 1, 301 AktG auf die Gewinnabführungen nachfolgender Abschlüsse aus. Soweit die Organträgerin die übermäßigen Gewinnabführungen in gutem Glauben bezogen hat, ist eine Rückforderung analog § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG ausgeschlossen.

__________ 43 Vgl. Fn. 3. 44 Vgl. Fn. 32.

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Volker Butzke

Zur Entstehung des Bezugsanspruchs bei der Kapitalerhöhung der Aktiengesellschaft als selbständiges Gläubigerrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Trennung von Aktienstammrecht und selbständigen Gläubigerrechten 1. Allgemeines 2. Gewinnanspruch als Paradebeispiel 3. Weitere verselbständigte Gläubigerrechte III. Verselbständigung des Bezugsrechts 1. Vorüberlegungen 2. Ausgangsfall: Direktbeschluss zur Bezugsrechtskapitalerhöhung a) Hauptversammlungsbeschluss als Anknüpfungspunkt? b) Eintragung des Kapitalerhöhungsbeschlusses als Voraussetzung der Verselbständigung?

c) Veröffentlichung des Bezugsangebots als Anlass zur Verselbständigung? d) Mittelbares Bezugsrecht e) Zwischenfazit 3. Besonderheiten bei genehmigtem Kapital und bei Wandel- und Optionsanleihen a) Hauptversammlungsbeschluss als Anknüpfungspunkt? b) Beschluss zur Nutzung des genehmigten Kapitals und Bezugsangebot c) Ausgabe von Wandel- und Optionsanleihen IV. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Als ich Martin Winter vor mehr als 20 Jahren zunächst auf Tagungen kennenlernte, bewunderte ich seine wissenschaftliche Präzision. Als wir später gemeinsam, oft auf unterschiedlichen Seiten, an Transaktionen mitwirkten, lernte ich die unbedingte Offenheit und Verlässlichkeit kennen, die auch unkonventionelle praktische Lösungen ermöglichte und die Zusammenarbeit – wie ich hoffe, für alle Beteiligten – immer äußerst angenehm und in aller Regel auch für die beteiligten Unternehmen und Gesellschafter erfolgreich machte. Wissenschaft und Praxis, die Martin Winter geradezu vorbildlich zu verbinden wusste, treffen auch in der kleinen Frage aufeinander, der die folgenden Überlegungen gewidmet sind: Während die Praxis das Bezugsrecht – anscheinend bar jeder theoretischen Unterlegung – zum Beginn der Bezugsfrist vom Aktienrecht trennt (und bei börsennotierten Aktien (erst) ab diesem Zeitpunkt die Aktien „ex Bezugsrecht“ und daneben in der Regel das Bezugsrecht handelt und notiert), besteht in der Wissenschaft nahezu einhellig die Auffassung, dass sich das Bezugsrecht

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bereits mit dem Wirksamwerden des Kapitalerhöhungsbeschlusses zu einem konkreten Bezugsanspruch verselbständige1 (dazu näher unten III. 2.). Zwar ist in der Juristerei anders als in der Betriebswirtschaft die Theorie nicht schon dann fragwürdig, wenn sie das in der Rechtspraxis Beobachtete nicht erklären kann, das auffällige Auseinanderfallen von Theorie und Praxis in dieser Frage legt aber zumindest eine kritische Bestandsaufnahme nahe, die im Folgenden versucht werden soll.

II. Trennung von Aktienstammrecht und selbständigen Gläubigerrechten 1. Allgemeines Die Rechte und Pflichten des Aktionärs sind grundsätzlich in der Aktie zusammengefasst und nicht trennbar. Dieses „Abspaltungsverbot“ wird zum Teil aus § 8 Abs. 5 AktG hergeleitet, dürfte aber eher als Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes einzustufen sein, der über § 717 Satz 1 BGB auch bei Personengesellschaften Gültigkeit beansprucht2. Dieser Grundsatz gilt gleichermaßen für Verwaltungs-, Schutz- und Teilhaberechte der Aktionäre. Bei den Verwaltungsrechten, wie Teilnahme-, Frage- und Stimmrecht muss eine Verselbständigung als von der Aktie unabhängiges Gläubigerrecht schon im Ansatz ausscheiden. Sie sind zwingend an die Aktie gebunden und nur durch die Beteiligung an der Gesellschaft legitimiert. Auch sie sind keine höchstpersönlichen Rechte, können also auch durch Bevollmächtigte ausgeübt werden (vgl. etwa § 134 AktG), sie können aber keine von der Beteiligung unabhängige Funktion gewinnen3. Einige Teilhaberechte konkretisieren sich dagegen in reinen Gläubigerrechten, deren Trennung von der Aktie nicht problematisch ist, weil sie mit ihrer Verselbständigung den unmittelbaren Bezug zur Aktie verlieren und zu austauschbaren Vermögensrechten werden. Einer zwingenden Bindung an das Gesellschafter-Stammrecht bedarf es dann nicht mehr. Der Bezug zur Aktionärsstellung entfällt und das Gläubigerrecht wird aus den Bindungen, denen der Aktionär gegenüber der Gesellschaft unterliegt, gelöst. Einer Abtretung oder anderweitigen Verwertung eines solchen Rechts stehen Bedenken aus der Beziehung zwischen Aktionär und Gesellschaft nicht mehr entgegen.

__________ 1 Vgl. zunächst nur Hüffer, Komm. AktG, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 6; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 20. 2 Dazu einerseits Heider in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 8 AktG Rz. 89, andererseits Hüffer (Fn. 1), § 8 AktG Rz. 30; Vatter in Spindler/Stilz, Komm. AktG, 2. Aufl. 2010, § 8 AktG Rz. 50 m. w. N. 3 Insofern ist die Einführung des Record Date Konzepts in § 123 AktG, das Stimmrechtsausübung auch ohne (fortbestehende) Aktionärseigenschaft ermöglicht, ein Sündenfall, der der Praktikabilität geschuldet ist, aber auch auf das für die praktische Durchführung zwingend Erforderliche beschränkt bleiben sollte.

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Entstehung des Bezugsanspruchs bei der Kapitalerhöhung der AG

2. Gewinnanspruch als Paradebeispiel Besonders augenfällig wird der Gedanke der Trennung des Gläubigerrechts vom zwingend mit der Aktie verbundenen Teilhaberecht beim Gewinnbezugsrecht der Aktionäre, das § 58 Abs. 4 AktG regelt. Danach haben die Aktionäre „Anspruch auf den Bilanzgewinn, soweit er nicht nach Gesetz oder Satzung, durch Hauptversammlungsbeschluss nach Absatz 3 oder als zusätzlicher Aufwand auf Grund des Gewinnverwendungsbeschlusses von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen ist“. Das Gesetz regelt hier den mitgliedschaftlichen Gewinnanspruch, also das Recht aller Aktionäre auf Teilhabe am Bilanzgewinn einschließlich des Rechts auf Herbeiführung eines Beschlusses über die Art der Verwendung, also des Gewinnverwendungsbeschlusses, nicht aber einen konkreten Zahlungsanspruch der Aktionäre. Die Aktionäre, und nur diese, disponieren durch ihre Beschlussfassung in der Hauptversammlung über den Bilanzgewinn und entscheiden damit auch, ob dieser ganz oder teilweise durch Ausschüttung aus dem Vermögen der Gesellschaft ausscheiden soll. Diese Entscheidung unterliegt der Treubindung der Aktionäre und ist von der Aktie nicht trennbar. Erst wenn die Aktionäre diese Entscheidung getroffen haben und dabei auch einen Betrag aus dem Bilanzgewinn zur Verteilung an die Aktionäre und damit zum Ausscheiden aus dem in der Gesellschaft gebundenen Vermögen der Aktiengesellschaft bestimmt haben, entsteht der individuelle Zahlungsanspruch – zunächst wiederum im Vermögen jedes Aktionärs, aber jetzt ohne die spezifische gesellschafterliche Bindung – als austauschbarer und fortan von der Aktionärseigenschaft unabhängiger Zahlungsanspruch, der sich von den Zahlungsansprüchen dritter Gesellschaftsgläubiger nicht mehr unterscheidet. Erst dieser Anspruch ist völlig unabhängig vom Aktienstammrecht übertragbar und pfändbar. Er entsteht mit dem Vorliegen eines wirksamen Gewinnverwendungsbeschlusses4 und ist von diesem Zeitpunkt an gegen Eingriffe der Aktionäre besonders geschützt und richtigerweise auch der Treubindung entzogen: So ist anerkannt, dass der verselbständigte Zahlungsanspruch nicht durch einfachen Beschluss der Hauptversammlung wieder entzogen werden kann. Eine verbreitete und jedenfalls ausdrücklich unwidersprochene Meinung geht davon aus, dass der wirksame Gewinnverwendungsbeschluss „nur“ mit Zustimmung aller Aktionäre aufgehoben werden könne5. Selbst das ist zumindest fragwürdig. Richtigerweise müssten wohl die Inhaber der Gewinnansprüche, also u. U. auch Nichtaktionäre, zustimmen, um in die Zahlungsansprüche ein-

__________ 4 Allg. M., vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 58 AktG Rz. 28; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 58 AktG Rz. 133. Nichtige Beschlüsse bleiben unwirksam, dagegen lässt Anfechtung die (schwebende) Wirksamkeit so lange unberührt, bis die Nichtigkeit (rechtskräftig) festgestellt ist, erst mit Rechtskraft des stattgebenden Urteils fällt die Wirksamkeit rückwirkend weg, bis dahin besteht der Zahlungsanspruch, der Vorstand muss sich allerdings entscheiden, ob er mit Blick auf die Anfechtungsrisiken auf die Erfüllung verzichten will. 5 Vgl. nur Drygala (Fn. 4), § 58 AktG Rz. 135; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 97 jew. m. w. N.

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greifen zu können6. Die praktische Bedeutung dieser Unterscheidung ist gering. Solche Eingriffe in bestehende Zahlungsansprüche kommen wohl allenfalls bei Gesellschaften mit sehr beschränktem Aktionärskreis vor, wenn alle Aktionäre und Dividendengläubiger mitwirken. Neuerdings wieder umstritten ist dagegen die Frage, ob der Auszahlung die Treupflicht der Aktionäre entgegensteht, wenn nach der Beschlussfassung ein massiver Verlust bei der Gesellschaft eintritt, und – in der Konsequenz – ob der Zahlungsanspruch im Fall der Insolvenz gleichrangig zu anderen Gläubigeransprüchen zur Tabelle angemeldet werden kann. Wenn man – zu Recht – den Auszahlungsanspruch von der Mitgliedschaft getrennt sieht, können Umstände, die nach Wirksamwerden des Gewinnverwendungsbeschlusses eintreten oder bekannt werden, keinen Einfluss mehr auf das Gläubigerrecht haben. Soweit der Aktionär nicht ausnahmsweise auch im Übrigen Beschränkungen bei der Geltendmachung von Gläubigerrechten unterliegt, darf dieser Zahlungsanspruch nicht eingeschränkt sein7. Die Praxis bei börsennotierten Gesellschaften trägt der Einordnung des Dividendenzahlungsanspruchs als von der Mitgliedschaft unabhängiges Gläubigerrecht Rechnung. Die Trennung des Dividendenanspruchs vom Aktienstammrecht erfolgt regelmäßig8 vorbörslich am Handelstag nach der Hauptversammlung (ex-Tag). Wer von diesem Zeitpunkt an eine Aktie über die Börse erwirbt, erwirbt sie ohne den Dividendenanspruch für das abgelaufene Jahr, gleichgültig, ob die Dividende gleichtägig ausgezahlt, oder – wie allerdings nur ganz ausnahmsweise – erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Zahlung fällig wird. 3. Weitere verselbständigte Gläubigerrechte Neben dem Dividendenanspruch werden mit dem Anspruch auf den anteiligen Liquidationserlös (§ 271 AktG), dem Anspruch auf Gründungsentschädigung oder Gründerlohn (§ 26 Abs. 2 AktG) und den konkretisierten Ansprüchen auf Ausgleichszahlung nach § 304 AktG (nach Fälligkeit) und Abfindung nach § 305 AktG (nach Annahme des Abfindungsangebots) sowie konkreten Abfindungs- und Zuzahlungsansprüchen nach dem UmwG weitere auf Geldzahlung gerichtete Ansprüche den eigenständigen, vom Aktienstammrecht getrennten Gläubigerrechten zugeordnet. Bei den Ansprüchen auf Abfindung nach § 305 AktG und nach UmwG kann man wegen des gleichzeitigen Verlustes des

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6 In diese Richtung weist etwa die Überlegung bei Hüffer (Fn. 1), § 58 AktG Rz. 28, während Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 115 jegliche Möglichkeit zur Beschlussaufhebung verneint. 7 Dazu Hüffer (Fn. 1), § 58 AktG Rz. 28; sehr deutlich auch Drygala (Fn. 4), § 58 AktG Rz. 136; für entsprechende Einschränkungen nur Bayer (Fn. 6), § 58 AktG Rz. 116 und Cahn/v. Spannenberg (Fn. 5), § 58 AktG Rz. 97 f., die damit zugleich die Eigenschaft des Gewinnauszahlungsanspruchs als von der Mitgliedschaft unabhängiges Gläubigerrecht der Sache nach negieren. 8 Lediglich bei offensichtlichen Zweifeln an der Wirksamkeit der Beschlussfassung unterbleibt eine solche Trennung, wenn die Gesellschaft dies entsprechend an die Börse kommuniziert (so geschehen im Fall der Hauptversammlung der D.I.S. AG vom 8.6.2006).

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Entstehung des Bezugsanspruchs bei der Kapitalerhöhung der AG

Aktienstammrechts an dieser Einordnung zweifeln. Allerdings geht es jeweils um auf Zahlung (oder Sachleistung) gerichtete Gläubigerpositionen, die – wie der Dividendenanspruch – den Ansprüchen dritter Gläubiger gleichartig sind. Der Bezugsanspruch, der der primäre Gegenstand der Betrachtung dieses Beitrags ist, hat einen deutlich anderen Charakter und muss nicht notwendig den vorstehend beschriebenen Regeln folgen. Dennoch soll er nun – im Ansatz den meist nicht sehr vertieften Äußerungen in der Literatur folgend – gerade auch im Vergleich zu den vorgenannten Rechten einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

III. Verselbständigung des Bezugsrechts 1. Vorüberlegungen Während der Dividendenanspruch sich auch vor der Trennung ausschließlich in der vermögensrechtlichen Sphäre der Teilhaberechte des Aktionärs verorten lässt, und mit der Konkretisierung durch die Beschlussfassung der Hauptversammlung wie gesehen zu einem reinen – grundsätzlich austauschbaren – Gläubigerrecht wird, spricht das Bezugsrecht konzeptionell verschiedene Aspekte des Teilhaberechts des (insbesondere unternehmerisch beteiligten) Aktionärs an. Das Bezugsrecht dient nämlich dazu, den Aktionär bei einer Kapitalerhöhung vor Einbußen an Herrschaftsbefugnissen in der Gesellschaft und am Substanzwert seiner Mitgliedschaft zu bewahren9. Auch wenn der erstgenannte Aspekt in der börsennotierten Aktiengesellschaft – zumindest für Kleinaktionäre – in seiner Bedeutung zurücktritt, ist ein wesentliches Element des gesetzgeberischen Konzepts der Aktiengesellschaft die Bereitstellung einer Gesellschaftsform für den unternehmerisch beteiligten Aktionär, der seinen Einfluss in der Gesellschaft durch quotale Teilnahme an Kapitalmaßnahmen sichern können soll. Gerade die Geschlossenheit eines kleinen Aktionärskreises bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften scheint zusätzlich für die Betonung dieses Aspekts zu sprechen. Er könnte den Gedanken nahe legen, der unternehmerische Zusammenschluss präge den Charakter der Aktiengesellschaft und eine Verwertung des Bezugsrechts unabhängig vom Aktienstammrecht werde diesem Charakter nicht gerecht. In diesem Bild wäre es nur konsequent, den Aktionären lediglich die Wahl zwischen Ausnutzung und Verfall zu geben, so dass die Nichtausnutzung des Bezugsrechts den anderen Beteiligten entsprechend höhere Bezugsquoten erlauben würde. Tatsächlich finden sich solche Regeln gelegentlich in Poolverträgen zwischen unternehmerisch beteiligten Aktionären oder in Regelungen zur Sicherung der Balance zwischen Familienstämmen in Familiengesellschaften. Das gesetzgeberische Konzept ist nicht auf dieses Modell fixiert und schafft lediglich mit

__________ 9 So etwa Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 13 (dort auch – Rz. 1 ff. – zu den historischen Grundlagen und – Rz. 16 ff. – zur europarechtlichen Verankerung); ähnlich auch Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 186 AktG Rz. 7; vgl. auch etwas eingehender Zöllner, AG 2002, 585 ff.

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der Möglichkeit der Nutzung vinkulierter Namensaktien einen Weg, auch satzungsmäßig die Übertragung von Bezugsrechten zu limitieren, indem sie – in gleicher Weise wie die Übertragung der Aktien – von der Zustimmung der Gesellschaft abhängig gemacht wird. Wird die Zustimmung nicht erteilt, bleibt dem Aktionär nur die Alternative, sein Bezugsrecht auszuüben und die entsprechenden neuen Aktien zu erwerben, oder sein Bezugsrecht verfallen zu lassen10. Das gesetzliche Bezugsrecht erschöpft sich aber, wie gesehen, gerade nicht in dem vorstehend beschriebenen Gedanken des Schutzes der Altaktionäre vor Verwässerung ihrer mitgliedschaftlichen Beteiligungsrechte. Es geht ihm – heute meist in allererster Linie – auch um Vermögensschutz. Das gilt insbesondere für börsennotierte Gesellschaften, bei denen der Gedanke eines geschlossenen Kreises unternehmerisch beteiligter Aktionäre keine Rolle spielt und die Finanzierung des Vorhabens am Kapitalmarkt (weitgehend ohne Rücksicht darauf, wer die Kapitalgeber sind) die Austauschbarkeit der Aktionäre augenfällig werden lässt. Das Bezugsrecht als mitgliedschaftliches Teilhaberecht ist hier jedenfalls für Kleinaktionäre weitgehend bedeutungslos, da sie, falls die Beteiligungsquote für ihre Anlageentscheidung überhaupt irgendeine Rolle spielt, grundsätzlich problemlos durch Zukäufe an der Börse ihre Quote beibehalten können, wenn ihnen ein Bezugsrecht nicht zur Verfügung steht11. Hier tritt der Vermögenswert des Bezugsrechts in den Vordergrund: Wenn eine Kapitalmaßnahme – wie im gesetzlichen Regelfall – unter Einräumung des Bezugsrechts an die Aktionäre durchgeführt werden soll, darf der Ausgabepreis der neuen Aktien ihren Wert und damit den Wert der bereits bestehenden ausstattungsgleichen Aktien nach Durchführung der Kapitalerhöhung nicht überschreiten, da sonst ein „faktischer“ Bezugsrechtsausschluss gegeben wäre, der entsprechender Rechtfertigung bedürfte12. In aller Regel liegt der Ausgabepreis bei Bezugsrechtsemissionen deutlich unter diesem Wert, um die Platzierung der neuen Aktien zu sichern. Da sich nach der Kapitalerhöhung der – um die Einnahmen aus der Kapitalerhöhung erhöhte – Unternehmenswert grundsätzlich gleichmäßig auf alle Aktien verteilt, liegt der Wert der neu ausgegebenen Aktien in dieser Konstellation über ihrem Ausgabepreis. Diese Wertdifferenz verteilt sich auf die Bezugsrechte, die zum Erwerb einer neuen Aktie einge-

__________ 10 Richtigerweise ist das Bezugsrecht der Vinkulierung unterworfen, wenn die neu auszugebenden Aktien als vinkulierte Namensaktien ausgegeben werden – vgl. nur Kraft/Krieger in MünchHdb. GesR, Band 4, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 64; Lutter (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 12; Peifer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 24; Wiedemann (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 63. 11 Diese Überlegungen, die bei der Schaffung des Bezugsrechtsausschlusses nach § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG eine Rolle spielten, werden auch in der immer wieder vorgebrachten generellen Kritik des Bezugsrechts angeführt, wenn darauf hingewiesen wird, dass erst das Bezugsrecht die Kapitalerhöhung unter Wert erzwinge und sachlich (oft) nicht gerechtfertigt sei. Zugleich verkennt diese Diskussion aber die ganz andere Situation für Großaktionäre und geschlossene Aktionärskreise. 12 Vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 43 m. w. N.

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setzt werden müssen, und bildet mit dem entsprechenden Anteil den sogenannten Bezugsrechtswert. Jedenfalls dieser Wert wäre für den Aktionär unzureichend geschützt, wenn er lediglich die Wahl hätte, sein Bezugsrecht auszuüben oder verfallen zu lassen. Damit ist die eigenständige Verwertbarkeit des verselbständigten Bezugsanspruchs zumindest unter diesem Aspekt unausweichlich. Der konkrete Bezugsanspruch ist Träger des Bezugsrechtswerts und kann insofern – ganz ähnlich dem Dividendenanspruch – als von der Aktie getrennte und damit verselbständigte Vermögensposition angesprochen werden, die einer selbständigen Verwertung zugänglich sein muss. Dass der Bezugsanspruch in seinem Charakter nicht ganz dem Dividendenauszahlungsanspruch entspricht, weil letzterer ein schlichtes (Dritt)Gläubigerrecht auf Zahlung begründet, während der Bezugsanspruch das Recht zur Zeichnung neuer Aktien, also ein Recht mit klarem mitgliedschaftlichem Bezug, verkörpert, sei nur der guten Ordnung halber noch einmal angesprochen. Allerdings ist mit den vorstehenden Überlegungen noch keine Antwort auf die Frage gegeben, wann es zur Trennung vom (alten) Aktienrecht kommt, und damit die eigenständige Verwertung eröffnet wird. Dass die Trennung sich spätestens mit der Ausübung des Bezugsrechts vollziehen muss, da die neu entstehende Aktie nicht rechtlich an die alte gebunden sein kann, ist evident. Wie viel früher die Verselbständigung aber schon anzunehmen ist, soll im Folgenden unter Berücksichtigung der wichtigsten Fallgruppen der Kapitalerhöhung mit Bezugsrecht näher analysiert werden. 2. Ausgangsfall: Direktbeschluss zur Bezugsrechtskapitalerhöhung Auch wenn Direktbeschlüsse zur Kapitalerhöhung bei börsennotierten Gesellschaften viele Jahre lang – nicht zuletzt wegen der erheblichen Unsicherheiten, die das Anfechtungsrisiko mit sich brachte – außer Mode waren, sind sie das Grundmodell, das es zu betrachten gilt, wenn die Frage der sachgerechten Behandlung der Bezugsrechte in den Blick genommen wird. Die Kapitalerhöhung der Heidelberger Druckmaschinen AG im letzten Jahr bietet insofern aktuelles Anschauungsmaterial. Sie erscheint als Aufsatzpunkt recht gut geeignet, da sie eine recht komplexe Struktur aufwies und damit weitgehend von der Gefahr frei sein sollte, aus einfachen Gestaltungen vorschnelle Verallgemeinerungen abzuleiten13. Dort gestaltete sich der Ablauf der Kapitalerhöhung wie folgt: Die Hauptversammlung der Gesellschaft beschloss am 29.7.2010 mit einer Stimmen- und Kapitalmehrheit von 96,73 %: „Das Grundkapital der Gesellschaft wird gegen Bareinlagen von Euro 199.791.191,04 um bis zu Euro 399.582.382,08 auf bis zu Euro 599.373.573,12 durch Ausgabe von bis zu 156.086.868 neuen, auf den Inhaber lautenden nennwertlosen Stückaktien (…) erhöht.

__________

13 Dass sie – wie Kapitalerhöhungen börsennotierter Gesellschaften nahezu ausnahmslos – nur ein mittelbares Bezugsrecht der Aktionäre vorsah, soll dabei einstweilen unberücksichtigt bleiben, darauf wird unter d) zurückzukommen sein.

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Volker Butzke (…) Die endgültige Anzahl der neu auszugebenden Stückaktien (…) ist auf diejenige Höchstanzahl beschränkt, die sich aus der Division des angestrebten Bruttoemissionserlöses in Höhe von rund Euro 420 Millionen durch den gemäß lit. b) vom Vorstand und Aufsichtsrat endgültig festzusetzenden Bezugspreis ergibt (…).“

Wie üblich war ein mittelbares Bezugsrecht der Aktionäre vorgesehen, die Zeichnung sollte also durch ein noch zu bestimmendes Konsortium von Kreditinstituten erfolgen (dieser Aspekt wird im Folgenden zunächst ausgeblendet, aber unter d) gesondert thematisiert). Für die Festsetzung des Bezugspreises wurde Vorstand und Aufsichtsrat ein breites Ermessen „unter Berücksichtigung der aktuellen Marktsituation und eines angemessenen Risikoabschlags bestmöglich, jedoch nicht unter Euro 2,70 je Stückaktie“ eingeräumt. Schließlich bestimmte der Beschluss: „Der Beschluss über die Erhöhung des Grundkapitals wird ungültig, wenn die Durchführung der Kapitalerhöhung nicht bis zum Ablauf des 29. Januar 2011 in das Handelsregister des Amtsgerichts Mannheim eingetragen ist.“ Wie in solchen Situationen kaum anders zu erwarten, wurde der Beschluss von verschiedenen Aktionären mit Anfechtungsklagen angegriffen. Es gelang der Gesellschaft aber, diese kurzfristig auszuräumen14. Am 12.9.2010 beschlossen Vorstand und Aufsichtsrat der Gesellschaft, 155.286.868 neue Aktien zum Bezugspreis von Euro 2,70 je Aktie auszugeben. Das Bezugsverhältnis lag bei 1 : 2. Das Bezugsangebot wurde am 13.9.2010 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlicht, die Bezugsfrist lief vom 14. bis zum 27.9.2010 und die Aktien wurden ab dem 14.9.2010 „ex Bezugsrecht“ notiert15. Am 28.9.2010 veröffentlichte die Gesellschaft den erfolgreichen Abschluss der Kapitalerhöhung, die Bezugsquote (= Ausnutzung von Bezugsrechten) betrug 99,85 %. a) Hauptversammlungsbeschluss als Anknüpfungspunkt? Folgte man der in der Literatur ganz vorherrschenden Meinung16, so wäre ein selbständig übertragbarer konkreter Bezugsanspruch schon mit „Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses“, also wohl schon unmittelbar nach Ende der Hauptversammlung17, entstanden.

__________ 14 Die zeitlichen Vorgaben im Beschluss der Hauptversammlung hätten wohl die Durchführung eines Freigabeverfahrens gestattet, die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft und die Entwicklung ihres Börsenkurses ließen aber eine noch schnellere Lösung angezeigt erscheinen. 15 Dass der Börsenkurs nach Bekanntgabe der Kapitalmaßnahme zunächst kurzzeitig stieg und erst über die nächsten Tage sank und den Bezugsrechtsabschlag reflektierte, mag mit dem starken vorherigen Kursverfall zusammenhängen, ist aber für Bezugsrechtsemissionen sehr ungewöhnlich. 16 Vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 6; Lutter (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 10; Peifer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 20 jew. m. w. N. 17 Wenn zum Teil ein wirksamer Beschluss erst mit Fertigstellung oder gar Einreichung des notariellen Protokolls zum Handelsregister angenommen wird – dazu Ziemons in K. Schmidt/Lutter, Komm. AktG, 2. Aufl. 2010, § 130 AktG Rz. 50 –, ist dies verfehlt, soll hier aber nicht vertieft werden, da es im vorliegenden Zusammenhang auf diese mögliche Abweichung um wenige Stunden oder Tage nicht ankommt.

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Zu diesem Zeitpunkt waren in dem vorstehend geschilderten Fall nicht nur Bezugsverhältnis und Bezugspreis sondern selbstverständlich auch der Bezugsrechtswert ungewiss18. Die Vorgaben an Vorstand und Aufsichtsrat ließen sogar die Möglichkeit offen, dass es gar nicht zur Durchführung der Kapitalerhöhung käme, etwa weil die Festsetzung des Preises mindestens auf der Höhe von Euro 2,70 je Aktie nicht hätte erreicht werden können. Aber auch verzögernde Effekte der Anfechtungsklagen hätten dazu führen können, dass die Kapitalerhöhung nicht bis zum 29. Januar 2011 hätte durchgeführt werden können. Dann wäre der Beschluss ungültig geworden und zu einem Bezug von Aktien aufgrund dieses Beschlusses wäre es nie gekommen. Die Literatur hat mit diesen Unsicherheiten vordergründig kein Problem: Der von ihr angenommene selbständige Bezugsanspruch steht unter der Bedingung, dass die Kapitalerhöhung durchgeführt wird19. Richtig ist, dass die Bedingtheit eines Anspruchs seine separate Übertragbarkeit nicht hindert. Auch dass sein Inhalt noch nicht vollständig feststeht, hindert nicht die Annahme eines selbständigen Anspruchs. Allerdings stellt sich hier noch weiter gehend die Frage, ob die Position im Übrigen hinreichend verdichtet ist. Insbesondere wenn sie in keiner Weise gegen Eingriffe Dritter (und des Aktionärs selbst) geschützt ist, fällt es schwer, sie als ein eigenständiges, trennbares Recht gegen die Gesellschaft einzustufen. Dazu bedarf es genauerer Analyse: Angesichts der Pflicht des Vorstands zur Ausführung der Beschlüsse der Hauptversammlung (§ 83 Abs. 2 AktG) sind die von ihm zu treffenden Umsetzungsmaßnahmen unter diesem Aspekt unbedenklich. Es steht nicht in seinem Belieben, die Frist verstreichen oder durch unrealistisch überhöhte Preisvorstellungen die Kapitalerhöhung scheitern zu lassen, vielmehr muss er alles tun, um in dem vorgegebenen Rahmen die Durchführung der Kapitalerhöhung zu realisieren. Anfechtungsklagen gegen den Kapitalerhöhungsbeschluss hindern zwar nicht schlechthin rechtlich dessen Durchführung, schließen sie aber in der Regel zunächst wirtschaftlich aus. Die Risiken einer Rückabwicklung sind – selbst bei Schaffung einer separaten Gattung „anfechtungsbehafteter“ Aktien – so erheblich, dass eine Umsetzung des Kapitalerhöhungsbeschlusses praktisch nicht erreicht werden kann. Damit ist der Bezugsanspruch, den die Literatur annimmt, faktisch zunächst der Disposition der möglichen Anfechtungskläger ausgesetzt. Das schließt die Annahme einer eigenständigen Rechtsposition nicht aus, lässt aber Zweifel daran aufkommen, ob der Bezugsanspruch schon in dieser Phase hinreichend verdichtet ist. Neben Vorstand und einzelnen Aktionären könnte auch die Hauptversammlung in den (scheinbar) verselbständigten Bezugsanspruch einzugreifen versu-

__________ 18 Der Beschluss genügte dennoch den Bestimmtheitserfordernissen, wie sie aus § 182 AktG für die Beschlussfassung abgeleitet werden – zu diesen vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 11 ff. 19 Vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 6; Lutter (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 15; Wiedemann (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 61.

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chen. Hier findet sich der wohl größte Unterschied zum Gewinnverwendungsbeschluss und der damit bewirkten Verselbständigung des Gewinnanspruchs: Während der Gewinnverwendungsbeschluss Gestaltungswirkung entfaltet und – wie eingangs unter II. 2. gesehen – allenfalls mit Zustimmung aller Aktionäre eine spätere Änderung für möglich gehalten wird, ist sich die herrschende Meinung20 zum Kapitalerhöhungsbeschluss einig: er stellt eine bloße Willensbekundung der Hauptversammlung dar, die zunächst weder die Aktiengesellschaft noch die Aktionäre zur Kapitalerhöhung verpflichtet und jederzeit vor Durchführung der Kapitalerhöhung, jedenfalls aber vor Eintragung des Kapitalerhöhungsbeschlusses mit einfacher Mehrheit in der Hauptversammlung wieder aufgehoben werden kann21. Dies passt nicht zu einem selbständigen, übertragbaren Gläubigerrecht. Angesichts dieser Zweifel am Entstehen eines selbständigen Bezugsanspruchs schon mit Wirksamwerden der Beschlussfassung der Hauptversammlung drängt sich die Frage auf, ob es der Verselbständigung des Bezugsanspruchs zu diesem Zeitpunkt aus anderen Gründen zwingend bedarf. Eine Ausübung des Bezugsrechts ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, die Bezugsfrist beginnt erst mit der Bekanntgabe des Bezugsangebots (oder später)22. Damit ist für Zwecke der Beteiligungssicherung eine frühere Verselbständigung nicht erforderlich. Erst mit der Ausübung des Bezugsrechts muss – eher technisch bedingt – die Trennung zwingend erfolgen, eine frühere Separierung ist – allein unter diesem Aspekt – nicht geboten. Aber auch die Vermögensinteressen des Aktionärs erfordern keine getrennte Verwertbarkeit des Bezugsrechts gleich nach der Beschlussfassung der Hauptversammlung. Die gezeigten erheblichen Unsicherheiten machen die Bewertung dieser Vermögensposition fast unmöglich, einen Markt gibt es für sie in diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht. Das verdeutlicht die bereits eingangs angesprochene Marktpraxis: Bei börsennotierten Aktiengesellschaften wird die Trennung des Bezugsrechts – in einer seit Jahrzehnten etablierten Praxis23 – erst anlässlich der Veröffentlichung des Bezugsangebots auf Veranlassung der Gesellschaft von dem Aktienrecht getrennt als Vermögenswert erfasst (und regelmäßig selbständig zum Handel an der Wertpapierbörse zugelassen). Traditionell wurden sie zu diesem Zeitpunkt auch in einem dazu (im Bezugsangebot) bestimmten (und insoweit umgewidmeten) Dividendenschein wertpapier-

__________ 20 Vgl. nur Peifer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 14; Hüffer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 6; Lutter (Fn. 9), § 182 AktG Rz. 3. 21 Das ist auch sachlich richtig, Kapitalmaßnahmen werden mit einer konkreten wirtschaftlichen Zielsetzung und in einem spezifischen Kontext beschlossen. Wenn sich die Verhältnisse – z. B. auch weil sich die Umsetzung verzögert – so ändern, dass die ursprünglich geplante Maßnahme nicht mehr zu den Zielen der Gesellschaft passt, muss eine Anpassung möglich bleiben. 22 Vgl. nur Lutter (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 31; Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 15. 23 Vgl. näher zur praktischen Handhabung Busch in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 42 Rz. 42.

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mäßig verbrieft24. Erst zu diesem Zeitpunkt werden also die Voraussetzungen für eine Veräußerung und Übertragung über die Börse geschaffen. Damit bleibt das Zwischenergebnis: Der Kapitalerhöhungsbeschluss ist nicht hinreichend gegen Eingriffe der Aktionäre geschützt, um schon im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beschlusses ein eigenständiges, von der Aktie unabhängiges Recht gegen die Gesellschaft zu begründen, und unterscheidet sich insofern grundlegend von dem Gewinnverwendungsbeschluss. Ein wirtschaftliches Bedürfnis nach Trennung des Bezugsanspruchs vom Aktienrecht besteht in diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht. b) Eintragung des Kapitalerhöhungsbeschlusses als Voraussetzung der Verselbständigung? Eine früher verbreitete Mindermeinung25 wollte die Entstehung des konkreten Bezugsanspruchs an die Eintragung des Kapitalerhöhungsbeschlusses in das Handelsregister anknüpfen. Sie ist zu Recht auf breite Ablehnung gestoßen, weil dieser Zeitpunkt ohne Anknüpfung an ein Ereignis bei der Gesellschaft gewählt ist. Der Vorstand entscheidet nach freiem Ermessen, ob er den Beschluss der Hauptversammlung unabhängig von seiner Durchführung zum Handelsregister anmeldet. Es wäre damit seiner freien Disposition überlassen, ob schon zu einem frühen Zeitpunkt ein eigenständiger Bezugsanspruch entsteht. Diese Einschätzung könnte sich allerdings als vorschnell erweisen, wenn es mit der Eintragung des Beschlusses zu einer entscheidenden Verstärkung des Bezugsanspruchs käme. Das könnte nach den vorstehenden Überlegungen der Fall sein, wenn an die Aufhebung des Beschlusses nach seiner Eintragung im Handelsregister strengere Anforderungen zu stellen wären, als zuvor. Die unter a) noch offen gelassene Frage ist jetzt also zu beantworten. Sie ist im Ergebnis zu verneinen: Der Kapitalerhöhungsbeschluss bewirkt vor seiner Durchführung keine Satzungsänderung, er kann daher – gleichgültig ob eingetragen oder nicht – in der Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit aufgehoben werden26.

__________ 24 Die meisten börsennotierten Aktien sind heute ausschließlich in Sammelurkunden verbrieft, denen oft keine einzelnen Dividenden- und Erneuerungsscheine mehr zugeordnet sind, so dass es diese separate Verbriefung heute vielfach nicht mehr gibt. 25 Vgl. die Nachweise bei Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 6; etwas unklar Marsch-Barner in Bürgers/Körber, Komm. AktG, 2008, § 186 AktG Rz. 6 (Verweis auf § 184 AktG). Zur fehlenden Bindungswirkung der Eintragung nach § 184 AktG eingehend auch Peifer (Fn. 1), § 184 AktG Rz. 32 ff. 26 So auch Peifer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 30 und § 184 AktG Rz. 32; Wiedemann (Fn. 9), § 184 AktG Rz. 30; a. A. (nach Eintragung sei Aufhebung nur mit satzungsändernder Mehrheit möglich) Kraft/Krieger (Fn. 10), § 56 Rz. 60; Hüffer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 16; wohl auch Lutter (Fn. 9), § 184 AktG Rz. 4.

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c) Veröffentlichung des Bezugsangebots als Anlass zur Verselbständigung? Der nächste Zeitpunkt im Ablauf einer Kapitalerhöhung, der als Anknüpfungspunkt für die Verselbständigung des Bezugsrechts in Betracht kommen könnte, ist die Veröffentlichung (bzw. Unterbreitung) des Bezugsangebots an die Aktionäre durch den Vorstand. Dieses Angebot beinhaltet zunächst die Konkretisierung etwa im Beschluss der Hauptversammlung offen gebliebener Parameter. Es schafft die Möglichkeit zur Ausübung des Bezugsrechts und erfolgt zudem nur, wenn aus Sicht des Vorstands keine Durchführungshindernisse (mehr) bestehen. Schließlich ist auch das Risiko von Eingriffen der Aktionäre zu diesem Zeitpunkt weitestgehend reduziert, da während der Bezugsfrist von in der Regel – entsprechend dem gesetzlichen Minimum – zwei Wochen eine Hauptversammlung allenfalls als Universalversammlung, also unter Mitwirkung aller Aktionäre, durchgeführt werden könnte und auch die Tagesordnung einer schon einberufenen und in diesem Zeitraum stattfindenden Hauptversammlung nicht mehr um einen solchen Beschlusspunkt erweitert werden kann (§ 122 Abs. 2 Satz 3 AktG). Erst zu diesem Zeitpunkt erlangt der Bezugsanspruch damit ähnliche Bestimmtheit und Stabilität gegen Eingriffe insbesondere auch der Aktionäre, wie sie der verselbständigte Dividendenzahlungsanspruch mit dem Wirksamwerden des Beschlusses der Hauptversammlung zur Gewinnverwendung aufweist. Erst zu diesem Zeitpunkt ist auch eine wirtschaftliche Verwertung des Bezugsanspruchs von praktischer Relevanz, da erst nun sein voraussichtlicher Wert ermittelt werden kann und die verbleibenden Risiken der Durchführung der Kapitalmaßnahme überschaubar sind. Dass auch die Kapitalmarktpraxis diesen Zeitpunkt zum Anlass zur (ggf. auch wertpapiermäßigen) Verselbständigung des Bezugsrechts nimmt, ist zwar kein Argument von juristischem Gewicht, spricht aber für die Sachgerechtigkeit der Anknüpfung. d) Mittelbares Bezugsrecht Das vorstehend beschriebene Praxisbeispiel hat es schon gezeigt: Insbesondere bei börsennotierten Aktiengesellschaften kommt die Gewährung eines direkten Bezugsrechts der Aktionäre bei Kapitalmaßnahmen kaum vor27. Die Beschaffung und Einreichung von im Original unterschriebenen Zeichnungsscheinen jedes zeichnenden Aktionärs würde einen hohen logistischen Aufwand bedeuten und den Kapitalerhöhungsprozess erheblich in die Länge zie-

__________ 27 Vgl. nur Wiedemann (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 196. In ganz wenigen Fällen, insbesondere bei sogenannten „bis zu“-Kapitalerhöhungen, also solchen, bei denen die Kapitalerhöhung nur in dem Umfang durchgeführt wird, wie Erwerbe durch Bezugsberechtigte erfolgen, findet man auch bei börsennotierten Gesellschaften Kapitalerhöhungen mit Direktbezug. Dann wird die Abwicklung meist dadurch vereinfacht, dass ein Intermediär die Bezugserklärungen aufgrund erteilter Vollmachten zusammengefasst abgibt – vgl. auch v. Dryander/Niggemann in Hölters, Komm. AktG, 2011, § 186 AktG Rz. 91.

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hen. Der Reformgesetzgeber des Jahres 1965 hat daher in § 186 Abs. 5 AktG die Möglichkeit des „mittelbaren Bezugsrechts“ geregelt und für diesen Fall des Bezugsrechtsausschlusses28 fingiert, dass es sich um einen Fall der Bezugsrechtsemission handelt. In dieser Gestaltung zeichnen Emissionsunternehmen oder Konsortien von Emissionsunternehmen die Aktien vollständig, haben sich aber gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, sie den Aktionären zum Bezug anzubieten29. Bei der Gleichstellung des mittelbaren Bezugsrechts mit dem direkten Bezugsrecht der Aktionäre ging es dem Gesetzgeber um die Erleichterung der Abwicklung der Kapitalmaßnahme. Die Rechte der Aktionäre sah er in dieser Konstellation angemessen geschützt. Die Pflichterfüllung durch die staatlich überwachten Kreditinstitute erschien nicht ungewisser als die bei der Abwicklung des direkten Bezugsrechts30. Technisch stellt sich die Kapitalerhöhung mit mittelbarem Bezugsrecht aber völlig anders als die mit Direktbezug dar. Umso interessanter ist der Blick auf die Entstehung des Bezugsanspruchs der Aktionäre bei dieser Gestaltung, die keine wesentlichen Wertungswidersprüche zum Direktbezug aufweisen sollte: Hier ist zunächst evident, dass der Beschluss der Hauptversammlung kein Bezugsrecht der Aktionäre begründet. Gegenüber der Gesellschaft erhalten sie nämlich bei dieser Gestaltung zu keinem Zeitpunkt ein Bezugsrecht. In dem Vertrag, den die Gesellschaft mit dem Emissionsunternehmen zur Durchführung der Emission abschließt, verpflichtet sich das Emissionsunternehmen in Form eines Vertrages zugunsten Dritter (§ 328 BGB), ein Angebot zum Bezug an die Aktionäre abzugeben. Der Vertrag mag vor, wird aber vielfach erst nach der Beschlussfassung der Hauptversammlung abgeschlossen werden und enthält typischerweise verschiedene Bedingungen, nicht zuletzt praktisch immer eine „MAC“ (material adverse change) Klausel, die es dem Emissionsunternehmen ermöglicht, vom Vertrag zurückzutreten, wenn bestimmte sehr gravierende negative Umstände eintreten oder erkennbar werden. Die Rechte der Aktionäre aus diesem Vertrag beschränken sich auf den – entsprechend der vertraglichen Vereinbarung ggf. bedingten – Anspruch gegen das Emissionsunternehmen auf Abgabe des Bezugsangebots. Eine Notwendigkeit, diese Rechtsposition (die keinen Bezugsanspruch verkörpert) isoliert abtretbar zu gestalten und damit vom Aktienrecht lösen zu können, besteht m. E. nicht31, da das Emissionsunternehmen vertraglich lediglich verpflichtet ist, den Inhabern der Aktien ein Angebot zu unterbreiten. Für einen Dritten, an den sich

__________ 28 Das Bezugsrecht der Aktionäre wird hier durch einen schuldrechtlichen Anspruch gegen das Emissionsunternehmen ersetzt, also „ausgeschlossen“ – vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 41. 29 Vgl. zum Ganzen Lutter (Fn. 9), Vor § 182 AktG Rz. 22 und § 186 AktG Rz. 102 ff.; Peifer (Fn. 1), § 182 AktG Rz. 8 und § 186 AktG Rz. 105 ff.; Busch (Fn. 23), § 42 Rz. 55 ff. 30 Vgl. nur Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 44. 31 A. A. Peifer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 115; Hüffer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 54; Lutter (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 119; offen gelassen bei Wiedemann (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 221.

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das Angebot nicht richten würde, ist der Anspruch auf Abgabe eines Angebots an die Aktionäre ohne Belang. Erst die Abgabe des Bezugsangebots durch das Emissionsunternehmen begründet den konkreten „Bezugsanspruch“ der Aktionäre – hier nicht gegen die Gesellschaft sondern entsprechend dem Wesen des mittelbaren Bezugsrechts gegen das Emissionsunternehmen32, das seine aus der Ausübung des Bezugsanspruchs entstehenden Verpflichtungen mit den von ihm gezeichneten jungen Aktien erfüllt. Bei Kapitalerhöhungen mit mittelbarem Bezugsrecht der Aktionäre stellt sich damit das oben diskutierte Problem des richtigen Zeitpunkts der Verselbständigung des Bezugsanspruchs nicht. Er entsteht in der Person des Aktionärs erst mit dem Angebot des Emissionsunternehmens und ist dann – wie vorstehend auch für den Direktbezug herausgearbeitet – grundsätzlich sofort abtretbar und (ver)pfändbar. Ob das Emissionsunternehmen die Kapitalerhöhung bei Abgabe seines Angebots schon gezeichnet hat und ob die Kapitalerhöhung zu diesem Zeitpunkt bereits wirksam geworden ist33, ist für die Entstehung und Übertragbarkeit des Bezugsanspruchs gegen das Emissionsunternehmen ohne Belang34. Die Bedingungen, von denen es sein Angebot abhängig macht, werden in diesem offen gelegt und sind damit für die Aktionäre, aber auch für die etwaigen Erwerber von Bezugsrechten grundsätzlich erkennbar. Auch beim direkten Bezugsrecht ist die spätere Eintragung der Kapitalerhöhung Voraussetzung für die Entstehung der neuen Aktien. Die MAC-Klausel als typische weitere Bedingung schützt das Emissionsunternehmen (und eingeschränkt die ihr Bezugsrecht ausübenden Aktionäre und Erwerber) bei extremen Verschlechterungen des Emissionsumfelds, die das Bezugsrecht und darüber hinaus die Zeichnung der Aktien für Aktionäre und Emissionsunternehmen wirtschaftlich entwerten35. Für den Handel in den Bezugsrechten spielt damit diese Bedingung praktisch keine Rolle, da das Bezugsrecht bei ihrem Eintritt ohnehin wertlos wäre.

__________ 32 Allg. M., vgl. nur Peifer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 115; Wiedemann (Fn. 9), § 186 AktG Rz. 221. 33 Regelmäßig ist beides nicht der Fall. Die Emissionsunternehmen versuchen meist, ihr Risiko zeitlich weitestgehend zu beschränken und zeichnen die Aktien erst gegen Ende der in ihrem Angebot gesetzten Bezugsfrist, auch um bei etwa entstehenden Rücktrittsmöglichkeiten nicht durch die bereits erfolgte Durchführung der Kapitalerhöhung in Rückabwicklungsprobleme zu geraten. 34 A. A. Peifer (Fn. 1), § 186 AktG Rz. 115, der das Recht in der Person derjenigen entstehen lassen will, die bei Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister Aktionäre sind. Dieser Zeitpunkt wäre willkürlich gewählt, entscheidend muss der Zeitpunkt sein, zu dem das Emissionsunternehmen sein Angebot – vertragsgemäß – an die (zu diesem Zeitpunkt existierenden) Aktionäre unterbreitet – vgl. eingehend zur heutigen Praxis Busch (Fn. 23), § 42 Rz. 59. 35 Solange das Bezugsrecht noch einen Wert hat und damit der Bezug der ganz überwiegenden Zahl der neuen Aktien wirtschaftlich gesichert ist, wird kaum je ein Emissionsunternehmen von einer MAC-Klausel Gebrauch machen.

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e) Zwischenfazit Schon bei dem Direktbeschluss mit (unmittelbarem) Bezugsrecht der Aktionäre hat sich gezeigt, dass im Zeitpunkt des Beschlusses der Hauptversammlung noch keine hinreichend gegen Eingriffe geschützte Rechtsposition für die Aktionäre entsteht, die eine Verselbständigung des Bezugsanspruchs tragen könnte und dass eine solche Verdichtung und Konkretisierung – in auffälliger Parallelität zur Kapitalmarktpraxis – erst mit der Vorlage des Bezugsangebots an die Aktionäre entsteht, wenn im Übrigen auch erstmals das Bezugsrecht ausgeübt werden kann. Der Blick auf das mittelbare Bezugsrecht zeigt, dass dort ein früherer Anknüpfungspunkt für ein eigenständiges Bezugsrecht nicht zu finden ist. Auch der Gedanke der Gleichstellung des mittelbaren mit dem unmittelbaren Bezugsrecht bestätigt, dass es keine rechtliche oder wirtschaftliche Notwendigkeit gibt, eine Verselbständigung des Bezugsrechts vor Abgabe des Bezugsangebots zuzulassen. 3. Besonderheiten bei genehmigtem Kapital und bei Wandel- und Optionsanleihen a) Hauptversammlungsbeschluss als Anknüpfungspunkt? Der Beschluss der Hauptversammlung, durch den dem Vorstand die Möglichkeit gegeben wird, während eines bestimmten Zeitraums von maximal fünf Jahren das Grundkapital der Gesellschaft durch Ausgabe neuer Aktien zu erhöhen, begründet nach allg. M. selbst dann keinen eigenständigen Bezugsanspruch der Aktionäre, wenn der Vorstand aufgrund der Ermächtigung das Kapital nur unter Einräumung eines Bezugsrechts erhöhen kann. Hier ist bei der Beschlussfassung der Hauptversammlung völlig ungewiss und in der Disposition des Vorstands, ob, wann und in welchem Umfang eine Kapitalerhöhung stattfinden wird36. b) Beschluss zur Nutzung des genehmigten Kapitals und Bezugsangebot Mit der Beschlussfassung des Vorstands zur Nutzung der Ermächtigung und der in aller Regel erforderlichen Zustimmung des Aufsichtsrats wird die abstrakte Möglichkeit der Kapitalerhöhung zu einer konkret geplanten Kapitalmaßnahme konkretisiert. Hieran knüpft die Literatur, soweit sie sich mit dieser Frage beschäftigt, vielfach die Verselbständigung des Bezugsanspruchs37. Allerdings verdienen auch hier die Sachverhalte eine etwas genauere Betrachtung, wie etwa die Beschlussfassungen im Zusammenhang mit der Kapitalerhöhung der Deutsche Bank AG im Jahr 2010 verdeutlichen mögen:

__________ 36 Dazu nur Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 202 AktG Rz. 34; Hüffer (Fn. 1), § 202 AktG Rz. 6; Wamser in Spindler/Stilz, Komm. AktG, 2. Aufl. 2010, § 202 AktG Rz. 4 ff. 37 Vgl. etwa Hüffer (Fn. 1), § 203 AktG Rz. 7; Lutter (Fn. 9), § 203 AktG Rz. 8.

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Am 12.9.2010 fassten Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Bank einen „Grundsatzbeschluss über eine Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital gegen Bareinlagen“38, wobei die voraussichtliche Zahl der neu auszugebenden Aktien, die Zusammensetzung des Emissionskonsortiums (auch hier erfolgte die Kapitalerhöhung also über ein mittelbares Bezugsrecht der Aktionäre), ein vorläufiger Bezugspreis von 31,80 Euro je junger Aktie und ein vorläufiger Zeitplan genannt wurden. Am 20. September wurde der endgültige Bezugspreis mit 33 Euro je Aktie ad hoc veröffentlicht und das Bezugsverhältnis auf 2:1 festgelegt. Der Prospekt und das Bezugsangebot wurden am 21.9. veröffentlicht, die Bezugsfrist lief vom 22.9. bis zum 5.10.2010. Wie gesehen, entstand der konkrete Bezugsanspruch hier – wegen des nur mittelbaren Bezugsrechts – erst mit der Veröffentlichung des Bezugsangebots am 21.9.2010. Weniger deutlich ist die Beurteilung, wenn man den Fall unter Zugrundelegung eines direkten Bezugsrechts durchgeht: Ist schon der Grundsatzbeschluss von Vorstand und Aufsichtsrat der relevante Anknüpfungspunkt für eine Verselbständigung des Bezugsanspruchs? Genügt die Ankündigung des Bezugsangebots am 20.9. oder sollte auch dann erst die Veröffentlichung des Bezugsangebots die Verselbständigung des Bezugsanspruchs auslösen? Der Grundsatzbeschluss ließ noch viele Einzelheiten offen. Er regelte nicht das Bezugsverhältnis und ließ die Zahl der auszugebenden Aktien offen, weil beides u. a. davon abhing, ob die Bank vor der Abgabe des Bezugsangebots eigene Aktien in einem Umfang erwerben würde, die ein glattes Bezugsverhältnis von 2:1 ermöglichen würde. Der indikative Bezugspreis war mit Unsicherheiten behaftet, tatsächlich erhöhte er sich noch innerhalb der folgenden Tage, und schließlich wurde auch auf die Unsicherheiten des Zeitplans hingewiesen, der u. a. von der Billigung des Prospektes abhing (insoweit ergaben sich keine Veränderungen, weil die Abstimmung im Vorfeld in diesem Fall alle tatsächlich auftretenden Ereignisse berücksichtigt hatte). Abgesehen von diesen Unsicherheiten, stellt sich aber ganz grundsätzlich die Frage, ob an den Beschluss von Vorstand und Aufsichtsrat die Entstehung einer selbständigen Rechtsposition überhaupt angeknüpft werden kann. Dies erscheint mir mit Blick auf die Sicherheit des Rechtsverkehrs sehr fragwürdig. Der Beschluss ist zunächst ein Gesellschaftsinternum und steht damit auch zur vollen Disposition von Vorstand und Aufsichtsrat39. Eine gesicherte Position der Aktionäre ist damit noch viel weniger als mit einem Direktbeschluss der Hauptversammlung, der zumindest den Vorstand zur Umsetzung bindet, verbunden. Allerdings könnte die ad hoc Mitteilung die erforderliche Kundgabe auch an die Aktionäre darstellen. Im konkreten Fall sprechen schon die fehlende Detail-

__________ 38 Ad hoc-Mitteilung der Deutsche Bank AG vom 12.9.2010. 39 Vgl. nur Bayer (Fn. 36), § 202 AktG Rz. 86 ff., 90; Lutter (Fn. 9), § 204 AktG Rz. 19.

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Entstehung des Bezugsanspruchs bei der Kapitalerhöhung der AG

lierung und der deutliche Hinweis auf einige Unwägbarkeiten gegen einen entsprechenden Bindungswillen. Aber auch unabhängig davon erscheint es sehr zweifelhaft, ob eine die gesetzliche Informationspflicht gegenüber dem Markt erfüllende ad hoc Mitteilung zugleich eine Selbstbindung von Vorstand und Aufsichtsrat zur Durchführung der Kapitalerhöhung bewirken kann. Die am 20.9.2010 erfolgte Ankündigung des Bezugsangebots enthielt alle für die Beschreibung eines Bezugsanspruchs notwendigen Details, auch sie diente aber – wie gesehen – der Erfüllung einer gesetzlichen Offenlegungspflicht, sie war selbst nicht eine rechtsgeschäftliche Erklärung und sollte auch nicht das Bezugsangebot ersetzen. Erst das Bezugsangebot, das beim unmittelbaren Bezug direkt durch den Vorstand an die Aktionäre abgegeben wird, begründet die rechtliche Pflicht der Gesellschaft zur Durchführung des Bezugsgeschäfts. Erst damit kann bei Ausnutzung eines genehmigten Kapitals auch – als Reflex der Verpflichtung der Gesellschaft – der konkrete Bezugsanspruch der Aktionäre entstehen, der sich in diesem Zeitpunkt auch verselbständigt. Ein weiterer Vorteil dieser Anknüpfung an das Bezugsangebot als die einzige rechtsgeschäftliche Erklärung der Gesellschaft gegenüber den Aktionären im Zuge der Durchführung der Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital besteht darin, dass dieser Zeitpunkt bei allen Aktiengesellschaften – gleich ob börsennotiert und damit besonderen Veröffentlichungspflichten unterworfen oder nicht – klar feststellbar ist und dass er auch unabhängig davon, ob die Kapitalerhöhung im Wege des Direktbezugs oder über ein mittelbares Bezugsrecht abgewickelt wird, im Wesentlichen zum selben Zeitpunkt ansetzt. Die daran anschließende mindestens zweiwöchige Bezugsfrist (§ 203 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 186 Abs. 1 Satz 2 AktG) gibt auch hier ohne weiteres ausreichend Zeit zur Ausübung oder Verwertung des Bezugsanspruchs. Eine Ausübung des Bezugsrechts kommt ohnehin – wie oben gesehen – vor Abgabe des Bezugsangebots durch die Gesellschaft oder das Emissionsunternehmen nicht in Betracht. c) Ausgabe von Wandel- und Optionsanleihen Für die Ermächtigung zur Ausgabe von Wandel- oder Gewinnschuldverschreibungen im Sinne des § 221 AktG gelten die vorstehenden Überlegungen entsprechend. Auch hier eröffnet die Beschlussfassung der Hauptversammlung lediglich Handlungsspielräume für den Vorstand, die er während der Dauer der Ermächtigung nutzen oder mit Fristablauf ungenutzt verfallen lassen kann. Erst mit der tatsächlichen Inanspruchnahme durch den Vorstand bildet sich die konkrete Maßnahme heraus, die wiederum in dem Bezugsangebot ihre Konkretisierung findet und erst mit ihm in eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber den Aktionären mündet, die den konkreten Bezugsanspruch entstehen lässt und damit auch allein seine Verselbständigung tragen kann40.

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40 Auch hier für eine Anknüpfung an den konkreten Ausübungsbeschluss des Vorstands Hüffer (Fn. 1), § 221 AktG Rz. 38; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 221 AktG Rz. 166 m. w. N.

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Nach § 221 AktG kann die Hauptversammlung auch direkt über die Ausgabe der entsprechenden Instrumente beschließen. Dann unterscheidet sich die Situation nicht von der beim Direktbeschluss über eine Kapitalerhöhung. Während die Literatur, soweit sie sich mit dem Thema befasst, wieder das Entstehen des konkreten Bezugsanspruchs mit dem Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses41 annimmt, sprechen m. E. wie oben für die Kapitalerhöhung durch Direktbeschluss gezeigt, auch hier die besseren Gründe dafür, einheitlich auf die Veröffentlichung des Bezugsangebots abzustellen.

IV. Schlussbetrachtung Die rechtliche Einordnung eines Lebenssachverhalts muss nicht immer mit seiner wirtschaftlichen Bewertung übereinstimmen, ein auffälliges Auseinanderfallen zwischen rechtlicher und wirtschaftlicher Betrachtung kann es aber nahelegen, beide zu überprüfen. Dabei mögen einfache und klare Sachverhalte helfen, gelegentlich versperren sie aber möglicherweise auch den Blick auf Probleme: Der einstimmige Kapitalerhöhungsbeschluss der Familiengesellschaft, der unmittelbar nach der Hauptversammlung durchgeführt wird, lässt die Frage nach dem Zeitpunkt der Verselbständigung des Bezugsrechts nicht in voller Schärfe aufkommen. Hier den Beschluss als Anknüpfungspunkt zu wählen, liegt – auch im Vergleich zum Dividendenanspruch – nahe. Erst komplexere Abläufe, wie sie vor allem bei börsennotierten Aktiengesellschaften anzutreffen sind, wecken und nähren Zweifel an dieser frühen Verselbständigung eines oft noch sehr wenig konkretisierten, vor allem aber gegen Eingriffe gerade auch der Aktionäre nicht geschützten „Anspruchs“. Der Blick auf das mittelbare Bezugsrecht, das die Lebenswirklichkeit bei vielen – nicht nur börsennotierten – Gesellschaften prägt, bestätigt den hier vollzogenen Bruch mit der tradierten und heute wohl nahezu einhelligen Meinung: Erst mit dem Bezugsangebot wird das Bezugsrecht so greifbar, dass es einer Verselbständigung zugänglich ist. Diese im Börsengeschehen mit der auf das Bezugsangebot folgenden „ex Notierung“ längst anerkannte Anknüpfung hat auch in der rechtlichen Betrachtung viele gute Gründe für sich.

__________ 41 Vgl. nur Lutter (Fn. 9), § 221 AktG Rz. 47; Hüffer (Fn. 1), § 221 AktG Rz. 38, der allerdings bei Options- und Wandelanleihen zusätzlich fordert, dass das bedingte Kapital schon eingetragen sein müsse, wofür nicht ohne weiteres eine rechtliche Notwendigkeit erkennbar ist.

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Whistleblowing zwischen Denunziantentum und integralem Baustein von Compliance-Systemen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Begriff, Erscheinungsformen und Konfliktpotential 1. Begriff und Erscheinungsformen 2. Das Dilemma der Beteiligten III. Das regulatorische Umfeld des externen Whistleblowings IV. Whistleblowing ein notwendiger Bestandteil von Corporate Compliance? 1. Aktienrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines ComplianceSystems? 2. Complianceumfang in der Aktiengesellschaft ohne sektorale Regulierung 3. Folgt aus §§ 76, 93 AktG eine Pflicht, ein Whistelblowing-System einzurichten?

4. Besonderheiten bei Wertpapierdienstleistungsunternehmen (§ 33 WpHG)? V. Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen freiwilliger WhistleblowingSysteme 1. Einwände gegen ein vollständig anonymes Whistleblowing-System a) Datenschutzrechtliche Bedenken b) Verteidigungsrechte des Beschuldigten als Ausfluss seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts c) Besonderheiten für SOX-Unternehmen? d) Umgang mit gleichwohl eingegangenen, anonymen Meldungen 2. Meldepflicht 3. Geeignete Whistleblowing-Stelle VI. Zusammenfassung

I. Einleitung Martin Winter war eine anwaltliche Ausnahmegestalt, der zugleich auf höchstem Niveau wissenschaftlich gearbeitet hat. Dabei galt für ihn der Wahlspruch seiner Heidelberger Alma Mata: „Semper Apertus“. Von seiner Neugierde an neuen Themen legt sein – soweit ersichtlich – letzter, erst posthum in der Festschrift für Uwe Hüffer veröffentlichter Aufsatz Zeugnis ab1. Martin Winter wendete sich darin dem in der Praxis bei Aktiengesellschaften jeglicher Couleur zunehmend an Bedeutung gewinnenden Thema der Compliance zu. Er griff sich dabei einen bis dahin wenig beleuchteten Aspekt, die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die organisationsrechtlich verstandenen Corporate Compliance, heraus und setzte einen wesentlichen Meilenstein für die weitere Diskussion. Von daher liegt es nahe, in dieser Freundesgabe zu seinem Gedächtnis einem weiteren bisher wenig diskutierten Gesichtspunkt der Corporate Compliance

__________ 1 Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103 – 1127.

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nachzuspüren. Es soll im Folgenden um die Frage gehen, ob WhistleblowingSysteme2 ein notwendiger oder zumindest ein integraler Bestandteil einer Compliance-Organisation sind und welche Grenzen für derartige Systeme bestehen. Sie sollen es den Angestellten eines Unternehmens erleichtern, Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die Satzung oder unternehmensinterne Richtlinien unter Geheimhaltung ihrer Identität aufzudecken, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Die Skepsis gegenüber derartigen Systemen ist beträchtlich, da man die Gefahr sieht, dass einem Denunziantentum Vorschub geleistet wird. Der Verfasser dieser Zeilen ist sich sicher, dass dieses Thema auf das Interesse von Martin Winter gestoßen wäre, da er jemand war, der Probleme klar und offen adressierte und auch mit offen geäußerter Kritik nicht hinter dem Berg hielt. Frei nach dem Motto: lieber klare Kante, als von hintenherum.

II. Begriff, Erscheinungsformen und Konfliktpotential 1. Begriff und Erscheinungsformen Mit Whistleblowing bezeichnet man den Umstand, dass ein Mitarbeiter oder ein sonstiger Unternehmensinsider3 in einem anonymisierten Verfahren eine übergeordnete Stelle unter Umgehung des Dienstweges über vermeintliche oder tatsächliche Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die Satzung oder unternehmensinterne Richtlinien informiert4. Kein konstitutives Merkmal ist eine vollständige Anonymität des Meldenden; denkbar sind auch solche Systeme, in denen der Anzeigende zwar seine Personalien gegenüber der Whistleblowing-Stelle offen legen muss, diese sie aber vertraulich behandelt. Je nach Adressat lassen sich in der bisherigen Diskussion externe und interne Systeme unterscheiden. Bei externen Whistleblowing-Systemen wird dem Mitarbeiter außerhalb des jeweiligen Unternehmens die Möglichkeit eröffnet, Gesetzesverstöße zu offenbaren. Bei der externen Whistleblowing-Stelle muss es sich nicht zwingend um eine staatliche Behörde handeln, denkbar sind auch unternehmensübergreifende Lösungen wie die Ansiedlung bei einem Verband5.

__________ 2 Der Begriff Whistleblowing hat ohne Übersetzung Eingang in die deutsche juristische Diskussion gefunden. Deshalb soll auch hier auf eher gewillkürte Übersetzungen wie Hinweisgeber, Geheimnisverrat oder Pfeifenbläser verzichtet werden. Am sinnvollsten könnte man noch von „Verfahren zur Meldung von Missständen“ sprechen (so Art. 29-Gruppe, vgl. unten Fn. 50). Zum Begriff und zu den verschiedenen Erscheinungsformen sogleich näher sub II. 1. 3 Der Begriff ist untechnisch, nicht hingegen im Sinne der §§ 12 ff. WpHG zu verstehen. Denkbar sind ehemalige Mitarbeiter oder im Einzelfall auch Geschäftspartner des Unternehmens, vgl. Weber-Rey, AG 2006, 406, 407; Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2624. 4 Vgl. statt vieler Bürkle, DB 2004, 2158; Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2624 f.; Weber-Rey, AG 2006, 406, 407. 5 Zu derartigen externen Selbstregulierungsorganisationen vgl. näher Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2628 f.; zu Recht kritisch dazu Weber-Rey, AG 2006, 406, 409.

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Whistleblowing im Rahmen von Compliance-Systemen

Im Gegenzug dazu ist ein internes Whistleblowing-System dadurch gekennzeichnet, dass es im Unternehmen selber angesiedelt ist. Denkbar ist eine Organisation als eigenständige Stabsstelle oder eine Integration in andere bestehende Stabsabteilungen. Zuvörderst ist dabei die Compliance-Abteilung, daneben die Rechtsabteilung zu nennen (Details unten V. 3.). Im angelsächsischen Rechtskreis wird auch wiederholt das Audit Committee genannt6, das nach den Vorgaben des Sarbanes-Oxley-Acts (sec. 301 SOA)7 die Aufgabe einer internen Whistleblowing-Stelle für Verstöße gegen die Rechnungs- und Bilanzierungsvorschriften übernehmen muss8. Abzugrenzen ist Whistleblowing gegenüber strafprozessualen Kronzeugenregelungen wie etwa in § 31 Nr. 1 BtMG bzw. bei der Geldwäsche in § 261 Abs. 10 StGB. Der Kronzeuge ist regelmäßig selbst in das zur Aufarbeitung anstehende Unrecht verstrickt. Demgegenüber setzten Whistleblowing-Systeme gerade auf die Zivilcourage unbeteiligter Zeugen. Ihnen werden – vorbehaltlich von Sonderregelungen wie neuerdings im Dodd-Frank-Act von 20109 – keinerlei Vorteile für das Aufdecken von Gesetzesverstößen versprochen. Schließlich ist Whistleblowing von Enthüllungsplattformen im Internet wie WikiLeaks abzugrenzen. Deren Ziel besteht darin, durch Zugänglichmachung bisher geheimer Dokumente gesetzwidriges oder unethisches Verhalten von Regierungen oder Unternehmen zu enthüllen. Anhand der dort zur Verfügung gestellten Daten muss die Öffentlichkeit dann aber selbst beurteilen, ob ein rechtswidriges oder zumindest ein ethisch anstößiges Verhalten vorliegt. Die Veröffentlichung zielt aber nicht auf eine weitere Aufklärung wie beim Whistleblowing und unterscheidet sich gerade auch durch die fehlende Anonymität des Vorgangs. 2. Das Dilemma der Beteiligten Whistleblowing steht im Spannungsverhältnis zwischen Aufklärung von Gesetzesverstößen durch in der Regel altruistisch erteilte Hinweise, die gerne unter dem Stichwort Zivilcourage verbucht werden10, einerseits und Denunziantentum andererseits. Letztlich lässt sich dieser Spannungsbogen nur durch

__________ 6 Vgl. nur: The Institute of Chartered Accountants in England and Wales (ed.), Guidance for Audit Committees – Whistleblowing Arrangements, 2004, S. 6 (abrufbar unter http://www.icaew.com/~/media/Files/Technical/Audit-and-assurance/ audit/guidance-for-audit-committees/whistleblowing-arrangements.ashx, zuletzt abgerufen am 14.3.2011); Weber-Rey, AG 2006, 406, 409; zum damit nicht zu verwechselnden Audit Committee nach dem DCGK Lohre, ZCG 2010, 193 ff. 7 Sarbanes Oxley Act (H.R.3763) (bspw. abrufbar unter: http://www.sec.gov/about/ laws/soa2002.pdf, zuletzt abgerufen am 14.3.2011). 8 Dazu noch sogleich unter III. mit Fn. 20. 9 Title IX Subtitle B Sec. 21F. Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act (Pub.L. 111-203) (abrufbar unter http://www.gpo.gov/fdsys/pkg/PLAW-111 publ203/content-detail.html, zuletzt abgerufen am 14.3.2011); ebenso aber auch schon der False Claims Act, vgl. dazu unten III. bei Fn. 18. 10 Vgl. etwa Lampert in Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 9 Rz. 35; Deiseroth/Derleder, ZRP 2008, 248. Zur Gegenposition etwa Niehus, DB 2004, Heft 23, Editorial (Seite 1).

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eine Interessenabwägung auflösen11. Es geht um die Interessen des Unternehmens bzw. der Allgemeinheit an Aufklärung wie Verhinderung von gesetzwidrigem Verhalten auf der einen Seite. Hierher zählt aber auch das Interesse des Hinweisgebers, für sein couragiertes Verhalten keine Nachteile wie den Verlust des Arbeitsplatzes, Behinderung bei späteren Beförderungen oder im täglichen Miteinander mit seinen Kollegen zu erleiden. Auf der anderen Seite des Spannungsbogens steht das Interesse der Mitarbeiter, nicht zu Unrecht einer rechtswidrigen Handlung bezichtigt zu werden bzw. sich gegen eine solche Anschuldigung effektiv verteidigen zu können. Wirft man einen näheren Blick auf die Interessen des Unternehmens nach Aufklärung, so geht dieses regelmäßig nicht dahin, dass der Informant sofort die Öffentlichkeit bzw. die Staatsanwaltschaft benachrichtigt. Das Bekanntwerden von Gesetzesverstößen in der Öffentlichkeit führt regelmäßig zu einem Reputationsschaden des Unternehmens, der sich auch in messbaren Umsatz- und Gewinneinbußen niederschlagen kann. Deshalb besteht ein Interesse des Unternehmens daran, durch internes Whistleblowing eine Anzeige gegenüber betriebsfremden Stellen zu verhindern. Andererseits ist das Interesse daran, Gesetzesverstöße vertuschen zu dürfen, rechtlich nicht schutzwürdig und hat somit bei einer Interessenabwägung außen vor zu bleiben. Das Bestreben danach, externes Whistleblowing zu vermeiden, hängt aber nicht nur mit der Schädlichkeit einer negativen Publicity zusammen. Vielmehr darf typsicherweise zu Recht die Hoffnung gehegt werden, dass bei einem internen Anzeigesystem eine niedrigere Hemmschwelle von Mitarbeitern besteht, rechtswidriges Verhalten im Unternehmen offenzulegen. Hinzukommt, dass mit der Bekanntmachung an die Öffentlichkeit oftmals die Preisgabe sensibler, bisher zu Recht geheim gehaltener Unternehmensdaten verbunden sein kann, woran das Unternehmen kein Interesse hat. Auf der Seite der Arbeitnehmer, die ein rechtswidriges Verhalten zur Anzeige bringen wollen, besteht beim Fehlen eines externen oder internen Whistleblowing-Systems stets die Gefahr, Nachteile zu erleiden. Die Hauptgefahr ist darin zu sehen, dass andere Angestellte ein Interesse daran haben, die Aufklärung der Vorwürfe zu verhindern, da sie selber verstrickt sind. Aus dieser Vertuschungsstrategie können für den Informanten auf zwei Ebenen Gefahren drohen. Handelt es sich bei den verstrickten Tätern um Vorgesetzte, können diese geneigt sein, den Hinweisgeber durch Kündigung oder Versetzung an eine entfernte und/oder unbeliebte Stelle im Unternehmen mundtot zu machen. Auch wenn eine solche Kündigung regelmäßig rechtswidrig sein dürfte12, besteht gleichwohl eine faktische Gefahr, dass sich der Informant mit dieser Einrede nicht durchsetzen kann. Dies gilt insbesondere, wenn er nicht über belastbare Beweise für seinen Hinweis verfügt. Hinzukommt, dass die Voraussetzungen für eine Kündigung oft falsch eingeschätzt werden. Entsprechendes

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11 Vgl. zum Folgenden auch Bürkle, DB 2004, 2158, 2159 f.; Mahnhold, NZA 2008, 737 f. 12 Vgl. ausführlich hierzu Müller, NZA 2002, 424, 432 ff. mit zahlreichen weit. Nachw. sowie unten unter III. mit Fn. 28 und 29.

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gilt mutatis mutandis für die Erschwerung eines künftigen Aufstiegs, wobei hier die Beweislage regelmäßig noch viel diffiziler sein dürfte. Zum anderen besteht die Gefahr, dass der Informant von anderen Kollegen, namentlich durch solche, die selber verstrickt sind, im alltäglichen Miteinander ausgegrenzt wird (Stichwort Mobbing). Hieran werden sich aufgrund eines falsch verstandenen Korpsgeistes oftmals auch nicht involvierte Kollegen beteiligen, da sie in dem Informanten schnell einen Nestbeschmutzer sehen, den es in seine Schranken zu weisen gilt. Beim externen Whistleblowing kommen für den Informanten rechtliche Gefahren durch die Preisgabe von unternehmensinternen Daten hinzu. Zu denken ist zum Beispiel an die Weitergabe von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 17 UWG), wobei umstritten ist, ob die Anzeige von Straftaten hierunter zu subsumieren ist13. In der Weitergabe von unternehmensinternen Daten kann aber zugleich ein Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen liegen. Soweit man diesen Vorschriften Schutzgesetzcharakter zuerkennt14, kommen möglicherweise auch noch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche hinzu. Außerdem ist die Weitergabe von unternehmensinternen Daten regelmäßig eine schadensersatzbewährte Verletzung des Arbeits- oder Dienstvertrages. Die soeben skizzierten Umstände deuten prima vista darauf hin, dass sich die Einrichtung eines anonymen Whistleblowing-Systems als Allheilmittel erweisen könnte, um aller aufgezeigten Probleme ledig zu werden. Indes sind in die Abwägung auch die Nachteile eines Whistleblowing mit einzubeziehen. Dabei wird im Folgenden unterstellt, dass die Anzeigen vollständig anonym erfolgen, um den Spannungsbogen der widerstreitenden Interessen voll auszureizen. Wird aufgrund anonymer Anzeigen ermittelt, führt dies regelmäßig zur Beeinträchtigung des Betriebsklimas und des Friedens im Betrieb15. Es entsteht eine Situation der Angst und Verunsicherung, die sich nachteilig auf die Produktivität der Mitarbeiter auswirken kann. Werden konkrete Personen bezichtigt, können sich diese nur eingeschränkt verteidigen, da sie nicht wissen, von wem die Vorwürfe ausgehen. Will man den Informanten wirklich geheim halten, können oft gar nicht alle Informationen offen gelegt werden, auf denen die Verdächtigung fußt, da anderenfalls der Hinweisgeber sofort zu erkennen wäre, wie dies gerade bei kleineren Betriebsstrukturen Gang und Gäbe ist16. Außerdem können Gerüchte aufkommen, wer wohl wen „verpfiffen“ habe, sodass

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13 Für die Erfassung auch sog. „illegaler Geheimnisse“ die wohl überwiegende Literatur: Janssen/Maluga in MünchKomm. StGB, 2010, § 17 UWG Rz. 34 ff.; Köhler/ Bornkamm, UWG, 29. Aufl. 2011, § 17 Rz. 9; von Pelchrzim, CCZ 2009, 25, 26 f. m. w. N.; Ohly in Piper/Ohly/Sosnitza, UWG, 5. Aufl. 2010, § 17 Rz. 12; HarteBavendamm, UWG, 2. Aufl. 2009, § 17 Rz. 6, wobei die beiden Letztgenannten eine Rechtfertigung über § 34 StGB für möglich halten; a. A.: tendenziell wohl LG Düsseldorf, NStZ-RR 2011, 84, 85; Diemer in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 17 UWG Rz. 16; Rützel, GRUR 1995, 557 ff. 14 Worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. dazu etwa Sprau in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 823 BGB Rz. 62a m. w. N. 15 Vgl. nur Bürkle, DB 2004, 2158, 2159. 16 Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2629; ebenso Niehus, DB 2004, Heft 23, Editorial (Seite 1).

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weitere Unbeteiligte in Verdacht geraten, der Informant gewesen zu sein, was zu einer verstärkten Verunsicherung unter den Mitarbeitern führen kann. Im Extremfall werden Unbeteiligte Repressalien durch einen falsch verstandenen Korpsgeist ausgesetzt. Selbst wenn es dem zu Unrecht Bezichtigten gelingt, den Verdacht zu widerlegen, bleibt doch oft ein negativer Eindruck zurück, frei nach dem Motto: der hatte doch auch mal Dreck am Stecken, aber man konnte ihm letztlich wohl nichts nachweisen. Ebenso gefährlich kann es sein, wenn sich im Gedächtnis der Kollegen nur der Verdacht, nicht aber dessen Widerlegung eingräbt. Dies ist freilich ein allgemeines Problem, das sich auch bei Ermittlungen unter Offenlegung des Informanten ergibt. Aus den bisherigen Überlegungen folgt zweierlei: Zum einen sind aus Sicht des Unternehmens interne Whistleblowing-Systeme eindeutig vorzugswürdig17. Zumindest sollte ein internes Whistleblowing einer externen Anzeigemöglichkeit vorgeschaltet werden. Zum anderen lässt sich festhalten, dass interne Whistleblowing-Systeme mit einer vollständigen Gewährleistung der Anonymität des Informanten einer besonderen Rechtfertigung bedürfen. Dabei wird insbesondere zu fragen sein, ob ein solches Whistleblowing-System unabdingbare Vorteile gegenüber solchen Verfahren bietet, bei denen der Informant seine Identität zwar offenlegen muss, die Whistleblowing-Stelle diese aber wahrt, bei Missbrauch des Anzeigerechts aber Ross und Reiter offen legen kann. Hierauf wird bei den Grenzen und Gestaltungsoptionen von WhistleblowingSystemen zurückzukommen sein. Zuvor ist aber kurz das regulatorische Umfeld von Whistleblowing näher zu beleuchten (sub III.) und der Frage nachzuspüren, inwieweit Compliance-Systeme ein wie auch immer geartetes Whistleblowing-System erzwingen (vgl. unten IV.).

III. Das regulatorische Umfeld des externen Whistleblowings Seinen regulatorischen Ursprung hat das externe Whistleblowing in den USA in Gestalt des sog. False Claims Act (FCA) von 1863, der teilweise auch „Lincoln Law“ bezeichnet wird. Heute finden sich die wichtigsten Elemente dieses auf die Vermeidung der illegalen Verwendung von öffentlichen Geldern gerichteten Gesetzes in 18 U.S.C. § 287 (Criminal FCA) bzw. 31 U.S.C. §§ 3729–3733 (Civil FCA)18. Um Whistleblowing handelt es sich dabei insoweit als unbeteiligte Dritte, meist frühere Mitarbeiter der Täterorganisation, im Wege einer Privatklage im Namen des Staates die Verletzung öffentlich-rechtlicher Vergabe- oder Subventionsvorschriften geltend machen (sog. Qui tamKlage)19. Eine Besonderheit besteht darin, dass der Privatkläger eine Prämie von 15 %–30 % erhält, sofern der Prozess zu einem Erfolg führt, und der Täter eine Geldstrafe an den Staat zahlen muss.

__________ 17 So im Ergebnis auch Bürkle, DB 2004, 2158, 2159. 18 Abrufbar über das Government Printing Office der U.S.A. (http://www.gpoaccess. gov/uscode/index.html, zuletzt abgerufen am 14.3.2011). 19 Aus dem deutschen Schrifttum ausführlich dazu, auch mit rechtstatsächlichen Zahlen Kölbel, JZ 2008, 1134, 1136 ff.

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Wichtigste Rechtsquelle weltweit dürfte sec. 301 des Sarbanes-Oxley-Act (SOX) sein, der das audit committee von in den USA börsennotierten Unternehmen verpflichtet, ein System einzurichten, mittels dessen Mitarbeiter in anonymer Form Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften melden können20. Eine Anzeigepflicht wird jedoch weder im SOX noch in den begleitenden Listingrules gefordert21. Arbeitsrechtlich werden Whistleblower durch sec. 806 SOX abgesichert, wonach der Beschäftigte aufgrund der Anzeige nicht diskriminiert und ihm insbesondere nicht gekündigt werden darf. Der Anwendungsbereich von sec. 806 SOX ist jedoch auf Beschäftigte in den USA begrenzt22, während sec. 301 SOX auch deutsche Unternehmen, die in den USA gelistet sind23, erfassen kann24. Auf die weiteren Einzelheiten muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden, zumal der Regelungsgehalt von sec. 301 SOX auch im deutschen Schrifttum bereits hinreichend dargestellt ist25. In Großbritannien wird Whistleblowing durch den Public Interest Disclosure Act von 1998 geschützt26. Ähnlich wie in sec. 806 SOX darf dem Arbeitnehmer kein Nachteil aus einer Anzeige erwachsen, insbesondere sind Kündigungen unzulässig. Voraussetzung hierfür ist, dass der Arbeitnehmer bei seiner Anzeige im guten Glauben handelt und sich der zu meldende Verstoß auf einen der in sec. 43B Employment Rights Act 1996 genannten Tatbestände bezieht, wobei der dortige Katalog aber sehr weit formuliert ist und nicht nur jegliche Arten von Straftaten, sondern auch den Verstoß einer Person „to comply with any legal obligation to which he is subject“ erfasst. Anders als in den USA ist die Regelung aber rein arbeitsrechtlicher Natur. Auch wenn nicht danach differenziert wird, ob der Arbeitnehmer sein Wissen gegenüber einem internen oder externen Whistleblowing-System offenbart, fehlt doch eine Verpflichtung von Unternehmen, Whistleblowing-Systeme einzurichten. In Deutschland finden sich bisher keinerlei Regelungen zum Whistleblowing. Ein Schutz der Arbeitnehmer lässt sich jenseits des allgemeinen Maßregelungsverbots in § 612a BGB allenfalls aus allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen herleiten. Dabei gilt jedoch im Grundsatz, dass Arbeitnehmer aufgrund ihrer aus dem Arbeitsvertrag folgenden Treuepflicht gehalten sind, interne

__________ 20 Die entscheidende Passage lautet: „Each audit committee shall establish procedures for … the confidential, anonymous submission by employees of the issuer of concerns regarding questionable accounting or auditing matters.“ 21 Mahnhold, NZA 2008, 737, 741. 22 Ruben Carnero v. Boston Scientific Coporation, 433 F. 3d 1 (1st Cir. 2006) – zitiert nach Knöfel, RIW 2007, 493, dort mit einer ausführlichen Würdigung der Entscheidung. 23 Zu den entsprechenden Listingrules der US-amerikanischen Börsen vgl. v. Zimmermann, WM 2007, 1060, 1063 sowie Mahnhold, NZA 2008, 737, 741. 24 Ausführlich zur exterritorialen Wirkung von sec. 301 SOX Peter, Der US-amerikanische „Sarbanes-Oxley Act of 2002“, 2007, S. 192 ff. sowie unten V. 1c. 25 Vgl. vor allem v. Zimmermann, WM 2007, 1060 ff.; Mahnhold, NZA 2008, 737, 740 ff. sowie Weber-Rey, AG 2006, 406, 408. 26 1998 c. 23 (http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1998/23, zuletzt abgerufen am 14.3.2011).

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Informationen aus dem Rechtskreis des Arbeitgebers geheim zu halten. Mit einem externen Whistleblowing würden sie regelmäßig gegen diesen Grundsatz verstoßen und eine Kündigung oder zumindest eine Abmahnung riskieren27. Eine sehr begrenzte Ausnahme bildet allein § 17 Abs. 2 ArbSchG, wonach im Bereich der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz die Anzeige bei der zuständigen Behörde keine Nachteile nach sich ziehen darf. Dieser Schutz steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass eine interne Beschwerde gegen die Missachtung der Vorschriften erfolglos geblieben ist. Daneben findet sich eine vergleichbare Regelung nur für die Anzeige von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz nach § 4 Abs. 3 Beschäftigtenschutzgesetz. Sieht man von diesen punktuellen Regelungen ab, bleibt die Rechtslage für den Arbeitnehmer unsicher. Zwar hat das BVerfG bereits vor zehn Jahren entschieden, dass es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sei, wenn eine Kündigung allein auf die Aussage eines Arbeitnehmers in einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren gestützt werde28. Das Bundesarbeitsgericht hat in der Folgezeit ein allgemeines Anzeigerecht, das man aus der Entscheidung des BVerfG herauslesen könnte, allerdings wieder relativiert, indem es betont, dass der Arbeitnehmer bei einer Anzeige auf die geschäftlichen Belange seines Arbeitgebers Rücksicht nehmen muss und diese keine unverhältnismäßige Reaktion darstellen darf. Dabei wird zwar kein genereller Vorrang einer innerbetrieblichen Klärung vor der externen Anzeige anerkannt, aber doch als Regelfall vorausgesetzt29. Auf dieser Linie lag auch der gemeinsame Gesetzgebungsvorschlag dreier Bundesministerien aus dem Jahre 2008. Nach einer geplanten Neufassung des § 612a BGB30 in Reaktion auf die „Gammelfleischskandale“ sollte sich ein Arbeitnehmer, der auf Grund konkreter Anhaltspunkte der Auffassung ist, dass in seinem Betrieb gesetzliche Pflichten verletzt werden, an seinen Arbeitgeber oder eine zur innerbetrieblichen Klärung zuständige Stelle wenden und Abhilfe verlangen können. Soweit der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfe nicht nachkommt, sollte dem Arbeitnehmer das Recht eingeräumt werden, sich an eine zuständige außerbetriebliche Stelle zu wenden (§ 612a Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB-E)31. Allerdings sollte dieses innerbetriebliche Petitionsrecht

__________ 27 Ausführliche Analyse der hier nicht zu vertiefenden Frage, inwieweit Whistleblowing einen Kündigungsgrund darstellt, etwa bei Müller, NZA 2002, 424, 427 ff.; kürzere Überblicke bei Bürkle, DB 2004, 2158 f. und Mengel in Hauschka (Fn. 10), § 12 Rz. 90 f. 28 BVerfG, WM 2001, 1808 ff. 29 BAGE 107, 36 ff.; Weber-Rey, AG 2006, 406, 411; Bürkle, DB 2004, 2158 f. mit Nachweis der Voraussetzungen, in denen der Arbeitnehmer ohne vorherige innerbetriebliche Klärung sofort zur externen Anzeige schreiten darf. 30 Gemeinsamer Vorschlag zur Regelung des Informantenschutzes für Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Änderung des Lebensmittel- u. Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften des BMAS, BMELV und des BMJ v. 30.4.2008 sowie die dazu erfolgte Anhörung im Deutschen Bundestag am 4.6.2008. 31 Vgl. dazu näher etwa Grimm/Windeln, „Whistleblowing“ – Zum Vorschlag für eine gesetzliche Regelung des Informantenschutzes für Arbeitnehmer, ArbRB 2009, 21 ff.; Deiseroth/Derleder, Whistleblower und Denunziatoren, ZRP 2008, 248, 251.

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nicht zwingend, sondern nur fakultativ gelten. Der Gesetzesentwurf ist allerdings spätestens mit Ablauf der 16. Legislaturperiode gescheitert. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Deutschland bisher keine gesetzlichen Regelungen zum Whistleblowing kennt und anders als in anderen Ländern eine Tendenz zu internen Modellen oder zumindest einer vorrangigen internen Klärung vorherrscht.

IV. Whistleblowing ein notwendiger Bestandteil von Corporate Compliance? 1. Aktienrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Systems? Die inzwischen wohl überwiegende Auffassung geht mit Martin Winter32 davon aus, dass nur im Einzelfall eine aktienrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Systems besteht33. Einige Befürworter einer generellen Pflicht zur Einrichtung einer ComplianceAbteilung berufen sich auf § 130 OWiG34, wonach derjenige ordnungswidrig handelt, der als Inhaber eines Unternehmens und Betriebes die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die notwendig sind, Pflichtverletzungen des Unternehmens, die mit Geldbuße oder mit Strafe bedroht sind, zu verhindern. Dagegen spricht jedoch, dass die Norm nur von notwendigen Aufsichtsmaßnahmen spricht, die von den jeweiligen Gegebenheiten im Unternehmen abhängen. Eine Vorgabe, wie der Inhaber eines Unternehmens diesen Vorgaben nachkommen soll, ist der Vorschrift aber nicht zu entnehmen. Es mag im Einzelfall zwar sein, dass bei einer sehr komplexen Unternehmensstruktur die Vorgaben nur durch die Schaffung einer Compliance-Abteilung erreicht werden können, zwingend ist dies – gerade bei kleineren Unternehmen – aber nicht. Dieser Befund lässt sich auch auf § 12 Abs. 5 WpDVerOV stützen. Diese Norm betrifft Finanzdienstleistungsunternehmen, die nach § 33 WpHG grundsätzlich zur Einrichtung einer Compliance-Funktion verpflichtet sind. Aber auch für diese Unternehmen wird eine Ausnahme anerkannt, sofern die Schaffung einer eigenen Abteilung gemessen am Compliance-Bedarf des gesamten Unternehmens unangemessen wäre. Es wäre wenig nachvollziehbar, strengere Anforderungen an jedes Unternehmen zu stellen als an die besonders risikobehafteten und gesondert regulierten Wertpapierdienstleistungsunternehmen.

__________

32 Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1104 f. 33 So etwa Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 1 Rz. 23; Hölters, AktG, 2011, § 93 Rz. 92; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl 2008, § 93 Rz. 36; Bachmann in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 65, 79; für eine generelle Pflicht aber Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648 f.; Bürkle, BB 2005, 565, 568 ff.; tendenziell auch Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 8 Rz. 43 ff. (aber unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit); ähnlich wohl auch Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 80. 34 So tendenziell Mertens/Cahn (Fn. 33), § 93 Rz. 80, soweit es um die Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten geht; andeutend auch Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648 f.

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Ferner wird teilweise eine Gesamtanalogie zu § 14 Abs. 2 Geldwäschegesetz (GwG), § 52a Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) und § 53 Kreiswirtschafts- und Abfallgesetz (KrW/AbfallG) vorgeschlagen35. Diesen Vorschriften ist gemein, dass gewisse Unternehmen mit einem besonderen Tätigkeitsschwerpunkt, der mit besonderen Gefahren für die Allgemeinheit verbunden ist, einen Unternehmensbeauftragten36 ernennen oder gewisse Sicherungsvorkehrungen ergreifen müssen. Gegen eine derartige Gesamtanalogie wird jedoch zu Recht vorgebracht, dass dieser Ansatz zu weit ginge und die Heranziehung der genannten spezialgesetzlichen Normen nicht genüge, um eine gesellschaftsrechtliche Organpflicht zu begründen37. Das wohl stärkste Argument der Befürworter bildet der Verweis auf § 91 Abs. 2 AktG, wonach Aktiengesellschaften ein geeignetes Frühwarnsystem für unternehmerische Risiken schaffen müssen. § 91 Abs. 2 AktG begründet nach allgemeinem Verständnis auch die Pflicht, bestimmte organisatorische Systeme einzurichten38. Hieraus solle auch eine Pflicht folgen, eine ComplianceOrganisation zu schaffen39. Dem ist insoweit zuzustimmen, als der Rechtsverstoß zugleich eine die Gesellschaft in ihrem Fortbestand gefährdende Entwicklung darstellen kann40. Anderseits ist der Anwendungsbereich des § 91 Abs. 2 AktG jedoch enger, da nicht jeder Gesetzes- oder Satzungsverstoß die Gesellschaft in ihrem Bestand gefährdet. Deshalb ist jenseits der WpHG-Unternehmen davon auszugehen, dass es sich bei der Entscheidung des Vorstands zur Compliance nicht um eine gesetzlich gebundene, sondern um eine Ermessensentscheidung handelt, bei welcher der Vorstand selbst das unternehmensspezifische Risiko von Rechtsverstößen anhand von Kriterien wie der Größe des Unternehmens, der Branche, der Anzahl der Mitarbeiter, der Zahl der auf das Unternehmen anwendbaren Vorschriften, der Frequenz früherer Missstände und der internationalen Unternehmensausrichtung zu berücksichtigen hat41. Der Sorgfaltsmaßstab bei dieser Einschätzung kann aus § 93 Abs. 1 AktG abge-

__________ 35 Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 649. 36 Vgl. näher zum Konzept des Unternehmensbeauftragten Casper in FS K. Schmidt, 2009, S. 199, 203 ff.; dens. in Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung (Hrsg.), Bankrechtstag 2008, 2009, S. 139, 150 ff.; Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 8 ff. 37 Bürkle, BB 2005, 565, 567; Hauschka (Fn. 33), § 1 Rz. 23; ähnlich auch Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 76 Rz. 9a, der § 33 Abs. 1 WpHG und § 25a KWG als nicht verallgemeinerungsfähig ansieht; Spindler (Fn. 33), § 91 Rz. 36; Sieg/Zeidler in Hauschka (Fn. 33), § 3 Rz. 24; zur GmbH vgl. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 Rz. 68a. 38 Lediglich die Reichweite ist insoweit strittig, vgl. Mertens/Cahn (Fn. 34), § 91 Rz. 19 ff. 39 Bürkle, BB 2005, 565, 569; im Ergebnis auch Spindler, WM 2008, 905, 906, der jedoch auf einer durch 2006/43/EG und 2006/46/EG implizit erweiterten Pflicht des Vorstandes aufbaut und Compliance als Teil eines wesentlich erweiterten Risikomanagements versteht; ders. in FS Hüffer, 2010, S. 985, 992; Dreher in FS Hüffer, 2010, S. 161, 171. 40 So auch Uwe H. Schneider, NZG 2009, 1321, 1323; Geiser, Grenzziehung zwischen der Business Judgment Rule und den notwendigen Anforderungen an eine Compliance-Organisation, 2010, S. 47; wohl auch Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1104. 41 Fleischer, AG 2003, 291, 300; Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173, 2174; Kort, NZG 2008, 81, 84; Hauschka (Fn. 33), § 1 Rz. 23; Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 120.

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leitet werden, da der Vorstand im Rahmen seiner Leitungsaufgabe jeweils an den Maßstab eines ordentlichen Geschäftsleiters gebunden ist. Führt man sich andererseits vor Augen, dass ex ante die Folgen eines Gesetzesverstoßes im Einzelfall, gerade bei einer Verkettung von einer Vielzahl von Verstößen, nur schwer abgeschätzt werden können, wird der Vorstand bei börsennotierten Unternehmen, die in der Regel auch über eine entsprechend komplizierte Organisationsstruktur verfügen, nicht umhin kommen, für eine organisatorische Verfestigung der Compliance-Aufgabe zu sorgen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es keine unbedingte Pflicht des Vorstandes zur Schaffung einer Compliance-Organisation (Compliance im formellen Sinne) gibt. Vielmehr folgt eine solche Pflicht nur bei größeren Unternehmen im Einzelfall aus der Leitungspflicht des § 76 Abs. 1 AktG in Verbindung mit dem Haftungsmaßstab des Vorstands in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Auch aus Ziffer 4.1.3 DCGK folgt keine Pflicht zur Statuierung einer Compliance-Funktion im formellen Sinne42. Abgesehen von dem Charakter des § 161 AktG ist hervorzuheben, dass diese Regelung im DCGK bewusst auf konkrete organisatorische Vorgaben verzichtet, um der Unternehmensleitung ein Maximum an unternehmerischer Gestaltungsfreiheit zu gewähren. 2. Complianceumfang in der Aktiengesellschaft ohne sektorale Regulierung Soweit im Einzelfall eine solche aktienrechtliche Verpflichtung zur Schaffung einer Compliancefunktion besteht, stellt sich die Frage, was der Inhalt dieser Pflicht ist. Anders als für Wertpapierdienstleistungsunternehmen mit § 33 WpHG und der MaComp43 gibt es im allgemeinen Aktienrecht keinerlei Vorgaben, wie die Compliance-Funktion auszugestalten ist. Leitet man die Verpflichtung, eine solche Organisation zu schaffen, im Einzelfall aus §§ 76, 93 AktG bzw. § 91 Abs. 2 AktG her, ist auch aus diesen Normen ein für den Einzelfall maßgeschneidertes Pflichtenprogramm zu entnehmen. Folglich können im Folgenden nur allgemeine Grundsätze entwickelt werden, die quasi als Mindestpflichtenkanon zu gelten haben. Gleichwohl spricht nichts dagegen, sich an der Diskussion zu § 33 WpHG zu orientieren44. Dabei kann man die Regel aufstellen, dass man sich umso mehr an den Vorgaben des WpHG zu orientieren hat, je größer das Unternehmen ist bzw. je schadensanfälliger sein Unternehmensgegenstand ist. Überlegungen für konkrete Organisationsvorgaben haben

__________ 42 Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Hrsg.), Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2010, Rz. 617 f. 43 Rundschreiben 4/2010 (WA) – Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und die weiteren Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten nach §§ 31 ff. WpHG für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (MaComp), verfügbar unter www. bafin.de (zuletzt abgerufen am 14.3.2011). 44 Vgl. etwa Spindler (Fn. 39), 905 ff.; Veil, WM 2008, 1093 ff.; Engelhart, ZIP 2010, 1832 ff.; Lösler, WM 2010, 1917 ff.; Niermann, ZBB 2010, 400 ff.; Schäfer in Heidel (Hrsg.), Aktien- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 33 WpHG Rz. 18 ff.; Casper (Fn. 36), S. 145 ff.

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sich vom Gedanken der Effizienz leiten zu lassen. Die Compliance-Abteilung ist so auszugestalten, dass sie möglichst flächendeckend Gesetzesverstöße verhindert bzw. solche aufdeckt. Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass die Compliance-Organisation als eigenständige Stabsabteilung zu verselbständigen ist. Sie ist insbesondere von dem operativen Geschäft zu trennen. In einem virtuell gegliederten Spartenkonzern ist auch je eine Compliance-Abteilung pro Betriebssparte denkbar. Aber auch insoweit ist eine Trennung vom Umsatzgeschäft notwendig. Die Compliance-Abteilung muss Zugang zu den notwendigen Informationsflüssen innerhalb des Unternehmens haben, um ihre Aufgabe sinnvoll ausüben zu können. Dies bedeutet aber nicht, dass sie in der Lage sein muss, jederzeit auf alle Informationen zuzugreifen und Mitarbeiter im Unternehmen jederzeit befragen kann. Grundsätzlich hat sie als Stabsabteilung den Weg über den Vorstand zu wählen. Dieser kann freilich der Compliance-Abteilung den dauerhaften Zugriff auf einzelne Informationssysteme ermöglichen und antizipiert die Befragung von Mitarbeitern gestatten. Wie dies im Einzelfall auszugestalten ist, liegt jedoch im Ermessen des Vorstandes und kann hier nicht weiter verallgemeinert werden. Hinsichtlich der Überwachung des Email-Verkehrs gelten die allgemeinen arbeitsrechtlichen und datenschutzrechtlichen Einschränkungen45. Ob eine Aktiengesellschaft aber auch zwingend ein anonymisiertes Whistleblowing-System schaffen muss, um eine effektive Compliance-Funktion einzurichten, ist eine offene und bisher wenig diskutierte Fragestellung. 3. Folgt aus §§ 76, 93 AktG eine Pflicht, ein Whistelblowing-System einzurichten? Auch wenn ein anonymes Whistleblowing-System geeignet ist, die Aufklärung von Gesetzesverstößen zu befördern (oben II. 2.), ist bisher zu Recht nicht die These vertreten worden, dass ein Whistleblowing-System ein notwendiger Bestandteil eines Compliance-Systems ist. Dies lässt sich auch nicht mit dem Argument begründen, dass externes Whistleblowing in aller Regel mit einem Reputationsschaden des Unternehmens bei potentiellen Investoren, potentiellen Mitarbeitern und Ratingagenturen einhergeht46 und deshalb vom Vorstand im Rahmen seiner allgemeinen Leitungsaufgabe zu verhüten ist. Eine auf § 93 AktG gestützte Verpflichtung kann es nur dann ergeben, wenn die Vorteile eines anonymen Whistleblowing gegenüber den Nachteilen eindeutig dominieren würden. Dies ist bisher aber nicht nachgewiesen. Als gravierender Nachteil bleibt, dass sich der Beschuldigte oftmals nicht sinnvoll verteidigen kann, sofern er nicht weiß, von wem und aufgrund welcher konkreten Vorfälle die Vorwürfe erhoben werden. Letztlich hat man den Schutz des Verdächtigten und dessen Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel höher zu bewerten als

__________ 45 Vgl. dazu etwa Reichold in MünchHdb. Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, § 49 Rz. 35; Schmidl in Hauschka (Fn. 10), § 29 Rz. 259 ff., jew. m. w. N. 46 Dies zumindest andeutend Bürkle, DB 2004, 2158, 2160 f.

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einen möglichen, empirisch noch nicht nachgewiesenen Effizienzgewinn aus einem anonymisierten Petitionssystem. Es ist also ausreichend, wenn die Compliance-Abteilung als Ansprechpartner für mögliche Missstände oder Verstöße bereit steht. Eine anonyme Hotline oder ein sonstiges, wie auch immer geartetes, Whistleblowing-System ist hingegen von der Organisationspflicht, eine Compliance-Abteilung vorzuhalten, nicht umfasst. Von einer möglichen Pflicht, ein Whistleblowing-System einzuführen, ist die Frage abzugrenzen, ob das Unternehmen ein solches System im Rahmen seines Organisationsermessens einrichten darf. Dies wird sogleich unter V. näher zu klären sein. Vorab ist aber noch der Frage nachzugehen, ob sich zumindest für Wertpapierdienstleistungsunternehmen aus § 33 WpHG eine Pflicht ergibt, ein anonymes Whistleblowing-System einzurichten. 4. Besonderheiten bei Wertpapierdienstleistungsunternehmen (§ 33 WpHG)? Näherliegend erscheint es, aus § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG eine Pflicht zur Einrichtung eines Whistleblowing-Systems herzuleiten. Dafür könnte insbesondere das in dieser Vorschrift verankerte Wirksamkeitserfordernis sprechen. Indes muss auch im Bereich der Wertpapierdienstleistungsunternehmen eine Interessenabwägung stattfinden. Auch insoweit gilt, dass die Vorteile eines anonymisierten Whistleblowing-Systems gegenüber einem Verfahren, bei dem man seine Personalien offenlegen muss, noch nicht hinreichend nachgewiesen sind, um einen Eingriff in die Verteidigungsrechte des Beschuldigten mit Sicherheit zu rechtfertigen. Für einen generellen Zwang zum Aufbau eines derartigen Systems besteht deshalb kein Anlass. Vorläufig sollte es mit zwei milderen Mitteln sein Bewenden haben: Nur soweit die Compliance-Abteilung im Einzelfall den Verdacht hegt, dass in einer Abteilung systematisch gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen worden ist und eine Aufklärung ohne ein anonymes Whistleblowing-System nicht möglich erscheint, ist sie zu einer temporären Einrichtung verpflichtet. Darüber hinaus steht es im pflichtgemäßen Ermessen der Compliance-Abteilung, ob sie bei ihr unter Verletzung des Dienstweges eingehende Anzeigen zumindest temporär vertraulich behandelt, soweit ihr dies im Einzelfall erforderlich scheint. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit der Ansicht der BaFin in ihren Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und die weiteren Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten nach §§ 31 ff. WpHG für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (MaComp)47. Weder in dem Abschnitt BT 1.1.2 zur Wirksamkeit der Compliance-Funktion noch in der ausführlichen Ziffer BT 1.1, die sich den Aufgaben der Compliance-Abteilung widmet, wird Whistleblowing auch nur andeutungsweise angesprochen. Vielmehr wird der Blick ganz auf die Überwachungsaufgabe der Compliance-Abteilung gerichtet. Vorgaben für ein anonymisiertes Petitionssystem finden sich ebenso wenig

__________

47 Vgl. oben Fn. 43; vgl. näher zu deren Regelungsgehalt Niermann, ZBB 2010, 400, 410 ff.; H. Schäfer, BKR 2011, 45 ff.; Zingel, BKR 2010, 500, 501 ff.

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wie allgemeine Regelungen zur Kommunikation zwischen der ComplianceAbteilung und den Mitarbeitern der Fachabteilungen.

V. Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen freiwilliger Whistleblowing-Systeme 1. Einwände gegen ein vollständig anonymes Whistleblowing-System a) Datenschutzrechtliche Bedenken Whistleblowing führt unweigerlich dazu, dass bei der Whistleblowing-Stelle die durch den Hinweisgeber gemeldeten Daten erhoben, gespeichert und verarbeitet werden. Dies wird in dem Moment zu einem datenschutzrechtlichen Problem, wenn sich der Verdacht auf konkrete Personen bezieht, deren Personalien dann folglich im Zusammenhang mit der Verdachtsmeldung gespeichert werden müssen. Dieser Vorgang fällt grundsätzlich unter §§ 28, 32 BDSG, könnte aber wegen der dadurch möglicherweise verbundenen Aufklärung von Gesetzesverstößen gerechtfertigt sein (§§ 28 Abs. 1 Nr. 2, 32 Abs. 1 Satz 2 BDSG). Diese Normen, die auf Art. 7 der Datenschutzrichtlinie (95/46/EG) zurückgehen, geben aber keinen grenzenlosen Freifahrtschein, sämtliche Daten zu speichern, die möglicherweise zur Aufklärung von Gesetzesverstößen relevant sein könnten48. Dies wird erst recht offenbar, wenn das Whistleblowing-System auch Meldungen zur Aufklärung von Verstößen gegen unternehmensinterne Ethikrichtlinien erfassen soll49. Das Problem wurde insbesondere mit Blick auf die weitergehenden Vorgaben des Sarbanes-Oxley-Acts von der sog. Art. 29-Gruppe bei der EU-Kommission ausführlich diskutiert50. Die Gruppe leitet ihren Namen aus Art. 29 Datenschutzrichtlinie (95/46/EG) her. Bei ihr handelt es sich um ein unabhängiges Beratungsgremium der EU, das sich aus nationalen Datenschutzbeauftragten rekrutiert. In einem Bericht dieser Gruppe wurde zu Recht hervorgehoben, dass eine Speicherung von Daten eine Interessenabwägung mit den berechtigten Belangen des Verdächtigten, insbesondere mit seinem Interesse an einer effektiven Verteidigung, voraussetzte51. Eine effektive Verteidigung gebietet

__________ 48 Einzelheiten müssen für den vorliegenden Untersuchungszweck nicht näher dargestellt werden, vgl. dazu etwa ausführlich Schmidl (Fn. 45), § 29 Rz. 279 f.; sowie Breinlinger/Krader, RDV 2006, 60, 65 ff. (aber noch zum alten Recht); zum ungeklärten Verhältnis der beiden Vorschriften vgl. auch Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz, 10. Aufl. 2010, § 28 Rz. 31 ff.; Franzen, RdA 2010, 257, 260. 49 Zu den Problemen, die sich hinsichtlich der arbeitsvertraglichen Gestaltung einer Einwilligung i. S. von § 4 Abs. 1 BDSG ergeben ausführlich Schmidl, DuD 2006, 353, 355 ff., allerdings noch zum Diskussionsstand vor der Datenschutzrechtsnovelle 2009. 50 Stellungnahme 1/2006 zur Anwendung der EU-Datenschutzvorschriften auf interne Verfahren zur Meldung mutmaßlicher Missstände in den Bereichen Rechnungslegung, interne Rechnungslegungskontrollen, Fragen der Wirtschaftsprüfung, Bekämpfung von Korruption, Banken- und Finanzkriminalität vom 1.2.2006, veröffentlicht unter http://ec.europa.eu/justice/policies/privacy/docs/wpdocs/2006/wp117_de. pdf (zuletzt abgerufen am 14.3.11). 51 Stellungnahme 1/2006 der Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 10 ff.

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vor allem, dass der Verdächtigte über die Datenspeicherung und die damit gegebenenfalls verbundenen Ermittlungen informiert wird. Dies sieht § 33 BDSG, der Art. 11 der Richtlinie 95/46/EG entspricht, im Grundsatz auch so vor. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass diese Informationspflicht solange aufgeschoben ist, wie die Gefahr besteht, dass durch die Information Beweismittel vernichtet oder die laufenden Ermittlungen erheblich erschwert würden52. Daneben wird aber auch die vollständige Anonymität des Hinweisgebers durch die Art. 29-Gruppe zu Recht unter zwei Gesichtspunkten kritisch gesehen53. Zum einen erschwert eine vollständige Anonymität des Hinweisgebers die Aufklärung des Sachverhalts, da Rückfragen zur weiteren Sachverhaltsermittlung54 sowie zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Informanten ausgeschlossen werden. Zum anderen würde dem Beschuldigten bei einer völlig grundlosen Verdächtigung die Möglichkeit abgeschnitten, gegen den böswilligen Denunzianten wegen der Verletzung seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorzugehen. Mit den Vorschlägen der Art. 29-Gruppe ist die Lösung deshalb in einem System zu suchen, das zwar einerseits die Vertraulichkeit des Hinweisgebers gegenüber dem Beschuldigten grundsätzlich wahrt, andererseits der Whistleblowing-Stelle die Möglichkeit gibt, mit dem Hinweisgeber in weiteren Kontakt zu treten. Eine Freigabe der Daten des Hinweisgebers gegenüber dem Verdächtigten kommt aufgrund der vorzunehmenden Interessenabwägung (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 4 BDSG) jedoch nur dann in Betracht, wenn sich die Beschuldigung als haltlos erwiesen hat und der Hinweisgeber bei der Anzeige nicht im guten Glauben auf das Vorliegen des Verstoßes gehandelt hat, sondern mit der Absicht, den Bezichtigten in Misskredit zu bringen55. Hinsichtlich des Erfordernisses des guten Glaubens kann man an sec. 43 H Employment Rights Act Maß nehmen56. Nur unter diesen Voraussetzungen kann der Beschuldigte unter Rückgriff auf §§ 33, 34 BDSG (Art. 11, 12 Richtlinie 95/46/EG) die Offenlegung der bei der Whistleblowing-Stelle gespeicherten Daten des Hinweisgebers verlangen. Vorher ist ihm zwar Einsicht in die über ihn gespeicherten Daten zu gewähren soweit keine Behinderung der Ermittlungen zu befürchten ist, wobei die Daten des Hinweisgebers hiervon aus den oben genannten Gründen ausgenommen sind und ggf. unkenntlich zu machen sind.

__________ 52 Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 15; Schmidl (Fn. 45), § 29 Rz. 293; Breinlinger/Krader, RDV 2006, 60, 68. 53 Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 15 f.; gänzlich ablehnend deshalb Schmidl (Fn. 45), § 29 Rz. 287. 54 Zu technisch möglichen anonymen Rückfragemöglichkeiten vgl. aber Breinlinger/ Krader, RDV 2006, 60, 65, die freilich erheblich komplizierter sind und eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit nicht zulassen. 55 Ebenso bereits Breinlinger/Krader, RDV 2006, 60, 67, 69. 56 Vgl. oben III. bei Fn. 26.

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b) Verteidigungsrechte des Beschuldigten als Ausfluss seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts Das soeben skizzierte Ergebnis, das auf die Zulässigkeit eines WhistleblowingSystems mit Vertraulichkeitsschutz zielt, aber einem vollständig anonymen Meldesystem die Anerkennung verweigert, bestätigt sich auch mit Blick auf das Recht des Beschuldigten, sich effizient verteidigen zu können. Dieses Recht ist nämlich nicht nur Ausfluss einer Interessenabwägung im Zusammenhang mit datenschutzrechtlichen Vorschriften, sondern primär ein Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts57. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt auch vor wahrheitswidrigen und somit ehrverletzenden Anzeigen. Auf der anderen Seite steht das Interesse des Unternehmens an einem effektiven Compliance-System, zu dessen Einrichtung das Unternehmen unter Umständen gesetzlich verpflichtet ist. Auch insoweit ist also eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen58. Für die Zulässigkeit eines vollständig anonymisierten Whistleblowing-Systems wird stets ins Feld geführt, dass „die Hemmschwelle für Hinweisgeber erhöht würde“59. Auch wenn dies empirisch bisher nicht nachgewiesen ist, weist die Aussage durchaus einen gewissen Grad an Plausibilität auf. Gleichwohl vermag sie die Waage nicht in Richtung Zulässigkeit eines anonymen Whistleblowing-Systems zu bewegen. Vielmehr ist das Interesse des Verdächtigten an der Verteidigung seines Ehrschutzes höher zu bewerten. Er muss die Gewissheit haben, dass nur aufgrund hinreichend substantiierter Aussagen ermittelt wird, bei denen die ComplianceAbteilung auch beim Hinweisgeber zurückfragen konnte, und er sich gegen böswillige oder gar verleumderische Falschanzeigen zivil- und strafrechtlich zur Wehr setzen kann. Hinzu kommt die Gefahr, dass vollständig anonyme Whistleblowing-Systeme ein Klima der Angst schüren können, das sich lähmend auf die Produktivität der übrigen Mitarbeiter auswirken kann60. Der Hinweisgeber wird durch die vertrauliche Behandlung seiner Personalien seitens der Compliance-Abteilung immer noch sehr weitgehend geschützt. Allein die Vermutung, dass der potentielle Hinweisgeber kein hinreichendes Vertrauen in die Geheimhaltung seiner Personalien durch die WhistleblowingStelle habe und deshalb eher von einer Anzeige absehe, ist noch nicht von einem derartigen Gewicht, dass sie einen noch weitgehenderen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten rechtfertigen würde61. Man kann den Schutz des Hinweisgebers auch noch dadurch steigern, dass das Einsichtsrecht in die Unterlagen neben dem Vorstand und dem ComplianceBeauftragten nur denjenigen Mitarbeitern der Compliance-Abteilung gewährt wird, die unmittelbar an der Aufklärung des Falles beteiligt sind. So wird eher ein Zirkulieren der Daten und das Entstehen von Gerüchten, wer „die Pfeife“

__________ 57 Mahnhold, NZA 2008, 737, 739 f.; zum Ehrenschutz als Teil des Selbstdarstellungsschutz Di Fabio in Maunz/Dürig, Grundgesetz, 60. EL 2010, Art. 2 Rz. 169 f. 58 Mahnhold, NZA 2008, 737, 739 f. 59 So etwa v. Zimmermann, WM 2007, 1060, 1064; ebenso Bürkle, DB 2004, 2158, 2161; Pauthner-Seidel/Stefan in Hauschka (Fn. 10), § 27 Rz. 116 f. 60 So auch bereits Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 12. 61 Wie hier Mahnhold, NZA 2008, 737, 739 f.

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war, verhindert. Will die Compliance-Abteilung sich anderer Abteilungen im Unternehmen – wie etwa der Controlling-Abteilung, der Revision oder der Rechtsabteilung – zur Aufklärung der Vorwürfe bedienen, hat sie die Daten entweder nur in anonymisierter Form weiterzugeben oder die Mitarbeiter der anderen Stabsabteilungen ebenfalls zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Eine Beschränkung auf Verstöße im Bereich der Rechnungslegung sowie des Bankund Finanzwesen – wie dies der Sarbanes-Oxley-Act vorsieht – ist hingegen nicht veranlasst62. Vielmehr muss die Frage lauten, ob mit Blick auf einen Jurisdiktionskonflikt nicht für solche börsennotierten Unternehmen ein vollständig anonymes Whistleblowing-System möglich ist, das den Vorgaben der sec. 301 SOX unterliegt. Einstweilen bleibt festzuhalten, dass deutsche Unternehmen flächendeckende Whistleblowing-Systeme mit Vertraulichkeitsschutz für den Hinweisgeber – im Gegensatz zu vollständig anonymen Systemen – einrichten können, aber nicht müssen. c) Besonderheiten für SOX-Unternehmen? Auch wenn im US-amerikanischen Schrifttum die Frage, ob sec. 301 SOX wirklich die Einrichtung eines Whistleblowing-System erfordert, bei dem der Hinweisgeber vollständig anonym bleiben kann, nicht ganz unumstritten ist63, wird man für die Rechtspraxis aufgrund der Auslegungspraxis der SEC doch festhalten können, dass in den USA gelistete Aktiengesellschaften ein vollständig anonymes Whistleblowing-System vorhalten müssen64. Die Stellungnahme der Art. 29-Gruppe an dieser Stelle erinnert ein wenig an das sprichwörtliche Tier, dass den Pelz gewaschen bekommen, aber nicht nass werden möchte. Zwar will sie an sich ein vollständiges anonymes System nicht gestatten, billigt den in den USA notierten Unternehmen ein solches Recht letztlich aber doch zu, sofern damit nicht offen geworben wird65. Letztlich spricht gegen eine Sonderregelung für Unternehmen mit einer Notierung in den USA, dass der exterritoriale Anwendungswille von sec. 301 SOX nicht deutlich zu Tage tritt. Ein US-Gericht entschied zum einen, dass die Vorschriften zum Schutz von Hinweisgebern nicht für ausländische Staatsbürger gelten, die außerhalb der USA für ausländische Niederlassungen von Unternehmen arbeiten66. Auch lässt sich dem Wortlaut von sec. 301 SOX ein

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62 In diese Richtung aber Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 10 ff.; so im Ergebnis wohl auch Wisskirchen/Körber/Bissels, BB 2006, 1567, 1571 f. 63 Vgl. in diese Richtung zumindest mit Blick auf europäische Rechtstraditionen Runte/ Schreiber/Held et al., Cri 2005, 135, 138 f. 64 Vgl. näher dazu den Briefwechsel zwischen der SEC und der europäischen Art. 29Gruppe (verfügbar unter http://ec.europa.eu/justice/policies/privacy/workinggroup/ wpdocs/2006-others_en.htm, zuletzt abgerufen am 14.3.11) sowie v. Zimmermann, WM 2007, 1060, 1063 f.; Mahnhold, NZA 2008, 737, 740 f.; Knöfel, RIW 2007, 493 ff., jew. m. w. N. 65 Art. 29-Gruppe (Fn. 50), S. 12; Mahnhold, NZA 2008, 737, 743. 66 U.S. Court of Appeals (1st Circuit) v. 5. Januar 2006, 433 F.3.d 1 (1s Cir. 2006); die Reichweite dieser Entscheidung bezweifelnd aber Mahnhold, NZA 2008, 737, 742; Knöfel, RIW 2007, 493, 495.

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exterritorialer Anwendungswille nicht eindeutig entnehmen. Vielmehr hat die SEC betont, dass die Einführung von Whistleblowing-Systemen bei ausländischen Unternehmen unter dem Vorhalt der Zulässigkeit in ihrer jeweiligen Heimatordnung steht67. Will man diesen Unternehmen mit Rücksicht auf die nicht ganz klare Rechtslage gleichwohl entgegenkommen, scheint es vertretbar, dass anonymen Meldungen, begrenzt auf den Anwendungsbereich des Sarbanes-Oxley-Act, in der Regel gleichwohl nachgegangen wird. Dies ist grundsätzlich ohnehin möglich (s. sogleich sub d). Man wird es aber in den Konstellationen des SOX unter noch großzügigeren Voraussetzungen zulassen, da im Rahmen der Interessenabwägung das Interesse des Unternehmens insoweit noch etwas stärker zu gewichten ist. d) Umgang mit gleichwohl eingegangenen, anonymen Meldungen Auch jenseits der soeben beschriebenen Fallkonstellation stellt sich die Frage, wie die Compliance-Abteilung mit anonym zugegangenen Hinweisen umgehen darf. Es ist immer denkbar, dass der Anrufer auf einer WhistleblowingHotline seine Identität nicht oder nur unzutreffend angibt oder sich mittels anonymer Schreiben Gehör verschafft. Als Radikallösung ließe sich ein Verwertungsverbot denken, ganz frei nach der US-amerikanischen fruit of the poisonous tree Doktrin zu Verwertungsverboten von Beweismitteln68. Davon abgesehen, dass ein derartiger Grundsatz selbst im deutschen Strafprozessrecht nicht gilt, kann der Gedanke zumindest dann nicht Platz greifen, wenn die Whistleblowing-Stelle anonyme Anzeigen nicht ausdrücklich befördert hat. Grundsätzlich steht es im Ermessen der Geschäftsleitung, ob sie Gerüchten bezüglich Gesetzesverstöße im Unternehmen nachgeht69. Bei dieser Ermessenausübung sind allerdings das Allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie die oben skizzierten datenschutzrechtlichen Vorgaben besonders intensiv zu berücksichtigen. Mit Rücksicht auf die eingeschränkte Verifizierbarkeit des Verdachts müssen also besondere Anhaltspunkte wie Auffälligkeiten bei Routineprüfungen oder andere Indizien vorliegen, die den anonymen Hinweis stützen. Sollte das Unternehmen entgegen der hier vertretenen Ansicht gleichwohl ein anonymes Whistleblowing-System beworben haben, gelten diese Grundsätze umso mehr. Ein absolutes „Verfolgungsverbot“ ist jedoch auch dann nicht anzuerkennen.

__________ 67 SEC 17 CFR 240.10A-3 – zitiert nach Mahnhold, NZA 2008, 737, 742, der daraus und aus seinem Schreiben der SEC an die Art. 29 Gruppe vom 8.6.2006 (verfügbar unter http://ec.europa.eu/justice/policies/privacy/docs/wpdocs/others/2006-08-06-whistle blowing_en.pdf, zuletzt abgerufen am 14.3.2011) aber gerade eine exterritoriale Reichweite ableitet. Freilich hat die SEC insoweit keine Auslegungshoheit. 68 Vgl. dazu statt aller Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011, Rz. 364, wobei es dabei um die Fernwirkung von weiteren erlangten Beweismitteln geht, während hier die Auswertung eines Hinweises infolge eines unzulässigerweise eingerichteten Whistleblowing-Systems gemeint ist. 69 Ebenso Lampert in Hauschka (Fn. 10), § 9 Rz. 35; Mahnhold, NZA 2008, 737, 740.

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2. Meldepflicht Einige Unternehmen sind in der Vergangenheit dazu übergegangen, mit ihren Arbeitnehmern eine Meldepflicht vertraglich zu vereinbaren oder diese über das Direktionsrecht zu statuieren. Paradigmatisch war insoweit der Fall WalMart, über den das Landesarbeitsgericht Düsseldorf zu entscheiden hatte70. Hiernach hatten die Beschäftigten von Wal-Mart Deutschland, den Vorgaben der amerikanischen Mutter folgend, „jede bekannte oder vermutete Verletzung der Gesetze, gültigen Bestimmungen, dieser Unternehmensethik oder einer Wal-Mart-Richtlinie“ mitzuteilen71. Während es in der Entscheidung des LAG Düsseldorf in erster Linie um die Frage ging, ob der Betriebsrat an dem Erlass derartiger Ethikrichtlinien mitwirken musste72, kann angesichts des Untersuchungsgegenstandes dieses Beitrages nur der Frage nachgegangen werden, ob eine derartige Anzeigepflicht zulässig und aufgrund der Pflicht eine Compliance-Organisation zu schaffen, ggf. sogar geboten ist. Unstreitig dürfte sein, dass eine Pflicht zur Selbstanzeige an einem Verstoß gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht oder zumindest der arbeitsrechtlichen Treuepflicht scheitert73. Aber auch eine Pflicht zum Verpfeifen eines Kollegen dürfte jenseits schwerer Straftaten mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des jeweiligen nicht involvierten rechtstreuen Mitarbeiters kollidieren. Das Wissen über die Verfehlung eines Dritten bleibt ein Datum, das ein anderer als Informationsträger nicht ohne weiteres offenlegen muss74, da es durch die Anzeige dokumentiert würde. Es ist also ein Recht des rechtstreuen Mitarbeiters anzuerkennen, das Wissen über Verstöße seiner Kollegen für sich zu behalten. Eine Einschränkung ist im Wege einer Interessenabwägung nur bei der Aufklärung schwerwiegender Straftaten, die zugleich einen nachhaltigen Schaden für das Unternehmen begründen, denkbar75. Insoweit greift die allgemeine Treuepflicht aus dem Arbeitsvertrag, die es gebietet, den Arbeitgeber auf drohende Schäden hinzuweisen oder an deren Verhütung mitzuwirken76.

__________ 70 LAG Düsseldorf, NZA-RR 2006, 81 ff.; zur Vorinstanz vgl. ArbG Wuppertal, NZARR 2005, 476 ff. 71 Ethikrichtlinie der Wal-Mart Germany GmbH & Co. KG, zitiert nach LAG Düsseldorf, NZA-RR 2006, 81, dort allerdings in anonymisierter Form. 72 Vgl. dazu auch BAG, NJW 2008, 3731 ff. sowie etwa Breinlinger/Krader, RDV 2006, 60, 63. 73 Vgl. nur zum letzteren BAG, NJW-RR 1989, 614, 615 m. w. N.; Diller, DB 2004, 313, 314; für APR Mahnhold, NZA 2008, 737, 738; Mengel in Hauschka (Fn. 10), § 12 Rz. 25, 38. 74 Mahnhold, NZA 2008, 737, 738. 75 Ähnlich Mengel in Hauschka (Fn. 10), § 12 Rz. 25; Mengel/Hagemeiser, BB 2007, 1386, 1389; Schuster/Darsow, NZA 2005, 273, 276; insgesamt etwas großzügiger als hier Mahnhold, NZA 2008, 737, 738 f.; Schmidl (Fn. 45), § 29 Rz. 285 mit Fn. 330; sowie neuerdings Schulz, BB 2011, 629, 630 ff. 76 Für leitenden Angestellte etwa BAGE 6, 82, 83 f.; bei unterlassenem Hinweis auf Überbezahlung BAG, NZA 1996, 135, 136; bei leichtfertiger Strafanzeige gegen den Arbeitgeber BAG, NJW 2004, 1547, 1548; Mengel (Fn. 73), § 12 Rz. 25, 93.

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Eine aus der Verpflichtung zur Schaffung einer Compliance-Organisation herzuleitende Folgepflicht, ein Whistleblowing-System mit einer Meldepflicht einzuführen, ist nicht anzuerkennen. Schließlich fehlt es schon an einer Verpflichtung, überhaupt ein Whistleblowing-System einzurichten77. Auf die ebenfalls umstrittene Frage, ob Verstöße gegen Ethikcodes in ein WhistleblowingSystem einbezogen werden dürfen, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, eine Meldepflicht wäre erst recht unzulässig78. 3. Geeignete Whistleblowing-Stelle Abschließend ist der Frage nachzuspüren, wo innerhalb der Aktiengesellschaft die Whistleblowing-Stelle am besten zu verorten ist. In Anlehnung an die Vorgaben des Sarbanes-Oxley-Acts (sec. 301 SOX) wird auch für den deutschen Rechtskreis gerne das Audit Committee, also der Prüfungsausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG, genannt79. Dies kann auch schon im Ansatz nicht überzeugen. Dies gilt besonders, wenn zur Begründung angeführt wird, dass der Vorteil in den kurzen Wegen des Prüfungsausschusses zum Aufsichtsrat bzw. zum Vorstand zu suchen sei80. In Anschluss an die grundlegende Analyse Martin Winters zur Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für Corporate Compliance ist abermals ins Gedächtnis zu rufen, dass die Verantwortung für Compliance beim Vorstand und nicht beim Aufsichtsrat liegt. Letzterer hat die Tätigkeit insoweit lediglich zu kontrollieren81. Selbst bei einem auf Verstöße gegen die Rechnungslegungsvorschriften beschränkten Whistleblowing-System bietet sich der Prüfungsausschuss nicht an, da Meldungen über den Vorstand an die Compliance-Abteilung transportiert werden müssten. Will man die Whistleblowing-Stelle aber nicht organisatorisch zu einer eigenständigen Stabsstelle verselbständigen, sind Stabsstellen des Vorstandes als geeignete Anlaufstellen in den Blick zu nehmen. Dann ist allerdings darauf zu achten, dass die Whistleblowing-Stelle sinnvollerweise allein in eine solche Abteilung integriert werden kann, die nicht nur geeignet ist, die Vertraulichkeit des Informanten zu wahren, sondern ggf. auch Untersuchungen einleiten kann. Damit wird in aller Regel die erste Wahl auf die Compliance-Abteilung fallen, da diese sowohl über das entsprechende Know-How als auch über ausreichendes Personal verfügt82. Denkbar wäre auch die Eingliederung in die Rechtsabteilung, die freilich wegen ihres meist eher beratenden Charakters nur der zweite Zugriff sein sollte, sofern keine eigene Compliance-Abteilung vorhanden ist. Eher abzuraten dürfte auch von einer Integration der Whistleblowing-Stelle in die Controlling-Abteilung sein, da diese vor allem

__________

77 78 79 80 81

Vgl. bereits oben IV. 3. Vgl. näher zum Ganzen Mahnhold, NZA 2008, 737, 739. Vgl. etwa Berndt/Hoppler, BB 2005, 2623, 2628. So in der Tat Berndt/Hoppler (Fn. 79). Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1107 ff.; vgl. seither auch Lohre, ZCG 2010, 193, 197 ff. speziell mit Blick auf die Rolle des Prüfungsausschusses. 82 Im Ergebnis ebenso Weber-Rey, AG 2006, 406, 409 f.; grds. auch Lohre, ZCG 2010, 193, 197 f. Ausführlich zu den technischen Aspekten Pauthner-Seidel/Stefan in Hauschka (Fn. 10), § 27 Rz. 113 ff.

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der Optimierung von Unternehmensprozessen verpflichtet ist. Denkbar wäre dann schon eher eine Implementierung in die Innenrevision. Ebenfalls nicht ausgeschlossen ist es, den Datenschutzbeauftragten mit der Übernahme der Funktion einer Whistleblowing-Stelle zu beauftragen. Dieser könnte dann den anonymisierten Sachverhalt an die Compliance-Abteilung weiterleiten. Da andererseits der Vorteil eines Whistleblowing-Systems mit bloßem Vertraulichkeitsschutz des Hinweisgebers in der Kontrolle der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Vorwurfes und der Ermöglichung von Rückfragen zu suchen ist, scheint es im Ergebnis sinnvoller, die Whistleblowing-Stelle unmittelbar in die Compliance-Abteilung zu integrieren und die Vertraulichkeit dort zu gewährleisten. Abschließend ist noch kurz auf den Vorschlag einzugehen, die WhistleblowingStelle nicht im Unternehmen selbst, sondern bei einer unternehmensübergreifenden Vereinigung anzusiedeln, die von einer Branche im Wege der Selbstregulierung geschaffen wird. Zunächst spricht gegen diese Lösung, dass damit die Form des internen Whistleblowing verlassen wird. Damit greifen die bereits oben für externe Systeme aufgezeigten Nachteile ein83, insbesondere ein möglicher Reputationsverlust für das Unternehmen. Die Vorteile sind vage. Ob ein derartiges verbandexternes System die Bereitschaft, Verstöße aufzudecken, wirklich signifikant ansteigen lassen würde, ist bisher nicht nachgewiesen. Vor allem ist aber zusätzliche Bürokratie zu befürchten84. Außerdem ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass sich eine vertrauliche Behandlung der Personalien des Hinweisgebers in einem externen System weniger effizient gewährleisten lässt. Datenschutzrechtliche Schwierigkeiten können sich hinzugesellen und werden schwieriger als bei internen Systemen aufzulösen sein.

VI. Zusammenfassung Die wesentlichen Ergebnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich in sechs Leitsätzen zusammenfassen: 1. Unter Whistleblowing versteht man, dass ein Mitarbeiter oder ein sonstiger Unternehmensinsider in einem anonymisierten Verfahren eine übergeordnete Stelle unter Umgehung des Dienstweges über vermeintliche oder tatsächliche Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die Satzung oder unternehmensinterne Richtlinien informiert. 2. Zu unterscheiden sind unternehmensinterne und externe WhistleblowingSysteme. Insbesondere bei unternehmensexternen Systemen besteht die Gefahr eines Reputationsschadens für das Unternehmen, weshalb interne Verfahren grundsätzlich vorzugswürdig sind. Anderseits hat der Hinweisgeber ein schutzwürdiges Interesse, durch das Aufdecken von Gesetzesverstößen keine Nachteile erleiden zu müssen. Dies streitet prima vista dafür, dass er

__________ 83 Vgl. bereits oben II.2. 84 Weber-Rey, AG 2006, 406, 407.

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den Hinweis anonym geben kann. Aber auch der Bezichtigte hat sowohl als Ausfluss seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie aufgrund von datenschutzrechtlichen Vorschriften ein anerkennenswertes Interesse, sich effektiv verteidigen zu können und den Namen des Hinweisgebers und die erhobenen Vorwürfe zu erfahren. Gegen vollständig anonymisierte Verfahren spricht auch, dass im Unternehmen ein Klima der Angst und Verunsicherung aus Furcht vor einem Denunziantentum entstehen kann. 3. Diese widerstreitenden Interessen sind im Wege einer Interessenabwägung gegeneinander abzuwägen. Als Ergebnis dieser Abwägung ist festzuhalten, dass vollständig anonyme Whistleblowing-Systeme unzulässig sind. Möglich sind aber Verfahren, bei denen die Whistleblowing-Stelle die Daten des Hinweisgebers vertraulich behandelt und diese dem Beschuldigten nur dann offen legt, wenn der Hinweisgeber bei seiner Anzeige nicht im guten Glauben handelte und den Bezichtigten in Misskredit bringen wollte. Der Vorteil solcher Whistleblowing-Systeme mit Vertrauensschutz liegt vor allem darin, dass die Whistleblowing-Stelle bevor sie den Vorwürfen nachgeht, deren Ernsthaftigkeit überprüfen und gegebenenfalls Rückfragen stellen kann. Der Beschuldigte erfährt also nur von den Vorwürfen, nicht aber den Namen des Hinweisgebers. 4. Es besteht keine generelle Pflicht von Aktiengesellschaften, eine Compliance-Abteilung vorhalten zu müssen. Eine derartige Pflicht kann sich aber aus den Umständen im Einzelfall ergeben. Allerdings ist der Vorstand einer Aktiengesellschaft, der gehalten ist, eine Compliance-Abteilung einzurichten, nicht gleichzeitig auch verpflichtet, ein Whistleblowing-System vorzuhalten. Whistleblowing-Systeme mit Vertraulichkeitsschutz sind mit anderen Worten kein notwendiger, sondern nur ein möglicher Bestandteil von Compliance. Dies gilt auch für Wertpapierdienstleistungsunternehmen im Anwendungsbereich des § 33 WpHG. 5. Eine arbeitsvertragliche Meldepflicht, wonach jeder Mitarbeiter gehalten ist, rechtsuntreue Kollegen bei einem existierenden Whistleblowing-System anzuzeigen, ist – von engen Ausnahmefällen wie schweren Straftaten mit einem erheblichen Schaden für das Unternehmen abgesehen – unzulässig. 6. Entscheidet sich eine Aktiengesellschaft dafür, ein Whistleblowing-System einzurichten, ist die Compliance-Abteilung regelmäßig die geeignete Whistleblowing-Stelle.

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Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis Inhaltsübersicht I. Themenstellung II. Gegenstand und praktische Bedeutung 1. Gegenstand, Inhalt 2. Praktische Bedeutung III. Fairness Opinion bei privat verhandeltem und öffentlichem Unternehmenserwerb 1. Fairness Opinion und Business Judgement Rule a) Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion? b) Pflicht zur Plausibilisierung einer Fairness Opinion aa) Fairness Opinion ist nicht per se haftungsausschließend bb) Transparenzanforderungen an eine Fairness Opinion cc) Unabhängigkeit des Erstellers der Fairness Opinion?

dd) Haftungsausschluss bei pflichtgemäßer Plausibilisierung 2. Besonderheiten bei öffentlichen Übernahmeangeboten a) Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion? b) Pflicht zur Veröffentlichung? IV. Fairness Opinion und Strukturmaßnahmen 1. Sachkapitalerhöhung a) Angemessener Ausgabebetrag als Bandbreite vertretbarer Werte b) Fairness Opinion als angemessene Informationsgrundlage c) Transparenz der Fairness Opinion 2. Strukturmaßnahmen mit Überprüfung der Bewertung im Spruchverfahren

I. Themenstellung Fairness Opinions haben in der aktien- und übernahmerechtlichen Unternehmenspraxis eine große Bedeutung. Wann immer eine Investmentbank auf Seiten eines übernehmenden oder eines zu übernehmenden Unternehmens eine Transaktion beratend begleitet, wird sie oder eine weitere Investmentbank in einer Fairness Opinion Stellung zu der Angemessenheit von Kaufbzw. Verkaufspreis oder der Relation der Beteiligung beider Anteilsinhabergruppen an dem übernehmenden Unternehmen nehmen1. Auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften drängen zunehmend in diesen Markt2, wie nicht zu-

__________ 1 Vgl. die jährlichen Untersuchungen von Aders/Schwetzler, zuletzt Jahresreport 2010, Corporate Finance biz 2011, 208; ferner DVFA, DVFA-Finanzschriften Nr. 07/08, Grundsätze für Fairness Opinions, Version 2.0 vom November 2008. 2 Vgl. Aders/Schwetzler, Jahresreport 2010, Corporate Finance biz 2011, 208, 209; dies., Jahresreport 2009, Corporate Finance biz 2010, 118, 119; Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 318; Graser/Klüwer/Nestler, BB 2010, 1587; vgl. auch Lobe/Essler/Röder, WPg 2007, 468, 473.

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letzt die Grundsätze für die Erstellung von Fairness Opinions des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) S8 vom 17. Januar 2011 belegen3. Erst vor 10 Jahren war die Fairness Opinion erstmals Gegenstand juristischer Befassung. Das Landgericht München I beurteilte die Aussagekraft einer Fairness Opinion sehr zurückhaltend4. Demgegenüber erkannte das OLG Karlsruhe in einem von Martin Winter erstrittenen Urteil in Sachen MLP einer Fairness Opinion die Eignung zur Plausibilisierung einer Unternehmensbewertung zu5. In einer aktuellen Entscheidung zur Übernahme der Dresdner Bank durch die Commerzbank wurde eine Fairness Opinion vom OLG Frankfurt/M. als angemessene Informationsgrundlage für die Beurteilung der Pflichtgemäßheit des Verhaltens der Organe bei der Kaufpreisfindung anerkannt6. Im Schrifttum ist die Bedeutung der Fairness Opinion insbesondere im Zusammenhang mit der Pflichtenstellung des Vorstands und im Kontext von öffentlichen Übernahmeangeboten Gegenstand vermehrter Untersuchungen7. Nachfolgend wird der Versuch einer Bestandsaufnahme aus der Sicht der Praxis unternommen. Dabei werden zunächst Gegenstand und praktische Bedeutung der Fairness Opinion beleuchtet (nachfolgend II.). Alsdann wird die rechtliche Bedeutung der Fairness Opinion für privat verhandelte Unternehmenskäufe (M&A-Transaktionen) und öffentliche Übernahmeangebote untersucht (nachfolgend III.). Abschließend wird die Bedeutung von Fairness Opinions für Strukturmaßnahmen untersucht, bei denen zwingend ein Unternehmenswert ermittelt werden muss (nachfolgend IV.).

II. Gegenstand und praktische Bedeutung 1. Gegenstand, Inhalt Eine Fairness Opinion ist eine sachverständige Stellungnahme zur Angemessenheit („Fairness“) der Gegenleistung einer Unternehmenstransaktion in finanzieller Hinsicht. Typischerweise geht es um die Beurteilung der Angemessenheit von Verkaufs- bzw. Kaufpreis, der angebotenen Gegenleistung beim öffentlichen Übernahmeangebot oder einer Unternehmenswertrelation. Eine Fairness Opinion stellt kein Bewertungsgutachten über die Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes dar, wie sie typischerweise von einer

__________ 3 IDW-Standard: Grundsätze für die Erstellung von Fairness Opinions (IDW S8) v. 17.1.2011, WPg Supplement 1/2011, S. 85. 4 LG München I, ZIP 2001, 1148, 1152; vgl. auch LG München I v. 31.3.2009 – 33 O 25598/05, Rz. 253 (zit. nach juris). 5 OLG Karlsruhe, NZG 2002, 959, 962; Vorinstanz: LG Heidelberg, BB 2001, 1809, 1810. 6 OLG Frankfurt/M. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, Rz. 148 (zit. nach juris). 7 Vgl. erstmals Schiessl, ZGR 2003, 814 und zuletzt insbesondere Fleischer in FS Hopt, 2010, S. 2753; ders., ZIP 2011, 201; ferner etwa Westhoff, Die Fairness Opinion, 2006; Essler/Lobe/Röder, Fairness Opinion, 2008; Schönefelder, Unternehmensbewertungen im Rahmen von Fairness Opinions, 2008; Wilms, Fairness Opinion bei Unternehmenstransaktionen, 2008.

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Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis

Wirtschaftsprüfungsgesellschaft unter Beachtung des Standards IDW S18 vorgenommen wird. Die der Fairness Opinion zugrundeliegende Bewertung stellt jedoch – anders als es IDW S8 andeutet9 – nicht notwendig ein Minus zu einer Unternehmensbewertung dar, sondern eher ein Aliud. Bei der Unternehmensbewertung nach IDW S1 wird jedenfalls bei Strukturmaßnahmen mit einem gerichtlichen Spruchverfahren (näher unten IV. 2.) punktgenau ein einziger Unternehmenswert ermittelt, wobei typischerweise ausschließlich eine Ermittlung nach der sog. Ertragswertmethode erfolgt; in diesem Zusammenhang wird eine Detailplanung des Unternehmens für 3–5 Jahre vom Unternehmensbewerter einer Plausibilitätsprüfung unterzogen und es werden von diesem ggfs. Anpassungen und Bereinigungen vorgenommen. Der so ermittelte Punktwert wird bei Vorhandensein eines Börsenkurses mit dem Börsenwert verglichen, wobei nach herkömmlicher Auffassung zur Überprüfung der Angemessenheit von Barabfindung oder Garantiedividende der höhere Wert von Ertragswert und Börsenwert maßgeblich ist10. Lediglich im Rahmen einer abschließenden Sensitivitätsanalyse werden in jüngerer Zeit kurze Vergleiche mit anderen Methoden zur Unternehmensbewertung (insbes. Multiple-Methoden) angestellt. Im Rahmen der Erstellung einer Fairness Opinion wird kein Punktwert eines angemessenen Unternehmenswertes ermittelt, sondern es wird eine Bandbreite ermittelt, innerhalb derer eine Gegenleistung in finanzieller Hinsicht angemessen ist. Es werden dabei mehrere Methoden und nicht nur eine einzige Methode zur Bewertung herangezogen. Neben der Discounted Cash Flow (DCF)-Methode oder der ihr ähnelnden Dividend Discount Methode (DDM), die bei gleichen Annahmen zu gleichen Ergebnissen wie die Ertragswertmethode führen, werden zusätzlich ein etwa vorhandener Börsenkurs, Analysteneinschätzungen (Equity Research/Broker Target Prices), eine Bewertung unter Addition der Unternehmensteile (Sum Of The Parts – SOTP) und vergleichende Methoden wie die Börsenkapitalisierung vergleichbarer börsennotierter Gesellschaften (Trading Multiples) oder für vergleichbare Unternehmen in früheren Unternehmensakquisitionen vereinbarte Kaufpreise (Acquisition Multiples), bezogen auf Umsatz oder Ertrag (EBITDA, EBIT), herangezogen. Jedenfalls auf Erwerberseite können bei der Unternehmensbewertung – anders als bei der Unternehmensbewertung nach IDW S1 – auch Synergien berücksichtigt werden, die sich erst auf der Grundlage des Unter-

__________ 8 IDW-Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S1) v. 2.4.2008, WPg Supplement 3/2008, S. 68. 9 IDW S8 (Fn. 3), Tz. 2. 10 BGH, ZIP 2010, 1497, 1491 Rz. 27; BayObLG, AG 2006, 41, 45; OLG Düsseldorf v. 25.11.2009 – 26 W 6/07, Rz. 42 (zit. nach juris); OLG Karlsruhe, AG 2005, 45, 46; für Maßgeblichkeit nur des Börsenkurses vgl. etwa Decher in FS Maier-Reimer, 2010, S. 57, 70.

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nehmenserwerbs ergeben11. Aus der Verwendung eines derartigen Methodenbündels12 ergibt sich eine oft große Spannbreite möglicher Unternehmenswerte, die alsdann unter Konzentration auf die im konkreten Fall aussagekräftigen zwei oder drei Bewertungsmethoden, typischerweise DCF oder DDM, SOTP und Börsenpreis, verengt wird. Im Rahmen der DCF oder DDM-Bewertung werden die Planungen des Unternehmens zwar häufig plausibilisiert13, nicht jedoch angepasst und korrigiert. Da die Fairness Opinion typischerweise nicht in einem „feindlichen“, sondern in einem abgestimmten Prozess erfolgt, liegt jedenfalls auf Seiten der Zielgesellschaft häufig kein eingeschränkter Informationszugang und auch keine zeitliche Restriktion vor, die von vornherein die Qualität einer Unternehmensbewertung einschränken würde14. Der Fairness Opinion liegt vielmehr eine andere Zielrichtung zugrunde als der objektivierten Unternehmensbewertung durch einen Wirtschaftsprüfer nach IDW S1. Es geht nicht um die Ermittlung eines bestimmten angemessenen Wertes, den der Auftraggeber unverändert oder erhöht seiner Transaktion zugrunde legt, sondern um die Ermittlung einer Bandbreite möglicher vertretbarer Unternehmenswerte unter Verwendung verschiedener Bewertungsmethoden, die es dem Auftraggeber ermöglichen, auf sachgerechter Informationsgrundlage eine Entscheidung über einen angemessenen Preis zu fällen (näher unten III. 1.). Der Umstand, dass Bewertungsgutachten nach IDW S1 in der Praxis oft vollständig veröffentlicht werden und vielfach mehr als 100 Seiten ausweisen, während bei der Erstellung einer Fairness Opinion typischerweise nur ein 2–3seitiger Opinion Letter veröffentlicht wird, sollte ebenfalls nicht zu dem Missverständnis führen, dass die einer Fairness Opinion zugrundeliegende Bewertung minderwertig ist15. Der Opinion Letter hat zwar einen weitgehend international standardisierten Inhalt, wird häufig im englischsprachigen Original veröffentlicht und erwähnt die Methoden zur Beurteilung der Gegenleistung nur stichwortartig, erläutert sie aber nicht und hebt auch nicht die für das Urteil des Erstellers letztlich für maßgeblich gehaltenen Methoden heraus. Den weitaus größten Umfang einer Fairness Opinion machen Hinweise über die der Bewertung zugrundeliegenden Annahmen und Unterstellungen aus, die dem Ergebnis zugrundeliegen. Der Grund für diese vergleichsweise breiten Ausführungen dürfte die (jedenfalls in Deutschland wohl bislang nicht praktisch relevant gewordene) Sorge des Erstellers vor einer möglichen Haftung

__________ 11 Vgl. DVFA (Fn. 1), B.3.2; IDW S8 (Fn. 3), Tz. 25, 45; zur Unbeachtlichkeit sog. echter Synergien bei der objektiven Unternehmensbewertung, vgl. etwa BGH, NJW 1998, 1866, 1867; OLG Stuttgart, AG 2000, 428, 429; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 305 Rz. 22; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 305 Rz. 64 f.; für Aufteilung dagegen etwa Hirte/Hasselbach in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 305 Rz. 89; Paulsen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 305 Rz. 135. 12 Vgl. DVFA (Fn. 1), B.2.1.: Grundsatz der Methodenvielfalt; IDW S8 (Fn. 3), Tz. 32 ff. 13 Vgl. IDW S8 (Fn. 3), Tz. 44, 48. 14 Vgl. aber IDW S8 (Fn. 3), Tz. 2. 15 Vgl. aber LG München I v. 31.3.2009 – 33 O 25598/05, Rz. 257 – Kirch/Breuer (zit. nach juris).

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Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis

gegenüber Dritten sein16. Letztlich kulminiert die Fairness Opinion lediglich in einem einzigen Satz, wonach auf der Grundlage der dargestellten Annahmen die Gegenleistung in finanzieller Hinsicht angemessen ist. Nachvollziehen lässt sich dieses Urteil aus dem Opinion Letter selbst nicht. Der Bewertung liegt jedoch stets ein Valuation Memorandum zugrunde, in dem das Unternehmen des Auftraggebers, der Hintergrund und die industrielle Logik der Transaktion und die einzelnen zur Beurteilung herangezogenen Bewertungsmethoden ausführlich dargestellt und gewichtet werden. Vom Umfang her kann ein derartiges Valuation Memorandum durchaus annähernd den Umfang eines Bewertungsgutachtens erreichen. Das Valuation Memorandum wird typischerweise nicht veröffentlicht, wohl aber zur Präsentation gegenüber dem Auftraggeber verwendet. Schließlich liegt den im Zusammenhang mit der Erstellung einer Fairness Opinion vorgenommenen Arbeiten ein Fact Book oder Factual Memorandum zugrunde, in dem die wesentlichen Unterlagen enthalten sind, die dem Ersteller der Fairness Opinion zur Verfügung standen. Ein derartiges Fact Book dient allein der internen Dokumentation des Sachverständigen und entspricht insoweit den Arbeitspapieren des Wirtschaftsprüfers bei der Erstellung einer Unternehmensbewertung. Dem Auftraggeber wird das Fact Book ebenso wenig zur Verfügung gestellt, wie dies bei den Arbeitspapieren eines Bewertungsgutachters der Fall ist17. 2. Praktische Bedeutung Die praktische Bedeutung von Fairness Opinions ist groß und hat in den letzten 10 Jahren ständig zugenommen. Einen Schub hat die Fairness Opinion insbesondere durch die gesetzliche Regelung öffentlicher Übernahmeangebote durch das WpÜG erhalten, wo sie mittlerweile die größte praktische Bedeutung hat18. Sowohl das Bieterunternehmen als auch die Zielgesellschaft bedienen sich nahezu ausnahmslos zur Beratung des öffentlichen Übernahmeangebots einer Investmentbank, die zumeist auch eine Fairness Opinion für den Bieter bzw. die Organe der Zielgesellschaft erstellt. Für die Organe der Zielgesellschaft bildet die Fairness Opinion eine wesentliche Grundlage anlässlich der Veröffentlichung der Stellungnahme zu dem Übernahmeangebot und der Angemessenheit der Gegenleistung gemäß § 27 WpÜG (vgl. näher unten II. 2.). Auch bei privat verhandelten, bedeutenderen Unternehmenstransaktionen spielt die Fairness Opinion eine große praktische Rolle. Auch hier bedienen sich Käufer- und Verkäuferseite häufig Investmentbanken oder auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Die Fairness Opinion dient als Informations-

__________ 16 Diese Frage kann hier nicht vertieft werden, vgl. dazu einerseits LG München I v. 31.3.2009 – 33 O 25598/05, Rz. 246 ff. – Kirch/Breuer (zit. nach juris): verneinend; zurückhaltend auch Harrer/Mößle in Essler/Lobe/Röder (Fn. 7), S. 186; andererseits Westhoff (Fn. 7), S. 279, 345: grds. bejahend. 17 Vgl. Grün/Salcher/Fecher/Kubke, WPg 2010, 645, 653. 18 Vgl. zuletzt Aders/Schwetzler, Corporate Finance biz 2011, 208.

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grundlage bei der pflichtgemäßen Vereinbarung eines vertretbaren Kauf- bzw. Verkaufspreises (vgl. näher unten III. 1.). Eine geringere Rolle spielen Fairness Opinions bei Strukturmaßnahmen, die kraft Gesetzes eine Bewertung erforderlich machen. Dies ist zunächst bei der Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage der Fall, bei der als Gegenleistung für einen Unternehmenserwerb Aktien der übernehmenden Gesellschaft gewährt werden. Dort dominieren Bewertungsgutachten von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nach IDW S1, die einerseits zur Information der Aktionäre im Bericht des Vorstands über den Ausschluss des Bezugsrechts und andererseits zur Prüfung der Kapitalaufbringung durch die Registergerichte verwendet werden (vgl. näher unten IV. 1.). Noch geringer ist die Rolle von Fairness Opinions bei Strukturmaßnahmen, bei denen die Angemessenheit von Barabfindung oder Umtauschverhältnis in einem gerichtlichen Spruchverfahren überprüft wird (Verschmelzung, Unternehmensvertrag, Squeeze-out). Insoweit dominiert in der Unternehmenspraxis seit Jahrzehnten die Bewertung von Unternehmen durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nach der Ertragswertmethode unter Ermittlung eines Punktwertes (vgl. näher unten IV. 2.). Fairness Opinions werden allenfalls im Einzelfall bei grenzüberschreitenden Sachverhalten oder bei bedeutenden nationalen Unternehmenszusammenschlüssen zusätzlich eingeholt, um internationale Kapitalanleger für die Transaktion zu gewinnen.

III. Fairness Opinion bei privat verhandeltem und öffentlichem Unternehmenserwerb 1. Fairness Opinion und Business Judgement Rule Bei einem privat verhandelten Unternehmenserwerb dient die Fairness Opinion einer Investmentbank oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zur Absicherung der Entscheidung des Geschäftsleitungsorgans der übernehmenden Gesellschaft und ggfs. der Zielgesellschaft hinsichtlich der Angemessenheit des vereinbarten Kauf- bzw. Verkaufspreises. Die Fairness Opinion dient insoweit als angemessene Informationsgrundlage im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG für das Geschäftsleitungsorgan und soll zugleich die Haftungsfreiheit nach der Business Judgement Rule sichern19. Diese Funktion der Fairness Opinion wirft die Frage auf, ob die Unternehmensleitung nur dann den „sicheren Hafen“ der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erreicht, wenn sie eine Fairness Opinion einholt (nachfolgend a). Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Einholung einer Fairness Opinion per se den Haftungsausschluss des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG rechtfertigt oder ob der Geschäftsleitung eine Pflicht zur Plausibilisierung der Fairness Opinion obliegt (nachfolgend b).

__________ 19 Vgl. etwa Fleischer, ZIP 2011, 201, 203; Schiessl, ZGR 2003, 814, 822.

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a) Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion? Als zentrale Voraussetzung für die Anwendung der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG müssen die Geschäftsleiter ihre Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information treffen. Für den Vorstand einer AG gilt ein subjektivierter Maßstab, wonach es genügt, dass der Vorstand vernünftigerweise annehmen darf, seine Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information zu treffen. Damit besteht bereits für die Frage des Informationsbedarfs ein Ermessensspielraum20. Für GmbH-Geschäftsführer hat der BGH dagegen auf einen objektiven Maßstab abgestellt, wonach der Geschäftsleiter verpflichtet ist, alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art auszuschöpfen21. Gutachten oder sachverständige Stellungnahmen von Experten sind regelmäßig geeignet, die Informationsgrundlage der Geschäftsleiter zu erweitern und ihr Bemühen um eine sorgfältige Entscheidungsvorbereitung unter Herstellung einer angemessenen Entscheidungsgrundlage zu dokumentieren22. Allerdings ist nach der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ein „routinemäßiges Einholen von sachverständigen Gutachten, Beratervoten oder externen Marktanalysen“ nicht erforderlich23. Bei Fehlen eigener Sachkunde im Unternehmen soll sich das Ermessen der Geschäftsleiter zur Festlegung des Informationsbedarfs allerdings dergestalt reduzieren, dass sie im Einzelfall zur Konsultation eines geeigneten Beraters verpflichtet sind24. Selbst bei Vorhandensein der erforderlichen Sachkunde soll die besondere Bedeutung der Entscheidung oder die Komplexität der Sachlage die Einholung einer zweiten Meinung gebieten können25. Dementsprechend ist grundsätzlich das Geschäftsleitungsorgan weder der übernehmenden Gesellschaft noch der Zielgesellschaft zur Einholung einer Fairness Opinion verpflichtet (zu öffentlichen Übernahmeangeboten vgl. unten 2. a)26. Der Ausnahmefall fehlender eigener Sachkunde zur Einschätzung des Wertes eines Unternehmens dürfte auf der Käuferseite (und erst recht auf Verkäuferseite) in der Praxis praktisch nur eine geringe Rolle spielen. Denn beim Kauf eines Unternehmens wird die Unternehmensleitung regelmäßig aufgrund eigener Sachkunde und ggfs. der Durchführung einer Due Diligence mit dem

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20 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Binder, AG 2008, 274, 281; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 93 Abs. 1 Satz 2 n. F. Rz. 45; Lutter, ZIP 2007, 841, 845. 21 BGH, NJW 2008, 3361, 3363; BGH, ZIP 2009, 223 Rz. 3; Goette, ZGR 2008, 436, 448; vgl. auch OLG Frankfurt/M., AG 2008, 453; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 93 Rz. 4e: objektive Elemente überwiegen; kritisch Fleischer, NJW 2009, 2337, 2339. 22 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 93 Rz. 4g; Preußner, NZG 2008, 574, 575. 23 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Binder, AG 2008, 274, 284; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 48. 24 Fleischer in FS Hopt, 2010, S. 2753, 2757, 2771; Kollmann, NZG 2011, 46, 51 (jeweils für die Vorbereitung der Stellungnahme nach § 27 WpÜG). 25 Vgl. Fleischer, ZIP 2011, 201, 206; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 67; Schiessl, ZGR 2003, 814, 828. 26 OLG Düsseldorf, NZG 2004, 328, 332; Fleischer in FS Hopt, 2010, S. 2753, 2756; Westhoff (Fn. 7), S. 106.

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Erwerbsgegenstand soweit vertraut sein, dass sie sich – mit Unterstützung interner Fachkräfte – ein eigenes Urteil über die Angemessenheit des Kaufpreises zutrauen darf. Typischerweise wird ein Unternehmenserwerb innerhalb der Branche oder zur Erweiterung der Unternehmenstätigkeit auf eine komplementäre Branche erfolgen. Auch die besondere Bedeutung der Transaktion wird regelmäßig keine Rechtspflicht zur Einholung einer Fairness Opinion begründen können, wenn und weil eine Einschätzung des Unternehmenswertes der Zielgesellschaft aufgrund eines existierenden Börsenkurses und einer Untersuchung der Unternehmensplanungen im Rahmen einer Due Diligence ein sachkundiges Urteil mithilfe eigener fachkundiger Kräfte ermöglicht. Dennoch wird sich jedenfalls für die Geschäftsleitung einer börsennotierten AG bei bedeutenden Transaktionen sowohl auf Käuferseite als auch auf Verkäuferseite regelmäßig die Einholung einer Fairness Opinion zur Absicherung der Entscheidung über die Angemessenheit des Verkaufspreises empfehlen. Dies gilt insbesondere bei Unternehmenstransaktionen zwischen einer abhängigen AG und ihrem Mutterunternehmen. Denn in solchen Fällen kann nicht ohne weiteres von Verhandlungen „auf Augenhöhe“ ausgegangen werden, so dass es an einer „Angemessenheitsgewähr“ fehlt, wie sie bei Verhandlungen zwischen unabhängigen Partnern regelmäßig bestehen wird27. b) Pflicht zur Plausibilisierung einer Fairness Opinion aa) Fairness Opinion ist nicht per se haftungsausschließend Holt die Geschäftsleitung eine Fairness Opinion zur Beurteilung der Angemessenheit des Kauf- bzw. Verkaufspreises ein, so steht ihr pflichtgemäßes Verhalten insoweit noch nicht fest. Die Einholung des Rates externer Dritter ist, wie auch die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG deutlich macht, nicht per se haftungsausschließend28. Die Einholung von Gutachten kann nicht die eigenständige Befassung der Geschäftsleiter mit den Entscheidungsgrundlagen ersetzen. Der Geschäftsleiter darf nicht mehr vernünftigerweise annehmen, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln, wenn er die erhaltenen Auskünfte ungeprüft übernimmt29. So forderte der BGH für die Beurteilung der Insolvenzreife, dass die Geschäftsleiter das Gutachtenergebnis einer Plausibilitätskontrolle unterziehen30. Dementsprechend

__________ 27 Zu Verhandlungen zwischen unabhängigen Verschmelzungspartnern vgl. OLG Frankfurt/M. v. 9.2.2010 – 5 W 38/09, Rz. 24 (zit. nach juris); OLG Stuttgart, NZG 2007, 112, 114; OLG Stuttgart, AG 2006, 420, 423; ebenso etwa Decher in FS Wiedemann, 2002, S. 783, 796, 804; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 305 Rz. 17a. 28 Begr. RegE., BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Binder, AG 2008, 274, 284; Fleischer in FS Hopt, 2010, S. 2753, 2756; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 48. 29 Binder, AG 2008, 274, 286; vgl. auch (zum Vertrauen auf anwaltlichen Rat) OLG Stuttgart, NZG 2010, 141, 143; Fleischer, NZG 2010, 121, 124. 30 BGH, NZG 2007, 545, 547; BGH, DStR 2007, 1641, 1642.

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müssen sich die Geschäftsleitungsorgane auch mit einer Fairness Opinion kritisch auseinandersetzen und deren Plausibilität nachvollziehen31. bb) Transparenzanforderungen an eine Fairness Opinion Eine Plausibilitätsprüfung der Fairness Opinion ist dem Geschäftsleitungsorgan indessen nur dann möglich, wenn es durch den Ersteller der Fairness Opinion ausreichend über die Umstände informiert wird, die der Einschätzung eines Kauf- oder Verkaufspreises aus finanzieller Hinsicht als angemessen zugrunde liegen. Insoweit ist fraglich, ob der typische Inhalt einer Fairness Opinion für eine Plausibilisierung ausreichend ist. Der entsprechende Opinion Letter umfasst typischerweise nur 2–3 Seiten. Die Methoden zur Beurteilung eines Verkaufspreises werden dabei regelmäßig nur genannt, nicht aber erläutert, und die der jeweiligen Methode zugrunde liegenden Untersuchungen werden nicht offengelegt. Das Landgericht München I hat deshalb im Zusammenhang mit einer Anfechtungsklage gegen eine Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen lapidar geurteilt, auf 3 Seiten lasse sich eine umfassende Auseinandersetzung mit den Bewertungsproblemen nicht darstellen32. Daraus wird man nicht ableiten können, dass der Opinion Letter als solcher keinen Informationswert für die Geschäftsleitung hat. Denn der standardisierte Inhalt von Fairness Opinions, die weltweit in dieser Form von Investmentbanken verwendet werden, hat einen hohen Wert als „Testat“33. Dennoch ist es zutreffend, dass allein der Opinion Letter keine Plausibilisierung der sachverständigen Arbeit einer Investmentbank und einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zulässt. Auch der IDW-Standard S8 für die Erstellung von Fairness Opinions, der eine höhere Transparenz des Opinion Letter hinsichtlich der verwendeten Methode zur Beurteilung der Angemessenheit eines Verkaufsbzw. Kaufpreises empfiehlt34, wird voraussichtlich allein anhand des Opinion Letter keine ausreichende Plausibilisierung der einer Fairness Opinion zugrunde liegenden Bewertung und ihres Ergebnisses erlauben. Zudem richtet sich der Standard ausschließlich an Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und wird von Investmentbanken nicht übernommen werden35. Eine hinreichende Plausibilisierung wird der Geschäftsleitung vielmehr nur dann möglich sein, wenn sie auch Kenntnis von dem der Bewertung zugrundeliegenden Valuation Memorandum erhält. Die DVFA-Grundsätze für Fairness Opinions betonen die Notwendigkeit, dass die Organe der Gesellschaft als Adressaten die Herleitung des abschließenden Urteils einer Investmentbank jederzeit und in vollem Umfang nachvollziehen können. Daher seien die der

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31 Fleischer, ZIP 2009, 1397, 1404; ders., ZIP 2011, 201, 209; Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 182; Lappe/Stafflage, CFL 2010, 312, 317; Schiessl, ZGR 2003, 814, 825; Schwetzler/ Aders/Salcher/Bornemann, Finanz Betrieb 2005, 106, 113. 32 LG München I, ZIP 2001, 1148, 1152. 33 Fleischer, ZIP 2011, 201, 203; Schiessl, ZGR 2003, 814, 822. 34 IDW S8 (Fn. 3) Tz. 52 mit Anh. eines Opinion Letter. 35 Optimistischer Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 319; Fleischer, ZIP 2011, 201, 202.

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Bewertung zugrundeliegenden Informationen und Sachverhalte, wie sie im Valuation Memorandum dokumentiert sind, in den Sitzungen der Organe durch die Ersteller zu erläutern36. Dieser Empfehlung kommen Investmentbanken auch regelmäßig nach. Allerdings bestehen in der Praxis erhebliche Unterschiede. Bisweilen wird eine Executive Summary eines Valuation Memorandum in einer Sitzung der Geschäftsleitung des Auftraggebers lediglich mündlich präsentiert. Die Executive Summary selbst wird der Geschäftsleitung zu Beginn der Sitzung ausgehändigt und/oder optisch an die Wand geworfen, physische Kopien verbleiben jedoch nicht beim Auftraggeber, sondern werden am Ende der Sitzung wieder eingesammelt. Die Unterlagen sind zudem häufig ausschließlich in englischer Sprache verfügbar. Auf der anderen Seite der Skala steht eine rechtzeitige Übersendung des gesamten Valuation Memorandums und/oder einer ausführlichen Executive Summary in englischer und deutscher Sprache mehrere Tage vor der Sitzung des Geschäftsleitungsorgans sowie eine Präsentation und Beantwortung von Fragen in der Geschäftsleitungssitzung. Eine Vorabversendung der Unterlagen im Vorfeld der Geschäftsleitungssitzung wird zwar aus Zeitgründen nicht immer möglich sein. Jedenfalls aber sollte die Geschäftsleitung des Auftraggebers schon aus Gründen der Dokumentation ihrer sorgfältigen Entscheidungsfindung Wert darauf legen, eine physische Kopie des Valuation Memorandum oder jedenfalls einer aussagekräftigen Executive Summary zu erhalten. cc) Unabhängigkeit des Erstellers der Fairness Opinion? In der Literatur wird die Frage aufgeworfen, ob besondere Anforderungen an die Unabhängigkeit des Erstellers einer Fairness Opinion zu stellen sind. So wird in der Literatur37 und gelegentlich in der Öffentlichkeit38 Kritik daran geäußert, wenn eine Investmentbank, die eine M&A-Transaktion beraten hat, gleichzeitig die Fairness Opinion ausstellt, da deren Glaubwürdigkeit dadurch von vornherein beeinträchtigt werde. Kritisiert werden weiter Regelungen, die die Höhe der Vergütung von einer Bestätigung der Angemessenheit oder dem Zustandekommen der Transaktion abhängig machen39. Im Einzelfall mag es durchaus sinnvoll sein, zur Erhöhung der Überzeugungskraft einer Fairness Opinion eine Investmentbank oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften mit der Erstellung einer Fairness Opinion zu beauftragen, die die Transaktion nicht berät. In der Praxis erstellt jedoch häufig die Investmentbank, die die betreffende M&A-Transaktion berät, gleichzeitig über die Angemessenheit der Gegenleistung in finanzieller Hinsicht eine Fairness Opinion. Durch die Befassung der Investmentbank mit der Gesamttransaktion

__________ 36 DVFA (Fn. 1), B.4.1.; Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 321. 37 Borowitz, M&A Review 2005, 253, 257; Graser/Klüwer/Nestler, BB 2010, 1587, 1591; Schwetzler/Aders/Salcher/Bornemann, Finanz Betrieb 2005, 106, 113. vgl. auch Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 318. 38 Etwa Drill, Börsen-Zeitung v. 23.10.2004, Nr. 206 S. 82. 39 Fleischer, ZIP 2011, 201, 209; Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 178; Schwetzler/Aders/ Salcher/Bornemann, Finanz Betrieb 2005, 106, 113.

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wird die Überzeugungskraft des Urteils über die Angemessenheit der Gegenleistung nicht beeinträchtigt. Ihre Unabhängigkeit wird man nicht per se in Zweifel ziehen können40. Die Sachgerechtigkeit einer Beauftragung der Investmentbank, die die Transaktion berät, mit der Erstellung der Fairness Opinion ergibt sich daraus, dass andernfalls wertvolles Beratungswissen der mit der Transaktion und dem Unternehmen vertrauten Investmentbank ungenutzt bliebe41. Unbedenklich ist in diesem Zusammenhang auch die Vereinbarung eines Erfolghonorars bei Zustandekommen der Transaktion, wie das OLG Karlsruhe im Fall MLP bestätigt hat42. Aus Transparenzgesichtspunkten wird es für notwendig erachtet, dass eine Investmentbank in ihrem Opinion Letter auch die Tatsache offenlegt, dass sie gleichzeitig mit der Beratung der Gesamttransaktion betraut ist43. Auch hinsichtlich der Vereinbarung eines Erfolghonorars wird eine Offenlegung empfohlen44. Dem wird man nur in Fällen zustimmen müssen, in denen eine Veröffentlichung der Fairness Opinion gegenüber den Anteilsinhabern vorgesehen ist, wie typischerweise bei öffentlichen Übernahmeangeboten auf Seiten der Zielgesellschaft (s. unten 2. a). Denn das auftraggebende Unternehmen kennt ohnehin derartige Umstände und zur internen Dokumentation eines ordnungsgemäßen Vorgehens erscheint ein derartiger Hinweis nicht zwingend erforderlich. dd) Haftungsausschluss bei pflichtgemäßer Plausibilisierung Wird der Vorstand dementsprechend durch ausreichende Informationen des Erstellers der Fairness Opinion zu einer Plausibilisierung der Fairness Opinion in die Lage versetzt, so hat er sich von der Sachkunde des Erstellers der Fairness Opinion, der zutreffenden und vollständigen Übermittlung von Informationen an den Ersteller und schließlich der Plausibilität von Opinion Letter und Valuation Memorandum zu überzeugen. Er muss sich ausreichend Zeit für die Durcharbeitung der Unterlagen nehmen und im Rahmen der mündlichen Präsentation der Fairness Opinion etwa verbleibende Fragen klären. Nimmt der Vorstand diese Plausibilisierung sorgfältig wahr und kommt er zu dem Ergebnis, dass die Angemessenheit eines vereinbarten Kauf- bzw. Verkaufspreises unter Berücksichtigung der Fairness Opinion plausibel ist, handelt er gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG pflichtgemäß. Dementsprechend hat auch das OLG Frankfurt/M. im Zusammenhang mit einer Anfechtung der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat wegen der Vereinbarung eines angeblich unangemessenen Kaufpreises beim Erwerb der

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40 Vgl. Aders/Schwetzler, Jahresreport 2009, Corporate finance biz 2010, S. 118, 119; Lappe/Stafflage, CFL 2010, 312, 314; Schiessl, ZGR 2003, 814, 849; Westhoff (Fn. 7), S. 372; insoweit auch Fleischer, ZIP 2011, 201, 209; Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 179; vgl. auch DVFA (Fn. 1), B.6.; IDW S8 (Fn. 3), Tz. 11, 13: Notwendigkeit einer sorgfältigen, einzelfallbezogenen Prüfung. 41 Fleischer in FS Hopt, 2010, S. 2753, 2768. 42 OLG Karlsruhe, NZG 2002, 960, 962; ebenso Schiessl, ZGR 2003, 814, 850; Westhoff (Fn. 7), S. 377. 43 DVFA (Fn. 1), B.6; Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 179; Lappe/Stafflage, CFL 2010, 312, 314. 44 DVFA (Fn. 1), B.6; Graser/Klüwer/Nestler, BB 2010, 1587, 1591.

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Dresdner Bank durch die Commerzbank die insoweit eingeholte Fairness Opinion und deren Berücksichtigung durch den Vorstand als wesentlichen Beleg zur Beurteilung der Angemessenheit des Kaufpreises angesehen45. Der Umstand, dass ein zusätzlich eingeholtes Bewertungsgutachten einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zu unterschiedlichen Ergebnissen führte, stellte nach Auffassung des OLG Frankfurt/M. die Angemessenheit des Kaufpreises nicht in Frage, da die kapitalmarktorientierte Fairness Opinion über einen größeren methodischen Spielraum verfüge und deshalb unterschiedliche Ergebnisse in der Natur der Sache lägen. Dem ist im Hinblick auf die oben (II. 1.) dargelegte unterschiedliche Zielsetzung und Herangehensweise bei der einer Fairness Opinion zugrunde liegenden Bewertung im Vergleich zur Ertragswertbewertung nach IDW S1 zuzustimmen. 2. Besonderheiten bei öffentlichen Übernahmeangeboten Bei einem öffentlichen Übernahmeangebot haben Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft gemäß § 27 WpÜG eine Stellungnahme abzugeben, die sich u. a. zur Art und Höhe der angebotenen Gegenleistung zu verhalten hat. Auch die Geschäftsleitung der Bietergesellschaften hat pflichtgemäß zu prüfen, ob sie ein im Sinne von § 31 WpÜG angemessenes Angebot für die Zielgesellschaft abgibt, das aber im Interesse der eigenen Gesellschaft und deren Aktionäre nicht unangemessen hoch ist. In beiden Fällen bietet sich die Einholung einer Fairness Opinion an. a) Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion? Auch im Zusammenhang mit öffentlichen Übernahmeangeboten wird die Frage diskutiert, ob eine Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion durch die Bieter- oder die Zielgesellschaft besteht. Der Diskussionsentwurf zu § 14 WpÜG hatte dies noch in Übereinstimmung mit entsprechenden Regelungen im Ausland (z. B. Rule 3.1 City Code für den Bieter, Rule 3.2 City Code für die Zielgesellschaft) noch vorgesehen46. Der Umstand, dass eine ausdrückliche Verpflichtung letztlich nicht Gesetz geworden ist, belegt jedoch, dass keine Verpflichtung zur Einholung einer Fairness Opinion besteht47. Ausnahmefälle, in denen eine Verpflichtung jedenfalls der Zielgesellschaft bestehen könnte, eine Fairness Opinion einzuholen48, werden in der Praxis kaum in Betracht kommen. Damit ist die Rechtslage bei öffentlichen Übernahmeangeboten nicht anders als bei privat verhandelten M&A-Transaktionen (vgl. oben 1.a). Dennoch ist die Einholung einer Fairness Opinion sowohl auf Seiten der Bieter-

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45 OLG Frankfurt/M. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, Rz. 148 (zit. nach juris); zurückhaltend dagegen LG München I v. 31.3.2009 – 33 O 25598/05, Rz. 254. 46 Vgl. dazu DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2001, 420, 422. 47 OLG Düsseldorf, NZG 2004, 328, 332; Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 33. 48 So etwa Fleischer, ZIP 2011, 201, 206; Kossmann, NZG 2011, 46, 53; Schiessl, ZGR 2003, 814, 827; abweichend etwa Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 33.

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gesellschaft als auch auf Seiten der Zielgesellschaft regelmäßig empfehlenswert und in der Praxis verbreitet (vgl. oben II. 2.). b) Pflicht zur Veröffentlichung? Bei öffentlichen Übernahmeangeboten kann die Fairness Opinion nicht nur der Entscheidungsfindung und Absicherung der Unternehmensorgane, sondern auch der Information der Anteilsinhaber der Zielgesellschaft dienen. Es stellt sich daher die Frage, ob in solchen Fällen eine Pflicht zur Veröffentlichung der Fairness Opinion gegenüber den Anteilsinhabern besteht. Eine gesetzliche Regelung im deutschen Übernahmerecht fehlt insoweit. Entsprechend ausländischen Vorbildern (vgl. Rule 25.1 (a) City Code) besteht jedenfalls eine Verpflichtung der Organe der Zielgesellschaft in der Stellungnahme gemäß § 27 WpÜG auf die Einholung einer Fairness Opinion, deren Ergebnis und wesentliche Grundlagen hinzuweisen49. In der Stellungnahme ist auch darauf hinzuweisen, wenn der Ersteller der Fairness Opinion gleichzeitig mit der Beratung der Transaktion selbst beauftragt ist (vgl. oben 1.b.cc). Kommen die Organe der Zielgesellschaft dieser Verpflichtung in der Stellungnahme nach § 27 WpÜG nach, so besteht an sich angesichts des ohnehin stark standardisierten Inhalts von Fairness Opinions für die Veröffentlichung des Opinion Letter als Anlage zur Stellungnahme kein zwingender Bedarf. In der Praxis erfolgt eine derartige Veröffentlichung dennoch häufig50. Dagegen ist ein Hinweis des Bieters auf Vorliegen und Inhalt einer Fairness Opinion in der Angebotsunterlage gemäß § 10 WpÜG in der Praxis die Ausnahme51. Eine Verpflichtung zur Offenlegung der wesentlichen Ergebnisse des Valuation Memorandum besteht nicht52. Der Schutz der Aktionäre rechtfertigt eine derartig weitgehende Informationspflicht nicht. Die Angemessenheit des Angebotspreises wird über die gesetzliche Mindestregelung des § 31 WpÜG sichergestellt. Der Aktionär kann unter Berücksichtigung des aktuellen Börsenkurses individuell entscheiden, ob er seine Aktien verkauft oder nicht. Die Organe der Zielgesellschaft sind nach herrschender Meinung ohnehin nicht verpflichtet, eine bestimmte Handlungsempfehlung für die Aktionäre abzugeben, sondern sie können sich dem Angebot auch neutral gegenüberstellen und sich einer Handlungsempfehlung an die Aktionäre enthalten53. In der Pra-

__________ 49 Vgl. etwa Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, 1. Aufl. 2005, § 27 Rz. 29; Seibt in Becksches Formularbuch M&A, 2008, E.III.10, S. 669; Westhoff (Fn. 7), S. 264, 267; DVFA (Fn. 1), C.1.3.2; zurückhaltender etwa Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 33. 50 Vgl. Aders/Schwetzler, Corporate Finance biz 2011, 208; vgl. auch DVFA (Fn. 1), C.1.3.1., C.2.2.2. 51 Vgl. Aders/Schwetzler, Corporate Finance biz 2011, 208. 52 Insoweit abweichend Fleischer, ZIP 2011, 201, 210. 53 Vgl. BT-Drucks. 14/7034, S. 52; Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 50; Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 27 WpÜG Rz. 8; nur für Ausnahmefälle ebenso vgl. Harbarth in Baums/Thoma, WpÜG, 3. Lfg. 11/2008, § 27 Rz. 82; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, 1. Aufl. 2005, § 27 Rz. 90.

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xis sind bislang auch keine Fälle bekannt geworden, in denen der wesentliche Inhalt eines Valuation Memorandum gegenüber den Aktionären im Rahmen einer Stellungnahme nach § 27 WpÜG dargelegt worden wäre.

IV. Fairness Opinion und Strukturmaßnahmen In der Praxis sind Fairness Opinions bei Strukturmaßnahmen (Sachkapitalerhöhung, Verschmelzung, Unternehmensverträge, Squeeze-out) weit weniger verbreitet als bei privat verhandelten und öffentlichen M&A-Transaktionen. Bei Strukturmaßnahmen ist vielfach eine Unternehmensbewertung gesetzlich vorgeschrieben und wird zudem in einem gerichtlichen Spruchverfahren überprüft (Verschmelzung, Unternehmensverträge, Squeeze-out, nachfolgend 2.). Auch wo das nicht der Fall ist (wie bei der Kapitalerhöhung), wird eine Unternehmensbewertung wegen der Erforderlichkeit eines angemessenen Ausgabebetrages bei der Sachkapitalerhöhung gemäß § 255 Abs. 2 AktG und der anschließenden Überprüfung der Kapitalaufbringung im Registerverfahren gemäß § 33 AktG in der Praxis verbreitet durchgeführt (nachfolgend 1.). In allen Fällen findet typischerweise eine Unternehmensbewertung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft nach dem Ertragswertverfahren gemäß IDW S1 statt. Es stellt sich die Frage, ob die Fairness Opinion – sei es durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, sei es durch eine Investmentbank – eine Alternative zu dieser Unternehmensbewertung darstellen kann oder ob sie wenigstens als Ergänzung sinnvoll ist. Diese Frage ist nachfolgend mit Blick auf die notwendige Information der Aktionäre zu untersuchen, die einer Strukturmaßnahme durch Beschluss der Hauptversammlung zuzustimmen haben. Die Aktionäre müssen die Plausibilität einer Unternehmensbewertung nachvollziehen können, da sie durch eine Strukturmaßnahme entweder in ihrem Einfluss verwässert werden (Sachkapitalerhöhung, Verschmelzung aus Sicht der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft), sie in eine Rentnerposition verwiesen werden (Unternehmensvertrag) oder sie gar aus ihrer Aktionärsstellung im Unternehmen gegen Abfindung in bar (Squeeze-out, optional bei Unternehmensvertrag) oder gegen Aktien (Verschmelzung aus der Sicht der übertragenden Gesellschaft) verdrängt werden. Die Fairness Opinion muss sich deshalb als Instrument zur Information der Aktionäre mit dem etablierten Bewertungsgutachten nach IDW S1 messen lassen. 1. Sachkapitalerhöhung Bei einer ordentlichen Kapitalerhöhung gegen Einbringung eines Unternehmens oder eines Unternehmensanteils (Sachkapitalerhöhung) ist das Bezugsrecht aller Aktionäre ausgeschlossen, wenn ein Dritter die Sacheinlage erbringt. In der Praxis häufig ist der Fall der Einbringung eines Unternehmens oder einer Unternehmensbeteiligung durch einen Mehrheitsgesellschafter, so dass (nur) das Bezugsrecht der Minderheitsaktionäre ausgeschlossen wird. In beiden 112

Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis

Fällen fordert § 255 Abs. 2 AktG analog54 zum Schutze der Aktionäre vor einer unangemessenen Verwässerung einen angemessenen Ausgabebetrag für die Sacheinlage, also im Ergebnis ein angemessenes Umtauschverhältnis zwischen dem Wert des eingebrachten Unternehmens und dem Wert der ausgegebenen Aktien des übernehmenden Unternehmens. Dieser angemessene Ausgabebetrag kann im Wege einer Anfechtungsklage zur Überprüfung der Gerichte gestellt werden. a) Angemessener Ausgabebetrag als Bandbreite vertretbarer Werte Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung des § 255 Abs. 2 AktG ist anerkannt, dass sich ein angemessener Ausgabebetrag innerhalb einer Bandbreite vertretbarer Werte bewegen kann, es also nicht auf einen einzigen angemessenen Ausgabebetrag ankommt55. Insbesondere können auch subjektive Einschätzungen wie erwartete Synergien im Zusammenhang mit der Angemessenheitsprüfung berücksichtigt werden56. Die rechtlichen Anforderungen an den angemessenen Ausgabebetrag im Rahmen von § 255 Abs. 2 AktG unterscheiden sich insoweit nicht vom Fall der Einbringung eines Unternehmens durch Ausnutzung eines genehmigten Kapitals, in dem die Angemessenheitsprüfung in die Verantwortungssphäre des Vorstands gemäß §§ 76, 93 AktG unter Einräumung eines Beurteilungsspielraums (Business Judgement Rule) verwiesen ist57. Letztlich gelten daher sowohl für die ordentliche Sachkapitalerhöhung als auch für die Sacheinlage durch Ausnutzung eines genehmigten Kapitals dieselben Anforderungen an eine angemessene Unternehmensbewertung wie im Rahmen einer privat verhandelten M&A-Transaktion gegen Barzahlung (vgl. oben III. 1.). b) Fairness Opinion als angemessene Informationsgrundlage Aus dem Verständnis des angemessenen Ausgabebetrags gemäß § 255 Abs. 2 AktG wird deutlich, dass sich der Vorstand auch bei einer Sacheinlage für seine Entscheidungsfindung über die Angemessenheit des Ausgabebetrags auf eine Fairness Opinion – sei es einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, sei es einer Investmentbank – stützten kann. Einer Unternehmensbewertung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft unter Einhaltung der Grundsätze IDW S1 und der Durchführung einer Ertragswertermittlung bedarf es nicht. Die mit der Fairness Opinion verbundene Verwendung eines kapitalmarktorientierten Methodenbündels zur Unternehmensbewertung und die Ermittlung einer Bandbreite angemessener Umtauschverhältnisse ist gleichermaßen sachgerecht. Dieser Erkenntnis hat Martin Winter durch das von ihm erstrittene MLP-

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54 Vgl. etwa Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 255 Rz. 11. 55 Vgl. Decher in FS Wiedemann, 2002, S. 787, 796; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 255 Rz. 5, 7, 11; Stilz in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 255 Rz. 23. 56 OLG Frankfurt/M. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, Rz. 147 (zit. nach juris); OLG Jena, NZG 2007, 147, 152 (Carl Zeiss Meditec). 57 Vgl. BGHZ 135, 244, 253 – Siemens/Nold; BGHZ 136, 133, 140; OLG Karlsruhe, BB 2002, 959, 965.

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Christian E. Decher

Urteil des OLG Karlsruhe erstmals zum Durchbruch verholfen58. Bei Verhandlungen zwischen unabhängigen Partnern entspricht die Verwendung unterschiedlicher Bewertungsmethoden zur Plausibilisierung eines ausverhandelten Umtauschverhältnisses und die Bildung einer Bandbreite sogar eher der Rechtswirklichkeit als die Ermittlung eines Punktwertes für ein angemessenes Umtauschverhältnis unter zwingender Verwendung einer Ertragswert- oder einer Börsenkursrelation59. c) Transparenz der Fairness Opinion Fairness Opinions können damit bei Sachkapitalerhöhungen eine sachgerechte Informationsgrundlage zur Bestimmung eines angemessenen Ausgabebetrages bilden. Allerdings muss zur Information der Aktionäre über die Unternehmensbewertung, wie sie bei einer Beschlussfassung über eine ordentliche Sachkapitalerhöhung erforderlich ist, den Transparenzsanforderungen Genüge getan werden. Erfolgt eine Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode und den Grundsätzen IDW S1, so ist eine vollständige Offenlegung des Bewertungsgutachtens oder jedenfalls eine Darlegung der wesentlichen Grundlagen und Ergebnisse dieser Unternehmensbewertung im Rahmen des Berichts des Vorstands über den Ausschluss des Bezugsrechts (§ 186 Abs. 4 Satz 3 AktG) erforderlich. Die Aktionäre müssen in die Lage versetzt werden, die Plausibilität der Unternehmensbewertung zu beurteilen60. Die Unternehmensbewertung im einzelnen müssen sie nicht nachvollziehen können. Diesen Anforderungen wird bei Erstellung einer Fairness Opinion durch die Offenlegung lediglich des Opinion Letter nicht genügt. Hier lag der berechtigte Kern der Kritik des Landgericht München I, das die Information eines Opinion Letter als nicht ausreichend zur Plausibilisierung einer Unternehmensbewertung ansah61. Erforderlich ist entweder die Offenlegung des Valuation Memorandum oder jedenfalls eine Darstellung der wesentlichen Grundlagen und Ergebnisse des Valuation Memorandum im Bericht des Vorstands über den Bezugsrechtsausschluss gemäß § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG62. Das Factual Memorandum muss dagegen weder ausgelegt noch seinem wesentlichen Inhalt nach beschrieben werden63. Insoweit gilt nichts anderes als für die Arbeitspapiere eines Wirtschaftsprüfers, die einem Unternehmensbewertungsgutachten einer

__________ 58 OLG Karlsruhe, NZG 2002, 959, 963; Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 322; Schiessl, ZGR 2003, 814, 842; Westhoff (Fn. 7), S. 163, 202; vgl. auch OLG Frankfurt/ M. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10. 59 Vgl. Decher in FS Wiedemann, 2002, S. 787, 806; vgl. auch Schiessl, ZGR 2003, 814, 841. 60 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 293a Rz. 37; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 293a Rz. 15; Fleischer in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2007, § 327c Rz. 10; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 293a Rz. 24. 61 LG München I, ZIP 2001, 1148, 1152 betr. einen gemäß § 119 Abs. 2 AktG zur Zustimmung der HV vorgelegten Unternehmenskauf (Direkt Anlage Bank/Self Trade). 62 Vgl. auch Fleischer, ZIP 2011, 201, 211; Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 180; Westhoff (Fn. 7), S. 253, jeweils zu § 131 AktG. 63 Ebenso Fleischer, ZIP 2011, 201, 211.

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Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis

Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zugrundeliegen: Diese Unterlagen verbleiben bei dem Unternehmensbewerter, der Auftraggeber hat hierauf keinen Anspruch. 2. Strukturmaßnahmen mit Überprüfung der Bewertung im Spruchverfahren Strukturmaßnahmen, bei denen die Unternehmensbewertung zur Überprüfung im gerichtlichen Spruchverfahren gestellt wird (Verschmelzung, Unternehmensvertrag, Squeeze-out), unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von privat verhandelten M&A-Transaktionen, öffentlichen Übernahmeangeboten und Sachkapitalerhöhungen: es wird „die“ angemessene Barabfindung oder Garantiedividende und „das“ angemessene Umtauschverhältnis, also ein Punktwert ermittelt, von dem die Gerichte lediglich in einer engen Bandbreite von 5–10 % Unterschreitungen zulassen64. Hierzu ist eine Fairness Opinion und die zugrunde liegende Bewertung typischerweise nicht geeignet. Das liegt weniger daran, dass bei ihr international gebräuchliche, kapitalmarktorientierte Bewertungsmethoden in Verwendung eines Methodenbündels herangezogen werden. Denn die der Ertragswertmethode verwandte Discounted Cash Flow (DCF-)Methode oder die mit dieser wiederum verwandte Dividend Discount-Methode führen bei vergleichbaren Annahmen regelmäßig zu vergleichbaren Ergebnissen wie die Ertragswertmethode und sollten daher auch bei dem gerichtlichen Spruchverfahren Anerkennung finden65. Würde eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft oder Investmentbank daher zwar zur Erstellung einer Fairness Opinion ein Bündel verschiedener Methoden betrachten, sich letztlich aber für eine einzige Bewertungsmethode entscheiden und daraus einen bestimmten Unternehmenswert oder ein bestimmtes Unternehmenswertverhältnis ermitteln, so wäre eine derartige Bewertung grundsätzlich einer Ertragswertbewertung nach IDW S1 gleichwertig, sofern auch eine vergleichbar kritische Plausibilisierung der Unternehmenswertplanung erfolgt. Die Ermittlung eines derartigen Punktwertes ist aber gerade nicht Aufgabe einer Fairness Opinion. Diese soll keinen Unternehmenswert ermitteln, sondern den Entscheidungsträgern eine Bandbreite vertretbarer Werte aufweisen, innerhalb der diese eine Umtauschrelation oder einen Unternehmenswert vereinbaren können. Zudem wird die Fairness Opinion bei einer Verengung auf eine einzige Methode gerade der größeren Realitätsnähe der ihr zugrundeliegenden Bewertung beraubt. Die Fairness Opinion kommt daher in solchen Fällen allenfalls dann als Alternative zu einem Bewertungsgutachten nach der Ertragswertmethode in Betracht, wenn man die Ermittlung des angemessenen Wertes der Prüfung durch den gerichtlich bestellten Prüfer überlässt. Dies wäre zwar rechtlich zulässig,

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64 OLG Stuttgart v. 19.1.2011 – 20 W 3/09, Rz. 255 ff. (zit. nach juris); OLG Stuttgart v. 17.3.2010 – 20 W 9/08, Rz. 237 ff. (zit. nach juris); OLG München v. 26.7.2007 – 31 Wx 99/06, Rz. 16 (zit. nach juris); OLG Celle v. 19.4.2007 – 9 W 53/06 Rz. 35 (zit. nach juris); OLG Stuttgart v. 17.3.2010 – 20 W 9/08, Rz. 241 (zit. nach juris); BayObLG, AG 2006, 41, 42; LG Frankfurt/M., NZG 2002, 395, 396. 65 Zur Anerkennung der DCF-Methode vgl. IDW S1 (Fn. 8), Tz. 101.

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ist aber in der Praxis wenig kosten- und zeiteffizient und mit größeren Unsicherheiten verbunden als die eingespielte parallele Ertragswertermittlung durch den Unternehmensbewerter und die Überprüfung dieser Bewertung durch den gerichtlich bestellten Prüfer66. Im Ergebnis stellt die Fairness Opinion daher bei Strukturmaßnahmen, bei denen die Unternehmensbewertung im gerichtlichen Spruchverfahren überprüft wird, keine Alternative zu einem Bewertungsgutachten nach der Ertragswertmethode (IDW S1) dar67. Die Fairness Opinion kommt daher in solchen Fällen allenfalls ergänzend zu einer Ertragswertermittlung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und deren Überprüfung durch den gerichtlich bestellten Prüfer in Betracht. Bei nationalen Transaktionen wird deren Mehrwert für den Vorstand und die Aktionäre allerdings häufig die damit verbundenen Kosten nicht aufwiegen. Die zusätzliche Einholung einer Fairness Opinion wird daher in erster Linie bei grenzüberschreitenden Transaktionen oder bei bedeutenden nationalen Transaktionen in Betracht kommen, wenn dadurch ausländische Anteilsinhaber für die Maßnahme gewonnen werden sollen68. Internationalen Kapitalanlegern sind Fairness Opinions – anders als eine Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode gemäß IDW S1 – vertraut. Fairness Opinions sind dementsprechend bei Strukturmaßnahmen, bei denen die Bewertung im gerichtlichen Spruchverfahren überprüft wird, in der Praxis eher selten anzutreffen. Der Befund, dass Fairness Opinions in solchen Fällen keine ausreichend sichere Grundlage für die Ermittlung eines angemessenen Umtauschverhältnisses bei der Verschmelzung liefern, ist jedenfalls bei Verhandlungen zwischen unabhängigen Partnern und „auf Augenhöhe“ und hier insbesondere im grenzüberschreitenden Kontext unbefriedigend. Denn in solchen Fällen setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Angemessenheitsgewähr für das ausverhandelte Ergebnis besteht69. Dann ist es konsequent, dass die Verhandlungsführer insoweit auch nicht auf eine Bewertungsmethode wie die Ertragswertmethode oder auch den Börsenkurs festgelegt sind, sondern gerade anhand eines Methodenbündels das gefundene Umtauschverhältnis plausibilisieren können. Deshalb wäre es in solchen Fällen sachgerecht und auch realitätsnäher, das im Verhandlungswege gefundene Ergebnis zu akzeptieren, wenn es sich innerhalb einer Bandbreite vertretbarer Werte bewegt. Solange die Gerichte aber von dem Erfordernis eines angemessenen Umtauschverhältnisses im Sinne eines (in einer engen Bandbreite von 5–10 %) genauen Wertes ausgehen, bleibt die Ermittlung einer Bandbreite vertretbarer Werte und die Verwendung einer Fairness Opinion auch in den Fällen einer (grenzüberschreitenden) Verschmelzung nicht hinreichend sicher.

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66 Zur Zulässigkeit der Parallelprüfung vgl. BGH, NZG 2006, 905, 906. 67 Vgl. im Ergebnis übereinstimmend Schiessl, ZGR 2003, 814, 834 f., 838, 839; Westhoff (Fn. 7), S. 149, 153, 155, 202. 68 Vgl. Harrer/Mößle (Fn. 16), S. 176, 177; Schiessl, ZGR 2003, 814, 836; Westhoff (Fn. 7), S. 177, 133, 170. 69 Vgl. OLG Stuttgart, NZG 2007, 112, 114; OLG Stuttgart, AG 2006, 420, 423; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 305 Rz. 17a; vgl. ferner oben Fn. 59.

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Joachim von Falkenhausen

Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft* – Der Anwalt im Spannungsfeld zwischen Vorstand und Aufsichtsrat –

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wer ist Mandant?

V. Zeugnisverweigerungsrecht und Entbindung von der Schweigepflicht

III. Wem schuldet der Anwalt Verschwiegenheit?

VI. Anwaltliche Verschwiegenheit und Corporate Governance

IV. Der Störfall

VII. Ergebnis

I. Einleitung Martin Winter liebte das Aktienrecht und die anwaltliche Beratung. Seinem Gedächtnis sind die nachfolgenden Überlegungen gewidmet, die Problembereiche des Gesellschafts- und Anwaltsrechts bei der Beratung der Aktiengesellschaft, insbesondere in Krisenzeiten, auszuleuchten versuchen. Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft wirft auf den ersten Blick keine wesentlichen Rechtsfragen auf. Aus der Aufgabenverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ergeben sich jedoch einige Probleme, die bisher kaum erörtert worden sind, in der täglichen Praxis aber gelöst werden müssen. Das mögen folgende Beispielsfälle verdeutlichen: – Der anwaltliche Berater der Aktiengesellschaft erfährt im Rahmen seines Mandats, dass einzelne oder alle Vorstandsmitglieder sich erhebliche Pflichtverletzungen haben zuschulde kommen lassen. Mit dem Aufsichtsrat hatte er bisher keinen Kontakt. Was tut er? – Der Anwalt berät Vorstand und Aufsichtsrat in einer heiklen Angelegenheit. Nach einem Wechsel in der Zusammensetzung der Organe bitten ihn Vorstand und Aufsichtsrat um Auskunft über den Inhalt seiner Beratung. Mit wem darf er sprechen? Die Staatsanwaltschaft ermittelt und will ihn als Zeugen hören. Wer entbindet ihn von der Schweigepflicht?1 Vieles, was im Folgenden für die Aktiengesellschaft gesagt wird, gilt auch für die GmbH, insbesondere wenn sie – nach dem Mitbestimmungsrecht oder aufgrund einer Satzungsbestimmung – einen Aufsichtsrat mit der Kompetenz hat, die Geschäftsführung zu bestellen und abzuberufen. Wenn es keinen Aufsichtsrat gibt oder ihm diese Personalkompetenz fehlt, findet sich der Anwalt im

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* Herrn Dr. Sebastian Biedenkopf, Conergy AG, danke ich für viele Diskussionen, Frau Julia Heydel für tatkräftige Unterstützung bei der Recherche und Analyse. 1 Vgl. AG Bonn, NJW 2010, 1390.

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Spannungsfeld zwischen Geschäftsführung und Gesellschafterversammlung und hat dort mit ähnlichen Fragen umzugehen.

II. Wer ist Mandant? Die Frage klingt banal; sie ist eigentlich auch leicht zu beantworten. Eine genaue Abgrenzung ist aber nötig, um zu klaren Lösungen bei den Themen Schweigepflicht (s. unten III. und V.), Entbindung von der Schweigepflicht (s. unten V.) und Berichtspflicht (s. unten III. und IV.) zu kommen. 1. In aller Regel besteht das Mandatsverhältnis zwischen der Aktiengesellschaft und dem Anwalt. Der Geschäftsbesorgungsvertrag wird seitens der Aktiengesellschaft durch den Vorstand oder Bevollmächtigte geschlossen2; in der Praxis wird das meist die Rechtsabteilung sein. Der so mandatierte Anwalt vertritt nur die Gesellschaft, nicht aber die Mitglieder des Vorstandes oder andere Mitarbeiter, wenn dieses nicht – unter Beachtung der Regeln zu Interessenkonflikten – vereinbart ist. Auch das sollte selbstverständlich sein3; dennoch gehen einige Gerichte4 und viele Literaturstimmen5 davon aus, dass einzelne Vorstandsmitglieder in das Mandatsverhältnis einbezogen sein können, ohne dass diskutiert wird, auf welche Weise das Mandat auf sie erstreckt wird. 2. Auch der Aufsichtsrat kann sich im Rahmen seiner Aufgaben rechtlich beraten lassen. Darüber gibt es im Grundsatz keinen Streit. Unstreitig scheint auch zu sein, dass das Mandat durch Aufsichtsratbeschluss gemäß § 108 AktG oder Beschluss eines Ausschusses erteilt werden kann6; üblich ist allerdings, dass der Aufsichtsrat die Mandatierung – durch Vermittlung des Vorstandes – der Rechtsabteilung überlässt. Bei der Mandatierung vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft; der Honoraranspruch des Rechtsanwalts richtet sich gegen die Aktiengesellschaft. Auch hier berät der Anwalt das Organ der Gesellschaft als solches, nicht einzelne Organmitglieder7.

III. Wem schuldet der Anwalt Verschwiegenheit? 1. Der Anwalt hat die ihm anvertrauten Informationen vertraulich zu behandeln (§ 43a Abs. 2 BRAO); Verstöße gegen diese Pflicht werden strafrechtlich

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2 § 78 Abs. 1 AktG; s. hierzu auch Passarge, BB 2010, 591. 3 S. hierzu auch LG Hamburg, NJW 2011, 942, 943: Verneint wird im Rahmen des § 97 StPO ein „mandatsähnliches Vertrauensverhältnis“ zum Vorstand. 4 Vor allem im Rahmen der Frage der Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht: s. OLG Schleswig, NJW 1981, 294; OLG Koblenz, NStZ 1985, 426, 427; aber auch AG Bonn, NJW 2010, 1390. 5 Vgl. Krause in FS Dahs, 2005, S. 349, 366 ff.; Huber in Beck’scher Online-Kommentar, Stand: 15.1.2011, § 53 StPO Rz. 40; Gülzow, NJW 1981, 265, 268 (differenzierend, ob dem Organ Straftaten zu Lasten der Gesellschaft vorgeworfen werden); Senge in Karlsruher Komm. StPO, 6. Aufl. 2008, § 53 Rz. 47; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rz. 46. 6 S. in diesem Rahmen zu § 112 AktG Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 112 Rz. 21. 7 So auch LG Hamburg, NJW 2011, 942, 943.

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Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft

gemäß § 203 Abs. 1 Ziff. 3 StGB geahndet. Prozessual wird die anwaltliche Verschwiegenheit durch sein Zeugnisverweigerungsrecht (§§ 383 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO, 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO, 98 VwGO etc.) flankiert; auf sein Zeugnisverweigerungsrecht kann sich der Anwalt allerdings nicht berufen, wenn ihn sein Mandant von der Verschwiegenheitspflicht entbunden hat. Die Frage, wer ihn entbinden kann, wird später zu diskutieren sein; zunächst zu betrachten ist die logisch vorrangige Frage, wem der Anwalt Verschwiegenheit schuldet, also an wen er berichtet und wem gegenüber er schweigen muss. Wenn der Rechtsanwalt die Aktiengesellschaft (außerhalb der Beratung des Aufsichtsrates) vertritt, bestimmt der Vorstand, wem er Auskunft zu geben hat. Angestellten der Gesellschaft gegenüber ist er zur Verschwiegenheit verpflichtet, es sei denn, dass der Vorstand ihn ermächtigt hat, mit ihnen zu sprechen, z. B. indem er ihnen die Erteilung und Durchführung des Mandats überlassen hat. 2. Das gilt auch, wenn sich die personelle Zusammensetzung des Vorstandes ändert. Die Gesellschaft wird stets durch den gegenwärtigen Vorstand vertreten; dieser kann sich vom Anwalt berichten lassen, und zwar auch dann, wenn dem bisherige Vorstandsmitglieder widersprechen. Gleiches gilt in der Insolvenz der Gesellschaft; der Anwalt schuldet dem Insolvenzverwalter Auskunft, auch wenn die Vorstandsmitglieder nicht einverstanden sind8. Eine Ausnahme macht der BGH in seiner Grundsatzentscheidung hierzu nur für den Fall, dass es eine besondere Vertrauensbeziehung zwischen dem Anwalt und einem einzelnen Organmitglied gegeben hat, die individuell begründet worden ist, z. B. indem das Organmitglied den Anwalt ausdrücklich um eine persönliche Beratung gebeten hat9. Allerdings stellt der BGH strenge Anforderungen, um diese Fälle vom Normalfall abzugrenzen, in dem die Beziehung zu dem Organmitglied lediglich ein Reflex des Mandatsverhältnisses mit der juristischen Person ist10. Er weist dabei insbesondere auf die Gefahr eines Interessenkonfliktes hin11. In der Tat ist hier Vorsicht geboten. Zwar mag es situationsbedingt erwünscht sein, dem Vorstand nach einem Personalwechsel und insbesondere einem Insolvenzverwalter keine Auskunft geben zu müssen. Ein vorsichtig handelnder Anwalt wird jedoch bei der Begründung des Mandatsverhältnisses großen Wert darauf legen, klarzustellen, dass nur die Gesellschaft sein Mandant ist, nicht aber ein einzelnes Mitglied des Vorstandes. Gerade in schwierigen Beratungsmandaten ist häufig die persönliche Position von Vorstandsmitgliedern berührt, und oft steht eine potentielle Haftung von Vorstandsmitgliedern zur Debatte. Dann drohen die Interessen der Gesellschaft und des einzelnen Vorstandsmitgliedes zu divergieren; in diesem Fall darf der Anwalt nicht neben dem Mandat für die Gesellschaft ein Mandat eines Organmitglieds führen.

__________ 8 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 9 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512; in einem solchen Fall hätte der Anwalt mehrere Auftraggeber, die nur gemeinsam ihr Einverständnis erklären können: Henssler in Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 3. Aufl. 2010, § 43a Rz. 63. 10 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 11 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512.

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Joachim von Falkenhausen

Wenn er das Mandat angenommen hat, als die Beratung noch unproblematisch erschien, und sich der Interessenkonflikt später herausstellt, ist er nach § 3 Abs. 4 BORA verpflichtet, sowohl das Mandat für die Gesellschaft wie auch das Mandat für das Vorstandsmitglied niederzulegen. Zudem wäre in einer solchen Konstellation der Anwalt schon bei Mandatsbeginn verpflichtet, die Aktiengesellschaft und das Vorstandsmitglied auf die Probleme hinzuweisen, die sich aus der doppelten Mandatsbeziehung ergeben, denn diese Probleme hindern ihn daran, das Mandat für beide seine Mandanten ohne Rücksichtnahme auf den jeweils anderen zu führen12. Insbesondere muss er der Gesellschaft gegenüber klarstellen, dass er der Gesellschaft nach Ausscheiden seines anderen Mandanten, des Vorstandsmitglieds, aus dem Vorstandsamt ohne dessen Zustimmung keine Auskunft geben kann; das wird der Vorstand kaum akzeptieren können, ohne seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu verletzen. Schließlich muss dem Anwalt auch aus eigenem Interesse daran gelegen sein, dass klar ist, wem er seine Beratung schuldet. Wenn er Schutzpflichten gegenüber Vorstandsmitgliedern übernimmt, schuldet er ihnen, wenn nicht etwas ganz Ungewöhnliches vereinbart ist, eine umfassende sachkundige Beratung und haftet bei mangelhafter Erfüllung. Fälle, in denen der Anwalt neben dem Mandat der Gesellschaft auch ein Mandat eines Vorstandsmitglieds führt, werden daher extrem selten sein. In allen anderen Fällen berichtet der Anwalt an den neuen Vorstand oder den Insolvenzverwalter; ihnen gegenüber kann er sich nicht auf seine Schweigepflicht berufen. 3. Schuldet der Anwalt aber dem Aufsichtsrat Auskunft? Der Aufsichtsrat vertritt die Aktiengesellschaft grundsätzlich nicht gegenüber Dritten und deswegen auch nicht gegenüber dem beratenden Anwalt13. Deswegen ist der Anwalt auch gegenüber dem Aufsichtsrat schweigepflichtig14. Aber gilt das auch in Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Aufsichtsrates fallen? Muss nicht der Anwalt auch an den Aufsichtsrat – jedenfalls auf Anforderung – berichten, soweit die Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrates reichen? Relevant und brisant ist die Frage insbesondere im Bereich der Personalkompetenz, wenn z. B. der Aufsichtsrat Pflichtverstöße des Vorstandes untersucht und den Anwalt befragen will, der die Gesellschaft beraten hat. Aus der Sicht des Anwaltsrechtes scheint die Frage klar zu beantworten zu sein: Der Rechtsanwalt hat sein Mandatsverhältnis mit der Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand, abgeschlossen, und nur der Gesellschaft, die ihm gegenüber durch den Vorstand vertreten wird, schuldet er Auskunft. Aktienrechtlich ist es schwieriger. Zur Personalkompetenz des Aufsichtsrates gehört die Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand gemäß § 112 AktG. In diesem Bereich hat der Aufsichtsrat eine Annexzuständigkeit für er-

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12 Vgl. BGH, NJW 2008, 1307, 1308 zur Hinweispflicht des Anwalts, der häufig vom Gegner mandatiert wird. 13 Anders ist es natürlich dann, wenn der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Kompetenzen anwaltlich beraten lässt, s. oben II. 2. 14 Dies gilt natürlich nur solange, wie der Vorstand dem Anwalt nicht die Befugnis erteilt, mit dem Aufsichtsrat zu sprechen.

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Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft

forderliche Hilfsgeschäfte15. Im Sinne einer „effektuierenden Kompetenzauslegung“16 ist der Aufsichtsrat zu den Tätigkeiten befugt und insoweit vertretungsberechtigt, die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Aber gehört dazu auch die Einholung von Informationen direkt von Vertragspartnern der Gesellschaft? Jedenfalls dort, wo der Vertragspartner Anwalt ist und es um Informationen geht, die der Verschwiegenheit unterliegen, muss die Annexzuständigkeit des Aufsichtsrat enden. Dadurch wird der Aufsichtsrat nicht recht- und machtlos. Er kann die entsprechenden Informationen beim Vorstand einzuholen; dieser ist ihm zum Bericht verpflichtet. Zur Berichterstattung gehört, dass der Vorstand – wenn vom Aufsichtsrat verlangt – die Informationen beim Anwalt abfragt und sie dem Aufsichtsrat weitergibt. In aller Regel wird der Vorstand in solchen Fällen den Anwalt bitten, dem Aufsichtsrat direkt Auskunft zu erteilen, und ihn damit insoweit von seiner Schweigepflicht befreien. Dem entspricht, dass der Aufsichtsrat im Grundsatz nicht berechtigt ist, von sich aus Mitarbeiter der Gesellschaft zu befragen oder sich auf andere Weise von ihnen Informationen zu beschaffen17. Allerdings nimmt die Literatur an, dass der Aufsichtsrat in begründeten Einzelfällen, insbesondere bei groben Pflichtverletzungen des Vorstandes, auch am Vorstand vorbei direkt auf Mitarbeiter zugreifen kann18. Soweit ersichtlich wird jedoch nicht vertreten, dass er außerhalb der Gesellschaft von sich aus Vertragspartner ansprechen darf; soweit sollte seine Zuständigkeit nicht reichen19. Es bleibt daher dabei, dass der Anwalt dem Aufsichtsrat nicht auskunftspflichtig und auch nicht zur Auskunft berechtigt ist, wenn er nicht vom Aufsichtsrat selbst mandatiert worden ist20.

IV. Der Störfall Gilt alles das auch, wenn der Anwalt bemerkt, dass der Vorstand, an den er berichtet, sich grober Pflichtwidrigkeiten schuldig gemacht hat? Wenn der

__________ 15 16 17 18

Vgl. Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 451. Vgl. Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 455. Vgl. Spindler in MünchKomm. AktG (Fn. 6), § 90 Rz. 38. v. Schenck in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 7 Rz. 176 f., der voraussetzt, dass der Mitarbeiter zunächst über den Vorstand zur Aufsichtsratssitzung geladen werden muss. Erst wenn der Vorstand dem nicht nachkommt, könne der Aufsichtsrat den Angestellten selbst laden. Nach Habersack (Fn. 6), § 111 Rz. 68 kommt es auf die Vermittlung des Vorstandes nicht an. Den Meinungsstand fasst Dreher in FS Ulmer, 2003, S. 87 ff. zusammen. 19 OLG Zweibrücken, DB 1990, 1401 mit zustimmender Anmerkung Theisen; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 Rz. 70. Nach v. Schenck (Fn. 18), Rz. 178, können Dritte allerdings unter sehr engen Voraussetzungen befragt werden, wobei in besonderem Maße die Grundsätze der Vertraulichkeit und Loyalität zu beachten sind. Der Aufsichtsrat sollte zu dieser Form der Befragung erst greifen, wenn er es als unumgänglich ansieht, um Schäden von der Gesellschaft fernzuhalten oder ein schädigendes Ereignis aufzuklären. 20 Zur umgekehrten Frage, ob der Anwalt bei groben Pflichtverletzungen des Vorstands den Aufsichtsrat informieren darf, s. unten IV. 4.

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Anwalt z. B. Kenntnis von Straftaten des Vorstands erlangt und weiß (oder davon ausgehen muss), dass der Aufsichtsrat nicht informiert ist, kommt er in eine schwierige Position; eine Lösung, die in allen Fällen tragfähig ist, wird es nicht geben. 1. Berufsrechtlich (§ 11 Abs. 1 BORA) wie auch aus dem Mandatsvertrag (§§ 675, 666 BGB) ist der Anwalt verpflichtet, seinem Mandanten unverzüglich über alles zu berichten, was er im Rahmen des Mandates erfährt und was für den Mandanten von Bedeutung ist. Er hat Schädigungen des Mandanten zu vermeiden21 und ihn auf vermeidbare Nachteile hinzuweisen22. Dazu gehören auch Informationen über Pflichtverletzungen, die der Vorstand begangen hat. Fraglich kann also nur sein, wem der Anwalt zu berichten hat. 2. Der Anwalt schuldet die Informationen seinem Vertragspartner, also dem Mandanten. Das ist die Aktiengesellschaft, die durch den Vorstand oder einen sonstigen Bevollmächtigten, z. B. einen Mitarbeiter der Rechtsabteilung, vertreten wird. Der Anwalt kann sich jedoch nicht damit begnügen, in Krisenfällen brisante Informationen seinem Ansprechpartner mitzuteilen. Vielmehr gehört es auch zu seiner Pflicht, den Mandanten umfassend zu informieren und Schäden von ihm abzuwenden, dass er das Nötige tut, damit die Information an die richtige Stelle gelangt. Informationen über Pflichtverletzungen des Vorstandes müssen dem Aufsichtsrat zugeleitet werden. Wie erörtert, hat aber der Aufsichtsrat keinen direkten Anspruch gegen den Anwalt auf Information. Kann ihm der Anwalt trotzdem berichten, um seiner Pflicht zu genügen, die Aktiengesellschaft richtig zu informieren? Diese Frage ist bisher nicht problematisiert worden. Soweit überhaupt auf das Verhältnis zwischen dem Anwalt der Gesellschaft und dem Aufsichtsrat eingegangen wird, wird eine Berichterstattung an den Aufsichtsrat ohne Diskussion des Problems abgelehnt23. Der Anwalt steht vor einem Dilemma: Er muss einerseits seinen Mandanten umfassend informieren, und dazu gehört, dass die Information zum Aufsichtsrat gelangt. Andererseits ist er zur Verschwiegenheit auch gegenüber dem Aufsichtsrat verpflichtet. Für eine Pflicht zur Information des Aufsichtsrates spricht, dass dieser in Vorstandsangelegenheiten Vertretungsorgan der Gesellschaft ist (§ 112 AktG). Daraus könnte man folgern, dass er für Informationen im Zusammenhang mit Pflichtverletzungen des Vorstandes eine „Empfangszuständigkeit“ hat, die die Schweigepflicht des Anwaltes überspielt. Ohnehin mag die Konstruktion einer Schweigepflicht gegenüber einem Organ der eigenen Mandantin künstlich erscheinen. Dem stehen Sinn und Zweck der anwaltlichen Verschwiegenheit entgegen. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, das Vertrauensverhältnis zwischen

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21 BGH, NJW 1999, 1391; BGH, NJW 1997, 2168, 2169; Heermann in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 675 Rz. 28. 22 BGH, NJW 1992, 1159, 1160; BGH, NJW-RR 1999, 19, 20; BGH, NJW 1998, 900, 901; BGH, NJW 1997, 2168, 2169. 23 Henssler, Der Konzern 2003, 255, 259; Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 232 rechte Spalte.

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Anwalt und Mandant zu gewährleisten24. Der Mandant kann nur dann offen und vertrauensvoll mit seinem Anwalt reden, wenn er sich darauf verlassen kann, dass die Informationen nicht unbefugt weitergetragen werden25. Das Vertrauensverhältnis ist auch bei der Beratung der Aktiengesellschaft von entscheidender Bedeutung. Zwar sind die Vorstandsmitglieder nicht selbst Mandanten; auch sie können jedoch dem Anwalt nur vollständig vertrauen, wenn sie davon ausgehen dürfen, dass die Informationen nicht, auch nicht an den Aufsichtsrat, weitergetragen werden. Meines Erachtens ist daher die Pflichtenkollision im Grundsatz dahin aufzulösen, dass die Verschwiegenheitspflicht vorgeht. Der Anwalt ist nicht befugt, von sich aus den Aufsichtsrat anzusprechen, und zwar auch dann nicht, wenn er Informationen über Pflichtverletzungen des Vorstandes hat. Diese Ergebnis scheint auf erstem Blick dem zu widersprechen, was oben zur Berichterstattung und Schweigepflicht nach einem Wechsel im Vorstand ausgeführt wurde. Dort kann sich das ehemalige Vorstandmitglied nicht auf seine Vertrauensbeziehung zum Anwalt berufen, weil Mandant nur die Gesellschaft ist; im Verhältnis zum Aufsichtsrat soll aber die Vertrauensbeziehung zum Vorstand sogar eine Information eines anderen Organs der Mandantin verhindern. Der Widerspruch ist jedoch nur scheinbar und löst sich auf, wenn man die Interessen der Aktiengesellschaft betrachtet. Wenn ein ehemaliges Vorstandsmitglied den Anwalt zur Verschwiegenheit verpflichten will, verfolgt es in der Regel eigene Interessen (insbesondere Vermeidung von aktien- oder strafrechtlicher Haftung), die häufig dem Interesse der Gesellschaft entgegenstehen. Daran aber, dass der Vorstand vertrauensvoll mit dem Anwalt kommunizieren kann, ohne dass sein Überwachungsorgan in kritischen Situationen informiert wird, hat auch die Gesellschaft ein Interesse. 3. Trotzdem verbietet es sich natürlich, dass der Anwalt mit dem Vorstandsmitglied spricht, um dessen Pflichtverletzungen es geht. Er muss also mit seinem Ansprechpartner (z. B. in der Rechtsabteilung) oder einem nicht betroffenen Vorstandsmitglied Kontakt aufnehmen und darauf bestehen, dass die kritische Information pflichtgemäß unverzüglich an den Aufsichtsrat weitergeleitet wird. 4. Das wird aber nicht in allen Fällen möglich sein. Zum Beispiel wird es Fälle geben, in denen alle Vorstandsmitglieder vom Verdacht pflichtwidrigen Handelns betroffen sind und die Kommunikation zwischen den Ansprechpartnern in der Rechtsabteilung und dem Aufsichtsrat nicht gewährleistet ist. Wenn die in Frage stehenden Pflichtverletzungen schwer wiegen, ist der Anwalt in einer notstandsähnlichen Situation. Dann wird er zu erwägen haben, ob seine Sorge um das Wohlergehen des Unternehmens ihm erlaubt, seine Verschwiegenheitspflicht und damit sein Vertrauensverhältnis zum Vorstand als Vertreter der Gesellschaft hintanzustellen. Wenn er das bejaht, muss er mit dem Aufsichtsrat sprechen, um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Dogmatisch ließe

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24 Vgl. Kleine-Cosack, Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2009, § 43a Rz. 4; Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 7. Aufl. 2008, § 43a Rz. 12. 25 Vgl. Henssler (Fn. 9), § 43a Rz. 38; Feuerich/Weyland (Fn. 24), § 43a Rz. 12.

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sich die Entscheidung mit einer Analogie zu der Literaturmeinung rechtfertigen, die dem Aufsichtsrat erlaubt, Angestellte des Unternehmens direkt anzusprechen, wenn der Einzelfall, insbesondere eine grobe Pflichtverletzung des Vorstands, es erfordert (s. oben III. 3.).

V. Zeugnisverweigerungsrecht und Entbindung von der Schweigepflicht Wer befreit den Anwalt, der die Aktiengesellschaft beraten hat, von der Schweigepflicht, wenn er als Zeuge z. B. in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aussagen soll? Die Frage scheint nach dem vorstehend Erörterten einfach zu beantworten zu sein – zuständig ist Mandant, nämlich die Aktiengesellschaft, vertreten durch ihren (jeweiligen) Vorstand. Die Diskussion in der Literatur26 und die Entscheidung des AG Bonn27 in dem eingangs geschilderten Fall zeigen jedoch, dass es Klärungsbedarf gibt. 1. Literatur und Rechtsprechung betrachten in der Regel den Fall, dass der Anwalt (oder ein Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater) nach Insolvenz der Gesellschaft in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aussagen soll, und diskutieren, ob der Insolvenzverwalter (allein) über die Entbindung von der Schweigepflicht entscheidet. Während die Rechtsprechung28 geteilt ist, neigt die Literatur mit wenigen Ausnahmen29 dazu, aufgrund des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Vorstand der Gesellschaft eine Entbindung durch den Insolvenzverwalter nicht ausreichen zu lassen30. Erstaunlicherweise wird in der Diskussion wenig auf die Vorfrage eingegangen, wem der Anwalt Informationen schuldet und wer damit „Herr des anwaltlichen Geheimnisses“ ist. Im Verhältnis zum Insolvenzverwalter hat der BGH31 ein klares Wort gesprochen: Der Anwalt ist dem Insolvenzverwalter auskunftspflichtig. Allerdings hat der BGH über eine Auskunftsklage entschieden, nicht über das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht. Es erscheint aber logisch zwingend, dass derjenige – und nur derjenige –, dem der Anwalt Auskunft schuldet und der deswegen Herr des Geheimnisses ist, über die anwaltliche

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26 S. Dahs in FS Kleinknecht, 1985, S. 63 ff.; Dierlamm in Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, S. 428 ff.; Krause (Fn. 5), S. 349; Huber-Lotterschmid, Verschwiegenheitspflichten, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen, 2007, S. 56 ff.; Passarge, BB 2010, 591; Senge (Fn. 5), § 53 Rz. 47; MeyerGoßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rz. 46. 27 S. oben Fn. 1. 28 Entbindung nur durch den Insolvenzverwalter erachten als ausreichend: LG Hamburg, NStZ-RR 2002, 12; OLG Nürnberg, NJW 2010, 690; OLG Oldenburg, NStZ 2004, 570, a. A. OLG Schleswig, NJW 1981, 294; LG Saarbrücken, wistra 1995, 239; OLG Koblenz, NStZ 1985, 426. 29 Passarge, BB 2010, 591, 593; Priebe, ZIP 2011, 312, 316. 30 Senge (Fn. 5) § 53 Rz. 47; Huber (Fn. 5), § 53 Rz. 40; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rz. 46; Dierlamm (Fn. 26), S. 428, 436 ff.; Dahs (Fn. 26), S. 63, 73 ff.; Krause (Fn. 5), S. 349, 366 ff.; Huber-Lotterschmid (Fn. 26), S. 87 ff. 31 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512.

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Verschwiegenheit verfügen und damit den Anwalt von der Verschwiegenheit entbinden kann. Diese These ist im Folgenden zu überprüfen. 2. Anwaltsrechtlich und vertragsrechtlich kann ohne weiteres auf die oben erörterten Grundlagen zurückgegriffen werden. Der Anwalt wird von seinem Mandanten von der Schweigepflicht entbunden. Das ist die Aktiengesellschaft, für die der gegenwärtig amtierende Vorstand und – in der Insolvenz – der Insolvenzverwalter handelt. Ehemaligen Vorstandsmitgliedern oder – wie im Fall des AG Bonn32 – Aufsichtsratsmitgliedern schuldet der Anwalt Verschwiegenheit nur, wenn er mit ihnen eine Mandatsbeziehung eingegangen ist33. Auf die Schwierigkeiten, die sich dann in Bezug auf Interessenkonflikte, Beratungspflichten und Haftung ergeben, ist bereits hingewiesen worden. Das Gesellschaftsrecht entscheidet nicht anders; den Schutz früherer Vorstandsmitglieder oder deren Mitwirkungsbefugnis sieht es nicht vor. 3. Auf die Entbindung durch ehemalige Vorstandsmitglieder (oder Aufsichtsratsmitglieder) kann es daher nur ankommen, wenn das Zivil- oder Strafprozessrecht das Zeugnisverweigerungsrecht weiter fasst, als die anwaltliche Verschwiegenheit im Rahmen von Berufsrecht und Geschäftsbesorgungsvertrag reicht. In der strafprozessualen Rechtsprechung und Literatur wird besonders auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem Mandanten und dem Anwalt (oder einem anderen Berufsträger der zur Zeugnisverweigerung berechtigt ist) abgestellt34. Nicht erörtert wird, ob das Vertrauensverhältnis mit der Mandatsbeziehung des Anwalts zur Gesellschaft gleichzusetzen ist oder ob das Vertrauensverhältnis zwischen einzelnen Organmitgliedern und dem Anwalt über die Mandatsbeziehung hinaus ein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht begründen soll35. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass es auf den Geschäftsbesorgungsvertrag nicht ankomme und dass zu einer juristischen Person kein Vertrauensverhältnis bestehen kann36. Sollte ein eigenständiges Zeugnisverweigerungsrecht gemeint sein, so ist dem zu widersprechen. Das Vertrauen, das ein Organmitglied dem Anwalt entgegenbringt, kann nicht die Pflichten des Anwalts gegenüber seiner Mandantin, der Aktiengesellschaft, einschränken. Wenn diese, vertreten durch ihren heutigen Vorstand oder auch einen Insolvenzverwalter, der Ansicht ist, dass eine Aussage des Anwalts im Prozess ihren Interessen dient, muss der Anwalt dieses Interesse durchzusetzen helfen; er darf sich daran nicht durch eine Vertrauensbeziehung zu einem Nichtmandanten hindern lassen. Das wird am deutlichsten, wenn es in dem Verfahren um eine zivilrechtliche Haftung eines Vorstandsmitglieds geht. Dann laufen die Interessen dieses Vorstandsmitglieds

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32 S. oben Fn. 1. 33 So auch BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 34 LG Hamburg, NStZ-RR 2002, 12 (Vertrauensverhältnis entsteht bei Beauftragung eines Wirtschaftsprüfers mit der laufenden Buchhaltung und Bilanzerstellung „zwischen diesen Vertragspartnern“, die Organe sind außerhalb des Vertrauensverhältnisses stehende Dritte). 35 So sind allerdings möglicherweise Dahs (Fn. 26), S. 63, 73 ff. und Krause (Fn. 5), S. 349, 366 ff., zu verstehen. 36 Vgl. nur Dahs (Fn. 26), S. 63, 73.

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denen der Gesellschaft zuwider; die Interessen der Gesellschaft dürfen nicht dadurch konterkariert werden, dass der Anspruchsgegner mitentscheidet, ob der Anwalt aussagen darf37. Dem steht nicht entgegen, dass ein Vertrauensverhältnis nur zwischen natürlichen Personen, nicht aber zwischen einem Anwalt und einer Aktiengesellschaft bestehen kann. Das Vorstandsmitglied, das dem Anwalt vertraut, hat ihm in Vertretung der Aktiengesellschaft vertrauliche Informationen mitgeteilt; es hat gewusst, dass der Anwalt (nur) die Interessen der Gesellschaft, nicht aber seine eigenen vertritt38. Entscheidend aber ist: Wenn das Zeugnisverweigerungsrecht auf eine Vertrauensbeziehung zum Anwalt außerhalb der Mandatsbeziehung gegründet werden soll, verbleibt der bereits angesprochene Wertungswiderspruch. Der Mandant – und das ist die Gesellschaft, vertreten durch ihren gegenwärtigen Vorstand – kann vom Anwalt Bericht verlangen und ihm Weisungen geben, wie er mit vertraulichen Informationen umgehen soll. Dann kann im Ziviloder Strafprozess nichts anderes gelten. Ehemalige Vorstandsmitglieder können die Aussage des Anwalts nicht verhindern; eine Entbindung durch sie ist nicht erforderlich. 4. Eine Sonderkonstellation lag der Entscheidung des AG Bonn39 zugrunde, da der Anwalt dort sowohl Vorstandsmitglieder wie auch Aufsichtsratsmitglieder beraten hatte. Welche vertraglichen Vereinbarungen dem zugrunde lagen, referiert sich die Entscheidung nicht. Angenommen werden darf, dass Gesellschaft und Anwalt – unter Beachtung etwaiger Interessenkonfliktsfragen – ein Mandatsverhältnis begründen wollten, in dem der Anwalt Pflichten auch gegenüber dem Aufsichtsrat als Gremium übernommen hat. Dann bedarf der Anwalt der Entbindung von der Schweigepflicht sowohl durch den Vorstand wie durch den Aufsichtsrat. Auch beim Aufsichtsrat gilt jedoch, dass der Anwalt, der das Organ und damit die Gesellschaft, nicht aber einzelne Mitglieder beraten hat, von dem Organ in seiner heutigen Zusammensetzung von der Schweigepflicht entbunden wird. Eine besondere Konstellation, bei der der Anwalt Schutzpflichten auch gegenüber einzelnen Organmitgliedern übernimmt, ergibt sich jedenfalls aus dem in der Entscheidung geschilderten Tatbestand nicht.

VI. Anwaltliche Verschwiegenheit und Corporate Governance De lege lata bewegt sich der Anwalt, der eine Aktiengesellschaft berät, auf schwierigem, aber hinreichend strukturiertem Terrain. Rechtspolitisch sind Änderungen gefordert worden; in der Literatur40 wird Überraschung darüber

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37 So auch Passarge, BB 2010, 591, 592. 38 Auch das BVerfG (NStZ-RR 2004, 83, 84 – Kammerentscheidung) betont (zur strafprozessualen Beschlagnahmefreiheit), dass die rechtliche Trennung zwischen der juristischen Person und ihren Organen nicht außer Acht gelassen werden darf. 39 S. oben Fn. 1. 40 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 232; zum Thema „Anwaltliche Verschwiegenheit und Corporate Governance“ s. auch die Heidelberger Dissertation von Marius E. Mann, 2009.

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geäußert, dass die anwaltliche Verschwiegenheit in Deutschland nicht in den Fokus der Corporate Governance-Diskussion gekommen ist. Die Autoren fordern, dem Anwalt, der eine börsennotierte Aktiengesellschaft berät, eine Rolle in der Corporate Governance zuzuweisen. Dazu soll – entweder de lege ferenda oder durch entsprechende vertragliche Vereinbarung mit der Aktiengesellschaft – seine Schweigepflicht durchbrochen und er verpflichtet werden, bei Gesetzesverstößen nicht nur den Aufsichtsrat, sondern auch zuständige Aufsichtsbehörden zu informieren, um das Funktionieren der Kapitalmärkte zu gewährleisten. Der Anwalt müsse an der Bekämpfung gemeinschädlicher Rechtsverstöße teilnehmen, um nicht zum „Spießgesellen“ des rechtsbrechenden Mandanten zu werden41. Dem ist aus anwaltlicher Sicht energisch entgegenzutreten. 1. Der Vorstoß von Knöfel/Mock beruht auf einem falschen Verständnis der Rolle des Anwalts. Er ist der Berater der Gesellschaft, die von Vorstand oder Aufsichtsrat repräsentiert wird. Anders als der Abschlussprüfer hat er keine Überwachungs- oder Kontrollfunktion; das Aktiengesetz weist ihm keine Aufgaben zu. Er steht an der Seite der Gesellschaft und ihr damit nicht als Kontrollinstanz gegenüber. Schon deswegen erscheint es formal und materiell unangemessen, ihm eigenständige Corporate Governance-Pflichten zuzuweisen. 2. Wichtiger aber ist: Grundlage der anwaltlichen Beratung ist das Vertrauen des Mandanten in seinen Anwalt. Die Schweigepflicht des Anwalts schützt dieses Vertrauen (s. oben II. 2.); sie wiederum ist von der Verfassung geschützt42. Das Vertrauen ist gerade dann gefragt, wenn in schwierigen Gebieten beraten wird. Fragen z. B. des Kartellrechts oder des Kapitalmarktrechts müssen genau analysiert werden, ohne dass immer eine eindeutige Antwort gegeben werden kann. Wenn später eine Behörde oder ein Gericht einen Rechtsverstoß feststellen, drohen Bußgeld- oder Strafverfahren. Eine verantwortungsvolle Beratung der Aktiengesellschaft ist unmöglich, wenn der Anwalt nicht vollständig informiert wird. Kein Vorstand aber wird ihm alles sagen können und dürfen, wenn er befürchten müsste, dass der Anwalt nicht zum Schweigen, sondern in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren zur Aussage oder gar schon vorher zur Berichterstattung im Rahmen der Corporate Governance verpflichtet ist. 3. Mit „Sklavenmoral“43 hat das nichts zu tun. Der Anwalt hat unabhängig (§ 3 Abs. 1 BRAO) zu beraten; er darf sich nicht zum Handlanger seines Mandanten machen. Pflicht- und Gesetzesverstöße der von ihm vertretenen Gesellschaft darf er nicht dulden; was er in solchen Fällen zu tun hat, wurde oben diskutiert. Nur wenn der Anwalt diese Grundsätze befolgt, handelt er ordnungsgemäß und erfüllt seine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag; der Ziehung einer Grenze der loyalen Vertragserfüllung44 bedarf es daher nicht. Auch das

__________ 41 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234. 42 § 43a BRAO ist Ausfluss des durch Art. 12 GG gewährten Schutzes des anwaltlichen Berufsgeheimnisses; s. hierzu Henssler, NJW 1994, 1817, 1819. 43 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234. 44 So aber Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234.

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Gemeinwohl45 erfordert einen Schutz des Anwaltsgeheimnisses, nicht dessen Durchbrechung; denn nur so kann verantwortungsbewusste Rechtsberatung gewährleistet werden. 4. Anderes kann nur in extremen Fällen gelten. Wenn es darum geht, bevorstehende Verbrechen zu verhindern, treffen auch den Anwalt die Pflichten des § 138 StGB, allerdings abgeschwächt durch § 139 Abs. 3 Satz 1 und 2 StGB. In anderen Fällen, in denen schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind, kann eine Güterabwägung nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB ihm erlauben, die Verschwiegenheitspflicht zu durchbrechen. Zu Recht haben die Vorschläge von Knöfel/Mock in Rechtsprechung und Literatur wenig Widerhall und keine Zustimmung gefunden.

VII. Ergebnis Die Diskussion der aktuellen Fragen der anwaltlichen Beratung von Aktiengesellschaften zeigt, dass das geltende Recht im wesentlichen befriedigende Lösungen bietet. 1. Mandant des Anwalts ist die Aktiengesellschaft. Nur ihr gegenüber hat er Schutz- und Beratungspflichten. Der Anwalt tut gut daran, daneben keine Mandatsbeziehung mit einzelnen Organmitgliedern einzugehen, um vielfältige Probleme bezüglich Haftung, Informationspflichten und Interessenkonflikt zu vermeiden. 2. Dann schuldet er Information nur der Aktiengesellschaft, vertreten durch den derzeitigen Vorstand. Frühere Vorstandsmitglieder können dem nicht entgegentreten. 3. Informationspflichten an den Aufsichtsrat hat der Anwalt nur, wenn er vom Aufsichtsrat beauftragt ist. Ausnahmen mag es in extremen Sonderfällen geben, wenn wegen eigener Verstrickung des Vorstands ein Bericht an diesen nicht ausreicht. 4. Dementsprechend ist die Gesellschaft, vertreten durch den gegenwärtigen Vorstand, gegebenenfalls auch ein Insolvenzverwalter, zuständig für eine Entbindung des Anwalts von der Schweigepflicht zur Aussage in gerichtlichen Verfahren. Die Zustimmung früherer Vorstandsmitglieder ist nicht erforderlich. 5. Bestrebungen, das Anwaltsgeheimnis unter Berufung auf moderne Corporate Governance einzuschränken, ist energisch entgegenzutreten.

__________ 45 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234 rechte Spalte, fordern gemeinwohlorientierte anwaltliche Rechtswahrungspflichten.

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Insiderinformationen mit Zukunftsbezug Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Insiderrecht III. Stand der Diskussion in Deutschland 1. Behandlung von gestreckten Sachverhalten 2. Hinreichende Wahrscheinlichkeit IV. Eigene Ansicht 1. Wortlautauslegung 2. Historische Auslegung 3. Systematische Auslegung

4. Teleologische Auslegung 5. Konkretisierung des Beurteilungsmaßstabs V. Sonderfall: Gerüchte und andere Marktinformationen 1. Meinungsstand 2. Handels- oder Weitergabeverbot bei Gerüchten? 3. Publizitätspflicht des Emittenten bei Gerüchten? VI. Zusammenfassung

I. Einführung „In its final form, the Directive has an appealing structural simplicity. In sum, it defines ‚inside information‘ as information of a precise nature about security or issuer which has not been made public which, if it were made public, would likely have a significant effect on the price of the security. It prohibits insiders from taking advantage of inside information.“ Das Lob1 stammt aus dem Jahr 1998, es galt der europäischen Insiderrichtlinie2, die Laudatoren: zwei hohe Beamte der U.S.-amerikanischen Securities Exchange Commission. Mit der Insiderrichtlinie hat die Europäische Gemeinschaft achtzig Jahre U.S.-amerikanische Rechtsentwicklung3 aufgeholt. Ergänzt durch die Marktmissbrauchsrichtlinie4, ist ein modernes Stück Kapitalmarktrecht entstanden. Die appealing structural simplicity setzt sich allerdings nicht fort, wenn man sich den zentralen Merkmalen des Begriffs der Insiderinformation annähert. Das macht der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22.11.20105 deutlich, in dessen Mit-

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1 Vgl. Thomas C. Newkirk und Melissa A. Robertson, Insider Trading – A U.S. Perspective, http://info.worldbank.org/etools/docs/library/157390/securities/images/insider_ newkirk.pdf. 2 Richtlinie 89/592/EWG des Rates vom 13. November 1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte, ABl. Nr. L 334 v. 18.11.1989. 3 Als Startpunkt des U.S.-amerikanischen Insiderrechts gilt die Entscheidung des U.S.amerikanischen Supreme Court v. 3.5.1909 in Sachen Strong versus Repide, 213 U.S. 419 (1909). 4 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. Nr. L 96 v. 12.4.2003, S. 16. 5 BGH, Beschluss v. 22.11.2010 – II ZB 7/09, NJW 2011, 309.

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telpunkt die Frage steht, wann eine Information so konkret oder – wie die Missbrauchsrichtlinie formuliert – präzise ist, dass sie als Insiderinformation zu qualifizieren ist. Im Rahmen einer Musterbeschwerde lag dem Bundesgerichtshof der folgende Sachverhalt vor: Der frühere Vorstandsvorsitzende der Daimler AG6, Professor Jürgen Schrempp, trug sich seit der ordentlichen Hauptversammlung am 6.4.2005 mit dem Gedanken, sein Vorstandsamt vorzeitig aufzugeben. Am 17.5.2005 weihte er den Aufsichtsratsvorsitzenden ein, am 1.6.2005 zwei weitere Aufsichtsratsmitglieder und den designierten Nachfolger. Der Aufsichtsratsvorsitzende unterrichtete seinerseits den Vorsitzenden des Konzern- und Gesamtbetriebsrats. Dieser signalisierte am 27.7.2005, dass die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat für den Führungswechsel stimmen werde. Am selben Tag beschloss der Präsidialausschuss des Aufsichtsrats, dem Aufsichtsrat die Zustimmung zum vorzeitigen Ausscheiden von Professor Schrempp zum Jahresende und der Bestellung von Dr. Zetsche zum Nachfolger vorzuschlagen. Entsprechend dem Vorschlag des Präsidialausschusses beschloss der Aufsichtsrat am 28.7.2005 den Wechsel im Vorstandsvorsitz. Kurz darauf veröffentlichte die Gesellschaft eine Ad-hoc-Mitteilung. Die Kläger rügen, dass die Ad-hocMitteilung verspätet gewesen sei. Dadurch sei ihnen Schaden entstanden. Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte mit Musterentscheid vom 15.2.20077 fest, dass eine Insiderinformation erst mit der Entscheidung des Aufsichtsrats über den Führungswechsel entstanden sei. Die Gesellschaft habe die Entscheidung des Aufsichtsrats unverzüglich veröffentlicht. Bei einem aus mehreren Zwischenschritten bestehenden Sachverhalt komme es darauf an, ob das künftige Ereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintrete. Das erforderliche Wahrscheinlichkeitsurteil müsse aus der ex-ante-Sicht getroffen werden. Erforderlich sei eine „deutlich mehr als bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit“. Der Bundesgerichtshof8 hob die Entscheidung mit Beschluss vom 25.2.2008 wegen eines Verfahrensfehlers auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück. Für die weitere Verhandlung wies der Senat darauf hin, dass es sich bei der Absicht von Professor Schrempp, vorzeitig und einvernehmlich aus dem Vorstand auszuscheiden, insiderrechtlich um eine zukunftsbezogene Information handele. Sie könne konkrete und damit Insiderinformation nur sein, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG davon ausgegangen werden dürfe, dass sie in Zukunft eintreten werde, und sie darüber hinaus als kurserheblich zu betrachten sei. Das Oberlandesgericht Stuttgart wies die Musterfeststellungsanträge auch mit dem zweiten Musterbescheid9 ab. Auf erneute Musterbeschwerde entschied der Bundesgerichtshof10 nicht mehr in der Sache, sondern legte dem Europäischen Gerichtshof die folgenden Fragen zur Entscheidung vor:

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Damals DaimlerChrysler AG. OLG Stuttgart, NZG 2007, 352. BGH, Beschluss v. 25.2.2008 – II ZB 9/07, BB 2008, 855. OLG Stuttgart, NZG 2009, 624. BGH, Beschluss v. 22.11.2010 – II ZB 7/09, NJW 2011, 309.

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Insiderinformationen mit Zukunftsbezug

a) Ist bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, […] nur darauf abzustellen, ob dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis als präzise Information nach diesen Richtlinienbestimmungen anzusehen ist, und demgemäß zu prüfen, ob man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis eintreten wird? Oder können bei einem solchen zeitlich gestreckten Vorgang auch Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, präzise Informationen im Sinn der genannten Richtlinienbestimmungen sein? b) Verlangt hinreichende Wahrscheinlichkeit im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit, oder ist [die Richtlinie so] zu verstehen, dass das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es bei hoher Eignung zur Kursbeeinflussung genügt, wenn der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses offen, aber nicht unwahrscheinlich ist? Der Bundesgerichtshof ist nach Art. 267 Abs. 2 AEUV zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet, wenn es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Auslegung von Gemeinschaftsrecht ankommt. Davon geht der Bundesgerichtshof – ohne nähere Begründung – aus und legt damit zugrunde, dass die deutschen Regeln zur Ad-hoc-Publizität keinen strengeren Publizitätsmaßstab als das europäische Recht geschaffen haben. Dem ist zuzustimmen. Die Gesetzesbegründung zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz liefert keinen Hinweis, dass der Gesetzgeber mit den Ad-hoc-Bestimmungen in § 15 WpHG über das Regelungsniveau der Missbrauchs- und der Durchführungsrichtlinie hinausgehen wollte11. Es wäre auch nicht gesichert, ob er das könnte12.

II. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Insiderrecht Der Europäische Gerichtshof hat sich mit dem europäischen Insiderrecht bisher in vier Entscheidungen befasst. Alle vier Entscheidungen sind auf Vorlage eines nationalen Gerichts ergangen. Zur rechtlichen Behandlung von gestreck-

__________ 11 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung des Anlegerschutzes, BT-Drucks. 15/3174, S. 34 und 35: „Die Änderungen in Absatz 1 sind die Konsequenz der Anpassung der bisherigen §§ 13 ff. an den einheitlichen Begriff der Insiderinformation. …. In Umsetzung von Artikel 6 Absatz 1 der Marktmissbrauchsrichtlinie sind nach Satz 1 alle Insiderinformationen im Sinne des § 13 Absatz 1 zu veröffentlichen, die den Emittenten unmittelbar betreffen.“ 12 Die Insiderrichtlinie enthielt eine Öffnungsklausel, die die Marktmissbrauchsrichtlinie nicht übernommen hat. Die Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshofs, Juliane Kokott, hat darin in ihren Schlussanträgen v. 10.9.2009 in der Rechtssache „Spector Group“ (Slg. 2009, C-45/08, Rz. 79 f.) ein Indiz gesehen, dass es den Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht mehr gestattet ist, strengere Regelungen zu erlassen, wenn die Richtlinie dies nicht explizit zulässt.

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ten Sachverhalten und – allgemeiner – zu Informationen mit Zukunftsbezug hat der Europäische Gerichtshof bisher nicht Stellung genommen. Das Urteil vom 3.5.200113 befasst sich mit der Frage, ob der nationale Gesetzgeber strengere Vorschriften als die – damals geltende – Insiderrichtlinie erlassen kann. Im zugrunde liegenden Fall hatte der wegen verbotenen Insiderhandels Angeklagte beanstandet, dass das Insiderhandelsverbot des belgischen Rechts schärfer als die Richtlinie sei. Art. 6 der Insiderrichtlinie regelte dazu, dass jeder Mitgliedstaat strengere Vorschriften als die Richtlinie erlassen kann, wenn diese Vorschriften allgemein für alle Gesellschaften gelten14. Wenn der Mitgliedsstaat dagegen bestimmte Gesellschaften – im entschiedenen Fall: Holdinggesellschaften – von der Anwendung der schärferen nationalen Vorschriften ausgenommen habe, dürfe er das schärfere nationale Recht insgesamt nicht anwenden. Das Urteil vom 22.11.200515 befasst sich mit Ausnahmen zum insiderrechtlichen Weitergabeverbot. Die Insiderrichtlinie16 gab den Mitgliedsstaaten – wie heute Art. 3 der Marktmissbrauchsrichtlinie – vor, jeder Person die Weitergabe von Insiderinformationen zu untersagen, „soweit dies nicht in einem normalen Rahmen in Ausübung ihrer Arbeit oder ihres Berufes oder in Erfüllung

__________ 13 EuGH, Slg. 2001, S. 3399, „Ter Beke“. Der folgende Sachverhalt lag zugrunde: Der Verwaltungsrat der Ter Beke BV hat am 19.12.1995 dem Erwerb eines Geschäftsbereichs von Unilever zugestimmt. Die beschuldigten Mitglieder des Verwaltungsrats erwarben zwischen dem 6. und dem 8.2.1996 Aktien der Gesellschaft. Etwa einen Monat später unterzeichneten Ter Beke und Unilever eine Absichtserklärung, in der sie vereinbarten, die Gespräche exklusiv fortzuführen. Die Absichtserklärung wurde umgehend veröffentlicht. Der Kurs der Aktien der Ter Beke NV legte vom 5. bis zum 18.3.1996 um 15,3 Prozent zu. Der Staatsanwalt sah in dem Aktienerwerb vom Februar 1996 verbotenen Insiderhandel. 14 Wie oben bereits ausgeführt, enthält die Marktmissbrauchsrichtlinie 2003/6/EG keine entsprechende Regelung. Generalanwältin Kokott sah darin in ihren Schlussanträgen v. 10.9.2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 79 f. ein Indiz dafür, dass es den Mitgliedstaaten nicht mehr grundsätzlich gestattet sein soll, strengere Regelungen zu erlassen, sondern nur in den Bereichen, in denen die Richtlinie dies explizit vorsieht. 15 EuGH, Slg. 2005, S. 9939 („Grøngaard und Bang“). Der folgende Sachverhalt lag zugrunde: Die RealDanmark war ein börsennotiertes Finanzinstitut. Am 23.8.2000 unterrichtete die Gesellschaft die Mitglieder ihres Verwaltungsrats über die geplante Aufnahme von Fusionsverhandlungen mit der Danske Bank. Ein von den Arbeitnehmern gewähltes Mitglied des Verwaltungsrats, Knud Grøngaard, unterrichtete unmittelbar nach der Sitzung des Verwaltungsrats den Vorsitzenden der dänischen Gewerkschaft der Arbeitnehmer des Finanzsektors, Allan Bang. Dieser zog wiederum zwei Stellvertreterinnen und einen Mitarbeiter im Sekretariat der Gewerkschaft ins Vertrauen. In der Folgezeit tauschten die Beschuldigten weitere Informationen zum geplanten Fusionsvorhaben aus und gaben ihn auch an den genannten Personenkreis weiter, darunter auch Informationen zum Zeitplan, zum voraussichtlichen Umtauschverhältnis und dem daraus zum erwartenden erheblichen Kursanstieg der Aktien der RealDanmark. Am 2.10.2000 wurde die Fusion zwischen der RealDanmark und der Danske Bank bekannt gegeben. Der Kurs der Aktien der RealDanmark stieg um 65 Prozent. Die dänischen Ermittlungsbehörden sahen in dem Sachverhalt eine verbotene Weitergabe von Insiderinformation. 16 Art. 3 der Insiderrichtlinie 89/592/EWG.

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ihrer Aufgaben geschieht.“ Der Europäische Gerichtshof erläuterte, dass die Ausnahme eng auszulegen sei. Jede zusätzliche Weitergabe von Informationen vergrößere die Gefahr, dass die Insiderinformation mit einem der Richtlinie 89/592 zuwiderlaufenden Ziel ausgenutzt werde17. Bei der Anwendung der Ausnahmevorschriften müsse das nationale Gericht im Einzelfall die Sensibilität der weitergegebenen Information berücksichtigen18. Im entschiedenen Fall sah der Europäische Gerichtshof ohne nähere Prüfung eine Insiderinformation in der Aufnahme von Fusionsgesprächen zwischen zwei börsennotierten Gesellschaften. Mit Urteil vom 10.5.200719 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Insiderhandelsverbote nicht verletzt sind, wenn mehrere Personen zur Kurspflege untereinander abgestimmte Aktienkäufe und -verkäufe vornehmen. Es fehle an dem für verbotenen Insiderhandel typischen Ausnutzen eines Informationsvorteils. Da alle Beteiligten über denselben Kenntnisstand verfügt hätten, sei niemand in der Lage gewesen, einen Informationsvorteil auszunutzen. Zur Frage, ob die Kurspflegemaßnahmen als verbotene Marktmanipulation zu beurteilen waren, ist der Gerichtshof nicht befragt worden. Das Urteil vom 23.12.200920 ist die einzige Entscheidung des Gerichtshofs zur Marktmissbrauchsrichtlinie. Die Richter hatten zu klären, wann ein Insiderpapier unter Verwendung von Insiderinformationen erworben oder veräußert wird. Der Gerichtshof stellt klar, dass dies nach rein objektiven Kriterien zu beurteilen sei. Wer über eine Insiderinformation verfüge und Insiderpapiere kaufe oder verkaufe, von dem sei zu vermuten, dass er eine ihm bekannte In-

__________ 17 EuGH, Slg. 2005, S. 9939 („Grøngaard und Bang“), Rz. 48. 18 EuGH, Slg. 2005, S. 9939 („Grøngaard und Bang“), Rz. 48. 19 EuGH, Slg. 2007, S. 3741 („Georgakis“). Der folgende Sachverhalt lag zugrunde: Charilos Georgakis war gemeinsam mit Familienangehörigen Mehrheitsaktionär einer börsennotierten griechischen Aktiengesellschaft, die ihrerseits mit Mehrheit an einer weiteren börsennotierten Aktiengesellschaft beteiligt war. Zur Kursstützung führte Charilos Georgakis im August 1996 verschiedene Erwerbs- und Rückerwerbsgeschäfte durch. An den Geschäften waren ausschließlich mit den Umständen im Einzelnen vertraute Personen beteiligt. Die zuständige griechische Behörde warf dem Beschuldigten vor, durch die Geschäfte ein künstliches Kursniveau und ein irreführendes Bild über die tatsächlichen Börsenumsätze geschaffen zu haben. Der Beschuldigte habe bei Erwerb und Veräußerung der Aktien zudem über Insiderinformation, nämlich die zur Kurspflege vereinbarten Aktiengeschäfte, verfügt und diese ausgenutzt. 20 EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“). Sachverhalt: Die Spector Group NV ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft belgischen Rechts. Sie legte 2003 ein Belegschaftsaktienprogramm auf. Dafür wollte sie in erster Linie die in ihrem Besitz befindlichen eigenen Aktien verwenden und bei Mehrbedarf weitere Aktien im Markt zukaufen. Zwischen Mai und August 2003 erwarb die Gesellschaft in Übereinstimmung mit den damals geltenden Rechtsvorschriften in Belgien rund 47000 Aktien zur Bedienung des Aktienbeteiligungsprogramms. Kurz nach Abwicklung des letzten Geschäfts veröffentlichte die Gesellschaft Geschäftszahlen, die zu einer Erhöhung des Kurses geführt haben sollen. Am 31.12.2003 belief sich der Aktienkurs auf 12,50 Euro. Die CBFA stufte die letzten Erwerbsgeschäfte als verbotene Insidergeschäfte ein und verhängte ein Bußgeld gegen die Gesellschaft und den für die Erwerbsgeschäfte verantwortlichen Mitarbeiter.

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siderinformation auch nutze. Über den entschiedenen Fall hinaus hat das Urteil Bedeutung, weil der Gerichtshof in der Entscheidung eingehend den Schutzzweck der Missbrauchsrichtlinie beleuchtet. Aus dem zwölften Erwägungsgrund der Missbrauchsrichtlinie folge, dass das europäische Insiderrecht die Integrität der Finanzmärkte sichern und das Vertrauen der Anleger in die Märkte stärken will21. Die Gefahr für die Integrität der Finanzmärkte ergebe sich daraus, dass der Inhaber einer Insiderinformation über einen Vorteil gegenüber Marktteilnehmern verfüge, denen diese Information nicht bekannt sei22. Dieser Vorteil biete ihm die Möglichkeit, einen Vermögensvorteil zu realisieren, ohne sich den gleichen Risiken wie andere Marktteilnehmer auszusetzen. Der Gerichtshof ergänzt die Erläuterungen zum Schutzzweck der Missbrauchsrichtlinie um den durchaus wichtigen Hinweis, das insiderrechtliche Handelsverbot dürfe nicht über das hinaus ausgeweitet werden, was zur Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke angemessen und erforderlich ist23.

III. Stand der Diskussion in Deutschland 1. Behandlung von gestreckten Sachverhalten a) Der Diskussionsstand im (deutschen) Schrifttum bietet kein einheitliches Bild zur Behandlung von gestreckten Sachverhalten. Die wohl überwiegende Auffassung24 will in jedem Verfahrensstadium untersuchen, ob die bereits eingetretenen Umstände oder Ereignisse hinreichende Kursrelevanz haben. Wenn das der Fall sei, erübrige sich jedes Urteil über die Eintrittswahrscheinlichkeit der noch nicht eingetretenen Teilschritte des Sachverhalts25. Zur Begründung weist vor allem Pawlik26 auf Art. 3 der Durchführungsrichtlinie hin. Die Vorschrift gehe von der Vorstellung aus, dass Teilschritte in einem laufenden Verhandlungs- oder Entscheidungsprozess ohne Rücksicht auf den Ausgang der Verhandlungen oder des Entscheidungsprozesses die Qualität einer Insiderinformation erlangen könnten.

__________ 21 22 23 24

EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 37. EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 52. EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 55. Vgl. Mennicke/Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 69 ff.; 74 ff.; Pawlik in KölnKomm.WpHG, 2007, § 13 WpHG Rz. 15 f.; Geibel/Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, Kommentar, Stand: 6/2007, § 15 WpHG Rz. 66 ff.; Grunewald/Schlitt, Einführung in das Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2009, S. 251; Fischer zu Cramburg/Royé in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 13 WpHG Rz. 2; Rothenhöfer in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2011, Rz. 3.485 ff.; Harbarth, ZIP 2005, 1898, 1901; Mennicke, NZG 2009, 1059, 1060; Möllers, WM 2005, 1393, 1394; Simon, Der Konzern 2005, 13, 15 f.; Kocher/Widder, NZI 2010, 925, 926. 25 So deutlich Mennicke/Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 69 ff. 26 Vgl. Pawlik in KölnKomm. WpHG, 2007, § 13 WpHG Rz. 15; auch Simon, Der Konzern 2005, 13, 16.

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Die Gegenansicht27 sieht einen gestreckten Sachverhalt als einheitlichen Vorgang an, der nicht in seine Teilschritte zerlegt werden könne. Eine Insiderinformation sei nach der ausdrücklichen Regelung in § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG erst gegeben, wenn mit hinreichender Sicherheit feststehe, dass das den Sachverhalt prägende Ereignis auch tatsächlich eintritt. Dem entspreche, dass die Anleger die bereits eingetretenen Teilschritte nicht isoliert, sondern stets anhand ihrer Erwartung über die zukünftige Entwicklung beurteilen würden28. Schwark/Kruse führen ergänzend aus, dass § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG als Spezialvorschrift für Sachverhalte mit Zukunftsbezug anzusehen sei29. Während im Regelfall allein die in § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG geregelten Voraussetzungen für das Vorliegen einer Insiderinformation maßgebend seien, verlange § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG für Sachverhalte mit Zukunftsbezug stets die zusätzliche Feststellung, dass der Sachverhalt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintrete. Eine dritte Auffassung30 hält bei gestreckten Sachverhalten zwar nicht für entbehrlich zu prüfen, ob der Abschluss der Entwicklung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststeht. Eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit sei aber immer gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Da unter derselben Voraussetzung die Information auch als kursrelevant anzusehen ist, geht das Merkmal der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit in der Kursrelevanzprüfung auf. Die Vertreter dieser Auffassung müssen daher stets zu denselben Ergebnissen wie die erstgenannte Ansicht gelangen. b) Die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht hat sich der erstgenannten Auffassung angeschlossen. Im Emittentenleitfaden31 führt sie – allerdings nicht bei der Erläuterung der ad-hoc-Veröffentlichungspflichten, sondern zu den Insiderhandelsverboten – aus, dass bei mehrstufigen Entscheidungspro-

__________ 27 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 29 und § 15 WpHG Rz. 60; ders., ZHR 172 (2008), 635, 643; Schwark/ Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 10a; Sethe in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 12 Rz. 37; Frowein in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 10 Rz. 15 f.; Oulds in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2011, Rz. 14.244 f.; Gunßer, Ad-hoc-Publizität bei Unternehmenskäufen und -übernahmen, 2008, S. 54; ders., NZG 2008, 855, 857; Leuering, DStR 2008, 1287, 1288; Tollkühn, ZIP 2004, 2215, 2216; wohl auch Fleischer, NZG 2007, 401, 405 und Bachmann, ZHR 172 (2008), 597, 605 f. 28 Vgl. Gunßer, Ad-hoc-Publizität bei Unternehmenskäufen und -übernahmen, 2008, S. 54 (allerdings zum Merkmal der Kursrelevanz). 29 Vgl. Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 19a. 30 Vgl. nur Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 84; Cahn, Das neue Insiderrecht, Der Konzern 2005, 5, 6; Frowein in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 10 Rz. 15 f.; Bachmann, ZHR 172 (2008), 597, 605 f. 31 Vgl. Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 2009, S. 31.

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zessen die Frage, ob es sich um eine konkrete Information handelt, für jede (Zwischen-)Stufe gesondert zu prüfen sei. Ob die Entwicklung zu einem bestimmten Abschluss gelange, will sie nur bei Prüfung der Kursrelevanz berücksichtigen. Auch das Oberlandesgericht Frankfurt32 hat in dem Bußgeldverfahren gegen die Daimler AG, das die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht parallel zu den Anlegerschutzklagen eingeleitet hat, angenommen, dass sich die Veröffentlichungspflicht nach § 15 Abs. 1 WpHG anders als vor Inkrafttreten des Anlegerschutzgesetzes nicht nur auf das Ergebnis abgeschlossener Entscheidungsprozesse, sondern bereits auf konkrete interne Informationen erstrecke, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten werden. Damit könnten auch konkrete Umstände im Vorfeld einer Entscheidung erfasst werden, wenn sie im Falle ihres Bekanntwerdens geeignet seien, den Börsen- oder Marktpreis erheblich zu beeinflussen. Bei einem Vorstandswechsel beginne die Publizitätspflicht nicht erst mit der endgültigen Aufsichtsratsentscheidung, sondern bereits dann, wenn der Bereich der internen Willensbildung (z. B. der Wunsch, das Amt niederzulegen) sich zu einer konkreten Tatsache verdichtet hat und das Ergebnis dieses Willensbildungsprozesses gegenüber einem Entscheidungsträger des Unternehmens als konkrete Tatsache objektiv nach außen zu Tage tritt (z. B. Mitteilung gegenüber einem Aufsichtsratsmitglied, das Amt niederlegen zu wollen). c) Die Akzente der Diskussion verschieben sich, wenn man den Meinungsstand zu Fallbeispielen für Informationen mit Zukunftsbezug mit in das Blickfeld nimmt. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht33 und – ihr folgend – die herrschende Meinung34 stufen etwa Prognosen nur dann als präzise Information ein, wenn der Eintritt des prognostizierten Ereignisses hinreichend wahrscheinlich ist. Prognosen haben alle Merkmale eines gestreckten Sachverhalts. Sie sind das Ergebnis eines gegenwärtigen Planungsprozesses oder einer gegenwärtigen Einschätzung, beziehen sich aber auf einen zukünftigen Zeitraum. Ähnliches gilt für die Beurteilung von Vorhaben, Absichten, Strategien und Konzepten35. Sie werden gegenwärtig geäußert und sind dann der Wahrnehmung durch Dritte zugänglich36. Die Umsetzung der Absicht oder

__________ 32 OLG Frankfurt am Main, NZG 2009, 391. 33 Vgl. Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 2009, S. 60. 34 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 22; Geibel/Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, Kommentar, Stand: 6/2007, § 15 WpHG Rz. 53, 55; Reichert/Ott in FS Hopt, 2010, S. 2385, 2391 f.; Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 17 a. E.; Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 88; Sethe in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 12 Rz. 37. 35 Zur „Zwitternatur“ von Prognosen auch Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 17. 36 Erst dann sind sie Information (vgl. nur OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 12.2.2009 – 2 Ss-OWI 514/08, NZG 2009, 391 f.).

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des Vorhabens findet aber erst in Zukunft statt. Die herrschende Meinung37 nimmt gleichwohl an, dass Pläne, Vorhaben und Absichten nach § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG nur dann konkrete Information sind, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass sie in Zukunft umgesetzt werden. Ein typisches Beispiel für gestreckte Sachverhalte sind Verwaltungsund Gerichtsverfahren. Oft hat bereits die Einleitung des Verfahrens Kursrelevanz. Wann eine Insiderinformation und damit eine Veröffentlichungspflicht nach § 15 Abs. 1 WpHG entsteht, beurteilt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gleichwohl danach, ab wann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem erheblich preisbeeinflussenden Ausgang des Verfahrens ausgegangen werden muss38. Selbst in der insiderrechtlichen Diskussion zu Fusionen und Übernahmen sind deutliche Spuren des Wahrscheinlichkeitstests nach § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG zu erkennen. Zwar geht die überwiegende Auffassung39 davon aus, dass eine Insiderinformation in einem frühen Stadium und jedenfalls vor den abschließenden Entscheidungen über die Fusion oder die Abgabe eines Übernahmeangebots vorliegen kann. Für die Frage, ob eine Vorbereitungshandlung oder ein Zwischenschritt eine Insiderinformation ist, wird aber stets geprüft, ob es hinreichend wahrscheinlich ist, dass ein Angebot abgegeben wird40 oder dass die Durchführung der Transaktion hinreichend wahrscheinlich ist41. Der Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht stellt ausdrücklich klar, dass das Entstehen einer Insiderinformation bei Fusionen und Übernahmen nicht ohne Rücksicht darauf getroffen werden könne, ob die Fusion oder das Übernahmeangebot später tatsächlich zustande kommt42. Die interne Entscheidung des Bieters, Gespräche

__________ 37 Vgl. nur Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 17; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 21; Mennicke/Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 61; Tollkühn, ZIP 2004, 2215, 2216; anderer Ansicht dagegen: Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, Kommentar, Stand: 6/2007, § 13 WpHG Rz. 18; wohl auch Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 93; Ziemons, NZG 2004, 537, 541; Koch, DB 2005, 267, 271. 38 BaFin, Emittentenleitfaden, 2009, S. 62. 39 Vgl. Klawitter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 32 Rz. 86; Pawlik in KölnKomm. WpHG, 2007, § 13 WpHG Rz. 16; Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 104 f., 196; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpGH, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 15 WpHG Rz. 60; Brandi/Süßmann, AG 2004, 642, 649; Lebherz, WM 2010, 155, 157; Mennicke, NZG 2009, 1059, 1060; dies./Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 74. 40 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 15 WpHG Rz. 75; Brandi/Süßmann, AG 2004, 642, 655; Geibel/Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, Kommentar, Stand: 6/2007, § 15 WpHG Rz. 96; Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 43; Lebherz, WM 2010, 155, 157 f. 41 Vgl. Gunßer, Ad-hoc-Publizität bei Unternehmenskäufen und -übernahmen, 2008, S. 110; Meyer/Kiesewetter, WM 2009, 340, 341; für Übernahmeangebote auch Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 197 (wohl anders Rz. 204 bezüglich „sonstiger M&A-Transaktionen“). 42 BaFin, Emittentenleitfaden, 2009, S. 63.

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mit der Zielgesellschaft aufzunehmen, sei grundsätzlich noch nicht als Insiderinformation anzusehen. Erst wenn aus Sicht eines verständigen Anlegers eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen der Transaktion (einschließlich der Aussicht auf eine etwa zu erwartende Gegenleistung) bestehe, werde die Kenntnis über den Sachverhalt zur Insiderinformation. Erforderlich sei, dass sich ein „ernsthafter Einigungswille der Verhandlungspartner manifestiere“. 2. Hinreichende Wahrscheinlichkeit Uneinheitlich beantwortet das Schrifttum auch die Frage, wann eine hinreichende Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass ein zukünftiges Ereignis oder ein zukünftiger Umstand eintritt. Eine Meinung bestimmt die hinreichende Wahrscheinlichkeit allein nach dem Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit43. Ausgehend von einer Prognose über die tatsächliche Eintrittswahrscheinlichkeit44 wird teilweise45 eine überwiegende, also über 50 Prozent liegende Wahrscheinlichkeit, nach anderer Ansicht eine hohe Wahrscheinlichkeit46 für erforderlich gehalten. Diesem Ansatz ist auch der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 25.2.200847 gefolgt, hat allerdings offen gelassen, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit zu verlangen oder eine „überwiegende“ Wahrscheinlichkeit ausreichend ist. Jedenfalls eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 50 Prozent sei nicht mehr ausreichend. Eine andere Meinung48 will neben der tatsächlichen Eintrittswahrscheinlichkeit zusätzlich die Auswirkungen des zukünftigen Ereignisses oder des zukünftigen Umstands auf den Emittenten berücksichtigen. Je größer die Auswirkungen auf den Emittenten, desto geringer müsse die Eintrittswahrscheinlichkeit sein. Im Einzelfall könne daher auch

__________

43 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 24; Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 11a Fn. 42 und Rz. 56. 44 Vgl. nur Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 11a. 45 Vgl. Mennicke/Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 61 und 66 f.; Pawlik in KölnKomm. WpHG, 2007, § 13 WpHG Rz. 93; wohl auch Bachmann, Kapitalmarktrechtliche Probleme bei der Zusammenführung von Unternehmen, ZHR 172 (2008), 597, 606. 46 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rn. 25 („deutlich mehr als bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit“); ders., ZHR 172 (2008), 635, 664; Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 12; Gunßer, Ad-hoc-Publizität bei Unternehmenskäufen und -übernahmen, 2008, S. 74; ders., NZG 2008, 855, 858; Parmentier, NZG 2007, 407, 411 („eine hohe Wahrscheinlichkeit, die darüber hinausgeht, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit diejenige des Ausbleibens lediglich übersteigt; …“); wohl auch Lebherz, WM 2010, 154, 157 f. 47 Vgl. BGH, Beschluss v. 25.2.2008 – II ZB 9/07, Rz. 25; missverständlich ist der Leitsatz der Entscheidung formuliert. 48 Vgl. Harbarth, ZIP 2005, 1898, 1901 (unter Hinweis auf den „probability/magnitude“-Test des U.S.-amerikanischen Kapitalmarktrechts); auch Fleischer, NZG 2007, 401, 405; Bachmann, ZHR 172 (2008), 597, 605 f.; wohl auch Frowein in Habersack/ Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 10 Rz. 17; ablehnend Gunßer, NZG 2008, 855, 857.

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eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 50 % ausreichen, wenn nur eine besondere Auswirkung des künftigen Umstands oder Ereignisses auf den Emittenten anzunehmen sei.

IV. Eigene Ansicht Mit dem Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs erhält der Europäische Gerichtshof erstmals Gelegenheit, zum Begriff der Insiderinformation, genauer zum Merkmal der präzisen Information, Stellung zu nehmen. Nach Art. 1 Nr. 1 der Missbrauchsrichtlinie ist eine Insiderinformation jede nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von Finanzinstrumenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen. Das Europäische Parlament und der Rat haben die Definition der Insiderinformation und damit das Erfordernis der präzisen Information unverändert aus der Insiderrichtlinie vom 13.11.1989 übernommen. Die Europäische Kommission hat mit der Durchführungsrichtlinie 2003/124/EG ergänzend bestimmt, dass eine Information nach Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie als präzise anzusehen sei, „wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird, und diese Information darüber hinaus spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten oder damit verbundenen derivativen Finanzinstrumenten zulässt.“

Das Verständnis von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie ist maßgebend für die Beurteilung von gestreckten Sachverhalten. Zur Aufklärung des Richtlinienverständnisses sind die allgemeinen Methoden der Richtlinienauslegung heranzuziehen49. 1. Wortlautauslegung Die Bezugnahme von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie auf „eine Reihe von Umständen“ kann als ein Indiz gedeutet werden, dass der europäische Gesetzgeber nicht nur Einzelumstände oder -ereignisse, sondern auch einen sachlich und zeitlich zusammengehörigen Sachverhalt einem Urteil über die Eintrittswahrscheinlichkeit unterstellen will. Ob das aber auch gilt, wenn einzelne Ereignisse oder Umstände eines einheitlichen Sachverhalts bereits eingetreten sind, lässt die Richtlinienformulierung offen. Umgekehrt liefert der Wortlaut auch keinen Anhaltspunkt, dass bereits eingetretene Teile eines gestreckten Sachverhalts stets gesondert zu bewerten sind. Auch der Wortsinn

__________ 49 Grundlegend zur Auslegung von Richtlinien nur Riesenhuber in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 11 Rz. 4 ff.

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des von der Missbrauchsrichtlinie vorgegebenen Begriffs der präzisen Information trägt nicht zur Aufklärung bei. Das Wort „präzise“ bezeichnet etwas Bestimmtes, Genaues oder fest Umrissenes. Wann eine Information mit Zukunftsbezug dem genügt, lässt sich aus dem Wortsinn nicht entnehmen. Mehr Aufschluss bietet die Wortlautauslegung für die Frage, wann der Eintritt eines zukünftigen Ereignisses oder Umstands hinreichend wahrscheinlich ist. Zur Wortlautauslegung gehört der Vergleich der verschiedenen Richtlinienfassungen50. Er zeigt, dass der Ausdruck der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit eine Besonderheit der deutschen Richtlinienfassung ist. Der englische Text spricht von einem „set of circumstances which […] may reasonably be expected to come into existence“, die französische Fassung von einem „ensemble de circonstances [qui …] dont on peut raisonnablement penser qu’il existera“, die italiensische Fassung von einem „complesso di circostanze di cui si possa ragionevolmente ritenere che verrà ad esistere“. Übereinstimmend sehen die Textfassungen eine Information mit Zukunftsbezug als präzise erst an, wenn vernünftigerweise anzunehmen oder zu erwarten ist, dass der künftige Umstand oder das künftige Ereignis tatsächlich eintritt. Die Richtlinie setzt damit eine vergleichsweise hohe Eintrittswahrscheinlichkeit voraus. Die vom Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegte Frage, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit auch gegeben sein kann, wenn der „Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses offen, aber nicht unwahrscheinlich ist“51, ist nach dem Wortlaut der englischen, französischen und italienischen Fassung klar zu verneinen. 2. Historische Auslegung Die Missbrauchs- und die Durchführungsrichtlinie gehören zu den ersten kapitalmarktrechtlichen Richtlinie, die im Komitologieverfahren52 entstanden sind: Der Rat und das Europäische Parlament haben mit der Missbrauchsrichtlinie die wesentlichen Grundentscheidungen zum europäischen Insiderrecht getroffen, die Europäische Kommission hat diese mit der Durchführungsrichtlinie ergänzt. Die Europäische Kommission hat vor Erlass der Durchführungsrichtlinie das Committee of European Securities Regulators (CESR)53 um Stellungnahme gebeten54. Das CESR hat seine Stellungnahme im Dezember 2002 vorgelegt und erläutert, dass es gestreckte Sachverhalte nicht als eine rechtliche Einheit versteht, sondern für möglich hält, dass bereits einzelne Teilschritte als Insiderinformation zu qualifizieren seien: „If the information derives from a stage process, every fact to do with the process, as well as the

__________

50 Vgl. Riesenhuber (Fn. 50), § 11 Rz. 15 f. 51 Vgl. die zweite Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs in dem Vorlagebeschluss v. 22.11.2010. 52 Näher Kalss in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 20 Rz. 5. 53 Ab 1.1.2011: European Securities and Markets Authority (ESMA). 54 Vgl. allgemein zur Beratungsaufgabe des CESR Art. 2 des Beschlusses der Europäischen Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Ausschusses der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (2001/527/EG).

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totality of the process itself, is precise information and therefore could be inside information, unless it consists only of rumours; …“55. Der Hinweis des CESR stützt die in Deutschland überwiegende Ansicht und die Position der Bundesanstalt. Er ist allerdings nur als „additional guidance“ zur Empfehlung gegeben worden, den Begriff der präzisen Information in der Durchführungsrichtlinie näher zu bestimmen. Er hat keinen Niederschlag im Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie gefunden. Mit der Definition in Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie hat die Kommission allein bestimmt, dass das europäische Insiderrecht bei Umständen und Ereignissen mit Zukunftsbezug nicht halt macht. Zukunftsgerichtete Vorstellungen, Pläne und Absichten sind in das Insiderrecht einzubeziehen. Zugleich hat die Kommission klar gestellt, dass Sachverhalte mit Zukunftsbezug einer besonderen rechtlichen Beurteilung bedürfen: Um als präzise Information zu gelten, bedarf es eines Urteils über die Eintrittswahrscheinlichkeit. Die „additional guidance“ der CESR beruht zudem auf einer Anschauungslücke, die ihren Auslegungswert schmälert: Denn jedes zukünftige Ereignis und jeder zukünftige Umstand hat einen Gegenwartsbezug. Nur aus gegenwärtigen Ereignissen oder Umständen kann die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Umstände und Ereignisse abgeleitet werden. Die Verknüpfung zukünftiger Ereignisse und Umstände mit gegenwärtigen Sachverhaltselementen ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel56. Wollte man daraus stets den Schluss ziehen, dass sich ein Urteil über die Eintrittswahrscheinlichkeit erübrigt, würde Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie für Sachverhalte mit Zukunftsbezug ins Leere gehen. Bei richtigem Verständnis geht die Richtlinie aber davon aus, dass es zukunftsbezogene Sachverhalte gibt, bei denen der Gegenwartsbezug zurücktritt. Ein Beispiel dafür sind, wie oben bereits ausgeführt, Prognosen: Die Entscheidung über die Prognose ist ein gegenwärtiger Umstand, der sich aber auf einen künftigen Sachverhalt bezieht. Auch der Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht57 nimmt – völlig zu Recht – an, dass Prognosen nur dann Insiderinformation sind, wenn der Eintritt des prognostizierten Ereignisses hinreichend wahrscheinlich ist. Durch Auslegung der Richtlinie ist zu ermitteln, in welchen Fällen der Gegenwartsbezug Vorrang genießt und wann im Hinblick auf den Zukunftsbezug zusätzlich die Eintrittswahrscheinlichkeit zu ermitteln ist. 3. Systematische Auslegung Für die systematische Auslegung interessiert zunächst Art. 358 der Durchführungsrichtlinie, der die Bestimmungen des Art. 6 Abs. 2 der Missbrauchsrichtlinie zur Selbstbefreiung des Emittenten von der Ad-hoc-Veröffent-

__________ 55 Vgl. CESR’s Advice on Level 2 Implementing Measures for the proposed Market Abuse Directive, CESR/02-089d, Rz. 20. 56 Vgl. Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 83. 57 Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 2009, S. 60. 58 Art. 3 der Durchführungsrichtlinie ist mit § 6 WPAIV ist in deutsches Recht umgesetzt worden.

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lichungspflicht ergänzt. Ein berechtigtes Interesse zur Selbstbefreiung ist nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 3 der Durchführungsrichtlinie gegeben: (1) bei laufenden Verhandlungen, wenn die Veröffentlichung das Ergebnis oder den normalen Ablauf der Verhandlungen wahrscheinlich beeinträchtigen würde; und (2) bei Entscheidungen des Geschäftsführungsorgans oder von diesem abgeschlossenen Verträgen, die der Zustimmung eines anderen Organs bedürfen, vorausgesetzt, dass die vorzeitige Veröffentlichung die korrekte Bewertung der Informationen durch das Publikum gefährden würde. Der Sonderregelung des Art. 3 liegt offensichtlich das Verständnis zugrunde, dass eine Insiderinformation bei laufenden Verhandlungen und mehrstufigen Entscheidungsprozessen bereits vor Abschluss der Verhandlungen oder des Entscheidungsprozesses gegeben sein kann. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass bei gestreckten Sachverhalten generell ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den zukünftigen Eintritt des den Sachverhalt prägenden Umstands oder Ereignisses entfällt59, würde zu weit gehen. Aus Art. 3 ergibt sich gerade nicht, wann und in welchen Fällen laufende Verhandlungen oder mehrstufige Entscheidungsprozesse in ein Stadium eintreten, in dem sie als präzise Information gelten. Maßgebend dafür ist allein Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie: Bei zukunftsbezogenen Sachverhalten ist erforderlich, dass eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit festgestellt wird. Erst wenn das der Fall ist, stellt sich überhaupt die Frage, ob von der Möglichkeit zur Selbstbefreiung Gebrauch gemacht werden kann und soll. Schwark/Kruse60 nehmen zum deutschen Recht an, dass § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine abschließende Regelung für die Beurteilung von gegenwärtigen Umständen und Ereignissen als Insiderinformation regele, während § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG die Spezialvorschrift für Informationen mit Zukunftsbezug seien. Sie folgern daraus, dass bei gestreckten Sachverhalten mit Zukunftsbezug in keinem Fall ein Zwischenschritt als Insiderinformation beurteilt werden könne, sondern immer ergänzend zu prüfen sei, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Eintritt auch der noch ausstehenden Sachverhaltselemente gegeben sei. Die Durchführungsrichtlinie 2003/124/EG bietet für dieses systematische Verständnis aber keine zuverlässige Grundlage. Die Richtlinie hat keine je eigene Bestimmung für die Behandlung von gegenwärtigen und zukünftigen Umständen oder Ereignissen. Wenn das WpHG die Behandlung von zukünftigen Umständen und Ereignissen sprachlich in einem eigenen Satz regelt, ist das eine technische Umsetzungsbesonderheit des deutschen Rechts. Für die Auslegung des europäischen Insiderrechts und die daraus folgende Auslegung des deutschen Rechts können aus der Regelung in einem gesonderten Satz keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Richtig an der Beobachtung von Schwark/Kruse ist aber, dass die Durchführungsrichtlinie bei Sachverhalten mit Zukunftsbezug Feststellungen zur Eintrittswahrscheinlichkeit verlangt, die – wie oben bereits gesehen – nur aus gegenwärtigen Umständen

__________ 59 Vgl. Gliederungsziffer III. 1. 60 Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 13 WpHG Rz. 10a.

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abgeleitet werden können. Bei Sachverhalten, die sowohl Gegenwarts- als auch Zukunftsbezug haben, kann der Zukunftsbezug entgegen der in Deutschland überwiegenden Auffassung nicht einfach ausgeblendet werden. Eine wichtige Erkenntnis aus der Richtliniensystematik betrifft das Verhältnis des Merkmals der präzisen Information zu dem der Kursrelevanz. Die Durchführungsrichtlinie definiert beide Begriffe gesondert. Was präzise Information61 ist, ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie. Wie die Kursrelevanz festzustellen ist, regelt die Richtlinie in Art. 1 Abs. 2. Beide Merkmale haben eigene Tatbestandsfunktion. Der im deutschen Schrifttum verbreitete Ansatz62, eine präzise Information und eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit anzunehmen, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde – das Merkmal der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit geht dann vollständig in der Kursrelevanzprüfung auf –, erkennt die eigene Tatbestandsfunktion des Merkmals der präzisen Information nicht an und ist daher abzulehnen. 4. Teleologische Auslegung Maßgebend für das Richtlinienverständnis ist die am Schutzzweck der Richtlinie orientierte Auslegung. Nach dem zwölften Erwägungsgrund der Missbrauchsrichtlinie ist Regelungszweck des europäischen Insiderrechts, die Integrität der Finanzmärkte zu sichern und das Vertrauen der Anleger in die Märkte zu stärken63. Wie oben ausgeführt, sieht der Europäische Gerichtshof die Gefahr für die Integrität der Finanzmärkte darin, dass der Inhaber einer Insiderinformation über einen Vorteil gegenüber Marktteilnehmern verfügt, denen diese Information nicht bekannt ist64. Dieser Vorteil biete dem Marktteilnehmer die Möglichkeit, einen Vermögensvorteil zu realisieren, ohne sich den gleichen Risiken wie andere Marktteilnehmer auszusetzen. Innerhalb der Richtliniendefinition setzt das Merkmal der präzisen Information dem Anwendungsbereich der Insidervorschriften allerdings eine Grenze. Die teleologische Auslegung hat den dahinter stehenden Regelungsgedanken einzubeziehen. Dieser kann nicht aus dem Regelungszweck des Handels- und Weitergabeverbots entwickelt werden. Denn einen relevanten Informationsvorteil gegenüber anderen Marktteilnehmern hat auch, wer über Informationen verfügt, die zwar nicht präzise, aber kursrelevant sind. Würde man allein den Regelungszweck des Handels- und Weitergabeverbots zugrunde legen, wäre kaum zu erklären, warum dieser Informationsvorsprung nicht zu einem Handels- und Weitergabeverbot führt. Das Merkmal der präzisen Information fügt sich indes ohne weiteres in das Regelungskonzept der Vorschriften zur Ad-hoc-Publizität ein: Eine frühzeitige Information über nicht abgeschlossene oder ungesicherte Sachverhalte durch den Emittenten könnte dazu führen,

__________ 61 62 63 64

Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie 2003/124/EG. Vgl. Gliederungsziffer III. 1. a). Vgl. EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 37. Vgl. EuGH, Slg. 2009, C-45/08 („Spector Group“), Rz. 52.

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dass die Vorstellungen der Anleger fehl geleitet werden und der Emittent zu späterer Korrektur gezwungen ist65. Die Integrität der Kapitalmärkte und das Vertrauen der Anleger würde nicht geschützt, sondern im Gegenteil beschädigt. Dasselbe gilt, wenn der Emittent Einzelschritte eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses fortlaufend veröffentlichen und die Anleger mit spekulativer Information vorsorgen müsste66. Dem Regelungsziel der Richtlinie würde mehr geschadet als genützt, wenn der Emittent die Anleger mit noch nicht gesicherter, spekulativer Information versorgen müsste. Mit dem Merkmal der präzisen Information räumt die Richtlinie dem Interesse an einem geordneten Informationsverhalten des Emittenten Vorrang vor einer frühzeitigen Offenlegung kursrelevanter Information ein. Das ist gemessen am Schutzzweck der Insidervorschriften folgerichtig. Denn die Anleger erwarten, um ihr Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte zu bewahren, keine Informationen über das hinaus, was dem geordneten Informationsverhalten des Emittenten entspricht67. Sieht man den Regelungsgedanken des Merkmals der präzisen Information in der Gewährleistung eines geordneten Informationsverhaltens des Emittenten, folgt daraus, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit von zukünftigen Ereignissen oder Umständen hinreichend ist, wenn die Unterrichtung der Anleger über das künftige Ereignis oder den künftigen Umstand bei verständiger Würdigung dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht. Anhand dieses Maßstabs kann zugleich entschieden werden, ob bei der insiderrechtlichen Beurteilung an bereits eingetretene Teilschritte eines Sachverhalts anzuknüpfen ist: Der bereits eingetreten Teilschritt ist ein genügender Anknüpfungspunkt nur, wenn die Veröffentlichung des Teilschritts dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht, und umgekehrt. Der hier vertretenen Ansicht könnte entgegen gehalten werden, dass es nicht Aufgabe des Merkmals der präzisen Information, sondern der Selbstbefreiungsvorschriften sei, den Emittenten davor zu schützen, durch vorzeitige Information die Vorstellungen des Anlegerpublikums fehl zu leiten und zu einer späteren Korrektur gezwungen zu werden. Wenn die Gesellschaft durch die vorzeitige Information der Anleger Schaden nehmen könne, liege in der Regel ein berechtigtes Interesse vor, die an sich gebotene Veröffentlichung hinauszuschieben. Die Befreiungsmöglichkeit lasse aber das Handels- oder Weitergabeverbot unberührt. Dieser Einwand ist indes nicht stichhaltig. Die Selbstbefreiungsvorschriften verfolgen ein durchaus ähnliches Ziel wie das Merkmal der präzisen Information. Sie dienen dazu, das Insiderrecht in die Kapitalmarktund Emittentenpraxis einzufügen. Die Durchführungsrichtlinie hat dem Merkmal der präzisen Information aber eine eigene Definition und einen eigenen

__________ 65 Ebenso Gunßer, NZG 2008, 855, 857, zum Merkmal der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“. 66 So auch Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 25; Gunßer, NZG 2008, 855, 858. 67 Ähnlich Gunßer, NZG 2008, 855, 858.

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Regelungsgedanken gegeben, der vorrangig gegenüber den Selbstbefreiungsvorschriften ist und übereinstimmend für das Handelsverbot und die Regeln zur Ad-hoc-Publizität gilt. Man mag es de lege ferenda für wünschenswert halten, wenn das Handels- und Weitergabeverbot generell zeitlich vor der Ad-hocPublizitätspflicht entsteht68. Die Missbrauchsrichtlinie hat sich aber für ein anderes Konzept entschieden. 5. Konkretisierung des Beurteilungsmaßstabs Was dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht, ist im Einzelfall zu entscheiden. Der Beurteilungsmaßstab kann gleichwohl durch einige generalisierende Aussagen konkretisiert werden: a) Liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit unter 50 Prozent, ist sie nicht hinreichend. Ein ordentlicher und gewissenhafter Emittent würde in diesem Fall immer zu dem Ergebnis kommen, dass das Risiko einer Marktirritation durch ungesicherte Information überwiegt. Die teleologische Auslegung bestätigt damit den Befund der Wortlautauslegung. Die Offenlegung entspricht dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten nur, wenn die weitere Entwicklung des Sachverhaltes ungeachtet verbleibender Eventualität absehbar ist. b) Zu den im Einzelfall zu berücksichtigenden Umständen können auch die Kursauswirkungen der Information gehören. Wie oben ausgeführt69, hat der Europäische Gerichtshof unter Geltung der Insiderrichtlinie angenommen, dass die in der Richtlinie zugelassenen Ausnahmen zum Weitergabeverbot unter Berücksichtigung der Kurssensibilität der zugrunde liegenden Information auszulegen sind. Für das Merkmal der präzisen Information ist das ebenso anzunehmen. Ein ordentlicher und gewissenhafter Emittent würde die besondere Kurssensibilität bei der Planung seines Informationsverhaltens berücksichtigen70. Vorauszusetzen ist aber, dass die Kursauswirkungen ex ante mit hinreichender Sicherheit feststehen, ferner dass sie deutlich über das Gewicht von anderen Insiderinformationen hinausgehen, also eine hervorgehobene Kursbedeutung haben. Ein Beispiel bietet (vorbehaltlich der Befreiungsmöglichkeit nach Art. 6 Abs. 2 der Missbrauchsrichtlinie71) der Sachverhalt, der der Grøngaard und Bang-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde lag: Bereits erhebliche Zeit vor der Einigung auf das Fusionsvorhaben stand fest, in welchem Rahmen sich das Umtauschverhält-

__________ 68 Vgl. zur Diskussion der Anknüpfung des Handelsverbots und der Publizitätsvorschriften an einen einheitlichen Begriff der Insiderinformation nur die Hinweise des CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – third set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, May 2009, CESR/09219, Rz. 60: „Most of the comments CESR received were related to the so called ‚two-fold notion‘ of inside information.“ 69 EuGH, Slg. 2005, S. 9939 („Grøngaard und Bang“), Rz. 56. 70 Anders Gunßer, NZG 2008, 855, 858. 71 Durch § 15 Abs. 3 WpHG in deutsches Recht umgesetzt.

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nis bewegen würde. Die Beteiligten erwarteten schon früh einen Kursanstieg bei Ankündigung der Transaktion zwischen 60 und 70 Prozent. Tatsächlich legte der Kurs nach Ankündigung um 65 Prozent zu. c) Das Merkmal der präzisen Information eröffnet die Möglichkeit, das Insiderrecht passgenau in die Kapitalmarkt- und Emittentenpraxis einzufügen. Die in der Praxis entwickelten und anerkannten Standards können herangezogen werden, um festzustellen, wann die Offenlegung der Information dem geordneten Informationsverhalten des Emittenten entspricht. Stehen anerkannten Standards nicht zur Verfügung, ist eine gewissen Bandbreite zu akzeptieren, innerhalb derer die Offenlegung noch dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht. d) Im DaimlerChrysler-Fall ist dem Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22.4.2009 und dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 25.2.2008 zuzustimmen. Dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten hätte nicht entsprochen, die Anleger bereits in einem frühen Stadium über mögliche Entwicklungen zu einem in Aussicht genommenen Führungswechsel zu unterrichten. Eine präzise Information zum Führungswechsel lag erst im unmittelbaren Vorfeld der Entscheidung des Aufsichtsrats vor. Auch die späteren Kursauswirkungen zwingen nicht zur Annahme, dass die Gesellschaft die Anleger in einem früheren Stadium unterrichten musste. Aus dem vom Oberlandesgericht festgestellten Sachverhalt ergibt sich nicht, dass die Kursauswirkungen ex ante mit hinreichender Sicherheit feststanden. Es erscheint zudem eher zweifelhaft, ob die Kursauswirkungen deutlich über das Gewicht von andern Insiderinformationen hinaus gingen, die Information also eine hervorgehobene Kursbedeutung hatten. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 25.2.2008 zugrunde gelegt, dass der Kurs der DaimlerChrysler-Aktien nach der Mitteilung der Quartalszahlen am Morgen des 28.7.2005 auf 38,70 Euro, nach Meldung über das Ausscheiden von Professor Schrempp auf 40,40 Euro und in der vom Bundesgerichthof nicht näher konkretisierten „Folgezeit“72 auf 42,95 Euro gestiegen. Der Kursanstieg von 38,70 Euro auf 40,40 Euro entspricht einem Kursgewinn von 4,39 Prozent, der Kursanstieg auf 42,95 Euro entspricht einem Kursgewinn von 10,98 Prozent.

V. Sonderfall: Gerüchte und andere Marktinformationen Gerüchte haben mit zukünftigen Umständen oder Ereignissen eine Gemeinsamkeit: Aus Sicht des Marktteilnehmers handelt es sich um eine ungewisse Information73. In dem einen Fall resultiert die Ungewissheit aus dem Zukunftsbezug, in dem anderen daraus, dass der Anleger den Wahrheitsgehalt der

__________

72 Der Schlusskurs im Xetra-Handel lag am 29.7.2005 bei 40,12 Euro und am nächsten Börsentag, dem 1.8.2005, bei 40,43 Euro und hat sich auch in den Folgetagen nur unwesentlich bewegt. 73 Vgl. Fleischer, AG 2007, 841 f.

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Information, auch wenn sie sich auf einen gegenwärtigen Umstand oder ein gegenwärtiges Ereignis bezieht, nicht sicher feststellen kann74. Zu welchen rechtlichen Schlussfolgerungen das Anlass gibt, soll nicht nur für Gerüchte, sondern – etwas allgemeiner – für jede im Markt kursierende Information behandelt werden. 1. Meinungsstand Im Schrifttum75 wird zum Teil angenommen, dass Marktgerüchte grundsätzlich nicht als präzise Information anzusehen seien. Sie seien gerade von präziser Information abzugrenzen. Die heute wohl herrschende Ansicht76 unterscheidet dagegen: Wenn das Gerücht einen „Tatsachenkern“ habe, sei es – die Kursrelevanz unterstellt – Insiderinformation. Fehle ein Tatsachenkern, sei das Gerücht keine Insiderinformation. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht hat sich dieser Ansicht im Grundsatz angeschlossen77. Wenn ein Gerücht ein Übernahmevorhaben inhaltlich präzise an die freien Aktionäre herantrage, sei das Gerücht konkrete Information. Sie hebt hervor, dass es auf den Wahrheitsgehalt des Gerüchts nicht ankomme78, was aber sogleich wieder eingeschränkt wird. Denn – so die Bundesanstalt – bei der Prüfung müsse im Einzelfall die „Quelle des Gerüchts“ und die dem Gerücht „zugrunde liegenden nachprüfbaren Fakten“, also im Ergebnis die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Information berücksichtigt werden.

__________ 74 Dazu überzeugend Fleischer, AG 2007, 841, 846. 75 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 17; Sethe in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 12 Rz. 39; Koch, DB 2005, 267, 268; Diekmann/Sustmann, NZG 2004, 929, 930; Möllers, WM 2005, 1393, 1394; Holzborn/Israel, WM 2004, 1948, 1951; unklar CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – third set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, May 2009, CESR/09-219, Rz. 65: „… in general, other than in exceptional circumstances or unless requested to comment by the competent regulator pursuant to Art 6(7) of MAD, issuers are under no obligation to respond to speculation or market rumours which are without substance.“ 76 Vgl. grundlegend VGH Kassel, AG 1998, 436 („objektiv zuverlässiger Elemente“); ferner Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. 2007, 2. Lfg., § 13 WpHG Rz. 16; Rothenhöfer in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2011, Rz. 3.482; Hopt in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 107 Rz. 24; Pawlik in KölnKomm. WpHG, 2007, § 13 WpHG Rz. 17; Mennicke/Jakovou in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 13 WpHG Rz. 51; Frowein in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 10 Rz. 11; Fischer zu Cramburg/Royé in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 13 WpHG Rz. 2; Cahn, Der Konzern 2005, 5, 7; ders., ZHR 162 (1998), 1, 14 f.; Merkner/Sustmann, NZG 2005, 729, 731; wohl auch Spindler, NJW 2004, 3449, 3450; kritisch Pfüller in Fuchs, WpHG, Kommentar, 2009, § 15 WpHG Rz. 83 und Claussen/Florian, AG 2005, 745, 749. 77 Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, 2009, S. 31. 78 So auch Rothenhöfer in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2011, Rz. 3.482; Hopt in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 107 Rz. 24.

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Eine Pflicht des Emittenten, zu Gerüchten Stellung zu nehmen, lehnt die herrschende Meinung ab. Nur wenn der Emittent durch sein eigenes Informationsverhalten oder ein Informationsleck in eigenen Unternehmen zur Entstehung des Gerüchts beigetragen habe, schulde er den Anlegern eine Klarstellung79. 2. Handels- oder Weitergabeverbot bei Gerüchten? Wie oben80 bereits erörtert, muss sich eine präzise Information auf einen konkret abgrenzbaren Sachverhalt beziehen. Daran fehlt es bei Gerüchten ohne Tatsachenkern, also etwa wenn sich der Emittent „nach Einschätzung des Marktes voraussichtlich besser als Wettbewerber gegen eine negative Branchenentwicklung durchsetzen kann“ oder wenn er „auf einem soliden Wachstumskurs“ gesehen wird. Bezieht sich die Marktinformation dagegen auf einen konkret abgrenzbaren Sachverhalt, liegt ihr also – wie die herrschende Meinung sagt – ein Tatsachenkern zugrunde, ist es möglich, aber entgegen der herrschenden Meinung nicht notwendig, dass das Gerücht konkrete Information ist. Dazu ein Beispiel: Ein Anleger erfährt von einem Dritten das unbestätigte Gerücht, der Vorstandsvorsitzende des Emittenten sei schwer erkrankt. Ihm ist nicht die Erkrankung des Vorstandsvorsitzenden bekannt, sondern nur das Gerücht darüber. Ganz anders ist die Information eines Anlegers, der von dem Vorstandsassistenten erfährt, dass der Vorstandsvorsitzende mit einem Herzinfarkt in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Letzterer verfügt über präzise Information. Die herrschende Meinung bewertet ein Marktgerücht mit Tatsachenkern gleichwohl unabhängig davon, ob der Anleger die Information verifizieren kann, als Insiderinformation. Dem ist nicht zu folgen. Wer nur über unbestätigte oder ungewisse Marktinformation verfügt, handelt nicht auf der Grundlage präziser Information, sondern aufgrund einer Spekulation über den Wahrheitsgehalt der ihm vorliegenden Informationen81. Er befindet sich in derselben Situation wie derjenige, der Information über zukünftige Ereignisse oder Umstände hat. Will man Wertungswidersprüche vermeiden, müssen beide Fallgruppen über den Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie hinaus gleich behandelt werden. Über Insiderinformation verfügt der Anleger daher nur, wenn die ihm zur Verfügung stehende Information objektiv eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bietet, dass die Marktinformation zutreffend ist. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass ein auf einen konkret abgrenzbaren Sachverhalt bezogenes Gerücht zutreffend ist, ist wie bei Informationen

__________ 79 Vgl. nur Geibel/Schäfer in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl., 2. Lfg., § 15 WpHG Rz. 57. 80 Gliederungsziffer IV. 1. 81 So auch das CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – second set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, Juli 2007, Ziffer 1.5: „CESR considers that in determining whether a set of circumstances exists or an event has occurred, a key issue is whether there is firm and objective evidence for this as opposed to rumours or speculation2 i.e. if it can be proved to have happened or to exist.“

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mit Zukunftsbezug gegeben, wenn die Offenlegung der Information bei verständiger Würdigung dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entsprechen würde. Die Berichterstattung über das Gerücht in den Medien und eine Bestätigung des Gerüchts aus unterschiedlichen Marktkreisen reicht dafür noch nicht aus82. Es müssen vielmehr weitere Anhaltspunkte hinzukommen, etwa – wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht völlig richtig annimmt83 – die Kenntnis, dass das Gerücht aus einer als zuverlässig einzustufenden Quelle im Unternehmen stammt oder auf durch den Anleger nachprüfbaren Fakten basiert. 3. Publizitätspflicht des Emittenten bei Gerüchten? Eine in der Unternehmenspraxis wichtige Frage ist, wie der Emittent mit im Markt kursierenden Informationen und Gerüchten umzugehen hat. Eine Kommentierungspflicht besteht sicher nicht, wenn der Emittent von einer Marktinformation Kenntnis erlangt, die sich nicht auf einen konkret abgrenzbaren Sachverhalt bezieht. Es ist dann auch nach der herrschenden Ansicht keine Insiderinformation gegeben. Der Emittent ist weder zur Veröffentlichung noch zur Kommentierung der Marktinformation verpflichtet. Wenn sich die Marktinformation dagegen auf einen konkret abgrenzbaren Sachverhalt bezieht, müsste die herrschende Meinung folgerichtig eine Veröffentlichungspflicht des Emittenten bejahen. Denn der Emittent verfügt dann ja über eine Insiderinformation. Dennoch geht die herrschende Meinung diesen Schritt gerade nicht. Das ist nach der hier vertretenen Ansicht ohne weiteres zutreffend, wenn der Emittent den Wahrheitsgehalt des Gerüchts selbst nicht mit der hinreichenden Sicherheit feststellen kann. Er verfügt dann – wie oben dargelegt – gerade noch nicht über Insiderinformation. Ein Beispiel: Im Markt kursiert die Information, dass das Unternehmen A ein Übernahmeangebot an die Aktionäre des Emittenten zu einem mehr als 30 Prozent über dem Börsenkurs liegenden Preis plane. Die Planungen seien weit fortgeschritten. Der Emittent hat davon keine Kenntnis und kann den Wahrheitsgehalt nicht beurteilen. Es wäre wenig überzeugend anzunehmen, dass der Emittent eine Pflicht haben könnte, das Gerücht zu veröffentlichen oder zu dem Gerücht Stellung zu nehmen. Aus § 15 Abs. 1 WpHG und den zugrundeliegenden Richtlinienvorschriften folgt nicht einmal die Pflicht, den Anlegern mitzuteilen, dass die Richtigkeit des Gerüchts nicht bestätigt werden könne. Der Emittent kann schlicht von jeder Kommentierung absehen. Der soeben genannte Fall ist aber eher ein Ausnahmefall. In der Regel kann der Emittent den Wahrheitsgehalt des Gerüchts zuverlässig feststellen. Ein Beispiel: Im Markt kursiert das Gerücht, dass der Emittent an dem Erwerb eines bedeutenden Wettbewerbers interessiert sei. Das Gerücht belastet den Börsen-

__________ 82 Vgl. auch CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – third set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, May 2009, Rz. 66. 83 Vgl. Gliederungsziffer V. 1.

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preis der Aktien, weil die Anleger die Gefahr sehen, dass sich der Emittent mit dem Vorhaben übernehmen könnte. Der Vorstand des Emittenten hat natürlich Kenntnis, ob Gespräche geführt werden. Muss er dies aber offenlegen und dem Markt damit bei der Beurteilung des Gerüchts helfen? Wenn das Gerücht im Wesentlichen zutreffend ist, könnte man einwenden, dass die Information bereits öffentlich bekannt sei. Das wäre aber verkürzt. Öffentlich bekannt ist nur das Gerücht, also die für die Mehrzahl der Anleger nicht hinreichend verifizierbare Information über die Gespräche. Der Emittent verfügt dagegen über sichere Information. Ist das Gerücht im Kern zutreffend, könnte man weiter argumentieren, dass die erforderliche Kursrelevanz fehle. Doch auch das ist keineswegs in allen Fällen zutreffend. Ein verständiger Anleger misst einer gesicherten Information in aller Regel ein höheres Gewicht zu als im Markt kursierenden ungesicherten Gerüchten. Es ist also keineswegs in allen Fällen gesichert, dass die erforderliche Kursrelevanz fehlt. Noch deutlicher fällt das Urteil aus, wenn der Emittent weiß, dass das Marktgerücht unzutreffend ist. Er verfügt dann über eine präzise Information, die nicht öffentlich bekannt ist und – hier unterstellt – die notwendige Kursrelevanz hat. Dennoch verneint die herrschende Meinung eine Pflicht zur Stellungnahme. Das CESR84 erläutert: „Issuers are also under no obligation to respond to false rumours.“ Dem ist zuzustimmen. Bei verständiger Würdigung entspricht es nämlich nicht dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten, zu Gerüchten oder im Markt kursierenden Informationen Stellung zu nehmen. Der Emittent kann eigenverantwortlich und allein orientiert an seinem Unternehmensinteresse entscheiden, ob und wann er zu im Markt kursierender Information Stellung nimmt. Die Integrität der Finanzmärkte und der Schutz des Anlegervertrauens erfordert eine Stellungnahme zu Gerüchten nicht. Die Publizitätspflicht ist im Wege einer teleologischen Reduktion einzuschränken. Wollte man anders entscheiden, bestünde die Gefahr, dass Konkurrenten oder Spekulanten den Emittenten durch das gezielte Streuen von Gerüchten zur Preisgabe von Unternehmensinformation gegen seinen Willen zwingen könnten. In zwei Fällen ist eine Ausnahme zu machen: (1) wenn die dem Gerücht zugrunde liegende Information aus der Sphäre des Emittenten stammt, was die CESR85 vermutet, wenn die Information inhaltlich so präzise ist, dass der

__________ 84 Vgl. auch CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – third set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, May 2009, Rz. 65. 85 Vgl. CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – third set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, May 2009, Rz. 69: „Therefore, if and when the relevant publication or the rumour relates explicitly to a piece of information or information that is inside information within the issuer, the latter is expected to react and respond to the relevant publication or rumour as that piece of information or that information is sufficiently accurate to indicate that a leak of information has occurred and, thus, that the confidentiality of this inside information is no longer ensured. In such circumstances, which should be the exception rather than the rule and should be examined by the issuer on a case by case basis, a policy of staying silent or of „no comment“ by the issuer would not be

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Insiderinformationen mit Zukunftsbezug

Schluss eines Informationslecks beim Emittenten nahe liegt86, und (2) wenn die dem Gerücht oder den Marktkenntnissen zugrundeliegende Information besonders kurssensibel ist und sich die sicher erkennbare Markteinschätzung so weit von einer zutreffenden Bewertung entfernt, dass bei verständiger Würdigung die Korrektur erforderlich erscheint, um das Informationsverhalten des Emittenten als ordnungsgemäß erscheinen zu lassen.

VI. Zusammenfassung 1. Jedes zukünftige Ereignis und jeder zukünftige Umstand hat einen Gegenwartsbezug. Nur aus gegenwärtigen Ereignissen oder Umständen kann die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Umstände und Ereignisse abgeleitet werden. Sachverhalte mit Zukunftsbezug haben daher in aller Regel auch einen Gegenwartsbezug. Wollte man aus dem notwendigen Gegenwartsbezug von Sachverhalten mit Zukunftsbezug stets den Schluss ziehen, dass sich das in Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie vorausgesetzte Urteil über die Eintrittswahrscheinlichkeit erübrigt, würde Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie mit seiner zweiten Alternative ins Leere gehen. 2. Eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit besteht, wenn die Unterrichtung der Anleger über den zukünftigen Umstand oder das zukünftige Ereignis bei verständiger Würdigung dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht. Anhand dieses normativen Maßstabs ist zugleich zu entscheiden, ob bei der Bewertung einer Information als Insiderinformation an bereits eingetretene Teilschritte eines Sachverhalts angeknüpft werden kann oder muss. Wie vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 25.2.2008 angenommen, ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit von unter 50 Prozent in keinem Fall ausreichend. Ein ordentlicher und gewissenhafter Emittent würde zu dem Ergebnis kommen, dass das Risiko einer Marktirritation durch eine ungesicherte Information überwiegt. 3. Die Entscheidung über die hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit ist durch Gesamtschau der Umstände im Einzelfall zu treffen. Zu den Umständen des Einzelfalls können auch die Kursauswirkungen der Information gehören. Denn ein ordentlicher und gewissenhafter Emittent würde sein Informationsverhalten nicht ohne Rücksicht auf die besondere Kurssensibilität ausrichten. Vorauszusetzen ist dabei aber, dass die Kursauswirkungen ex ante mit hinreichender Sicherheit feststehen, ferner dass sie deutlich über das Gewicht von anderen Insiderinformationen hinausgehen, also eine hervorgehobene Kursbedeutung haben.

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acceptable. The issuer’s reaction or response should be made publicly available in the same conditions and using the same mechanisms that those used for the communication of inside information, so that an ad hoc announcement has to be published without undue delay.“ 86 Vgl. dazu auch die Ad-hoc-Mitteilung der Deutsche Börse AG v. 9.2.2011, mit der die Deutsche Börse AG Markgerüchte bestätigt, dass sie mit der NYSE Euronext fortgeschrittene Gespräche über einen möglichen Zusammenschluss führe.

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4. Wer nur über eine unbestätigte oder ungewisse Marktinformation verfügt, handelt nicht auf der Grundlage einer präzisen Information, sondern aufgrund einer Spekulation über den Wahrheitsgehalt der ihm vorliegenden Informationen87. Er befindet sich in derselben Situation, als hätte er Informationen über zukünftige Ereignisse und Umstände. Beide Fallgruppen sind über den Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsrichtlinie hinaus gleich zu behandeln. Über Insiderinformation verfügt daher der Anleger nur, wenn die ihm zur Verfügung stehende Information objektiv eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bietet, dass die Marktinformation zutreffend ist. Wie bei Informationen mit Zukunftsbezug ist maßgebend, ob die Offenlegung der Information bei verständiger Würdigung dem geordneten Informationsverhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Emittenten entspricht. 5. Der Emittent kann eigenverantwortlich und allein orientiert an seinem Unternehmensinteresse entscheiden, ob und wann er zu im Markt kursierender Information Stellung nimmt. In zwei Fällen ist eine Ausnahme zu machen: (1) wenn die dem Gerücht zugrunde liegende Information aus der Sphäre des Emittenten stammt, was die CESR vermutet, wenn die Information inhaltlich so präzise ist, dass der Schluss eines Informationslecks beim Emittenten nahe liegt, und (2) wenn die dem Gerücht oder den Marktkenntnissen zugrunde liegende Information besonders kurssensibel ist und sich die sicher erkennbare Markteinschätzung so weit von einer zutreffenden Bewertung entfernt, dass bei verständiger Würdigung die Korrektur erforderlich erscheint, um das Informationsverhalten des Emittenten als ordnungsgemäß erscheinen zu lassen.

__________ 87 So auch das CESR, Market Abuse Directive, Level 3 – second set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market, Juli 2007, Ziffer 1.5: „CESR considers that in determining whether a set of circumstances exists or an event has occurred, a key issue is whether there is firm and objective evidence for this as opposed to rumours or speculation2 i. e. if it can be proved to have happened or to exist.“

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„Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin“ Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der (nicht alltägliche) Fall III. Zweistufige Prüfung 1. Vorbemerkung 2. Die erste Prüfungsstufe 3. Die zweite Prüfungsstufe 4. Zwischenergebnis

IV. Zur Orientierung am Unternehmenswohl 1. Reihenfolge der Prüfung 2. Weitere Gesichtspunkte einer am Unternehmenswohl orientieren Prüfung V. Zusammenfassung

I. Einleitung Die ARAG/GARMENBECK-Entscheidung1 hat in den Kreisen der Angehörigen der seinerzeit noch bestehenden Deutschland-AG zu nicht wenig Unruhe geführt, ist doch den Aufsichtsräten mit diesem Urteil – scheinbar – erstmals vor Augen geführt worden, dass die Prüfung von Regressansprüchen gegen schuldhaft pflichtwidrig handelnde, der Gesellschaft dadurch einen Nachteil zufügende Vorstandsmitglieder kein arbiträrer Akt, sondern am Legalitätsprinzip zu orientieren ist und dass mangelnde Sorgfalt hierbei die Mitglieder des Überwachungsorgans selbst der Gefahr einer Haftung aussetzt. Die Sorge vor einer zu starken „Verrechtlichung“2 und vor einem Abschneiden der als notwendig erachteten Handlungsspielräume sowie vor allem die „Hinterfragung“ der Einzelaussagen des genannten Urteils hat in der Folgezeit die Diskussion3 zwischen Praxis und Wissenschaft stark geprägt. Gerade im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der schweren Finanzkrise der letzten Jahre, in der der mitunter sehr populäre und laute Ruf nach stringenter Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen oder gar nach einer Verschärfung der Haftungsnormen4 die notwendige Prüfung der maßgeblichen Sachverhalte und der dar-

__________ 1 BGHZ 135, 244. Referierend ferner BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, DStR 2009, 1157 Tz. 30. 2 Vgl. dazu schon BGHZ 135, 244, 251. 3 Vgl. z. B. Priester, EWiR 1997, 677; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 111 Rz. 352 mit eingehenden Nachweisen; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 116 Rz. 47 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 111 Rz. 35, 38; Hüffer, AktG, 9. Aufl., § 111 Rz. 4a f.; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl., § 93 Rz. 35; Paefgen, AG 2008, 761 ff.; Koch, AG 2009, 93 ff.; Mertens in FS K. Schmidt, 2009, S. 1183 ff. 4 Vgl. exemplarisch die Zusammenstellung der Referate und der Diskussionen des 2. Röpke-Symposions vom 23. März 2009 in Düsseldorf in „Das Unternehmerbild in der Sozialen Marktwirtschaft und die Managerhaftung“.

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aus zu ziehenden Konsequenzen übertönt, sind die ARAG/GARMENBECKGrundsätze immer wieder berufen worden. Wegen dieser nach wie vor unübersichtlichen, Verunsicherung auslösenden Diskussion erscheint es lohnend, sich nochmals zunächst dessen zu vergewissern, was der II. Zivilsenat in der genannten Entscheidung wirklich ausgesprochen hat, und sodann zu fragen, welche Auswirkungen dieses Erkenntnis u. a. für die Bewältigung der hinter uns liegenden Krise, aber auch für die gegenwärtig in der Prüfung befindlichen sonstigen Fälle von Vorstandsversagen haben kann. Für die zu Ehren von Martin Winter geschaffene Gedächtnisschrift erscheint dieses Thema besonders geeignet, war er doch als einer der renommiertesten Gesellschaftsrechtsanwälte u. a. maßgeblich in die Aufarbeitung eines spektakulären Falles fehlender und unzureichender Compliance-Bemühungen von Vorstandsmitgliedern eingebunden, der schließlich größtenteils durch einen mit Zustimmung der Hauptversammlung geschlossenen Vergleich erledigt worden ist.

II. Der (nicht alltägliche) Fall Will man das ARAG/GARMENBECK-Urteil in seinen Aussagen richtig einordnen, darf man nicht – wie dies regelmäßig geschieht – ausblenden, zu welchem Fall dieses Erkenntnis ergangen ist. Es handelte sich nämlich nicht um den typischen Sachverhalt, in dem ein Fremdorgan mit den ihm anvertrauten Geldern einer großen Zahl anonymer Aktionäre einer Publikumsgesellschaft schuldhaft pflichtwidrig umgegangen ist und der Gesellschaft dadurch einen Schaden zugefügt hat; wirtschaftlich betrachtet ging es vielmehr um einen Mehrheits-/Minderheitskonflikt in einer familiär geprägten Aktiengesellschaft, bei der maßgebliche Positionen in Vorstand und Aufsichtsrat mit Familienmitgliedern oder deren Vertrauenspersonen besetzt waren. Der von dem einen Familienstamm gestellte Vorstandsvorsitzende war auf einen Betrüger „hereingefallen“. Es handelte sich bei diesem „Geschäftsmann“ um einen mehrfach vorbestraften Elektroinstallateur, der in Großbritannien eine Briefkastenfirma unterhielt, seine als „Schneeballsystem“ konstruierten Anlagen- und Anlagenvermittlungsgeschäfte aber aus der Schweiz betrieb; mit ihm hatte der Vorstandsvorsitzende – später gescheiterte – Darlehensgeschäfte geschlossen und der Gesellschaft, welche Garantie- und Patronatserklärungen abgegeben hatte, einen Schaden in der Größenordnung von 80 Mio. DM zugefügt. Der Aufsichtsrat hatte mehrheitlich die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen den Vorstandsvorsitzenden abgelehnt, womit ein Teil der Mitglieder des Überwachungsgremiums5 nicht einverstanden war und Klage erhoben hatte.

__________ 5 Naheliegenderweise dürfte es sich um diejenigen Aufsichtsräte gehandelt haben, die von dem anderen, den Regressantrag verfolgenden Familienstamm entsandt worden waren.

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„Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin“

Das Berufungsgericht hatte die Entscheidung der Aufsichtsratsmehrheit gebilligt und sich dabei – im Anschluss an Erörterungen im Schrifttum6 – maßgeblich auf die Erwägung gestützt, dass der Aufsichtsrat eine Entscheidungsprärogative haben müsse, die aus seiner Aufgabe, nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit des Vorstandshandelns zu prüfen, herzuleiten sei; nur in Extremfällen, in denen das Ermessen des Aufsichtsrats „auf null“ geschrumpft sei, komme deswegen ein Eingreifen der Gerichte in Betracht.

III. Zweistufige Prüfung 1. Vorbemerkung Der II. Zivilsenat ist diesem Ansatz, der dem Aufsichtsrat ein umfassendes, gerichtlicher Kontrolle weitgehend entzogenes Ermessen zubilligt, nicht gefolgt; seine besondere Betonung, dass der Aufsichtsrat bei seiner retrospektiven Überwachungstätigkeit an die Wahrung des Legalitätsprinzips gebunden, dass ihm eine Entscheidungsprärogative nicht zuzubilligen sei, muss man als Antwort auf die wegen ihrer Undifferenziertheit wenig überzeugenden Aussagen des Berufungsurteils verstehen. Daraus7 erklären sich die harschen, in der seither geführten Diskussion immer wieder als „Stolpersteine“ wahrgenommenen Formulierungen wie diejenige, der Aufsichtsrat habe die „Verpflichtung, … das Bestehen von Schadenersatzansprüchen gegen ein Vorstandsmitglied zu prüfen und solche, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, zu verfolgen“8 oder „dass die Verfolgung der Schadenersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muss“9. Ähnlich verhält es sich mit den dicta, die Entscheidung des Aufsichtsrats sei „allein dem Unternehmenswohl verpflichtet …, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangt“10 oder die verbale Verbindung von der „Pflicht …, die Interessen der Gesellschaft in eigener Verantwortung sachgemäß wahrzunehmen“ mit der Aufgabe, „eine eigenständige Entscheidung über die gerichtliche Geltendmachung zu treffen“11. Diese von der pauschalierenden Vorgehensweise des Berufungsgerichts herausgeforderten, sehr deutlichen Formulierungen haben indessen in den Hintergrund treten lassen, dass der II. Zivilsenat diese auf den ersten Blick klaren Aussagen immer wieder relativiert und damit einen – wie noch zu zeigen sein wird: weiten – Spielraum für die gebotenen Unterscheidungen eröffnet, indem

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6 Vgl. z. B. Dreher, ZHR 158 (1994), 615, 637 ff.; weitere Nachweise im Berufungsurteil von ARAG/GARMENBECK, OLG Düsseldorf, BB 1996, 230, 232. 7 Anders das Verständnis z. B. von Paefgen, AG 2008, 761, der die Ausführungen des II. Zivilsenats beim Wort nimmt, ihnen in der Sache dann aber vehement widerspricht; im Ergebnis gelangt er indessen zu ähnlichen Ergebnissen wie Verf. im Folgenden. 8 BGHZ a. a. O. S. 249, ähnlich S. 252. 9 BGHZ a. a. O. S. 256. 10 BGHZ a. a. O. S. 255. 11 BGHZ a. a. O. S. 252.

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z. B. wiederholt das Möglichkeiten für eine differenzierende Betrachtungsweise bei anderer Sachverhaltsgestaltung eröffnende Wort „grundsätzlich“12 und ferner Vokabeln wie „ausnahmsweise“13, „in Ausnahmefällen“14 oder „im Allgemeinen“15 verwandt werden; ähnlich verhält es sich damit, dass die Aussage, es bestehe die Pflicht zur Anspruchsverfolgung, durch den Satz: „soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen“16, eingeschränkt wird. Außerdem hat die verbal zugespitzte Zurückweisung der dem Aufsichtsrat bei seiner nachträglichen Kontrolle zugeschriebenen „Entscheidungsprärogative“ den Blick dafür verstellt, dass der II. Zivilsenat anders als das Berufungsgericht eine zweistufige Prüfung für erforderlich hält und die besondere Betonung des Legalitätsprinzips in der ARAG/GARMENBECK-Entscheidung auf die erste Stufe zugeschnitten ist, bei der es um die Klärung des Bestehens und der Durchsetzbarkeit von Regressansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands geht. 2. Die erste Prüfungsstufe Der Aufsichtsrat hat den die Gesellschaft prinzipiell unter eigener Verantwortung leitenden Vorstand (§ 76 AktG) zukunftsgerichtet durch begleitende Beratung sowie ferner durch die Wahrnehmung von Zustimmungsvorbehalten zu „überwachen“. Mindestens gleichgewichtig daneben steht aber die retrospektive Kontrolle. Dabei geht es nicht allein darum, ob der vom Aufsichtsrat in sein Amt berufene Vorstand zweckmäßig und mit „glücklicher Hand“17 agiert, das ihm anvertraute Vermögen der Aktionäre also wahrt und mehrt; vorrangige Aufgabe des Aufsichtsrats ist es sicherzustellen, dass die Mitglieder des Leitungsorgans sich bei ihrem Handeln im Rahmen von Gesetz und Satzung bewegen. Verlässt der Vorstand diesen Rahmen, ist der Aufsichtsrat gefordert, ihn auf den „Pfad der Tugend“ zurückzuführen, notfalls hat er von seiner Personalkompetenz durch Widerruf der Bestellung Gebrauch zu machen, um so (weiteren) Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Teil dieser retrospektiven Überwachungstätigkeit ist die Prüfung, ob der Vorstand nicht nur falsch, sondern auch schuldhaft pflichtwidrig gehandelt und dadurch der Gesellschaft einen kompensierbaren Schaden zugefügt hat. Bei der Klärung dieser Fragen – das ist die Kernaussage von ARAG/GARMENBECK zu dieser ersten Stufe – ist der Aufsichtsrat streng an das Legalitätsprinzip gebunden. Er hat also wie ein unabhängiger Richter zu prüfen, ob die Gesellschaft einen Schaden erlitten hat, der durch ein Vorstandsverhalten verursacht worden ist, das als schuldhafte Pflichtwidrigkeit eingestuft werden muss. Das setzt die Klärung des maßgeblichen Sachverhalts voraus, also etwa die Feststellung, welchen Nachteil die Gesellschaft überhaupt erlitten hat, ob und inwieweit Maßnahmen oder Versäumnisse des Vorstands insgesamt oder einzelner seiner

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12 13 14 15 16 17

Z. B. BGHZ a. a. O. S. 254, 255. BGHZ a. a. O. S. 255. BGHZ a. a. O. S. 256. BGHZ a. a. O. S. 255. BGHZ a. a. O. S. 249 und 252. BGHZ a. a. O. S. 253.

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Mitglieder für diesen Nachteil ursächlich gewesen sind, und schließlich, ob dieses schadenskausale Verhalten als schuldhafte Pflichtverletzung des Organs oder Organmitglieds gewertet werden muss. Bei klaren Verstößen gegen Gesetz oder Satzung, also bei einer Verletzung des Legalitätsprinzips kann diese unerlässliche Sachverhaltsermittlung u. U. weniger aufwendig sein und den Aufsichtsrat verhältnismäßig rasch zu einem abschließenden Urteil auf dieser Prüfungsstufe befähigen. Aber auch bei solchen Gesetzes- oder Satzungsverstößen, die nicht etwa in einem schlichten „Griff in die Kasse“ oder einem groben Kompetenzverstoß18 bestehen, kann sich schon die Klärung des maßgeblichen Sachverhalts als außerordentlich schwierig erweisen; die Untersuchungen von Korruptionsfällen, von Kartellabsprachen, von problematischen Kreditentscheidungen oder die des Erwerbs sog. strukturierter Papiere sind beredte Beispiele dafür, dass schon bei der nach Umfang und Zeitaufwand sehr aufwendigen Klärung der tatsächlichen Grundlagen die Einschaltung externer Experten erforderlich ist, die hohe Kosten verursachen kann19. Diese durch die von ihm in Angriff genommene Prüfung verursachten Kosten hat der auf die Wahrung des Unternehmenswohls verpflichtete Aufsichtsrat ebenso in Rechnung zu stellen, wie er – sobald es um die Beurteilung von Leitungsentscheidungen geht – vor allem zu beachten hat, dass nach dem System der deutschen Aktiengesellschaft der Aufsichtsrat gerade nicht mit Leitungs-, sondern allein mit Überwachungsaufgaben betraut ist und dass er deswegen die gesetzliche Kompetenzverteilung strikt zu beachten hat. Das hat der II. Zivilsenat in dem genannten Urteil – für manche Leser überraschend, in Wahrheit aber nur tradierte und bewährte Aussagen einer über Jahrzehnte entwickelten Rechtsprechungslinie etwas plakativer herausstellend20 – dadurch deutlich gemacht, dass er den unternehmerischen Handlungsspielraum des Vorstands, das was man seit diesem Urteil und der Änderung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als „business judgement rule“ bezeichnet21, herausgestellt und den Aufsichtsrat zur Beachtung dieses Tatbestandes besonders ermahnt hat.

__________ 18 Vgl. zur GmbH etwa eigenmächtige Änderung der Geschäftspolitik durch den Geschäftsführer BGH, Urt. v. 25.2.1991 – II ZR 76/90, DStR 1991, 421; BGH, Urt. v. 24.2.1992 – II ZR 79/91, DStR 1992, 1026. 19 Staatsanwaltschaften wie Kartellbehörden scheinen neuerdings verstärkt auf externe, nach Zeitungsberichten mitunter US-amerikanische Expertenteams zur Sachverhaltsklärung zurückzugreifen, deren Dienste die von der Untersuchung betroffenen Unternehmen tragen „dürfen“; aber selbst dort, wo der Aufsichtsrat eigenständig prüfen muss, wird er auf teure Unterstützung durch externe Fachleute nicht verzichten können. 20 Vgl. W. Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123 ff. 21 Die jetzt in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG niedergelegten Regeln werden üblicherweise unter diesem angelsächsischen Begriff zusammengefasst, enthalten aber weder etwas wirklich revolutionär Neues, wie manche vor dem Hintergrund von BGHZ 135, 244 ff. angenommen haben, noch bilden sie genau die sehr formalisierten Grundsätze des US-amerikanischen Rechts ab, vgl. dazu eindrucksvoll Hopt/Roth in Großkomm. AktG, Nachtrag § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 n. F. Rz. 57 ff. mit ausführlicher Darstellung; vgl. ferner im hier interessierenden Zusammenhang Paefgen, AG 2008, 761, 762 und 766 ff.

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Eine schlichte Haftung des Vorstands für Misserfolg gibt es nicht22. Wenn danach der „weite Handlungsspielraum …, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist“23 von dem Aufsichtsrat respektiert werden muss, darf dieser seine u. U. bei eigener leitender Tätigkeit, sei es für dieselbe, sei es für eine andere Gesellschaft gewonnenen Erfahrungen nicht in der Weise verwenden, dass er sein eigenes unternehmerisches Ermessen als das maßgebende ansieht und dasjenige des hier verantwortlichen Vorstands substitutiert. Er hat im Gegenteil schon auf den vorangehenden Prüfungsebenen – auch hier wieder orientiert am Legalitätsprinzip – die Einzelelemente der deutschen business judgement rule abzuarbeiten, nämlich nachzuvollziehen, ob sich der Vorstand im Rahmen von Gesetz und Satzung gehalten, ob er sich situationsbezogen24 sachgerecht informiert, die Chancen und Risiken analysiert, die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen und auf dieser Grundlage seine unternehmerische Entscheidung getroffen hat. Schon wegen der Gefahr, selbst wegen schuldhaft pflichtwidriger retrospektiver Überwachungstätigkeit haftbar zu werden, wird der Aufsichtsrat seine Entscheidung, ob ein Vorstand bei seiner unternehmerischen Entscheidung schuldhaft pflichtwidrig gehandelt hat, regelmäßig nicht ohne sachverständige Unterstützung treffen können. Mit der – richterlicher Erkenntnis entsprechenden – Beurteilung, dass ein Schadenersatzanspruch besteht, hat der Aufsichtsrat seine Pflichten auf der ersten Prüfungsstufe indessen nur z. T. erledigt, diese Beurteilung ist nicht mehr als ein Zwischenschritt. Denn nunmehr sind zunächst die Prozessrisiken zu analysieren; sodann ist die Frage der Beitreibbarkeit der Forderung zu klären. Dass der Aufsichtsrat hier nicht mit unternehmerischem Ermessen, in Ausübung einer angeblichen „Entscheidungsprärogative“, sondern orientiert am Legalitätsprinzip zu prüfen hat, hilft ihm bei der Prozessrisikenanalyse – jedenfalls solange es nicht um klare und offenbare Gesetzes- oder Satzungsverstöße geht – weniger. Denn hier geht es auch darum, ob der der Beurteilung des Überwachungsgremiums zugrunde gelegte Sachverhalt auch bewiesen werden kann, ob etwa die Zeugen sich richtig erinnern werden oder ob das erkennende Gericht die vorgelegten Urkunden in gleicher Weise wie der Aufsichtsrat interpretieren wird; außerdem muss in Rechnung gestellt werden, dass die Beantwortung der Frage, ob ein Vorstand lediglich keine „glückliche Hand“ gehabt, ob er nur der auch einem verantwortungsbewusst handelnden Leitungsorgan zuzubilligenden Gefahr von Fehlbeurteilungen oder Fehleinschätzungen25 unterlegen ist oder ob er – dann haftungsbegründend – die ihm nach dem Gesetz eingeräumten Grenzen „deutlich überschritten“26 bzw. seine Bereit-

__________ 22 Vgl. näher W. Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123 ff., 141 m. w. N. 23 BGHZ a. a. O. S. 253. 24 Darauf (vgl. BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, DStR 2008, 1839) kommt es entgegen manchen Missdeutungen in der Lit. (vgl. jüngst Redeke, ZIP 2011, 59 ff.; Fleischer/Wedemann, AcP 209 (2009), 597, 601 und 615; Fleischer, AG 2003, 291, 300) an, vgl. dazu noch W. Goette, ZHR 175 (2011), 388, 396 Fn. 33. 25 BGHZ a. a. O. S. 253. 26 BGHZ a. a. O. S. 253.

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schaft, „Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt“27 hat, stark von Wertungen des Beurteilenden abhängt und nicht in jedem Fall mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ wird beantwortet werden können28. Ähnlich verhält es sich mit dem letzten auf der ersten Stufe zu vollziehenden Prüfungsschritt, der Feststellung der Beitreibbarkeit der Forderung. Wie die D&O-Versicherung den Sachverhalt beurteilt, ob sie ihre Eintrittspflicht bejaht und damit einen wesentlichen Teil des eingetretenen Schadens ersetzt oder es auf einen langwierigen Rechtsstreit ankommen lässt, ist u. U. ebenfalls nur schwer zu prognostizieren. Fällt die D&O-Versicherung bei der Kompensation des Schadens aus, bleibt – jedenfalls bei großen Schäden, wie sie z. B. infolge von Korruptionsfällen oder Kartellverstößen vorkommen – als mögliches Befriedigungsobjekt nur das von dem betroffenen Vorstandsmitglied zusammengetragene Vermögen, einschließlich etwaiger Pensionsansprüche übrig. Diese Implikationen hat der Aufsichtsrat nicht erst am Ende seiner Untersuchungen auf der ersten Stufe zu bedenken, sondern bereits von Anbeginn an in Rechnung zu stellen. Denn er würde seiner – haftungsbewehrten – Pflicht, ausschließlich das Unternehmenswohl der Gesellschaft zu wahren, schwerlich gerecht werden, wenn er bei den vorangehenden Prüfungsschritten umfangreiche, durch externe Berater unterstützte Untersuchungen in die Wege leitete, um dann am Ende festzustellen, dass nur ein geringer Teil des angerichteten Schadens von dem Vorstandsmitglied ersetzt werden kann, so dass im Extremfall nicht einmal die Kosten dieser aufwendigen Untersuchung gedeckt sind. Bei einem solchen Vorgehen ließe sich der Aufsichtsrat nicht, wie von ihm verlangt, allein vom Unternehmenswohl, sondern verfehlt, wenn auch in der derzeit oftmals emotional geführten Diskussion um die Managerhaftung populär, ausschließlich29 von Sanktionsgedanken leiten. 3. Die zweite Prüfungsstufe Für die zweite Prüfungsstufe gilt das Legalitätsprinzip nicht mehr in gleicher Weise. Zwar hat der II. Zivilsenat in dem ARAG/GARMENBECK-Urteil ausgesprochen, die Wahrung des Unternehmenswohls verlange „die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens“30; dies gilt jedoch nicht einschränkungslos, wie die Hinzusetzung des Wortes „grundsätzlich“ an der entsprechenden Stelle des Urteils belegt, sondern erfordert eine differenzierende Betrachtung. Sie nimmt der II. Zivilsenat, wenn man die Entscheidung genau betrachtet, auch selbst vor. Die harsche Aussage, dem Aufsichtsrat stehe auch bei seiner Prüfung auf der zweiten Stufe kein „autonomer unternehmerischer Ermessens-

__________ 27 BGHZ a. a. O. S. 253. 28 U. a. auf diese Zusammenhänge hat schon Dreher, ZHR 158 (1994), 615, 637 ff. hingewiesen. 29 Sanktionsüberlegungen können aber auf der zweiten Prüfungsstufe durchaus in die Beurteilung eingehen, s. unten IV. 2. 30 BGHZ a. a. O. S. 255.

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spielraum zu“31 oder „für seine eigene Entscheidung kann der Aufsichtsrat aber ein unternehmerisches Ermessen nicht in Anspruch nehmen“32 steht unter der völlig zutreffenden Einschränkung, dass dies nur gilt, soweit der Aufsichtsrat nicht unternehmerische Aufgaben wahrzunehmen hat33. Solche Aufgaben hat der Aufsichtsrat aber entgegen einer zu engen, maßgeblich auf die retrospektive Überwachungstätigkeit abstellenden Formulierung des Senats34 auf der zweiten Prüfungsstufe zu erfüllen. Das ergibt sich schon daraus, dass aufgrund des Ergebnisses der Beitreibbarkeitsanalyse35 feststehen kann, dass der Ersatz des gesamten Schadens nicht in Betracht kommt, der genannte „Grundsatz“ der vollen Kompensation also von vornherein nicht greift. Darüber hinaus hat der II. Zivilsenat sein dictum, dem Aufsichtsrat stehe ein unternehmerisches Ermessen nicht zu, deutlich durch den Zusatz: „in dem vom Berufungsgericht angenommenen Sinne“ relativiert. Dazu passt, dass der Senat selbst im darauf folgenden Satz dem Aufsichtsrat die Befugnis zuspricht, von der Geltendmachung voraussichtlich begründeter Schadenersatzansprüche absehen zu dürfen, wenn „gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen“36. In den folgenden Passagen der Entscheidung werden diese Ausnahmefälle exemplarisch dargestellt, in denen von einer vollständigen – dasselbe gilt selbstverständlich auch für eine nur beschränkte – Wiederherstellung des status quo ante abgesehen werden kann. Solche Gründe können danach z. B. negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit, ein Ansehensverlust des Unternehmens, die Behinderung der Vorstandsarbeit oder die Beeinträchtigung des Betriebsklimas sein. Diese Beispielsfälle zeigen, wie sehr der in den Mittelpunkt der Erörterungen des Urteils gestellte Satz, dass dem Aufsichtsrat auf der zweiten Prüfungsstufe kein unternehmerisches Ermessen zukomme, die Verhältnisse überzeichnet

__________

31 BGHZ a. a. O. S. 254. 32 BGHZ a. a. O. S. 255. 33 BGHZ a. a. O. S. 254 f.; vgl. hierzu erneut die Kritik von Paefgen, AG 2008, 761 ff.; a. A. Koch, AG 2009, 93, der mit einem Gleichlauf von ARAG/GARMENBECK und der Neufassung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG argumentiert – das ist schon deswegen nicht überzeugend, weil der ARAG-Entscheidung die ihr von Koch zugeschriebenen Aussagen nicht zu entnehmen sind, wie im Text versucht worden ist darzulegen. 34 BGHZ a. a. O. S. 255 oben: „Die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder ist dagegen [scil. anders als die Wahrnehmung von Führungsaufgaben mit Zubilligung unternehmerischen Ermessens] Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit, deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden.“ 35 Nach Zeitungsberichten soll dementgegen der Insolvenzverwalter der ArcandorKonzern-Gesellschaften mehr als 60 Manager auf Schadenersatz – in Einzelfällen in dreistelliger Millionenhöhe – gerichtlich in Anspruch nehmen, obwohl weder die für alle Betroffenen bestehende D&O-Versicherung den gesamten Schaden decken könnte, noch zu erwarten ist, dass einzelne Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer in der Lage sein könnten, Schadenersatz in einer Größenordnung von 10, 20 oder mehr Mio. Euro zu leisten; ein Aufsichtsrat, der so vorginge, liefe Gefahr, seinerseits auf Schadenersatz in Anspruch genommen zu werden. 36 BGHZ a. a. O. S. 255.

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und in Widerspruch zu den nachfolgenden – zutreffenden – Gedanken steht: Immer dort, wo das Unternehmenswohl der Gesellschaft es gebietet37, von einer auf die Wiederherstellung des Integritätsinteresses der Gesellschaft abzielenden Verfolgung abzusehen, ist der Aufsichtsrat frei in seiner Entscheidung. Er nimmt, auch wenn er die Folgen in der Vergangenheit liegender Verhaltensweisen des Vorstands bewertet, also retrospektiv tätig wird, genuin unternehmerische Aufgaben wahr, wenn er mit Blick auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft analysiert, wie das Unternehmenswohl in dieser Lage zu definieren ist und wie es am besten gewahrt werden kann. Deswegen handelt er in Ausübung eines unternehmerischen Entscheidungsspielraums, wenn er z. B. aufgrund seiner Beitreibbarkeitsanalyse nur einen – eventuell kleinen – Teil des Schadens gerichtlich verfolgt oder wenn er zur Vermeidung eines sonst eintretenden, mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung verbundenen Ansehensverlustes sich u. U. mit einer Teilkompensation des Schadens begnügt, die das betreffende Organmitglied auch ohne Einschaltung der Gerichte zu leisten bereit ist. 4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die verbreitete Fragestellung, ob dem Aufsichtsrat unternehmerisches Ermessen oder eine Entscheidungsprärogative zusteht oder nicht, das eigentliche Problem nicht zutreffend erfasst: Aufgabe des Aufsichtsrates, auch wenn er als retrospektiv tätig werdendes Überwachungsorgan handelt, ist die Wahrung des Unternehmenswohls. Dieses kann, muss aber, wenn man nicht einer Verengung der Perspektive das Wort reden will, nicht die vollständige oder partielle Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangen. Es kommt vielmehr auf den Einzelfall an, wie ein pflichtgemäß vorgehender Aufsichtsrat zu handeln hat; die ihm dabei eröffneten Spielräume sind – auch nach der ARAG/GARMENBECKEntscheidung – deutlich größer, als allgemein38 angenommen wird.

IV. Zur Orientierung am Unternehmenswohl Geht es danach nicht vordinglich um den Gegensatz zwischen Handeln in Ausführung des Legalitätsprinzips oder Wahrnehmung unternehmerischen Ermessens, sondern kommt es – auf beiden Prüfungsstufen – entscheidend darauf an, dass der Aufsichtsrat seiner zentralen Verpflichtung nachkommt, das Wohl der Gesellschaft zu wahren, sind beispielhaft einige typische Konstellationen einer pflichtgemäßen Überwachungstätigkeit näher zu betrachten.

__________ 37 Der Senat lässt sogar „zumindest annähernd gleichwertige“ Gesellschaftsinteressen ausreichen, von einer Anspruchsverfolgung gänzlich abzusehen, vgl. BGHZ a. a. O. S. 255. 38 Das gilt, wie oben bemerkt, auch für Paefgen und Koch.

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1. Reihenfolge der Prüfung Die ARAG/GARMENBECK-Entscheidung liest sich so und wird auch in der Praxis oft so verstanden, als habe der Aufsichtsrat bei der Regressprüfung die beiden oben näher analysierten Prüfungsstufen nacheinander abzuarbeiten. Wäre dies richtig, könnte dies dazu führen, dass schon bei der Klärung der tatsächlichen Grundlagen überaus hohe Kosten entstehen, weil es nicht mit der Sichtung einiger Unterlagen des Vorstands getan ist, sondern z. B. der emailVerkehr über mehrere Jahre rückwärts zusammengestellt, geordnet, ausgewertet und beurteilt werden muss und diese Arbeiten nicht mit dem bei der Gesellschaft vorhandenen, insofern aber u. U. zweckwidrig eingesetzten Personal, sondern nur unter Heranziehung externer Berater und ihrer Hilfskräfte bewältigt werden kann. Es kann sich ferner herausstellen, dass bei der Bewertung des derart festgestellten Sachverhalts eindeutige, ins Auge springende Lösungen nicht gefunden werden können, sondern dass auch hier Sachverstand von außerhalb des Unternehmens herbeigeschafft werden muss. In Korruptionsfällen mit Auslandsbezug z. B. können sich schwierige strafrechtliche Fragen stellen, die nur auf der Grundlage eines eingehenden und differenzierten Gutachtens eines einschlägig bewanderten Hochschullehrers beantwortet werden können. Ähnlich kann es etwa bei der Beurteilung von wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen erforderlich sein, gutachtlich klären zu lassen, ob und inwieweit die nationalen und die internationalen Regeln Restriktionen gegenüber solchen Handlungen enthalten und ob Schadenersatzansprüche wegen eines Verstoßes und ggfs. in welcher Höhe drohen, sowie ob mit der Verhängung von Bußgeldern zu rechnen ist und wie man dem u. U. noch begegnen kann. Je nach Komplexität des Sachverhalts kann sich die Frage anschließen, ob einem Vorstand der Vorwurf gemacht werden kann, schuldhaft pflichtwidrig gehandelt zu haben; selbst auf der Ebene der Ermittlung der Schadenshöhe können sich schwierige betriebswirtschaftliche oder rechtliche Fragen – z. B. die der Zulässigkeit einer Vorteilsanrechnung bei der Regressnahme wegen einer verbotenen Kartellabsprache39 – stellen, die der Aufsichtsrat nur mit zu honorierender Hilfe Dritter klären kann. Der durch alle diese, in Ausführung des strikten Legalitätsprinzips getroffenen Maßnahmen entstehende Aufwand vergrößert den durch das etwa schuldhaft pflichtwidrige Verhalten angerichteten Schaden weiter, ohne dass zu diesem Zeitpunkt – blendet man die weiteren Prüfungsschritte aus – sicher ist, dass ein Schadenersatzanspruch überhaupt besteht und in welcher Höhe er ggfs. durchgesetzt werden kann, oder ob – zweite Prüfungsstufe – besondere Umstände bestehen, von einer Durchsetzung ganz oder teilweise abzusehen. Deswegen muss ein pflichtgemäß handelnder Aufsichtsrat schon bei den ersten von ihm eingeleiteten Maßnahmen die weiteren für seine Entscheidung über die Regressnahme maßgebenden Punkte im Auge behalten. Das bedeutet,

__________ 39 Vgl. zu diesen Fragen Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 7 Rz. 24–26 mit ersten Einschätzungen und Nachw.

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dass er – nicht anders als der Richter des staatlichen Gerichts, welcher Pflichtverletzung und Verschulden nicht durch eine etwa aufwendige Beweisaufnahme klären darf, wenn hieraus kein ersetzungsfähiger Schaden entstanden sein kann – keineswegs an die Einhaltung einer bestimmten Reihenfolge seiner Prüfung gebunden ist. Seiner Pflicht, das Unternehmenswohl zu wahren, wird er vielmehr nur dadurch gerecht, dass er seine Prüfung – natürlich bezogen auf die konkrete Fallgestaltung – zunächst auf die Fragen konzentriert, die ohne oder mit nur geringem Aufwand zu klären sind. Ergibt sich dann, dass z. B. die Gesellschaft durch ein unterstellt pflichtwidrig schuldhaftes Verhalten des Vorstands keinen Schaden erlitten hat, ist die Untersuchung beendet, weitere Untersuchungen im Hinblick auf die Regressfrage würden zu einer Verschwendung von Gesellschaftsvermögen führen und wären von der Aufgabenwahrnehmung des Aufsichtsrates allenfalls unter dem Gesichtspunkt gedeckt, dass der Aufsichtsrat Grundlagen für seine Entscheidung benötigt, ob er von seiner Abberufungskompetenz Gebrauch macht. Dass eine negativ ausgegangene Beitreibbarkeitsanalyse alle anderen Fragen der Regressnahme überrollt, ist schon oben bemerkt worden. In diesem Zusammenhang hat der Aufsichtsrat auch die Möglichkeit einer Inanspruchnahme einer D&O-Versicherung zu prüfen; erweist sich hier z. B., dass kein Versicherungsschutz besteht, wird sich – zumindest bei größeren Schäden – das Risiko der Beitreibbarkeit des – zu unterstellenden – Ersatzanspruchs erheblich erhöhen und den Aufsichtsrat schon deswegen zwingen, seinen Prüfungsaufwand dem höchsten denkbaren beitreibbaren Betrag anzupassen. Schließlich muss der Aufsichtsrat, wenn er sich seiner retrospektiven Überwachungsaufgabe gewissenhaft stellt, u. U. sogleich auf der zweiten Prüfungsstufe ansetzen: Es entspräche nicht dem Unternehmenswohl, in kostenintensiver Weise die Prüfungsschritte der ersten Stufe abzuarbeiten, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass ein – auch durchsetzbarer – Schadenersatzanspruch in bestimmter Höhe besteht, um sich erst dann die Frage vorzulegen, ob „gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden (scil.: ganz oder teilweise) ersatzlos hinzunehmen“40. Die Frage, ob die Durchsetzung eines Anspruchs gegen den Vorstand mehr Schaden als Nutzen stiftet41 und deswegen das Unternehmenswohl sie verbietet, hängt nicht von der vorherigen Feststellung der weiteren Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 2 AktG ab und kann und muss von dem Aufsichtsrat schon im Voraus bedacht und – soweit möglich – entschieden werden; dies kann – auch hier nicht anders als bei einem Vorgehen im Rechtsstreit – in der Weise geschehen,

__________ 40 BGHZ a. a. O. S. 255. 41 In der Formulierung des II. Zivilsenats (BGHZ a. a. O. S. 255): „… wenn die Gesellschaftsinteressen und -belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind.“ Die Frage kann sich vor allem bei Kartellverstößen stellen, weil der regressrechtlichen Aufarbeitung des Bußgeldverfahrens u. U. die Schadensersatzansprüche der Kunden folgen, die wertvolle Informationen durch das Regressverfahren erhalten.

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dass der Aufsichtsrat das Bestehen eines durchsetzbaren Schadenersatzanspruchs in bestimmter Höhe unterstellt und auf dieser Grundlage seine unternehmerische, nämlich am Wohl der Gesellschaft in der individuellen Situation orientierte Entscheidung trifft. 2. Weitere Gesichtspunkte einer am Unternehmenswohl orientieren Prüfung Bei seiner Prüfung auf der zweiten Stufe der retrospektiven Kontrolle ist der Aufsichtsrat – wie bereits ausgeführt – freier. In Ausübung des ihm zuzubilligenden unternehmerischen Ermessens, was im konkreten Fall als Gesellschaftsinteresse zu identifizieren und wie dasselbe umzusetzen ist, kann er durchaus strengere oder liberalere Maßstäbe anlegen. Bei einem krassen Verstoß gegen Compliance-Vorschriften, etwa Verstößen gegen die Korruptionsregeln, kann das Unternehmenswohl gebieten, nicht nur personelle und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, sondern die betreffenden Personen, die schuldhaft ihre Pflichten verletzt haben, zu einer möglichst weitgehenden Kompensation des angerichteten Schadens zu zwingen. Damit erhält die Regressnahme auch ein Sanktionselement, das den übrigen Mitgliedern des Leitungsorgans, aber auch allen Mitarbeitern der Gesellschaft deutlich vor Augen führt, dass eine Missachtung des Legalitätsprinzips nicht hingenommen, dass es insbesondere nicht geduldet wird, mit verbotenen Mitteln den Unternehmenszweck zu verfolgen. Können danach die Schwere des Pflichtverstoßes, die Art der verletzten Norm und das Maß des Verschuldens zu einer rigideren Regressnahme Anlass geben, so können dieselben Kriterien auch eine liberalere Handhabung gebieten. Ein Vorstand etwa, der seiner Pflicht zur vorherigen Information und zur anschließenden Risiko- und Chancenanalyse nur leicht fahrlässig nicht nachgekommen ist und dadurch der Gesellschaft einen Schaden zugefügt hat, verdient – verengt man das Unternehmenswohl nicht auf die Kompensation des angerichteten Schadens42 – eine weniger strenge Behandlung: Die Verhaltensanforderungen unseres Gesellschaftsrechts in der ihr von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegebenen Interpretation sind außerordentlich hoch. Nicht umsonst hat der II. Zivilsenat in der ARAG/GARMENBECK-Entscheidung so besonderen Wert darauf gelegt, dass die Inanspruchnahme der Manager, die Risiken eingehen müssen und der Gefahr von Fehleinschätzungen und Fehlbeurteilungen unterliegen, nicht zu einer Erfolgshaftung führen darf. Dies und der Umstand, dass die Beantwortung der Frage, ob sich das handelnde Vorstandsmitglied vor seiner unternehmerischen Entscheidung angemessen informiert hat, von einer Wertung abhängt, die einen schmalen Grat zwischen Pflichtwidrigkeit und Pflichterfüllung und demgemäß Haftung oder Regresslosigkeit schafft, rechtfertigt im Zweifel, keinen oder zumindest keinen Regress in voller Höhe zu nehmen.

__________ 42 In der Tendenz – zumindest verbal – harscher BGHZ a. a. O. S. 255: „Da die Entscheidung allein dem Unternehmenswohl verpflichtet ist, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangt …“

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Das Unternehmenswohl gebietet eine solche Verfahrensweise auch deswegen, weil bei einer zu stringenten Verfolgung von Schadenersatzansprüchen wegen einer in Anwendung unternehmerischer Ermessenspielräume zu Tage getretenen bloß leicht fahrlässigen Pflichtverletzung, die Position eines Vorstandsmitglieds bei dieser Gesellschaft unattraktiv werden kann. Mancher auch tüchtige und begabte Manager wird sich dann nämlich fragen, ob er – u. U. obendrein auf Grund einer „postmortalen“ Betrachtung durch den Aufsichtsrat – das Risiko eingehen soll, auch schon bei einem leichten Leitungsfehler wie der Vorgänger um die Früchte eines erfolgreichen Berufslebens gebracht zu werden und fortan mit dem Stigma behaftet zu sein, nicht nur „versagt“ zu haben, sondern massiv in Regress genommen worden zu sein. Erwirbt die Gesellschaft einen solchen Ruf, mag sie zwar einen erlittenen Schaden kompensieren können, dieser Nutzen steht indessen dann in keinem Verhältnis zu den Nachteilen, welche das Unternehmen anschließend erleidet, weil sie nur noch für weniger profilierte Personen attraktiv ist, die das Wohl der Gesellschaft nicht in gleicher Weise wie die Vorgänger fördern können. Ähnlich kann es geboten sein, ein tüchtiges und an sich glücklich agierendes Vorstandsmitglied nicht dadurch aus dem Amt und wohlmöglich in die Arme eines Wettbewerbers zu treiben, dass der Aufsichtsrat bei der Prüfung und Umsetzung von Schadenersatzansprüchen das dictum des II. Zivilsenats beim Wort nimmt, die Wiederherstellung des schädigten Gesellschaftsvermögens gebiete „grundsätzlich“ das Unternehmenswohl43. Dagegen ist für solche, die künftige Entwicklung der Gesellschaft in den Blick nehmenden Beurteilung regelmäßig kein Raum mehr, wenn die Gesellschaft insolvent geworden ist und abgewickelt werden muss. Der Insolvenzverwalter, der dann zu prüfen und zu entscheiden hat, hat seiner Beurteilung das Ziel zugrunde zu legen, die Masse möglichst weitgehend aufzufüllen, so dass hier der Kompensationsgedanke sich weit eher durchsetzen wird. Mit Recht schließlich – auch das ist Ausdruck eines konsequent am Wohl der Gesellschaft, nicht dem ihrer Organmitglieder orientierten Prüfungsansatzes – hat es der II. Zivilsenat abgelehnt, die besondere soziale Lage des Regressschuldners als Kriterium einer Abstandnahme vom Regress anzuerkennen; die persönliche Lage des Leitungsorgans kann grundsätzlich nur eine Rolle spielen, wie sie sich auf die Reputation und die Attraktivität der Gesellschaft für Führungskräfte auswirkt.

V. Zusammenfassung Weder die Frage einer Entscheidungsprärogative noch die der Anerkennung oder Verneinung unternehmerischen Ermessens bei der Prüfung der Regressnahme gegen Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft identifizieren das maßgebliche Problem zutreffend. Es geht vielmehr darum, dass der Aufsichtsrat als das für die retrospektive Kontrolle zuständige Gesellschaftsorgan

__________ 43 S. vorherige Fn.

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verpflichtet ist, das Wohl des Unternehmens zu wahren. Worin in der konkreten Situation der Gesellschaft dieses Wohl besteht und wie es umgesetzt wird, unterliegt der autonomen Entscheidung des Aufsichtsrats, der dabei – mag er auch auf der ersten Stufe seiner Prüfung an das Legalitätsprinzip gebunden sein – durchaus unternehmerisches Ermessen ausübt. Dies geschieht vornehmlich auf der zweiten Stufe der Prüfung, wenn es darum geht zu entscheiden, ob ein bestehender und durchsetzbarer Schadenersatzanspruch auch wirklich – ganz oder teilweise – verfolgt werden soll. Es wirkt sich aber schon verfahrensmäßig auf der ersten Stufe aus, indem der Aufsichtsrat spätere Prüfungsschritte vorziehen und aufgrund einer sachgerechten Kosten-/Nutzenbetrachtung von einer vollständigen Abarbeitung logisch vorrangiger Aspekte absehen kann.

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Durchsetzung von Ersatzansprüchen durch besondere Vertreter in Personengesellschaften Inhaltsübersicht I. Das Problem II. Die Sicht des Bundesgerichtshofs III. Wege zur Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen geschäftsführende Gesellschafter 1. Die Vertretung der Personengesellschaft durch ihre Organe 2. Die actio pro socio 3. Bestellung eines besonderen Vertreters a) Art des geltend zu machenden Anspruchs

b) c) d) e)

Der Gesellschafterbeschluss Der besondere Vertreter Struktur der Gesellschaft Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Selbstorganschaft f) Subsidiarität gegenüber der Vertretung durch geschäftsführende Gesellschafter? g) Verhältnis zur actio pro socio

IV. Vorgaben im Gesellschaftsvertrag V. Zusammenfassung

I. Das Problem Schadensersatzansprüche einer Gesellschaft gegen ihre geschäftsführenden Gesellschafter sind oftmals nur schwer durchsetzbar. Dies gilt für Personenwie für Kapitalgesellschaften. Im Folgenden soll untersucht werden, wie ein Gesellschafter in einer Personengesellschaft die Durchsetzung dieser Ansprüche erreichen kann. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Frage liegen, ob auf sein Betreiben hin „ein besonderer Vertreter“ (vielleicht sogar ein Gremium) mit dieser Aufgabe betraut werden kann.

II. Die Sicht des Bundesgerichtshofs Vor kurzem hatte der Bundesgerichtshof einen Fall zu entscheiden, in dem es genau um die geschilderte Problematik ging. Geklagt hatte eine PublikumsKG gegen ihre Komplementärin. Diese hatte eine Kommissionsvereinbarung auf Rechnung der Klägerin geschlossen. Die Klägerin verlangte Rückzahlung der auf diesen Vertrag geleisteten Honorare. Vertreten wurde die KG durch ihren Beirat, zu dessen Aufgabe es laut Gesellschaftsvertrag auch gehörte, die Komplementärin zu überwachen und die Gesellschafterversammlung zu vertreten. Auch hatten die Gesellschafter beschlossen, dass der Beirat die Prozessführung gegen die Beklagte in die Hand nehmen sollte und dem Beirat eine entsprechende Vollmacht erteilt.

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Die Vorinstanz1 hatte die Klage für zulässig (und begründet) gehalten. Die Klägerin sei – so das Urteil – durch den Beirat ordnungsgemäß vertreten. Zwar werde eine KG grundsätzlich von ihrem Komplementär vertreten. Doch sei diese Form der Vertretung im vorliegenden Fall nicht zielführend, da die Beklagte dann als Vertreterin der Klägerin gegen sich selbst prozessieren müsste. Allerdings könnten die Kommanditisten gegen die Komplementärin im Wege der actio pro socio vorgehen. Darüber hinaus ergebe sich aber in Analogie zu § 112 AktG, dass auch der Beirat die Ansprüche der KG durchsetzen könne. Der Beirat einer Publikumsgesellschaft nähere sich nach Aufgabe und Funktion dem Aufsichtsrat einer AG an. Dies rechtfertige es, § 112 AktG analog heranzuziehen. Da die Frage, ob bei einer Publikums-KG der gewählte Beirat die Gesellschaft analog § 112 AktG gegen den geschäftsführenden Gesellschafter vertreten kann, noch nicht höchstrichterlich entschieden ist, hat das OLG die Revision zugelassen. Der BGH hat die Revision zurückgewiesen2. In dem Hinweisbeschluss heißt es, dass Gründe für die Zulassung der Revision nicht bestehen würden und die Revision auch in der Sache keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Frage, ob § 112 AktG auf Beiräte von Publikumspersonengesellschaften analog anzuwenden sei, sei nicht entscheidungserheblich, da der Beirat von der Gesellschafterversammlung mit der Prozessführung gegen die Beklagte beauftragt und entsprechend bevollmächtigt worden sei. Daher sei der Beirat in analoger Anwendung von § 46 Nr. 8 Halbsatz 2 GmbHG, § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG als besonderer Vertreter der KG bestellt worden. Diese Bestellung sei wirksam, da die Voraussetzungen der analog anzuwendenden Normen erfüllt seien. Eine Vertretung der Klägerin durch ihren 2. Komplementär wäre zwar möglich, doch könne nicht erwartet werden, dass dieser trotz der Gefahr, dass in einem entsprechenden Verfahren auch eigene Versäumnisse aufgedeckt würden, unvoreingenommen tätig werden würde. Auch der Grundsatz der Selbstorganschaft hindere die Übertragung der Prozessvertretung auf den Beirat (auch wenn er mit Personen besetzt sein sollte, die nicht Gesellschafter sind) nicht. Dieser Grundsatz gelte nicht mehr, wenn es an gleich gerichteten Interessen der Gesellschafter fehle. Dies sei bei einem Prozess der KG gegen ihren Komplementär der Fall. Daher sei die Klage unabhängig von der Frage, ob § 112 AktG analog anzuwenden sei, zulässig.

III. Wege zur Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen geschäftsführende Gesellschafter 1. Die Vertretung der Personengesellschaft durch ihre Organe Keine Frage: Üblicher Weise werden Personengesellschaften durch ihre geschäftsführungs- und vertretungsberechtigten Gesellschafter vertreten, die GbR

__________ 1 OLG Bremen, NZG 2010, 181. 2 Hinweisbeschluss v. 7.6.2010, NZG 2010, 1381; Zurückweisungsbeschluss v. 25.10. 2010.

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also gemäß §§ 709, 714 BGB, die OHG nach § 125 HGB und die Kommanditgesellschaft durch ihre Komplementäre (§§ 161 Abs. 3, 125 Abs. 1 HGB). Wie der BGH zutreffend ausführt, ist diese Form der Vertretung bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen die geschäftsführenden Gesellschafter allerdings wenig geeignet. Denn nahezu stets wird es zu Interessenkonflikten kommen, da ein geschäftsführender Gesellschafter als Vertreter der Gesellschaft kaum einen anderen geschäftsführenden Gesellschafter völlig unvoreingenommen in Anspruch nehmen wird. Dies gilt auch dann, wenn es sich um Ansprüche gegen ehemalige Geschäftsführer handelt. Denn auch in dieser Situation kann es darum gehen, eigene (Überwachungs-)Versäumnisse zu vertuschen. Dies ist auch der Grund dafür, dass § 112 AktG insoweit sehr weit ausgelegt wird3. 2. Die actio pro socio Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten wurde die actio pro socio entwickelt. Zwar sind Einzelheiten dieser Rechtsfigur noch nicht abschließend geklärt. Mittlerweile ist aber doch deutlich geworden, dass jedenfalls in Situationen, in denen die gesetzlich vorgegebene Art der Vertretung der Gesellschaft nicht zielführend ist, jeder Gesellschafter Ansprüche der Gesellschaft gegenüber Mitgesellschaftern im eigenen Namen durchsetzen kann4. Hierzu zählt unstreitig die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die geschäftsführenden Gesellschafter, eben weil dann der zur Geltendmachung von Ansprüchen der Gesellschaft üblicher Weise einzuschlagende Weg (eben die Vertretung durch die entsprechenden Organe) alles andere als vielversprechend ist. Für den klagenden Gesellschafter hat die actio pro socio Vor- und Nachteile. Da er selbst Kläger ist, hat er den Prozess in der Hand und kann so für eine sachgerechte Prozessführung sorgen. Allerdings ist er auch der Kostenschuldner5. Zwar hat er unter Umständen insoweit Erstattungsansprüche gegen die Gesellschaft. Aber diese müssen eben wiederum auch durchgesetzt werden, was gerade nach einem verlorenen Prozess jedenfalls kein Selbstläufer ist6. 3. Bestellung eines besonderen Vertreters Damit wird deutlich, dass die vom OLG Bremen und vom BGH gebilligte Möglichkeit, in Analogie zu § 46 Nr. 8 Halbsatz 2 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG einen besonderen Vertreter zu bestellen7, eine sehr attraktive Alternative zur

__________ 3 Drygala in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl., § 112 Rz. 5 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 112 Rz. 6 ff. 4 Servatius in Henssler/Strohn, Kommentar zum Gesellschaftsrecht, 2011, § 705 BGB Rz. 47; Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl., § 705 Rz. 210; Westermann in Erman, BGB, 12. Aufl., § 705 Rz. 59. 5 Ulmer (Fn. 4), § 705 Rz. 213. 6 Ulmer (Fn. 4), § 705 Rz. 213. 7 So auch Karrer, NZG 2008, 206, 208; Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, § 46 Rz. 123; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 46 Rz. 177.

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actio pro socio darstellt. Denn dieser besondere Vertreter vertritt die Gesellschaft. Partei eines eventuellen Rechtsstreits ist also diese, nicht ein Gesellschafter oder der besondere Vertreter. Allerdings ist die Bestellung eines besonderen Vertreters selbstverständlich nur möglich, wenn die Voraussetzungen der entsprechend anzuwendenden Normen auch erfüllt sind. a) Art des geltend zu machenden Anspruchs Wie § 46 Nr. 8 Halbsatz 2 GmbHG sagt, muss es um einen Prozess gehen, der gegen die Geschäftsführer (auch ehemalige8) zu führen ist. Diese Bestimmung wird weit verstanden. Erfasst ist jedes gerichtliche Verfahren9, gleichgültig, ob die GmbH Klägerin oder Beklagte ist. Auch muss es nicht (wie im ersten Halbsatz der Norm) um Ersatzansprüche gehen10. Dies ist bei § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG jedenfalls nach dem Wortlaut der Norm anders11. Für die analoge Anwendung der Bestimmungen auf die Personengesellschaften dürfte insoweit von maßgeblicher Bedeutung sein, ob eine sachgerechte Vertretung der Gesellschaft auf dem üblichen Wege erreichbar ist. Daran kann es auch außerhalb des „klassischen“ Anwendungsbereichs von § 46 GmbHG, § 147 AktG fehlen, etwa wenn es um die Wirksamkeit der Abberufung des Geschäftsführers geht oder wenn die Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen die Erben des geschäftsführenden Gesellschafters in Rede steht12. Daher sollte für die Analogie im Recht der Personengesellschaften der weite Anwendungsbereich von § 46 Nr. 8 GmbHG maßgeblich sein. b) Der Gesellschafterbeschluss Die genannten Normen verlangen des Weiteren einen Gesellschafterbeschluss. Diese Willensbildung der Gesellschafterversammlung legitimiert die Übernahme des Prozessrisikos durch die Gesellschaft. Da der von der geplanten Anspruchsverfolgung betroffene Gesellschafter nicht mitstimmen darf13, ist ein solcher Beschluss durchaus erreichbar. Dies gilt insbesondere in der 2-Personen-Gesellschaft, wobei allerdings mit wechselseitigen Inanspruchnahmen zur rechnen ist, wenn beide Gesellschafter geschäftsführend tätig sind. Sofern die Gesellschafterversammlung den Beschluss nicht fasst, bleibt die Möglichkeit, gestützt auf die Treuepflicht die Mitgesellschafter auf eine positive Stimmabgabe zu verpflichten. Doch ist dieser Weg steinig. Insofern dürfte die actio pro socio vorzuziehen sein.

__________ 8 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 42; Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., § 46 Rz. 61a. 9 Bayer (Fn. 8), § 46 Rz. 42; Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 104; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl., § 46 Rz. 67. 10 Bayer (Fn. 8), § 46 Rz. 42; Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 104. 11 Für erweiternde Auslegung aber Hüffer, AktG, 9. Aufl., § 147 Rz. 2; Spindler (Fn. 3), § 147 Rz. 3; enger Kling, ZGR 2009, 190, 201. 12 Beispiele bei Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 105. 13 BGH, NZG 2010, 1381, 1382.

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c) Der besondere Vertreter Zum besonderen Vertreter nach § 147 AktG kann nur eine natürliche Person bestellt werden14. Gleiches dürfte für § 46 GmbHG gelten15. In dem geschilderten Fall des Bundesgerichtshofs ging es aber um die Bestellung eines Beirates als besonderen Vertreter. Auf diese Besonderheit geht der BGH in dem geschilderten Hinweisbeschluss nicht ein. Auch das OLG Bremen hat diese Problematik nicht näher thematisiert. Allerdings war dies aus seiner Sicht wohl auch nicht weiter erforderlich. Denn die vom OLG gezogenen und vom BGH für überflüssig gehaltene Parallele zu § 112 AktG und damit zu den Befugnissen des Aufsichtsrats kann diesen Befund erklären. Denn insofern würde der Beirat dann dem Aufsichtsrat gleich stehen. Jedenfalls für die Personengesellschaften wird man der Ansicht des Bundesgerichtshofs folgen können: Auch ein Gremium ist geeignet, die Anspruchsdurchsetzung in die Hand zu nehmen und – falls erforderlich – einen geeigneten Prozessvertreter zu beauftragen. Der Vorteil bei der Bestellung eines Gremiums anstelle von (auch mehrerer) Einzelpersonen liegt darin, dass die Ergänzung wegfallender Mitglieder auf dem für das Gremium vorgesehenen Wege möglich ist. Auch kann auf die Regeln für die Willensbildung in dem Gremium zurückgegriffen werden. Dies kann insbesondere bei Unstimmigkeiten unter mehreren Personen hilfreich sein. Folgt man somit der Argumentation des BGH, so folgt daraus, dass auch ein ad hoc gebildetes Gremium als besonderer Vertreter in Frage kommt. Denn die analog anwendbaren Normen (§ 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG) verlangen nicht, dass der besondere Vertreter schon vorher in irgendeiner Weise in Beziehung zu der Gesellschaft stand. Dies kann für Gesellschaften, die anders als die KG im Ausgangsverfahren nicht schon durch die Etablierung eines Beirats vorgesorgt haben, hilfreich sein und ist auch sachgerecht. Denn auch ein neu installiertes Gremium kann die geschilderten Aufgaben erfüllen. Sofern dieses Gremium nur die Funktion des besonderen Vertreters wahrnehmen soll, muss es auch nicht im Gesellschaftsvertrag verankert und auch nicht mit vertragsändernder Mehrheit installiert werden. Denn es handelt sich dann nicht um ein für längere Dauer geschaffenes Organ der Gesellschaft sondern nur um ein kurzfristig für eine bestimmte Aufgabe zuständiges Gremium16.

__________ 14 Mock in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 147 Rz. 41; Spindler in Karsten Schmidt/ Lutter, AktG, 2. Aufl., § 147 Rz. 22; a. A. Verhoeven, ZIP 2008, 245, 248. 15 S. Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 108: Es könne auch Gesamtvertretung vorgesehen sein, also können auch mehrere natürliche Personen bestellt werden. Von Gremien ist aber nicht die Rede. 16 Umstritten ist, ob der besondere Vertreter Organ der Gesellschaft ist. Doch würde auch eine solche Einordnung nichts an dem geschilderten Ergebnis ändern. Schließlich werden die besonderen Vertreter nach § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG auch nicht mit vertragsändernder Mehrheit beauftragt. Zu der Frage, ob der besondere Vertreter Organ der Gesellschaft ist: Kling, ZGR 2009, 190, 209 ff.; Mock (Fn. 14), § 147 Rz. 25; Spindler (Fn. 14), § 147 Rz. 21; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143; mit guten Gründen offen gelassen von Westermann, AG 2009, 237, 246 f.

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d) Struktur der Gesellschaft Ebenfalls nicht maßgeblich ist von dem Ausgangspunkt des Bundesgerichtshofs aus die Frage, ob die Gesellschaft eine Publikumsgesellschaft ist oder nicht. Denn eine Parallele zum GmbH-Recht kann selbstredend auch gezogen werden, wenn keine Publikumsgesellschaft vorliegt. Denn die GmbH ist typischer Weise eher personalistisch organisiert. Hier zeigt sich, dass der Ansatz des BGH gegenüber dem des OLG Bremen Vorteile hat. Denn die Parallele zum Aufsichtsrat der AG lässt sich für Publikumspersonengesellschaften eher ziehen als für Gesellschaften mit nur wenigen Gesellschaftern. Da aber die Problematik nicht auf mitgliederstarke Gesellschaften beschränkt ist, überzeugt es, mit dem BGH für alle Gesellschaften die gleiche Lösung zu entwickeln. e) Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Selbstorganschaft Ebenfalls nicht erforderlich ist es, dass das Gremium nur oder überwiegend mit Gesellschaftern besetzt ist. Dieses Erfordernis könnte sich aus dem Grundsatz der Selbstorganschaft ergeben, der aber seinerseits wenig klare Konturen hat. In der Quintessenz geht es dabei um den Schutz der Gesellschafter17. Da Personengesellschafter für die Schulden ihrer Gesellschaft persönlich haften, muss sichergestellt werden, dass sie maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen in der Gesellschaft haben. In dem Beschluss des Bundesgerichtshofes heißt es, dass dieser Grundsatz nicht mehr gelte, wenn die Interessen der Gesellschafter nicht mehr gleichgerichtet seien18. Da es bei der Inanspruchnahme eines geschäftsführenden Gesellschafters ersichtlich um Konflikte unter den Gesellschaftern geht, ist dieses Kriterium offensichtlich erfüllt. Zugleich wird aber auch deutlich, dass damit das Prinzip der Selbstorganschaft ganz erheblich entwertet wird. Denn auf solche Grundsätze kommt es eigentlich in erster Linie im Konfliktfall an. Wenn sie dann nicht gelten, verlieren sie viel von ihrer Bedeutung. Doch ist von dem hier vertretenen Standpunkt aus betrachtet die Wahl eines besonderen Vertreters unter dem Aspekt der Selbstorganschaft sowieso unproblematisch: Da der Vertreter durch Gesellschafterbeschluss jederzeit wieder abberufen werden kann19, können die Gesellschafter die Geschäfte, wann immer sie es wünschen, wieder an sich ziehen. Damit ist ihrem legitimen Schutzinteresse genüge getan. Mehr verlangt der Grundsatz der Selbstorganschaft nicht.

__________

17 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 8. Aufl., 1. A. Rz. 41 ff.; Schürnbrand, Organschaft im Recht privater Verbände, 2007, S. 262; Westermann (Fn. 4), § 709 Rz. 3, der aber auch das Gläubigerinteresse betont; zu Recht kritisch gegenüber diesem Grundsatz Westermann in FS Lutter, 2000, S. 955. 18 Praktisch würde das heißen, dass der nach h. M. nicht mögliche Ausschluss der Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter in der KG bei Streit unter den Gesellschaftern nicht mehr greift und zwar auch dann nicht, wenn ein Gesellschafter den Streit schuldhaft herbeigeführt hat. 19 OLG München, ZIP 2010, 725, 728; Spindler (Fn. 14), § 147 Rz. 31; Zöllner (Fn. 9), § 46 Rz. 71; a. A. Lochner in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., § 147 Rz. 30: Nur aus wichtigem Grund.

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f) Subsidiarität gegenüber der Vertretung durch geschäftsführende Gesellschafter? Der Beschluss des BGH deutet an, dass die Bestellung eines solchen Vertreters nur möglich sein soll, wenn eine Vertretung durch einen weiteren geschäftsführenden Gesellschafter nicht in Frage kommt20. Das gibt aber die Analogie zu den genannten Normen nicht her. Zwar werden in den Bestimmungen Situationen angesprochen, in denen typischer Weise die Vertretung der Gesellschaft durch die Geschäftsführung nicht zielführend ist. Eine konkrete Prüfung, ob dies in dem jeweiligen Fall auch so ist, wird von den Normen aber nicht verlangt. So sollte man auch in den Personengesellschaften verfahren. Dafür spricht nicht nur die Analogie zu den angeführten Bestimmungen, sondern auch die Tatsache, dass eine Einzelfallprüfung oftmals schwierig ist. Vielfach ist unklar, ob etwa ein weiterer geschäftsführender Gesellschafter an den Vorkommnissen beteiligt war oder ob er sich – etwa auf Grund einer guten Zusammenarbeit – dem in Anspruch zu nehmenden Gesellschafter aus anderen Gründen verbunden fühlt. Wenn man hier eine klare Linie zieht und die Bestellung eines besonderen Vertreters für die Inanspruchnahme der geschäftsführenden Gesellschafter stets zulässt, kann jedem Missbrauch vorgebeugt werden. Auch gibt es kein wirklich stichhaltiges gegenläufiges Interesse gegen die hier befürwortete generelle Zuständigkeit des besonderen Vertreters. Zwar wird ein eventuell vorhandener weiterer geschäftsführender und vertretungsberechtigter Gesellschafter durch den besonderen Vertreter in seinen Kompetenzen eingeschränkt. Denn da der besondere Vertreter die reguläre Vertretung der Gesellschaft verdrängt, kann dieser Gesellschafter in dem Bereich, der ihm üblicher Weise übertragen ist, nicht tätig werden. Aber dies betrifft regelmäßig nur einen relativ kleinen Teil der Befugnisse des geschäftsführenden und vertretungsberechtigten Gesellschafters und ist zudem auf eine kurze zeitliche Frist beschränkt21. Auch kann ein sachgerecht entscheidender Gesellschafter eigentlich kein Interesse daran haben, in diese von Interessenkonflikten dominierte Situation hineingezogen zu werden. g) Verhältnis zur actio pro socio Die Möglichkeit, analog § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG einen besonderen Vertreter zu bestellen, ist nicht subsidiär gegenüber der actio pro socio22. Zwar wird das Prozesskostenrisiko in der Tat über die Bestellung des besonderen Vertreters auf die Gesellschaft verlagert. Aber dies ist auf Grund des geschilderten Gesellschafterbeschlusses gerechtfertigt. Wenn das oberste Willensbildungsorgan beschließt, dass die Gesellschaft als Anspruchsinhaber den Anspruch selber geltend machen will, ist das zu akzeptieren. Ein Vorgehen im

__________ 20 S. Rz. 10 des Beschlusses. 21 Karrer, NZG 2008, 206, 208. 22 LG Karlsruhe, NZG 2001, 169, 170.

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Wege der actio pro socio wird damit auf Grund der Subsidiarität dieser Klage sogar unzulässig23. Denn der besondere Vertreter ermöglicht eine unvoreingenommene Durchsetzung des Anspruchs, so dass für „Notkompetenzen“, wie es die actio pro socio darstellt, kein Raum bleibt.

IV. Vorgaben im Gesellschaftsvertrag Die Analogie zu § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG hat der BGH in einem Fall gezogen, in dem einem Beirat im Gesellschaftsvertrag die Aufgabe der Überwachung der Geschäftsführung übertragen war. Da die Durchsetzung von gegen den Geschäftsführer gerichteten Ansprüchen durch einen Beirat zweckmäßig ist, erscheint es sinnvoll, einen solchen Beirat im Gesellschaftsvertrag vorzusehen24. Der alternativ zur Verfügung stehende Weg über die actio pro socio verschärft Konflikte unter den Gesellschaftern und beinhaltet daher keine bessere Alternative. Wie geschildert bleibt den Gesellschaftern auch der Weg, ein solches Gremium für die Durchführung von Ansprüchen gegen die geschäftsführenden Gesellschafter im Bedarfsfalle erst einzurichten. Aber abgesehen davon, dass diese Vorgehensweise – da von der Judikatur noch nicht abgesegnet – gewisse Restrisiken beinhaltet, erscheint sie auch weniger zweckmäßig: Denn im Konfliktfall ist jede Einigung – und sei es auch nur über die Auswahl der Gremiummitglieder und das Procedere im Gremium – nur schwer erreichbar. Alternativ kann ad hoc eine natürliche Person als besonderer Vertreter bestellt werden. Doch muss bei der Auswahl dieser Person ebenfalls wieder eine Mehrheit gefunden werden. Die Parallele zu § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG legt die Annahme nahe, dass die Möglichkeit, einen besonderen Vertreter zur Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen die geschäftsführenden Gesellschafter zu bestimmen, im Gesellschaftsvertrag nicht abbedungen werden kann. Jedenfalls würde dies der Rechtslage in der Aktiengesellschaft und in der GmbH entsprechen25. Gleichwohl sollte man davon ausgehen, dass die Gesellschafter auf die actio pro socio verwiesen werden können. Das Recht der Personengesellschaften wird traditionell vom Grundsatz der Vertragsfreiheit dominiert. Die Grenze bildet § 138 BGB. Da den Gesellschaftern aber auch bei Ausschluss einer Analogie zu den genannten Normen des Kapitalgesellschaftsrecht die Durchsetzung der Ansprüche – wenn auch eben auf dem oftmals recht steinigen Weg der actio pro socio – möglich bleibt, erscheint eine solche Vertragsgestaltung nicht sittenwidrig. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit, einen besonderen Vertreter zu

__________ 23 LG Karlsruhe, NZG 2001, 169, 170; Eickhoff, Die Gesellschafterklage im GmbHRecht, 1988, S. 196 ff., 201; Grunewald, Die Gesellschafterklage in der Personengesellschaft und der GmbH, 1990: Vorrang des besonderen Vertreters ab Klageerhebung. 24 Dies hält auch Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 117 für zweckmäßig. 25 Hüffer (Fn. 7), § 46 Rz. 117; Spindler (Fn. 14), § 147 Rz. 1; Karsten Schmidt (Fn. 7), § 46 Rz. 161.

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Durchsetzung von Ersatzansprüchen durch besondere Vertreter

bestellen, auch missbraucht werden kann, eben weil der betroffene Gesellschafter kein Stimmrecht hat.

V. Zusammenfassung 1. Die Gesellschafter einer Personengesellschaft können in Analogie zu § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 Abs. 2 AktG einen besonderen Vertreter bestellen. 2. Diese Möglichkeit ist weder auf Publikumsgesellschaften beschränkt noch subsidiär gegenüber der actio pro socio. Sie besteht auch, wenn ein weiterer vertretungsberechtigter Gesellschafter vorhanden ist. 3. Als besonderer Vertreter kann auch ein Gremium bestellt werden. Dieses kann auch ad hoc gebildet und mit Nicht-Gesellschaften besetzt werden.

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Zur Reichweite des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens beim Formwechsel, dargestellt am Beispiel der Umwandlung von stimmrechtslosen Anteilen in Stimmrechte verkörpernde Anteile Inhaltsübersicht I. Einführung II. Umwandlungsrechtliche Grundlagen 1. Rechtsnatur und Rechtsfolgen des Formwechsels 2. Gestaltungsfreiheit der Anteilsinhaber einerseits, Notwendigkeit und Ausgestaltung des Gläubigerund Minderheitenschutzes andererseits a) Gläubigerschutz b) Schutz der Anteilsinhaber 3. Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stammaktien im Besonderen a) Zusammenspiel von §§ 204, 23 UmwG einerseits, § 194 Abs. 1 UmwG andererseits b) Wahrung des Kontinuitätsgebots

III. Formwechselbegleitende Satzungsänderungen im Rahmen des Freigabeverfahrens 1. Erstreckung des Freigabeverfahrens auf mit dem Formwechsel verbundene Satzungsänderungen a) Materiell-rechtliche Ausgangslage b) Verfahrensrechtliche Folgen der umwandlungsrechtlichen Einheit von Formwechsel und Satzung c) Spruchverfahren gemäß § 196 UmwG 2. Interessenabwägung gemäß §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG IV. Fazit

I. Einführung Martin Winter lag das Freigabeverfahren am Herzen. Bereits in dem Anfang 2003 erschienenen großen Beitrag in der Festschrift für Peter Ulmer hat er sich für die Erstreckung des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens auf strukturändernde Beschlüsse ausgesprochen1. Kurz darauf – vor nunmehr sechs Jahren – hat denn auch das UMAG mit der neuen Vorschrift des § 246a AktG das zuvor im Umwandlungs- und Konzernrecht erprobte und nach wie vor in § 16 Abs. 3 UmwG, § 319 Abs. 6 AktG geregelte Freigabeverfahren auf Maßnahmen der Kapitalbeschaffung und Kapitalherabsetzung sowie auf den Abschluss eines Unternehmensvertrags erstreckt2. Im 2006 erschienenen Liber amicorum

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1 Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699 ff. 2 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts vom 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802; näher zu den die Beschlussanfechtung betreffenden Teilen der Reform Winter in Liber amicorum Happ, 2006, S. 363 ff.; Veil, AG 2005, 567 ff.; Kort, BB 2005, 1577 ff.; Weißhaupt, WM 2004 705 ff.

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Wilhelm Happ hat Martin Winter das aktienrechtliche Freigabeverfahren gegen aufkommende Kritik verteidigt und sich zugleich für die Ausweitung des Spruchverfahrens ausgesprochen3. Als Mitglied des Handelsrechtsausschusses des DAV hat er, last but not least, nicht nur die Entstehung des UMAG, sondern auch die Entstehung des ARUG4, das bekanntlich das aktienrechtliche Freigabeverfahren ausgebaut, insbesondere das Bagatellquorum des § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG eingeführt und die Abwägungsklausel des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG neu gefasst hat, intensiv begleitet und hierbei namentlich auf die Ausgestaltung des Freigabeverfahrens Einfluss genommen5. Es liegt deshalb nahe, das Freigabeverfahren zum Gegenstand eines Martin Winter gewidmeten Beitrags zu machen. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass der Verfasser des Beitrags der derzeitigen Konzeption des Freigabeverfahrens nichts abgewinnen kann, ja seinerseits für eine Totalrevision des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts unter Ersetzung des Freigabeverfahrens durch ein beim Gericht der Hauptsache angesiedeltes Zwischenverfahren wirbt6. Denn nicht die rechtspolitische Würdigung des Freigabeverfahrens, sondern Überlegungen zu seiner Reichweite, mithin Fragen de lege lata, sollen den Gegenstand des Beitrags bilden. Konkret soll gefragt werden, ob das umwandlungsrechtliche Freigabeverfahren auch insoweit eröffnet ist, als mit dem Formwechsel Satzungsänderungen einhergehen, für die bei isolierter Betrachtung weder das aktien- noch das umwandlungsrechtliche Freigabeverfahren eröffnet wäre – eine Frage, die sich beim Formwechsel deshalb stellt, weil bei ihm der Umwandlungsbeschluss zugleich den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung des sich umwandelnden Rechtsträgers enthalten oder feststellen muss, und der im Folgenden am Beispiel der im Rahmen eines Formwechsels erfolgenden Umwandlung von stimmrechtslosen Anteilen (insbesondere also Vorzugsaktien) in gewöhnliche und damit stimmberechtigte Anteile – seien es Stammaktien oder Stimmrechte verkörpernde GmbH- oder Personengesellschaftsanteile – nachgegangen werden soll7.

__________ 3 Winter in Liber amicorum Happ, 2006, S. 363 ff. 4 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie vom 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479; näher zu den die Beschlussanfechtung betreffenden Teilen der Reform Drinhausen/Keinath, BB 2009, 64 ff.; Florstedt, AG 2009, 465 ff.; Koch/Wackerbeck, ZIP 2009, 1603 ff.; Rothley, GWR 2009, 312 ff.; Verse, NZG 2009, 1127 ff.; vgl. auch Baums/Drinhausen, ZIP 2008, 145 ff.; Noack, NZG 2008, 443 ff.; Paschos/Goslar, AG 2008, 605; Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145 ff. 5 Zum UMAG: Stellungnahme zum Referentenentwurf in ZIP 2004, 1230 ff.; Stellungnahme zum Regierungsentwurf in ZIP 2005, 774 ff. Zum ARUG: Stellungnahme zum Referentenentwurf in NZG 2008, 534 ff.; Stellungnahme zum Regierungsentwurf in NZG 2009, 96 ff. 6 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff.; Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710 ff. 7 Der Beitrag geht in Teilen auf eine Anfrage aus der Praxis zurück; Herrn Dr. Rainer Krause, Düsseldorf, sei für seine Anregungen gedankt.

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Zur Reichweite des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens beim Formwechsel

II. Umwandlungsrechtliche Grundlagen 1. Rechtsnatur und Rechtsfolgen des Formwechsels Nach § 190 Abs. 1 UmwG ist der Formwechsel dadurch gekennzeichnet, dass ein Rechtsträger eine andere Rechtsform erhält. Der Kreis der Rechtsträger, die ihre Rechtsform wechseln können, ist in § 191 Abs. 1 UmwG geregelt; er deckt sich weitgehend, aber nicht vollständig mit dem Kreis der Rechtsträger neuer Rechtsform. Die Rechtsfolgen des Formwechsels sind an die Eintragung der neuen Rechtsform in das Register, in dem der formwechselnde Rechtsträger eingetragen ist, geknüpft und bestehen nach § 202 Abs. 1 UmwG in dem Fortbestand des formwechselnden Rechtsträgers in der in dem Umwandlungsbeschluss bestimmten Rechtsform, in der Beteiligung der Anteilsinhaber des formwechselnden Rechtsträgers an dem Rechtsträger neuer Rechtsform, soweit nicht ausnahmsweise ihre Beteiligung nach §§ 190 ff. UmwG entfällt, in der Fortsetzung von an den Anteilen oder Mitgliedschaften des formwechselnden Rechtsträgers bestehenden Rechten Dritter an den Anteilen oder Mitgliedschaften des Rechtsträgers neuer Rechtsform und in der Heilung von Beurkundungsmängeln. An dem Formwechsel ist hiernach nur ein Rechtsträger beteiligt, der als solcher auch nach dem Formwechsel fortbesteht, indes nunmehr den auf die neue Rechtsform zugeschnittenen Vorschriften unterliegt. Eine Vermögensübertragung – sei es im Wege der Gesamtrechtsnachfolge oder im Wege der Neugründung mit Einzelrechtsnachfolge – findet nicht statt. Der Formwechsel ist hiernach durch die Kontinuität des Rechtsträgers und der Mitgliedschaft gekennzeichnet8. Ungeachtet seiner Identität unterliegt der Rechtsträger allerdings mit Eintragung des Formwechsels einer neuen „Rechtsordnung“; an die Stelle der auf die aufgegebene Rechtsform anwendbaren Vorschriften treten die auf die neue Rechtsform anwendbaren Vorschriften. Die dem Formwechsel hiernach eigene Diskontinuität der Rechtsordnung9 findet namentlich in den Vorschriften der §§ 218 Abs. 1 Satz 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG10 ihren Niederschlag. Soweit danach in dem Umwandlungsbeschluss auch der Gesellschaftsvertrag oder die Satzung des Rechtsträgers neuer Rechtsform enthalten oder festgestellt werden muss, wird nämlich dem Umstand Rechnung getragen, dass der Rechtsträger neuer Rechtsform einer neuen gesellschaftsvertraglichen oder satzungsmäßigen Grundlage bedarf, die an den für die neue Rechtsform geltenden ge-

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8 Näher Decher in Lutter/Winter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 202 Rz. 7, 10 ff. mit umf. Nachw. – Durchbrochen ist der Kontinuitätsgrundsatz im Falle der KGaA (s. §§ 221, 236, 247 Abs. 2, 255 Abs. 3 UmwG) und im Falle des VVaG (§ 294 Abs. 1 Satz 2 UmwG); diese Ausnahmen können für das weitere Vorgehen unberücksichtigt bleiben. 9 Decher (Fn. 8), § 202 Rz. 8 f.; zur Dogmatik des Formwechsels s. noch Mülbert, AcP 199 (1999), 55 ff.; K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1387; Wiedemann, ZGR 1999, 568 ff.; krit. Petersen, Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 97 ff.; Zöllner in FS Claussen, 1997, S. 423, 424 ff.; zu den Folgen des Formwechsels für im Gläubigerinteresse gebundene Ansprüche des formwechselnden Rechtsträgers s. OLG Dresden, ZIP 2009, 1382, 1383; Habersack/Schürnbrand, NZG 2007, 81 ff. 10 S. ferner §§ 225c, 234 Nr. 3, 243 Abs. 1 Satz 1, 253 Abs. 1 Satz 1, 263 Abs. 1, 276 Abs. 1, 285 Abs. 1, 294 Abs. 1 UmwG.

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setzlichen Vorschriften auszurichten ist, und dass diese Grundlage – anders als bei der Verschmelzung – nicht durch Vertrag, sondern – angesichts der Identität des Rechtsträgers – durch Beschluss der Anteilsinhaber herbeizuführen ist11. Zugleich bringen namentlich §§ 240 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG, soweit sie einen Beschluss mit satzungsändernden Mehrheit genügen lassen, zum Ausdruck, dass es sich bei der Feststellung der Satzung des neuen Rechtsträgers um eine Änderung der bisherigen Satzung, nicht dagegen um die erstmalige Schaffung der Satzung eines Rechtsträgers handelt12. 2. Gestaltungsfreiheit der Anteilsinhaber einerseits, Notwendigkeit und Ausgestaltung des Gläubiger- und Minderheitenschutzes andererseits Die Diskontinuität der auf den Rechtsträger anwendbaren Rechtsordnung begründet freilich Risiken für die Gläubiger und die Anteilsinhaber, insbesondere diejenigen, die gegen den Formwechsel gestimmt haben. a) Gläubigerschutz Was zunächst die Altgläubiger anbelangt, so müssen sie sich vor allem mit dem Umstand abfinden, dass die für den Rechtsträger neuer Rechtsform geltenden Gläubigerschutzmechanismen hinter denjenigen zurückbleiben können, die für den Rechtsträger alter Rechtsform galten13. Diese Gefahr besteht auch beim Formwechsel einer Kapitalgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft anderer Rechtsform, also etwa einer AG in eine GmbH. Zwar lässt er die Kapitalziffer, d. h. den Betrag des Grund- oder Stammkapitals, an sich unberührt14. Den Anteilsinhabern bleibt es indes unbenommen, im Rahmen der Beschlussfassung nach §§ 243 Abs. 1 Satz 1, 218 Abs. 1 UmwG innerhalb des durch §§ 197 Satz 1, 243 Abs. 2 UmwG gesteckten Rahmens auch solche Satzungsänderungen vorzunehmen, die durch das für die neue Rechtsform geltende Organisationsrecht nicht geboten, sondern fakultativer Art sind15. So können die Aktionäre im Zusammenhang mit dem Formwechsel einer AG in eine GmbH eine Herabsetzung des Kapitals auf die Mindestziffer des § 5 Abs. 1 GmbHG beschließen, obgleich es das UmwG und das GmbHG erlauben, an dem Betrag des bisherigen Grundkapitals auch nach Formwechsel in die GmbH festzuhalten. Derlei Gefahren für die Gläubiger tragen namentlich §§ 204, 22 UmwG durch Begründung eines Anspruchs auf Sicherheitsleistung Rechnung.

__________ 11 Vgl. Joost in Lutter/Winter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 218 Rz. 1; Schlitt in Semler/ Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 218 Rz. 1. 12 Zöllner (Fn. 9), S. 423, 434. 13 Umfassend hierzu Petersen (Fn. 9), S. 25 ff. 14 Näher dazu Happ/Göthel in Lutter/Winter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 243 Rz. 40 ff.; Mutter in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 243 Rz. 21 ff. 15 Zur Zulässigkeit fakultativer Satzungsänderungen Dirksen in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl. 2010, § 243 Rz. 9; Happ/Göthel (Fn. 14), § 243 Rz. 30; Mutter (Fn. 14), § 243 Rz. 11.

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Zur Reichweite des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens beim Formwechsel

b) Schutz der Anteilsinhaber Für den Schutz der Anteilsinhaber sorgt vor allem das Austrittsrecht gemäß § 207 UmwG. Dieses Austrittsrecht steht jedem Anteilsinhaber zu, der gegen den Umwandlungsbeschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. Mit ihm trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, dass es sich bei dem Formwechsel um eine wesentliche Strukturmaßnahme mit unmittelbaren Folgen für die mitgliedschaftliche Stellung der Anteilsinhaber handelt16. Das Austrittsrecht bildet deshalb gleichsam die Kehrseite des nach §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG auch für den Formwechsel geltenden Mehrheitsprinzips. Nach § 250 UmwG besteht das Austrittsrecht zwar nicht, wenn sich eine AG in eine KGaA oder umgekehrt eine KGaA in eine AG umwandelt. Doch erklärt sich dieser Ausschlusstatbestand allein daraus, dass die Rechtsstellung der Aktionäre in den genannten Fällen im Wesentlichen unverändert bleibt und der Verbleib in dem Rechtsträger deshalb auch im Falle eines Mehrheitsbeschlusses zugemutet werden kann17. Auch für den Formwechsel einer AG in eine KGaA gilt deshalb, dass die Anteilsinhaber die im Zusammenhang mit dem Formwechsel erfolgenden Satzungsänderungen grundsätzlich hinzunehmen haben. Einen weitergehenden Schutz erfahren die Anteilsinhaber nur ausnahmsweise; hervorzuheben sind im Zusammenhang mit dem Formwechsel einer AG in eine KGaA die besonderen Zustimmungserfordernisse nach § 193 Abs. 2, §§ 241 Abs. 2, 50 Abs. 2 UmwG, § 240 Abs. 2 UmwG und die Ansprüche der Inhaber von Sonderrechten nach §§ 204, 23 UmwG18. Hinzu kommt die durch § 196 UmwG eröffnete Möglichkeit, die Angemessenheit des Beteiligungsverhältnisses in einem Spruchverfahren überprüfen zu lassen. 3. Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stammaktien im Besonderen Vorbehaltlich umwandlungsrechtlicher Schutzinstrumentarien haben sich die Anteilsinhaber mit der neuen Rechtsform und ihren gesetzlichen und satzungsmäßigen Regelungen auch insoweit abzufinden, als ihre mitgliedschaftliche Stellung betroffen ist. Dies sei am Beispiel der Umwandlung von vom formwechselnden Rechtsträger ausgegebenen stimmrechtslosen Anteilen in Stimmrechte verkörpernde Anteile des Rechtsträgers neuer Rechtsform näher entfaltet: a) Zusammenspiel von §§ 204, 23 UmwG einerseits, § 194 Abs. 1 UmwG andererseits Aufschlussreich sind zunächst §§ 204, 23 UmwG. Danach sind den Inhabern von Rechten, die kein Stimmrecht gewähren, insbesondere den Inhabern von Anteilen ohne Stimmrecht, von Wandelschuldverschreibungen, von Gewinn-

__________ 16 Decher (Fn. 8), § 207 Rz. 1; Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 207 Rz. 1. 17 Happ/Göthel (Fn. 14), § 250 Rz. 2. 18 Zu §§ 204, 23 UmwG s. noch unter II. 3.

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schuldverschreibungen und von Genussrechten, gleichwertige Rechte zu gewähren. Damit im gedanklichen Zusammenhang steht es, dass nach § 194 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 5 UmwG in dem Umwandlungsbeschluss eine Beteiligung der bisherigen Anteilsinhaber an dem Rechtsträger nach den für die neue Rechtsform geltenden Vorschriften (§ 194 Abs. 1 Nr. 3 UmwG), Zahl, Art und Umfang der Anteile oder der Mitgliedschaften, welche die Anteilsinhaber durch den Formwechsel erlangen sollen (§ 194 Abs. 1 Nr. 4 UmwG), und die Rechte, die einzelnen Anteilsinhabern sowie den Inhabern besonderer Rechte wie Anteile ohne Stimmrecht, Vorzugsaktien, Mehrstimmrechtsaktien, Schuldverschreibungen und Genussrechte in dem Rechtsträger gewährt werden sollen (§ 194 Abs. 1 Nr. 5 UmwG), bestimmt werden müssen. Dabei besteht zwischen §§ 204, 23 UmwG einerseits und § 194 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 UmwG andererseits insoweit ein Überschneidungsbereich, als stimmrechtslose Anteile, vor allem also Vorzugsaktien, betroffen sind. Denn bei ihnen handelt es sich nach herrschender Meinung um „Anteile ohne Stimmrecht“ im Sinne der §§ 204, 23 UmwG19. Zugleich handelt es sich um „Anteile oder Mitgliedschaften“ im Sinne des § 194 Abs. 1 Nr. 4 UmwG, die überdies in § 194 Abs. 1 Nr. 5 UmwG gesondert angesprochen werden20. Während sich also aus §§ 204, 23 UmwG das Gebot herleiten lässt, den Inhabern stimmrechtsloser Anteile „gleichwertige Rechte“ zu gewähren, schreibt § 194 Abs. 1 Nr. 4, 5 UmwG vor, die „Art“ der Beteiligung der bisherigen Anteilsinhaber an dem Rechtsträger neuer Rechtsform und die Rechte, die den bisherigen Anteilsinhabern in dem Rechtsträger neuer Rechtsform gewährt werden sollen, schon im Umwandlungsbeschluss zu bestimmen. Dabei ist zwar das Gleichwertigkeitsgebot der §§ 204, 23 UmwG zu beachten. Doch wird ihm nach herrschender Meinung auch dann – und erst Recht – Rechnung getragen, wenn den Rechteinhabern mindestens gleichwertige, wenn nicht gar höherwertige Rechte eingeräumt werden21. Hierfür spricht neben teleologischen Erwägungen auch der Wortlaut der Vorschrift, verlangt dieser doch explizit die Einräumung „gleichwertiger“ – nicht: „gleichartiger“ – Rechte. Dass Stimmrechte verkörpernde Anteile stimmrechtslosen Anteilen zumindest gleichwertig sind, liegt auf der Hand. Zwar mag die Umwandlung der Anteile Vorzugsrechte vermögensrechtlicher Art zum Wegfall bringen, doch eröffnet § 196 UmwG insoweit das Spruchverfahren, mit dessen Hilfe eine Wertdivergenz geltend gemacht werden kann22. Auch dies belegt, dass namentlich die Auf-

__________ 19 Grunewald in Lutter/Winter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 23 Rz. 10; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl. 2010, § 23 Rz. 4; Kiem, ZIP 1997, 1627, 1631; offengelassen von Hüffer in FS Lutter, 2000, S. 1227, 1232. 20 Zur Erfassung der Vorzugsaktien auch durch § 194 Abs. 1 Nr. 4 UmwG Decher (Fn. 8), § 194 Rz. 14. 21 Grunewald (Fn. 19), § 23 Rz. 6; Marsch-Barner (Fn. 19), § 23 Rz. 8; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl. 2009, § 23 Rz. 10; Kiem, ZIP 1997, 1627, 1632; Krieger in FS Lutter, 2000, S. 497, 512. 22 Näher zur Problematik einer Verschiebung der Stimmrechtsverhältnisse bei Verschmelzung und Eingliederung Lutter in FS Mestmäcker, 1996, S. 943, 948 ff.; Timm/Schöne in FS Kropff, 1997, S. 315, 322 ff.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 320b Rz. 7 mit weit. Nachw.

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hebung von Vorzügen im Sinne der §§ 139 ff. AktG im Rahmen des Umwandlungsbeschlusses aktien- und umwandlungsrechtlich zulässig ist: Die Entscheidung, dass den bisherigen Vorzugsaktionären Anteile an dem Rechtsträger neuer Rechtsform zustehen, gehört nach § 194 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 UmwG zum Kreis der obligatorischen Bestandteile des Umwandlungsbeschlusses und damit zugleich zum Kreis der obligatorischen Bestandteile der Satzung des Rechtsträgers neuer Rechtsform. Die Ausgestaltung im Einzelnen hingegen unterliegt der Kontrolle im Spruchverfahren nach § 196 UmwG23. Dem wiederum entspricht es, dass für das Erfordernis eines Sonderbeschlusses entsprechend § 141 AktG im Rahmen des Formwechsels kein Raum ist; die umwandlungsrechtlichen Schutzinstrumentarien treten vielmehr an die Stelle des allgemeinen Sonderbeschlusserfordernisses24. b) Wahrung des Kontinuitätsgebots Auch der dem Formwechsel eigene und in §§ 194 Abs. 1 Nr. 3, 202 Abs. 1 Nr. 2 UmwG zum Ausdruck kommende Kontinuitätsgrundsatz, dem zufolge die Anteilsinhaber des formwechselnden Rechtsträgers an dem Rechtsträger nach den für die neue Rechtsform geltenden Vorschriften beteiligt sind, steht einer Verknüpfung des Formwechsels mit der Aufhebung der Vorzüge unter Umwandlung der Vorzugs- in Stammaktien schon deshalb nicht entgegen, weil es insoweit allein auf die Beteiligung als solche, nicht dagegen auf deren Ausgestaltung im Einzelnen ankommt. Zu Recht hat der II. Zivilsenat des BGH in seiner „Feldmühle“-Entscheidung vom 9.5.2005 ausgeführt, dass aus dem aus §§ 194 Abs. 1 Nr. 3, 202 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG abzuleitenden Gebot der Kontinuität der Mitgliedschaft bei der umgewandelten Gesellschaft lediglich folge, „dass Berechtigte, die zum Zeitpunkt der Eintragung des Formwechsels Anteilsinhaber sind, auch Mitglieder des Rechtsträgers neuer Rechtsform werden“25. Für den Formwechsel einer AG in eine GmbH & Co. KG hat er es deshalb genügen lassen, dass die Hauptversammlung mit einer Stimmenmehrheit von ¾ „einen der bisherigen Aktionäre – oder sogar einen im Zuge des Formwechsels neu hinzutretenden Gesellschafter (vgl. dazu BGHZ 142, 1, 5) – mit dessen Zustimmung zum Komplementär der formgewechselten zukünftigen KG wählt und die Aktionäre im Übrigen Kommanditisten werden“26. Hingegen widerspreche es dem Kontinuitätsgebot, wenn von den

__________ 23 Im Übrigen wäre dieses Spruchverfahren selbst dann eröffnet – und nach § 195 Abs. 2 UmwG deshalb eine gegen den Umwandlungsbeschluss gerichtete Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage als unzulässig abzuweisen –, wollte man entgegen der herrschenden Meinung davon ausgehen, dass die Gewährung von Stammaktien an die bisherigen Vorzugsaktionäre gegen §§ 204, 23 UmwG verstößt, vgl. Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl. 2010, § 204 Rz. 25. 24 Volhard in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 141 Rz. 20; Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 141 Rz. 25; für die Verschmelzung Grunewald (Fn. 19), § 65 Rz. 8; offengelassen von OLG Schleswig, ZIP 2007, 2162, 2163; a. A. Happ/ Göthel (Fn. 14), § 240 Rz. 7; Kiem, ZIP 1997, 1627, 1630. 25 BGH, ZIP 2005, 1318, 1319. 26 BGH, ZIP 2005, 1318, 1319 f.

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bisherigen Aktionären nur einer Kommanditist werde und dieser den Kommanditanteil treuhänderisch für die übrigen Aktionäre halten und später auf sie übertragen solle27. Eine Kontinuität der Mitgliedschaft sei nämlich, so der BGH, „nur im Fall einer weiterbestehenden, unmittelbaren mitgliedschaftlichen Beteiligung an der formgewechselten Gesellschaft gegeben“28. Allerdings hat der II. Zivilsenat des BGH in seinem „Freudenberg“-Urteil vom 15.11.1982 entschieden, dass der Gesellschaftsvertrag einer körperschaftlich strukturierten Kommanditgesellschaft zwar bestimmen kann, dass die Gesellschaft mit Dreiviertelmehrheit in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt werden kann, dass es indes die mitgliedschaftliche Treupflicht ausschließe, „weitere, nicht durch die Umwandlung selbst oder ihre Gründe notwendig veranlasste Veränderungen der bestehenden Gesellschaftsstruktur zu beschließen“; vielmehr seien der Charakter der Familiengesellschaft, die Grundzüge der Gesellschaftsorganisation, die Kompetenzen der Gesellschaftsorgane und die Rechtspositionen der einzelnen Gesellschafter im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen zu erhalten oder anzupassen und notwendige Veränderungen nur nach den Grundsätzen des geringstmöglichen Eingriffs vorzunehmen“29. In der bereits erwähnten „Feldmühle“-Entscheidung konnte der II. Zivilsenat offenlassen, ob diese Grundsätze der „Freudenberg“-Entscheidung auf die von ihm zu beurteilende umgekehrte Konstellation der Umwandlung einer AG in eine GmbH & Co. KG übertragbar sind; der Senat hat dies immerhin als „zweifelhaft“ bezeichnet und sich im Übrigen einer Stellungnahme enthalten können, da in dem von ihm zu beurteilenden Sachverhalt eine Treupflichtverletzung nicht ersichtlich war30. Tatsächlich ist indes beim Formwechsel im Allgemeinen kein Raum für die in der „Freudenberg“-Entscheidung angesprochenen Schranken der Gestaltungsfreiheit. Zurückzuführen ist diese Erkenntnis darauf, dass in der „Freudenberg“-Entscheidung über Zulässigkeit und Reichweite einer Mehrheitsklausel in einem KG-Vertrag zu entscheiden war, mithin über die Frage, ob und, wenn ja, inwieweit die Gesellschafter einer KG in Abweichung von dem Einstimmigkeitsgrundsatz des Personengesellschaftsrechts auch über Vertragsänderungen und Strukturmaßnahmen zum Mehrheitsprinzip übergehen können31. Diese Frage stellt sich jedenfalls insoweit nicht, als das für den sich umwandelnden Rechtsträger maßgebende Organisationsrecht, insbesondere also das Aktien- und GmbH-Recht, ohnehin dem Mehrheitsprinzip folgt und zudem das UmwG in seinen §§ 233 Abs. 2 Satz 1, 240 Abs. 1 vom Leitbild der Mehrheitsentscheidung ausgeht. Es wäre denn auch zweifelsfrei zulässig, außerhalb eines Formwechsels Vorzugs- in Stammaktien umzuwandeln; ein entsprechender Beschluss unterläge nach ganz herrschender und zutreffender Ansicht

__________ 27 28 29 30 31

Vgl. für den Formwechsel einer LPG in eine GmbH & Co. KG BGHZ 142, 1, 5. BGHZ 142, 1, 5. BGHZ 85, 350, 360 f. BGH, ZIP 2005, 1318, 1320. Zur Diskussion aus heutiger Sicht s. Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 119 Rz. 30 ff. mit umf. Nachw.

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keiner materiellen Beschlusskontrolle32. Gründe, die es auch nur nahelegen könnten, die entsprechende Aktienumwandlung im Rahmen eines Formwechsels einer Inhaltskontrolle zu unterstellen, sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Die besonderen gläubiger- und minderheitsschützenden Vorkehrungen des UmwG, darunter insbesondere das Austrittsrecht des § 207 UmwG und das Recht, das Beteiligungsverhältnis nach Maßgabe des § 196 UmwG überprüfen zu lassen, bringen klar zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber die Abwägung zwischen dem Gestaltungsinteresse der Mehrheit und den berechtigten Belangen der Minderheit selbst vorgenommen und für den aus seiner Sicht angemessenen Minderheitenschutz gesorgt hat33. Dann aber geht es nicht an, vermittels der allgemeinen Treupflicht zusätzliche Schranken der Mehrheitsherrschaft zu etablieren oder gar die gesetzliche Wertentscheidung in ihr Gegenteil zu verkehren34. Dies gilt im Übrigen auch für den Formwechsel von der AG in die KGaA (sowie umgekehrt); die Wertung des § 250 UmwG35 würde in ihr Gegenteil verkehrt, wollte man (auch oder nur) in den von dieser Vorschrift erfassten Fällen den Umwandlungsbeschluss einer Inhaltskontrolle unterziehen.

III. Formwechselbegleitende Satzungsänderungen im Rahmen des Freigabeverfahrens 1. Erstreckung des Freigabeverfahrens auf mit dem Formwechsel verbundene Satzungsänderungen a) Materiell-rechtliche Ausgangslage Bilden nach den bislang getroffenen Feststellungen im Rahmen der Beschlussfassung über den Formwechsel getätigte Änderungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung einen Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses, so stellt sich die Frage, ob sich das Freigabeverfahren auch auf diese Vertrags- oder Satzungsänderungen erstreckt. Diese Frage, der im Folgenden am Beispiel des Formwechsels einer AG oder KGaA nachzugehen ist36, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass für außerhalb eines Formwechsels beschlossene Satzungsänderungen, sieht man von den Fällen des § 246a AktG ab, im Allgemeinen weder das

__________ 32 Bormann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 141 Rz. 21; Wirth/Arnold, ZGR 2002, 859, 875 ff.; Senger/Vogelmann, AG 2002, 193, 210 ff.; s. ferner BGHZ 70, 117: nachträgliche Einführung von Höchststimmrechten bedarf keiner sachlichen Rechtfertigung; a. A. – für Erfordernis sachlicher Rechtfertigung des Beschlusses über die Aufhebung von Vorzügen – Krieger in FS Lutter, 2000, S. 497, 515 f. 33 Zur Entbehrlichkeit eines Sonderbeschlusses der Vorzugsaktionäre nach § 141 AktG s. die Nachw. in Fn. 24. 34 Allg. dazu Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 243 Rz. 27, § 293 Rz. 6 f. mit umf. Nachw.; s. ferner BGHZ 153, 47, 58 f. (Delisting); BGHZ 76, 352, 353 und BGHZ 103, 183, 190 (jew. Auflösung). 35 Dazu bereits unter II. 2. b). 36 Für den Formwechsel eines Rechtsträgers anderer Rechtsform und für mit ihm verbundene Änderungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung beanspruchen die nachfolgenden Ausführungen allerdings gleichermaßen Geltung.

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umwandlungsrechtliche noch ein aktienrechtliches Freigabeverfahren zur Verfügung steht. Gleichwohl ist die Erstreckung des Freigabeverfahrens auf im Rahmen des Formwechsels beschlossene Satzungsänderungen – mögen sie obligatorischer oder fakultativer Natur sein – die unweigerliche Konsequenz des Umstands, dass nach §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG die Satzung des neuen Rechtsträgers einen unverzichtbaren und zugleich untrennbaren Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses bildet37. Dies gilt in Sonderheit für die durch § 194 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 UmwG vorgegebenen Regelungen über die Beteiligung der bisherigen Aktionäre an dem Rechtsträger neuer Rechtsform, deren Überprüfung ausschließlich im Rahmen des Spruchverfahrens gemäß § 196 UmwG erfolgt. Die Diskontinuität der für den umgewandelten Rechtsträger geltenden Rechtsordnung macht die Vorstellung eines isolierten, das heißt von der Anpassung der Satzung an das nunmehr maßgebende Organisationsrecht befreiten Umwandlungsbeschlusses ganz und gar unmöglich; die Einheit von Formwechsel- und Satzungsänderungskomponente ist mit anderen Worten durch die gesetzliche Ausgestaltung des Formwechsels in §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1, § 202 Abs. 1 Nr. 2 UmwG sowie § 194 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 UmwG vorgegeben. b) Verfahrensrechtliche Folgen der umwandlungsrechtlichen Einheit von Formwechsel und Satzung Ist es danach materiell-rechtlich ausgeschlossen, dass der Umwandlungsbeschluss in zwei selbständige Bestandteile aufgespalten wird und die Anteilsinhaber zunächst über den Formwechsel als solchen und sodann über die Satzung Beschluss fassen, so muss dieser umwandlungsrechtlichen Einheit auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht und damit im Rahmen des Freigabeverfahrens nach §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG Rechnung getragen und das Freigabeverfahren auf den Umwandlungsbeschluss in seiner Gesamtheit bezogen werden. Die Erstreckung des Freigabeverfahrens auf die Satzungsänderungskomponente folgt nämlich schon daraus, dass sich die Beschlussmängelklage gleichfalls auf den Umwandlungsbeschluss in seiner Gesamtheit – und damit sowohl auf die Formwechsel- als auch auf die Satzungsänderungskomponente – bezieht. Da das Freigabeverfahren seinerseits die mit der Beschlussmängelklage verbundene Registersperre überwinden soll, muss sich sein Gegenstand mit demjenigen der Beschlussmängelklage decken. Damit zeigt sich zugleich, dass auch der „Ausnahmecharakter“ des Freigabeverfahrens der Erstreckung auf die Satzungsänderungskomponente nicht entgegensteht38. Bildet nämlich das Freigabeverfahren das Korrelat zur Registersperre, so ist entscheidend, dass bereits die Registersperre den Umwandlungsbeschluss in seiner Gesamtheit umfasst. Dann aber ist es nur konsequent, auch das Freigabeverfahren auf den durch die Registersperre betroffenen Beschluss – mithin auf den Umwandlungsbeschluss in seiner Gesamtheit – zu beziehen.

__________ 37 Näher dazu unter II. 1. 38 Betonung des Ausnahmecharakters bei LG München, AG 2008, 340, 341.

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Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die im Rahmen des Formwechsels erfolgende Umwandlung von Aktien (nebst der Aufhebung von Vorzügen) bei isolierter Betrachtung zwar nicht der Registersperre gemäß §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 2 UmwG unterläge, ihre Eintragung trotz anhängiger Beschlussmängelklage indes in das Ermessen des Registergerichts gestellt wäre. Denn an die Stelle der bei Anmeldung einer gewöhnlichen Satzungsänderung vorzunehmenden Ermessensentscheidung des Registergerichts tritt im Falle der Anfechtung des Formwechsels die nach Maßgabe der §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG zu treffende Freigabeentscheidung des Oberlandesgerichts, die zwar gebunden ist, die indes auf der Tatbestandsebene durch eine nach „freier Überzeugung“ des Gerichts vorgenommene Interessenabwägung charakterisiert ist. Der BGH hat den Gedanken der Einheit von Umwandlungsbeschluss und Satzungsänderung selbst insoweit fruchtbar gemacht, als nur eine wirtschaftliche Einheit besteht. Er hat nämlich für die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 246a AktG in der Fassung durch das UMAG entschieden, dass die Freigabeentscheidung nach § 16 Abs. 3 UmwG nicht nur die Verschmelzung selbst, sondern – in entsprechender Anwendung des § 16 Abs. 3 UmwG – auch den notwendigen „Annex“ der Kapitalerhöhung unumkehrbar wirksam macht39. Diese Rechtsprechung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil der Kapitalerhöhungsbeschluss keinen unselbständigen Bestandteil des Verschmelzungsbeschlusses bildet und deshalb allein der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen beiden Beschlüssen Anlass zur Erstreckung des § 16 Abs. 3 UmwG auf den – vor Inkrafttreten des § 246a AktG für sich genommen nicht freigabefähigen – Kapitalerhöhungsbeschluss gegeben hat. Bilden, wie im Falle des Formwechsels, die Umwandlungsmaßnahme und die sie begleitenden Änderungen der Satzung gar in rechtlicher Hinsicht eine untrennbare Einheit, so ist die Anwendung der §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG auf die – isoliert betrachtet nicht freigabefähigen – Satzungsänderungen erst Recht geboten. Insoweit bedarf es nicht einmal der analogen Anwendung der §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG; der Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist vielmehr aufgrund der rechtlichen Einheit beider Beschlusskomponenten unmittelbar eröffnet. Es kommt hinzu, dass eine – materiell-rechtlich ohnehin undenkbare – Separierung der Satzungsänderungskomponente von der Formwechselkomponente, sollte sie theoretisch möglich sein, in ihren Folgen für das Beschlussmängelverfahren ungereimt wäre. Es müsste dann nämlich der Formwechsel als solcher freigegeben, die Eintragung der mit ihm verbundenen Satzungsänderungen hingegen bis zur rechtskräftigen Erledigung des Hauptsachverfahrens aufgeschoben werden. Eine solche Aufspaltung könnte ohnehin nur für fakultative Änderungen in Betracht kommen, zu denen die Regelung, dass die Gesellschafter oder Aktionäre des sich umwandelnden Rechtsträgers auch an

__________ 39 BGH, NZG 2007, 714, 715; zuvor bereits OLG Hamm, Der Konzern 2005, 374, 376; s. ferner Marsch-Barner (Fn. 19), § 16 Rz. 55; Grunewald (Fn. 19), § 69 Rz. 22.

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dem Rechtsträger neuer Rechtsform beteiligt sind, nicht gehört40. Die Eintragung des Formwechsels ohne die gleichzeitige Eintragung obligatorischer Satzungsänderungen hingegen muss schon deshalb ausscheiden, weil sie zur Entstehung eines Rechtsträgers führte, dessen Satzung in Ermangelung der konstitutiv wirkenden Eintragung der obligatorischen Änderungen den gesetzlichen Vorgaben widerspräche. Genau dies aber soll durch die in §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG verwirklichte Einheit von Formwechsel und Satzungsfeststellung verhindert werden. Müssen somit jedenfalls obligatorische Satzungsänderungen auch dann, wenn für sie bei isolierter Betrachtung ein Freigabeverfahren nicht zur Verfügung stünde, an dem Freigabeverfahren des §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG teilnehmen, so bedürfte es, wollte man „fakultative“ Satzungsänderungen von §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG ausnehmen und zum Kreis dieser Satzungsregelungen die konkrete Ausgestaltung der Mitgliedschaft der Aktionäre rechnen, einer vom Registergericht vorzunehmenden Trennung zwischen fakultativen und obligatorischen Satzungsregelungen. Dass eine solche Trennung nicht durchweg mit hinreichender Verlässlichkeit erfolgen kann, liegt auf der Hand, zumal fakultative Satzungsänderungen vielfach im unmittelbaren Zusammenhang mit obligatorischen Satzungsänderungen stehen und der Formwechsel ohne die insgesamt vorgenommenen Satzungsänderungen möglicherweise nicht die erforderliche Mehrheit gefunden hätte. Die Einheitslösung der §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG ist somit auch und gerade unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten geboten, will man vermeiden, dass einzelne Bestandteile des Formwechsels eingetragen werden und hierdurch nach Maßgabe des § 202 Abs. 3 UmwG Wirksamkeit erlangen, andere Bestandteile hingegen einstweilen unwirksam sind. Eine Alternative zur Einheitsbetrachtung von Formwechsel und Satzungsfeststellung böte allein die Annahme, den Umwandlungsbeschluss, soweit sich mit ihm fakultative Satzungsänderungen verbinden, in seiner Gesamtheit dem Anwendungsbereich der §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG zu entziehen; dies aber wäre mit dem Willen des Gesetzgebers ganz offensichtlich unvereinbar. c) Spruchverfahren gemäß § 196 UmwG Unter Rechtsschutzgesichtspunkten bestehen schon deshalb keine Bedenken, weil an die Stelle der Ermessensentscheidung, die das Registergericht bei Anmeldung einer isoliert beschlossenen Satzungsänderung vorzunehmen hat, eine zumindest gleichwertige Interessenabwägung im Rahmen des Freigabeverfahren tritt41. Es kommt hinzu, dass die Überprüfung des Beteiligungsverhältnisses im Spruchverfahren durch eine Freigabeentscheidung des Oberlandesgerichts nicht beeinträchtigt wird – dies schon deshalb nicht, weil sich eine Klage gegen die Wirksamkeit des Umwandlungsbeschluss gemäß § 195 Abs. 2

__________ 40 Näher dazu unter II. 2. 41 Dazu bereits unter II. 1. b).

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UmwG nicht auf die Rüge stützen kann, die Umwandlung der Vorzugsaktien in Stammaktien benachteilige die Stamm- oder die Vorzugsaktionäre. 2. Interessenabwägung gemäß §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG In der Konsequenz der vorstehend getroffenen Feststellungen zur Erstreckung des Freigabeverfahrens auf mit dem Formwechsel verbundene fakultative Satzungsänderungen liegt es, dass im Rahmen der Abwägung gemäß §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG auch solche Nachteile der Gesellschaft und ihrer Anteilseigner zu berücksichtigen sind, die sich nicht isoliert aus einer verzögerten oder ausbleibenden Eintragung des Formwechsels ergeben, sondern auch, in erster Linie oder sogar ausschließlich mit der verzögerten bzw. ausbleibenden Vereinheitlichung der Aktiengattungen verbunden sind. Nach den genannten Vorschriften hat nämlich ein Freigabebeschluss vorbehaltlich einer besonderen Schwere des Rechtsverstoßes immer dann zu ergehen, wenn das alsbaldige Wirksamwerden des Formwechsels vorrangig erscheint, weil die vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für den sich umwandelnden Rechtsträger und seine Anteilsinhaber nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den Antragsgegner überwiegen. Auch insoweit ist zu berücksichtigen, dass Formwechsel- und Satzungsänderungskomponente eine nicht nur wirtschaftliche, sondern zugleich rechtliche – und zudem untrennbare – Einheit bilden. Die den Formwechsel kennzeichnende Diskontinuität der Rechtsordnung bildet gleichsam die zwangsläufige und von den Anteilsinhabern angestrebte Rechtsfolge der Umwandlung. Sie kommt auch in § 202 Abs. 1 Nr. 2 UmwG zum Ausdruck, der bestimmt, dass die Anteilsinhaber des formwechselnden Rechtsträgers an dem Rechtsträger „nach den für die neue Rechtsform geltenden Vorschriften“ beteiligt sind. Zu diesen Vorschriften gehören auch die Bestimmungen der Satzung in der gemäß §§ 218 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG festgestellten Fassung, die wiederum den Inhalt des Umwandlungsbeschlusses, insbesondere nach Maßgabe von § 194 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 5 UmwG, abbilden, ohne dass es darauf ankäme, inwieweit die beschlossenen Satzungsänderungen obligatorischer oder fakultativer Natur sind42. Lässt sich aber die Anpassung der Satzung an das auf den Rechtsträger neuer Rechtsform anwendbare Organisationsrecht von dem eigentlichen Umwandlungsvorgang nicht trennen, so kann dies nur bedeuten, dass auch die mit dem Scheitern oder der Verzögerung sämtlicher Satzungsänderungen verbundenen Nachteile im Rahmen der Abwägung nach §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 UmwG zu berücksichtigen sind. Dies hat selbst dann zu gelten, wenn die Satzungsänderung, deren verzögerte Eintragung Nachteile mit sich brächte, nicht an die neue Rechtsform gebunden ist, sondern auch unabhängig von dem Formwechsel hätte beschlossen werden können.

__________ 42 Vgl. Meister/Klöcker (Fn. 23), § 202 Rz. 40.

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IV. Fazit Soweit §§ 218 Abs. 1 Satz 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG vorschreiben, dass in dem Umwandlungsbeschluss der Gesellschaftsvertrag oder die Satzung des Rechtsträgers neuer Rechtsform enthalten sein oder festgestellt werden muss, stellen sie klar, dass sich der Formwechsel aufgrund des Umstands, dass an ihm nur ein Rechtsträger beteiligt ist, in einem Beschluss des sich umwandelnden Rechtsträgers erschöpft, ein Vertrag über den Formwechsel also nicht geschlossen wird. Darüber hinaus bringen die Vorschriften zum Ausdruck, dass der Abschluss des Gesellschaftsvertrags oder die Feststellung der Satzung des neuen Rechtsträgers einen unverzichtbaren und zugleich untrennbaren Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses bildet, der dazu dient, die im Rahmen des Formwechsels gesetzlich gebotenen oder von den Anteilsinhabern gewünschten Anpassungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung sicherzustellen. Dies schließt es aus, den Umwandlungsbeschluss in zwei selbständige Bestandteile aufzuspalten und die Anteilsinhaber zunächst über den Formwechsel als solchen und sodann über Änderungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung Beschluss fassen zu lassen43. Formwechselkomponente und Vertrags- oder Satzungsänderungskomponente bilden vielmehr eine untrennbare Einheit. Das UmwG sorgt für den angemessenen Schutz sowohl der Gläubiger als auch der Anteilseigner und schließt zugleich einen Rückgriff auf die für außerhalb eines Formwechsels getätigte Vertrags- oder Satzungsänderungen geltenden Schutzmechanismen aus; dies gilt auch für die mitgliedschaftliche Stellung der Aktionäre betreffende Änderungen, darunter insbesondere die Umwandlung von Vorzugsaktien in Stammaktien. Der materiell-rechtlichen Einheit von Formwechsel und Vertrags- oder Satzungsänderung ist auch im Rahmen des umwandlungsrechtlichen Freigabeverfahrens Rechnung zu tragen. Es erstreckt sich nicht nur auf den Formwechsel als solchen, sondern auch auf die mit dem Formwechsel verbundenen Vertrags- oder Satzungsänderungen, obgleich für diese, wenn sie isoliert als Vertrags- oder Satzungsänderung beschlossen würden, weder das umwandlungsrechtliche noch das allgemeine aktienrechtliche Freigabeverfahren zur Verfügung stünde. Dies wiederum hat zur Folge, dass im Rahmen der Abwägung gemäß §§ 198 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG auch solche Nachteile des sich umwandelnden Rechtsträgers und seiner Anteilseigner zu berücksichtigen sind, die sich nicht isoliert aus einer verzögerten oder ausbleibenden Eintragung des Formwechsels ergeben, sondern auch, in erster Linie oder sogar ausschließlich mit der verzögerten bzw. ausbleibenden Eintragung der den Formwechseln begleitenden Vertrags- oder Satzungsänderungen verbunden sind.

__________ 43 Schlitt (Rz. 11), § 218 Rz. 5; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl. 2009, § 218 Rz. 3; Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, 2009, § 218 Rz. 11; vgl. auch LG Bonn, AG 1991, 114 betr. § 369 AktG a. F.: bedingungsmäßige Verknüpfung des Umwandlungsbeschlusses mit – nach altem Recht noch zulässiger – gesonderter Beschlussfassung über die Satzung des neuen Rechtsträgers.

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Zur Reichweite anwendbaren Gründungsrechts beim Formwechsel Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Das Problem der Verweisung in § 197 Abs. 1 Satz 1 UmwG III. Anwendung des § 30 AktG hinsichtlich der Bestellung eines Abschlussprüfers? 1. Formwechsel einer bislang nicht prüfungspflichtigen in eine prüfungspflichtige Gesellschaft 2. Formwechsel einer prüfungspflichtigen Gesellschaft in eine AG oder KGaA a) Interpretation des Wortlautes von § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG b) Qualifizierung des mit dem Abschlussprüfer bestehenden Rechtsverhältnisses aa) Das Identitätsprinzip und der Fortbestand schuldrechtlicher Verhältnisse bb) Die Rechtsbeziehung zum Abschlussprüfer als schuldrechtliches Verhältnis c) Keine Verdrängung eines bestellten Abschlussprüfers durch einen neuen Abschlussprüfer d) Keine Umgehungsgefahr e) Kein entgegenstehendes Gemeinschaftsrecht 3. Formwechsel einer bereits prüfungspflichtigen Gesellschaft in eine

GmbH oder andere nach § 264a HGB prüfungspflichtige Gesellschaft 4. Ergebnis IV. Formerfordernisse im Zusammenhang mit dem Umwandlungsbeschluss 1. Notarielle Beurkundung des Umwandlungsbeschlusses, § 193 UmwG 2. Beurkundungsfragen, die sich aus allgemeinem Gründungsrecht ergeben a) Gesetzlich geregelter Dispens von Formvorschriften b) Erleichterungen des Formerfordernisses bei sonstigen Fallgruppen des Formwechsels c) Regelungslücken betreffend die Beurkundung beim Formwechsel der Kommanditgesellschaft aa) Die Regelungslücke in § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG bb) Das Argument aus § 243 UmwG cc) Verbleibende praktische Probleme dd) Generelle Geltung der Formvorschriften V. Versicherung der Anmeldenden gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 8 Abs. 2 GmbHG VI. Schlussbemerkung

Der nachfolgende Beitrag ist Martin Winter gewidmet, dem Freund und Kollegen in Erinnerung an viele Jahre gemeinsamer Tätigkeit, die stets geprägt war von seinem anwaltlichen Engagement, seinem Sinn für Fairness und der Klarheit und Präzision seines wissenschaftlichen Denkens. Konkret soll dabei zurückgegriffen werden auf die gemeinsame Arbeit im Handelsrechtsausschuss

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des DAV bei der Erarbeitung der verschiedenen Stellungnahmen zum Umwandlungsrecht1.

I. Vorbemerkung Das 1994 in Kraft getretene Umwandlungsrecht und seine Zusammenfassung der bisher in verschiedenen Gesetzen enthaltenen Kodifikationen ist – zu Recht – vielfach gelobt worden. Statt vieler Autoren sei hier Hommelhoff genannt, der dem Entwurf in seiner Gesamtkonzeption ebenso wie in seinen Regelungsdetails die gute Tradition deutscher Gesetzgebung zum Gesellschaftsrecht seit mehr 100 Jahren attestiert hat2. Besonders hervorgehoben wurde im Schrifttum das Unterfangen, die nach altem Recht in verschiedenen Gesetzen enthaltenen Konzepte der übertragenden Umwandlung und des Formwechsels in einem einzigen Rechtsinstitut, dem identitätswahrenden Formwechsel, zusammenzufassen. Der Autor des Diskussionsentwurfs hatte dies noch in der dogmatisch mutigen Formulierung des § 266 Nr. 2 Diskussionsentwurf (der Vorläuferbestimmung zu § 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG) wie folgt auf die Formel gebracht: „Das Vermögen des formwechselnden Unternehmens einschließlich der Verbindlichkeiten ist Vermögen des Unternehmens neuer Rechtsform.“

Insbesondere K. Schmidt hat in seiner Würdigung der Konzeption des neuen Umwandlungsgesetzes den Formwechsel als „die reifste, technisch perfekte Lösung“ gewürdigt3. Priester hat das später relativiert, indem er feststellte, dass die dogmatisch schwierigsten Probleme des neuen Umwandlungsrechtes nicht die Verschmelzung, sondern der Formwechsel aufwirft. Er hat dabei insbesondere auf das durch § 197 Satz 1 UmwG angelegte Spannungsverhältnis zwischen dem Identitätskonzept des Formwechsels und dem Gründungsrecht hingewiesen4. Schon früher hatte der Handelsrechtsausschuss des DAV auf diese sich aus der Formulierung von § 197 Satz 1 UmwG und der Vorläuferbestimmung im Diskussionsentwurf ergebende Problematik hingewiesen5. Beispielhaft sei zitiert:

__________ 1 Handelsrechtsausschuss des DAV, Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts vom Juli 1990; Handelsrechtsausschuss des DAV, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts vom 13. März 1993, WM 1993, Sonderbeilage Nr. 2/1993; Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes vom August 2006, NZG 2006, 737 ff. 2 Hommelhoff, ZGR 1993, 452. 3 K. Schmidt, ZGR 1990, 580, 594. 4 Priester in FS Zöllner, 1998, I, S. 449. 5 S. Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Diskussionsentwurf, 1991, Rz. 167 ff.; Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Referentenentwurf, WM-Sonderbeilage Nr. 2/1993, Rz. 161 ff.; ähnlich Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes vom August 2006, NZG 2006, 737, 743

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Zur Reichweite anwendbaren Gründungsrechts beim Formwechsel „… Hier ergeben sich für den Rechtsanwender, insbesondere aber für den Praktiker, der die mannigfaltigen Fälle des Formwechsels zu beraten hat, Schwierigkeiten und Fallstricke, die vermieden werden sollten. Diese Schwierigkeiten folgen zum Beispiel daraus, dass zunächst einmal in jedem Falle eines Formwechsels das gesamte Instrumentarium der Gründungsvorschriften der betreffenden neuen Rechtsform heranzuziehen ist und dabei geprüft werden muss, was das Gesetz im konkreten Fall mit der „entsprechenden“ Anwendung meint, insbesondere, ob es damit nur dem Umstand Rechnung tragen will, dass es sich nicht um die Gründung eines neuen Unternehmens handelt, oder ob damit vielleicht auch noch etwas anderes angeordnet werden soll“6.

Seit dem Inkrafttreten des Umwandlungsgesetzes und der nachpublizierten Literatur ist viel Zeit vergangen, in der einige der wichtigsten Fragen materieller Art (z. B. die der Reinvermögensdeckung und der Volleinzahlung der Einlagen) in der Literatur zu mehrheitlichen Auffassungen geführt haben. Andere wurden auch durch den Gesetzgeber geklärt, z. B. die Klarstellung der Anwendung von § 31 AktG (§ 197 Satz 3 UmwG). Wie sich aber aus einem Blick in die neuere Literatur7 ergibt, sind viele der sich beim Formwechsel um die Anwendung des Gründungsrechts (§ 197 Satz 1 UmwG) rankenden Fragen nach wie vor offen. Es handelt sich nicht um Fragen, deren Beantwortung für die Wirksamkeit des Umwandlungsbeschlusses von Bedeutung ist, sondern überwiegend um die formelle und technische Ausgestaltung des Umwandungsvorganges. Im Folgenden soll auf einige dieser nicht einer endgültigen Klärung zugeführten Themen eingegangen werden.

II. Das Problem der Verweisung in § 197 Abs. 1 Satz 1 UmwG Das UmwG 1994 hat für die Regelung des Formwechsels (anders als im Fall der im ersten bis vierten Buch geregelten Universalrechtsnachfolgen) von einer in sich geschlossenen systematischen Regelung abgesehen, sondern sich stattdessen der Gesetzestechnik der Verweisung bedient8. Sedes materiae ist die Vorschrift von § 197 Satz 1 UmwG, mit der der Gesetzgeber durch eine Außenverweisung die Einhaltung der möglicherweise strengeren Gründungsvorschriften der jeweils anwendbaren Gesetze auch beim Formwechsel sicherstellen und damit die Gläubiger des formwechselnden Rechtsträgers schützen wollte9. Eine solche Außenverweisung auf die Vorschriften anderer Gesetze wirft jedoch Probleme auf. Es fragt sich nämlich stets, ob die Regelung, auf die verwiesen wird und die in einem anderen Sachzusammenhang steht, uneinge-

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Rz. 28. Der Anregung einer Einschränkung des § 197 UmwG ist der Gesetzgeber nur durch die Klarstellungen in § 197 Satz 3 und § 245 Abs. 2 Satz 3 UmwG nachgekommen. Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Diskussionsentwurf, 1991, Rz. 169. S. z. B. Petersen in KölnKomm. UmwG, § 197 UmwG Rz. 5 ff.; Mayer in Widmann/ Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 7 ff. Zu Nutzen und Last der Verweisungstechnik im Recht des Formwechsels s. K. Schmidt, ZGR 1990, 580, 584 f.; Martens, ZGR 1999, 548, 553 ff. Vgl. schon die RegBegr. zu § 197 UmwG, abgedruckt bei Ganske, UmwR, S. 220.

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schränkt, eingeschränkt oder nur in „entsprechender“ Weise auf den von der Verweisungsvorschrift erfassten Regelungsbereich anwendbar ist10. Zum Teil enthalten Außenverweisungen einen expliziten Hinweis darauf, dass das Verweisungsobjekt nur entsprechend anzuwenden ist. Für das Recht des Formwechsels hat sich der Gesetzgeber entschieden, eine Außenverweisung ohne einen klarstellenden Hinweis auf Art und Umfang der Anwendung der Verweisungsobjekte in das Gesetz aufzunehmen. § 197 Abs. 1 UmwG bestimmt insoweit pauschal und einschränkungslos die Anwendung der für die neue Rechtsform geltenden Gründungvorschriften, soweit sich aus dem 5. Buch nichts anderes ergibt. Die Vorschrift entspricht inhaltlich der Vorgängernorm des § 378 AktG a. F., die auf enumerativ genannte Gründungsvorschriften des Aktienrechts verwies, allerdings deren „sinngemäße“ Geltung bestimmte. In Anlehnung an diesen Wortlaut ordnete noch § 261 Satz 1 des Diskussionsentwurfs die „entsprechende“ Anwendung der Gründungsvorschriften an. Auch in anderen Bestimmungen sprach der Entwurfstext von „entsprechender“ Anwendung (vgl. nur §§ 279 Satz 1, 304 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 des Diskussionsentwurfs). Der Referentenentwurf hat mit einer Ausnahme (vgl. einerseits § 286 des Diskussionsentwurfs und andererseits § 200 Abs. 2 UmwG) das Wort „entsprechend“ gestrichen und in der Begründung des Referentenentwurfs die Passagen des Diskussionsentwurfs ausgelassen, die von der „entsprechenden“ Anwendung sprachen. Für das Motiv der Streichung des Wortes „entsprechend“ im Referentenentwurf und der entsprechenden Formulierung im Regierungsentwurf finden sich in der Begründung keine Hinweise. Möglicherweise hat sie ihre Ursache in der Überlegung, dass von „entsprechender Anwendung“ vielfach bei der Lückenausfüllung durch Analogie die Rede ist. Von der Ausfüllung einer planwidrigen Regelungslücke kann in § 197 UmwG aber keine Rede sein. Der Gesetzgeber hat vielmehr den Regelungsbedarf gesehen, aber darauf verzichtet, im Recht des Formwechsels auf die jeweils anwendbaren Gründungsvorschriften explizit zu verweisen oder sie gar verbal auszuformulieren. Er hat sich – so möchte man sagen – die Arbeit insoweit erleichtert, als er in § 197 UmwG durch den pauschalen Außenverweis auf die für die neue Rechtsform geltenden Gründungsvorschriften den Rechtsanwender veranlasst hat, selbst zu ermitteln, welche nach Sinn und Zweck des Formwechsels in Betracht kommenden und nicht durch das Umwandlungsgesetz geregelten Gründungsvorschriften anzuwenden sind. Das kann man als „entsprechende“ Anwendung bezeichnen. Denn auch wo dies nicht im Gesetz ausdrücklich erwähnt ist, kann die Anwendung der Vorschrift, auf die in der Verweisungsnorm verwiesen wird, immer nur eine „entsprechende“ sein11. Die Regierungsbegründung lässt das offen, wenn sie zu § 197 UmwG klarstellt, dass die Gründungsvorschriften nicht uneingeschränkt für anwendbar erklärt werden, weil dies praktisch einer Neugründung gleichkomme, die durch den Formwechsel gerade vermieden

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10 Martens, ZGR 1999, 548, 549. 11 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 82.

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werden soll und deshalb der „Grundsatz der Anwendbarkeit des Gründungsrechts in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt werden“ müsse12. In der praktischen Rechtsanwendung ist im Hinblick auf den unklaren Gesetzeswortlaut zu ermitteln, was der Gesetzgeber im jeweiligen Kontext mit der Anwendung der in Betracht zu ziehenden Gründungsvorschriften gemeint hat. Auf einige dieser Probleme, die sich aus einem bislang ungeklärten Zusammenwirken von Umwandlungsrecht und Gründungsvorschriften ergeben und die im Schrifttum noch nicht ausdiskutiert, für die Praxis aber von Bedeutung sind, soll im Folgenden eingegangen werden. Es handelt sich um folgende Themenbereiche: – Muss nach § 30 AktG im Zusammenhang mit dem Beschluss über den Formwechsel stets auch ein Abschlussprüfer bestellt werden (III.)? – Gelten die für die Gründung einer Gesellschaft und die Feststellung der Satzung/des Gesellschaftsvertrages bestehenden Formvorschriften auch für den Umwandlungsbeschluss (IV.)? – Sind die Vorschrift des § 37 AktG, § 8 Abs. 2 GmbHG bezüglich der Anmeldeversicherung anwendbar (V.)?

III. Anwendung des § 30 AktG hinsichtlich der Bestellung eines Abschlussprüfers? Nach den Bestimmungen des HGB sind Kapitalgesellschaften mit Ausnahme kleiner Kapitalgesellschaften verpflichtet, ihre Jahresabschlüsse und Lageberichte durch einen Abschlussprüfer prüfen zu lassen (§ 316 Abs. 1 Satz 1 HGB). Gleiches gilt für Personengesellschaften, bei denen nicht mindestens ein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist (vgl. § 264a Abs. 1 HGB). Die Stellung als gesetzlicher Abschlussprüfer wird nach herrschender Meinung durch Wahl und Auftragserteilung geschaffen13. Zusätzlich bedarf es der Annahme des Prüfungsauftrages durch den Gewählten14. Das AktG sieht dabei vor, dass bei einer Gründung der erste Abschlussprüfer durch die Gründer der Gesellschaft zu bestellen ist (§ 30 Abs. 1 Satz 1 AktG). Erst in den Folgejahren obliegt diese Pflicht der Hauptversammlung15. Eine dem § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG entsprechende Vorschrift fehlt im GmbH-Recht. Hier bleibt es bei der Geltung der allgemeinen handelsrechtlichen Bestimmungen der §§ 316 ff. HGB und speziell des § 318 HGB. Danach ist für die Bestellung des Abschlussprüfers grundsätzlich die Gesellschafterversammlung zuständig.

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12 Ganske, UmwR, S. 220. 13 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 187 m. w. N. 14 Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 318 HGB Rz. 27; Hopt/Merkt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 2; Förschle/Heinz in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 14. 15 Vgl. nur Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 318 HGB Rz. 4; Förschle/ Heinz in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 4.

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Die Geltung der Gründungsvorschrift des § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG im Rahmen des Formwechsels ist durch das Umwandlungsgesetz nur hinsichtlich des Aufsichtsrates eindeutig beantwortet. § 203 AktG stellt sich für den Aufsichtsrat als umwandlungsrechtliche Sonderregelung dar, die die gemäß § 197 Satz 1 UmwG angeordnete allgemeine Anwendung der Gründungsvorschriften verdrängt. Nach § 203 AktG ist eine formwechselnde Gesellschaft dann von der Neubestellung eines Aufsichtsrates entbunden, wenn das Kontrollgremium im Rechtsträger neuer Rechtsform „in gleicher Weise wie bei dem formwechselnden Rechtsträger“ zu bilden ist. Ein Blick auf die Literatur zeigt, dass diese Vorschrift im Vergleich mit anderen Bereichen des Formwechsels deutlich weniger Unsicherheiten für die Praxis mit sich bringt16. Schwieriger gestaltet sich die Frage, wie die Gründer eines Rechtsträgers neuer Rechtsform im Hinblick auf eine – etwaige – Bestellung eines Abschlussprüfers zu verfahren haben. Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf die aktienrechtliche Gründungsvorschrift des § 30 AktG. Ordnet § 197 UmwG die Anwendung dieser Vorschrift auch dann an, wenn ein solcher Abschlussprüfer bereits für den Rechtsträger alter Rechtsform bestellt war? Bei der Prüfung wird man differenzieren müssen zwischen den einzelnen Rechtsformen alter und neuer Rechtsträger bzw. der Prüfungspflicht der jeweiligen Gesellschaft. 1. Formwechsel einer bislang nicht prüfungspflichtigen in eine prüfungspflichtige Gesellschaft Keine besonderen Probleme wirft die Konstellation auf, in der eine bislang nicht nach den §§ 316 ff. HGB prüfungspflichtige Gesellschaft in einen Rechtsträger umgewandelt wird, der seinerseits den handelsrechtlichen Prüfungspflichten unterliegt. Im Fall des Formwechsels in eine AG haben die Gründer deshalb einen ersten Abschlussprüfer zu bestellen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 AktG). Dieser Beschluss bedarf der einfachen Stimmenmehrheit, soweit nicht in der Satzung besondere Festsetzungen getroffen wurden17. Beim Formwechsel in eine andere prüfungspflichtige Gesellschaft bleibt es bei der allgemeinen Vorgabe des § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB. Die Bestellung eines Abschlussprüfers durch die Gründer ist jedoch kein zwingendes Erfordernis zur Wirksamkeit des Formwechsels18. Bestellen die Gründer keinen Abschlussprüfer, so ist der Formwechsel gleichwohl wirksam, wenn der Registerrichter ihn einträgt. Der Registerrichter wird aber im Zweifel die den Gründern gleichstehenden Gesellschafter (§ 219 UmwG) auf ihre

__________ 16 Vgl. z. B. die Kommentierungen von Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 203 UmwG oder Petersen in KölnKomm. UmwG, § 203 UmwG. 17 Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 27 i. V. m. Rz. 6; Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 6; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 30 AktG Rz. 44. 18 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 10; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 30 AktG Rz. 47; Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 29; Gerber in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 19.

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gesetzliche Verpflichtung zur Bestellung eines Abschlussprüfers hinweisen. Daher kann es zu Problemen kommen, wenn am Formwechsel viele „Gründer“ beteiligt waren, die man nach der Gesellschafterversammlung nicht mehr zu einer nach den Bestimmungen des Gesellschaftsstatuts des Rechtsträgers neuer Rechtsform beschlussfähigen Gründerversammlung bringen kann. Notfalls wird das Gericht nach Maßgabe von § 318 Abs. 4 HGB den Abschlussprüfer bestellen. 2. Formwechsel einer prüfungspflichtigen Gesellschaft in eine AG oder KGaA Soweit eine prüfungspflichtige Gesellschaft, die gemäß den handelsrechtlichen Bestimmungen bereits einen Abschlussprüfer für das laufende Geschäftsjahr bestellt hat, sich im Wege des Formwechsels in eine AG oder KGaA umwandelt, wirft die Norm des § 197 Satz 1 UmwG die Frage auf, ob entsprechend der Anordnung von § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG die Gründer – erneut – einen Abschlussprüfer zu bestellen haben. Dazu wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG auch dann zur Bestellung eines Abschlussprüfers durch die Gründer verpflichte, wenn der Rechtsträger alter Rechtsform bereits einen Abschlussprüfer bestellt hatte19. Nach dieser Ansicht steht der in § 197 UmwG enthaltene Ausschluss der Gründungsvorschriften über den ersten Aufsichtsrat sowie die Mindestanzahl der Gründer einer Anwendbarkeit des § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG bezüglich der Bestellung des Abschlussprüfers nicht entgegen. Der Gesetzgeber habe deutlich gemacht, dass ein weitergehender Ausschluss nicht gewollt sei. Deshalb müsse § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG jedenfalls in dem Umfang angewendet werden, wie er sich nicht auf den Aufsichtsrat der AG beziehe20. Vorsichtig äußert sich Decher21, der meint, dass die Bestellung des Abschlussprüfers fortbestehen „sollte“. Was mit dem im Zeitpunkt des Formwechsels bereits beauftragten und möglicherweise bereits tätig gewordenen Abschlussprüfer geschehen soll, lässt das Schrifttum unerörtert. Dies mag seinen Grund darin haben, dass stillschweigend im Falle einer Neubestellung von der – wie auch immer gearteten – Aufhebung der Bestellung ausgegangen wird. In den Handbüchern für die Praxis lassen sich Stellungnahmen finden, aus denen geschlossen werden kann, dass eine „Neubestellung“ erforderlich oder jedenfalls problematisch sein könnte. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass gemäß § 197 Satz 1 UmwG i. V. m. § 245 Abs. 1 Satz 1 UmwG durch die Gründer ein Abschlussprüfer zu bestellen, es aber zweckmäßig sei, den Abschlussprüfer bereits bei dem Beschluss über den Formwechsel zu bestel-

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19 So Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 176; Bärwaldt in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 197 UmwG Rz. 46; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 197 UmwG Rz. 40. 20 Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 175 ff.; Bärwaldt in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 197 UmwG Rz. 46. 21 Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 24.

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len22. Derselben Ansicht scheinen auch Schmidt-Diemitz/Moszka23 und Rawert24 zu sein, die in ihrem Vorschlag für den Formwechsel einer GmbH in eine AG die Bestellung des Abschlussprüfers vorsehen. Im Zusammenhang mit dem Formwechsel der Fresenius Medical Care AG in eine KGaA enthielt der Vorschlag der Verwaltung für den Formwechselbeschluss die Anregung, den bisherigen Abschlussprüfer zum Abschlussprüfer für das laufende Geschäftsjahr zu bestellen25. Im Umwandlungsbericht des Vorstandes wurde hierzu darauf hingewiesen, dass dieser Vorschlag der Verwaltung, nach welchem der bisherige Abschlussprüfer „nochmals als solcher bestellt“ werde, aus Gründen der Rechtsicherheit erfolge26. In vorstehendem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass eine fehlerhafte Bestellung eines (ersten) Abschlussprüfers nach § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG die Wirksamkeit der Gründung nicht beeinträchtigt27. Dies bedeutet, dass ein ansonsten wirksamer Formwechsel nicht durch eine fehlerhafte Bestellung eines Abschlussprüfers tangiert wird. Es ist aber ratsam, eine aus rechtlicher Vorsorge erfolgende Bestelllung des Abschlussprüfers nicht in den Inhalt des eigentlichen Umwandlungsbeschlusses einzubeziehen28. Die genannten Auffassungen in Literatur und Praxis zur Notwendigkeit der Bestellung eines Abschlussprüfers vermögen nicht zu überzeugen. Eine Neubestellung ist weder sinnvoll noch mit Blick auf § 197 Satz 1 UmwG zwingend geboten. a) Interpretation des Wortlautes von § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG Bereits der Wortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG legt es nahe, dass ungeachtet des ausdrücklichen Ausschlusses der Gründungsvorschriften über den ersten Aufsichtsrat sowie der Mindestanzahl der Gründer durch diese Norm im Fall des Formwechsels die Bestellung eines Abschlussprüfers nicht angeordnet wird, wenn ein solcher beim formwechselnden Rechtsträger bereits bestellt

__________ 22 Seibt in Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, 1. Aufl. 2008, K IV 7 Anm. 14. Vgl. auch den Hinweis von Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 24, der „aus Gründen äußerster rechtlicher Vorsorge“ auf die in der Praxis erfolgende Neubestellung des Abschlussprüfers hinweist. 23 Schmidt-Diemitz/Moszka in Münchener Vertragshandbuch, Band 1 Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2010, XII 48. 24 Rawert in Hoffmann-Becking/Rawert, Formularhandbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, XI, 48. 25 Vgl. Einladung zur außerordentlichen Hauptversammlung der Fresenius Medical Care AG am 30.8.2005, dort S. 26, abrufbar unter http://www.fmc-ag.de/files/ Tagesordnung_HV_2005_AO.pdf. 26 Vgl. Umwandlungsbericht des Vorstandes der Fresenius Medical Care AG vom 22.7.2005, S. 57, abrufbar unter http://www.fmc-ag.de/files/Umwandlungsbericht.pdf. 27 Allgemeine Ansicht, vgl. nur Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 26 sowie die Literatur zu Fn. 18. 28 Dies wird jedoch von Teilen der Literatur empfohlen, vgl. nur Seibt in Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, 1. Aufl. 2008, K.IV.7. Anm. 14 S. 1318; ebenso Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 197 UmwG Rz. 40.

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war und beim Rechtsträger neuer Rechtsform die Prüfungspflicht besteht. Das argumentum e contrario der Befürworter einer Neubestellung greift zu kurz: Rein sprachlich darf § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG so verstanden werden, dass die Gründer nicht nur den „ersten“ Aufsichtsrat, sondern auch den „ersten“ Abschlussprüfer zu bestellen haben. Etwas anderes kann nach dem Norminhalt für den Fall der Errichtung einer Gesellschaft nicht gewollt sein. Zumindest im Fall des Formwechsels eines bereits nach § 316 HGB prüfungspflichtigen Rechtsträgers kann aber ein nach einem Formwechsel zu bestellender Abschlussprüfer nicht der „erste“ Abschlussprüfer des Rechtsträgers sein, wenn ein Abschlussprüfer bereits bestellt ist. Dies folgt auch aus dem Grundsatz der Identität des Rechtsträgers (dazu im Folgenden zu lit. b), nach welchem der formwechselnde Rechtsträger unter Änderung seiner rechtlichen Gestalt weiterhin existiert. Dass sich die Vorschrift von § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG nur auf den Fall der Errichtung der Gesellschaft bezieht, ergibt sich ferner daraus, dass das Gesetz die Bestellung eines Abschlussprüfers auch für das erste Rumpfgeschäftsjahr nach Gründung der Gesellschaft vorsieht. Ein solches Rumpfgeschäftsjahr gibt es im Fall des Formwechsels nicht. b) Qualifizierung des mit dem Abschlussprüfer bestehenden Rechtsverhältnisses Das ausschlaggebende Argument für die hier vertretene Auffassung ergibt sich aus dem Faktum der Identität des Rechtsträgers alter und neuer Rechtsform (§ 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG)29 und der sich aus ihr ergebenden Rechtsfolge des Fortbestandes schuldrechtlicher Verhältnisse. aa) Das Identitätsprinzip und der Fortbestand schuldrechtlicher Verhältnisse Mit Eintragung der Umwandlungsmaßnahme ins Handelsregister besteht der formwechselnde Rechtsträger in der im Umwandlungsbeschluss bestimmten Rechtsform weiter30. Besonders deutlich tritt dieses Prinzip bei einem Blick auf das Schicksal des Vermögens des formwechselnden Rechtsträgers hervor: es findet keine Vermögensübertragung statt, weder im Wege einer Singularnoch einer Universalsukzession31. Dagegen erfahren das Binnenrecht und ins-

__________ 29 Ausführlich zu diesem Prinzip vgl. z. B. Wiedemann, ZGR 1999, 568 ff.; Priester in FS Zöllner, 1998, S. 449, 450 ff.; K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1387; Petersen in KölnKomm. UmwG, § 202 UmwG Rz. 2 ff. 30 Zu den mit dem Begriff der Identität verbundenen Auffassungen im Schrifttum und der Kritik an ihnen vgl. Petersen in KölnKomm. UmwG, § 202 UmwG Rz. 2 ff. 31 Priester, DNotZ 1995, 427, 456; K. Schmidt, ZGR 1990, 580, 594; Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.-Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 25; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 190 UmwG Rz. 1; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 190 UmwG Rz. 6 f.; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 190 UmwG Rz. 4, § 202 UmwG Rz. 8.

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besondere die Organisationsstruktur des Rechtsträgers umfassende Veränderungen (sog. Diskontinuität der Verfassung)32. Ein Formwechsel wirkt sich dabei auch auf die Beziehungen der Gesellschaft zu ihren Organen sowie zu sonstigen (schuldrechtlich mit der Gesellschaft verbundenen) Vertragsparteien aus. Schuldrechtliche Verpflichtungen, wie z. B. Arbeits- oder Dienstverträge, bleiben unverändert bestehen33; Gleiches gilt für Vollmachten oder Prokura34. Im Unterschied zu diesen Verpflichtungen enden die Organstellungen der gesetzlichen Vertreter des formwechselnden Rechtsträgers mit Wirksamwerden des Formwechsels, wenn nicht die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 203 Satz 1 UmwG vorliegen35. Das Erlöschen der Organstellungen ist angesichts des sich ändernden Binnenrechts logische Folge des Formwechsels. Im Hinblick auf die Bedeutung der Differenzierung zwischen fortbestehenden schuldrechtlichen Beziehungen einerseits und den erlöschenden Rechtsverhältnissen der Gesellschaftsorgane andererseits ist es für die hier zu prüfende Frage erforderlich, die Stellung des Abschlussprüfers zu verdeutlichen und einzuordnen. bb) Die Rechtsbeziehung zum Abschlussprüfer als schuldrechtliches Verhältnis Für die Qualifizierung des Rechtsverhältnisses eines Abschlussprüfers kommen drei unterschiedliche Varianten in Betracht: Abschlussprüfer können – Organ der Gesellschaft, – Hilfs- oder Unterstützungsorgan des Aufsichtsrates oder – externe und unabhängige Vertragspartner der Gesellschaft sein. Den Vorzug verdient die letztgenannte Ansicht, nach welcher Abschlussprüfer einer AG weder Organ der prüfungspflichtigen Gesellschaft noch Hilfsorgan des Aufsichtsrates bei der Überwachung, sondern externe und unabhän-

__________ 32 Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 190 UmwG Rz. 2, § 202 UmwG Rz. 8 f.; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 202 UmwG Rz. 12. 33 Vgl. nur Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 202 UmwG Rz. 9; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 25, 32; Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 53; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 202 UmwG Rz. 17. 34 Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 40; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 202 UmwG Rz. 26; Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.-Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 114; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 202 UmwG Rz. 10. 35 Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 202 UmwG Rz. 24 f.; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 39; Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.-Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 32 f.; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 202 UmwG Rz. 14. Eine Ausnahme sieht § 203 UmwG nur unter bestimmten Voraussetzungen für die Mitglieder des Aufsichtsrates vor.

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gige Vertragspartner der Gesellschaft sind, denen eine gesetzlich umrissene Kontroll-, Informations- und Beglaubigungsfunktion zukommt36. Gegen die Annahme, dass der Abschlussprüfer ein Organ der ihn beauftragenden Gesellschaft sei, spricht bereits der an einigen Stellen aufschlussreiche Gesetzeswortlaut, der den Abschlussprüfer zu einer unabhängigen, unbefangenen und unparteilichen Prüfung verpflichtet (vgl. §§ 323 Abs. 1 Satz 1, 318 Abs. 3 Satz 1, 319 Abs. 2–5, 319a HGB). Eine solche unabhängige Stellung lässt sich aber nur schwerlich mit der Annahme einer Organeigenschaft vereinbaren, sind Organe doch in erster Linie dem Wohl der Gesellschaft verpflichtet37. Die früher einmal vertretene Auffassung des BGH, wonach der Abschlussprüfer ein Organ der Gesellschaft sein solle, steht dieser Einordnung nicht entgegen38. Die durch den BGH vorgenommene Einordnung des Abschlussprüfers als Organ der Gesellschaft beruhte auf der zum damaligen Zeitpunkt nicht im Gesetz verankerten, aber gleichwohl als erforderlich angesehenen Warn- und Redepflicht des Abschlussprüfers. Um sicherzustellen, dass der Abschlussprüfer, wenn er im Rahmen seiner Prüfung eine für die Gesellschaft bedrohliche Situation vorfand, die zuständigen Leitungsorgane über seine Bedenken informiert, kam unter dem im Jahr 1955 geltenden Recht des AktG 1937 lediglich die Einordnung des Abschlussprüfers als Organ der Gesellschaft in Betracht. Diese Probleme stellen sich aber de lege lata nicht mehr. Seit der Aktienrechtsreform im Jahr 1965 findet sich eine explizit geregelte Rede- und Warnpflicht im Gesetz, zunächst als § 166 Abs. 2 AktG 1965, heute als § 322 Abs. 2 Satz 3 HGB. Im Zusammenhang mit den bereits zuvor angeführten Anforderungen von Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unbefangenheit eröffnen die gesetzlichen Warnpflichten de lege lata die Möglichkeit, den Abschlussprüfer nicht mehr als Organ anzusehen, ohne dabei die berechtigten Interessen der Gesellschaft zu vernachlässigen39. Geht man deshalb mit der herrschenden und überzeugenden Meinung von einer schuldrechtlichen Qualifizierung des mit dem Abschlussprüfer bestehenden Rechtsverhältnisses aus und löst die Vertragsverhältnisse somit aus der korporativen Ebene, erscheint es nur sinnvoll, auf die Abschlussprüfer auch die allgemein anerkannten Grundsätze über das Fortbestehen schuldrechtlicher Verträge im Fall des Formwechsels anzuwenden40.

__________ 36 OLG Düsseldorf, DB 2006, 1670; Hopt/Merkt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 2; Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 316 HGB Rz. 32, 39 m. w. N. 37 Vgl. nur Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 316 HGB Rz. 33. 38 So noch BGHZ, 16, 17, 25. 39 Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 316 HGB Rz. 33. 40 So auch Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.-Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 41.1; a. A. dagegen Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 176.

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c) Keine Verdrängung eines bestellten Abschlussprüfers durch einen neuen Abschlussprüfer Die hier vertretene Auffassung wird durch den Befund bestätigt, dass eine Neubestellung eines Abschlussprüfers keinesfalls zur Beendigung des Amtes des „alten“ Abschlussprüfers führt. Einen bestehenden Prüfungsauftrag kann nur der Abschlussprüfer kündigen, und dies auch nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes (vgl. § 318 Abs. 6 HGB)41. Der prüfungspflichtigen Gesellschaft steht eine solche Kündigungsmöglichkeit nicht zu42. Der Gesetzgeber verweist die Gesellschaft auf die in § 318 Abs. 3 HGB normierte gerichtliche Ersetzung durch Gerichtsentscheid. Eine solche Ersetzung ist jedoch nur aus einem in der Person des Abschlussprüfers liegenden Grund zulässig. Nach der Konzeption des Gesetzes ist ein solcher Grund insbesondere dann gegeben, wenn einer der in §§ 319 Abs. 2 bis 5, 319a, 319b HGB normierten Ausschlussgründe in der Person des Abschlussprüfers vorliegt. Auch ohne nähere Betrachtung dieser Regelungen wird bereits deutlich, dass eine Ersetzung des bereits bestellten Abschlussprüfers an strenge Voraussetzungen geknüpft ist. Geht man von der Einordnung des Prüfungsvertrages als rein schuldrechtliche Beziehung zwischen Prüfer und Gesellschaft aus, so ergibt sich daraus zwangsläufig, dass es keine gesetzliche Möglichkeit gibt, die es der Gesellschaft erlaubt, einzig wegen eines Formwechsels einen bestehenden Prüfungsvertrag zu kündigen oder einen Prüfer zu ersetzen43. Vielmehr muss mit Blick auf die Zielsetzung der erschwerten Auflösung eines Prüfungsverhältnisses durch die Gesellschaft sogar davon ausgegangen werden, dass ein Formwechsel nicht zur Beendigung des Prüfungsauftrages führen kann. Der Gesetzgeber verlangt die Einhaltung strenger Maßstäbe, da die Funktion der Abschlussprüfung im öffentlichen Interesse liegt. Es soll der zu prüfenden Gesellschaft nicht ermöglicht werden, einen für sie unliebsamen Prüfer schnell und einfach aus seinem Amt zu entfernen44. Nähme man aber an, ein Formwechsel würde den Prüfungsauftrag beenden, so würde dies vor allem für Gesellschaften mit beschränktem Gesellschafterkreis eine willkommene Umgehungsmöglichkeit darstellen. Die Wirksamkeit des Formwechsels kann daher das Bestehen eines Prüfungsauftrages nicht beeinflussen. Wären die Gründer des Rechtsträgers neuer Rechtsform aber nun gehalten, einen Abschlussprüfer zu bestellen, so könnten zwei nebeneinander wirksame Prüfungsaufträge bestehen, wenn die Gründer sich entschließen, einen anderen Abschlussprüfer zu bestellen. Dies kann aber weder die Intention des

__________ 41 Zu diesen wichtigen Gründen vgl. bspw. Hopt/Merkt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 13; Förschle/Heinz in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 34. 42 Förschle/Heinz in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 34; Adler/ Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Anm. 432; Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 318 HGB Rz. 81. 43 So argumentiert auch Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 41.1. 44 W. Müller in KölnKomm. zum Rechnungslegungsrecht, 2011, § 318 HGB Rz. 52; Förschle/Heinz in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 34 m. w. N.

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Gesetzgebers gewesen sein noch wäre ein derartiges Nebeneinander zweier Prüfungsaufträge sinnvoll. d) Keine Umgehungsgefahr Ein Fortbestehen des bisherigen Prüfungsauftrages würde keine Umgehungsgefahr des von § 197 Satz 1 UmwG verfolgten Normzwecks herbeiführen. Der Gesetzgeber will durch § 197 UmwG sicherstellen, dass durch die Möglichkeit des Formwechsels nicht die möglicherweise schärferen Gründungsvorschriften hinsichtlich einer Rechtsform umgangen werden, indem z. B. eine als Personengesellschaft gegründete Gesellschaft durch Formwechsel in eine AG umgewandelt wird, ohne dass gleichzeitig die strengen Regeln zur Kapitalaufbringung eingehalten werden45. Eine derartige Umgehung ist aber hinsichtlich des Formwechsels einer bereits nach § 316 HGB prüfungspflichtigen Gesellschaft in eine Kapitalgesellschaft, die keine kleine Kapitalgesellschaft im Sinne des § 267 Abs. 1 HGB ist, nicht gegeben. Beide Rechtsträger unterliegen in diesem Fall einer identischen Prüfungspflicht. Besonders deutlich wird dies im Fall des Formwechsels einer KGaA in eine AG oder umgekehrt: In diesem Fall hat bereits eine nach dem Gründungsrecht des AktG ausgestaltete Gründung stattgefunden, d. h. es ist bereits entsprechend § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG ein Abschlussprüfer bestellt. Bei strenger Anwendung des Wortlauts des § 197 UmwG müsste aber auch dann ein neuer Abschlussprüfer bestellt werden. Dies verbietet sich aber bereits im Hinblick auf den Normzweck des § 197 UmwG. e) Kein entgegenstehendes Gemeinschaftsrecht Dieser Auslegung des § 197 Satz 1 UmwG steht auch nicht das europäische Gemeinschaftsrecht in Gestalt der Zweiten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie46 entgegen. In der Regierungsbegründung zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Umwandlungsrechts heißt es zu § 245 Abs. 3 UmwG, der Entwurf erstrecke im Interesse einer Vereinheitlichung des Umwandlungsverfahrens das Gründungsrecht der AG auch auf den Formwechsel der KGaA in die Rechtsform der AG47. Dies sei nicht zuletzt der Maßgabe des Art. 13 der Zweiten Gesellschaftsrechtsrichtline geschuldet. Man könnte nun aus dieser Vorgabe den Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber in § 245 Abs. 3 UmwG die in § 197 Satz 1 UmwG getroffenen Aussagen zur Anwendbarkeit des gesamten Gründungsrechts bestärken wollte. Bei genauer Betrachtung steht die Vorgabe des Gemeinschaftsgesetzgebers der hier vertretenen Auffassung jedoch nicht entgegen. Art. 13 der Zweiten Richt-

__________ 45 Vgl. z. B. Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 197 UmwG Rz. 1. 46 Zweite Richtline des Europäischen Rates vom 13. Dezember 1976, 77/91 EWG. 47 RegBegr., abgedruckt bei Ganske, UmwR, S. 261 f.

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linie fordert die Mitgliedstaaten nur auf, bei der Umwandlung einer Gesellschaft in die Rechtsform der AG die in den Art. 2 bis 12 der Richtlinie aufgeführten Garantien zu beachten. Jedoch ist die in § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG geregelte Bestellung des Abschlussprüfers nicht von den genannten Artikeln erfasst. Somit findet Art. 13 der Zweiten Richtlinie auf die angeordnete Bestellung eines Abschlussprüfers durch die Gründer keine Anwendung. 3. Formwechsel einer bereits prüfungspflichtigen Gesellschaft in eine GmbH oder andere nach § 264a HGB prüfungspflichtige Gesellschaft Die sich aus der pauschalen Verweisung auf das Gründungsrecht für den Fall des Formwechsels in eine Aktiengesellschaft im Hinblick auf § 30 Abs. 1 AktG stellende Frage besteht nicht beim Formwechsel in eine prüfungspflichtige Gesellschaft, die nicht die Rechtsform einer Aktiengesellschaft hat. Insbesondere für die GmbH ist festzustellen, dass es im Gründungsrecht keine § 30 AktG entsprechende Vorschrift gibt. Es gelten vielmehr die allgemeinen Vorschriften des HGB48. Nach § 316 Abs. 1 Satz 1 HGB ist der Jahresabschluss durch Abschlussprüfer zu prüfen. Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Gesellschafter, wann sie gemäß § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB den entsprechenden Wahlbeschluss fassen. Wie im Fall des Formwechsels einer Gesellschaft in der Rechtsform der Aktiengesellschaft besteht auch hier das Rechtsverhältnis mit dem Abschlussprüfer fort. Eine Neubestellung wäre nicht nur unnötig, sondern würde die oben in 2. zu lit. c) beschriebenen Probleme verursachen. 4. Ergebnis Bereits das Verständnis des Wortsinnes von § 30 Abs. 1 Satz 1 AktG lässt den Schluss zu, dass eine Gesellschaft, die bereits einen Abschlussprüfer bestellt hat, nicht gehalten ist, bei einem Formwechsel einen „neuen“ Abschlussprüfer zu bestellen. Das ergibt sich auch aus der Einordnung des Rechtsverhältnisses eines Abschlussprüfers und folgt aus dem Identitätsgedanken. Wer „erneut“ einen Abschlussprüfer bestellt und dabei eine andere Person auswählt, steht vor dem Problem, wie das Rechtsverhältnis mit dem zuerst bestellten Abschlussprüfer beendet werden soll. Diese Rechtsfolge besteht unabhängig davon, ob eine Gesellschaft sich in eine prüfungspflichtige Aktiengesellschaft oder eine prüfungspflichtige Gesellschaft anderer Rechtsform umwandelt. Wenn man aus Gründen der äußersten rechtlichen Vorsorge49 im Zusammenhang mit dem Formwechselbeschluss den Abschlussprüfer „erneut“ bestellt, sollte dies aber sinnvollerweise in der Form eines Bestätigungsbeschlusses erfolgen, der implizit in sich einen unausgesprochenen Bestellungsbeschluss enthält. Eine Neubestellung könnte anderenfalls beim Abschlussprüfer zu der

__________ 48 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 25; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 197 UmwG Rz. 22. 49 Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 202 UmwG Rz. 24.

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Überlegung führen, noch einmal über die Konditionen des ursprünglichen schuldrechtlichen Prüfervertrages zu verhandeln.

IV. Formerfordernisse im Zusammenhang mit dem Umwandlungsbeschluss Zu den im Schrifttum noch nicht eindeutig geklärten formellen Fragen des Rechts zum Formwechsel (Rechtsprechung hierzu lässt sich nicht feststellen) gehören auch die Formerfordernisse der einzelnen im Zusammenhang mit dem Beschluss über einen Formwechsel durch die Beteiligten abzugebenden Erklärungen. Diese Unklarheiten beruhen sowohl auf der allgemein gehaltenen Anordnung des § 197 Satz 1 UmwG, gehen zum Teil aber auf Fragestellungen zurück, die sich im Zusammenhang mit den Vorgaben des UmwG stellen. 1. Notarielle Beurkundung des Umwandlungsbeschlusses, § 193 UmwG Der Beschluss über den Formwechsel bedarf der notariellen Beurkundung (§ 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG). Die Voraussetzungen, die an die notarielle Beurkundung des Beschlusses zu stellen sind, richten sich nach dem Beurkundungsgesetz (BeurkG). Welche Anforderungen jedoch konkret an die nach § 193 Abs. 3 Satz 3 UmwG erforderliche Beurkundung des Umwandlungsbeschlusses zu stellen sind, hängt maßgeblich von der Einordnung dieses Beschlusses in eine der nach dem BeurkG vorgesehenen Kategorien ab. Dabei muss zwischen einer Beurkundung von Willenserklärungen (§§ 8 ff. BeurkG) und sonstigen Beurkundungen (§§ 36 f. BeurkG) unterschieden werden. Unter sonstige Beurkundungen sind Erklärungen, die keine Willenserklärungen sind, sowie sonstige Tatsachen oder Vorgänge zu verstehen. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, für die Beurkundung gelten die §§ 8 ff. BeurkG, da es sich um die Beurkundung von Willenserklärungen handele50. Die überzeugendere Meinung in der Literatur ordnet demgegenüber den Beschluss den §§ 36 f. BeurkG zu. Zwar ist die Stimmabgabe jedes einzelnen Gesellschafters isoliert betrachtet als Willenserklärung zu werten und unterliegt damit den §§ 8 ff. BeurkG. Das gilt aber nicht für den Beschluss. Dieser ist das Ergebnis der einzelnen Willenserklärungen und beruht auf ihnen, ist aber gleichwohl selbst keine Willenserklärung51. Die notarielle Beurkundung im Sinne des § 193 Abs. 3 Satz 3 UmwG richtet sich daher nach den §§ 36 f. BeurkG. Somit bedarf der Umwandlungsbeschluss nicht der Unterzeichnung durch alle Gesellschafter, es genügt vielmehr die Anfertigung einer Niederschrift, die vom Notar zu unterschreiben ist.

__________ 50 Joost in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 218 UmwG Rz. 3. 51 Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 UmwG Rz. 17.

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2. Beurkundungsfragen, die sich aus allgemeinem Gründungsrecht ergeben Unklarheiten hinsichtlich der einzuhaltenden Form ergeben sich aus einer möglichen Kollision des Umwandlungsrechts mit dem für den Rechtsträger neuer Rechtsform geltenden Gründungsrecht. Diese Unklarheiten gehen wiederum von der Verweisungsnorm des § 197 UmwG aus, die, soweit im UmwG nichts Abweichendes bestimmt ist, für den Formwechsel zusätzlich die Beachtung des für den Rechtsträger neuer Rechtsform geltenden Gründungsrechts vorschreibt. Von diesem Verweis sind auf den ersten Blick auch Formvorgaben des Gründungsrechts erfasst, wie sie z. B. in § 2 Abs. 1 Satz 2 GmbHG, § 23 Abs. 1 Satz 1 AktG oder § 5 GenG enthalten sind. Selbst wenn man mit der überwiegenden Ansicht die Vorschriften der §§ 36 f. BeurkG auf die Beurkundung des eigentlichen Umwandlungsbeschlusses anwendet, kann es möglicherweise zu Kollisionen mit diesen Vorgaben des allgemeinen Gründungsrechts kommen, die ebenfalls die Form der notariellen Beurkundung vorsehen und dabei, abweichend von § 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG, den Voraussetzungen der §§ 8 ff. BeurkG unterliegen. Dies ist z. B. der Fall bei der Feststellung der Satzung bzw. des Gesellschaftsvertrages, die/der nach den Vorschriften des UmwG zwingender Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses sein muss (§ 218 Abs. 1 Satz 1 UmwG, bzw. § 243 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 218 UmwG)52. Die Beurkundungsbedürftigkeit der Satzung bzw. des Gesellschaftsvertrages beantwortet sich zunächst nach den formalen Anforderungen, die an die Feststellung des jeweiligen Gesellschaftsstatuts zu stellen sind. Diese ergeben sich für die AG aus § 23 Abs. 1 Satz 1 AktG, für die GmbH aus § 2 Abs. 1 Satz 2 GmbHG und für die Genossenschaft aus § 5 GenG i. V. m. § 126 Abs. 1 BGB. Das GmbHG fordert ausdrücklich die Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrages durch sämtliche Gründer, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 GmbHG. Insoweit stellt diese Vorschrift höhere formale Anforderungen als sie für den Umwandlungsbeschluss in §§ 36 ff. BeurkG vorgesehen sind. Im AktG heißt es in § 23 Abs. 1 Satz 1, die Feststellung der Satzung bedürfe der notariellen Beurkundung. Damit könnte allerdings sowohl auf die §§ 8 ff. BeurkG als auch auf die weniger strengen Vorgaben der §§ 36 ff. BeurkG verwiesen sein, die auf § 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG anwendbar sind. Nach der herrschenden Meinung ist die bei der Gründung einer Kapitalgesellschaft erfolgende Satzungsfeststellung ein Rechtsgeschäft in Form eines Vertragsschlusses, der durch die Abgabe von inhaltlich

__________ 52 Eine ähnliche Problematik stellt sich im Falle des Formwechsels einer Gesellschaft in eine Aktiengesellschaft, in der erstmals ein Aufsichtsrat zu bilden ist, für den Bestellungsbeschluss der Aufsichtsratsmitglieder. Dieser Beschluss ist nicht Gegenstand des Umwandlungsbeschlusses. Er bedarf nach den Vorschriften für die Gründung einer Aktiengesellschaft der notariellen Beurkundung der Gründer (§ 30 Abs. 1 AktG). Jedoch erfolgt auch diese Beurkundung, wie beim eigentlichen Umwandlungsbeschluss, nach den Vorschriften der §§ 36 ff. BeurkG, da es sich nicht um die Beurkundung von Willenserklärungen handelt, sondern um die Beurkundung eines auf diesen beruhenden korporativen Aktes. Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 30 AktG Rz. 6; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, § 30 AktG Rz. 4; Eckardt in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, 1. Aufl. 1984, § 30 AktG Rz. 8.

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aufeinander abgestimmten Willenserklärungen der Gründer geschlossen wird53. Daraus ergeben sich unzweifelhaft auch die insoweit anwendbaren Formvorgaben: Da es sich bei der Satzungsfeststellung einer Kapitalgesellschaft um Willenserklärungen handelt, sind bei der Gründung die §§ 8 ff. BeurkG anzuwenden. Daher ist die notarielle Niederschrift der Gründung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 BeurkG von allen Gründern zu unterzeichnen. Das GenG schreibt in § 5 GenG vor, dass die Satzung einer Genossenschaft der Schriftform bedarf. Damit wird zwar auf eine notarielle Beurkundung verzichtet, gleichwohl geht das Schriftformerfordernis aufgrund der Pflicht zur Unterzeichnung (vgl. § 126 Abs. 1 BGB) durch alle Genossen54 jedenfalls zum Teil über die von § 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG gestellten Anforderungen hinaus. a) Gesetzlich geregelter Dispens von Formvorschriften Der Gesetzgeber hat die Kollisionsfragen, die sich aus dem allgemeinen Gründungsrecht bezüglich der anwendbaren Formvorschriften ergeben, gesehen und für bestimmte Konstellationen des Formwechsels Ausnahmen von den nach allgemeinem Gründungsrecht erforderlichen Formvorschriften vorgesehen. Für den Formwechsel einer AG oder KGaA in eine GmbH enthält § 244 Abs. 2 UmwG eine Ausnahme von dem in § 2 Abs. 1 Satz 2 GmbHG vorgesehenen Erfordernis der Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrages. Dieser Dispens wird in der Literatur allgemein begrüßt, vor allem mit Blick auf die sich beim Formwechsel einer Publikumsgesellschaft ergebenden praktischen Schwierigkeiten55. Für den Fall des Formwechsels einer Personengesellschaft sieht § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG vor, dass „eine Unterzeichnung der Satzung durch die Mitglieder […] nicht erforderlich“ sei. Aus dieser Formulierung könnte man den Schluss ziehen, dass bei einem Formwechsel einer Personengesellschaft in eine AG, eG oder GmbH, die in § 218 Abs. 1 Satz 1 UmwG erwähnt werden, eine Unterzeichnung des jeweiligen Gesellschaftsstatuts nicht erforderlich sei. Für eine solche Annahme spricht auf den ersten Blick der Wortlaut der Vorschrift. Aus der eindeutigen Gesetzgebungsgeschichte der Norm ergibt sich jedoch, dass § 218 Satz 2 UmwG entgegen des missverständlichen Wortlauts unmittelbar nur den Fall des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine eingetragene Genossenschaft regeln sollte. Vor der Änderung des Genossenschaftsrechts am 18. August 2006, die aufgrund des Gesetzes zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsgesetzes erforderlich war, sprach § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG eindeutig von „Genossen“

__________ 53 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 6, § 2 AktG Rz. 3; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 23 AktG Rz. 10; Limmer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 12; Seibt in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 11. 54 Vgl. nur Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, 3. Aufl. 2007, § 5 GenG Rz. 2. 55 Mutter in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, 244 UmwG Rz. 13; Petersen in KölnKomm. UmwG, § 244 UmwG Rz. 9.

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und der Unterzeichnung des „Statuts“56. Dieser Wortlaut begrenzte damit die Aufhebung des Unterschriftserfordernisses klar auf die Fälle des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine eG. Durch die Gesetzesänderung wurden die Termini „Genosse“ und „Statut“ aber geändert und der durch europäisches Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Rechtslage angepasst. Nunmehr sprechen sowohl das Genossenschaftsrecht als auch § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG von „Mitgliedern“ und der „Satzung“. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die Einschränkung des Formerfordernisses in direkter Anwendung des § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG ausschließlich auf den Fall des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine eingetragene Genossenschaft anzuwenden. Von dieser Feststellung ist die Frage zu trennen, ob der in § 218 Satz 2 UmwG zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke auch auf andere Konstellationen des Formwechsels Anwendung finden sollte (dazu unten lit. c) aa)). b) Erleichterungen des Formerfordernisses bei sonstigen Fallgruppen des Formwechsels In allen von § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG und § 244 Abs. 2 UmwG nicht erfassten Konstellationen des Formwechsels hat der Gesetzgeber für die Unterzeichnung des Gesellschaftsstatuts des Rechtsträgers neuer Rechtsform auf die Schaffung eines vergleichbaren Dispenses von Formvorschriften verzichtet. Gleichwohl sind im UmwG einige Erleichterungen vorgesehen, die zwar nicht unmittelbar als Dispens von gründungsrechtlichen Formvorgaben bezeichnet werden können, den Formwechsel aber dennoch formal vereinfachen. Für den Fall der formwechselnden Umwandlung einer AG in eine KGaA ist in § 245 Abs. 2 AktG geregelt, dass die persönlich haftenden Gesellschafter der KGaA als Gründer der Gesellschaft anzusehen sind. Daraus folgt zugleich, dass – wenn überhaupt erforderlich, dazu sogleich lit. c) – die Satzung lediglich von diesen persönlich haftenden Gesellschaftern, nicht aber von sämtlichen Aktionären zu unterzeichnen wäre. Da aber der Kreis der persönlich haftenden Gesellschafter in aller Regel überschaubar ist, sind die bei einer Unterzeichnung durch die Gründer möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten geringer als im Fall des Formwechsels einer Publikums-KG, für die eine entsprechende Regelung fehlt (dazu sogleich unten lit. c)). Vergleichbares gilt für den umgekehrten Fall des Formwechsels einer KGaA in eine AG: In dieser Konstellation sind die persönlich haftenden Gesellschafter des formwechselnden Rechtsträgers als Gründer anzusehen, so dass nur diese und nicht auch die Kommanditaktionäre die Satzung der AG unterzeichnen müssen – soweit dies überhaupt erforderlich ist.

__________ 56 Zur Entstehungsgeschichte s. auch Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 UmwG Rz. 10.

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c) Regelungslücken betreffend die Beurkundung beim Formwechsel der Kommanditgesellschaft Trotz der aufgezeigten Erleichterungen bei bestimmten Konstellationen des Formwechsels hat der Gesetzgeber nicht alle in Betracht kommenden Fälle geregelt. Das gilt insbesondere für die Kommanditgesellschaft und hier für die Publikums-Kommanditgesellschaft, die in der Regel in der Rechtsform der GmbH & Co. KG auftritt, einer Rechtsform, der der Gesetzgeber ungeachtet ihrer Bedeutung für die Praxis im Umwandlungsgesetz wohl nicht die nötige Beachtung gewidmet hat. Bei der KG in der Form der Publikums-KG bestehen die gleichen praktischen Bedürfnisse wie beim Formwechsel einer AG in eine GmbH. Dort hat der Gesetzgeber in § 244 Abs. 2 UmwG zur Überwindung der bei einer Vielzahl von Aktionären sich ergebenden Probleme von der Verpflichtung zur Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrages der GmbH durch Aktionäre ausdrücklich befreit. Es liegt die Frage nahe, warum er dieses nicht auch für den parallel liegenden Sachverhalt des Formwechsels einer Publikums-KG getan hat. Ausdrückliche Feststellungen hierzu lassen sich aus den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Ob aus § 244 Abs. 2 UmwG im Wege eines argumentum e contrario der Schluss gezogen werden kann, dass die Satzung/ der Gesellschaftsvertrag einer sich in eine Kapitalgesellschaft formwechselnden Kommanditgesellschaft in jedem Fall entsprechend dem jeweiligen Gründungsrecht von den „Gründern“ zu unterzeichnen sei, erscheint problematisch. aa) Die Regelungslücke in § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG Im Hinblick auf § 197 Satz 1 UmwG fragt es sich, ob (außerhalb von § 244 Abs. 2 UmwG) das UmwG eine die allgemeinen Gründungsregeln verdrängende besondere Regelung enthält. Als eine solche Regelung bietet sich die Vorschrift von § 218 Abs. 1 Satz 1 UmwG an. Nach dieser Vorschrift muss im Umwandlungsbeschluss auch der Gesellschaftsvertrag der GmbH oder die Satzung der Genossenschaft enthalten sein oder die Satzung der AG oder der KGaA festgestellt werden. Der Schluss liegt nahe, dass damit inzidenter auch das Thema der Formbedürftigkeit der Feststellung des Gesellschaftsstatuts des Rechtsträgers neuer Rechtsform geklärt ist, da der Umwandlungsbeschluss gemäß § 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG der Beurkundung bedarf und diese Beurkundung nach den Vorschriften von §§ 36 f. BeurkG zu erfolgen hat (dazu oben zu Ziff. 1). Zweifel in dieser Hinsicht ergeben sich aus § 218 Satz 2 UmwG, der nach seinem Wortlaut eine Befreiung von der Unterzeichnungspflicht für den Formwechsel in die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft vorsieht. Diese Vorschrift wäre nicht erforderlich, wenn bereits durch Beurkundung des Umwandlungsbeschlusses und das gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 BeurkG mit beurkundete Statut des Rechtsträgers neuer Rechtsform die Formfrage beantwortet wäre57. Ungeachtet der Entstehungsgeschichte der Vorschrift von § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG (dazu oben zu lit. a)) kann ein solcher Umkehrschluss jedoch

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57 So Joost in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 218 UmwG Rz. 3.

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nicht gezogen werden. Im Hinblick auf das Schweigen der Begründung des Gesetzgebers liegt es eher näher und ist insbesondere praxisgerechter, mit der herrschenden Lehre von einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift von § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG auszugehen und diese Bestimmung nicht nur auf den Formwechsel in eine eingetragene Genossenschaft anzuwenden58. Da es unter dem UmwG 1969 an der Möglichkeit des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine e.G. fehlte, nimmt ein Teil der Literatur an, der Gesetzgeber habe seine Überlegungen auf diese neu geschaffene Möglichkeit konzentriert und sich im Übrigen an den Vorschriften des alten Rechts orientiert. Unter Geltung des UmwG 1969 war es aber anerkannt, dass bei der errichtenden Umwandlung einer Personengesellschaft in eine AG/KGaA/GmbH wegen der zwangsläufig erforderlichen Neugründung der Gesellschaft eine Unterzeichnung der Satzung zu erfolgen hatte59. Den vergleichbaren Regelungsbedarf habe der Gesetzgeber, so die Vertreter dieser Ansicht, schlicht nicht wahrgenommen60. Damit lässt sich feststellen, dass das Gesetz eine planwidrige Lücke enthält, die durch Analogie ausgefüllt werden darf. Dieses Ergebnis entspricht auch den gesetzgeberischen Erwägungen, die § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG zugrunde liegen, nämlich die Vermeidung der Erschwerung der Umwandlung durch Unterzeichnungserfordernisse, die nicht nur für die Rechtsform der Genossenschaft, sondern auch für andere Konstellationen, und hier insbesondere die Publikums-KG, bestehen. bb) Das Argument aus § 243 UmwG Wollte man § 218 Abs. 1 Satz 2 UmwG nicht den hier befürworteten Inhalt geben, so würde man gleichwohl aufgrund einer anderen Überlegung dazu kommen, für die Feststellung des Gesellschaftsstatuts des Rechtsträgers neuer Rechtsform nicht die Beurkundungserfordernisse des § 8 BeurkG, sondern der §§ 36 f. BeurkG für maßgeblich zu erklären. Allerdings verbleiben auch bei dieser Argumentation Zweifelsfragen: Zustimmung verdient die im Schrifttum vertretene Auffassung, dass zwischen der Neugründung einer Gesellschaft und einem Formwechsel erhebliche Unterschiede bestehen61. Die Gründung einer Gesellschaft vollzieht sich durch die Feststellung der Satzung/des Gesellschaftsvertrages (und Übernahme der Anteile durch die Gesellschafter), der Formwechsel dagegen wird durch einen Beschluss der Gesellschafterversammlung des formwechselnden Rechtsträgers

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58 Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 UmwG Rz. 16; Vossius in Widmann/Mayer, 102. Erg.-Lfg. August 2008, § 217 UmwG Rz. 28; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 218 UmwG Rz. 5; mit anderer Begründung Schlitt in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 218 UmwG Rz. 6. 59 Vgl. §§ 42 Abs. 2, 48 Abs. 2 UmwG 1969; Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 UmwG Rz. 6 ff. 60 Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 UmwG Rz. 16. 61 Vgl. hierzu nur Priester in FS Zöllner, 1998, S. 449, 456; K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1389; so auch Martens, ZGR 1999, 548, 555; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 197 UmwG Rz. 7 ff.; Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 3; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 197 UmwG Rz. 5 ff.

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wirksam. Eine Anwendung der Gründungsvorschriften ist nach § 197 Satz 1 UmwG nur dann geboten, wenn sich aus den besonderen Vorschriften des UmwG nichts Abweichendes ergibt. Eine solche abweichende Vorschrift ist aber in § 243 i. V. m. § 218 UmwG zu sehen, die das neue Gesellschaftsstatut als Teil des Umwandlungsbeschlusses und nicht als Gründungsakt qualifizieren62. Damit aber gelten auch die Formvorschriften nicht, die der Gesetzgeber für die jeweiligen Gründungsakte vorgesehen hat. cc) Verbleibende praktische Probleme Lassen sich somit beim Formwechsel einer Publikums-KG in eine Kapitalgesellschaft mit überzeugenden Argumenten die bestehenden Fragen, die sich für die Beurkundung des Umwandlungsbeschlusses und des Gesellschaftsstatuts neuer Rechtsform ergeben, befriedigend beantworten, so bleibt doch für den Fall des Formwechsels der Publikums-KG ein großes praktisches Problem: Der nach §§ 197 Satz 1, 219 UmwG i. V. m. § 32 AktG von allen Gründern, also von allen dem Beschluss zustimmenden Gesellschaftern, zu erstattende schriftliche aktienrechtliche Bericht (Gründungsbericht) bedarf der Unterzeichnung durch alle Gründer. Das Gleiche gilt für die Anmeldung zum Handelsregister (§§ 222 Abs. 2, 219 UmwG). Die sich hieraus ergebenden Probleme können wohl gelöst werden, wenn zeitnah zum Formwechselbeschluss der Entwurf des Gründungsberichtes vorliegt oder wenn schon vor dem Beschluss über den Formwechsel die diesem zustimmenden Gesellschafter bereit sind, wenn auch nur für die Phase des Übergangs der Gesellschaft in eine andere Rechtsform, ihre Kommanditbeteiligung auf eine Treuhandkommanditistin zu übertragen. dd) Generelle Geltung der Formvorschriften Die zuvor angestellten Überlegungen betreffen vor allem Publikumsgesellschaften, die über eine größere Anzahl Gesellschafter verfügen63. Dennoch sind die Erleichterungen auf sämtliche Fälle des Formwechsels einer KG anzuwenden. Hierzu eine Abgrenzung zwischen „kleinen“ und „großen“ Kommanditgesellschaften vorzunehmen, ist kaum möglich. Zwar hat der Gesetzgeber in § 267 HGB Größenklassen für Kapitalgesellschaften aufgestellt, doch knüpft diese Einteilung an Merkmale wie Bilanzsumme oder Umsatzerlöse an. Ab welcher Anzahl von Gesellschaftern eine KG jedoch eine Publikums-KG ist, lässt sich dagegen nicht trennscharf und rechtssicher beantworten.

__________ 62 Dirksen in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 218 UmwG Rz. 2; Schlitt in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 218 UmwG Rz. 6; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 218 UmwG Rz. 5. 63 Zur Definition der Publikums-KG vgl. K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 57 I 1; Gummert/Horbach in MünchHdb. GesR, Band 2, 3. Aufl. 2009, § 61 I 1.

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V. Versicherung der Anmeldenden gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 8 Abs. 2 GmbHG Der Verweis von § 197 Satz 1 UmwG auf die für die neue Rechtsform geltenden Gründungsvorschriften hat in Literatur und Praxis auch bezüglich der Vorschriften der § 37 Abs. 1 Satz 2 AktG bzw. § 8 Abs. 2 GmbHG bereits kurz nach dem Inkrafttreten des UmwG 1995 für Unklarheiten gesorgt, die bis heute fortbestehen64. Auf diese soll abschließend eingegangen werden. 1. Die nach den genannten gründungsrechtlichen Vorschriften erforderlichen und bei der Gründung einer Kapitalgesellschaft im Rahmen der Anmeldung abzugebenden Erklärungen enthalten unter anderem die Versicherung des bestellten Geschäftsführers/des Vorstandes, dass sich das auf die Einlagen geleistete Vermögen zur freien Verfügung des Geschäftsführers/des Vorstandes befindet. Während für die Fälle des Formwechsels einer Kapitalgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft anderer Rechtsform die genannten Regelungen des Gründungsrechts ausdrücklich für nicht anwendbar erklärt werden (§ 246 Abs. 3 UmwG)65, fehlt eine vergleichbare Vorschrift für die Konstellationen des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft. Für die Praxis wird daher häufig empfohlen, eine „vorsorgliche“ und gegenüber dem Gesetzeswortlaut auch modifizierte Erklärung abzugeben: In einer solchen erklärt der künftige Geschäftsführer/Vorstand, dass er „ab Eintragung des Formwechsels“ das alleinige und uneingeschränkte Verfügungsrecht über das Vermögen der Gesellschaft besitzt66. Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt dabei aber deutlich, mit welchen Rechtsunsicherheiten die Praxis aufgrund des unklaren Verweises in § 197 Satz 1 UmwG zu kämpfen hat67.

__________ 64 Eine ähnliche Fragestellung ergibt sich für den Fall der im Gründungsrecht der AG vorgeschriebenen Angabe von Sacheinlage, Gründungsaufwand und Gründer in der Satzung (§ 27 Abs. 1, § 26 Abs. 2 AktG). Die Praxis versteht § 197 UmwG überwiegend dahingehend, dass die Satzung der umgewandelten AG derartige Festsetzungen enthalten muss, obwohl es sich hierbei im Hinblick auf den Identitätsgrundsatz um eine unnütze Förmelei handelt. 65 Gleichwohl ist die Begründung, die der Gesetzgeber für die Notwendigkeit des § 246 Abs. 3 UmwG gibt, zweifelhaft. Seiner Ansicht nach sei die Vorschrift des § 246 Abs. 3 UmwG mit Blick auf die Möglichkeit eines Formwechsels trotz Unterbilanz erforderlich, vgl. die RegBegr. abgedruckt bei Ganske, UmwR, S. 262. Heckschen in Fleischhauer/Preuß, Handelsregisterrecht, 2. Aufl. 2010, S. 882, nimmt eine solche, wenngleich an die besonderen Umstände des Formwechsels angepasste, Erklärung auch für den Formwechsel einer GmbH in eine AG auf. 66 Dies empfehlen z. B. Priester, DNotZ 1995, 427, 452; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 198 UmwG Rz. 15. Formulierungsbeispiele finden sich u. a. bei Limmer in Limmer, Unternehmensumwandlung, 3. Aufl. 2007, Rz. 2399 sowie bei Rawert in HoffmannBecking/Rawert, Formularhandbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, XI. 42 Anm. 5. 67 Vgl. nur Limmer in Limmer, Unternehmensumwandlung, 3. Aufl. 2007, Rz. 2399 ff.; Zimmermann in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 198 UmwG Rz. 13; Seibt in Seibt, Formularhandbuch Mergers & Acquisitions, 1. Aufl. 2010, Muster K.IV.13 Anm. 5; Volhard in Hopt, Vertrags- und Formularhandbuch, 3. Aufl. 2007, S. 725; Rawert in Hoffmann-Becking/Rawert, Formularhandbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, XI.42 Anm. 5; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 198

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Zur Reichweite anwendbaren Gründungsrechts beim Formwechsel

2. In der Literatur werden nach wie vor zwei Positionen vertreten, die sich maßgeblich auf Beiträge von K. Schmidt68 und Priester69 zurückführen lassen. Nach der Auffassung von Schmidt ist eine Erklärung nach § 8 Abs. 2 GmbHG, § 37 Abs. 1 AktG im Fall des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft erforderlich. Sachgründungsrecht finde nicht deshalb Anwendung, weil der Formwechsel in jeder Hinsicht einer Sachgründung, die Vermögenssituation also einem Sacheinbringungsvorgang, gleiche. Sachgründungsrecht finde deshalb Anwendung, weil und soweit das Umwandlungsrecht einen sacheinlageähnlichen Zustand herbeiführt70. Das Gesetz wolle sicherstellen, dass keine Gesellschaft als Kapitalgesellschaft eingetragen wird, bei der die Sacheinlagen nicht vollständig geleistet sind71. Zu einem anderen Ergebnis kommt die überzeugendere, von Priester begründete Auffassung. Tenor dieser Ansicht ist, dass die von § 8 Abs. 2 GmbHG, § 37 Abs. 1 AktG vorgegebenen Formulierungen auch in den von § 246 Abs. 3 UmwG nicht erfassten Fällen keinen Sinn geben. Die Auffassung von Priester verdient Zustimmung72. § 197 UmwG qualifiziert nach einhelliger Auffassung in der Regierungsbegründung und im Schrifttum den Formwechsel nicht als Sachgründung, sondern wendet nur aus Gründen des Kapitalerhaltungsschutzes die für die neue Rechtsform geltenden Gründungsvorschriften an, soweit sich aus dem Umwandlungsgesetz nichts anderes ergibt73. Aufgrund der Identität des Rechtsträgers findet kein Übergang von Einlagen in die Verfügungsgewalt des geschäftsführenden Gesellschaftsorgans statt74. Die Verschaffung der Verfügungsmacht über das Vermögen an den künftigen Geschäftsführer/Vorstand erfolgt nicht durch besonderes Rechtsgeschäft, sondern ist automatische Folge des Formwechsels, die auch erst mit der Eintragung des Formwechsels und nicht – wie bei einer Bar- oder Sachgrün-

__________ 68 69 70 71 72

73

74

UmwG Rz. 15; a. A. Vossius in Widmann/Mayer, 109. Erg.-Lfg. Juli 2009, § 222 UmwG Rz. 58. K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1389. Priester in FS Zöllner, 1998, S. 467; ders., DNotZ 1995, 427, 452. K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1391. K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1391. Wie hier: Priester in FS Zöllner, 1998, S. 467; Joost in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 220 UmwG Rz. 17; Scheel in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 246 UmwG Rz. 17; a. A.: K. Schmidt, ZIP 1995, 1385, 1391; Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. 2008, § 197 UmwG Rz. 59. RegBegr. zu § 197 UmwG, abgedruckt bei Ganske, UmwR, S. 220; Priester in FS Zöllner, 1998, S. 449, 455; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 197 UmwG Rz. 5 ff.; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 197 UmwG Rz. 7; Mayer in Widmann/Mayer, 100. Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 4. Happ/Göthel in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 246 UmwG Rz. 13; Scheel in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 246 UmwG Rz. 17; allgemein zum Identitätsprinzip s. Priester, DNotZ 1995, 427, 456; Vossius in Widmann/Mayer, 107. Erg.-Lfg. Mai 2009, § 202 UmwG Rz. 25; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 190 UmwG Rz. 1; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 190 UmwG Rz. 6 f.

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dung – vor der Anmeldung zum Handelsregister eintritt75. Identität bedeutet Vermögenszuordnung ohne Vermögenstransport76. Entsprechend der Formulierung von § 202 Abs. 1 Nr. 1 des Diskussionsentwurfs ist vielmehr festzustellen: Das Vermögen des formwechselnden Rechtsträgers einschließlich der Verbindlichkeiten ist Vermögen des Rechtsträgers neuer Rechtsform. Wenn in der Praxis trotz einer Auffassung, die man wohl als überwiegend bezeichnen kann, dennoch Formulierungen der oben genannten Art verwendet werden, so geschieht dies in der Regel, weil der auf Rechtssicherheit bedachte Berater weniger zur „Besänftigung des Registerrichters“77 (der ja oft gar nicht besänftigt werden muss) eine vorsorgliche Erklärung in die Anmeldung aufnimmt, sondern weil er zur Vermeidung kostenverursachender und zeitraubender Verzögerungen lieber mit „Hosenträger und Gürtel“ arbeitet, wo ein Gürtel ausreichen würde und auch schicker wäre.

VI. Schlussbemerkung Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass der Gesetzgeber mit der Vorschrift von § 197 UmwG und ihrer pauschalen Verweisung auf die für die neue Rechtsform geltenden und nicht durch das Umwandlungsgesetz explizit geregelten Gründungsvorschriften für den Rechtsanwender manche Fragen aufgeworfen hat. Diese lassen sich aber im Hinblick auf das im Gesetz angelegte Identitätsprinzip und den Zweck des für anwendbar erklärten Gründungsrechts befriedigend lösen. Für die vorstehende Untersuchung ist zu folgenden Ergebnissen zu kommen: – Ungeachtet der Vorschrift von § 30 Abs. 1 AktG bedarf es beim Formwechsel in eine prüfungspflichtige Gesellschaft nicht der Bestellung eines Abschlussprüfers, wenn der Rechtsträger alter Rechtsform bereits für das laufende Geschäftsjahr einen Abschlussprüfer bestellt hat. – Die durch § 193 Abs. 3 Satz 1 UmwG gewollte Beurkundung des Beschlusses über den Formwechsel erfolgt nach den Vorschriften von §§ 36 f. BeurkG. Das Gesellschaftsstatut des Rechtsträgers neuer Rechtsform, das notwendiger Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses ist, bedarf nicht der besonderen Beurkundung gemäß §§ 8 ff. BeurkG. – Eine § 37 Abs. 1 AktG bzw. § 8 Abs. 2 GmbHG entsprechende Erklärung müssen die als Gründer in Betracht kommenden Anteilsinhaber bei der Anmeldung des Formwechsels zum Handelsregister nicht abgeben.

__________

75 Priester, DNotZ 1995, 427, 452; Schlitt in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 220 UmwG Rz. 18; Zimmermann in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 198 UmwG Rz. 13; Limmer in Limmer, Unternehmensumwandlung, 3. Aufl. 2007, Rz. 2401; a. A. Mayer, DB 1995, 861, 862; Vossius in Widmann/Mayer, 109. Erg.-Lfg. Juli 2009, § 222 UmwG Rz. 58; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 222 UmwG Rz. 11. 76 Priester, DNotZ 1995, 427, 456. 77 So Priester, DNotZ 1995, 427, 452.

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§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG und kartellrechtliche Kronzeugenregelungen Inhaltsübersicht I. Einführung II. Kooperation zwischen Kartellbehörde und Unternehmen 1. Kronzeugenregelung im Strafverfahrensrecht a) Herkunft b) Rechtslage in Deutschland 2. Kronzeugenregelungen im Kartellrecht a) Kooperation mit der EU-Kommission b) Kooperation mit dem Bundeskartellamt III. Pflicht des Vorstands zur Nutzung der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung? IV. Kooperation zwischen Unternehmen und Vorstandsmitglied de lege lata 1. Pflicht des Vorstandsmitglieds zur Kooperation?

2. Anreize zur Kooperation 3. Grenzen der Kooperation a) Anwendungsbereich b) Sinn und Zweck aa) Sicht des historischen Gesetzgebers bb) Präventive Verhaltenssteuerung cc) Stellungnahme c) Teleologische Reduktion V. Kooperation zwischen Unternehmen und Vorstandsmitglied de lege ferenda 1. Gebot effizienter Organhaftung 2. Gebot effizienter Kartellverfolgung 3. Dilemma: Kartellrechtliche Beschleunigung versus aktienrechtliche Entschleunigung 4. Rechtstechnische Umsetzung VI. Zusammenfassung

I. Einführung Themen der „Corporate Compliance“ haben in den vergangenen Jahren sowohl wissenschaftlich als auch praktisch erheblich an Bedeutung gewonnen. Dies gilt namentlich für Fragen der „Kartellrechts-Compliance“. Die von der Rechtsordnung eröffnete Möglichkeit der Kooperation mit den Kartellbehörden, die zum Erlass oder zumindest zur Reduzierung von Bußgeldern führen kann, wirft dabei weitreichende Folgefragen auch im Aktienrecht auf. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob in Kartellverstöße (möglicherweise) involvierten Vorstandsmitgliedern hinreichende Anreize gewährt werden können, um sie zur Kooperation anzuregen. Zu diesem Zweck soll im Folgenden zunächst auf die Kooperation zwischen Unternehmen und Kartellbehörde (dazu II.), sodann auf die Frage einer Pflicht des Vorstands zur Nutzung einer kartellrechtlichen Kronzeugenregelung (dazu III.) sowie auf die Kooperation zwischen Unternehmen und Vorstandsmitglied de lege lata (dazu IV.) und de lege ferenda (dazu V.) eingegangen werden, bevor abschließend die wesentlichen Ergebnisse 215

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kurz zusammengefasst werden (dazu VI.). Die Befassung mit diesem Fragenkreis in einem Liber Amicorum für Martin Winter, den hochverehrten anwaltlichen Lehrer, liegt dabei schon deshalb nahe, weil Themen der „Corporate Compliance“ Martin Winter nicht nur in seiner anwaltlichen Beratungspraxis für bedeutende Mandanten, sondern zugleich in seiner wissenschaftlichen Arbeit – so hat er seinen letzten wissenschaftlichen Beitrag zu Fragen der „Corporate Compliance“ verfasst1 – intensiv beschäftigten.

II. Kooperation zwischen Kartellbehörde und Unternehmen Dass Personen, die gegen Recht und Gesetz verstoßen haben, mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten und für diese Kooperation einen (partiellen) Erlass ihrer Strafe oder Buße erhalten, versteht sich aus historischer Perspektive nicht von selbst. Um die Dimension des Wandels zu ermessen, der sich während der letzten dreißig Jahre vollzogen hat, bedarf es eines kurzen Überblicks über die Entwicklung der Kronzeugenregelung im Strafrecht, die den Gedanken einer Begünstigung kooperationsbereiter Straftäter in Deutschland – trotz aller Widerstände – populär und salonfähig gemacht hat (dazu 1.), bevor die Grundzüge der kartellrechtlichen Kronzeugenregelungen skizziert werden (dazu 2.). 1. Kronzeugenregelung im Strafverfahrensrecht a) Herkunft Die Idee der Kronzeugenregelung entstammt – wie der Begriff („King’s Evidence“) – dem angelsächsischen Rechtskreis. Sie geht auf die mittelalterliche Praxis des approvement zurück. Danach konnten Personen, die man bestimmter schwerer Verbrechen verdächtigte, nach einem Geständnis in den bezahlten Dienst der Krone treten. Deren Aufgabe bestand sodann darin, Mitbeschuldigte zu überführen und für ihre Verurteilung zu sorgen. Gelang ihnen dies, entgingen sie einer Bestrafung; gelang es ihnen nicht, konnten sie aufgrund ihres Geständnisses verurteilt und hingerichtet werden2. Mit der Etablierung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens modernen Zuschnitts im 19. Jahrhundert wandelten sich auch Funktion und Ausgestaltung der Kronzeugenregelung. Das Inaussichtstellen von Immunität für vergangene Straftaten diente nun vornehmlich dazu, den Angeklagten bzw. Zeugen zu einem Verzicht auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu bewegen. Nach einer entsprechenden Absprache – immunity bargain – sagte der Angeklagte bzw.

__________ 1 M. Winter in FS Hüffer, 2009, S. 1103. 2 Vgl. Röhrkasten, Die englischen Kronzeugen 1130–1330, Berlin 1990, S. 137 ff.; Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. Ein Beitrag zur deutsch-italienischen Strafprozessvergleichung, Freiburg i.Br. 2001, S. 9.

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Zeuge freiwillig aus. Auch das US-amerikanische Strafverfahrensrecht kennt seit langer Zeit das bargaining zwischen Staatsanwalt und Angeklagtem3. Das Problem, dass Kronzeugenaussagen falsche Anschuldigungen enthalten können, ist beiden Rechtsordnungen nicht unbekannt (in England muss der Richter die Jury auf den problematischen Beweiswert ausdrücklich hinweisen); doch insgesamt wird die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, wohl auch deshalb, weil nicht wie in Deutschland das Legalitätsprinzip, sondern das Opportunitätsprinzip bei der Strafverfolgung gilt4. b) Rechtslage in Deutschland In Deutschland erfolgte die Einführung einer eigenständigen Kronzeugenregelung im Strafverfahren sehr viel später als in den angelsächsisch geprägten Rechtsordnungen. Das bedeutet nicht, dass nicht doch – insbesondere vor 1945 – gelegentlich Absprachen zwischen Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigten, Angeklagten oder Zeugen stattfanden, die einem englischen oder amerikanischen bargaining nahe kamen5. Doch fehlte es sowohl an einer gesetzlichen Regelung als auch lange Zeit an einer juristisch reflektierten Debatte. Sie setzte erst mit der Zunahme der terroristischen Bedrohung in den 1970er Jahren ein6. Die erste gesetzliche Implementierung einer Kronzeugenregelung gelang 1982 mit der Einführung des § 31 BtMG. Sieben Jahre später erfolgte die Verabschiedung des zweimal verlängerten Kronzeugengesetzes7. Daneben trat die Einführung bereichspezifischer Regelungen (sog. kleiner Kronzeugenregelungen)8. Seit dem 1.9.2009 existiert mit § 46b StGB eine allgemeine Kronzeugenregelung, die eventuell aussagewilligen Straftätern in größerem Umfang als bisher einen Anreiz zur Kooperation bieten soll9.

__________ 3 Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2001, S. 10–15; vgl. auch Oehler, Kronzeugen und Erfahrungen mit Kronzeugen im Ausland, ZRP 1987, 41 ff. 4 Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2001, S. 15 f. 5 Vgl. die Beispiele bei Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2001, S. 22–26. 6 Aus der frühen Literatur vgl. Middendorff, ZStW 85 (1973), 1102 ff.; Baumann, JuS 1975, 342 ff. 7 Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2001, S. 27. 8 Kinzig in Schönke/Schröder, 28. Aufl., § 46b Rz. 1. 9 Zur Gesetzgebungsgeschichte König, NJW 2009, 2481 f.

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2. Kronzeugenregelungen im Kartellrecht Im Kartellrecht stellen mittlerweile die Kronzeugenprogramme auf europäischer und deutscher Ebene das wichtigste Instrument zur Aufdeckung von Kartellverstößen dar10. a) Kooperation mit der EU-Kommission In EU-Kartellverfahren wurden im Zeitraum zwischen 2006 und 2010 Geldbußen von mehr als zwölf Mrd. Euro verhängt; allein 2010 waren es mehr als drei Mrd. Euro11. Die Kommission hat zwar immer schon die Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung als Milderungsgrund berücksichtigt12, doch ein Äquivalent zum amnesty program des US Department of Justice13 existiert erst seit der Kronzeugenmitteilung von 199614. Diese wurde seither modifiziert und ergänzt15. Die Mitteilung sieht zunächst den vollständigen Erlass der Geldbuße für das Unternehmen vor, das als erstes Informationen und Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen durchzuführen oder eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festzustellen16. Dabei ist die erste Alternative für die Praxis bei weitem bedeutsamer17. War ein anderes Unternehmen schneller oder verfügte die Kommission bereits über ausreichende Beweismittel, kommt nur eine Ermäßigung der Geldbuße in Betracht. Hierzu müssen die beigebrachten Beweismittel gegenüber den bereits vorliegenden einen erheblichen Mehrwert darstellen18. Dabei spielt der Zeitfaktor eine wichtige Rolle: Wer Beweismittel von erheblichem Mehrwert als erster liefert, erhält einen Rabatt von 30–50 %. Der zweite Antragsteller kann

__________ 10 Lampert/Matthey in Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 26 Rz. 38; Dieckmann in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 46 Rz. 21; PufferMariette, Die Effektivität von Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, Baden-Baden 2008, S. 70; vgl. auch den Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes für die Jahre 2007/2008, BT-Drucks. 16/13500, S. 1, 10. 11 http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf. 12 Vgl. Komm. E. v. 5.6.1991 ABl. 1991 L 287/39 – Viho/Toshiba; Komm E. v. 1.4.1992 ABl. 1992 L 134/1 Rz. 74e – Reederausschüsse in der Frankreich-Westafrika-Fahrt. 13 Zu dessen Effektivität vgl. Puffer-Mariette, Die Effektivität von Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 50. 14 Dieckmann in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 46 Rz. 20. Zur Praxis der Kronzeugenmitteilung 1996 eingehend M. Schneider, Kronzeugenregelung im EGKartellrecht, Frankfurt am Main 2004, S. 61 ff. 15 Vgl. die Mitteilung der Kommission über den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17. Dazu S. Albrecht, Die neue Kronzeugenmitteilung der Europäischen Kommission in Kartellsachen, WRP 2007, 417–427. 16 Mitteilung der Kommission über den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17, Rz. 8 (a) und (b). 17 Dieckmann in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 46 Rz. 22. 18 Mitteilung der Kommission über den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17, Rz. 24.

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noch auf 20–30 % Ermäßigung hoffen, jedes weitere Unternehmen aber muss sich mit 20 % begnügen19. Erlass und Ermäßigung setzen voraus, dass der Antragsteller während des gesamten Verfahrens ernsthaft, in vollem Umfang, kontinuierlich und zügig mit der Kommission zusammenarbeitet. Dies beinhaltet unter anderem, dass derzeitige und – soweit möglich – frühere Mitarbeiter einschließlich Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern für Befragungen durch die Kommission zur Verfügung stehen20. b) Kooperation mit dem Bundeskartellamt In Deutschland fehlte es bis zur Bekanntmachung des Bundeskartellamtes Nr. 68/2000 vom 17.4.2000 an einer Kronzeugenregelung. An deren Stelle trat sechs Jahre später die „Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung“21. Diese lehnt sich inhaltlich stark an die Mitteilung der EU-Kommission an. Seit Einführung von § 81 Abs. 7 GWB durch die 7. GWB-Novelle existiert nunmehr auch eine gesetzliche Grundlage für die Bonusregelung. Die Bonusregelung unterscheidet ebenfalls zwischen Erlass und Reduktion der Buße. Ein Erlass findet grundsätzlich nur statt, wenn der Kartellbeteiligte sich als erster an das Bundeskartellamt wendet, bevor dieses über ausreichende Beweismittel verfügt, um einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken oder die Tat nachzuweisen22. Die späteren Antragsteller können regelmäßig nur noch eine Ermäßigung der Geldbuße erwarten23. Im Unterschied zur EU-Regelung besteht indes auch für diese Antragsteller die Möglichkeit, einen rangwahrenden Marker beim Bundeskartellamt zu setzen24. Voraussetzung für Erlass und Ermäßigung ist die Pflicht, ununterbrochen und uneingeschränkt mit dem Bundeskartellamt zusammenzuarbeiten. Diese

__________ 19 Mitteilung der Kommission über den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17, Rz. 26. 20 Mitteilung der Kommission über den Erlass oder die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17, Rz. 12 und 24 i. V. m. 12. 21 http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Merkblaetter/Merkblaetter _deutsch/06_Bonusregelung.pdf. 22 Näher zu den einzelnen Voraussetzungen siehe Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rz. 3, 4. 23 Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rz. 5. 24 Die Bonusregelung sieht nach US-amerikanischem Vorbild vor, dass der Kartellbeteiligte gegenüber dem Bundeskartellamt seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt und ihm Basisinformationen namentlich zur Art und Dauer des Kartellverstoßes zur Verfügung stellt. Daraufhin setzt die Behörde eine Frist zur Ausarbeitung des Antrags. Wird diese eingehalten, so ist für die Beurteilung des zeitlichen Rangs des Bonusantrags der Zeitpunkt des Setzens des Markers maßgeblich, vgl. Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rz. 11–17.

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„Kooperationspflichten“ werden in der Bekanntmachung näher konkretisiert25. Unter anderem muss ein Unternehmen alle an der Kartellabsprache beteiligten Beschäftigten (einschließlich ehemaliger Beschäftigter) benennen und darauf hinwirken, dass alle Beschäftigten, von denen Informationen und Beweismittel erlangt werden können, während des Verfahrens ununterbrochen und uneingeschränkt mit dem Bundeskartellamt zusammenarbeiten26.

III. Pflicht des Vorstands zur Nutzung der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung? Die Entscheidung für oder gegen die Nutzung der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung stellt in der AG eine unternehmerische Entscheidung i. S. des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG dar27. Der Vorstand hat insoweit grundsätzlich ein unternehmerisches Ermessen28. Eine gesetzlich angeordnete Pflicht zur Nutzung der Kronzeugenregelung besteht nicht. Sie folgt insbesondere nicht bereits aus der Existenz der Kronzeugenregelung. Umgekehrt steht der Kooperation mit den Kartellbehörden kein gesetzliches Verbot entgegen, namentlich nicht die organschaftliche Verschwiegenheitspflicht gemäß § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG29. Von der Kronzeugenregelung Gebrauch zu machen, kann erhebliche Risiken für die Gesellschaft bergen, die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind. So erleichtert ein Unternehmen, das Informationen zu Kartellverstößen offen legt, nicht nur der Behörde die Arbeit, mit der man zum eigenen Vorteil kooperiert, sondern unter Umständen auch Kartellbehörden anderer Länder und Dritten, die Schadensersatzansprüche geltend machen können. Trotz solcher Risiken wird ein gewissenhafter Vorstand häufig die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen; dies gilt insbesondere dann, wenn ein vollständiger Erlass der Kartellbuße möglich erscheint. Ein pflichtwidriges Unterlassen der Nutzung kartellrechtlicher Kronzeugenregelungen kann ebenso eine Schadensersatzpflicht des Vorstandes gegenüber der Gesellschaft begründen wie eine pflichtwidrige Kooperation.

__________ 25 Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rz. 6–10. 26 Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rz. 10. 27 Säcker, WuW 2009, 362, 373; Böttcher, Gesellschaftsrechtlicher Zwang zur Nutzung kartellrechtlicher Kronzeugenregelungen, Frankfurt am Main 2010, S. 175. 28 Kremer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 701, 705 (zur Kooperation des Unternehmens mit der Staatsanwaltschaft). 29 Böttcher, Gesellschaftsrechtlicher Zwang zur Nutzung kartellrechtlicher Kronzeugenregelungen, S. 89–96, 175.

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§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG und kartellrechtliche Kronzeugenregelungen

IV. Kooperation zwischen Unternehmen und Vorstandsmitglied de lege lata Im Rahmen einer Kooperation mit den Kartellbehörden ist eine betroffene Aktiengesellschaft häufig auf die Zusammenarbeit mit (möglicherweise) in Rechtsverstöße verwickelten Vorstandsmitgliedern angewiesen. Da das Unternehmen hierbei – selbst bei Setzen eines Markers – unter erheblichem Zeitdruck steht, stellt sich die im Folgenden näher zu beleuchtende Frage, ob das Aktienrecht insoweit die adäquaten Mittel zur Verfügung stellt, um die hohen kartellrechtlichen Kooperationsanforderungen zu erfüllen. Im Folgenden soll deshalb zunächst näher auf die Pflicht eines Vorstandsmitglieds zur Kooperation (dazu 1.), hiernach auf mögliche Kooperationsanreize (dazu 2.) und schließlich auf die insbesondere durch § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG gesetzten Grenzen der Kooperation (dazu 3.) näher eingegangen werden. 1. Pflicht des Vorstandsmitglieds zur Kooperation? Ein Bedürfnis, an Kartellverstößen beteiligten Vorstandsmitgliedern Anreize zu ihrer Kooperation in Gestalt einer unternehmensinternen Kronzeugenabsprache zu bieten, entfiele zumindest de jure von vornherein dann, wenn diese Vorstandsmitglieder aufgrund ihrer Treuepflicht ohnehin, also auch ohne eine entsprechende Haftungsbefreiung, zur Zusammenarbeit verpflichtet wären30. Nach Säcker soll ein Vorstandsmitglied, „das eine dienstvertraglich gebotene Kooperation von einer Haftungsbefreiung abhängig macht“, sogar „strafrechtlich den Tatbestand der Erpressung (§ 253 StGB)“ verwirklichen31. Dem ist insoweit zuzustimmen, als das betreffende Vorstandsmitglied selbstverständlich an der Aufklärung von Kartellverstößen mitwirken muss, sofern keine Gefahr besteht, dass es sich dabei selbst belastet. Aber eben diese Annahme ist meist kein realistisches Szenario. In Anbetracht der §§ 9, 14 und 130 OWiG ist der Kreis der Personen, die für die Begehung einer Ordnungswidrigkeit in Frage kommen, sehr groß32. Dann erscheint es aber problematisch anzunehmen, ein Vorstandsmitglied sei gleichwohl zur Zusammenarbeit verpflichtet. Denn möglicherweise greift insoweit das nemo-tenetur-Prinzip ein, das verfassungsrechtlich gewährleistete Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung33. Freilich hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit wenig Bereitschaft erkennen lassen, dem nemo-tenetur-Prinzip auch in zivilrechtlich geprägten Sachverhalten umfassend Geltung zu verschaffen34. Dahinter steht offenbar die Überzeugung, dass der Grundrechtsadressat vornehmlich vor der Konfrontation mit einem amtlichen Auskunftsverlangen geschützt werden müsse35. Ob sich dieser formale Standpunkt in Zeiten zunehmender Privatisierung von

__________ 30 31 32 33 34 35

So offenbar M. Zimmermann, DB 2008, 687, 689. Säcker, WuW 2009, 362, 372. Klaue in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 4. Aufl., § 59 Rz. 37. Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 774. Vgl. BVerfG, NJW 1981, 1431; BGH, NJW 1964, 1469. Vgl. BGH, NJW 1996, 2940, 2941 f.

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Verwaltungsaufgaben aufrechterhalten lässt, ist indes fraglich, zumal die Ausstrahlung verfassungsrechtlicher Grundsätze in das Privatrecht als solche nicht zweifelhaft sein kann. Eine im Vordringen befindliche Meinung in der Literatur will daher das Verbot, sich selbst belasten zu müssen, auch bei staatlich veranlassten Ermittlungstätigkeiten Privater anwenden36. In der Tat wäre es kaum nachvollziehbar, wenn nach § 59 Abs. 5 GWB die gesetzlich zur Auskunft Verpflichteten auf solche Fragen die Auskunft verweigern könnten, deren Beantwortung sie der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem OWiG aussetzen würde, der gleiche Grundsatz aber nicht gelten sollte, wenn das betroffene Unternehmen intern ermittelt und der Behörde die auf die Weise erlangten Informationen weiterleitet37. Denn in der Sache geht es in beiden Fällen um die gezielte Aufklärung von Rechtsverstößen, also um eine genuin staatliche Aufgabe38. 2. Anreize zur Kooperation Da das Vorstandsmitglied demnach jedenfalls dann, wenn es andernfalls Gefahr liefe, sich im Hinblick auf ein Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren selbst zu belasten, nicht gezwungen werden kann, an der Aufklärung von Kartellrechtsverstößen in einer Weise mitzuwirken, die es selbst mit Schadensersatzforderungen der Gesellschaft belasten würde, bleibt dieser regelmäßig nichts anderes übrig, als Vergünstigungen in Aussicht zu stellen, die geeignet sind, das Vorstandsmitglied zur Zusammenarbeit zu bewegen. In erster Linie wird es dem Vorstandsmitglied auf die Zusage ankommen, dass es im Fall einer Kooperation keinen Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft ausgesetzt ist. Solche Ansprüche können sich aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ergeben, weil zum einen das Vorstandsmitglied nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG verpflichtet ist, für rechtmäßiges Verhalten der Gesellschaft zu sorgen (bzw. seine Mitarbeiter zu überwachen und zu rechtmäßigem Verhalten anzuhalten)39, und weil zum anderen die Pflicht zur Entrichtung einer Geldbuße einen Schaden der Gesellschaft i. S. der §§ 249 ff. BGB begründet40. Das Vorstandsmitglied wird verlangen, dass entweder die Gesellschaft auf diese Ansprüche verzichtet oder zumindest der Aufsichtsrat bindend erklärt, von der Geltendmachung absehen zu wollen (pactum de non petendo). Mit einer unverbindlichen bzw. mit einem ausdrücklichen Widerrufsvorbehalt verbundenen

__________ 36 Uwe H. Schneider, NZG 2010, 1201, 1204; Dann/Schmidt, NJW 2009, 1851, 1853; Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68, 70. 37 Ähnlich – mit Blick auf § 4 Abs. 9 WpHG – Uwe H. Schneider, NZG 2010, 1201, 1204. 38 Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68, 70. 39 Zur Legalitätspflicht vgl. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010 § 93 Rz. 14 ff.; Fleischer, ZIP 2005, 141, 142 ff.; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 98 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 71 ff. 40 Str. wie hier Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345 f.; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 570; Zimmermann, BB 2008, 687, 687; a. A. Dreher in FS Konzen, 2006, S. 84, 104 ff.; Horn, ZIP 1997, 1129, 1136.

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Erklärung des Aufsichtsrats wird sich das Vorstandsmitglied hingegen wohl in der Regel nicht zufrieden geben. Daneben kommen Ansprüche Dritter nach § 33 Abs. 3 GWB in Betracht, wenn diese aufgrund des Kartellverstoßes einen Schaden erlitten haben. Ferner besteht die Gefahr, dass das Bundeskartellamt nach § 81 GWB i. V. m. §§ 9, 14, 30, 130 OWiG eine Geldbuße gegen das Vorstandsmitglied selbst und nicht nur gegen das Unternehmen verhängt. Auch Geldstrafen wegen Betrugs (§ 263 StGB), Untreue (§ 266 StGB) oder wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) sind nicht ausgeschlossen41. In solchen Fällen, in denen zu besorgen ist, dass Dritte oder der Staat unmittelbar gegen das Vorstandsmitglied vorgehen, wird der Betroffene nur zur Kooperation bereit sein, wenn eine Freistellung von den hiermit verbundenen finanziellen Belastungen erfolgt (wobei Fragen der Freistellung im Rahmen dieser Abhandlung nicht vertieft werden können)42. 3. Grenzen der Kooperation Ein Unternehmen, das sich darum bemüht, die an einem Kartellverstoß beteiligten Vorstandsmitglieder mit Hilfe von Verzichts- oder Freistellungserklärungen möglichst schnell zu einer Zusammenarbeit zu animieren, um die Kartellbehörden mit substantiellen Informationen zu versorgen, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass das Aktienrecht einem solchen Vorgehen enge Grenzen setzt. Dies gilt insbesondere für § 93 Abs. 4 Satz 3, 4 AktG. Danach kann die Gesellschaft gemäß Satz 3 erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt. Satz 4 sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz für den Fall vor, dass der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist. Angesichts des großen Zeitdrucks, den der Prioritätsgrundsatz der kartellrechtlichen Kronzeugenprogramme erzeugt, besteht heute mehr denn je die Notwendigkeit, den Anwendungsradius des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG genau zu bestimmen und methodisch zulässige Restriktionen in Erwägung zu ziehen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob und inwieweit Abweichungen von dem in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG stipulierten grundsätzlichen Verbot zeitnaher Verzichts- oder Vergleichsvereinbarungen zulässig sind. Selbst wenn man eine Durchbrechung der 3 Jahres-Vorgabe in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG befürworten wollte, wären damit nicht in allen Fällen sämtliche Hürden für eine Kooperation aus dem Weg geräumt: Würde die Hauptversammlung im elektronischen Bundesanzeiger – also öffentlich – einberufen, würde sich dies wegen der insoweit bestehenden kartellrechtlichen Vertraulichkeitsvorgaben regelmäßig kooperationsschädlich auswirken. Eine kooperationsunschädliche vertrauliche Hauptversammlungsvorbereitung käme dann in Betracht, wenn die Hauptver-

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41 Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 771. 42 Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 771.

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sammlung im Wege der Universalversammlung (§ 121 Abs. 6 AktG) durchgeführt wird oder die Einberufung eines kleines Aktionärskreises mit eingeschriebenem Brief (§ 121 Abs. 4 AktG) erfolgt43. a) Anwendungsbereich Von der Beschränkung des Abs. 4 Satz 3 sind dem Wortlaut nach nur der „Verzicht“ und der „Vergleich“ betroffen. Darunter fallen mit Gewissheit der Erlass einer Verbindlichkeit nach § 397 Abs. 1 BGB, das negative Schuldanerkenntnis nach § 397 Abs. 2 BGB, der Vergleich nach § 779 BGB sowie verfahrensrechtliche Maßnahmen wie der Prozessvergleich nach §§ 794 Abs. 1 Nr. 1, 1053 ZPO, der Anwaltsvergleich nach §§ 796a ff. ZPO und der Verzicht nach § 306 ZPO44. Die Literatur wendet § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG auch noch auf eine Reihe anderer Rechtshandlungen an. Das wird allerdings nur selten methodisch reflektiert und begründet. Fleischer geht davon aus, dass die Erwähnung von Verzicht und Vergleich „als rechtstechnisches Mittel zur Haftungsbefreiung … nicht taxativ“ zu verstehen sei45. Andere Autoren verweisen auf die Unzulässigkeit einer „Umgehung“ des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG46. Weder bei der taxativen Tatbestandsbestimmung noch bei der Gesetzesumgehung handelt es sich allerdings um selbständige Rechtsinstitute, sondern nur um Anwendungsfälle der telelogischen Auslegung47. Es stellt sich also – anders gewendet – die Frage nach Sinn und Zweck der Vorschrift. In jedem Fall bedarf es zunächst der genauen Bestimmung des dem § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu Grunde liegenden Regelungszwecks. Der Systematik nach beziehen sich die Restriktionen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG auf die Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG. Ebenfalls erfasst erscheinen Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder aus anderen Rechtsgrundlagen, sofern diese Ansprüche aufgrund der Organstellung gegenüber dem Vorstand entstanden sind und nicht etwa wegen Verletzung eines gesonderten Vertrags48.

__________ 43 Vgl. auch Zimmermann in FS Duden, 1977, S. 773, 774. 44 Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 376; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 170 f. 45 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 287; Fleischer, BB 2005, 909, 918. 46 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 233; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 377; Mertens in FS Fleck, S. 209, 213. 47 H. M. (zur Gesetzesumgehung) BGHZ 110, 47, 64; Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 105; Ellenberger in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 134 Rz. 28; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. 2004, § 40 Rz. 31; Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. 2010, Rz. 660. 48 Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 369; vgl. auch Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 167; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 242.

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b) Sinn und Zweck Die ratio legis einer gesetzlichen Bestimmung bestimmt sich nach dem Willen des historischen Gesetzgebers49 und nach objektiven Maßstäben, d. h. unter Beachtung der Wertentscheidung der Rechtsordnung bzw. allgemeiner Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Norm ist als Teil einer gerechten und zweckmäßigen Ordnung zu verstehen, so wie sie sich heute darstellt50. Ungeachtet dieser Grundsätze bereitet die Ermittlung von Sinn und Zweck des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG Schwierigkeiten. Sinn und Zweck des Erfordernisses der Hauptversammlungszustimmung mit einhergehender Eingriffsmöglichkeit der Minderheit besteht darin, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, der durch kollegiale oder sonstige Rücksichtnahmen droht51. Schwieriger ist die Analyse von Sinn und Zweck der Dreijahresfrist. aa) Sicht des historischen Gesetzgebers Die Normierung der Dreijahresfrist dient ebenfalls zumindest auch dem Wohl der Gesellschaft. Die Gesetzesmaterialien zu dieser Fristenregelung sind freilich dürftig und bedürfen ihrerseits der Auslegung. Vorbild für die Sperrfrist in § 93 AktG war eine entsprechende Regelung in Artt. 180c, 213 d ADHGB, die 1884 eingefügt wurde52. Der Gesetzgeber wollte einen Verzicht oder Vergleich erst zulassen, „nachdem die Beherrschung der Generalversammlung durch die Gründer präsumtiv aufgehört hat, damit nicht der Gesellschaft durch die in höchstem Grade betheiligten Gründer oder die von diesen beherrschten Stimmberechtigten und Gesellschaftsorgane wohlbegründete Ansprüche entzogen werden“53. Auch die Literatur sah den Sinn und Zweck der dann später als § 205 in das HGB übernommenen Vorschrift darin, Manipulationen der für eine gewisse Zeit noch sehr einflussreichen Gründer einen Riegel vorzuschieben54. Die Erstreckung der Sperrfrist auf den Bereich der Vorstandshaftung erfolgte erst 1937. Die Frist in § 84 Abs. 4 Satz 3 AktG 1937 betrug zunächst fünf Jahre. Eine Begründung für diese Gesetzesänderung sucht man in den Materialien indes vergeblich. Sie enthalten lediglich den Hinweis, derartige Verzichte oder Vergleiche seien bereits nach geltendem Recht nur ausnahmsweise und unter

__________ 49 Vgl. BGH, NJW 2003, 290; BGHZ 62, 340, 350. 50 Sprau in Palandt, 70. Aufl. 2011, Einl. Rz. 46. 51 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 222; Hüffer, § 93 Rz. 29; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 354; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 278; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 161; Mertens in FS Fleck, S. 209, 210. 52 Cahn, Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht, Köln 1994, S. 35. 53 Allgemeine Begründung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG von 1884, abgedruckt in Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, Berlin 1985, S. 404, 452 f. 54 Nachweis bei Zimmermann in FS Duden, S. 773, 776.

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besonderen Voraussetzungen zulässig. Das war eine irreführende Annahme55, die aber zumindest erklärt, warum in den Materialien keine weiteren Ausführungen für notwendig erachtet wurden. Die einzige substantielle legislative Stellungnahme zur Sperrfrist liegt aus dem Jahr 1965 vor, als das neue AktG verabschiedet wurde. Aus Anlass der Verkürzung der Sperrfrist von fünf auf drei Jahre stellte die Regierungsbegründung fest: „Die Vorschrift soll verhindern, dass über einen Verzicht oder Vergleich bereits zu einem Zeitpunkt entschieden wird, in dem sich noch kein abschließendes Bild über die Auswirkungen der schädigenden Handlungen gewinnen lässt“56. Mit diesem Ansatz folgte die Regierungsbegründung einer Sicht, die das Reichsgericht in Ermangelung legislativer Vorgaben entwickelt hatte57. Auch die neuere Literatur sieht in der Verhinderung vorschneller Entscheidungen den (Haupt-)Zweck des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG58. Die Reduzierung der Fristdauer um zwei Jahre rechtfertigte der Regierungsentwurf zum AktG von 1965 im Übrigen damit, dass zum einen „sich im Allgemeinen schon nach drei Jahren die Folgen der Handlung übersehen lassen“ und zum anderen „ein Verzicht oder Vergleich auch im Interesse der Gesellschaft liegen kann, weil er einen ungewissen Schwebezustand beendet“59. bb) Präventive Verhaltenssteuerung Einen weiteren Regelungszweck der dreijährigen Sperrfrist hat Mertens formuliert: Selbst wenn ein vollkommen überschaubarer Schaden vorliege, man also schon vor Ablauf der Frist die Folgen eines Verzichts oder Vergleichs für die Gesellschaft ohne weiteres abschätzen könne, komme eine Verständigung gleichwohl nicht in Betracht, weil die Verwaltung nicht ganz so frei mit Ersatzansprüchen umspringen und ohne Furcht vor solchen Ersatzansprüchen leben solle, wie sie es manchmal vielleicht wolle60. Genau darin liege der Sinn der Dreijahresfrist: „Ein gesellschaftsschädliches Verhalten bleibt für die Verwaltung, auch wenn sie sich der Zustimmung des Groß- oder Alleinaktionärs oder des herrschenden Unternehmens sicher weiß, schon unter dem Gesichtspunkt risikovoll, dass diese innerhalb der Dreijahresfrist ihre Anteile veräußern können“61.

__________ 55 56 57 58

Zimmermann in FS Duden, S. 773, 776; Cahn, Vergleichsverbote, S. 35. Begründung RegE (zu § 93 AktG) in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 123. RGZ 133, 33, 38. Hüffer, § 93 Rz. 28; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 221; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 366; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164; Zimmermann in FS Duden, S. 773, 774; Mertens in FS Fleck, S. 209, 210; Lutter, ZSR 2005, 415, 435 f. 59 Begründung RegE (zu § 93 AktG) in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 123. 60 Mertens in FS Fleck, S. 209, 211. Vgl. auch Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 366. 61 Mertens in FS Fleck, S. 209, 211.

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cc) Stellungnahme Während das in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG verankerte Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung (mit Eingriffsmöglichkeit der Minderheit) das Risiko von „Freundschaftsdiensten“ zwischen Vorstand und Aufsichtsrat eliminieren soll, gestaltet sich die Ermittlung von Sinn und Zweck des Erfordernisses eines Dreijahreszeitraums schwieriger. Nicht überzeugen könnte jedenfalls ein Hinweis, dass allgemein erst nach Ablauf eines Dreijahreszeitraums sich ein derart zuverlässiges Bild über die Auswirkungen schädigender Handlungen gewinnen lasse, dass fortan ein Verzicht bzw. Vergleich in Betracht komme. Eine solche Sicht vermöchte nämlich nicht zu erklären, weshalb eine derartige Schranke nur für den Verzicht auf bzw. den Vergleich über Ansprüche gegen Verwaltungsmitglieder, nicht jedoch für entsprechende Rechtsakte gegenüber Dritten gelten sollte. Schädigen Dritte die Gesellschaft in einer zum Ersatz verpflichtenden Weise, kann der Vorstand im Rahmen der ihm durch § 93 Abs. 1 AktG insoweit gesteckten Grenzen62 umgehend auf derartige Ansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen. Die Notwendigkeit der Entwicklung eines abschließenden Bildes über die Auswirkungen der schädigenden Handlungen lässt sich somit nicht allgemein, sondern lediglich aus der spezifischen Situation der Hauptversammlung heraus erklären. Während der Vorstand beim Vergleich oder Verzicht gegenüber Dritten typisierend nicht unter Informationsasymmetrien leidet, ist dies bei der Hauptversammlung im Verhältnis zum Vorstand anders. Die strukturelle Informationsunterlegenheit der Hauptversammlung lässt es daher – so die Konzeption des Gesetzes – geboten erscheinen, zunächst einen Dreijahreszeitraum verstreichen zu lassen, um die vorhandenen Informationsdefizite über diesen Zeitraum ausgleichen zu können. Fraglich ist, ob neben diesen Gesetzeszweck die von Mertens beschriebene präventive Verhaltenssteuerung tritt. Auch wenn er in diesem Zusammenhang von „gesellschaftsschädlichem Verhalten“ spricht, so lässt sich dieser Ansatz wohl so verstehen, dass § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (auch) dem Zweck dient, Vorstandsmitglieder zu gesetzeskonformem Verhalten zu erziehen, unabhängig davon, ob der Gesellschaft aus dem rechtswidrigen Handeln ein materieller Schaden entsteht oder ob sie dadurch ausnahmsweise sogar einen Vorteil erlangt. Mit anderen Worten: § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG könnte dazu bestimmt sein, das öffentlichen Interesse an der Integrität der Rechtsordnung zu schützen und nicht oder nicht vornehmlich das Interesse der Gesellschaft. Der Gedanke als solcher ist dem deutschen Aktienrecht bekanntlich nicht ganz fremd63. Nach herrschender, wenn nicht gar einhelliger Meinung betrifft das Sorgfaltspflichtserfordernis des § 93 Abs. 1 AktG (auch) die Rechtmäßigkeit der Geschäftsführung. Es gilt der grundsätzliche Vorrang der organschaftlichen

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62 Zu beachten sind insoweit insbesondere die in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH (BGHZ 135, 244, 253 ff.) postulierten Grundsätze. 63 Rechtsvergleichend und insbesondere zur amerikanischen Efficient-breach-Doktrin: Fleischer, ZIP 2005, 141 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 76 (m. w. N.).

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Legalitätspflicht, der auch (aus betriebswirtschaftlicher Perspektive) „nützliche“ Normenverstöße erfasst. Im Rahmen des § 93 Abs. 1 AktG ist daher einem Vorstandsmitglied von vornherein der Einwand abgeschnitten, es habe nicht sorgfaltswidrig gehandelt, weil die Gesellschaft von dem Rechtsbruch profitiere64. Allerdings ist die Frage, ob eine Pflichtverletzung i. S. des § 93 Abs. 1 AktG vorliegt, durchaus verschieden von der, ob die Gesellschaft auf Ansprüche, die sich daraus ergeben, verzichten kann. Die Geltung des Rechts darf durch Nutzenerwägungen nicht in Frage gestellt werden, wohl aber können diese bei der Geltendmachung von Ansprüchen Berücksichtigung finden. Sicherlich dient § 93 AktG im Ganzen auch der präventiven Verhaltenssteuerung. Insoweit muss die Vorschrift funktionsfähig bleiben65. Dazu leistet das in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vorgesehene Erfordernis einer Zustimmung durch die Hauptversammlung und die Gewährleistung einer Widerspruchsmöglichkeit einen Beitrag. Dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Sperrfrist derartige präventive Zwecke verfolgte, gibt es indes keine Anhaltspunkte. In den Beratungen 1965 stand das Problem der Voraussehbarkeit der Schadensentwicklung im Vordergrund. 1884 war zwar die Rede davon, die Frist solle undurchsichtige Gefälligkeiten und Einflussnahmen bei einer Enthaftung unterbinden. Aber zum einen hatte man damals ausschließlich den Einfluss der Gründer im Blick, zum anderen trieb den Gesetzgeber – wie aus den Materialien ersichtlich – allein die Sorge an, dass der Gesellschaft durch solche Verstrickungen „wohlbegründete Ansprüche entzogen werden“ könnten66, und nicht die Furcht, die abschreckende Wirkung einer Haftung werde relativiert und das zukünftige Verhalten von Vorstandsmitgliedern ungünstig beeinflusst. Angesichts dessen dürften die besseren Gründe gegen die von Mertens bejahte präventive Verhaltenssteuerung als (weitere) ratio der Bestimmung sprechen. Dass der Gesetzgeber § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht als Abwägungsnorm ausgestaltet, sondern die Zulässigkeit eines Verzichts oder Vergleichs an die Überschreitung einer konkreten Periode geknüpft hat, spricht dafür, dass es ihm in besonderem Maße auf die Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten ankam, was durch die strikte Einhaltung eindeutiger Normen gewährleistet werden sollte. In der Tat gelten Frist- und Formvorschriften gemeinhin als „formale Ordnungsvorschriften“, die (auch) der Rechtssicherheit – verstanden als eigenständiger Regelungszweck – dienen67. Sinn und Zweck derartiger Bestimmungen „ist daher auch die Wahrung der Rechtssicherheit, und daher

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64 Vgl. nur Fleischer, NJW 2009, 2337, 2338; ders., ZIP 2005, 141, 148; Krieger/SailerCoceani in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 6; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 77; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 99; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 71. 65 Eingehend Ulmer in FS Canaris, S. 451, 464 f. 66 In Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, S. 452 f. 67 Grundlegend Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 192 f.; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914, S. 182 ff. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., Berlin 1992, S. 392 f.

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kann keine Rede davon sein, dass sie entfalle, wenn das vom Gesetz erstrebte Ziel im Übrigen auch ohne Einhaltung der Vorschrift erreicht ist“68. c) Teleologische Reduktion Bislang hat man offenbar nur sehr selten eine teleologische Reduktion der Fristenregelung für den Fall in Erwägung gezogen, dass das Interesse des Unternehmens an einer schnellen Verständigung – noch vor Ablauf der Dreijahresfrist – überwiegt69. Die teleologische Reduktion zielt darauf ab, den Anwendungsbereich einer ihrem Wortsinn nach zu weit gefassten Norm einzuschränken. Wie die Analogie setzt die teleologische Reduktion eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes voraus70. Ausgangspunkt ist die in der Gesetzesbegründung niedergelegte gesetzgeberische Absicht71. Wenn es im Regelungsplan liegt, ein bestimmtes Rechtsinstitut oder einen bestimmten Vorbehalt nicht zuzulassen, dann scheidet eine teleologische Reduktion – sei sie rechtspolitisch noch so wünschenswert – aus72. Die Abgrenzung zwischen einer Gesetzeslücke, die von Anfang an bestanden haben oder nachträglich durch technische, wirtschaftliche oder sonstige Veränderungen entstehen kann, und einem Fehler des Gesetzes kann nur so vorgenommen werden, „dass man sich fragt, ob das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht, unvollständig ist oder ob nur die in ihm getroffene Entscheidung einer rechtspolitischen Kritik nicht standhält“73. Wenn eine Gesellschaft, die durch Inanspruchnahme einer kartellrechtlichen Kronzeugenregelung Schaden von sich abwenden möchte, hieran gehindert ist, weil die am Kartellverstoß beteiligten Vorstandsmitglieder sich ohne einen Vergleich oder Verzicht seitens der Gesellschaft weigern, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, könnte darin eine planwidrige Regelungslücke liegen. Zunächst stellt sich bei der Beurteilung der Voraussetzungen einer teleologischen Reduktion die Frage nach der Berechtigung des Einwands, der Gesetzgeber habe das Interesse der Gesellschaft an einer schnellen Bereinigung im Gesetzgebungsverfahren bereits bedacht und berücksichtigt74, folglich könne von einer planwidrigen Gesetzeslücke – als Voraussetzung für eine teleologische Reduktion – keine Rede sein. Diese Frage ist zu verneinen. Zwar trifft es zu, dass man 1965 die Verkürzung der Frist von fünf auf drei Jahre damit begründete, ein Verzicht oder Vergleich könne unter Umständen im Interesse der Gesellschaft liegen, „weil er einen ungewissen Schwebezustand beendet“75.

__________ 68 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 192. 69 Zimmermann, DB 2008, 687, 688 (i. E. ablehnend). Vgl. auch Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164 (ebenfalls ablehnend). 70 Dazu eingehend: Canaris, Lücken, S. 30 ff. 71 BGH, NJW 2009, 427, 428 ff. 72 Larenz, Methodenlehre, S. 373 f. 73 Larenz, Methodenlehre, S. 374. 74 Zimmermann, DB 2008, 687, 688. 75 Begründung RegE (zu § 93 AktG) in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 123.

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Doch den immensen Handlungsdruck, den der kartellrechtliche Prioritätsgrundsatz erzeugt, hat der Gesetzgeber damals gerade nicht berücksichtigt. Er konnte es auch gar nicht: Wie dargelegt sind die Kronzeugenregelung und der dahinter stehende Gedanke, Kooperationsanreize durch Sanktionserlasse zu schaffen, im deutschen Recht eine relativ neue Erscheinung, die 1965 noch nicht auf der Agenda stand. Auch waren staatliche Geldbußen zu jener Zeit für die Unternehmen nicht annähernd so bedrohlich wie heute. Bevor Kartellbußen und Kronzeugenregelung zu einer wichtigen Größe der Unternehmensführung wurden, dominierte die Sorge, eine Verzögerung der Schadensregulierung führe zu einer Verlängerung der Ungewissheit für das Unternehmen, zu Unruhe im Vorstand und insgesamt zu einer Störung des Betriebsklimas, sie bewirke ferner, dass das Schadensereignis einer größeren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelange und die Konkurrenz daraus Kapital schlage76. Abgesehen davon, dass der konkrete Schaden, der aus solchen psychologischen und medialen Interferenzen resultiert, kaum abzuschätzen und wahrscheinlich häufig marginal ist, lässt sich eine dazu passende Ausnahmeregelung nur schwer normativieren. Derartigen Gesichtspunkten konnte der Gesetzgeber wohl in der Tat nur durch eine Verkürzung der Frist Rechnung tragen. Bußgelder und Kronzeugenregelungen haben in mehrfacher Hinsicht eine ganz andere Qualität: Zum einen sind die Nachteile, die sich aus Verzögerungen bei der Aufklärung kartellrechtlicher Verstöße ergeben, evident und wirtschaftlich bedeutsam. Zum anderen handelt es sich bei der Kooperation mit Kartellbehörden bzw. der Nutzung einer Kronzeugenregelung um so konkrete Tatbestände, dass sie sich als Ausnahme von der Dreijahresregel normativ erfassen lassen. Außerdem bestünde – ohne eine teleologische Reduktion – ein im Hinblick auf das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung problematischer Wertungswiderspruch zwischen dem kartellrechtlichen Beschleunigungs- und dem aktienrechtlichen Entschleunigungsgrundsatz der Dreijahresfrist gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG. Der Möglichkeit einer teleologischen Reduktion steht vorliegend auch nicht per se die Ausgestaltung von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG als auf Rechtssicherheit abzielende formale Ordnungsvorschrift entgegen. Zwar ist die Annahme verbreitet, formale Ordnungsvorschriften seien ihrer Natur nach einer teleologischen Reduktion unzugänglich77. In dieser Allgemeinheit trifft diese Aussage jedoch nicht zu. Maßgeblich ist allein, ob eine Rechtsfortbildung unter Berücksichtigung des legislativen Zwecks der Rechtssicherheit möglich ist oder nicht. Die teleologische Reduktion einer formalen Ordnungsvorschrift ist vielleicht sogar der bekannteste Fall dieser Rechtsfigur im deutschen Privatrecht78: § 181 BGB ist bekanntlich dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass solche Geschäfte zuzulassen sind, die dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vor-

__________ 76 Zimmermann in FS Duden, 1977, S. 773, 774; Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 771; Cahn, Vergleichsverbote, 1994, S. 3. 77 Vgl. dazu Canaris, Lücken, S. 192. 78 Larenz, Methodenlehre, S. 392.

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teil gewähren79. Dies basiert auf der Annahme, dass ein Reduktionsverbot bei formalen Ordnungsvorschriften nicht weiter zu erstrecken ist, als es der zu Grunde liegende Rechtssicherheitszweck verlangt80. Die Interessen des Vertretenen werden gewahrt, ohne dass an die Stelle der gesetzlichen Konzeption eine uferlose Einzelfallabwägung tritt. Fraglich ist mithin, ob § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG in ähnlicher Weise teleologisch eingeschränkt werden kann. Als Maßstab für das zu wahrende Rechtssicherheitsniveau ist nicht nur die Frist in Satz 3, sondern auch der Ausnahmetatbestand in Satz 4 heranzuziehen (ob man § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG teleologisch reduziert oder ob man § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG analog anwendet, kann dahinstehen)81. Nach Satz 4 gilt die zeitliche Beschränkung nicht, wenn der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird. Auch am Maßstab des Satz 4 gemessen wäre es unzulässig82, in Anlehnung an die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH darauf abzustellen, ob „die Gesellschaftsinteressen und -belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind“83. Andernfalls müsste man stets die individuellen Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Die mit einer solchen Abwägung verbundene Rechtsunsicherheit will § 93 Abs. 4 AktG jedoch gerade verhindern. Wesentlich schärfer konturiert wäre eine Ausnahme von der strikten Geltung der Dreijahresfrist des Inhalts, dass die Frist keine Anwendung findet, sofern der Ersatzpflichtige sich mit der Gesellschaft zum Zweck der Inanspruchnahme einer kartellrechtlichen Kronzeugenregelung vergleicht. Eine teleologische Reduktion dieses Zuschnitts käme der gesetzlichen Ausnahme in Satz 4 zwar nahe. Allerdings wäre der Wertungsspielraum doch signifikant größer, als dies in den gesetzlich stipulierten Fällen des Satz 4 der Fall ist. Angesichts dessen dürften die besseren Gesichtspunkte dafür sprechen, in Fällen der Inanspruchnahme einer kartellrechtlichen Kronzeugenregelung eine teleologische Reduktion von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG oder eine analoge Anwendung von § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG zu verneinen.

__________ 79 BGHZ 56, 97, 102 f.; BGHZ 59, 236, 239 f.; BGHZ 64, 72, 75 (st. Rspr.). Vgl. auch Schilken in Staudinger, 2009, § 181 Rz. 7; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. München 2004, § 46 Rz. 122, 129, 132 ff. 80 Larenz, Methodenlehre, S. 393. 81 Zu den Fällen, in denen „sich mitunter nicht scharf trennen lässt, ob die Lückenfeststellung im Wege der Analogie oder teleologischen Reduktion erfolgt“: Canaris, Lücken, S. 87. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 395. 82 A. A. möglicherweise Krieger in FS Bezzenberger, 2000, S. 211, 219 („gewichtige Gründe des Unternehmenswohls“), der allerdings ausschließlich freiwillige Erstattungsleistungen der Gesellschaft im Rahmen von Strafverfahren – also die analoge Anwendung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG – im Blick hat. 83 BGHZ 135, 244, 255.

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V. Kooperation zwischen Unternehmen und Vorstandsmitglied de lege ferenda Wer eine teleologische Reduktion der Fristenregelung in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (mit guten Gründen) ablehnt, heißt nicht notwendigerweise die gegenwärtige Rechtslage gut. Es entspricht ja gerade dem Wesen der teleologischen Reduktion, dass sie nicht der Durchsetzung rechtspolitischer Positionen dient. Derjenige, der zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG de lege ferenda Stellung nimmt, unterliegt zwar nicht den engen Bindungen der juristischen Methodenlehre, doch hat er stattdessen die Standards der Gesetzgebungslehre beachten. Ein Anliegen sollte es hierbei sein, auf die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung hinzuwirken84. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe stellt sich die nachstehend näher zu betrachtende Frage nach einer Abschaffung oder Aufweichung des in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG verankerten Dreijahreszeitraums. Zu ihrer Beantwortung sollen zunächst die Gebote effizienter Organhaftung (dazu 1.) und effizienter Kartellverfolgung (dazu 2.) als konfligierende Leitlinien des Gesetzgebers dargestellt werden. Hiernach soll auf die Grundzüge einer Auflösung dieses Konflikts (dazu 3.) und dessen rechtstechnische Umsetzung (dazu 4.) eingegangen werden. 1. Gebot effizienter Organhaftung Die Zweckerwägungen, die einer teleologischen Reduktion entgegenstehen, lassen sich ebenso im Rahmen einer rechtspolitischen Debatte zu Gunsten der Regelung de lege lata ins Feld führen. In den letzten Jahren haben Gesetzgebung und Rechtsprechung große Anstrengungen unternommen, um die Haftungssanktionen der §§ 93, 116 AktG gegen sorgfaltswidrig handelnde Organmitglieder effizienter zu gestalten85. So sollten das KonTraG von 1998 und das UMAG von 2005 für eine Verschärfung der Aktionärsklage sorgen, und der BGH verpflichtete in seinem ARAG/Garmenbeck-Urteil von 1997 den Aufsichtsrat dazu, grundsätzlich Schadensersatzansprüche der AG gegenüber Vorstandsmitgliedern gerichtlich zu verfolgen (sofern der Aufsichtsrat eine Pflichtverletzung des Vorstands bejaht)86. Die legislativen und judikativen Effektivierungsstrategien zielten letztlich darauf ab, den Druck auf die Unternehmensleitung so zu erhöhen, dass diese sich künftig in jeder Lage gesetzeskonform verhält. Da auch und erst recht nach den Erfahrungen der Finanzmarktkrise 2008/2009 nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber von dieser Strategie abrückt, muss jeder Reformvorschlag zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG das Gebot der effizienten Organhaftung im Blick haben. Es muss gewährleistet sein, dass eine Überarbeitung der Vorschrift das Institut der Organhaftung stabilisiert oder zumin-

__________

84 Vgl. Sodan, JZ 1999, 864 ff.; H. Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., Heidelberg 2002, § 4 Rz. 57; Felix, Einheit der Rechtsordnung, Tübingen 1998, passim. 85 Ulmer in FS Canaris, 2007, Bd. 2, S. 451, 452. Vgl. auch Raiser, NJW 1996, 552 ff.; Ulmer, ZHR 163 (1999), 291, 319 ff. 86 BGHZ 135, 244, 253 ff.

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dest nicht wesentlich schwächt. Eine Aufhebung der Regelung im Ganzen kommt daher nicht in Betracht, denn andernfalls könnte sich der Vorstand seiner Enthaftung – auch bei schwersten Pflichtverletzungen – häufig sicher sein. Wenn hingegen ein Verzicht oder Vergleich – wie es § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vorsieht – von der Zustimmung der Hauptversammlung abhängt, kann der Aufsichtsrat nicht allein schalten und walten87. Selbstverständlich reicht die Abschreckungswirkung, die von der Pflicht zur Beteiligung der Hauptversammlung ausgeht, nicht immer aus, um einen Vorstand von rechtswidrigem Handeln abzuhalten. Furchtlos wird dieser insbesondere dann sein, wenn er Anlass zur Annahme hat, dass ihn – soweit vorhanden – der Groß- oder Alleinaktionär unterstützt. Die Dreijahresregelung mag in einer solchen Konstellation in der Tat objektiv die Unsicherheit für den Vorstand erhöhen, weil er in Erwägung ziehen muss, dass der ihm wohl gesonnene Aktionär sich innerhalb der Frist aus der Gesellschaft zurückzieht oder seinen Einfluss reduziert88. Es erscheint aber fraglich, ob das Risiko eines Rückzugs der „Schutzmacht“ innerhalb von drei Jahren so signifikant ist, dass die Gefahr überhaupt zu Bewusstsein der Akteure gelangt und ihre Entscheidung beeinflusst. Dem Vorstand wird klar sein, dass ein Restrisiko immer bleibt – mit oder ohne Dreijahresfrist – weil der Groß- oder Alleinaktionär, dem er vertraut, nicht nur seine Anteile verkaufen könnte, sondern möglicherweise auch anders abstimmen wird, als es der Vorstand erwartet. Zudem ist zu beachten, dass der Vorstand des Groß- oder Alleinaktionärs, der einem Verzicht zustimmen möchte, ebenfalls organschaftlichen Bindungen unterliegt. Wenn allein die Effizienz der Fristenregelung – als Mittel der präventiven Verhaltenssteuerung – zweifelhaft wäre, bestünde kein Handlungsbedarf. Dem Grundsatz der strikten Organhaftung, dem der Gesetzgeber gerade in den letzten Jahren Geltung zu verschaffen versuchte, widerspricht die Dreijahresfrist jedenfalls nicht. Problematisch ist sie aber aus einem anderen Grund. 2. Gebot effizienter Kartellverfolgung So wie sich der Gesetzgeber in den letzten Jahren für eine Verschärfung der Organhaftung eingesetzt hat, so hat er sich im gleichen Zeitraum darum bemüht, Kartellrechtsverstöße effizienter zu verfolgen. Als das mit Abstand erfolgreichste Instrument erweist sich dabei die Bonus- oder Kronzeugenregelung, die Kartellbeteiligte zur Aufdeckung des Kartells animieren soll. Die Kronzeugenregelung kollidiert mit der aktienrechtlichen Dreijahresfrist insoweit, als sie nur die schnellsten und am besten informierten „Aussteiger“ begünstigt. Das kartellrechtliche Prioritätsprinzip wird mithin aktienrechtlich konterkariert, wenn die Gesellschaft, die schnell handeln möchte, nicht schnell handeln kann, weil es ihr verwehrt ist, die (ehemaligen) Vorstandsmitglieder, also diejenigen, die u. U. als einzige über die relevanten Informationen ver-

__________ 87 Ebenso Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2010, 897, 899. 88 Mertens in FS Fleck, S. 209, 211; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164.

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fügen, durch einen Verzicht oder Vergleich zur Zusammenarbeit zu bewegen. Solange das Vorstandsmitglied davon ausgehen muss, dass eine Kooperation sein persönliches Haftungsrisiko erhöht, wird es sein Wissen vielfach nicht offenbaren. 3. Dilemma: Kartellrechtliche Beschleunigung versus aktienrechtliche Entschleunigung Die vorstehend herausgearbeiteten Konzeptionen des Gesetzgebers im Bereich des Kartellrechts und im Bereich des Aktienrechts stehen in einem gravierenden Widerspruch zueinander: Während der Gesetzgeber im Bereich des Kartellrechts einem Beschleunigungskonzept bei der Aufdeckung von Kartellen anhängt, präferiert er im Bereich des Aktienrechts bei der Schaffung der Voraussetzungen einer solchen Beschleunigung (nämlich der Verständigung mit betroffenen Vorstandsmitgliedern) einen Ansatz der Entschleunigung. Versteht man das Leitbild der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht nur als Absage an schlechterdings unvereinbare gesetzliche Einzelbestimmungen, sondern zugleich als Plädoyer für rechtsgebietsübergreifend konsistente gesetzgeberische Konzeptionen, ist ein legislativer Handlungsbedarf offenkundig. Fraglich ist indes, ob eine Korrektur des gesetzlichen status quo im Gesellschaftsrecht oder im Kartellrecht erfolgen sollte. Eine Aufhebung der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung hätte wesentlich gravierendere nachteilige Folgen als eine Änderung von § 93 Abs. 4 AktG. Sie wäre angesichts der hohen Effizienz dieses Instruments nämlich dazu geeignet, die Kartellverfolgung als solche in Frage zu stellen; dies hätte seinerseits eine ordnungspolitisch ungewollte Verringerung der Aufklärungsquote und damit möglicherweise sogar eine Ausbreitung von Kartellen zur Konsequenz. Demgegenüber würde eine Abschaffung oder Änderung des 3 Jahres-Erfordernisses in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG keine vergleichbar negativen Konsequenzen zeitigen; allenfalls wäre zu erwarten, dass eine solche Maßnahme als ein unspezifisches Signal zur Abschwächung der Organhaftung missverstanden werden könnte, wovon lediglich in symbolischer Hinsicht falsche Auswirkungen ausgingen. Viel dürfte sogar dafür sprechen, dass eine derartige Änderung von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG auch außerhalb kartellrechtlicher Konstellationen positive Konsequenzen nach sich ziehen würde89. Mithin bleibt festzuhalten, dass rechtspolitischer Änderungsbedarf nicht im Kartellrecht, sondern in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu konstatieren ist. 4. Rechtstechnische Umsetzung Dem Gesetzgeber, der einen Eingriff in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vornehmen möchte, stehen verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung offen. Er muss sich entscheiden, ob er die Fristenregelung ganz streicht oder ob er sie so modifiziert, dass die aufgezeigten Wertungswidersprüche nicht entstehen können.

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89 Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2010, 897, 898 f.

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Für eine generelle Abschaffung der Sperrfrist, wie sie von immer mehr Stimmen gefordert wird90, sprechen beachtliche Gesichtspunkte. Die Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung und das Vetorecht einer qualifizierten Minderheit dürften ausreichen, um Gesellschaft und Aktionäre hinreichend vor einem kollusiven Zusammenwirken von (ehemaligen) Vorstandsmitgliedern und Aufsichtsratsmitgliedern zu schützen91. Der zusätzliche Schutz, den die Dreijahresfrist bietet, dürfte demgegenüber soweit zurücktreten, dass er den Verlust an Rechtssicherheit, den eine Bereichsausnahme mit sich bringt, nicht zu kompensieren vermag. Für die Entbehrlichkeit einer Sperrfrist mag auch sprechen, dass sie anderen Rechtsordnungen, insbesondere im angloamerikanischen Kapitalgesellschaftsrecht, (weitgehend) unbekannt ist92. Indes soll die Frage einer vollständigen Streichung der Sperrfrist hier nicht abschließend beantwortet werden. Sähe man von einer vollständigen Streichung der Fristenregelung ab, bedürfte § 93 Abs. 4 AktG jedenfalls der Modifizierung. Grundsätzlich denkbar wäre etwa eine Ergänzung der Bereichsausnahme des § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG in der Form, das die zeitliche Beschränkung des Satz 3 nicht gelten soll, wenn das Interesse der Gesellschaft an einem vorzeitigen Verzicht oder Vergleich überwiegt. Allerdings wäre eine solche Ausnahme der Rechtssicherheit abträglich. Die größere Einzelfallgerechtigkeit würde man um den (zu hohen) Preis erkaufen, dass der Rechtsanwender die Anforderungen an einen rechtmäßigen Verzicht oder Vergleich faktisch nicht mehr dem Gesetzestext entnehmen könnte und er die Konkretisierung des Tatbestandes durch die Rechtsprechung abwarten müsste. Es dürfte daher vorzugswürdig sein, die Bereichsausnahme im Interesse der Rechtssicherheit gegenüber der derzeitigen Rechtslage in der Weise zu erweitern, dass die Dreijahresfrist keine Anwendung findet, wenn ein Verzicht oder Vergleich zu dem Zweck erfolgt, die Anforderungen an eine kartellrechtliche Kronzeugenregelung zu erfüllen.

VI. Zusammenfassung 1. Die Idee der Kronzeugenregelung, die dem angelsächsischen Rechtskreis entstammt, ist in Deutschland eine relativ junge Erscheinung. Nach einer ersten gesetzlichen Implementierung im Strafverfahrensrecht zu Beginn der 1980er Jahre wurden Kronzeugenprogramme (Bonusregelungen) auch im

__________ 90 Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2010, 897, 898 f.; Thümmel, Persönliche Haftung, 4. Aufl., Stuttgart 2008, Rz. 344; Cahn, Vergleichsverbote, S. 143; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164; Fleischer, WM 2005, 909, 919; Ihlas, Organhaftung und Haftpflichtversicherung, Berlin 1997, S. 181; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 353. Vgl. auch Zimmermann in FS Duden, S. 773, 788 f. 91 Cahn, Vergleichsverbote, S. 143; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 164. 92 Fleischer, WM 2005, 909, 919; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 277; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rz. 353; Zimmermann in FS Duden, S. 773, 789.

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Kartellrecht eingeführt, zunächst auf europäischer, später auch auf nationaler Ebene. Anders als die Effektivität der strafprozessualen Regelungen ist die Wirksamkeit der kartellrechtlichen Kronzeugenprogramme unbestritten. Sie sind heute das wichtigste Instrument zur Aufdeckung von Kartellverstößen. 2. Mit der Einführung der Bonusregelung besteht nunmehr allerdings insofern ein Widerspruch zwischen Kartellrecht und Aktienrecht, als § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG einen Verzicht auf bzw. einen Vergleich über Ersatzansprüche gegenüber Vorstandsmitgliedern erst drei Jahre nach Entstehung des Anspruchs zulässt, in den Genuss der kartellrechtlichen Kronzeugenregelung indes nur Unternehmen gelangen, die sehr schnell handeln. Dies begründet deshalb einen Widerspruch, weil ohne die Möglichkeit, einem in einen Kartellverstoß involvierten Vorstandsmitglied einen Verzicht oder Vergleich anzubieten, dieses häufig nicht bereit sein wird, die für die Kooperation mit den Kartellbehörden notwendigen Informationen preiszugeben, und er dazu regelmäßig – wegen des nemo-tenetur-Prinzips – auch nicht gezwungen werden kann. Es konkurriert also ein aktienrechtliches Gebot der Entschleunigung mit einem kartellrechtlichen Gebot der Beschleunigung. 3. De lege lata erscheint es denkbar, den Widerspruch durch eine teleologische Reduktion der Fristenregelung in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG aufzulösen. Zumindest an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt es nicht, da die kartellrechtliche Bonusregelung deutlich jünger ist als die aktienrechtliche Vorschrift und daher die Problematik dem Gesetzgeber des AktG nicht bekannt war. Allerdings scheitert eine teleologische Reduktion letztlich daran, dass sie nicht das Maß an Rechtssicherheit gewährleisten kann, das der Gesetzgeber durch seine Vorgabe – die Normierung einer klaren Fristenregelung – für maßgeblich erklärt hat. 4. De lege ferenda darf der Widerspruch in jedem Fall nicht dauerhaft fortbestehen. In Anbetracht der unbestrittenen Wirksamkeit der Bonusregelung sollte der Gesetzgeber das Dilemma durch eine Änderung des Aktienrechts und nicht des Kartellrechts beheben. Beachtliche Gesichtspunkte sprechen dafür, die Fristenregelung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG als solche zu streichen. Möchte man der Idee einer vollständigen Streichung dieser Fristenregelung nicht näher treten, sollte jedenfalls eine Bereichsausnahme nach dem Vorbild des § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG für den Fall der Nutzung einer kartellrechtlichen Kronzeugenregelung geschaffen werden.

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Fehlerhafte offene Sacheinlage versus verdeckte Sacheinlage Inhaltsübersicht I. Regelung der verdeckten Sacheinlage im MoMiG und ARUG 1. MoMiG 2. ARUG II. Fehlerhafte Festsetzung der offenen Sacheinlage III. Rechtsfolgen der fehlerhaften Festsetzung nach altem Recht 1. Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung 2. Unwirksamkeit der Verträge über die Sacheinlage und der Ausführungsgeschäfte 3. Wirksamkeit der eingetragenen Satzung oder Kapitalerhöhung 4. Geldeinlagepflicht des Einlegers 5. Heilungsverbot nach Eintragung

IV. Rechtsfolgen der fehlerhaften Festsetzung nach neuem Recht 1. Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung? 2. Unwirksamkeit der Verträge über die Sacheinlage und der Ausführungsgeschäfte? 3. Wirksamkeit der eingetragenen Satzung oder Kapitalerhöhung? 4. Geldeinlagepflicht des Einlegers? 5. Anrechnung des Werts des Vermögensgegenstands auf die Bareinlagepflicht? 6. Heilungsverbot nach Eintragung? V. Stimmrecht und Gewinnberechtigung bei fehlerhafter offener Sacheinlage 1. Stimmrecht 2. Gewinnberechtigung

Die von Martin Winter entwickelte Anrechnungslösung zur verdeckten Sacheinlage ist zunächst in § 19 Abs. 4 GmbHG durch das MoMiG und sodann in § 27 Abs. 3 AktG durch das ARUG Gesetz geworden. An den Beratungen zur Übernahme der MoMiG-Regelung in das AktG in der Schlussphase des ARUG konnte Martin Winter wegen seiner Krankheit nicht mehr mitwirken. Die bis zum ARUG geltende Regelung der Rechtsfolgen einer fehlerhaft beschlossenen offenen Sacheinlage in § 27 Abs. 3 und 4 AktG a. F. hat der Gesetzgeber ersatzlos gestrichen. Was gilt nun bei der wegen fehlender oder unvollständiger Festsetzungen fehlerhaften offenen Sacheinlage? Können wir auch insofern auf Martin Winter’s Anrechnungslösung zurückgreifen? Dieser Frage will ich in dankbarer Erinnerung an Martin Winter in diesem Beitrag nachgehen und dazu zunächst noch einmal die Entstehungsgeschichte der neuen Regelungen zur verdeckten Sacheinlage nachzeichnen.

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I. Regelung der verdeckten Sacheinlage im MoMiG und ARUG 1. MoMiG Schon lange vor der Reform des GmbH-Rechts durch das MoMiG im Jahre 2008 gab es eine Reihe von Vorstößen und Vorschlägen zur Entschärfung der drakonischen Rechtsfolgen, die von der Rechtsprechung an den Tatbestand einer verdeckten Sacheinlage sowohl für die GmbH als auch für die AG geknüpft wurden. Die Rechtsprechung selbst versuchte zu helfen, indem der BGH im März 1996 für die GmbH in einer rechtsfortbildenden Entscheidung eine Heilungsmöglichkeit aufzeigte: Es sollte möglich sein, die ursprünglich als Barkapitalerhöhung beschlossene Kapitalerhöhung durch satzungsändernden Gesellschafterbeschluss in eine Sachkapitalerhöhung umzuwidmen1. Aber das half nicht wesentlich weiter, weil es nach der Entscheidung des BGH für die nachzuholende Wertprüfung auf den Wert des Gegenstands zur Zeit der Anmeldung des Heilungsbeschlusses ankommen sollte und nicht auf den Wert, den der eingelegte Gegenstand zur Zeit seiner früher erfolgten Übertragung auf die Gesellschaft hatte; Wertminderungen in der Zeit der Nutzung des Gegenstands durch die Gesellschaft gingen also weiterhin zu Lasten des Sacheinlegers. Außerdem stand einer Übertragung dieser GmbH-Rechtsprechung zur Heilung der missglückten Sacheinlage auf die AG das strikte Heilungsverbot des § 27 Abs. 4 AktG a. F. entgegen. Kurze Zeit nach der BGH-Entscheidung unterbreitete der Handelsrechtsausschuss des DAV im Juni 2006 einen ausformulierten Gesetzesvorschlag zur Lösung des Problems für GmbH und AG, der im Wesentlichen darauf hinauslief, verbesserte Heilungsmöglichkeiten zu öffnen und die Haftung des Inferenten im Prinzip auf eine Differenzhaftung zurückzuführen2. In dieselbe Richtung tendierte die Abteilung Wirtschaftsrecht des 66. Deutschen Juristentags im September 2006, die mit großer Mehrheit beschloss, dass die Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage auf eine Differenzhaftung im Leistungszeitpunkt reduziert werden sollten3. Aber es sollte noch mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis sich die Gesetzgebung des Themas annahm. Noch im Referentenentwurf zum MoMiG vom Mai 2006 sah das Bundesministerium der Justiz (BMJ) davon ab, einen Vorschlag zur Lösung der Probleme vorzulegen, lud aber immerhin im Anschreiben an die Verbände dazu ein, Vorschläge für eine „Entschärfung der verdeckten Sacheinlage“ zu entwickeln. Der Handelsrechtsausschuss des DAV kam dieser Aufforderung nach und unterbreitete in seiner Stellungnahme vom Februar 2007 einen Gesetzesvorschlag, der unter Mitwirkung von Martin Winter erarbeitet wurde und den Martin Winter in der Folgezeit auch engagiert gegen manche Kritik verteidigte. Der Entwurf des Handelsrechtsausschusses enthielt die später Gesetz gewordene Anrechnungslösung, die Martin Winter zuvor in seinem Beitrag zur Festschrift für Hans-Joachim Priester entwickelt hatte4: Im Fall der

__________ 1 2 3 4

BGHZ 132, 141/148 ff. Stellungnahme vom Juni 1996, abgedr. in WiB 1996, 707 ff. Beschluss II.8.b, Verhandlungen des 66. DJT 2006 Band II/1 S. P 142. Die Rechtsfolgen der „verdeckten“ Sacheinlage – Versuch einer Neubestimmung, FS Priester, 2007, S. 867 ff.

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verdeckten Sacheinlage sind danach anders als nach altem Recht das schuldrechtliche Einbringungsgeschäft und das dingliche Erfüllungsgeschäft wirksam. Der Einleger bleibt zur Einzahlung der Bareinlage verpflichtet, jedoch gemindert um den vom ihm zu beweisenden Wert der Sacheinlage im Zeitpunkt ihrer Leistung oder, wenn die Leistung früher erfolgt ist, im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft (oder der Kapitalerhöhung) zur Eintragung in das Handelsregister5. Der Regierungsentwurf vom Mai 2007 ging noch einen Schritt über den Vorschlag des Handelsrechtsausschusses hinaus. Die Einlagepflicht sei „vollständig erfüllt“, wenn der Wert der Sacheinlage dem Betrag der übernommenen Bareinlage entspreche, und der Einleger bleibe nur im Falle einer Differenz zwischen Ausgabebetrag und Wert der Sacheinlage verpflichtet, diese in bar auszugleichen6. Diese „Erfüllungslösung“ des Regierungsentwurfs stieß auf vehemente Kritik7. In der Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags am 23.1.2008 prallten die Meinungen aufeinander, und die von der Praxis dringend gewünschte Reform des Rechts der verdeckten Sacheinlage drohte zu scheitern. Kritisiert wurde insbesondere, dass der Geschäftsführer bei der „Erfüllungslösung“ befugt sei, die verdeckte Sacheinlage als Erfüllung anzunehmen und nicht auf der baren Einlageleistung bestehen müsse. In einer kurz darauf stattfindenden Telefonkonferenz mit Mitgliedern des Handelsrechtsausschusses, darunter Martin Winter, schloss sich das Ministerium der „Anrechnungslösung“ an, um der Kritik die Spitze zu nehmen, und zwar insbesondere durch den Zusatz in § 19 Abs. 4 Satz 4 GmbHG n. F., dass die Anrechnung nicht vor Eintragung der Gesellschaft (oder der Kapitalerhöhung) in das Handelsregister erfolgt. Dadurch wurde, wie es in dem anschließenden Bericht des Rechtsausschusses hieß, „klargestellt, dass einerseits der Geschäftsführer in der Anmeldung nach § 8 nicht versichern kann und darf, die Geldeinlage sei zumindest durch Anrechnung erloschen und damit erfüllt, und andererseits der Richter die Eintragung auch in dem Fall, dass der Wert der verdeckten Sacheinlage den Wert der geschuldeten Geldeinlage erreicht, die Eintragung nach § 9c) ablehnen kann“8. Diese Lösung, die mit Verkündung des MoMiG im Oktober 2008 in § 19 Abs. 4 GmbHG n. F. Gesetz wurde, hat sich, soweit man das heute schon feststellen kann, bewährt und jedenfalls nicht zu der befürchteten „Flucht in die verdeckte Sacheinlage“ geführt. Über jeden Zweifel erhaben ist sie indes nicht. Insbesondere kann man Anstoß nehmen an der unterschiedlichen Behandlung des Gesellschafters und des Geschäftsführers: Während der verdeckt einlegende Gesellschafter durch die Anrechnungslösung privilegiert wird, bleibt der Geschäftsführer der Strafdrohung des § 82 GmbHG ausgesetzt für den Fall,

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5 Stellungnahme Nr. 06/07 vom Februar 2007, abgedr. in NZG 2007, 211/222. 6 Begründung des Regierungsentwurfs S. 91, abgedr. in ZIP Beilage zu Heft 23/2007, dort S. 15. 7 Vgl. die anschauliche Darstellung der Entstehungsgeschichte der Regelung zur verdeckten Sacheinlage im MoMiG und im ARUG durch Seibert in FS Maier-Reimer, 2010, S. 673 ff. 8 BT-Drucks. 16/9737 v. 24.6.2008, S. 97.

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dass er den Tatbestand der verdeckten Sacheinlage erkennt und dennoch eine Bargründung oder Barkapitalerhöhung zur Eintragung anmeldet. 2. ARUG In seinen Stellungnahmen zum Referentenentwurf und zum Regierungsentwurf des MoMiG hatte der Handelsrechtsausschuss vorgeschlagen, die Regelungen zur verdeckten Sacheinlage und zum Hin- und Herzahlen in § 19 Abs. 4 und 5 GmbHG in einem Zug auch auf das Recht der Aktiengesellschaft zu übertragen9. Aber das Ministerium und der ihm folgende Rechtsausschuss waren dazu nicht bereit. Man wollte zunächst Erfahrungen im Hinblick auf die Akzeptanz der für die GmbH gefundenen Regelungen sammeln, bevor man sich zur Übertragung auf die Aktiengesellschaft entscheiden würde10. Auch in den Referenten- und Regierungsentwürfen zum ARUG von Mai und Dezember 2008 fand sich noch keine AG-Regelung zur verdeckten Sacheinlage, wie sie vom Handelsrechtsausschuss wiederum angemahnt wurde11. Erst im Endstadium der Beratungen des Rechtsausschusses zum ARUG, die wenige Monate vor dem Ende der Legislaturperiode unter großem Zeitdruck erfolgten, änderte das BMJ seine Haltung und übermittelte dem Handelsrechtsausschuss am 17.3.2009 einen Formulierungsvorschlag für eine „eins zu eins“-Umsetzung der MoMiG-Regelungen sowohl zur verdeckten Sacheinlage als auch zum Hin- und Herzahlen. Zu den Rechtsfolgen einer fehlerhaften offenen Sacheinlage hatte der Handelsrechtsausschuss am 5.3.2009 gegenüber dem Ministerium noch die Auffassung vertreten, die Anordnung der Unwirksamkeit der Ausführungsgeschäfte in § 27 Abs. 3 AktG bei einer fehlerhaften Festsetzung nach Absatz 1 „dürfte bei einer offenen Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung nach wie vor angebracht sein“; deshalb solle § 27 Abs. 3 AktG a. F. unverändert fortgelten und nur das für diesen Fall in § 27 Abs. 4 AktG a. F. ausgesprochene Heilungsverbot gestrichen werden. Der Vorschlag des Ministeriums vom 17.3.2009 sah dagegen vor, die bisher geltenden Regelungen zur fehlerhaften offenen Sacheinlage in § 27 Abs. 3 und 4 AktG a. F. und § 183 Abs. 2 AktG a. F. vollständig zu streichen und statt dessen die Regelungen des § 19 Abs. 4 und 5 GmbHG in § 27 Abs. 3 und 4 AktG n. F. zu übernehmen und in § 183 Abs. 2 AktG n. F. auf § 27 Abs. 3 und 4 AktG n. F. zu verweisen12. Die Streichung von § 27 Abs. 3 und 4, § 183 Abs. 2 AktG a. F. wurde im Entwurf des Ministeriums nicht begründet, und leider reichte die Zeit auch nicht mehr für eine Diskussion zwischen dem Ministerium und dem Handelsrechtsausschuss über die künftig geltenden Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung der offenen Sacheinlage. Am 23.3.2009 signalisierte der Handelsrechtsausschuss sein Einverständnis mit dem Entwurf des Ministeriums, nach-

__________ 9 NZG 2007, 211/222 u. NZG 2007, 735/740. 10 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 8), S. 680 u. Seibert in FS Maier-Reimer, 2010, S. 673/680. 11 Stellungnahme Nr. 36/08, NZG 2008, 534 Rz. 2. 12 Mit entsprechenden Folgeänderungen in §§ 194 Abs. 2, 205 Abs. 3 AktG n. F.

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dem die interne Diskussion des Ausschusses zu der folgenden Einschätzung geführt hatte: Nach Streichung des bisherigen § 27 Abs. 3 AktG a. F. ist bei einer offenen Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung mit fehlerhaften Festsetzungen „der Beschluss zur Sachgründung/Sachkapitalerhöhung unwirksam, nicht dagegen sind auch die zur Ausführung des Beschlusses getroffenen Verträge und Rechtshandlungen unwirksam. Auf die weitergehende Unwirksamkeitsfolge des bisherigen § 27 Abs. 3 AktG kann man wohl verzichten.“. Am 26.3.2009 wurde der Entwurf des BMJ zu §§ 27, 183 AktG n. F. nebst Begründung ohne nähere Diskussion in einem erweiterten Berichterstattergespräch des Rechtsausschusses gutgeheißen, und am 20.5.2009 wurde er unverändert in die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses übernommen13.

II. Fehlerhafte Festsetzung der offenen Sacheinlage Eine bei der Gründung oder Kapitalerhöhung beschlossene Kapitalaufbringung durch Sacheinlagen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen fehlerhaft sein. So kann z. B. ein materieller Mangel durch Überbewertung des Einlagegegenstands vorliegen, oder es können formelle Fehler bei der Sacheinlagenprüfung oder der Anmeldung zum Handelsregister unterlaufen sein. Vorliegend geht es nur um Fehler der offenen Sacheinlage, die sich daraus ergeben, dass im Beschluss zur Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung die nach § 27 Abs. 1 oder § 183 Abs. 1 AktG erforderlichen Festsetzungen fehlerhaft oder unvollständig sind. Festzusetzen sind der Gegenstand der Sacheinlage, die Person des Sacheinlegers und der Nennbetrag – bzw. bei Stückaktien die Zahl – der für die Sacheinlage zu gewährenden Aktien. Eine fehlende oder fehlerhafte Bezeichnung der Person oder des Nennbetrags bzw. der Zahl der zu gewährenden Aktien wird in der Praxis kaum vorkommen. Wenn der Einlagegegenstand im Beschluss gar nicht genannt wird, die entsprechende Festsetzung also gänzlich fehlt, wird keine Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung verlautbart, sondern eine Gründung oder Kapitalerhöhung gegen Geldeinlagen. Und wenn die Gründer oder Gesellschafter tatsächlich eine Sacheinlage beabsichtigen, dies im Beschluss aber nicht zum Ausdruck bringen, handelt es sich um eine verdeckte Sacheinlage, die nach den neuen Regeln des § 27 Abs. 3 AktG n. F. zu behandeln ist. Eine fehlerhafte Festsetzung der Sacheinlage liegt dagegen vor, wenn der Beschluss einen Gegenstand festsetzt, der nicht einlagefähig ist, z. B. die Erbringung von Dienstleistungen entgegen dem Verbot in § 27 Abs. 2 Halbsatz 2 AktG. Häufiger anzutreffen ist eine unvollständige oder nicht ausreichend bestimmte Bezeichnung des Einlagegegenstands. Derartige Fehler können sich insbesondere ergeben, wenn eine Sachgesamtheit, also z. B. ein Betrieb oder Unternehmensteil eingebracht werden soll und sich die Frage stellt, wie konkret und vollständig die zugehörigen Vermögensgegenstände im Beschluss zur Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung bezeichnet werden müssen. Das gesellschaftsrechtliche Gebot der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG zur bestimmten Bezeichnung des einzubringenden Gegenstands dient der Information

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13 BT-Drucks. 16/13098 v. 20.5.2009, S. 5, 53.

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des Publikums, also insbesondere der Gläubiger und der gegenwärtigen und künftigen Aktionäre, über die Art der Aufbringung des Kapitals der Gesellschaft14. Dieses Bestimmtheitsgebot ist schon dann gewahrt, wenn der Gegenstand so genau bezeichnet wird, dass Zweifel über seine Identität ausgeschlossen und seine einzelnen Merkmale zumindest bestimmbar sind15. Wenn eine Sachgesamtheit einzubringen ist, müssen die zur Sachgesamtheit gehörenden Vermögensgegenstände nicht im Einzelnen aufgelistet werden, sondern es genügt eine schlagwortartige Bezeichnung, wenn sie verkehrsüblich ist (z. B. Einbringung des Betriebs der X GmbH mit allen Aktiven und Passiven)16. Die nähere Konkretisierung der geschuldeten Einbringung und der Modalitäten ihrer Erfüllung kann dem in der Regel außerhalb des Satzungsbeschlusses abgeschlossenen Einbringungsvertrag überlassen bleiben17. Was in den Festsetzungen enthalten sein muss und nicht außerhalb der Satzung im Einbringungsvertrag geregelt werden kann, ist nicht danach zu beurteilen, was zu dem wirtschaftlich einheitlichen Geschäft im Sinne von § 139 BGB gehört18. Bei der Bestimmung des erforderlichen Umfangs der satzungsmäßigen Festsetzungen geht es nämlich nicht um die für das Verhältnis der Vertragspartner maßgebliche Unterscheidung zwischen einem einheitlichen oder teilbaren Rechtsgeschäft, sondern um die Außensicht des Publikums. Durch die Festsetzung muss der Gegenstand der Anlage nur so genau bestimmt werden, dass für das Publikum Zweifel über seine Identität ausgeschlossen sind. Von diesem gesellschaftsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG ist das strengere sachenrechtliche Bestimmtheitserfordernis zu unterscheiden, das bei den dinglichen Erfüllungsakten beachtet werden muss. Auch wenn somit die Anforderungen an die bestimmte Bezeichnung des Einlagegegenstands im Satzungsbeschluss relativ niedrig sind, kommt es doch nicht selten zu einer fehlerhaften Festsetzung durch unzureichende oder sogar bewusst unvollständige Angaben. So genügt es z. B. bei Einbringung eines Betriebs nicht, wenn im Satzungsbeschluss nur die besonders wichtigen sachlichen Betriebsgrundlagen, also etwa die Immobilien und sonstigen Sachanlagen, genannt werden, während die Tatsache, dass es um die Einbringung eines lebenden Betriebs mit allen zugehörigen personellen und sachlichen Mitteln geht, im Dunkeln bleibt.

__________ 14 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 27 Rz. 1; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 Rz. 129; Ulmer in Ulmer, GmbHG, 2005, § 5 Rz. 127; Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 4 Rz. 4. 15 Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 130; Hüffer, AktG, § 27 Rz. 17. 16 OLG Düsseldorf, DB 1993, 974/975 u. GmbHR 1996, 214/215; Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 46, 48, 130; A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 27 Rz. 38; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 140. 17 Näher dazu Hoffmann-Becking in FS Lutter, 2000, S. 453/461 ff.; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 132. 18 Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, § 4 Rz. 7.

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III. Rechtsfolgen der fehlerhaften Festsetzung nach altem Recht § 27 Abs. 3 und 4 AktG hatte in der bis zum ARUG geltenden Fassung den folgenden Wortlaut: „(3) Ohne eine Festsetzung nach Absatz 1 sind Verträge über Sacheinlagen und Sachübernahmen und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung der Gesellschaft gegenüber unwirksam. Ist die Gesellschaft eingetragen, so wird die Gültigkeit der Satzung durch diese Unwirksamkeit nicht berührt. Ist die Vereinbarung einer Sacheinlage unwirksam, so ist der Aktionär verpflichtet, den Ausgabebetrag der Aktien einzuzahlen. (4) Nach Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister kann die Unwirksamkeit nicht durch Satzungsänderung geheilt werden.“

Sachlich identische Regelungen enthielt § 183 Abs. 2 AktG a. F. für die Sachkapitalerhöhung. Im Einzelnen ergaben sich danach bei fehlerhafter Festsetzung der Sacheinlage die folgenden Rechtsfolgen: 1. Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung Mangels ordnungsgemäßer Festsetzung der Sacheinlage kann durch den Beschluss zur Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung keine Pflicht des Übernehmers oder Zeichners zur Erbringung der Sacheinlage und auch kein Recht auf den Erhalt von Aktien der Gegenleistung für die Sacheinlage begründet werden. Die körperschaftsrechtliche Sacheinlagevereinbarung, bestehend aus der Festsetzung im Beschluss und der korrespondierenden Übernahme- oder Zeichnungserklärung des Einlegers19, ist unwirksam. Das schließt nicht aus, dass eine verbindliche Einlagevereinbarung zwischen den Gründern oder zwischen den Gesellschaftern und dem zeichnenden Dritten entstanden ist, die bei fehlerhafter Festsetzung im Satzungsbeschluss dazu verpflichtet, den Mangel auszuräumen und nachträglich eine ordnungsgemäße Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung zu beschließen und deren Eintragung zu ermöglichen20. 2. Unwirksamkeit der Verträge über die Sacheinlage und der Ausführungsgeschäfte Unwirksam gegenüber der Gesellschaft sind darüber hinaus die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung. Das betrifft die außerhalb des Beschlusses vorgenommenen Rechtsgeschäfte, insbesondere also den zusätzlich zur Sacheinlagevereinbarung abgeschlossenen Einbringungsvertrag, der sich bei der Einlage einzelner oder gattungsmäßig bestimmter Einlagegegenstände darauf beschränken kann, die dingliche Übertragung der Gegenstände zu regeln. Bei komplizierten Einbringungsvorgängen, insbesondere bei

__________ 19 Vgl. BGHZ 45, 338; Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 13; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 29; Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, § 4 Rz. 5. 20 Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 147; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 153.

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der Einbringung von Betrieben, Handelsgeschäften oder sonstigen Sachgesamtheiten, enthält der Einbringungsvertrag dagegen in aller Regel auch eine nähere Konkretisierung der Einbringungspflichten bis hin zu Gewährleistungsregeln, Regeln zur Abgrenzung der Ergebnisse, Regeln für die Überleitung von Vertragsverhältnissen, Steuerklauseln etc.21. Die relative Unwirksamkeit nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG a. F. erfasst in diesem Fall den gesamten Einbringungsvertrag, also sowohl die (näher) verpflichtenden Regelungen als auch die dinglichen Vollzugsakte. 3. Wirksamkeit der eingetragenen Satzung oder Kapitalerhöhung Wenn die Gesellschaft oder die Durchführung der Kapitalerhöhung trotz der fehlerhaften Festsetzung der Einlage eingetragen worden ist, wird die Gültigkeit der Satzung oder Kapitalerhöhung durch die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung nicht berührt, §§ 27 Abs. 3 Satz 2, 183 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. Die Wirksamkeit der fehlerhaften Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung dient dem Schutz der Gläubiger sowie der gegenwärtigen und künftigen Aktionäre22. 4. Geldeinlagepflicht des Einlegers Bei Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung ist der Aktionär nach § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG a. F. zur Geldeinzahlung verpflichtet. Das ist unweigerlich so, wenn die Gründung oder die Durchführung der Kapitalerhöhung trotz der fehlerhaften Festsetzung einer Sacheinlage eingetragen worden ist. Das Vertrauen der Öffentlichkeit auf die Richtigkeit der mit der Eintragung verlautbarten Kapitalverhältnisse hat dann unbedingten Vorrang vor dem abweichenden Willen des Einlegers, nicht einen Geldbetrag, sondern eine Sache einzulegen23. Der Zeichner hat das als bereits erbracht verlautbarte Kapital bar aufzubringen. Unklar und umstritten ist dagegen, ob der Übernehmer oder Zeichner bei einer fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage auch schon vor der Eintragung zur Geldeinlage verpflichtet ist. Die herrschende Auffassung, die sich dafür auf den Wortlaut des § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG a. F. berufen kann, nimmt an, dass der Übernehmer oder Zeichner bei einer fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage schon vor der Eintragung zur Geldeinlage verpflichtet ist, obwohl er sich ausdrücklich nur zu einer Sacheinlage bereit erklärt hat. Konstruktiv wird das so begründet, dass zwar die Sacheinlagevereinbarung unwirksam ist, eine darunter liegende „Beitrittserklärung“ aber wirksam zustande gekommen sei und

__________ 21 Vgl. Hoffmann-Becking in FS Lutter, S. 453/461 ff. und das Vertragsmuster von Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, Form.X.27. 22 BGH, NJW 1992, 3167/3169 „IBH“. 23 Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 148.

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diese primär zur Geldeinlage verpflichte24. Röhricht hält dem mit Recht entgegen, dass die herrschende Auffassung nicht mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen über die Folgen der Unwirksamkeit rechtsgeschäftlicher Erklärungen in Einklang zu bringen sei. Vor Eintragung bestehe kein hinreichender Anlass, sich über den Willen der Gründer hinwegzusetzen und den Sacheinleger an der Verpflichtung zur Erbringung einer Geldeinlage festzuhalten, die er zwar laut Satzung, nicht aber nach dem wirklichen Willen der Gründer leisten sollte25. Dieser Meinungsstreit ist allerdings recht akademisch, weil auch die herrschende Meinung dem Einleger bis zur Eintragung zubilligt, dass er eine Beseitigung des Mangels durch Nachbesserung des Satzungsbeschlusses verlangen oder anderenfalls die Eintragung verhindern kann26. 5. Heilungsverbot nach Eintragung Nach der Eintragung der Gesellschaft oder der Durchführung der Kapitalerhöhung kann die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung nicht durch eine Satzungsänderung geheilt werden, §§ 23 Abs. 4, 183 Abs. 2 Satz 4 AktG a. F. Es bleibt dann zwingend bei der Geldeinlagepflicht des übernehmenden Gründers oder Zeichners.

IV. Rechtsfolgen der fehlerhaften Festsetzung nach neuem Recht Die vorstehend beschriebenen Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung, wie sie ausdrücklich in §§ 27 Abs. 3 und 4 und 183 Abs. 2 AktG a. F. formuliert waren, sucht man im Text des neuen Rechts vergebens. Das schließt nicht aus, dass einige oder alle genannten Rechtsfolgen als ungeschriebene Regeln auch nach neuem Recht gelten. Ob und inwieweit das der Fall ist, soll für die einzelnen Rechtsfolgen gesondert geprüft werden. 1. Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung? Die unveränderten Vorschriften der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG enthalten zwingendes Recht: Nur auf der Grundlage ausreichender Festsetzungen im Satzungsbeschluss können das Recht und die Pflicht des Übernehmers oder Zeichners zur Sacheinlage gegen Gewährung von Aktien begründet werden. Sowohl im Fall der Sachgründung als auch der Sachkapitalerhöhung ist die fehlerhafte Festsetzung ein Mangel, der zur Ablehnung der Eintragung führen muss. Für den Fall der Sachkapitalerhöhung wird die Auffassung vertreten,

__________ 24 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 96, 99; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 Rz. 79; Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 37; Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 76. 25 Röhricht in Großkomm. AktG, § 27 Rz. 145; ebenso Märtens in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 5 Rz. 236 u. Zeidler in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 5 Rz. 137. 26 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 101; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 77; Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, § 27 Rz. 76.

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dass der Satzungsbeschluss wegen der fehlerhaften Festsetzung nach § 241 Abs. 3 AktG nichtig oder zumindest nach §§ 255 Abs. 1, 243 AktG anfechtbar ist27. Aber der Beschlussmangel kann nur in der Zeit bis zur etwaigen Eintragung geltend gemacht werden und trifft auch nicht den entscheidenden Punkt: Ohne die erforderlichen Festsetzungen fehlt die Grundlage für eine entsprechende Übernahme- oder Zeichnungserklärung des Einlegers, so dass kein Recht und keine Pflicht des Einlegers zur Erbringung der Sacheinlage und zum Erhalt von Aktien als Gegenleistung für die Sacheinlage entstehen kann, mithin die aus dem Beschluss und der korrespondierenden Übernahme- oder Zeichnungserklärung bestehende Sacheinlagevereinbarung unwirksam ist28. An dieser Rechtslage hat sich auch nach neuem Recht nichts geändert, da die Festsetzungserfordernisse des § 27 Abs. 1, § 183 Abs. 1 AktG unverändert zwingend sind29. 2. Unwirksamkeit der Verträge über die Sacheinlage und der Ausführungsgeschäfte? Für den Fall der verdeckten Sacheinlage bestimmt das neue Recht in § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG n. F. ausdrücklich, dass die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht unwirksam sind. Gilt das auch bei fehlerhafter Festsetzung der Sacheinlage oder gilt insoweit weiterhin die Anordnung der relativen Unwirksamkeit, wie sie früher in § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG a. F. angeordnet war? Denkbar ist eine analoge Anwendung der neuen Regelung zur verdeckten Sacheinlage in § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG n. F., gestützt auf einen Schluss a maiore ad minus: Wenn die Geschäfte sogar bei völlig fehlender Kennzeichnung als Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung wirksam sind, sind sie erst recht wirksam, wenn der Beschluss immerhin ausdrücklich auf eine Sacheinlage zielt, mag er diese auch fehlerhaft oder unvollständig bezeichnen30. Aber für dieses Ergebnis muss man nicht unbedingt eine Analogie zu § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG n. F. bemühen. Schon die ersatzlose Streichung der alten Anordnung der Un-

__________ 27 Für Anfechtbarkeit Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 Rz. 51; Servatius in Spindler/Stilz, AktG, § 183 Rz. 21; Veil in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 183 Rz. 16; Hüffer, AktG, § 183 Rz. 12. 28 BGH, NJW 1992, 3167/3168 f. „IBH“ spricht in diesem Sinne von einer „unwirksamen Kapitalerhöhung“. 29 Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 36; Hüffer, AktG, § 27 Rz. 12. Ebenso für die GmbH nach neuem Recht Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 5 Rz. 32, Märtens in MünchKomm. GmbHG, § 5 Rz. 234 f., 240 u. Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 5 Rz. 55. Nach A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 41, Peifer in MünchKomm. AktG, § 183 Rz. 50 und Solveen in Hölters, AktG, 2011, § 27 Rz. 25 ist die Sacheinlagevereinbarung analog § 27 Abs. 3 AktG n. F. wirksam; gemeint ist damit jedoch nicht die Sacheinlagevereinbarung im hier verstandenen Sinn, sondern der außerhalb des Beschlusses vereinbarte Vertrag über die Sacheinlage. 30 A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 41; Peifer in MünchKomm. AktG, § 183 Rz. 50; Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 38, 74; Lieder in MünchKomm. GmbH, 2011, § 56 Rz. 41.

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wirksamkeit in § 27 Abs. 3 Satz 1 und § 183 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F. reicht aus, um die Annahme der Wirksamkeit dieser Geschäfte zu rechtfertigen. Die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung in dem vorstehend skizzierten Sinne ist zwar auch nach neuem Recht unausweichlich, aber die Unwirksamkeit der Ausführungsgeschäfte, also insbesondere des Einbringungsvertrags zur Sacheinlage, ist nicht sachnotwendig vorgegeben, sondern eine vom Gesetzgeber im alten Recht zusätzlich angeordnete Sanktion, auf die man getrost verzichten kann, ohne die Gesellschaft schutzlos zu stellen. Wenn die Sacheinlagevereinbarung unwirksam ist, die außerhalb des Satzungsbeschlusses der Gründer oder Gesellschafter zur Konkretisierung und Ausführung geschlossenen Rechtsgeschäfte dagegen wirksam sind, kann eine Rückabwicklung nach Bereicherungsgrundsätzen erfolgen. Der Einleger ist in diesem Fall – auch nach neuem Recht, wie sogleich zu zeigen ist (s. unten zu IV. 4) – zur Geldeinlage verpflichtet und hat – vorbehaltlich der sogleich zu erörternden Anrechnung seiner Sachleistung nach Eintragung analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. (s. unten zu IV. 5) – kein Recht auf den Erhalt von Aktien als Gegenleistung für die Einbringung der Sachgegenstände. Im Ergebnis ist daher anzunehmen, dass bei der fehlerhaft festgesetzten Sacheinlage die außerhalb des Satzungsbeschlusses abgeschlossenen Rechtsgeschäfte über die Sacheinlage anders als nach altem Recht nicht unwirksam sind. Nicht die Unwirksamkeit, sondern die Rechtsgrundlosigkeit ist die normale Sanktion der Erbringung einer Sacheinlage bei unwirksamer Sacheinlagevereinbarung, und mehr als diese normale Sanktion lässt sich heute dem Gesetz nicht mehr entnehmen. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass im GmbH-Recht, das schon im alten Recht keine Regelung der Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage enthielt, allgemein angenommen wurde, dass die Ausführungsgeschäfte unwirksam sind. Denn dies wurde mit einer Analogie zu § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG a. F. begründet, also zu der Vorschrift, die der Gesetzgeber im ARUG ersatzlos gestrichen hat31. 3. Wirksamkeit der eingetragenen Satzung oder Kapitalerhöhung? Wenn es trotz der fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage zur Eintragung der Gesellschaft oder der Durchführung der Kapitalerhöhung kommt, ist auch nach neuem Recht davon auszugehen, dass das Vertrauen des Publikums auf die im Register verlautbarte Aufbringung des Kapitals geschützt wird. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Streichung der alten Regelungen der §§ 27 Abs. 3 Satz 2, 183 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. in diesem Punkt zu einem anderen Ergebnis kommen wollte. Die Bestandskraft der in der eingetragenen Satzung verlautbarten Kapitalaufbringung trotz unwirksamer Sacheinlagevereinbarung gehört zu den allgemeinen Grundsätzen, die nach wie vor

__________ 31 BGHZ 45, 338/343; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 19 Rz. 133; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 19 Rz. 142.

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gelten, und lässt sich wohl auch aus den Grundsätzen zur fehlerhaften Gesellschaft ableiten32. 4. Geldeinlagepflicht des Einlegers? Auch nach neuem Recht kann man darüber streiten, ob der Umschlag in die Geldeinlagepflicht schon vor der Eintragung zwingend erforderlich ist. Aber jedenfalls ab Eintragung muss der Einleger aufgrund seiner Übernahme- oder Zeichnungserklärung, auch wenn diese auf eine Sacheinlage gerichtet war, zum Schutz der Gesellschaft und des Publikums zur Geldeinlage verpflichtet sein. Auch darüber besteht, soweit ersichtlich, weitgehend Einigkeit33, allerdings vorbehaltlich einer etwaigen Anrechnung des Werts der eingebrachten Sache auf die Geldeinlagepflicht analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. 5. Anrechnung des Werts des Vermögensgegenstands auf die Bareinlagepflicht? Wenn der Einleger trotz der fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage den Gegenstand, den er abredegemäß einlegen sollte, tatsächlich übertragen hat, änderte dies nach altem Recht nichts an seiner unverminderten Geldeinlagepflicht. Der Einleger besaß nur einen Bereicherungsanspruch auf Rückgabe des übertragenen Gegenstands und blieb seinerseits zur Erbringung der vollen Bareinlage verpflichtet. Die Rechtsfolgen der fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage waren also nach altem Recht beinahe so drakonisch wie die Rechtsfolgen einer verdeckten Sacheinlage. Für die verdeckte Sacheinlage hat der Gesetzgeber die Rechtsfolgen für den Einleger durch die Anrechnungslösung ganz wesentlich gemildert, und die Frage lautet, ob die heute in §§ 27 Abs. 3 Satz 3, 183 Abs. 2 AktG n. F. und § 19 Abs. 4 GmbHG n. F. für den Fall der Eintragung der Bargründung oder Barkapitalerhöhung vorgesehene Anrechnung des Werts des übertragenen Vermögensgegenstands auf die Geldeinlagepflicht auch für den Fall der fehlerhaften Festsetzung der offenen Sacheinlage herangezogen werden kann. Dafür votieren beinahe alle bislang vorliegenden Äußerungen im Schrifttum34. Zur Begrün-

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32 Hüffer, AktG, § 27 Rz. 12; § 183 Rz. 14; A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 40; Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 39; Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, § 27 Rz. 77; Peifer in MünchKomm. AktG, § 183 Rz. 53. 33 Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, § 27 Rz. 77; Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 37; Peifer in MünchKomm. AktG, § 183 Rz. 55; Hüffer, AktG, § 27 Rz. 12, § 183 Rz. 15; a. A. Veil in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 183 Rz. 17. 34 Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 38, 70 ff.; Heidinger/Benz in Spindler/ Stilz, AktG, § 27 Rz. 77; Solveen in Hölters, AktG, § 27 Rz. 25; Peifer in MünchKomm. AktG, § 183 Rz. 50; A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 41; Wardenbach in Henssler/Strohn, GesR, 2011, § 27 AktG Rz. 6; Habersack in FS MaierReimer, 2010, S. 161/162 Fn. 9. Ebenso im GmbH-Recht für analoge Anwendung von § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG n. F. Märtens in MünchKomm. GmbHG, § 5 Rz. 240; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 5 Rz. 55b; Wicke, GmbHG, 2008, § 5 Rz. 15; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 5 Rz. 32; Lieder in MünchKomm. GmbHG, § 56 Rz. 41, 95; Priester in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 56 Rz. 37.

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dung für die analoge Anwendung beruft man sich kurzerhand auf das schon vorstehend skizzierte a maiore ad minus-Argument: Wenn sogar bei der verdeckten Sacheinlage eine Anrechnung erfolgt, muss dies erst recht gelten, wenn die Sacheinlage nicht völlig verdeckt worden ist, sondern – zwar fehlerhaft, aber immerhin – eine Kapitalaufbringung durch Sacheinlage beschlossen worden ist. Die gegenteilige Auffassung vertritt, soweit ersichtlich, nur Hüffer. In seiner Kommentierung zu § 27 AktG führt er aus: „Für Absprachen und Durchführungsgeschäfte hat Art. 1 Nr. 1b ARUG in § 27 III besondere Regelungen getroffen, soweit es um verdeckte Sacheinlagen geht. Problematik wird damit aber nicht ausgeschöpft. So versagt Anrechnungslösung, wenn Sacheinlage außerhalb der Satzung verabredet wird und jede Leistung auf die übernommenen Einlagen ausbleibt. Mit Satzungspublizität bezweckte reale Kapitalaufbringung erfordert dann, dass Ausgabebetrag der Aktien (einschließlich Agio) durch Geldzahlung bedient wird. Sacheinlagevereinbarung bleibt dann im Verhältnis zwischen AG und Gründer unwirksam. Aus § 27 III 2 n. F. folgt nichts anderes, weil Norm Bestandteil der Anrechnungslösung ist“35.

In seiner Kommentierung zu § 183 AktG schreibt Hüffer ohne nähere Bezugnahme auf die von ihm zu § 27 AktG vorgetragenen Argumente, dass sich die Behandlung von Verstößen gegen § 183 Abs. 1 AktG weiter „nach Wegfall der alten Regelungen an allgemeinen Grundsätzen orientieren (muss), die ihrerseits in § 183 II a. F. ihren anerkannten Ausdruck fanden“36.

Demgemäß wendet Hüffer auf eine fehlerhafte Festsetzung der Sacheinlage im Kapitalerhöhungsbeschluss sämtliche Rechtsfolgen des alten § 183 Abs. 2 AktG a. F. an, also nicht nur die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung, sondern auch die relative Unwirksamkeit der Verträge und Rechtshandlungen für ihre Ausführung und die unverminderte Geldeinlagepflicht nach Eintragung der fehlerhaft beschlossenen Sachkapitalerhöhung37. Die Ausführungen von Hüffer zu § 27 AktG sind schwer verständlich und sprechen jedenfalls nicht überzeugend gegen eine analoge Anwendung der Anrechnungsregel des § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. Wenn die Sacheinlage ausschließlich außerhalb der Satzung verabredet wird, im Satzungsbeschluss also nur eine Geldeinlage bestimmt wird, handelt es sich nicht um einen Fall der fehlerhaften offenen Sacheinlage, sondern um eine verdeckte Sacheinlage (s. oben zu II.). Dann gilt die Anrechnungsregel des neuen Rechts nicht analog, sondern unmittelbar. Wenn zwar eine Sachkapitalerhöhung beschlossen, aber außerhalb der Satzung ein anders definierter Einlagegegenstand verabredet wird, handelt es sich um eine fehlerhafte offene Sacheinlage mit der Folge, dass der Einleger jedenfalls ab Eintragung zur Geldeinlage verpflichtet ist. Bei der unverminderten Geldeinlagepflicht bleibt es, wenn die verabredete Sachleistung völlig unterbleibt. Wenn dagegen die außerhalb der Satzung abweichend definierte Sachleistung tatsächlich erbracht worden ist, stellt sich nach

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35 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 27 Rz. 12. 36 Hüffer, AktG, § 183 Rz. 11. 37 Hüffer, AktG, § 183 Rz. 12 ff.

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Eintragung die Frage der Anrechnung ihres Werts auf die Geldeinlagepflicht nicht anders als bei einer verdeckten Sacheinlage. Die Fälle entsprechen sich auch insofern, als sowohl bei der verdeckten Sacheinlage also auch der fehlerhaft festgesetzten offenen Sacheinlage ermittelt werden muss, welche Sachleistung außerhalb der Satzung tatsächlich verabredet wurde, was bei einer fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage in der Regel sogar weniger Schwierigkeiten bereitet als bei einer verdeckten Sacheinlage. Und selbst wenn man sich gegen eine analoge Anwendung der Anrechnungsregel des § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. entscheiden würde, müsste man Hüffer nicht darin folgen, dass die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung sämtlich unwirksam sind. Richtig ist zwar, dass die Anordnung der Wirksamkeit in § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG n. F. als Teil der Anrechnungslösung gesehen werden kann. Aber auch ohne eine Analogie zu § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG n. F. gelangt man nach Streichung des alten § 27 Abs. 3 AktG a. F. zur Wirksamkeit der Ausführungsgeschäfte (s. oben zu IV. 2). Nur zur Klarstellung sei angefügt: Wenn Hüffer an dieser Stelle von der Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung spricht, meint er die Verträge über die Sacheinlage und die Ausführungshandlungen, nicht dagegen die Sacheinlagevereinbarung in dem oben (zu III. 1, IV. 1) bestimmten Sinn, die bei fehlerhafter Festsetzung der Sacheinlage auch nach neuem Recht unstreitig unwirksam ist. Mit den von Hüffer angeführten Gründen lässt sich also eine analoge Anwendung der Anrechnungsregel schwerlich verneinen. Ob der für eine analoge Anwendung ins Feld geführte „erst recht“-Schluss gerechtfertigt ist, bedarf allerdings noch einer näheren Betrachtung. Sowohl bei der verdeckten als auch bei der fehlerhaften offenen Sacheinlage geht es um einen Verstoß gegen die Gebote der realen Kapitalaufbringung. Aber die Art des Verstoßes und das konkret verletzte Gebot sind verschieden. Bei der verdeckten Sacheinlage weicht der Einleger der für Sacheinlagen vorgeschriebenen Wertprüfung durch den Einlagenprüfer und das Gericht aus; bei der fehlerhaften Festsetzung der Sacheinlage wird das Publikum unzutreffend über die Art der Kapitalaufbringung unterrichtet. Letztlich geht es auch bei den Festsetzungserfordernissen der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG um die Gewährleistung der realen Kapitalaufbringung, aber die Sicherung setzt an einem anderen Punkt an, nämlich schon bei der zutreffenden Bezeichnung des Gegenstands, dessen Wert alsdann zu prüfen und vom Einleger zu garantieren ist. Im Hinblick auf ihren Schutzzweck liegen die beiden Gebote der richtigen Kennzeichnung und der Wertprüfung nahe beieinander. Ob das Gebot der Wertprüfung, das durch die verdeckte Sacheinlage umgangen wird, höherrangig ist, mag dahinstehen. Für den Analogieschluss reicht es aus, dass das Gebot der bestimmten Festsetzung des Einlagegegenstands jedenfalls nicht als das höherrangige Gebot anzusehen ist und deshalb im Fall seiner Verletzung schärfere Rechtsfolgen auslösen müsste. Die Befürworter des Schlusses a maiore ad minus scheinen davon auszugehen, dass bei der verdeckten Sacheinlage durchweg ein „schlimmerer“ Sachverhalt vorliegt als bei der fehlerhaften offenen Sacheinlage. Das muss allerdings nicht 250

Fehlerhafte offene Sacheinlage versus verdeckte Sacheinlage

in jedem Fall so sein. Eine verdeckte Sacheinlage kann auch dann vorliegen, wenn es die Beteiligten nicht bewusst darauf angelegt haben, die Wertprüfung zu umgehen. Und umgekehrt kann bei einer fehlerhaften offenen Sacheinlage eine Absicht des Einlegers im Spiel sein, den Prüfer und den Registerrichter über den tatsächlichen Einlagegegenstand zu täuschen. Aber auch das spricht nicht gegen den Analogieschluss: Der Gesetzgeber hat in § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. die Anrechnung des Werts des verdeckt eingelegten Gegenstands auch für den Fall erlaubt, dass der Einleger bewusst die Wertprüfung umgehen wollte, also auch für den „schlimmen“ Fall. Dann ist es gerechtfertigt, auch den Sacheinleger, dessen Einlagegegenstand im Satzungsbeschluss bewusst oder unbewusst fehlerhaft bezeichnet wurde, in den Genuss der Anrechnungslösung kommen zu lassen. Eine Einschränkung ist allerdings notwendig: Wenn im Beschluss ein Gegenstand bezeichnet wurde, der nicht einlagefähig ist, kann keine Anrechnung analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. erfolgen, da sonst ein nicht einlagefähiger Vermögensgegenstand im Ergebnis einlagefähig würde38. Das Ausführungsgeschäft, also z. B. die Vereinbarung einer nicht einlagefähigen Dienstleistung, muss auch in diesem Fall nicht notwendig unwirksam sein, sondern es genügt, dass sie rechtsgrundlos getroffen wurde und nach Bereicherungsregeln abzuwickeln ist (s. oben zu IV. 2)39. Soweit die Anrechnung der tatsächlich erbrachten Sachleistung auf die geschuldete Bareinlage erfolgt, entfällt die sonst erforderliche Rückabwicklung der erbrachten Sachleistung nach Bereicherungsregeln40. Die Sacheinlagevereinbarung ist zwar wegen der fehlerhaften Festsetzung unwirksam und kann nicht den Rechtsgrund für die erbrachte Leistung schaffen, aber soweit die Anrechnung greift, bedarf es nicht der Sacheinlagevereinbarung als Rechtsgrund, sondern es reicht die außerhalb der Satzung getroffene Abrede. Oder anders gewendet: Soweit die Anrechnung greift, ist es so anzusehen, als wäre die Sacheinlagevereinbarung wirksam. 6. Heilungsverbot nach Eintragung? Das Heilungsverbot des alten § 27 Abs. 4, § 183 Abs. 2 Satz 4 AktG a. F. findet sich im neuen Recht nicht mehr. Es macht auch keinen Sinn mehr, insoweit das alte Recht für anwendbar zu halten. Nur im AktG, nicht dagegen im GmbHG verbot das alte Recht eine Heilung nach Eintragung. Der Gesetzgeber hat im ARUG die Regelung zur verdeckten Sacheinlage in § 19 Abs. 4 GmbHG n. F. vollständig ins Aktienrecht übernommen und somit das alte Heilungsverbot jedenfalls für den Bereich der verdeckten Sacheinlage bewusst gestrichen. Aber auch für die fehlerhafte offene Sacheinlage besteht heute nicht mehr das Verbot, fehlerhafte Festsetzungen nach Eintragung durch Satzungsänderung zu

__________ 38 Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, § 27 Rz. 85. 39 Ebenso Heidinger/Benz in Spindler/Stilz, AktG, § 27 Rz. 85. 40 Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 38; Solveen in Hölters, AktG, § 27 Rz. 25.

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Michael Hoffmann-Becking

heilen. Bei dem Heilungsverbot des alten Rechts handelte es sich ebenso wie bei der Anordnung der Unwirksamkeit der Ausführungsgeschäfte (s. oben IV. 2) um eine zusätzlich angeordnete Sanktion, die durch die – nach wie vor zwingend geltende – Vorschrift der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG nicht sachnotwendig vorgegeben war. Schon deshalb ist davon auszugehen, dass die, soweit es die fehlerhafte offene Sacheinlage betrifft, kommentarlos erfolgte Streichung der §§ 23 Abs. 4, 183 Abs. 2 Satz 4 AktG bewusst erfolgt ist. Zu demselben Ergebnis gelangt man auch wegen der vorstehend befürworteten analogen Anwendung der Anrechnungsregel des § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. auf die fehlerhafte offene Sacheinlage: Wenn mit der Eintragung sogar der Wert der im Beschluss nicht richtig bezeichneten, aber tatsächlich erbrachten Sachleistung auf die Bareinlagepflicht angerechnet wird, muss es erst recht zulässig sein, den Fehler der Satzungsfestsetzung noch nachträglich durch Satzungsänderung zu heilen.

V. Stimmrecht und Gewinnberechtigung bei fehlerhafter offener Sacheinlage 1. Stimmrecht Nach § 134 Abs. 2 Satz 1 AktG beginnt das Stimmrecht erst mit der vollständigen Leistung der Einlage. Nach der früheren Rechtslage zur verdeckten Sacheinlage musste das – was wohl häufig übersehen wurde – dazu führen, dass dem Einleger solange kein Stimmrecht zustand, wie er nicht (erneut) eine volle Geldeinlage leistete. Auch nach der neuen Rechtslage ist bei einer verdeckten Sacheinlage die Einlage nicht vollständig geleistet, soweit der ggf. anzurechnende Wert der übertragenen Sache hinter dem geschuldeten Einlagebetrag zurückbleibt. Ob und in welcher Höhe eine Wertdifferenz besteht, die vom Einleger noch in bar auszugleichen ist, ist eine Bewertungsfrage, die sich bei Gegenständen, die keinen festen Marktpreis haben, nicht sicher punktgenau beantworten lässt. Der Gesetzgeber des ARUG hat deshalb mit dem Ziel, die Stimmrechtsausübung der Hauptversammlung und damit den Bestand der Hauptversammlungsbeschlüsse nicht mit Fragen der Bewertung einer verdeckten Sacheinlage zu belasten41, die folgende Regelung in § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG eingefügt: „Entspricht der Wert einer verdeckten Sacheinlage nicht dem in § 36a Abs. 2 Satz 3 genannten Wert, so steht dies dem Beginn des Stimmrechts nicht entgegen; das gilt nicht, wenn der Wertunterschied offensichtlich ist.“

Für die verdeckte Sacheinlage dürfte das Problem damit hinreichend gelöst sein, aber wie steht es mit dem entsprechenden Problem bei der fehlerhaften offenen Sacheinlage? Bei einer fehlerhaft festgesetzten offenen Sacheinlage ist der Einleger jedenfalls ab Eintragung zur Geldeinlage verpflichtet, und auf diese Geldeinlagepflicht

__________ 41 Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13098, S. 57.

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Fehlerhafte offene Sacheinlage versus verdeckte Sacheinlage

kann er den Wert des übertragenen Gegenstands analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. anrechnen. Ob der Wert ausreicht oder eine Differenz verbleibt, ist hier wie da eine unter Umständen schwer zu beantwortende Bewertungsfrage. Das spricht dafür, bei der fehlerhaften offenen Sacheinlage nicht nur die Anrechnungsregel des § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F, sondern auch § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. analog anzuwenden. Habersack hat mit überzeugender Begründung die analoge Anwendung des § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. für den Fall der überbewerteten offenen Sacheinlage befürwortet, also für den Fall, dass die offene Sacheinlage zwar ordnungsgemäß festgesetzt wurde, ihr Wert jedoch hinter dem Ausgabebetrag zurückbleibt und der Einleger die Differenz in bar zu erbringen hat42. Für den Fall der fehlerhaft festgesetzten offenen Sacheinlage mit einer wertmäßig unzureichenden Anrechnung analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. kann nichts anderes gelten. Auch hier lässt sich der von Habersack angezogene „erst recht“-Schluss verwenden, der schon zur analogen Anwendung der Anrechnungsregel geführt hat: „Es wäre auch kaum nachvollziehbar, wollte man dem Inferenten, der den Weg der Offenlegung der Sacheinlage wählt, gegenüber dem Inferenten, der das Vorliegen einer Sacheinlage verschleiert, diskriminieren“43. Auch mit dieser analogen Anwendung des neuen § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. sind allerdings noch nicht alle Problemfälle abgedeckt. Wenn man der herrschenden Auslegung von § 36a Abs. 2 Satz 2 AktG folgt, muss die dingliche Übertragung des einzulegenden Gegenstands nicht notwendig bereits bei Anmeldung der Sachgründung oder Sachkapitalerhöhung erfolgt sein, sondern dem Einleger kann für die dingliche Übertragung eine Frist von bis zu fünf Jahren eingeräumt werden44. Nach dieser Interpretation des verunglückten Gesetzestextes, die neuerdings wieder mit guten Gründen bestritten wird45, muss man folgerichtig zu dem Schluss kommen, dass wegen der hinausgeschobenen Erfüllung der Übertragungspflicht das Stimmrecht aus den bereits als Gegenleistung gewährten Aktien nach § 134 Abs. 2 Satz 1 AktG erst mit der späteren Übertragung beginnt. Einen früheren Beginn des Stimmrechts kann die Satzung nur für den Fall bestimmen, dass auf die Aktien die gesetzliche oder höhere satzungsmäßige Mindesteinlage geleistet ist, und auch für diesen Fall kann das Stimmrecht zunächst nur in einem nach dem Verhältnis der geleisteten Einlage reduzierten Umfang begründet werden, wie sich aus den unverändert gebliebenen Regelungen in § 134 Abs. 2 Satz 3 und 4 AktG ergibt46.

__________ 42 FS Maier-Reimer, 2010, S. 161/167 ff. Für diesen Fall nahm Lutter in FS Rosen, 2008, S. 567/571 vor Schaffung des § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. noch an, das Stimmrecht beginne erst mit der vollständigen Zahlung der Differenz; das sei zwar „ein wenig erfreuliches Ereignis“, aber „vom Gesetz so gewollt“. 43 Habersack in FS Maier-Reimer, 2010, S. 161/169. 44 Nachw. bei Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, § 4 Rz. 37. 45 Stefan Richter, ZGR 2009, 721 ff. 46 Stefan Richter, ZGR 2009, 721/727; Hoffmann-Becking in FS Lutter, 2000, S. 453/471. Diese Konsequenz wird im Schrifttum häufig übersehen, so auch von mir in MünchHdb. AG, § 4 Rz. 37.

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Michael Hoffmann-Becking

2. Gewinnberechtigung Wenn die Einlage auf die neuen Aktien noch nicht vollständig geleistet ist und auch nicht in – unmittelbarer oder analoger – Anwendung der Anrechnungsregel als vollständig geleistet anzusehen ist, hat das auch Auswirkungen auf den Beginn der Gewinnberechtigung nach § 60 Abs. 2 Satz 1 AktG. Der Gesetzgeber des ARUG hat das nicht verkannt, sondern in der Begründung des Rechtsausschusses zu dem neuen § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. ausdrücklich angesprochen, allerdings von einer vergleichbaren Sonderregel für die Gewinnberechtigung aus den neuen Aktien bei einer verdeckten Sacheinlage abgesehen. Eine nicht ausreichend werthaltige Sachleistung führe bei der Gewinnberechtigung nicht zu vergleichbaren Risiken wie im Bereich des Stimmrechts. Die Gewinnverteilung sei Vorstands- und nicht Hauptversammlungssache. Eine geringfügige Bewertungsdifferenz könne sich hier nicht zu einem massiven Schaden für die Gesellschaft auswachsen. Deshalb erscheine es nicht erforderlich, in Abweichung von den allgemeinen Regelungen eine dem § 134 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. entsprechende Vorschrift auch in § 60 AktG vorzusehen47. Angesichts dieser klaren Entscheidung des Gesetzgebers kann man im Fall der fehlerhaften offenen Sacheinlage nicht zu einem anderen Ergebnis gelangen. Wenn die Anrechnung des Werts des Gegenstands analog § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG n. F. nicht ausreicht, um die zugesagte Einlage auf das Grundkapital abzudecken, muss es bei den Regeln des § 60 Abs. 2 AktG bleiben, es sei denn, die Satzung oder der satzungsändernde Kapitalerhöhungsbeschluss trifft gemäß § 60 Abs. 3 AktG eine abweichende Regelung. Nichts anderes gilt auch dann, wenn gestützt auf die herrschende Interpretation des § 36a Abs. 2 Satz 2 AktG die Einlage wegen der hinausgeschobenen Erfüllung der Übertragungspflicht noch nicht vollständig geleistet ist48.

__________ 47 BT-Drucks. 16/13098, S. 58. 48 Hoffmann-Becking in FS Lutter, S. 453/471; Stefan Richter, ZGR 2009, 721/727.

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Peter Hommelhoff

Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System? – ein Zuruf im EU Corporate Governance-Diskurs –

Inhaltsübersicht I. Unengagierte Paketaktionäre II. Gefahren für das dualistische System III. Inaktive Aktionäre und Aufsichtsratsüberwachung

IV. Verbesserungsimpulse zum Aufsichtsrat V. Fazit: Konzentration auf das monistische System

I. Unengagierte Paketaktionäre Die Finanzmarktkrise und ihre Folgen haben die EU-Kommission veranlasst, die Reform der Corporate Governance nicht allein in den primär betroffenen Kreditinstituten und dabei zugleich in den Versicherungsunternehmen in Angriff zu nehmen, sondern darüber hinaus auch die Corporate Governance in börsennotierten Gesellschaften, ja sogar die in börsenfernen, falls ihr Wirken gesamtwirtschaftlich besonders bedeutsam ist. Die Fülle ihrer Erwägungen und Vorschläge hat die EU-Kommission im Grünbuch „The EU Corporate Governance Framework“ zusammengetragen; unter ihnen sticht aus deutscher Sicht ein Reformansatz markant hervor: die Inpflichtnahme der Institutionellen Investoren und vergleichbarer Paketaktionäre. Gewiss – im Grünbuch stellt die Kommission diesen Reformansatz lediglich zur Diskussion. Aber das kann das rechtspolitische Konzept nicht wirklich verdecken, das sie, angeregt durch den britischen Stewardship Code, in Wahrheit verfolgt. Denn schon im Vorläufer zum framework-Grünbuch, in dem für die Corporate Governance in Finanzinstitutionen (Kreditinstitute und Versicherungen), hatte die EU-Kommission das mangelnde Interesse und Engagement gerade Institutioneller Investoren an guter Unternehmensführung mit dem Ziel langfristiger Wertsteigerung in den Unternehmen beklagt, an denen sich jene beteiligen. Auf stetig kurzfristigere Beteiligungen der Institutionellen Investoren und exzessive Risikoübernahmen führt die EU-Kommission mit den Eintritt der Finanzmarktkrise zurück, hat aber darüber hinaus den Eindruck gewonnen, mangelndes Engagement der Aktionäre sei nicht allein ein Problem der Finanzinstitutionen, sondern ein generelles in börsennotierten Gesellschaften mit weit gestreutem Anlegerkreis. Vor diesem Hintergrund skizziert die EU-Kommission ein Alternativkonzept „Aktionärs-Aktivismus“: aktive Kontrolle und Beeinflussung der Gesellschaften, Pflege eines andauernden Dialogs mit der Gesellschafts-Leitung und Einsatz der Aktionärsrechte einschließlich des Stimmenrechts (falls geboten: in 255

Peter Hommelhoff

Zusammenarbeit mit anderen Anteilsinhabern) mit dem Ziel, die Leitung, Steuerung und Kontrolle der Beteiligungsunternehmen im Interesse langfristiger Wertschöpfung zu verbessern. Konsequent lässt sich die EU-Kommission vom Leitbild eines Aktionärs inspirieren, der sich mit seiner Investition dauerhaft engagieren will, auf langfristige Erträge aus seiner Beteiligung ausgerichtet ist und deshalb, wie die EU-Kommission meint, daran interessiert sein müsste, an der Leitung, Steuerung und Kontrolle des Beteiligungsunternehmens beteiligt zu sein. Bei Lichte besehen will die Kommission diesem (vermeintlichen) LangfristInvestor, einer besonderen Aktionärskategorie, Pflichten auferlegen, wie dies vergleichbar bereits der britische Stewardship Code in seinen Prinzipien 3 bis 5 getan hat: (3) Institutionelle Investoren haben die Gesellschaften, an denen sie beteiligt sind, aktiv zu überwachen; (4) sie haben Grundsätze aufzustellen, unter welchen Voraussetzungen sie sich verstärkt in die Angelegenheiten ihres Beteiligungsunternehmens einmischen wollen; (5) sie müssen bereit sein, mit anderen Investoren in bestimmten Fällen gemeinsam zu handeln. – Der britische Regelungsansatz und der der EU-Kommission stimmen in einem überein: Beide wollen besonders qualifizierte Aktionäre als neue und weitere Überwachungs- und Kontrollinstanz in Unternehmen von öffentlichem Interesse installieren, da die anderen Instanzen (also die außenstehenden board-Mitglieder, der Abschlussprüfer und soweit aufgerufen, die staatlichen Aufsichtsbehörden) ihrer Kontrollfunktion in der Vergangenheit nach Einschätzung mancher politischen Akteure nur unzureichend nachgekommen sind.

II. Gefahren für das dualistische System Aus deutscher Sicht geschaut sind ein weiteres Kontroll- und Überwachungszentrum innerhalb der Aktiengesellschaft, die Inpflichtnahme der Paketaktionäre und der ihnen so auferlegte Aktionärs-Aktivismus ausnehmend gefährlich. Dies Konzept ist vom monistischen board- oder Verwaltungsratssystem her gedacht und entwickelt; es nimmt keine Rücksicht auf das dualistische System aus Vorstand und Aufsichtsrat mitsamt seinen markanten Eigentümlichkeiten. Mit der bloßen Gleichstellung der Aufsichtsratsmitglieder mit den „non-executive directors“ im board-System, wie es das framework-Grünbuch unternimmt, ist es nicht getan. Wie stark diese unreflektierte Gleichstellung die Perspektiven verzerrt, ist schon im Grünbuch zu den Finanzinstitutionen deutlich geworden: Wenn dies vom „Machtzentrum innerhalb der Gesellschaft“ und von seiner „Schlüsselrolle“ spricht, dann trifft diese Beschreibung gewiss auf board und Verwaltungsrat zu, aber mitnichten auf den Aufsichtsrat im dualistischen System mit seinem hierarchisch ungeschichteten Nebeneinander der drei Gesellschaftsorgane als markantem Kennzeichen der checks and balances nach deutschem (und österreichischem) Aktienrecht. Für das in seinem Grundkonzept seit sehr langem überkommene Aktienrecht in Deutschland ist das Kommissions-Konzept eines Aktionärs-Aktivismus in drei Richtungen ausnehmend gefährlich: 256

Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System?

– Es auferlegt den Paketaktionären Zusatzpflichten und dämpft auf diese Weise die Handelbarkeit der Aktien und ihre ihnen inhärente Möglichkeit der Paketbildung. – Es installiert eine weitere Kontroll- und Überwachungsinstitution neben dem Aufsichtsrat, ohne diese Institution in das Kompetenzgefüge der Aktiengesellschaft einzupassen. Das kann zu schweren Reibungen mit anderen Gesellschaftsorganen führen, die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats unterminieren und die Interessen anderer Aktionäre beeinträchtigen, insbesondere die der Kleinanleger. – Mit dem Einbau der Paketaktionäre als neues Kontroll- und Überwachungszentrum würde der europäische Gesetzgeber erneut die Regelungsverantwortung für die Corporate Governance übernehmen. Das ist in einem System bisheriger Selbstgestaltung wie dem britischen board-System unproblematisch, nicht aber in einem anderen System wie dem deutschen, in dem der Gesetzgeber seit sehr langem schon die Verantwortung für die aktienrechtliche Unternehmensverfassung übernommen und ihr in vielen Anläufen immer wieder aufs neue gerecht zu werden versucht hat.

III. Inaktive Aktionäre und Aufsichtsratsüberwachung Zu diesen Einwänden etwas näher: 1. Aktionäre sind zur Leistung der versprochenen Einlage verpflichtet; ansonsten zu gar nichts (sieht man von der Zuckerrüben AG in Deutschland ab). Insbesondere sind sie nicht gehalten, irgendwelche Funktionen in der Gesellschaft zu übernehmen. Sie können dazu auch (selbst mit ihrem Einverständnis) nicht in der Satzung gebunden werden. Die Aktiengesellschaft ist zwingend Nebenleistungs-frei. Seinen Grund hat dies in der Handelbarkeit der Aktie; ihre Umlauffähigkeit soll nicht durch weitere Leistungspflichten des jeweiligen Aktieninhabers gedämpft werden. Sollte es den Gesellschaftern weniger (oder gar nicht) auf die Einlagen ankommen, sondern auf sonstige Leistungen aller oder einzelner Gesellschafter, dann müssen sie eine andere Rechtsform für ihren Zusammenschluss wählen, in Deutschland etwa eine statuarisch entsprechend ausgestaltete Nebenleistungs-GmbH. Diese obligatorische Nebenleistungs-Freiheit gilt unabhängig vom Umfang des Besitzes, über den ein einzelner Aktionär verfügt. Weder zulasten des Paket- noch des Großaktionärs können in der Satzung NebenleistungsPflichten begründet werden. Ebenso wenig auferlegt ihm das Gesetz solche Pflichten. Dem widersprechen weder die kapitalmarktrechtlichen Anzeige-, noch die Angebotspflichten beim Erreichen bestimmter Schwellenwerte; denn sie begründen keine sonstigen Beitragspflichten. Konsequent kennt das Aktienrecht auch keine Verpflichtung, ab einem bestimmten Beteiligungsbesitz in der Gesellschaft und ihren Organen Funktionen zu übernehmen. Zwar ist es einem Großaktionär freigestellt, sich (oder einen Repräsentanten) in den Aufsichtsrat oder Vorstand (unter Einsatz der eigenen Stimmen) wählen zu lassen; eine Verpflichtung hierfür besteht jedoch nicht. 257

Peter Hommelhoff

Auch der Großaktionär darf sich sanktionslos damit begnügen, die jährliche Dividende einzustreichen. 2. Auf die aktive Mitwirkung selbst des Paket- oder Großaktionärs konnte der Gesetzgeber verzichten, weil er die Funktionsfähigkeit der Aktiengesellschaft anderweit sichergestellt hat; im deutschen Aktienrecht hat er, um die Kontrolle des Vorstands im Interesse der Aktionäre sicherzustellen, schon 1884 als obligatorisches Überwachungsorgan den Aufsichtsrat eingesetzt, seinen Aufgabenbereich zwingend normiert und ihn zugleich verpflichtet, den Aktionären gegenüber jahresperiodisch über sein Tun Rechenschaft mit dem Ziel der Entlastung abzulegen. In den folgenden mehr als 100 Jahren hat der Gesetzgeber das System der Aufsichtsratsüberwachung kontinuierlich weiter ausgestaltet und verfeinert. Aus der Fülle dieser Einzelmaßnahmen seien nur zwei besonders bedeutsame herausgegriffen: die Einführung der obligatorischen Abschlussprüfung mit dem Prüfungsbericht des Abschlussprüfers an den Aufsichtsrat zu dessen Unterstützung bei der Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe sowie das System der Vorstandsberichte an den Aufsichtsrat. An dessen Überwachungsaufgabe hat die unternehmerische Mitbestimmung über den Aufsichtsrat nichts geändert. Die Mitwirkung der Aktionäre am unternehmerischen Geschehen innerhalb der Gesellschaft hatte in Deutschland die rechtspolitische Debatte in den zwanziger und dreißiger Jahren schon einmal beschäftigt und zur gesetzlichen Regelung geführt, dass die Aktionäre in Angelegenheiten der Geschäftsführung grundsätzlich keine Entscheidungen fällen können. Die Aktiengesellschaften sollten vor wechselnden Zufallsmehrheiten bewahrt werden. Das hat zur Leitungsautonomie des Vorstands geführt, die das deutsche Aktienrecht markant kennzeichnet und sowohl gegenüber den Aktionären in der Hauptversammlung, als auch gegenüber dem Aufsichtsrat gesetzlich abgesichert ist. Allerdings hat der Gesetzgeber der besonderen Lage in (Konzern-)abhängigen Aktiengesellschaften Rechnung tragen wollen und herrschenden Aktionären in ihnen die Möglichkeit eröffnet, dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft auf der Grundlage eines Beherrschungsvertrages Weisungen zu erteilen oder ihn zu nachteiligen Maßnahmen oder Geschäften (allerdings nur gegen Nachteilsausgleich) zu veranlassen. 3. Gesetzgeberisches Leitbild im deutschen Aktienrecht ist mithin der inaktive Aktionär, der allein mit seiner Einlage zum Zweck und Erfolg der Aktiengesellschaft beiträgt. Auf dies Leitbild bezogen ist die gesamte Unternehmensverfassung im dualistischen System aufgebaut und fortentwickelt worden. Falls diesem System nach den Vorstellungen der EU-Kommission als neuer Funktionsträger der „aktive Paketaktionär“ aufgepfropft werden sollte, so müsste die dualistische Unternehmensverfassung von ihren Fundamenten her angepasst werden. Das aber würde den europäischen Gesetzgeber vor die Notwendigkeit eines Nachweises führen – des Nachweises nämlich, dass die in der Finanzmarktkrise auch im dualistischen System zutage getretenen Mängel und Schwächen (wirklich auch außerhalb der Kreditwirtschaft?) nicht durch systemimmanente Verbesserungen behoben 258

Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System?

werden können. Diesen Nachweis vermag der europäische Gesetzgeber nicht zu führen.

IV. Verbesserungsimpulse zum Aufsichtsrat Denn er zielt selbst auf solche Verbesserungen vor allem mit den Stichworten „professional diversity“, „board evaluation“ und „risk management“ ab. Die unter diesen Stichworten zur Diskussion gestellten Einzelmaßnahmen haben nicht bloß für die „non executive members“ des board oder Verwaltungsrats Bedeutung, sondern in grundsätzlich gleicher Weise für den Aufsichtsrat im dualistischen System. 1. Die in der einzelnen Aktiengesellschaft in mittlerer Zukunft konkret anstehenden Aufgaben bestimmen, welche Befähigungen, Erfahrungen und kulturellen Hintergründe insgesamt im Aufsichtsrat vorhanden sein müssen, damit dieser seine Aufgaben mit Aussicht auf Erfolg erfüllen kann. Aus den Leistungspotentialen der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder ist in der Arbeit des Aufsichtsrats dessen Gesamtpotential zu formen. Die Aufgabenadäquate Zusammensetzung und personelle Besetzung des Aufsichtsrats ist diesem als Teil seiner Selbstorganisationspflicht zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung auferlegt. Im deutschen Aktienrecht folgt diese Eigenverantwortung des Aufsichtsrats für seine personelle Zusammensetzung (auf Anteilseignerseite) schon seit langem aus seinem exklusiven Vorschlagsrecht für die Aufsichtsratswahlen; ihm entspricht eine dahingehende Verpflichtung. In der Unternehmenspraxis dagegen scheint das noch nicht überall mit der gebotenen Klarheit gesehen zu werden. Deshalb ist es auch für den Aufsichtsrat im dualistischen System zu begrüßen, wenn das framework-Grünbuch es darauf anlegt, dessen personelle Zusammensetzung in der gebotenen Vielfalt zu befördern: Dazu gehört nach den während der Finanzmarktkrise auch in Deutschland gesammelten Erfahrungen noch vor der im Grünbuch ausdrücklich angesprochenen Internationalität und „gender diversity“ im Aufsichtsrat die Befähigung einer hinreichend großen Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern, die spezifischen Risiken im Unternehmen und aus seiner Betätigung effektiv zu überwachsen. Das gilt nicht bloß für Banken und Versicherungen, sondern für alle Aktiengesellschaften schlechthin; denn unternehmerische Tätigkeit ist apriori risikobehaftet. Eine andere Frage ist, wie der einzelne Aufsichtsrat die Risikoüberwachung organisieren, insbesondere ob er einen eigenen Risikoausschuss installieren will. Das sollte der Gesetzgeber dem eigenverantwortlichen Organisationsermessen des Aufsichtsrats belassen, ggf. dem Ermessen des Satzungsgebers. Auf jeden Fall sollte der Aufsichtsrat in seinem jährlichen Rechenschaftsbericht gegenüber den Aktionären zu seiner Aufgaben-adäquaten Zusammensetzung Substanzielles vortragen müssen. 2. Die Selbstkontrolle des Aufsichtsrats, seiner Organisation und AufgabenErledigung ist in Deutschland noch nicht sonderlich weit verbreitet. Die dahingehenden Empfehlungen der EU-Kommission und des deutschen Cor259

Peter Hommelhoff

porate Governance Kodex sind bislang ohne rechten Widerhall geblieben, obwohl die Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit es ohne Zweifel erfordert, sich in regelmäßigen Abständen ein Bild von der eigenen Arbeit zu machen. Der jährliche Rechenschaftsbericht bietet hierfür allen Anlass. Deshalb kündigt das framework-Grünbuch zu Recht einen Impuls zur Selbstevaluierung des Aufsichtsrats an und begnügt sich dabei ebenso zu recht nicht mit der Eigenkontrolle des Überwachungsorgans, sondern steuert zusätzlich auf Fremdevaluierung in zeitlich größeren Abständen zu; andernfalls wäre in der Tat Betriebsblindheit zu befürchten. 3. Vor dem Hintergrund des deutschen Aufsichtsrats-Systems und den in ihm über lange Jahrzehnte hinweg gesammelten Erfahrungen scheinen die im framework-Grünbuch zur Diskussion gestellten Maßnahmen zur Verbesserung der Kontrolle und Überwachung der Unternehmensleitung durchaus geeignet, nach und zusammen mit dem Prüfungsausschuss in Kapitalmarktorientierten Gesellschaften jene Schwächen und Mängel zu überwinden, die während der Finanzmarktkrise auch im dualistischen System (zumindest der Kreditwirtschaft) offenbar geworden sind. Schon deshalb besteht kein Anlass, neben dem Aufsichtsrat ein weiteres Kontroll- und Überwachungszentrum in Form des oder der Paketaktionäre zu etablieren. Es ließe sich schwerlich mit der Eigenverantwortlichkeit des Vorstands oder mit der informationellen Gleichbehandlung aller Aktionäre vereinbaren und würde über kurz oder lang die Überwachungs-, Beratungs- und Mitentscheidungsfunktion des Aufsichtsrats aushöhlen.

V. Fazit: Konzentration auf das monistische System Welche Konsequenzen sollte aus alledem der europäische Gesetzgeber ziehen? Zumindest für das dualistische System mit Vorstand und Aufsichtsrat sollte er vom Konzept eines Aktionärs-Aktivismus klar und eindeutig Abstand nehmen; namentlich sollte er darauf verzichten, den britischen Stewardship Code auf das Aufsichtsrats-System zu übertragen. Wieweit offenbar das monistische System noch davon entfernt ist, die Kontroll- und Überwachungsfunktion präzise und auch von außen erkennbar zu beschreiben, lässt das framework-Grünbuch in der Frage deutlich werden: Sollte die EU sicherstellen, dass die Funktionen und Aufgaben des board-Vorsitzenden eindeutig gegen die des CEO abgesetzt werden? Auf einem anderen Blatt steht, ob nicht auch im monistischen System den Institutionellen Investoren und anderen Paketaktionären aus rechts- und geschäftspolitischen Gründen die Freiheit belassen bleiben sollte, sich nicht in die Kontrolle und Überwachung der Unternehmensleitung aktiv einzuschalten. An solchen Grundsatzfragen und ihrer lebhaften Erörterung hatte Martin Winter schon auf der Universität seine helle Freude. Er, der auch menschlich so einnehmende Gesprächspartner, und seine klugen und punktgenauen, aus reicher praktischer Erfahrung gespeisten Diskussionsbeiträge fehlen uns sehr.

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Ulrich Huber

Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht nach der MoMiG-Reform* Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Die drei wichtigsten Änderungen 1. Der Wegfall des Tatbestandsmerkmals des „kapitalersetzenden“ Charakters des Darlehens 2. Länger als ein Jahr vor dem Insolvenzantrag zurückliegende Zahlungen a) Aufhebung der Rechtsprechungsregeln b) Existenzvernichtung? c) Insolvenzverschleppung d) Vorsatzanfechtung

3. Rechtslage außerhalb des Insolvenzverfahrens III. Rechtspolitische Grundgedanken 1. Zweckmäßigkeitserwägungen a) Aufwand und Ertrag der Feststellung des kapitalersetzenden Charakters des Darlehens b) Das Nebeneinander von „Rechtsprechungsregeln“ und „Novellenregeln“ c) Das Problem der Auslandsgesellschaften 2. Rechtssicherheit 3. Gerechtigkeit

I. Vorbemerkung Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen1 hat das Recht der Gesellschafterdarlehen neu geregelt. Die Neu-

__________ * Unveränderter Text des am 23.4.2010 auf der Gedächtnisveranstaltung für Martin Winter gehaltenen Vortrags. Der Beitrag wurde bereits in der ZIP Beilage 2 zu ZIP 39/2010 veröffentlicht. Die Anmerkungen beschränken sich auf weiterführende Hinweise, ohne die Absicht, die reichhaltige Literatur erschöpfend zu dokumentieren. Umfassende Nachweise enthalten die Kommentare zu den neuen Regeln über Gesellschafterdarlehen: Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, Anh. zu §§ 32 a, b; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, Anh. zu § 30; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 64 Rz. 93 ff.; Dahl in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, §§ 32a, 32b a. F. Anh. II; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. III, 10. Aufl. 2010, §§ 32 a/b a. F. Nachtrag MoMiG; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG-Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 30 Rz. 29 ff. 1 MoMiG, in Kraft seit dem 1.11.2008. Für Insolvenzverfahren, die vor dem 1.11.2008 eröffnet worden sind, gelten die bisherigen gesetzlichen Vorschriften weiter (Art. 103d EGInsO); das betrifft nicht nur die sog. „Novellenregeln“ (§§ 32a, 32b GmbHG a. F., § 135 InsO a. F.), sondern auch die ungeschriebenen, auf eine Analogie zu §§ 30, 31 GmbHG gestützten „Rechtsprechungsregeln“ (BGHZ 179, 249 = ZIP 2009, 615, dazu EWiR 2009, 303 [Habighorst]). Ist die Insolvenz der Gesellschaft am 1.11.2008 oder später eröffnet worden und sind in einem solchen Fall Gesellschafterdarlehen vor dem 1.11.2008 zurückgezahlt worden, so gelten für die Rückforderung die bisherigen Regeln weiter (das folgt für die auf Anfechtung gestützte Rückforderung aus Art. 103d

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regelung ist ganz in die Insolvenzordnung verlagert worden. Im ersten Teil meines Vortrags2 möchte ich die für die Praxis wichtigsten Änderungen kurz rekapitulieren; um mich nicht zu verzetteln, beschränke ich mich dabei auf die Kernelemente und lasse auch praktisch wichtige Nebenpunkte unerwähnt3. Im zweiten Teil möchte ich etwas zu den rechtspolitischen Grundgedanken oder Leitgedanken der Neuregelung sagen4. Bevor ich auf die praktisch wichtigsten Änderungen eingehe, ist eines zu betonen: Die Neuregelung hat keinen revolutionären Charakter. Revolutionär wäre es gewesen, wenn der Gesetzgeber sich auf den Standpunkt gestellt hätte, dass für Gesellschafterdarlehen in der GmbH (und Gesellschaften vergleichbarer Rechtsform: AG, GmbH & Co. KG) innerhalb und außerhalb der Insolvenz die allgemeinen Regeln gelten sollen mit der Folge, dass die Gesellschafter als Gläubiger ihrer Gesellschaft genau so zu behandeln wären wie jeder beliebige Fremdgläubiger5. Das hieße: gleicher Rang bei der Befriedigung aus der Insolvenzmasse; Möglichkeit der abgesonderten Befriedigung aus Sicherheiten an Gegenständen des Gesellschaftsvermögens; unbeschränkte Zulässigkeit der Rückzahlung des Darlehens außerhalb der Insolvenz, nur unter dem Vorbehalt der allgemeinen insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbestände6, wenn später ein Insolvenzverfahren eröffnet wird (§ 130 InsO: kongruente Deckung; § 131 InsO: inkongruente Deckung; § 133 InsO: vorsätzliche Benachteiligung). An eine solche Revolution hat der Gesetzgeber des MoMiG nicht gedacht. Er hat vielmehr daran festgehalten, dass Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz der Gesellschaft zurückgestuft werden und dass ihre Sicherung und Befriedigung einem besonderen Anfechtungstatbestand unterworfen wird7. Das gilt für

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Satz 2 EGInsO, für die auf § 31 GmbHG [analog] gestützte Rückforderung aus allgemeinen Prinzipien des intertemporalen Privatrechts, vgl. Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 64 Rz. 148). Unten II. Nicht eingehen kann ich hier insbesondere auf den Fall der „Nutzungsüberlassung“, dazu unten Fn. 10. Unten III. Vorschläge, die in diese Richtung zielen, sind in der Literatur vor Inkrafttreten des MoMiG, allerdings nur vereinzelt, vertreten worden. Vgl. insbesondere Tilman Bezzenberger in FS Bezzenberger, 2000, S. 23, 43 f.; Cahn, AG 2005, 217, 223 f.; Eidenmüller in FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 49 ff.; weitere Nachweise bei Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, Rz. 10 vor § 32a GmbHG a. F. Anders in diesem Punkt allerdings die Vorschläge von Tilman Bezzenberger, Cahn, Eidenmüller (Fn. 5), die zwar die Rückstufung der Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz beseitigen, aber an einem besonderen Anfechtungstatbestand für Rückzahlungen im Vorfeld der Insolvenz festhalten wollen. Vgl. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 26: „Eine (insolvenzrechtlich platzierte) Sonderregelung für Gesellschafterdarlehen wird beibehalten, da die Alternativen wie etwa eine Durchgriffshaftung nicht überzeugender sind.“ Das dürfte der allgemeinen Einschätzung im Vorfeld der Gesetzgebung entsprechen, vgl. dazu die Nachweise bei U. Huber/Habersack in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370, 393 Fn. 91. Zur Alternative der Durchgriffshaftung vgl., noch heute lesenswert, BGHZ 31, 258, 268, 271; dazu auch U. Huber/Habersack, ebd., S. 396 f.

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alle Gesellschaften, für deren Schulden keine natürliche Person unbeschränkt haftet, ausgenommen nur, wie bisher schon, Kleinbeteiligungen ohne Geschäftsführungsbefugnis bis zu 10 %8 und Beteiligungen, die zu Sanierungszwecken erworben worden sind. In der Insolvenz der Gesellschaft ändert sich daher in den meisten Fällen praktisch überhaupt nichts. Steht der Darlehensrückzahlungsanspruch des Gesellschafters bei Eröffnung des Verfahrens noch offen, so wird er, wie bisher, im Rang hinter alle anderen Insolvenzforderungen zurückgestuft, § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO; dasselbe gilt für offenstehende Zinsansprüche, § 39 Abs. 3 InsO. Ist das Darlehen im letzten Jahr vor dem Antrag, der zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens geführt hat, oder sogar erst nach diesem Antrag zurückgezahlt worden, oder sind im gleichen Zeitraum Darlehenszinsen bezahlt worden, so kann der Insolvenzverwalter diese Zahlungen anfechten und vom Gesellschafter zurückfordern (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 mit § 39 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 InsO); sind Sicherheiten bestellt worden, kann er sie durch Anfechtung vernichten, es sei denn, die Sicherheitenbestellung liegt länger als zehn Jahre, gerechnet vom Insolvenzantrag, zurück (§ 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO)9. Das gilt nach wie vor, wie bisher unter Einbeziehung der Sachverhalte, die einer Darlehensgewährung durch den Gesellschafter wirtschaftlich entsprechen (z. B. Bestellung von Sicherheiten für Darlehen Dritter oder Einschaltung Dritter als Strohmänner bei der Gründung der Gesellschaft oder der Darlehensgewährung)10.

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8 Die 10 %-Grenze (bisher § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG a. F.) gilt nunmehr für Gesellschaften mit allseitiger Haftungsbeschränkung ohne Rücksicht auf die Rechtsform, also insbesondere auch für AG, für die die Rechtsprechung bisher von einer 25 %Grenze ausgegangen war (BGHZ 90, 381 = ZIP 1984, 572; BGH, ZIP 2005, 1316). Dazu Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 75: „Für eine generelle Differenzierung zwischen GmbH und Aktiengesellschaft ist ein Grund nicht ersichtlich. Dies gilt allemal für eine unterschiedliche Behandlung von GmbH und geschlossener, kleiner Aktiengesellschaft. Durch die Aufgabe der Rechtsprechungsregeln ist die Problematik der Gesellschafterdarlehen und ihre Differenzierung gegenüber Darlehen Dritter ohnehin wesentlich entschärft, spielt während des Lebens der Gesellschaft keine Rolle mehr und kommt nur noch in der Insolvenz zur Geltung.“ 9 Dass die Bestellung von Sicherheiten unanfechtbar sein soll, wenn sie zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags länger als 10 Jahre zurückliegt, und dass infolgedessen in diesem Fall die Sicherheit dem Gesellschafter die abgesonderte Befriedigung wegen einer Forderung ermöglichen soll, die gemäß § 39 Abs. 1 Satz 5 InsO zurückgestuft ist (was bisher durch die ergänzende Anwendung der „Rechtsprechungsregeln“ verhindert wurde), mag verwundern; vgl. dazu auch U. Huber/Habersack (Fn. 7), S. 412; U. Huber/Habersack, BB 2006, 1, 6. Praktisch dürfte der Fall aber kaum eine Rolle spielen. Es müsste sich ja, um die Zehnjahresfrist zu überschreiten, um langlebige (und daher auch relativ hochwertige) Wirtschaftsgüter handeln, etwa um Grundstücke oder Patente. Gesellschafter, die solche Güter zu Gunsten der Gesellschaft beleihen wollen, werden aber wohl ohnehin andere Mittel und Wege finden, um sie der Verstrickung in der Gesellschaftsinsolvenz zu entziehen (Betriebsaufspaltung, Halten des Wirtschaftsguts im eigenen Vermögen und Einbringung in die Gesellschaft quoad usum). Dann ist § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO a priori unanwendbar. 10 Überlässt der Gesellschafter der Gesellschaft Gegenstände zur Nutzung (Hauptbeispiel: Vermietung des Betriebsgrundstücks durch den Gesellschafter oder eine von den Gesellschaftern gegründete „Besitzgesellschaft“), so handelt es sich nicht um einen Vorgang, der einer Darlehensgewährung „wirtschaftlich entspricht“, weil der Gesellschafter Eigentümer bleibt und der Rückgewähranspruch, als Aussonderungs-

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II. Die drei wichtigsten Änderungen 1. Der Wegfall des Tatbestandsmerkmals des „kapitalersetzenden“ Charakters des Darlehens Nun aber die erste Änderung der Rechtslage, dem äußeren Anschein nach die spektakulärste. Gegen die Rückstufung in der Insolvenz (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) oder die Anfechtung (§ 135 Abs. 1 InsO) kann sich der Gesellschafter nicht mehr, wie bisher, mit dem Einwand zur Wehr setzen, das Darlehen (oder die darlehensähnliche sonstige Finanzierungshilfe) sei nicht „kapitalersetzend“ gewesen. Alle Darlehen und darlehensähnlichen Finanzierungshilfen eines Gesellschafters werden in der Insolvenz gleichbehandelt, wenn es sich um eine Gesellschaft handelt, für deren Schulden keine natürliche Person unbeschränkt haftet. Dieser Unterschied dürfte allerdings in der Praxis weniger gravierend sein, als er in der Theorie scheinen mag. Als kapitalersetzend im Sinn des bisherigen Rechts (d. h. im Sinn des bisherigen § 32a GmbHG und im Sinn der daneben weiter angewendeten, aus §§ 30, 31 GmbHG hergeleiteten „Rechtsprechungsregeln“) wurde ein Darlehen dann angesehen, wenn die Gesellschaft bei Darlehensgewährung zahlungsunfähig war (oder ohne das Darlehen zahlungsunfähig geworden wäre)11 oder wenn sie überschuldet war12 oder, hiervon unabhängig, wenn sie nicht imstande war, sich den benötigten Kredit ohne Hilfe ihrer Gesellschafter zu normalen Bedingungen von dritter Seite zu beschaffen13 –

__________ anspruch, von vornherein keine Insolvenzforderung ist, auf die die §§ 38 ff. InsO sich anwenden ließen (so auch Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 56). Die Befugnis des Insolvenzverwalters, die Herausgabe des zur Nutzung überlassenen Gegenstands im Interesse der Insolvenzmasse zeitweise zu verweigern, richtet sich in Zukunft ausschließlich nach dem neu eingeführten § 135 Abs. 3 InsO (vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/9737, S. 59). Das hiernach vom Insolvenzverwalter zu zahlende Entgelt ist Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO (vgl. Bericht des Rechtsausschusses, ebd.). Bei Verfahrenseröffnung offenstehende Mietforderungen des Gesellschafters sind gewöhnliche Insolvenzforderungen; eine Rückstufung gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO kommt nur bei Stundung und in ähnlichen Fällen in Betracht (da nur dann ein der Darlehensgewährung „wirtschaftlich entsprechender“ Tatbestand vorliegt). Die Rechtslage ist also durchaus anders (und für den Gesellschafter günstiger) als nach der bisherigen Rechtsprechung zur „kapitalersetzenden Nutzungsüberlassung“. Vgl. dazu, neben den in der *-Fußn. zitierten Kommentaren, namentlich Bitter, ZIP 2010, 1 (sein Vorschlag, die Regel des § 135 Abs. 3 InsO mit Modifikationen auf Nichtgesellschafter zu übertragen, scheint mir nur de lege ferenda diskutabel). Die abweichende Ansicht von Marotzke, JZ 2010, 592 ist mit der (von ihm missbilligten) gesetzlichen Neuregelung unvereinbar. 11 BGHZ 31, 258, 269; BGHZ 67, 171, 177 f. 12 BGHZ 75, 334, 337 = ZIP 1980, 115 (m. Anm. Klasmeyer); BGHZ 109, 55, 59 f. = ZIP 1989, 1542 (m. Bespr. Karsten Schmidt, ZIP 1990, 69 u. Büscher/Klusmann, ZIP 1991, 10), dazu EWiR 1990, 371 (Fabritius). 13 BGHZ 76, 326, 330 f. = ZIP 1980, 361; BGHZ 81, 311, 314 f. = ZIP 1981, 1200; BGHZ 90, 381, 390 = ZIP 1984, 572; BGHZ 105, 168, 175 = ZIP 1988, 1248 (m. Bespr. Lutter, ZIP 1989, 477), dazu EWiR 1988, 1095 (Fleck); BGHZ 119, 201, 203 f. = ZIP 1992,

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oder abkürzend gesagt: wenn die Gesellschaft sich in der „Krise“ befand14. Und auch wenn die Gesellschaft zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung noch kreditwürdig war und erst später in die Krise geriet, wurde das Darlehen nachträglich als kapitalersetzend angesehen, wenn der Gesellschafter es nicht zum erstmöglichen Kündigungstermin nach Eintritt und Erkennbarkeit der Krise kündigte und zurückforderte, sondern es trotz der Krise in der Gesellschaft „stehenließ“15. Es war aber mehr als wahrscheinlich, dass ein Gesellschafterdarlehen, das bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Gesellschaft belassen worden war, jedenfalls durch „Stehenlassen“ kapitalersetzend geworden war, mit der Folge, dass weder eine Konkursquote bezahlt wurde noch etwaige Sicherheiten verwertet werden konnten16. Bei Darlehen, die im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag zurückgezahlt worden waren, mochte die Chance, dass der Gesellschafter sich nach bisherigem Recht auf ihren „nicht-kapitalersetzenden“ Charakter berufen konnte, ein wenig größer gewesen sein. Aber auch hier waren die Aussichten einer erfolgreichen Verteidigung alles andere als gut. Es war wohl für den Gesellschafter eher ein Glücksfall, wenn es ihm gelang, sich bei Rückzahlung innerhalb der Jahresfrist einer Anfechtung des Insolvenzverwalters erfolgreich zu widersetzen17. Deshalb ist, wenn man das Durchschnittliche und Ganze und nicht so sehr exzentrisch gelagerte Einzelfälle ins Auge fasst, vielleicht doch die Einschätzung gerechtfertigt, dass die Rechtsstellung des Gesellschafters in der Insolvenz der Gesellschaft sich durch den Wegfall des einschränkenden Tatbestandsmerkmals des „kapitalersetzenden“ Charakters des Darlehens in § 39 Abs. 1 Nr. 5 und § 135 InsO nicht wirklich in einer fühlbaren Weise verschlechtert hat. Die Beschränkungen nach § 39 Abs. 1 Satz 5 und § 135 Abs. 1 InsO haften dem Gesellschafterdarlehen nach der Neuregelung also als bleibendes Merkmal von vornherein an, wann und wo immer die Gesellschafterposition und die Gläubigerposition zusammentreffen. Eine spätere Trennung kann daran nichts mehr ändern. Rechtsnachfolger übernehmen die Darlehensforderung nach dem Prin-

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1382, dazu EWiR 1992, 1093 (Hunecke); BGHZ 148, 167, 168 = ZIP 2001, 1458, dazu EWiR 2001, 917 (Keil). In der Literatur wurde das vielfach als der eigentliche Grundtatbestand des „kapitalersetzenden“ Gesellschafterdarlehens angesehen, vgl. z. B. Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1991, §§ 32 a, b Rz. 45 ff.; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, §§ 32 a/b Rz. 18. Der Begriff der „Krise“ wurde in diesem Zusammenhang in der Rechtsprechung erstmals verwendet von BGHZ 105, 168, 175 f. = ZIP 1988, 1248 und ist dann vom Gesetzgeber übernommen worden: § 32a Abs. 1 GmbHG i. d. F. des EGInsO von 1994 und § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG i. d. F. des KonTraG von 1998. BGHZ 75, 334, 337 = ZIP 1980, 115; BGHZ 105, 168, 185 f. = ZIP 1988, 1248; BGHZ 109, 55, 60 = ZIP 1989, 1542; BGHZ 121, 31, 36 f. = ZIP 1993, 189 (m. Bespr. Karsten Schmidt, S. 161), dazu EWiR 1993, 155 (Fleck); BGHZ 127, 1, 6 = ZIP 1994, 1261, dazu EWiR 1994, 1201 (Timm); BGHZ 127, 336, 344 f. = ZIP 1994, 1934 (m. Anm. Altmeppen), dazu EWiR 1995, 157 (Westermann); BGHZ 142, 116, 120 = ZIP 1999, 1263, dazu EWiR 1999, 843 (Dauner-Lieb). So auch die Einschätzung in der Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 56. Vgl. auch U. Huber/Habersack (Fn. 7), S. 379.

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zip des § 404 BGB mit all ihren insolvenzrechtlichen Beschränkungen18. Daher gilt, was schon bisher kautelarjuristisch geboten war, künftig in verstärktem Maß. Ein Gesellschafter, der ein Darlehen gewährt hat, sollte den Gesellschaftsanteil nur zusammen mit der Darlehensforderung verkaufen, und ein Nichtgesellschafter, der bereit ist, ein Gesellschafterdarlehen abzulösen, ohne zugleich den Gesellschaftsanteil zu übernehmen, sollte das nicht in der Weise tun, dass er dem Gesellschafter die isolierte Darlehensforderung abkauft, sondern sollte den für die Ablösung erforderlichen Kredit unmittelbar der Gesellschaft gewähren. Wer sich hieran nicht hält, muss die Folgen seiner mangelnden Vorsicht tragen, und es kann jedenfalls nicht Aufgabe der Rechtsprechung sein, solche kautelarjuristischen Kunstfehler nachträglich im Weg der Rechtsfortbildung zu heilen19. Auch das war bisher im Grunde – nämlich immer dann, wenn das Darlehen zur Zeit der Trennung bereits kapitalersetzend war – nicht anders. 2. Länger als ein Jahr vor dem Insolvenzantrag zurückliegende Zahlungen a) Aufhebung der Rechtsprechungsregeln Die zweite Änderung betrifft den Fall, dass das Gesellschafterdarlehen zu einem Zeitpunkt zurückgezahlt worden ist, der, gerechnet vom späteren Insolvenzantrag, länger als ein Jahr zurückliegt. Nach bisherigem Recht konnte der Insolvenzverwalter in einem solchen Fall, obwohl die Anfechtungsfrist des § 135 InsO verstrichen war, mit Hilfe der „Rechtsprechungsregeln“ (§§ 30, 31 GmbHG analog) Erstattung des zurückgezahlten Betrags verlangen, sofern das Darlehen „kapitalersetzenden“ Charakter besaß20. Das bedeutete: Die Rückzahlung war für unbegrenzte Zeit durch eine Rückforderung von Seiten eines späteren Insolvenzverwalters bedroht (denn die Verjährung eines Anspruchs auf Erstattung einer verbotenen Einlagenrückgewähr tritt, auch wenn die für die Gesellschaft selbst geltende zehnjährige Verjährungsfrist abgelaufen ist, gegenüber der Insolvenzmasse frühestens sechs Monate nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein, § 31 Abs. 5 mit § 19 Abs. 6 Satz 2 GmbHG). Gewiss

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18 In der Literatur wird die Ansicht vertreten, die insolvenzrechtlichen Beschränkungen des Darlehensrückzahlungsanspruchs sollten entfallen, wenn zwischen der Abtretung des Anspruchs an einen Nichtgesellschafter und dem Insolvenzantrag mehr als ein Jahr verstrichen sei; dies solle sich aus einer analogen Anwendung von § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ergeben. So zuerst wohl Habersack, ZIP 2007, 2145, 2149; Gehrlein, BB 2008, 846, 850; und im Anschluss daran viele andere; vgl. die Nachweise bei Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG-Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 30 Rz. 46. Ich sehe dafür keine tragfähige Analogiebasis und auch kein praktisches Bedürfnis; zudem würden naheliegende Missbrauchsmöglichkeit eröffnet. 19 Solche Heilungsversuche werden – ohne viel Rücksicht auf das geltende Recht – vorgeschlagen von Pentz in FS Hüffer, 2010, S. 747 ff. Die von ihm erörterten, ziemlich theoretisch anmutenden Fallgestaltungen können überhaupt nur auftreten, wenn elementare kautelarjuristische Fehler begangen werden. 20 Grundlegend BGHZ 31, 258; BGHZ 67, 171; BGHZ 75, 334 = ZIP 1980, 115; BGHZ 76, 326 = ZIP 1980, 361; BGHZ 90, 370 = ZIP 1984, 698; BGHZ 90, 381 = ZIP 1984, 572. Vgl. dazu insbesondere die umfassende Darstellung bei Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, §§ 32 a/b Rz. 206 ff.

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war ein solcher nach Jahr und Tag erhobener Anspruch für die Gesellschaft und namentlich den Insolvenzverwalter kein Selbstläufer. Denn je länger die Zahlung zurückliegt, desto schwieriger wird die Feststellung, ob das Darlehen zur Zeit der Rückzahlung „kapitalersetzenden“ Charakter besaß. Außerdem setzte die Anwendung der §§ 30, 31 GmbHG voraus, dass in der Gesellschaft zur Zeit der Rückzahlung eine „Unterbilanz“ bestand, dass also die Aktiva (Werte des Anlage- und Umlaufvermögens nach regulären Bewertungsregeln des HGB) niedriger waren als die Passiva (Stammkapital plus Schulden einschließlich des Darlehens)21. Nach jetzt geltendem Recht soll dagegen ein derartiges Aufgreifen länger zurückliegender Fälle, über die in § 135 Abs. 1 InsO gezogenen Grenzen hinaus, nicht mehr möglich sein. Um es zu verhindern, ordnet § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG jetzt ausdrücklich die Unanwendbarkeit der Regeln über die Kapitalerhaltung auf Gesellschafterdarlehen und wirtschaftlich gleichartige Rechtsverhältnisse an. Die bisherigen „Rechtsprechungsregeln“ sind damit aufgehoben22. b) Existenzvernichtung? Nun könnte der Insolvenzverwalter überlegen, ob er nicht aus der Rückzahlung des Darlehens in Verbindung mit der späteren Insolvenz der Gesellschaft einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 826 BGB wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ herleiten kann, unter Berufung auf die beiden neuen Leitentscheidungen des BGH in den Fällen Trihotel und Gamma23. Ein solcher Anspruch wäre an die Jahresgrenze des § 135 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht gebunden und übrigens auch nicht auf die Erstattung des zurückgezahlten Darlehens beschränkt, sondern würde grundsätzlich auch einen weitergehenden Insolvenzschaden der Gläubiger (etwa die sog. „Zerschlagungsverluste“) erfassen. Aber eine solche Haftung kommt im vorliegenden Zusammenhang aus mehreren Gründen nicht in Betracht. Haftungstatbestand ist nach der Rechtsprechung der vorsätzliche, zur Insolvenz der Gesellschaft führende oder sie vertiefende „kompensationslose“ Eingriff in das zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger bestimmte Gesellschaftsvermögen24. Die Haftung soll, so der BGH, Schutzlücken im Kapitalschutzsystem der §§ 30, 31 GmbHG schließen25. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber der Eingriff in das Gesellschaftsvermögen, wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann, nicht kompensationslos. Denn die GmbH wird durch die Rückzahlung des Darlehens von einer wirklich bestehenden rechtlichen Verbindlichkeit befreit.

__________ 21 BGHZ 76, 326, 232 f. = ZIP 1980, 361; dazu im einzelnen Ulmer/Habersack (Fn. 20), §§ 32 a/b Rz. 213 f. 22 Vgl. dazu Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 42. 23 BGHZ 173, 246 = ZIP 2007, 1552 (m. Bespr. Weller, S. 1681), dazu EWiR 2007, 557 (Wilhelm); BGHZ 176, 204 = ZIP 2008, 1232 (m. Bespr. Altmeppen, S. 1201), dazu EWiR 2008, 493 (Bruns). 24 BGHZ 173, 246, 256 = ZIP 2007, 1552, Rz. 24; BGHZ 176, 204, 210 = ZIP 2008, 1232, Rz. 10. 25 BGHZ 173, 246, 256 = ZIP 2007, 1552, Rz. 24; BGHZ 176, 204, 211 = ZIP 2008, 1232, Rz. 13.

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Und auch die Übernahme der Verbindlichkeit war nicht kompensationslos, weil der Gegenwert dem Gesellschaftsvermögen wirklich zugeflossen ist. Im übrigen ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG, dass Gesellschafterdarlehen und ihre Rückzahlung in Zukunft gar nicht mehr dem Kapitalschutzsystem des GmbH-Gesetzes unterworfen sein sollen; das muss natürlich, wie für die §§ 30, 31 GmbHG selber, so auch für den diese Bestimmungen ergänzenden Tatbestand der Existenzvernichtungshaftung und die hierdurch errichtete Entnahmesperre gelten. Neben der Anfechtung gemäß § 135 InsO kommt somit ein Rückgriff auf gesellschaftsrechtliche Rechtsbehelfe gegen die Rückzahlung des Darlehens nicht in Betracht. Es bleiben allerdings zwei Fälle, in denen dem Gesellschafter das Verstreichen der Einjahresfrist seit der Rückzahlung trotzdem nichts nützt. c) Insolvenzverschleppung Erstens: Wenn der Gesellschafter selbst als Geschäftsführer eine nach § 15a InsO begründete Insolvenzantragspflicht verletzt oder den Geschäftsführer hierzu angestiftet hat und wenn dies dazu führt, dass die Anfechtungsfrist versäumt wird, so wird für ihn alles noch viel schlimmer. Nicht nur hilft es ihm nichts, sich im Anfechtungsprozess auf das Verstreichen der Frist zu berufen, denn dem stünde die exceptio doli entgegen26. Aber damit hat es nicht sein Bewenden: Er muss darüber hinaus nach der Rechtsprechung des BGH gemäß § 823 Abs. 2 BGB (ggf. in Verbindung mit § 830 BGB: Anstiftung) den gesamten den Gläubigern durch die Insolvenzverschleppung entstandenen Schaden ersetzen27; soweit er Geschäftsführer ist, ist er überdies gemäß § 64 GmbHG zur Erstattung der von der Gesellschaft nach Insolvenzreife geleisteten Zahlungen verpflichtet28. Also der Gesellschafter fällt, wenn die Insolvenzverschleppung nachgewiesen wird, in einen finanziellen Abgrund, von den strafrechtlichen Konsequenzen ganz zu schweigen29, und er kann nicht damit rechnen, dass die Sache unentdeckt bleibt. Das heißt: Vor dem Versuch, sein Darlehen auf diese Weise zu retten, kann man ihn nur warnen; das Risiko ist viel zu groß.

__________ 26 Vgl. U. Huber in FS Priester, 2007, S. 259, 282. 27 Vgl. die Darstellung bei Altmeppen (Fn. 5), Rz. 122 ff. vor § 64; Haas in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 64 Rz. 109 ff.; Kleindiek (Fn. 1), Anh. § 64 Rz. 61 ff.; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. III, 10. Aufl. 2010, Anh. § 64 Rz. 44 ff., alle mit umfassenden Nachweisen. Nach der von Altmeppen/Wilhelm entwickelten Gegenansicht (NJW 1999, 673; Altmeppen [Fn. 5], § 64 Rz. 26) sind der Geschäftsführer (und der ihn beeinflussende Gesellschafter, auch wenn er nicht selbst Geschäftsführer ist) nicht zum Schadensersatz, sondern „nur“ zum Ausgleich des während der Insolvenzverschleppung eintretenden weiteren Verlusts der Gesellschaft verpflichtet, was für ihn indessen kaum weniger verhängnisvoll sein kann. 28 Dazu etwa Kleindiek (Fn. 1), § 64 Rz. 1 ff.; Ulmer/Casper in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2007, § 64 Rz. 1 ff. 29 Vgl. § 15a Abs. 4, 5 InsO.

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d) Vorsatzanfechtung Zweitens: Unbenommen bleibt dem Insolvenzverwalter, auch wenn die Einjahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO verstrichen ist, der Versuch, die Rückzahlung des Darlehens mit der Anfechtung wegen „vorsätzlicher Benachteiligung“ (früher „Absichtsanfechtung“) gemäß § 133 InsO anzugreifen, sofern sie nicht länger als zehn Jahre zurückliegt. Das war theoretisch schon bisher nicht anders, spielte aber praktisch wohl keine Rolle. Der kritische Punkt ist hierbei der Benachteiligungsvorsatz auf Seite der Gesellschaft, konkret also: des Geschäftsführers bei der Rückzahlung. Ein solcher Vorsatz wird, wenn der spätere Insolvenzschuldner eine wirklich bestehende Verbindlichkeit tilgt, nur dann angenommen, wenn der Schuldner dabei das konkrete Ziel verfolgt, den betreffenden Gläubiger im Hinblick auf die bevorstehende und später tatsächlich eingetretene Insolvenz gezielt zu bevorzugen. Die herrschende Meinung30 unterscheidet insoweit, in Anlehnung an die Sondertatbestände der §§ 130, 131 InsO, zwischen „kongruenter“ und „inkongruenter“ Deckung. Ist die Deckung „inkongruent“ und sind beide Parteien sich dessen bewusst (etwa im Fall der Bezahlung einer nicht fälligen Verbindlichkeit), so wird dies als Beweisindiz sowohl für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners als auch für die Kenntnis des Gläubigers von diesem Vorsatz gewertet. Ist die Deckung „kongruent“ – ist also das Darlehen bei Rückzahlung ordnungsgemäß fällig gestellt –, so ist ein Benachteiligungsvorsatz und dessen Kenntnis nur beim Vorliegen besonderer Umstände anzunehmen, die im Streitfall vom Insolvenzverwalter nachzuweisen wären (§ 133 Abs. 2 InsO sieht zwar für entgeltliche Leistungen an nahestehende Personen, darunter auch an mit mehr als 25 % beteiligte Gesellschafter und an Geschäftsführer, eine Beweislastumkehr vor, wenn die Leistung die Insolvenzgläubiger „unmittelbar“ benachteiligt; das aber ist bei der Bezahlung fälliger Verbindlichkeiten nicht der Fall, da das Nettovermögen ja gleich bleibt; sie kann allenfalls „mittelbar“ zur Gläubigerbenachteiligung führen). Als ein solcher vom Insolvenzverwalter nachzuweisender Umstand kommt namentlich die „drohende Zahlungsunfähigkeit“ in Betracht: Der Gesellschafter zieht bei drohender Zahlungsunfähigkeit, gerade weil er die Verhältnisse kennt, sein Darlehen ab und bis zum Eröffnungsantrag verstreicht trotzdem mehr als ein Jahr, ohne dass ihm gegenüber der Vorwurf der Insolvenzverschleppung erhoben oder nachgewiesen werden könnte. Ob solche Fälle praktisch größere Bedeutung erlangen werden, ist schwer vorherzusagen; man möchte es für eher unwahrscheinlich halten. 3. Rechtslage außerhalb des Insolvenzverfahrens Die dritte Änderung betrifft die Beziehungen zwischen dem Gesellschafter und der Gesellschaft außerhalb des Insolvenzverfahrens. Nach bisherigem Recht

__________ 30 Vgl. Kirchhof in MünchKomm. InsO, 2. Aufl. 2008, § 133 Rz. 29 ff., 33 f., 38 b; Kreft, InsO, 5. Aufl. 2008, § 133 Rz. 14, 17 ff., 23; Bork in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Stand: 39. Lfg. 2010, § 133 Rz. 27 ff., 42, 55 ff. Kritisch (eher im Sinn eines Vorrangs der §§ 130, 131 InsO) Jaeger/Henckel, InsO, 2008, § 133 Rz. 32 ff.

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konnte die Gesellschaft selbst, d. h. der Geschäftsführer, die Rückzahlung des Darlehens trotz ordnungsmäßiger Kündigung unter Berufung auf § 30 GmbHG verweigern, wenn es zur Zeit des Auszahlungsverlangens nach den Kriterien der Rechtsprechung kapitalersetzend war und die Gesellschaft eine Unterbilanz aufwies. Das hieraus resultierende Konfliktpotential war in der Praxis allerdings begrenzt. Keine Konflikte konnten auftreten, wenn der betroffene Gesellschafter selbst Geschäftsführer war oder wenn er Mehrheitsgesellschafter und gegenüber dem Geschäftsführer daher im Besitz der Weisungs- und Abberufungsmacht war, ebenso bei Einigkeit der Gesellschafter. Zu Konflikten konnte es also nur kommen, wenn der betroffene Gesellschafter nur mit Minderheit oder äußerstenfalls zu 50 % beteiligt und mit dem oder den Mitgesellschaftern im Streit befindlich war und der Geschäftsführer sich in diesem Streit auf die Gegenseite stellte. Das ist nach § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG jetzt anders: Die Gesellschaft und daher auch der Geschäftsführer muss das Darlehen, wenn es vorschriftsmäßig gekündigt ist, ohne Weiteres zurückzahlen31. Der Kreis der Fälle, in denen das praktisch eine Rolle spielt, ist wie gesagt überschaubar; aber in diesem Rahmen handelt es sich doch um eine Änderung von Gewicht. Wenn ein mit Minderheit oder mit 50 % beteiligter Gesellschafter der Gesellschaft Kapital zur Verfügung stellt und dabei den Fall ins Auge fasst, dass er vielleicht eines Tages aus der Gesellschaft ausscheiden möchte, so bietet das Gesellschafterdarlehen den Vorteil, dass zumindest insoweit eine sichere Kündigungsmöglichkeit besteht, ohne die Gefahr des Einwands, dass das Darlehen für die Gesellschaft leider unentbehrlich, also kapitalersetzend sei. Einen praktischen Sinn hat die Rückforderung des Darlehens für den Gesellschafter allerdings nur dann, wenn die Gesellschaft die Rückzahlung finanziell überlebt. Führt die Rückzahlung zur Insolvenz der Gesellschaft, so ist sie anfechtbar nach § 135 InsO (oder, wenn es mangels Masse nicht zur Durchführung des Insolvenzverfahrens kommt, nach § 6 AnfG mit neugefassten verlängerten Anfechtungsfristen). Die neu eingeführte Bestimmung des § 64 Satz 3 GmbHG ordnet darüber hinaus eine Erstattungspflicht des Geschäftsführers für Zahlungen an Gesellschafter an, „soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“, d. h. für Zahlungen an Gesellschafter, die die danach tatsächlich eingetretene Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft zur unmittelbaren und notwendigen Folge hatten32. Diese Sanktionsnorm kann man so deuten, dass derartige Zahlungen, auch wenn die Voraussetzungen des § 30 GmbHG nicht vorliegen, verboten sind, aus welchem Rechtsgrund auch immer sie erfolgen mögen. Dieses Verbot kann man theoretisch als eine zusätzliche Schranke der Rückforderung von Gesellschafterdarlehen ansehen33. Praktisch

__________ 31 Natürlich bleiben abweichende privatautonome Vereinbarungen zulässig; so namentlich die Vereinbarung, dass die Rückzahlung so lange ausgeschlossen sein soll, wie die reguläre Gesellschaftsbilanz eine „Unterbilanz“ aufweist, die Aktiva also nicht ausreichen, um die Schulden (einschließlich der Darlehensschuld) und das Stammkapital zu decken. Vgl. dazu Ulmer/Habersack (Fn. 20), §§ 32 a/b Rz. 235 ff., 239. 32 Dazu grundlegend Kleindiek in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 893, 900 ff.; vgl. auch Kleindiek (Fn. 1), § 64 Rz. 20 ff. 33 Vgl. auch Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 47.

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ist diese Schranke für den Gesellschafter aber ohne Bedeutung, weil er Zahlungen, die unmittelbar zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen, im Anfechtungsweg ohnedies wieder erstatten muss34.

III. Rechtspolitische Grundgedanken Fragt man nach den rechtspolitischen Grundgedanken oder Leitgedanken der Neuregelung, so muss die Antwort lauten: Es handelt sich nicht um ein einfaches Motiv, sondern um ein Motivbündel. Die einzelnen Stränge dieses Bündels kann man, in Anlehnung an die berühmte, in der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs formulierte Trias, ordnen nach den drei Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit, der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit (nach Radbruch die drei Anforderungen, denen das positive Recht genügen sollte, sofern es sich der Rechtsidee verpflichtet weiß). 1. Zweckmäßigkeitserwägungen Unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit gab die bisherige Rechtslage Anlass zu zwei kritischen Fragen. a) Aufwand und Ertrag der Feststellung des kapitalersetzenden Charakters des Darlehens Zum einen stellte sich die Frage nach Aufwand und Ertrag. In Fällen, in denen ein Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz offenstand oder im unmittelbaren Vorfeld der Insolvenz zurückgezahlt worden war, musste jedes Mal umständlich ermittelt und festgestellt werden, ob das Darlehen zum Zeitpunkt seiner Gewährung oder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem es hätte gekündigt werden können, aber nicht gekündigt worden ist, kapitalersetzend war. Dabei waren drei verschiedene, komplexe Tatbestände – Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung, mangelnde Kreditwürdigkeit – zu unterscheiden und zu über-

__________ 34 Im übrigen hat in diesem Zusammenhang Altmeppen (Fn. 5), § 64 Rz. 61 ff., vollkommen zutreffend auf folgendes hingewiesen: Wenn die GmbH die fällige Darlehensforderung ihres Gesellschafters nicht bedienen kann, ohne die Fähigkeit zu verlieren, weitere demnächst fällige Verbindlichkeiten zu erfüllen, so ist sie bereits jetzt zahlungsunfähig im Sinn des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO, und der Geschäftsführer ist nach § 15a InsO verpflichtet, Insolvenzantrag zu stellen, mit den drohenden Haftungssanktionen gemäß § 823 Abs. 2 BGB und § 64 Satz 1 GmbHG; auch der Gesellschafter selbst könnte auf die Verweigerung der Auszahlung seines fälligen Darlehensanspruchs unter Berufung auf die mangelnde Zahlungsfähigkeit als Gläubiger der Gesellschaft mit einem Insolvenzantrag reagieren. Es ist also eine durchaus zweischneidige Sache für den Geschäftsführer, sich im Streitfall gegenüber einem Gesellschafter, der sein Darlehen ordnungsgemäß gekündigt hat, auf § 64 Satz 3 GmbHG zu berufen. Ob die Vorschrift (anders als § 64 Satz 1 GmbHG!) überhaupt ein eigenständiges Leistungsverweigerungsrecht der GmbH gegenüber ihrem Gesellschafter begründet, mag hier dahinstehen.

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prüfen. Dies musste geschehen, obwohl man, wenn die Tatsachen aufgeklärt waren, am rechtlichen Ergebnis eigentlich kaum zweifeln konnte35. b) Das Nebeneinander von „Rechtsprechungsregeln“ und „Novellenregeln“ Zum anderen stellte sich, unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, die Frage, ob wir die bisherige Doppelregelung durch die im Gesellschaftsrecht wurzelnden Rechtsprechungsregeln und die im Insolvenzrecht wurzelnden Novellenregeln wirklich brauchten, um der Probleme in einer angemessenen Weise Herr zu werden – zwei Regelungssysteme, die, was die praktischen Konsequenzen angeht, in Tatbestand und Rechtsfolge weitgehend deckungsgleich waren, aber an den Rändern sozusagen überlappten, und die auch nicht einfach, wie wir es von der Lehre der Anspruchskonkurrenz her gewohnt sind, völlig selbstständig nebeneinander standen, sondern in manchen Fällen in einer nicht leicht durchschaubaren Wechselwirkung standen. Die Frage, ob man sich nicht besser auf ein einziges Regelwerk beschränken sollte, war eigentlich leicht zu beantworten, man musste sich nur entscheiden, auf welches36. c) Das Problem der Auslandsgesellschaften Seitdem der EuGH in der Entscheidungskette Centros – Überseering – Inspire Art37 die Zulassung von Auslandsgesellschaften mit inländischem Sitz durchgesetzt und damit deutschen Gründern praktisch die freie Wahl zwischen der deutschen GmbH und der englischen Limited eröffnet hatte, kam folgendes hinzu: Nach dieser Rechtsprechung war es eine offene Frage und es schien zumindest zweifelhaft, ob es europarechtlich zulässig ist, eine bei uns niedergelassene Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründet ist, wegen ihrer inländischen Niederlassung, zusätzlich zu ihrem eigenen Gesellschaftsrecht, den Kapitalerhaltungsregeln des deutschen Gesellschaftsrechts und damit auch den darauf aufbauenden „Rechtsprechungsregeln“ über kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen zu unterwerfen. Nach der wohl überwiegenden, wenn auch von gewichtigen Gegenstimmen bestrittenen Auffassung war das nicht der Fall38. Infolgedessen wurde für die Rechtsform der englischen Limited u. a. mit dem Argument geworben, sie eröffne die Möglichkeit, sich dem deutschen Kapitalersatzrecht zu entziehen. Auf Dauer drohten also die Rechtsprechungsregeln ihren Zweck zu verfehlen,

__________ 35 Vgl. dazu auch Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 26. 36 Dazu Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 26. 37 Centros v. 9.3.1999, ZIP 1999, 438 (m. Bespr. Roth, S. 861 u. Werlauff, S. 867) = NJW 1999, 2027, dazu EWiR 1999, 259 (Neye); Überseering v. 5.11.2002, ZIP 2002, 2037 (m. Bespr. Eidenmüller, S. 2233) = NJW 2002, 3614, dazu EWiR 2002, 1003 (Neye); Inspire Art v. 30.9.2003, ZIP 2003, 1885 (m. Bespr. Ziemons, S. 1913) = NJW 2003, 3331, dazu EWiR 2003, 1029 (Drygala). 38 Vgl. dazu U. Huber in Lutter, Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, 2005, S. 131, 146 ff. Die Gegenansicht ist vor allem von P. Ulmer, NJW 2004, 1201 entwickelt worden. Soweit es um das Recht der kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen geht, ist die Streitfrage durch das MoMiG gegenstandslos geworden.

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weil die Gefahr bestand, dass die Betroffenen ihnen durch die Wahl ausländischer Rechtsformen ausweichen würden, und sie drohten nur die unerwünschte Nebenfolge zu behalten, die Tendenz zur Limited zu verstärken. Hinsichtlich der insolvenzrechtlichen Regeln ist die europarechtliche Ausgangslage ganz anders39. Dass über eine Auslandsgesellschaft mit deutschem Verwaltungssitz in Deutschland ein Insolvenzverfahren eröffnet werden kann, obwohl die Gesellschaft als solche dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegt, ergibt sich aus Art. 3 EuInsVO. Dass in diesem Fall für das in Deutschland eröffnete Insolvenzverfahren deutsches Insolvenzrecht gilt, ist in Art. 4 EuInsVO festgelegt; dass dazu insbesondere auch die Bestimmungen über den Rang der Forderungen bei der Verteilung der Insolvenzmasse und über die Insolvenzanfechtung gehören, ist in Art. 4 Abs. 2 EuInsVO ausdrücklich gesagt (bei der Anfechtung gegenüber ausländischen Anfechtungsschuldnern ist allerdings eine einschränkende Besonderheit zu beachten, die ich hier übergehe)40. Dass diese beiden, europaweit anerkannten, Grundregeln des europäischen internationalen Insolvenzrechts mit dem Prinzip der Niederlassungsfreiheit vereinbar sind, ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls kann sich ein deutsches Gericht, das sekundäres Gemeinschaftsrecht anwendet, auf seine Vereinbarkeit mit dem Primärrecht verlassen, ohne Vorlagepflicht zum EuGH, auch wenn eine Prozesspartei die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht bezweifeln sollte41. Die Anwendbarkeit der § 39 und § 135 InsO auf europäische Auslandsgesellschaften mit Sitz im Inland ergibt sich somit ohne Weiteres aus dem Europarecht selbst. Zum früheren Recht, also zu den Novellenregeln, wurde insoweit allerdings die Ansicht vertreten, bei der für die Anwendbarkeit der §§ 39, 135 InsO damals ausschlaggebenden Frage, ob das Darlehen „kapitalersetzenden“ Charakter habe, handele es sich, kollisionsrechtlich gesehen, um eine „Vorfrage“, die selbstständig anzuknüpfen und nach dem Gesellschaftsstatut zu beurteilen sei42. Wenn das Gesellschaftsstatut – also im Fall der „Limited“ das englische Recht – kein Kapitalersatzrecht kenne, also zwischen gewöhnlichen und kapi-

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39 Vgl. dazu U. Huber (Fn. 38), S. 160 ff. 40 Die Einschränkung ergibt sich aus Art. 13 EuInsVO. Hiernach findet Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EuInsVO keine Anwendung – d. h. die Anfechtung nach dem Insolvenzrecht des Staates der Verfahrenseröffnung ist ausgeschlossen –, wenn der Anfechtungsgegner nachweist, dass für die angefochtene Rechtshandlung „das Recht eines anderen Staates als des Staates der Verfahrenseröffnung maßgeblich ist“ und dass die Rechtshandlung nach dem Recht dieses Staates „in keiner Weise … angreifbar“ ist. Voraussetzung für ein Eingreifen dieser Ausnahmebestimmung im vorliegenden Zusammenhang wäre, dass der Darlehensvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter ausländischem Recht unterliegt und dass die Rückzahlung des Darlehens im Vorfeld der Insolvenz nach dieser Rechtsordnung unangreifbar ist (dazu im einzelnen U. Huber in FS Heldrich, 2005, S. 696 ff.). Diese Voraussetzung kann, wenn der deutsche Gesellschafter einer in Deutschland niedergelassenen Auslandsgesellschaft der Gesellschaft in Deutschland ein Darlehen gewährt, schwerlich vorliegen, vgl. dazu U. Huber (Fn. 38), S. 191 ff. 41 Zur Frage der Vorlagepflicht vgl. U. Huber (Fn. 38), S. 188 ff. 42 So H.-F. Müller, NZG 2003, 414; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3589; Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 9 Rz. 41 ff.

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talersetzenden Gesellschafterdarlehen nicht unterscheide, gingen die § 39 Abs. 1 Satz 5, § 135 InsO ins Leere. Dieses Argument, über das man noch diskutieren könnte43, verliert jedenfalls seine Basis, wenn das Insolvenzrecht die Unterscheidung zwischen „kapitalersetzenden“ und einfachen Darlehen aufgibt. Mit einem Wort: Wenn man das Recht der Gesellschafterdarlehen so ordnen will, dass die Gesellschafter der Regelung nicht einfach durch Wahl einer ausländischen Rechtsform ausweichen können, und wenn man, um solche Ausweichtendenzen zu vermeiden, Gesellschaften deutschen und ausländischen Rechts in diesem Punkt möglichst gleichbehandeln will, ist es zweckmäßig, die Regelung ganz ins Insolvenzrecht zu verlegen und die parallele Anwendung von Gesellschaftsrecht aufzugeben; und es ist ferner zweckmäßig, bei dieser ausschließlich insolvenzrechtlichen Regelung auf die Unterscheidung zwischen kapitalersetzenden und nicht kapitalersetzenden Darlehen und, damit verbunden, auf die im deutschen Gesellschaftsrecht entwickelte Doktrin der Finanzierungsverantwortung (oder Finanzierungsfolgenverantwortung)44 zu verzichten45. 2. Rechtssicherheit Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit46 war am bisherigen Rechtszustand folgendes unbefriedigend. Zu unterscheiden waren kapitalersetzende und nicht kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen; beide unterlagen unterschiedlichen Regelungssystemen. Man konnte aber einem Gesellschafter zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung nicht mit Bestimmtheit sagen, welchen Regeln sein Darlehen im Ernstfall unterliegen würde. Ob das Darlehen zum Zeitpunkt seiner Gewährung kapitalersetzend war oder nicht, war unter Umständen schon schwierig genug und nur mit beträchtlicher Unsicherheit festzustellen (Überschuldung und mangelnde Kreditwürdigkeit sind unsichere Tatbestände). Aber darauf kam es auch nicht an. Entscheidend war ja nicht der Zeitpunkt der Gewährung, sondern der der Rückforderung des Darlehens. Auch wenn das Darlehen bei Gewährung nicht kapitalersetzend war, konnte es, durch spätere Änderung der Verhältnisse, kapitalersetzenden Charakter annehmen (auch das Umgekehrte war möglich). Der Rechtsberater konnte also dem Gesellschafter nur sagen: Wir wissen es nicht und können es nicht wissen, welche Regelung für den Anspruch auf Rückzahlung gilt in dem Augenblick, in dem er geltend gemacht wird; realistisch sei es, mit dem schlimmsten Fall zu rechnen, zumindest aber damit, dass der Standpunkt, das Darlehen sei nicht kapitalersetzend, sich ohne einen riskanten und kostenträchtigen Rechtsstreit nicht werde durchsetzen lassen. Nach neuem Recht kann man dem Gesellschafter doch genauer sagen, woran er ist. In der Insolvenz bekommt er keine Quote und er kann auch keine Sicherheiten verwerten, die innerhalb der letzten zehn Jahre bestellt worden sind; das steht von vornherein fest. Außer-

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43 44 45 46

Dazu U. Huber (Fn. 38), S. 171 ff. Dazu unten III. 3. bei Fn. 49 ff. Vgl. dazu auch Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 26. Dazu Regierungsbegründung (Fn. 7), S. 42.

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halb der Insolvenz kann er das Darlehen nach normalen Regeln kündigen und zurückfordern; auch das steht fest. Wird innerhalb eines Jahres nach Rückzahlung des Darlehens Insolvenzantrag gestellt und daraufhin das Insolvenzverfahren eröffnet, ist er erstattungspflichtig. Verstreicht mehr als ein Jahr, so ist der Gesellschafter normalerweise vor einer späteren Rückforderung geschützt, sofern er sich nicht der Insolvenzverschleppung schuldig gemacht hat. Alle diese vier Fälle sollten sich ohne Rechtsstreit klären lassen. Ich finde, dass dies doch ein Zuwachs an Voraussehbarkeit und Entscheidungssicherheit ist, der nicht gering zu achten ist. Und Rechtssicherheit ist unter den drei Radbruch’schen Rechtsgütern kein Gut geringeren Ranges. Natürlich bleibt die Entscheidung von Grenzfällen wie bisher so auch in Zukunft mit Unsicherheiten belastet. Diese Grenzfälle umschreibt das Gesetz wie bisher mit der Formel der einer Darlehensgewährung „wirtschaftlich entsprechenden“ Rechtshandlungen (§ 39 Abs. 1 Satz 5 InsO). Dabei geht es zum einen um die Bestimmung der Fälle, in denen die Leistung einer nicht in einem Darlehen bestehenden Finanzierungshilfe in sachlicher Hinsicht der Darlehensgewährung wirtschaftlich entspricht, und zum anderen um die Bestimmung der Fälle, in denen die Darlehensgewährung durch einen Dritten der Darlehensgewährung durch einen Gesellschafter wirtschaftlich entspricht. In beiden Fallgruppen bleiben uns die bisherigen Probleme erhalten, weil sich hierfür Regelungen, die präzise, übersichtlich und umgehungsfest und obendrein sachlich überzeugend sind, gesetzlich nicht formulieren lassen. An der Problemlage hat sich in der Sache an sich nichts geändert; bei der Diskussion möglicher Lösungen ist allerdings in Zukunft der Topos der „Finanzierungsverantwortung“ (oder „Finanzierungsfolgenverantwortung“) in seiner bisherigen Bedeutung nicht mehr verwendbar, weil die gesetzliche Regelung nicht mehr auf der Vorstellung einer besonderen, durch die Krise der Gesellschaft ausgelösten Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters beruht47. Der Grundgedanke der Neuregelung ist, dass in Gesellschaften mit allseitiger Haftungsbeschränkung der Gesellschafter als Kreditgeber der eigenen Gesellschaft nicht mit außenstehenden Gläubigern um die Befriedigung aus dem Gesellschaftsvermögen konkurrieren soll. Das spricht dafür, den Begriff der einer Darlehensgewährung „wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlung“ in sachlicher Hinsicht eher weit und in persönlicher Hinsicht eher restriktiv auszulegen und hier auf Fälle zu beschränken, in denen, bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise, die Gesellschafterstellung und die Gläubigerstellung in einer Hand vereinigt sind48. Auf nähere Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen. 3. Gerechtigkeit Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit – oder, wer das große Wort scheut, unter dem Gesichtspunkt der Fairness – ist vor allem eine Frage von Interesse: Wieso und wodurch ist es gerechtfertigt, wieso ist es „fair“, Gesellschafter als

__________ 47 Dazu unten III. 3. bei Fn. 49 ff. 48 Vgl. dazu Habersack, ZIP 2008, 2385; dens. (Fn. 18), § 30 Rz. 44 f.

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Gläubiger der Gesellschaft in der Insolvenz gesetzlich schlechter zu stellen als gewöhnliche außenstehende Gläubiger? Diese Frage wurde für das bisherige Recht durch die Konstruktion einer Pflicht zur ordnungsmäßigen Unternehmensfinanzierung in der Krise beantwortet, die aus dem Maßstab des hypothetischen Verhaltens eines „ordentlichen Kaufmanns“ abgeleitet wurde; auf diesen Maßstab verwiesen sowohl die gesetzlichen „Novellenregeln“ in § 32a Abs. 1 GmbHG a. F. als auch die Rechtsprechung mit dem etwas komplexer formulierten Konzept der Finanzierungsverantwortung (oder Finanzierungsfolgenverantwortung)49. Diese Konstruktion hat das neue Recht aufgegeben, das auf Begriffe wie „Krise“ und „Finanzierungsverhalten eines ordentlichen Kaufmanns“ verzichtet und alle Gesellschafterdarlehen unterschiedslos erfasst50. Von gewöhnlichen Forderungen Dritter gegen die Gesellschaft unterscheiden die durch die Neuregelung erfassten Gesellschafterforderungen sich nur durch zwei Merkmale: zum einen dadurch, dass der betreffende Gläubiger geschäftsführend oder mit mehr als 10 % Kapitalanteil an der Schuldnergesellschaft beteiligt ist – abkürzend: dass er „unternehmerisch“ an der Gesellschaft beteiligt ist (im Unterschied zu einer reinen Finanzbeteiligung) –, und zum anderen dadurch, dass für die Schulden der Gesellschaft keine natürliche Person unbeschränkt haftet, die Haftung also auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist. Der Grund, der die unterschiedliche Behandlung des Gesellschafters und der anderen Gläubiger in der Insolvenz – jedenfalls in den Augen des Gesetzgebers – rechtfertigt, kann also nur in der Haftungsbeschränkung liegen, die der Gesellschafter sich bei seiner unternehmerischen Betätigung zunutze macht51. Er liegt dagegen mit Sicherheit nicht in einem zu vermutenden „Informationsvorsprung“ des Gesellschafters vor außenstehenden Gläubigern52,

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49 BGHZ 90, 381, 389 = ZIP 1984, 572; BGHZ 105, 168, 175 = ZIP 1988, 1248; dazu U. Huber (Fn. 26), S. 264 ff. 50 In BGHZ 105, 168, 175 = ZIP 1988, 1248 beschreibt der BGH das Konzept der Finanzierungsverantwortung wie folgt: „Nach den vom Gesetz und der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen zum Kapitalersatz ist jeder Gesellschafter für eine seriöse Finanzierung der im Rechtsverkehr auftretenden GmbH verantwortlich. Zwar ist er grundsätzlich nicht verpflichtet, die GmbH über den Mindestbetrag des § 5 GmbHG hinaus mit Eigenkapital auszustatten, und auch in der Wahl der Mittel frei, wenn er sich für eine Finanzierungsleistung entscheidet. Wählt er aber eine Finanzierungsweise, mit der er einer nach den Umständen gebotenen Einbringung von Eigenkapital ausweicht, so darf er hieraus keinen Vorteil zum Nachteil der Gläubiger ziehen, indem er auf sie das Risiko abwälzt, das mit der an sich gebotenen Zuführung von Eigenkapital verbunden ist; er muss vielmehr die Finanzierungsleistung der GmbH belassen, bis die Krise behoben ist, während derer Gesellschafter als ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten (BGHZ 90, 389 m. w. N.). Unabhängig von subjektiven Zielsetzungen hat der Gesellschafter allein wegen seiner Gesellschafterstellung zu verantworten, der GmbH in der Krise anstelle von Eigen- Fremdkapital zugeführt zu haben“. Von alledem ist im jetzt geltenden Recht nichts übrig geblieben. Wenn man, weil sie so schön klingt, unter der veränderten Rechtslage trotzdem an der Vokabel „Finanzierungsverantwortung“ oder „Finanzierungsfolgenverantwortung“ festhält, missbraucht man sie als sinnentleerte Worthülse, die mit dem, was einmal damit gemeint war, nichts mehr zu tun hat. 51 Vgl. dazu auch U. Huber/Habersack (Fn. 7), S. 393 ff., 405 ff.; U. Huber (Fn. 26), S. 275 ff.; Habersack (Fn. 18), § 30 Rz. 36–38. 52 So de lege ferenda das von Eidenmüller (Fn. 5), S. 61 ff. vorgestellte Konzept.

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und er ist auch weder in den Gesetzesmaterialien noch in den Reformvorschlägen der Literatur mit diesem Argument begründet worden: Denn erstens ist ein solcher Informationsvorsprung kein Spezifikum, durch das sich gerade die Gesellschafter von Gesellschaften mit allseitiger Haftungsbeschränkung auszeichnen, und zweitens könnte er, wenn überhaupt, dann allenfalls eine besondere Anfechtungsmöglichkeit mit Beweislastumkehr rechtfertigen, etwa nach dem Vorbild der in § 136 InsO für den stillen Gesellschafter getroffenen Regelung, niemals aber die Rückstufung bei der Verteilung der Insolvenzmasse und auch nicht die bedingungslose Anfechtbarkeit innerhalb der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Satz 2 InsO. Die Haftungsbeschränkung führt dazu, dass das Verlustrisiko des Gesellschafters sich auf das von ihm in der Gesellschaft investierte Kapital – seinen Anteil am Gesellschaftsvermögen – beschränkt, und dass das darüber hinausgehende Verlustrisiko auf die Gläubiger übertragen wird. Überlässt man – wie das geltende Recht es aus gutem Grund tut – dem Gesellschafter die freie Wahl, ob er der Gesellschaft die erforderlichen Eigenmittel als Stammkapital oder als Darlehen zur Verfügung stellt, und würde man jetzt außerdem dem Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz den gleichen Rang mit den Forderungen außenstehender Gläubiger einräumen, so könnte der Gesellschafter die Risikoverteilung verschieben: Je größer der Anteil des Darlehenskapitals und je kleiner der Anteil des Stammkapitals bei der Aufbringung des Gesellschaftsvermögens, umso besser stünde der Gesellschafter im Fall einer möglichen Insolvenz der Gesellschaft im Verhältnis zu den Gesellschaftsgläubigern da. Diese Möglichkeit, durch die Wahl der Rechtsform der Kapitalausstattung das Insolvenzrisiko zu beeinflussen, und die damit verbundene Möglichkeit missbräuchlicher Rechtsgestaltung will das geltende Recht ausschließen53. Das Prinzip ist also: Gesellschafterkapital ist nachrangig, gleichgültig, in welcher

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53 Um zu verdeutlichen, was hier mit „Missbrauch“ gemeint ist, mag an den Sachverhalt in der Entscheidung BGHZ 151, 181 = ZIP 2002, 1578 (m. Bespr. Altmeppen, S. 1553) erinnert werden. Die KBV GmbH hatte ein Stammkapital von 100000 DM. In dem zum 31.12.1995 aufgestellten Vermögensstatus betrugen die verwertbaren Aktiva rund 1,6 Mio. DM, die Verbindlichkeiten gegenüber dritten Gläubigern rund 2,6 Mio. DM und die Verbindlichkeiten aus Gesellschafterdarlehen rund 2,9 Mio. DM (ob diese Darlehen im Sinn der früheren Rechtsprechung „kapitalersetzend“ waren, ist unbekannt; es ist zwar zu vermuten, aber ohne komplizierte Zusatzinformationen nicht festzustellen). Der „Missbrauch“ besteht nicht darin, dass die Gesellschafter sich für ihre Geschäfte der Rechtsform der GmbH bedient haben, und auch nicht darin, dass sie der GmbH Darlehen in dieser Höhe gewährt haben, sondern darin, dass sie in der Insolvenz versuchen, die Darlehen gleichrangig mit den Drittgläubigern zur Konkurstabelle anzumelden und damit mehr als die Hälfte des Werts des Gesellschaftsvermögens den Drittgläubigern zu entziehen, die auf diese Wiese statt auf eine Quote von rund 60 % nur auf eine Quote zwischen 25 und 30 % hoffen können. Das will das jetzt geltende Recht von vornherein verhindern, ohne in moralisierende Erwägungen darüber einzutreten, ob die Gesellschafter „als ordentliche Kaufleute“ verpflichtet gewesen wären, die 2,9 Mio. DM statt als Darlehen als Einlage zur Verfügung zu stellen. In der Entscheidung des BGH ging es allerdings nicht hierum, sondern darum, dass die Gesellschafter versucht hatten, die GmbH nach Transferierung ihres Vermögens auf eine Auffanggesellschaft ohne Insolvenz zu „bestatten“, was dann zu ihrer „Existenzvernichtungshaftung“ führte.

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Ulrich Huber

Rechtsform der Gesellschafter es der Gesellschafter zur Verfügung stellt. Aus dem gleichen Grund wird die Rückzahlung des Darlehens im Vorfeld der Insolvenz einer erweiterten Anfechtung unterworfen. Beide Regeln sollen bewirken, dass ohne Rücksicht auf die Rechtsform der Kapitalgewährung das gesamte Kapital, mit dem die beschränkt haftenden Gesellschafter die Gesellschaft ausgestattet haben, in erster Linie zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger herangezogen wird. Nur soweit dieses Gesamtkapital zur Gläubigerbefriedigung nicht ausreicht, sollen die Gesellschaftsgläubiger das Verlustrisiko tragen. Man kann schwerlich sagen, dass durch diese gesetzliche Verteilung des Verlustrisikos der Gesellschafter unbillig benachteiligt wird. Er ist der Nutznießer der Haftungsbeschränkung, zu Lasten der außenstehenden Gläubiger. Dass diese Belastung der außenstehenden Gläubiger erst dann eingreift, wenn die Eigenmittel aufgebraucht sind, mit denen der Gesellschafter die Gesellschaft aus freien Stücken ausgestattet hat, scheint doch eigentlich eine faire Lastenverteilung zu sein. Dies jedenfalls ist die Wertung, die der gesetzlichen Neuregelung zugrunde liegt. Betrachtet man, abschließend und zusammenfassend, die Rechtslage nochmals vom Standpunkt des betroffenen Gesellschafters, ist folgendes festzuhalten: Im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ist der Gesellschafter, wenn überhaupt, nur dann benachteiligt, wenn er der Gesellschaft ein Darlehen gibt, das sie von ihm nicht braucht, sondern genausogut auch von dritter Seite erhalten könnte (denn braucht sie das Darlehen, war es schon nach bisheriger Rechtslage, als „kapitalersetzend“, hinter die Forderungen von Drittgläubigern zurückgestuft). Der Gesellschafter, der die Einschränkungen, denen die Rechtsordnung ein solches Darlehen unterwirft, nicht akzeptieren will, kann das Geld, statt bei seiner Gesellschaft, mehr oder weniger mündelsicher woanders anlegen. Gibt er es, aus strategischen Überlegungen, lieber der Gesellschaft, um ihren Kredit zu schonen oder um von ihr günstigere Zinsen zu erhalten, dann hat er sich eben für diese Anlageform mit ihren rechtlichen Beschränkungen entschieden und kann sich nicht darüber beschweren: volenti non fit iniuria. Allerdings, wie eingangs schon festgestellt: Auch nach früherem Recht musste ein Gesellschafter, der seiner Gesellschaft ein zur Zeit nicht kapitalersetzendes Darlehen gewährte, im Fall einer möglichen Insolvenz mit dem Totalverlust rechnen, weil es bis dahin wahrscheinlich seinen Charakter verändert haben würde. Für einen rational kalkulierenden Gesellschafter bietet also die Neuregelung kaum einen Anlass, sein Finanzierungsverhalten zu ändern. Beide Regelungssysteme, das alte und das neue, stimmen eben in einem überein: Im Ernstfall sind Gesellschafter, die in einer GmbH unternehmerisch tätig sind, mit dem gesamten Eigenkapital am Verlust beteiligt, mit dem sie die Gesellschaft ausgestattet haben, nicht nur mit dem Stammkapital und den Rücklagen, sondern auch mit dem Darlehenskapital.

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Kompetenzfragen bei der Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien Inhaltsübersicht I. Grundlagen 1. Einführung 2. Fragestellung 3. Meinungsstand; Untersuchungsplan II. § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG als Regelung – auch – des Innenverhältnisses III. Die gezielte Kompetenzzuweisung des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG und die Verkehrsfähigkeit vinkulierter Namensaktien als ihr Zweck 1. Gezielte Kompetenzzuweisung a) Der handelsrechtliche Hintergrund b) Die Reformentwürfe vom Ende der Weimarer Republik 2. Verkehrsfähigkeit der Aktien als Zweck der Vorstandskompetenz IV. Konzernbildungskontrolle als vorrangiges Regelungsanliegen? 1. Konzernoffenheit der AG 2. Konzernoffenheit und Vinkulierungsklausel a) Objektive Auslegung b) Pluralität der Vinkulierungszwecke

c) Satzungsdispositiver Charakter des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG 3. Verkehrsfähigkeit vs. Konzernbildungskontrolle 4. Zur mangelnden Effizienz einer Hauptversammlungszuständigkeit a) Kein Stimmverbot gegen den übertragungswilligen Aktionär b) Kein Erfordernis sachlicher Rechtfertigung V. Keine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung 1. Dogmatische Absicherung einer gesetzlichen HV-Kompetenz durch Annahme einer „fundamentalen Strukturentscheidung“? 2. Holzmüller/Gelatine: Annäherung an ein Problemfeld 3. Holzmüller/Gelatine und die Zustimmungskompetenz bei der abhängigkeitsbegründenden Übertragung vinkulierter Namensaktien VI. Schlussbemerkungen

I. Grundlagen 1. Einführung Gesellschaftsanteile sind vinkuliert, wenn das ihrer Übertragung dienende Rechtsgeschäft nur mit Zustimmung der Gesellschaft wirksam wird. Inhaberaktien können nicht vinkuliert werden. Namensaktien sind zwar nicht kraft Gesetzes vinkuliert, doch lässt § 68 Abs. 2 Satz 1 AktG eine entsprechende Satzungsregelung zu. Sie kann auch durch die Angabe bestimmter Versagungsgründe eine inhaltlich beschränkte Vinkulierung vorsehen (§ 68 Abs. 2 Satz 4 AktG). In der Frage des Zustimmungsorgans muss das Gesetz damit rechnen, dass der Satzungsgeber die erforderliche Regelung nicht vollständig trifft. Des279

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halb wird die Zustimmungskompetenz gesetzlich zugewiesen, und zwar dem Vorstand (§ 68 Abs. 2 Satz 2 AktG). Wendet sich der Satzungsgeber auch dieser Frage zu, so entscheidet er wiederum autonom, ob die Zustimmung vom Vorstand, vom Aufsichtsrat oder von der Hauptversammlung erteilt wird (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Die Renaissance der Namensaktie, über die gelegentlich berichtet wird1, bezieht sich zwar auf börsennotierte Gesellschaften2, denen an einer Vinkulierung nur ausnahmsweise gelegen sein kann. Zur Verbreitung von Namensaktien hat aber auch die signifikante Zunahme von sogenannten kleinen Aktiengesellschaften beigetragen3, deren realer Typus weithin mit GmbH-Unternehmen verglichen werden kann. Entsprechend dürfte auch die Zahl vinkulierter Namensaktien in diesem Bereich zugenommen haben. Sollte es gar in Durchführung eines neuen Reformvorhabens4 dazu kommen, dass den nichtbörsennotierten Gesellschaften die Namensaktie gesetzlich verordnet wird, so würden auch bei ihnen die Vinkulierungsfragen breitflächig aktuell werden. Überzeugende Gründe für eine derartige Einschränkung privatautonomer Gestaltungsfreiheit sind allerdings mit Hinweisen auf die (wohl nur sehr abstrakt drohenden) Gefahren von Terrorfinanzierung oder Geldwäsche nicht beigebracht worden. 2. Fragestellung Die skizzierte Regelung des § 68 Abs. 2 AktG ist nicht ohne Untiefen. Vor allem5 ist streitig, ob es bei der in § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG ausgesprochenen Vorstandskompetenz auch dann bleibt, wenn die Übertragung der Namensaktien zur Abhängigkeit (§§ 17, 311 ff. AktG) der Gesellschaft vom Erwerber führt, oder ob in diesem nicht alltäglichen, aber wichtigen Sonderfall von einer Zuständigkeit der Hauptversammlung auszugehen ist. Bayer hat sich der aufgeworfenen Frage in der mir gewidmeten Festschrift ausführlich angenommen6 und für eine Zuständigkeit der Hauptversammlung nach den Grundsätzen der

__________ 1 S. etwa Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 1 2008, § 67 Rz. 3 f.; Cahn in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., Bd. 1 2010, § 67 Rz. 5; Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl., Bd. 2 2008, § 67 Rz. 11 ff.; ders. in von Rosen/Seifert (Hrsg.), Die Namensaktie, 2000, S. 63, 86 ff. 2 Vgl. außer den Genannten (Fn. 1) Marsch-Barner in FS Hüffer, 2010, S. 627 f. 3 Aktuelle Zahlen bei Bayer/Hoffmann, AG 2009, R30 ff., die von etwa 17000 Aktiengesellschaften ausgehen, von denen aber nur rd. 1200 börsennotiert sind. 4 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes vom 2.11.2010, hier § 24; Überblick z. B. bei Bungert/Wettich, ZIP 2011, 160 ff.; Diekmann/Nolting, NZG 2011, 6 ff.; Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses: NZG 2011, 217. 5 Vgl. aber auch BGH v. 5.12.2005 – II ZR 291/03, BGHZ 165, 192, 201 ff. = ZIP 2006, 177 = NJW 2006, 510 zur Erteilung der Zustimmung durch den geschäftsführungsbefugten Komplementär einer KGaA. 6 Bayer, Gesetzliche Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien auf einen künftigen Mehrheitsaktionär?, FS Hüffer, 2010, S. 35.

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Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung7 geworben. Hilfsweise, nämlich bei anhaltendem Widerspruch zu seinen Thesen, hat Bayer eine dogmatisch fundierte Replik erbeten8. Diese Aufforderung soll nicht ungehört verhallen. Es bietet sich aus mehreren Gründen an, die replizierende Auseinandersetzung mit den von Bayer vorgetragenen Thesen dem Gedächtnis von Martin Winter zu widmen. Martin Winter hat sich in seinen Veröffentlichungen und in vielen Gesprächen als dogmatisch geschliffener Jurist gezeigt, der an dem kollegialen Diskurs wohl seine Freude gehabt hätte. Auch ist ihm das Thema schon in seiner mit Recht vielgerühmten Dissertation9 nicht entgangen; in Anknüpfung an das Süssen-Urteil10 und an die darauf aufbauenden Überlegungen von Lutter/ Timm11 meint er dazu, dass die Abhängigkeitsbegründung gegen den Willen einzelner Gesellschafter – freilich der GmbH, nicht der AG – nur bei einer Gefährdung des Gesellschaftsbestands zulässig sein könne12. Der Komplexität des Gegenstands entspricht es, dass sich spätere Stellungnahmen – immer zur GmbH – eine Nuance vorsichtiger zeigen. In einem gemeinsam mit Reichert verfassten Aufsatz findet sich nämlich die Ansicht, dass der Konzerneingangsschutz Sache des Satzungsgebers sei, wobei besonders an Stimmverbote und Mehrheitsklauseln gedacht ist13. Die zusammen mit Löbbe vorgelegten Erläuterungen im Großkommentar zum GmbH-Gesetz setzen diese gedankliche Linie fort14. 3. Meinungsstand; Untersuchungsplan Im Aktienrecht ist die Ausgangslage deshalb anders als im Recht der GmbH, weil § 68 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG eine Zuständigkeitsregelung enthält, während das nach § 15 Abs. 5 GmbHG nicht der Fall ist. Die satzungsdispositive Vorstandskompetenz steht deshalb auch grundsätzlich außer Streit15, und zwar nicht nur für die nach außen gerichtete Erklärung, sondern auch für die interne Bildung des Gesellschaftswillens16. Streitig ist nur der Sonderfall einer Aktienübertragung, die den Erwerber zum herrschenden Unternehmen im Sinne des § 17 AktG macht, vor allem also zum Mehrheitsaktionär (§§ 16, 17

__________ 7 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 = NJW 1982, 1703; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993 = NJW 2004, 1860; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02, NZG 2004, 575. 8 Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 47. 9 Martin Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht, 1987; dazu Hüffer, ZHR 153 (1989), 85 ff. 10 BGH v. 16.2.1981 – II ZR 168/79, BGHZ 80, 69 = ZIP 1981, 399 = NJW 1981, 1512. 11 Lutter/Timm, NJW 1981, 409, 417. 12 M. Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen (Fn. 9), S. 270. 13 Reichert/Winter in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 209, 240 f. 14 Winter/Löbbe in Großkomm. GmbHG (vormals Hachenburg), Bd. 1 2005, § 15 Rz. 244; ähnlich Liebscher in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1 2010, Anh. § 13 Rz. 244. 15 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 68 Rz. 15; Bayer (Fn. 1), § 68 Rz. 63; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl., Bd. 1 2010, § 68 Rz. 27; Cahn (Fn. 1), § 68 Rz. 46. 16 Deutliche Unterscheidung zwischen Innen- und Außenverhältnis auch bei Wieneke in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 68 Rz. 20, 22.

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Abs. 2 AktG)17. Nach einer Ansicht soll in diesem Fall die Hauptversammlung für die Bildung des Gesellschaftswillens zuständig sein, soll also § 68 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG insoweit keine Geltung beanspruchen18. Damit wird Raum geschaffen für eine Hauptversammlungskompetenz, die sich, wie schon kurz angesprochen19, vor allem nach den die Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung tragenden Prinzipien begründen lassen soll20. Die Gegenansicht belässt es auch bei der Begründung von Abhängigkeit bei § 68 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG, bejaht also die Vorstandszuständigkeit, wenn der Satzungsgeber die Zustimmung nicht in die Hände des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung gelegt hat, was ihm freisteht21. Die Streitfrage soll in vier Schritten untersucht werden. Zunächst ist darzustellen, dass § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG die Kompetenzfrage auch für das Innenverhältnis regelt (II.). Sodann ist nachzuweisen, dass § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG nicht ein bloßes Seitenstück zu § 76 Abs. 1 AktG darstellt, sondern mit der Vorstandskompetenz die Verkehrsfähigkeit auch der vinkulierten Namensaktie bezweckt (III.). Auf dieser Basis ist der Frage nachzugehen, ob sich das Ziel eines Konzerneingangsschutzes auf der Ebene der abhängigen Gesellschaft gegen den nachweisbaren Normzweck durchsetzen kann (IV.). Schließlich sollen den Holzmüller/Gelatine-Prinzipien als der vermeintlichen dogmatischen Basis einer gesetzlichen HV-Zuständigkeit noch einige Bemerkungen gewidmet werden (V.).

II. § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG als Regelung – auch – des Innenverhältnisses Die zwecks sog. Konzernbildungskontrolle von manchen gesuchte Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Bildung des Gesellschaftswillens ergäbe sich auch dann nicht zwingend, wenn die ihrem Wortlaut nach entgegenstehende Vorschrift des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG als Regelung der Erklärungszuständigkeit in das Außenverhältnis zu verweisen wäre. Ein solches Norm-

__________

17 Einschließlich einer daran anknüpfenden Konzernierung im Sinne des § 18 Abs. 1 AktG. 18 Bayer (Fn. 1), § 68 Rz. 64; ders. in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42 ff.; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 1 2009, § 68 Rz. 68; Merkt (Fn. 1), § 68 Rz. 367 ff.; Lutter, AG 1992, 369 ff.; Reichert, GmbHR 1995, 176, 177 re.Sp.; K. Schmidt in FS Beusch, 1993, S. 759, 768 ff. 19 Oben I. 2. 20 So zunächst für die Überschreitung verschiedener Erwerbsschwellen K. Schmidt in FS Beusch, 1993, S. 759, 768 ff.; im Ausgangspunkt zustimmend Bayer, Lutter/ Drygala und Merkt (alle Fn. 18); anderer Begründungsansatz noch bei Lutter (Fn. 18): Verpflichtung des Vorstands auf das Unternehmensinteresse, dem die Abhängigkeit grundsätzlich nicht entspreche. 21 Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 15; Bezzenberger (Fn. 15), § 68 Rz. 28; Cahn (Fn. 1), § 68 Rz. 50; Immenga, BB 1992, 2446, 2447; H. P. Westermann in FS Huber, 2006, S. 997, 1004 f.; vgl. auch BGHZ 165, 192, 201 ff. (Fn. 5); OLG München v. 13.8.2003 – 7 U 2927/02, ZIP 2004, 214, 219 li. Sp. = AG 2004, 151 (Vorinstanz; beide zwar nicht zur Abhängigkeitsbegründung, aber doch gegen eine behauptete Zuständigkeit der Hauptversammlung).

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verständnis würde die Innenkompetenz aber immerhin als ungeregelt erscheinen lassen und damit für die Abhängigkeitsbegründung, aber auch darüber hinaus einen Argumentationsraum eröffnen. Eine solche Trennung zwischen Innen- und Außenverhältnis wäre auch nicht ungewöhnlich, sondern entspräche dem zur GmbH vorherrschenden Verständnis. Mangels einer Kompetenzzuweisung in § 15 Abs. 5 GmbHG wird dem Geschäftsführer nämlich nur die Erklärungszuständigkeit zugeordnet, während die Entscheidung im Innenverhältnis unter Orientierung am Rechtsgedanken des § 46 Nr. 4 GmbHG der Gesellschafterversammlung überantwortet wird22. Für das Aktienrecht kann diese Lösung nicht übernommen werden. Vielmehr meint § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG gleichermaßen Außen- und Innenverhältnis23. Das ergibt sich aus Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Zum Wortlaut genügt es, § 68 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG miteinander zu vergleichen. Satz 3, der nur das Innenverhältnis meint, spricht eigens von dem Beschluss des Aufsichtrats oder der Hauptversammlung über die Erteilung der Zustimmung. Dagegen ist Satz 2 umfassender formuliert, indem er von der Erteilung der Zustimmung durch den Vorstand handelt. Deshalb meint die Norm den Beschluss des Gesellschaftsorgans ebenso wie seine Erklärung nach außen. Wie alsbald näher darzulegen sein wird24, bezweckt die gesetzliche Regelkompetenz des Vorstands, die Verkehrsfähigkeit der vinkulierten Namensaktie in dem Sinne zu wahren, dass nicht auf die Entscheidung des Aufsichtsrats oder gar der schwerfälligen Hauptversammlung gewartet werden muss. Dieses Regelungsziel würde durch eine interne Hauptversammlungskompetenz geradezu konterkariert. Soweit es schließlich um die Entstehungsgeschichte geht, ist auf die Regierungsbegründung zu § 68 AktG zu verweisen, in der es unmissverständlich heißt: „Bestimmt die Satzung nicht, welches Organ über die Erteilung der Zustimmung beschließt, so ist der Vorstand dafür auch im Innenverhältnis zuständig“25.

III. Die gezielte Kompetenzzuweisung des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG und die Verkehrsfähigkeit vinkulierter Namensaktien als ihr Zweck In der durch § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG begründeten Vorstandskompetenz für Erklärung und Willensbildung liegt nicht eine mehr oder minder unreflektierte

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22 BGH v. 14.3.1988 – II ZR 211/87, NJW 1988, 2241, 2242 re.Sp.; Winter/Löbbe (Fn. 14), § 15 Rz. 232; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 15 Rz. 42; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1 2010, § 15 Rz. 421; Detering, Die Bedeutung von Vinkulierungsklauseln für die letztwillige Zuwendung von GmbH-Geschäftsanteilen, 2006, S. 44; Reichert, Das Zustimmungserfordernis zur Abtretung von Geschäftsanteilen in der GmbH, 1984, S. 59 f. (nur bei personalistischer GmbH); Wiedemann, Die Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechten bei Handelsgesellschaften, 1965, S. 103 f. 23 Ausdrücklich in diesem Sinne LG Aachen, ZIP 1992, 924, 928 re.Sp.; RegBegr. bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 88; vgl. ferner Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 15. 24 Unten III. 2. 25 Text bei Kropff (Fn. 23), S. 88.

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Anknüpfung an §§ 76 Abs. 1, 77 AktG, sondern die bewusste Auswahl eines von verschiedenen Regelungsmodellen (1.). Damit wird auch ein nachweisbarer Zweck verfolgt, nämlich der, die Verkehrsfähigkeit vinkulierter Namensaktien nicht stärker zu beeinträchtigen als es infolge der Vinkulierung unvermeidlich ist (2.). 1. Gezielte Kompetenzzuweisung a) Der handelsrechtliche Hintergrund Dass § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG die bewusste Auswahl eines von verschiedenen Regelungsmodellen enthält, lässt sich aus der Normgeschichte unschwer ableiten. Die Vorschrift geht unmittelbar auf § 61 Abs. 3 AktG 1937 zurück, in dem es bereits hieß: „Die Zustimmung gibt der Vorstand, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt“26.

In der Vorläuferregelung des HGB ist die Bestimmung noch ohne Vorbild. Vielmehr war dort in § 222 Abs. 2 HGB a. F. noch vorgesehen: „Sie“ (sc.: die Namensaktien) „können, soweit nicht der Gesellschaftsvertrag ein anderes bestimmt, ohne Zustimmung der Gesellschaft auf andere übertragen werden“27.

Daneben gab es aber noch eine Sonderregelung, und zwar für die sogenannten vinkulierten Kleinaktien damaligen Verständnisses (seit der Währungsumstellung von 1923: Nennbeträge von weniger als 1000 Mark). Weil deren Verkehrsfähigkeit herabgesetzt werden sollte, bestimmte § 222 Abs. 4 HGB a. F. in charakteristischer Abweichung von dem seit 1937 bestehenden Rechtszustand, zur Übertragung solcher Aktien sei „die Zustimmung des Aufsichtsrats und der Generalversammlung erforderlich“28.

b) Die Reformentwürfe vom Ende der Weimarer Republik Die zitierte Sonderregelung für sogenannte vinkulierte Kleinaktien ist neben der Grundregel des § 222 Abs. 2 HGB deshalb von allgemeinem Interesse, weil § 61 Abs. 3 Satz 2 AktG 1937 als unmittelbarer Vorläufer der geltenden Norm auf die Reformentwürfe I und II vom Ende der Weimarer Republik zurückging, die den Sachverhalt jeweils in konträrer Weise regeln wollten: Während § 52 Abs. 4 Entwurf II dem späteren § 61 Abs. 3 Satz 2 AktG 1937 sachlich entsprach, enthielt er im Entwurf I noch die Verallgemeinerung der für die vinkulierten Kleinaktien bestehenden Regelung. Im Entwurf II hieß es nämlich schon: „Ist die Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden, so ist, wenn nicht die Satzung ein anderes bestimmt, die Zustimmung des Vorstandes erforderlich“29.

__________ 26 Text z. B. bei Klausing, Aktien-Gesetz 1937, S. 49. 27 Text des § 222 Abs. 2 HGB beispielsweise bei Staub/Pinner, HGB, 12./13. Aufl., Bd. II 1926, S. 187. 28 Text etwa bei Staub/Pinner (Fn. 27), S. 188. 29 Vgl. RJM (Hrsg.), Amtlicher Entwurf 1931, S. 9.

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Dagegen war in § 52 Abs. 4 Entwurf I noch bestimmt: „Ist die Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden, so ist zu ihrer Wirksamkeit die Zustimmung des Aufsichtsrats und der Generalversammlung erforderlich“30.

Der Übergang zu dem der Sache nach bis heute bestehenden Rechtszustand vollzog sich also mit dem Entwurf II von 1931, in welchem man sich von der Doppelzuständigkeit von Aufsichtsrat und (damaliger) Generalversammlung trennte und die Willensbildung stattdessen für den gesetzlichen Regelfall dem Vorstand übertrug31. Damit bestätigt sich zunächst die Eingangsfeststellung: Dass die Kompetenz für die interne Willensbildung mangels abweichenden Satzungsinhalts beim Vorstand liegt, bedeutet eine bewusste Abkehr von der Zuständigkeit der anderen Gesellschaftsorgane. Schon deshalb dürfte es nicht einfach sein, für den wichtigen Fall der Abhängigkeitsbegründung eine Hauptversammlungskompetenz als geltendes Recht zu postulieren. 2. Verkehrsfähigkeit der Aktien als Zweck der Vorstandskompetenz Schon die dargestellte Normgeschichte legt weiterhin den Gedanken nahe, dass mit dem Übergang zur Vorstandskompetenz unter bewusster Abkehr von der zunächst geplanten Regelung ein nachvollziehbarer Zweck verfolgt wird. So ist es auch. Bezweckt ist, die Verkehrsfähigkeit der vinkulierten Namensaktien nicht weiter herabzusetzen als durch die Vinkulierung ohnehin geschehen. Der veräußerungswillige Aktionär soll die Zustimmung durch den jederzeit handlungsfähigen Vorstand alsbald erhalten können und nicht auf den Aufsichtsrat mit seiner geringeren Sitzungsfrequenz oder gar auf die regelmäßig nur jährlich stattfindende Hauptversammlung angewiesen sein, sofern der Satzungsgeber eine solche Erschwernis nicht ausnahmsweise für zweckmäßig hält. Dass § 222 Abs. 4 HGB a. F. für vinkulierte Kleinaktien eine „Erschwerung der Umsatzfähigkeit“ bezweckte und erreichte, hat schon das Reichsgericht eigens hervorgehoben32. Das Weitere folgt aus den noch heute treffenden Worten von Flechtheim in seiner Besprechung des Entwurfs I: „Der Entw. kennt die Kleinaktie nicht mehr. … Damit entfiel selbstverständlich auch die Sondervorschrift für die Übertragung von Kleinaktien. Aber die Vorschrift ist nicht gestrichen, sondern sie wird nun ausgedehnt auf sämtliche vinkulierten Namensaktien, und zwar gleichviel ob die Satzung die Zustimmung von Aufsichtsrat und GenVers. vorsieht oder nicht. Das bedeutet natürlich eine außerordentliche Erschwerung der Übertragung solcher Aktien. Das ist ja auch gerade der Zweck des heutigen § 222 Abs. 4 (RGZ 123, 283/84 = JW 1929, 1364). Aber dieser Gesichtspunkt trifft doch nicht auf die normale vinkulierte Namensaktie zu. Die Bindung an die Zustimmung der Gesellschaft beruht hier ja nicht auf dem Gesetz, sondern auf dem Statut, also dem freien Entschluss

__________

30 Vgl. RJM (Hrsg.), Amtlicher Entwurf 1930, S. 20 (= Schubert [Hrsg.], Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik [1926–1931], Bd. 2 1992, S. 862). 31 S. dazu Düringer/Flechtheim, HGB, 3. Aufl., Bd. III 1 1933, § 222 Anm. 5 (S. 171a); Flechtheim, JW 1930, 3681, 3683 Rz. 3 (Text im folgenden unter 2.). 32 RG v. 5.2.1929 – II 332/28, RGZ 123, 279, 283 f.

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Uwe Hüffer der Gesellschaft. Die Gründe können verschiedenartig sein. … Aber es wird ihr im allgemeinen fernliegen, durch derartige Bestimmungen die Umlaufsfähigkeit der Aktie zu verhindern. Das gilt vor allem da, wo nur die Zustimmung der Gesellschaft und nicht auch des Aufsichtsrats und besonders der GenVers. verlangt wird. Der Aufsichtsrat tritt nur in größeren Zwischenräumen zusammen. Die GenVers. findet regelmäßig nur einmal im Jahr statt. Wird nun die Gültigkeit der Übertragung von der Zustimmung dieser Organe abhängig gemacht, so bedeutet das praktisch die Verkehrsunfähigkeit solcher Aktien, vor allem aber ihren Ausschluss vom Börsenverkehr. Das träfe in erster Linie sehr schwer die Versicherungsaktien. Ich sehe für die Verschärfung der Vinkulation keinen überzeugenden Grund, wohl aber erhebliche Bedenken. Vielleicht liegt hier aber auch nur ein Redaktionsversehen vor. Zumindest sollte diese Erschwerung nachgiebiges Recht sein. …“; vgl. Flechtheim JW 1930, 3681, 3683 Fn. 333.

Man kann dem zitierten Text kaum Wesentliches hinzufügen. Ersichtlich ist mit § 52 Abs. 4 Entwurf II, auf den § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG über § 61 Abs. 3 Satz 2 AktG 1937 zurückgeht, der Initiative des nicht nur als DüringerKommentator einflussreichen Flechtheim34 Rechnung getragen worden. Deshalb ist es auch geboten, den von ihm betonten Zweck der Vorstandszuständigkeit, nämlich die Verkehrsfähigkeit der vinkulierten Namensaktie nicht weiter zu beeinträchtigen als unvermeidlich, als Regelungszweck des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG anzusehen35.

IV. Konzernbildungskontrolle als vorrangiges Regelungsanliegen? Es steht nicht zu erwarten, dass der herausgearbeitete Normzweck von den Vertretern einer gesetzlichen Zuständigkeit der Hauptversammlung bei abhängigkeitsbegründenden Übertragungsgeschäften in Abrede gestellt wird. Vielmehr soll es auf ihn nicht ankommen, wenn die Vinkulierung und die Abhängigkeitsbegründung zusammentreffen, was darauf hinausläuft, die sog. Konzernbildungskontrolle36 als vorrangiges, den Schutz der Verkehrsfähigkeit verdrängendes Regelungsanliegen zu begreifen. Das überzeugt jedoch nicht, weil das geltende Aktienrecht von der Konzernoffenheit der Gesellschaft ausgeht (1.), und zwar auch in den Fällen, in denen die Namensaktien vinkuliert sind (2.). Wollte man entgegen richtiger Ansicht Raum für eine gesetzliche Konzernbildungskontrolle annehmen, so bliebe die Gewichtung der widerstreitenden Belange (Verkehrsfähigkeit; Konzerneingangsschutz) der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten (3.). Schließlich bestehen auch ernstliche Zweifel an der Tauglichkeit einer Zustimmungskompetenz der Hauptversammlung als Instrument des Konzerneingangsschutzes (4.).

__________ 33 Vgl. Flechtheim, JW 1930, 3681, 3683 Rz. 3. 34 Zu Flechtheim Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts und Briefe aus der Emigration, 1978, S. 112; Dt. Juristentag (Hrsg.), Recht mitgestalten. 150 Jahre Deutscher Juristentag 1860 bis 2010, 2010, S. 78. 35 Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 15. 36 Auch: Eingangskontrolle oder Präventivschutz. Dabei ist Konzern im untechnischen, die bloßen Beherrschungsverhältnisse einschließenden Sinne zu verstehen.

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1. Konzernoffenheit der AG Zur Konzernoffenheit der AG, die auch von der hier kritisierten Ansicht im Ausgangspunkt nicht grundsätzlich bestritten wird37, bedarf es nur weniger Worte: Anders als im Recht der GmbH38 ist die Einbindung der AG in ein Beherrschungs- oder Konzernverhältnis grundsätzlich hinzunehmen39. Anders ausgedrückt: Das Gesetz sieht Abhängigkeit und Konzernierung als zulässige Formen der Unternehmensverbindung an und wirkt den mit Beherrschung oder Konzernierung verbundenen Gefahren nicht durch eine präventive Kontrolle, sondern, soweit es um vertragslose Beziehungen geht, durch die verhaltensorientierte Regelung der §§ 311 ff. AktG entgegen40. Die Regelung des Pflichtangebots in §§ 35 ff. WpÜG hat daran entgegen vereinzelten Stimmen nichts geändert41. 2. Konzernoffenheit und Vinkulierungsklausel Die grundsätzliche Konzernoffenheit der AG soll dann zurücktreten, wenn die Satzung eine Vinkulierungsklausel enthält. Daraus, so wird vorgetragen, ergebe sich nämlich der Satzungswille, den Kreis der Aktionäre zu kontrollieren und so auch die Unabhängigkeit der AG zu sichern42. Diesem Gedankenschritt kann nicht zugestimmt werden. Rechtlich maßgebend ist allein die durch die Auslegung festzustellende Bedeutung der Vinkulierungsklausel (a). Schon angesichts der Vielzahl von möglichen Vinkulierungszwecken ist der Schluss von der Existenz der Klausel auf einen gewollten Präventivschutz wenig naheliegend (b). Endgültig scheitert dieser Schluss daran, dass die Satzung die Hauptversammlung zuständig machen kann, wenn der Satzungsgeber das für sinnvoll hält (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Wenn er keine entsprechende Regelung trifft, muss angenommen werden, dass eine Zuständigkeitsverlagerung auch nicht zwecks sog. Konzernbildungskontrolle gewollt ist (c).

__________ 37 Vgl. etwa Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42. 38 Dazu Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, Schlussanhang KonzernR Rz. 93; Casper in Großkomm. GmbHG (vormals Hachenburg), Bd. III 2008, Anh. § 77 Rz. 55 ff. 39 BGH v. 15.6.1992 – II ZR 18/91, BGHZ 119, 1, 7 = ZIP 1992, 1227 = NJW 1992, 2760; BGH v. 25.6.2008 – II ZR 133/07, ZIP 2008, 1872 Tz. 17 = AG 2008, 779; Hüffer (Fn. 15), § 18 Rz. 4 m. w. N.; ders. in FS Röhricht, 2005, S. 251, 257 ff.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 Rz. 1. 40 Vgl. etwa Röhricht in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 513, 531 (in der 2. Aufl. 2009 nicht mehr enthalten); Hüffer in FS Röhricht, 2005, S. 251, 257. 41 Habersack (Fn. 39), Vor § 311 Rz. 26; Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42 f.; Kleindiek, ZGR 2002, 546, 562 f. 42 Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42.

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a) Objektive Auslegung Die Einzelbedeutungen einer Vinkulierungsklausel stehen nicht schon von Rechts wegen fest, sondern sind durch Satzungsauslegung zu ermitteln43. Insofern ist es schon methodisch angreifbar, aus der bloßen Existenz einer Vinkulierungsklausel auf die angebliche gesetzliche Zuständigkeit der Hauptversammlung in den Fällen einer Abhängigkeitsbegründung zu schließen; denn erstens unterbleibt die Auslegung und zweitens ist der Übergang von der Satzungsklausel zur gesetzlichen Zuständigkeit nicht nachvollziehbar. Die gebotene Satzungsauslegung hat objektiv zu erfolgen44. So ist es, weil die Vinkulierung die Übertragung der Mitgliedschaft auch künftiger Aktionäre betrifft und damit zu den materiellen (oder körperschaftlichen) Satzungselementen gehört45. Der relevante Auslegungsstoff ist danach begrenzt. Wesentlich sind Wortlaut und Zweck der Regelung sowie, sofern vorhanden, ihr systematischer Zusammenhang mit anderen Satzungsteilen. Weitere Umstände können nur relevant sein, wenn ihre Kenntnis bei Organen und Aktionären vorausgesetzt werden darf46. b) Pluralität der Vinkulierungszwecke Geht man in der gebotenen Weise vor, so zeigt sich: Eine Vinkulierungsklausel, die es beim Zustimmungserfordernis belässt (§ 68 Abs. 2 Satz 1 AktG), erst recht eine Klausel, die auch § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG abbildet, geben ihrem Wortlaut nach für eine Ausnahmezuständigkeit der Hauptversammlung nichts her. Das dürfte durchweg auch für die Satzungssystematik zutreffen. Soweit es um den danach entscheidenden Klauselzweck geht, wird zu kurz gegriffen, wenn aus der Kontrolle des Aktionärskreises als einem möglichen Vinkulierungszweck abgeleitet wird, dass der Satzungsgeber diese Kontrolle – und mit ihr diejenige eines Mehrheitserwerbs – auch im Einzelfall gewollt habe47. Dem steht schon die Vielzahl möglicher Vinkulierungszwecke48 entgegen. So ist es wenig einsichtig, dass eine Versicherungs-AG mit teileingezahlten Namensaktien mit einer Vinkulierung bezweckt hat, nicht in die Abhängigkeit zu geraten. Auch lässt sich nicht ohne weiteres ausmachen, ob es bei einer anderen AG um die Fixierung der bisherigen Beteiligungsverhältnisse oder um bloßen Überfremdungsschutz gegangen ist, weshalb gegen einen Erwerb durch den schon bisher beteiligten Familienstamm nichts einzuwenden wäre. Des Weite-

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43 BGH v. 13.7.1967 – II ZR 238/64, BGHZ 48, 141, 143 f.; Winter/Löbbe (Fn. 14), § 15 Rz. 222; Detering (Fn. 22), S. 44 unter Hinweis auf Lessmann, GmbHR 1985, 179, 183. 44 BGHZ 48, 141, 143 f. (Fn. 43); Ulmer in Großkomm. GmbHG (vormals Hachenburg), Bd. 1 2005, § 2 Rz. 143; Winter/Löbbe (Fn. 14), § 15 Rz. 222 Fn. 638. – Zu den Voraussetzungen der objektiven Auslegung vgl. BGH v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347, 350 = ZIP 1993, 1709 = NJW 1994, 51. 45 BGHZ 123, 347, 350; Hüffer (Fn. 15), § 23 Rz. 39 m. w. N.; ferner Ulmer (Fn. 44). 46 BGHZ 123, 347, 350 f. (Fn. 44) m. w. N.; seither BGH v. 26.11.2007 – II ZR 227/06, NZG 2008, 309 Tz. 2; Hüffer (Fn. 15), § 23 Rz. 39. 47 So aber namentlich Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42. 48 Übersichten z. B. bei Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 10.

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ren ist der zusätzliche Schluss von einer Abhängigkeitsprävention auf eine Beschlusskompetenz der Hauptversammlung weitab von zwingend. Die mangelnde Effizienz einer Abhängigkeitsprävention durch eine Beschlussfassung unter Mitwirkung des veränderungswilligen Aktionärs49 legt vielmehr den Gedanken nahe, dass das Schutzanliegen beim Vorstand der – noch unabhängigen – AG besser aufgehoben ist. c) Satzungsdispositiver Charakter des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG Ist eine Auslegung von Vinkulierungsklauseln, die bei der Linie des § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG bleiben, im Sinne einer Hauptversammlungskompetenz schon nach den bisherigen Überlegungen wenig naheliegend, so scheidet sie endgültig aus, wenn man § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG in die Betrachtung einbezieht. Der Zusammenhang von Vinkulierungsklausel und gesetzlicher Vorschrift ist auslegungsrelevant, weil Kenntnis der Norm bei Organen und Aktionären vorausgesetzt werden kann. Danach muss aber angenommen werden, dass ein Satzungsgeber, der es bei der Vorstandskompetenz belässt, diese Bedeutung der Vinkulierungsklausel auch gewollt hat; denn anderenfalls hätte er von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die ihm das Gesetz eigens eröffnet. Nach allem ist die bloße Existenz einer Vinkulierungsklausel kein Grund, die Konzernoffenheit der AG ausnahmsweise zurücktreten zu lassen. Vielmehr zeigt die Auslegung solcher Klauseln, dass sie die gesetzliche Vorstandskompetenz in sich aufnehmen. 3. Verkehrsfähigkeit vs. Konzernbildungskontrolle Käme man über die dargelegten Bedenken hinweg, so wäre man auch noch nicht bei einer gesetzlichen HV-Zuständigkeit angelangt. Der als Folge einer Vinkulierungsklausel prüfungshalber zu unterstellende Konzerneingangsschutz stände nämlich neben dem Schutz der Verkehrsfähigkeit vinkulierter Aktien, der als Regelungsziel des § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG nachgewiesen werden konnte50. Selbst von dem hier abgelehnten Standpunkt aus bedürfte es also noch einer Abwägung zwischen den Regelungszielen. Dass diese Abwägung zugunsten einer Konzernbildungskontrolle durch Hauptversammlungskompetenz und damit notwendig gegen die Verkehrsfähigkeit vorzunehmen wäre, lässt sich § 68 Abs. 2 AktG nicht entnehmen. Wenn die Vorschrift überhaupt einen Abwägungsgesichtspunkt enthalten sollte, liegt er in der gegenüber der Vorstandskompetenz subsidiären Zuständigkeit der Hauptversammlung (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Dieser Umstand spricht aber deutlich gegen einen Vorrang der Konzernbildungskontrolle vor der Verkehrsfähigkeit der Aktien.

__________ 49 Dazu unten IV. 4. 50 Oben III. 2.

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4. Zur mangelnden Effizienz einer Hauptversammlungszuständigkeit Die vermeintliche Zuständigkeit der Hauptversammlung lässt sich nach allem nicht nur nicht aus einer Vinkulierungsklausel herleiten, die es gerade bei der Vorstandskompetenz belässt (§ 68 Abs. 2 Satz 2 AktG). Nach richtiger Ansicht wäre eine derartige Lösung auch wenig zweckmäßig, weil sie den angestrebten Konzerneingangsschutz nur unvollkommen leisten könnte. So ist es, weil der übertragungswillige Aktionär mitstimmen darf (a) und der Beschluss auch keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf (b). Im Sinne der Zielvorstellung wirksam wäre deshalb allein das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit, das sich aber auch nicht begründen lässt (dazu V. 3. [3.] im Kontext der Holzmüller/ Gelatine-Rechtsprechung). a) Kein Stimmverbot gegen den übertragungswilligen Aktionär Ob der Veräußerer (und auch der Erwerber, falls er ebenfalls Aktionär ist), einem Stimmverbot unterliegt, ist nach richtiger Ansicht nur dann relevant, wenn die Satzung einen zustimmenden Beschluss der Hauptversammlung verlangt (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Für diesen Fall ist es nahezu allgemeine Ansicht, dass Veräußerer (und Erwerber) mitstimmen dürfen51. Derselbe Standpunkt wird durchweg eingenommen, soweit die Gesellschafterversammlung der GmbH über die Zustimmung zu befinden hat52. Wenn man mit der hier abgelehnten Ansicht in den Fällen einer Abhängigkeitsbegründung eine satzungsunabhängige Hauptversammlungskompetenz bejaht, ergibt sich auch insoweit die Stimmrechtsfrage. Wenngleich insoweit vertiefende Untersuchungen fehlen, wird man doch annehmen müssen, dass die Stimmberechtigung nicht von der rechtlichen Basis der Hauptversammlungskompetenz abhängen kann53. Wenn in den Fällen des § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG kein Stimmverbot eingreift, ist diese Lösung also auf die – angebliche – gesetzliche Zuständigkeit zu erstrecken. Geht man der Stimmrechtsproblematik nach, so zeigt sich: Mangels besonderer Vorschrift müsste sich ein aktienrechtliches Stimmverbot aus § 136 Abs. 1 AktG ableiten lassen. Die Vorschrift bezieht sich aber nur auf die Entlastung, auf die Befreiung von einer Verbindlichkeit und auf die Geltendmachung eines

__________ 51 Bayer (Fn. 1), § 68 Rz. 68; ders. in FS Hüffer, 2010, S. 35, 37; Bezzenberger (Fn. 15), § 68 Rz. 27; Cahn (Fn. 1), § 68 Rz. 51; Merkt (Fn. 1), § 68 Rz. 358; K. Schmidt in FS Beusch, 1993, S. 759, 771 f.; a. A. Zöllner in KölnKomm. AktG, Bd. 1 5. Lfg. 1973, § 136 Rz. 29 m. w. N. 52 BGH v. 29.5.1967 – II ZR 105/66, BGHZ 48, 163, 167 = NJW 1967, 1963; KG, OLGZ 1965, 320, 323 f.; Hüffer in Großkomm. GmbHG (vormals Hachenburg), Bd. II 2006, § 47 Rz. 167; ders. in FS Heinsius, 1991, S. 337, 345; Liebscher (Fn. 14), Anh. § 13 Rz. 273; Reichert/Weller (Fn. 22), § 15 Rz. 422; Detering (Fn. 22), S. 38 f. 53 So wohl auch Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 37.

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Anspruchs. Das ist als Ergebnis einer gesetzlich gewollten Kasuistik54 hinzunehmen. Der Hinweis auf Sinn und Zweck der Vinkulierung55 führt danach jedenfalls aktienrechtlich nicht weiter. Das Stimmrecht trotz eigener Betroffenheit hat überdies hier wie auch bei der GmbH eine tragfähige gedankliche Basis, weil es dem veräußerungswilligen Aktionär/Gesellschafter erlaubt sein muss, bei der Entscheidung über die Deinvestition der von ihm eingesetzten Mittel56 in seinem Sinne mitzuwirken57. Dass dies nicht ohne weiteres im Sinne eines Konzerneingangsschutzes liegt, wird man einräumen müssen, aber auch hinzunehmen haben, zumal die Stimmberechtigung des Mehrheitsaktionärs bei der Entstehung eines Vertragskonzerns nach der Gesetzeslage ebenfalls außer Zweifel steht58. b) Kein Erfordernis sachlicher Rechtfertigung Soweit es um die inhaltlichen Anforderungen an die Zustimmungsentscheidung geht, ist heute zunächst für den Vorstand (§ 68 Abs. 2 Satz 2 AktG) anerkannt, dass er nach pflichtgemäßem, die Gesellschaftsinteressen und die Interessen des übertragungswilligen Aktionärs abwägenden, durch das Gleichbehandlungsgebot (§ 53a AktG) gebundenen Ermessen zu entscheiden hat59. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn anstelle des Vorstands die Hauptversammlung entscheidet60. Der umschriebene Standard berücksichtigt die Treubindungen, denen die AG gegenüber ihren Mitgliedern unterliegt61, ohne deshalb die Zustimmung zur Aktienübertragung einer materiellen Beschlusskontrolle einschließlich der daran anknüpfenden Beweislastverteilung zu unterwerfen. Daran lässt sich zwar denken, weil der gesetzliche Verzicht auf ein Stimmverbot62 die Interessen der außenstehenden Aktionäre an der Unabhängigkeit ihrer Gesellschaft ungeschützt lässt und die Entstehung von Abhängigkeit zwar keinen Eingriff

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54 Hüffer (Fn. 15), § 136 Rz. 17 f.; Zöllner (Fn. 51), § 136 Rz. 26; ders., Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 263 ff.; Zimmermann in FS Rowedder, 1994, S. 593, 598 f.; gegen rechtsanaloge Erweiterung auf andere Interessenkollisionen auch BGH v. 20.1.1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33 m. w. N. = ZIP 1986, 429 = NJW 1986, 2051. 55 Zöllner (Fn. 51), § 136 Rz. 29; ders. (Fn. 54), S. 246; ders., GmbHR 1968, 177 ff. 56 S. zur Auflösung BGH v. 28.1.1980 – II ZR 124/78, BGHZ 76, 352, 353 = ZIP 1980, 275 = NJW 1980, 1278; BGH v. 1.2.1988 – II ZR 75/87, BGHZ 103, 184, 190 = ZIP 1988, 301 = NJW 1988, 1579; Hüffer (Fn. 15), § 243 Rz. 28; § 262 Rz. 11. 57 Vgl. die Nachw. in Fn. 51 und 52; ferner Winter/Löbbe (Fn. 14), § 15 Rz. 234. 58 Hüffer (Fn. 15), § 293 Rz. 9 m. w. N.; rechtspolitische Zweifel bei Zöllner (Fn. 51), § 136 Rz. 6; Immenga in FS Böhm, 1975, S. 253, 257 und 262. 59 BGH v. 1.12.1986 – II ZR 287/85, ZIP 1987, 291, 292 = NJW 1987, 1019; LG Aachen v. 19.5.1992 – 41 O 30/92, ZIP 1992, 924, 928 f. = AG 1992, 410; Bayer (Fn. 1), § 68 Rz. 72; Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 15; Reichert (Fn. 22), S. 223 ff.; Reichert/Winter in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 209, 221 f.; K. Schmidt in FS Beusch, 1993, S. 759, 776; kritisch zur h. M. H. P. Westermann in FS Huber, 2006, S. 997, 1006 ff.; anders (freies Ermessen) die frühere Ansicht, vgl. noch RG v. 31.3.1931 – II 222/30, RGZ 132, 149. 60 Ebenso Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 37. 61 Dazu grundlegend Winter (Fn. 9), S. 85 ff., 95 ff. 62 Oben IV. 4a.

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in mitgliedschaftliche Rechte63 darstellt, aber doch deren unternehmerisches Substrat verändert64. Gleichwohl sprechen die besseren Gründe gegen eine materielle Beschlusskontrolle. Zum einen stellt die Entscheidung der Hauptversammlung für die Zustimmung zur Aktienübertragung unter Hinnahme von Abhängigkeit die Betätigung eines unternehmerischen Ermessens dar65, das sich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als dem Kern einer materiellen Beschlusskontrolle66 weitgehend entzieht. Zum anderen kann das Deinvestitionsinteresse des Veräußerers wie bei Auflösungsbeschlüssen67 nicht unberücksichtigt bleiben; das steht materiellen Anforderungen, die über das Zustandekommen einer pflichtmäßigen Organentscheidung hinausgehen, doch schon deutlich entgegen, weshalb eine materielle Beschlusskontrolle insgesamt nicht befürwortet werden kann68. Nimmt man alles zusammen, so bestätigt sich, dass die angebliche Zuständigkeit der Hauptversammlung den angestrebten Konzerneingangsschutz kaum wirksam zu leisten vermag. Auch unter diesem Blickwinkel ist der wörtlich verstandene § 68 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG den Bemühungen seiner Interpreten vorzuziehen.

V. Keine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung 1. Dogmatische Absicherung einer gesetzlichen HV-Kompetenz durch Annahme einer „fundamentalen Strukturentscheidung“? In der Untersuchung von Bayer lässt sich lesen, die von ihm für richtig gehaltene gesetzliche Zustimmungskompetenz der Hauptversammlung in den Fällen einer Abhängigkeitsbegründung durch Übertragung vinkulierter Namensaktien werde durch die Grundsätze der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung „dogmatisch abgesichert“69. Dieser Annahme kann in einem doppelten Sinne nicht gefolgt werden. Erstens haben die bisherigen Überlegungen nämlich gezeigt, dass sich die vermeintliche gesetzliche Zuständigkeitskompetenz auf der Basis des § 68 Abs. 2 AktG nicht begründen lässt70. Die Holzmüller/ Gelatine-Grundsätze können deshalb auch keine absichernde Funktion haben. Vielmehr würden sie, wenn sie anwendbar wären, die gesuchte Zustimmungs-

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63 Zu diesem Erfordernis BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 44 f. = NJW 1978, 1316; BGH v. 19.4.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319, 321 = ZIP 1982, 689 = NJW 1982, 2444; Hüffer (Fn. 15), § 243 Rz. 24. 64 Vgl. dazu Zöllner (Fn. 38), Schlussanhang KonzernR Rz. 94; Lutter/Timm, NJW 1982, 409, 411 ff., die sich – zur GmbH – für eine materielle Beschlusskontrolle aussprechen (a. a. O. S. 417). 65 S. dazu BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, 58 f. = ZIP 2003, 387 = NJW 2003, 1032 zum regulären Delisting. 66 Hüffer (Fn. 15), § 243 Rz. 23. 67 Nachw. in Fn. 56. 68 Bayer (Fn. 1), § 68 Rz. 76; Hüffer (Fn. 15), § 68 Rz. 15; Lutter, AG 1992, 369, 372 f.; implizit auch LG Aachen, ZIP 1992, 924, 928 f. (Fn. 59); a. A. Immenga, AG 1992, 79, 82 f. 69 Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 40 f. 70 Vgl. vor allem IV. 2. und 3.

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kompetenz der Hauptversammlung erst begründen71. Indessen muss, darin liegt der zweite Punkt, auch ihre Anwendbarkeit verneint werden: Die Begründung der Abhängigkeit durch Übertragung vinkulierter Namensaktien ist kein Holzmüller/Gelatine-Fall, und zwar in keiner der verschiedenen Bedeutungsvarianten, die sich mit diesem Schlagwort verbinden. 2. Holzmüller/Gelatine: Annäherung an ein Problemfeld Den Gelatine-Entscheidungen des BGH72 kommt das Verdienst zu, der im Anschluss an das Holzmüller-Urteil73 eingetretenen nachhaltig störenden Rechtsunsicherheit über die Kompetenzverteilung zwischen Vorstand und Hauptversammlung74 die praktische Spitze genommen zu haben, und zwar durch die begrüßenswerte Bestätigung der schon vom Holzmüller-Urteil aufgestellten, im Schrifttum aber verbreitet tiefer75, teilweise viel tiefer76 angesetzten quantitativen Voraussetzungen für eine Zustimmung der Hauptversammlung77. Indessen ist es bisher nicht gelungen, über die qualitativen Erfordernisse Konsens zu erzielen. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem von Bayer auch nach den Gelatine-Entscheidungen noch für möglich gehaltenen Rekurs auf eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit. In Stichworten lässt sich zur qualitativen Problemseite festhalten: Ohne aktuelle Bedeutung ist die in verschiedenen Varianten anzutreffende und lange Zeit verbreitete Annahme, dass der Hauptversammlung eine originäre, also von einer Vorstandsvorlage unabhängige Zuständigkeit bei Ausgliederungsvorgängen und anderen wesentlichen Maßnahmen zukomme78. Solchen Gedankengängen hat der BGH schon im richtig verstandenen Holzmüller-Urteil79 nicht angehangen80. Mit der Weiterentwicklung dieses Urteils in den Gelatine-Entscheidungen81 haben sie ihre praktische Relevanz ganz eingebüßt. Die jüngere Rechtsprechungslinie betont den Ausnahmecharakter einer ungeschriebenen Hauptversammlungszustimmung und verlangt dafür, dass die an-

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So wohl auch Merkt (Fn. 1), § 68 Rz. 368 f. BGHZ 159, 30 (Fn. 7); BGH, NZG 2004, 575 (Fn. 7). BGHZ 83, 122 (Fn. 7). Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 280. Vgl. die seinerzeitige Kompromisslinie bei Reichert in Habersack/Koch/Winter (Hrsg.), Die Spaltung im neuen Umwandlungsrecht und ihre Rechtsfolgen (ZHR-Beiheft 68), 1999, S. 26, 44 ff., sowie bei Wollburg/Gehling in FS Lieberknecht, 1997, S. 133, 158 f.: mehr als 50 %. So namentlich die von Lutter angeführte Meinungsrichtung, s. z. B. Lutter in FS Barz, 1974, S. 199, 214; dens. in FS Stimpel, 1985, S. 825, 850; dens. in FS Fleck, 1988, S. 169, 179 f. Überblick bei Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 291 f. Darstellung und Kritik bei Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 286 ff. Nicht eben ermutigend lässt das Gericht offen, inwieweit das „Modell einer ‚konzernspezifischen Binnenordnung‘ nach geltendem Recht begründbar, mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten zu vereinbaren und praktisch durchführbar ist.“; vgl. BGHZ 83, 122, 138 (Fn. 7). Vgl. zur Interpretation des Urteils Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 284 ff., 289 f. BGHZ 159, 30 (Fn. 7); BGH, NZG 2004, 575 (Fn. 7).

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stehende Maßnahme ihrer Art nach im Umfeld der Satzungs- und (besonders unternehmensvertraglichen) Zustimmungskompetenz der Hauptversammlung steht82. Nimmt man einen etwas dürren Nichtannahmebeschluss83 und „authentische“ Interpretationen von Senatsmitgliedern84 hinzu, so scheint sich der BGH dazu entschlossen zu haben, eine ungeschriebene Hauptversammlungszustimmung nur dann zu bejahen, wenn (auch quantitativ hinreichend bedeutende) Maßnahmen der Ausgliederung oder Umgruppierung, also der Bildung oder Umstrukturierung der Unternehmensgruppe, für die Aktionäre der Spitzengesellschaft auf eine Mediatisierung ihrer (vor allem vermögensmäßigen) Mitgliedsrechte hinauslaufen85. Trifft diese Auslegung zu, so hat die Hauptversammlung jedenfalls bei Veräußerungsvorgängen keine originäre Kompetenz86; bei Erwerbsvorgänge ist das schon eher zweifelhaft87. Zwischen den beiden Extrempositionen einer Grundlagenkompetenz der Hauptversammlung einerseits und einer Zustimmungsbefugnis in den Mediatisierungsfällen andererseits gibt es verschiedene mittlere Meinungsrichtungen, denen vor allem die von mir in Auslegung des Holzmüller-Urteils begründete, an den notwendigen Individualschutz der Aktionäre anknüpfende Theorie zuzuordnen ist88. Ihr gegenüber ist die Zuspitzung auf Mediatisierungsfälle eine unnötige konzernrechtliche Verengung. Deshalb ist es auch zutreffend, wenn Bayer der ursprünglichen Holzmüller-Formel attestiert, von den GelatineEntscheidungen nicht ausgefüllt zu werden89, was allerdings auch durchaus den Absichten des II. Zivilsenats entsprechen dürfte. 3. Holzmüller/Gelatine und die Zustimmungskompetenz bei der abhängigkeitsbegründenden Übertragung vinkulierter Namensaktien Führt man die verschiedenen Holzmüller-Ansätze mit der hier untersuchten besonderen Zuständigkeitsproblematik zusammen, so gelangt man zu folgenden Teilaussagen: (1.) Die Idee einer originären Grundlagenzuständigkeit der Hauptversammlung ist derart weitgreifend, dass auch die abhängigkeitsbegründende Übertragung

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82 BGHZ 159, 30, 44 f. (Fn. 7). 83 BGH v. 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24 = AG 2007, 203. 84 Goette, AG 2006, 522, 527 (anders aber S. 525 re.Sp.); Röhricht in VGR (Hrsg.) Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, 2005, S. 1, 10 f. 85 Dafür im Schrifttum vor allem Habersack in Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 Rz. 34 f.; Spindler in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 2. Aufl., Bd. 1 2010, § 119 Rz. 30, 32. 86 Sie schafft dividendenfähiges Vermögen und unterliegt vielfältigen Sonderregeln; vgl. Habersack (Fn. 85), Vor § 311 Rz. 41 ff.; Spindler (Fn. 85), § 119 Rz. 34. 87 Habersack (Fn. 85), Vor § 311 Rz. 42; Spindler (Fn. 85), § 119 Rz. 33; gegen Annahme eines Holzmüller-Falls bei Vorliegen einer Konzernöffnungsklausel aber OLG Frankfurt v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, NZG 2011, 62, 63 f. 88 Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 289 f.; seither ders. (Fn. 15), § 119 Rz. 18a m. w. N.; Veräußerungs- und Erwerbsvorgänge in Ausnahmefällen einbeziehend auch Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., Bd. 1 2010, § 119 Rz. 30 ff.; Henze in FS Ulmer, 2003, S. 211, 229 ff. 89 Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 43.

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von vinkulierten Aktien möglicherweise unter eine solche Kompetenz fallen könnte. Wie dargelegt90, ist diese Idee aber nicht mehr praktisch bedeutsam. Allen Versuchen zum Trotz ist es auch nicht gelungen, eine umfassende originäre Grundlagenzuständigkeit der Hauptversammlung aus dem Gesetz abzuleiten91. (2.) In der vom II. Zivilsenat wohl favorisierten Holzmüller-Variante gelingt es offenbar nicht, die angebliche Hauptversammlungskompetenz für die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Aktien zu begründen; denn es handelt sich dabei nicht um einen Mediatisierungsfall. Dem bleibt vorsorglich noch hinzuzusetzen, dass das Ergebnis nicht durch den konzernrechtlichen Präventivschutz in Frage gestellt wird, der sowohl bei der Mediatisierung als auch bei der Übertragung vinkulierter Aktien eine Rolle spielt. Bei der Mediatisierung bezieht sich der Konzerneingangsschutz nämlich auf das herrschende Unternehmen, während die Übertragungsprobleme die Ebene der abhängigen Gesellschaft betreffen92. (3.) Schließlich lässt sich die abhängigkeitsbegründende Übertragung vinkulierter Namensaktien auch nicht einer mittleren Linie des Holzmüller/ Gelatine-Verständnisses zuordnen. Auf die Erläuterungen von Spindler wird sich eine solche Zuordnung von vornherein nicht stützen können, weil er die von ihm so benannten „fundamentalen Strukturentscheidungen“ als Konkretisierung der vom Bundesgerichtshof verlangten Satzungsnähe versteht, also eher dessen strikter Linie als einer vermittelnden Position folgt93. Und wer diese für richtig hält, kommt nicht daran vorbei, dass nach den auch von Bayer94 zitierten Worten des Holzmüller-Urteils wenigstens die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und ihr im Aktieneigentum verkörpertes Vermögensinteresse betroffen sein müssen95. Dies umfasst nach richtiger, wenngleich umstrittener Ansicht neben den Mediatisierungssachverhalten auch vergleichbar evidente Übermaßfälle96, doch kann auf die umschriebene Rechtsbeeinträchtigung nicht verzichtet werden. Die Mitgliedschaften der außenstehenden Aktionäre und namentlich die in ihnen verkörperten Vermögensinteressen werden aber durch die Abhängigkeitslage nicht rechtlich beeinträchtigt. Nur diese Beurteilung entspricht auch der Konzeption der §§ 311 ff. AktG, die über ihre Schutzfunktion hinaus die vertragslose Konzernierung und damit auch die vorgelagerte Abhängigkeit als zulässiges Sonderrechtsverhältnis anerkennen97.

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Oben V. 2. Hüffer in FS Ulmer, 2003, S. 279, 286 ff. Vgl. schon Hüffer (Fn. 15), § 119 Rz. 18a. Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 2 2008, § 76 Rz. 37; ebenso ders. (Fn. 85), § 119 Rz. 30; abweichendes Verständnis bei Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 43. Bayer (Fn. 93). BGHZ 83, 122, 131 (Fn. 7). Hüffer (Fn. 15), § 119 Rz. 18a. Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 155 ff., 161 ff.; zust. Hüffer (Fn. 15), § 311 Rz. 7; ders. in FS Schwark, 2009, S. 185, 190.

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Uwe Hüffer

Nach allem lässt sich eine Zustimmungskompetenz der Hauptversammlung auch nicht aus den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen ableiten. Vielmehr bleibt es dabei, dass (nur) der Satzungsgeber die Hauptversammlung zuständig machen kann (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Unterlässt er dies, so hat der Vorstand zu entscheiden. Weil die Holzmüller/Gelatine-Grundsätze nicht eingreifen, lässt sich auf diesem Wege auch nicht das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit einführen.

VI. Schlussbemerkungen Die von Bayer vorgetragene These98 hat sich zwar, auch unter Einbeziehung der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung, nicht bestätigen lassen. Weiterführend und dankenswert ist sein Beitrag aber im Sinne der von ihm offenbar ausgehenden anregenden Wirkung. Die erörterten Kompetenzfragen betreffen zwar die Auslegung des § 68 Abs. 2 AktG. Das eigentliche Thema liegt aber in der Frage, ob sich ein konzernrechtlicher Präventivschutz durch Einschaltung der Hauptversammlung entwickeln lässt, der (richtigerweise) nicht erst bei der Konzernierung, sondern schon bei der Begründung von Abhängigkeit einsetzt99. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sich die Frage vorlegen, ob das Kompetenzgefüge zwischen Vorstand und Hauptversammlung in einzelnen Punkten neu austariert werden sollte. Hinsichtlich des konzernrechtlichen Präventivschutzes lässt sich allerdings nach dem hier erzielten Untersuchungsergebnis für das Aktienrecht nicht bestätigen, dass die Vinkulierung ein zentraler Ansatzpunkt ist100. Für die GmbH ist das wegen einer anderen gesetzlichen Ausgangslage (§ 15 Abs. 5 GmbHG) und der insoweit bestehenden Satzungsautonomie anders101, was aber auch nicht erstaunlich ist, sondern der Eigenart der Gesellschaftsform als Zusammenschluss einer überschaubaren Mitgliederzahl und der beschränkten Verkehrsfähigkeit der Geschäftsanteile (§ 15 Abs. 3, 4 GmbHG) entspricht.

__________ 98 Bayer in FS Hüffer, 2010, S. 35, 42 ff.; vgl. oben II. 2. 99 Lutter/Timm, NJW 1982, 409, 413 li. Sp., deren Problemaufbereitung von Winter (Fn. 9), S. 270 mit Recht als grundlegend bezeichnet wird. 100 So für die GmbH Zöllner (Fn. 38), Schlussanhang KonzernR Rz. 94. 101 Deren Nutzung empfehlen auch Zöllner (Fn. 100); Reichert/Winter in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 209, 240 f.

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Die gebundene Beteiligung bei der Spaltung Inhaltsübersicht I. Themenstellung II. Die gebundene Beteiligung 1. Die Beteiligung an der Personengesellschaft 2. Vinkulierung des GmbH-Anteils 3. Zwischenfazit III. Sachlage bei der Verschmelzung 1. Spezifika der Verschmelzung 2. Meinungsstand zur GmbH und AG 3. Meinungsstand bei Personengesellschaften a) Der restriktive Ansatz b) Der umwandlungsfreundliche Ansatz c) Kritische Würdigung

IV. Sachlage bei der Spaltung 1. Spezifika der Spaltung 2. Meinungsstand zur GmbH und AG 3. Meinungsstand bei Personengesellschaften a) Der restriktive Ansatz b) Der umwandlungsfreundliche Ansatz c) Stellungnahme V. Schutzkonzept 1. Parallele zur Verschmelzung 2. Missbräuchliche Nutzung der Spaltung zur Umgehung der Vinkulierung VI. Zusammenfassung VII. Nachsatz

I. Themenstellung Arbeitsgemeinschaften zur gemeinsamen Errichtung von Bau- und Infrastrukturprojekten oder zum gemeinsamen Betrieb von Kraftwerken und sonstigen Versorgungseinrichtungen, aber auch Aktionärs- und Finanzierungskonsortien sind regelmäßig in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) konstituiert; je nach Lage des Einzelfalles kann es sich stattdessen um eine offene Handelsgesellschaft (oHG) handeln. Nicht selten bestimmen die zugrunde liegenden Verträge, dem besonderen Charakter derartiger Gefahren- und Interessengemeinschaften entsprechend, dass das einzelne Mitglied seine Beteiligung nur mit Zustimmung aller Mitgesellschafter auf einen Dritten übertragen kann, und schreiben damit explizit fest, was für die Beteiligung an der Personengesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen ohnedies gilt1. Errichten die Partner zur gemeinsamen Zweckverfolgung stattdessen eine GmbH, wird die freie Übertragbarkeit der Geschäftsanteile regelmäßig durch eine Vinkulierungsklausel aufgehoben, die in ihrer strengsten Variante die Zustimmung

__________ 1 S. sogleich unter II. 1.

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jedes Mitgesellschafters zur Voraussetzung für die Übertragung der Beteiligung machen kann2. Wenn die erforderliche Zustimmung nicht erlangt werden kann – sei es, weil ein besonderes Interesse der Mitgesellschafter am Verbleib des Ausscheidenswilligen in der Gemeinschaft gegeben ist, sei es, weil der Ausscheidenswunsch den Mitgesellschaftern willkommener Anlass für eine Neuverhandlung der Vertragskonditionen oder für sonstige Zugeständnisse als Gegenleistung ist – stellt sich die Frage, ob ein zustimmungsfreier Transfer der Beteiligung durch Abspaltung oder Ausgliederung nach dem UmwG als Alternative in Betracht kommt. Das liegt umso mehr nahe, nachdem der Gesetzgeber mit dem zweiten Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes vom 19.4.20073 die als „Spaltungsbremse“ kritisierte Bestimmung in § 132 UmwG a. F.4 gestrichen und zur Begründung festgestellt hat, dass die Gesamtrechtsnachfolge bei Verschmelzungen und Spaltungen zukünftig denselben Grundsätzen zu unterwerfen sei5. Die Spaltung ermöglicht es dem übertragenden Rechtsträger, Teile seines Vermögens als Gesamtheit auf einen übernehmenden Rechtsträger abzuspalten, § 123 Abs. 2 UmwG, oder auszugliedern, § 123 Abs. 3 UmwG. Dabei vollzieht sich der Vermögensübergang auf den übernehmenden Rechtsträger mit Eintragung der Spaltung uno actu im Wege der partiellen Gesamtrechtsnachfolge, § 131 Abs. 1 Nr. 1 UmwG, ohne dass es der Mitwirkung Dritter bedürfte. Der übertragende Rechtsträger ist im Übrigen, jedenfalls im Ausgangspunkt, frei darin, welche Vermögensteile er dem abzuspaltenden oder auszugliedernden Vermögen zuweist; es gilt der Grundsatz der Spaltungsfreiheit. Die Spaltung kann sich deshalb auch auf einen einzelnen Vermögensgegenstand wie etwa die Beteiligung an einer anderen Gesellschaft beschränken6. In Rede steht in der zu behandelnden Konstellation der Widerstreit zwischen dem Interesse der Mitgesellschafter, aufgrund der Vinkulierung der Beteiligung vor einer unerwünschten Veränderung des Gesellschafterkreises geschützt zu sein, und dem Interesse des übertragenden Rechtsträgers, sich auf das Prinzip der Spaltungsfreiheit berufen zu können. Das Umwandlungsgesetz hält für die Auflösung dieses Konflikts keine klare Antwort bereit. Der Meinungsstand im Schrifttum ist disparat. Für die Praxis ist die damit einhergehende Unsicherheit unbefriedigend. Nachfolgend soll deshalb eine Annährung an eine interessengerechte Problemlösung unternommen werden.

__________

2 Zu den möglichen Ausgestaltungen von Vinkulierungsklauseln in der GmbH vgl. eingehend Winter/Löbbe in Großkomm. GmbHG, 2005, § 15 GmbHG Rz. 210 ff., 235 ff. 3 BGBl. I 2007, Nr. 15, S. 542. 4 Danach blieben allgemeine Vorschriften, „welche die Übertragbarkeit eines bestimmten Gegenstandes ausschließen oder an bestimmte Voraussetzungen knüpfen (…), durch die Wirkungen der Eintragung nach § 131 UmwG unberührt“. 5 RegE eines zweiten Gesetzes zur Änderung des UmwG, BR-Drucks. 548/06, S. 41. 6 Vgl. nur Schroer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 131 UmwG Rz. 16; die noch im Referentenentwurf zum UmwG vorgesehene Bestimmung, wonach die partielle Gesamtrechtsnachfolge für die Übertragung „im Wesentlichen“ nur eines einzigen Gegenstands oder einer einzelnen Verbindlichkeit nicht zur Verfügung stehen sollte, ist nicht Gesetz geworden.

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II. Die gebundene Beteiligung 1. Die Beteiligung an der Personengesellschaft Gemäß § 719 Abs. 1 BGB kann ein Gesellschafter einer GbR nicht über seinen Anteil am Gesellschaftsvermögen und an den einzelnen, dazu gehörenden Gegenständen verfügen und er ist nicht berechtigt, eine Teilung zu verlangen; Entsprechendes gilt aufgrund der Verweisung in § 105 Abs. 3 HGB für die Personenhandelsgesellschaften. Nach früherer, heute indessen überwundener Vorstellung folgte hieraus ein Übertragungshindernis7. Die heute ganz einhellige Auffassung geht demgegenüber davon aus, dass die Verfügung über den Anteil an einer Personengesellschaft möglich ist8. Voraussetzung einer solchen Übertragung ist jedoch grundsätzlich die Zustimmung aller Mitgesellschafter zu dem Verfügungsgeschäft zwischen Veräußerer und Erwerber9. Das gilt auch dann, wenn die Übertragung des Anteils an einen Mitgesellschafter erfolgt, denn die Übertragung innerhalb des Gesellschafterkreises unterliegt grundsätzlich den gleichen Anforderungen wie die Übertragung an einen außenstehenden Dritten10. Die Beteiligung an der Personengesellschaft ist also – solange der Gesellschaftsvertrag keine abweichenden Regelungen enthält – nur mit Zustimmung aller Mitgesellschafter rechtsgeschäftlich übertragbar11. Das folgert die ganz herrschende Auffassung aus dem höchstpersönlichen Charakter des Zusammenschlusses von Mitgliedern einer Personengesellschaft12. Dahinter steht der im Zweifel übereinstimmende Wille der Beteiligten, die Gesellschafter in zweierlei Hinsicht vor einer Veränderung des Gesellschafterkreises zu schützen13. Zum einen geht es darum, zu vermeiden, dass unliebsame Dritte in den Gesellschafterkreis eintreten. Zum anderen soll, je nach Lage des Einzelfalls, die Vinkulierung Schutz davor bieten, dass sich bei unverändertem Gesellschafterkreis die Beteiligungsquoten und mit ihr

__________ 7 Vgl. dazu die Nachweise bei K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 45 III 2. a). 8 Vgl. zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts Ulmer/C. Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 719 BGB Rz. 25 ff.; Piehler/Schulte in MünchHdb. GesR, Band 1 – GbR/OHG, 3. Aufl. 2009, § 10 Rz. 111; Giefers/Ruhkamp, Die GbR, 5. Aufl. 2003, Rz. 476, jew. m. w. N. Zur Personenhandelsgesellschaft Habersack/C. Schäfer, Das Recht der OHG, 2010, § 105 Rz. 291, 294. 9 Vgl. nur Ulmer/C. Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 719 BGB Rz. 27; H. P. Westermann in Erman, 12. Aufl. 2008, § 719 BGB Rz. 8. 10 Langenfeld, Die GbR, 5. Aufl. 1999, S. 38; Kraft/Kreutz, GesR, 11. Aufl. 2000, S. 167. Selbst wenn der Gesellschaftsvertrag eine ausdrückliche Regelung enthält, wonach die Beteiligung an einen Nichtgesellschafter der Zustimmung der Mitgesellschafter bedarf, ist nicht ohne weiteres der Umkehrschluss gerechtfertigt, dass die Übertragung von einem Gesellschafter auf einen Mitgesellschafter zustimmungsfrei erfolgen kann. Vgl. zum Parallelfall bei der GmbH BGH, GmbHR 1986, 345; außerdem Piehler/Schulte (Fn. 8), § 73 Rz. 6. 11 Vgl. zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts Ulmer/C. Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 719 BGB Rz. 27; zur OHG Habersack/C. Schäfer, Das Recht der OHG, 2010, § 105 Rz. 294. 12 S. die Nachw. in Fn. 8. 13 Zutr. K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 45 III 2.

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regelmäßig einhergehend die Stimmrechtsverhältnisse in der Gesellschaft ohne Zustimmung der Mitgesellschafter ändern14. 2. Vinkulierung des GmbH-Anteils § 15 GmbHG ermöglicht es, die Abtretung der Geschäftsanteile an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) mittels Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in den Gesellschaftsvertrag an weitere als die in § 15 Abs. 3 und 4 GmbHG genannten Voraussetzungen zu knüpfen, wobei die Abtretung insbesondere von der Genehmigung der Gesellschaft – aber auch von der Genehmigung durch bestimmte einzelne oder alle Gesellschafter oder Gesellschaftergruppen – abhängig gemacht werden kann. Eine solche Satzungsbestimmung muss nicht notwendigerweise sämtliche Abtretungsfälle erfassen, sondern kann auch bestimmte Situationen vom Zustimmungserfordernis befreien oder umgekehrt die Zustimmung nur für bestimmte Fälle verlangen15. 3. Zwischenfazit Vor diesem Hintergrund bedarf es der näheren Begründung, wenn die rechtsgeschäftlich nur mit Zustimmung der Mitgesellschafter erreichbare Übertragung der gebundenen Beteiligung im Wege der Abspaltung oder Ausgliederung zustimmungsfrei möglich sein soll. Denn auch die Spaltung ist Rechtsgeschäft, auch wenn die Spaltungsfolge des Vermögensübergangs nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 UmwG auf gesetzlicher Anordnung beruht; Grundlage dessen ist aber der rechtsgeschäftlich begründete Spaltungsplan oder -vertrag.

III. Sachlage bei der Verschmelzung Der Gesetzgeber hat die Streichung von § 132 UmwG damit begründet, dass die Gesamtrechtsnachfolge bei Verschmelzungen und Spaltungen zukünftig denselben Grundsätzen zu unterwerfen sei16. Der Schutz der Interessen Dritter, welche durch den Übergang von Vermögensgegenständen betroffen sein könnten, namentlich sich infolge der umfassenden oder partiellen Gesamtrechtsnachfolge mit neuen Vertragspartnern auseinanderzusetzen hätten, sei aus den allgemeinen Vorschriften zu entwickeln17. Ihnen stünden gegebenenfalls Kündigungen, Rücktritt oder ähnliche Maßnahmen zur Verfügung18.

__________ 14 Vgl. treffend zum Zweck der Vinkulierung etwa BGH, WM 1976, 204, 205. 15 Eingeh. Winter/Löbbe (Fn. 2), § 15 Rz. 210 ff.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 15 GmbHG Rz. 37 ff. 16 RegE eines zweiten Gesetzes zur Änderung des UmwG, BR-Drucks. 548/06, S. 41. 17 RegE eines zweiten Gesetzes zur Änderung des UmwG, BR-Drucks. 548/06, S. 41. 18 Zust. zu dieser Entscheidung des Gesetzgebers u. a. Bayer/Schmidt, NZG 2006, 841, 845; Drinhausen, BB 2006, 2313, 2315; Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins e.V., NZG 2006, 737, 743; Heckschen, DNotZ 2007, 444, 451; Kallmeyer, GmbHR 2006, 418, 421; Müller, NZG 2006, 491, 493; kritisch demgegenüber Mayer/Weiler, DB 2007, 1291, 1291.

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Nimmt man dieses, sich freilich nur in den Gesetzesmaterialien findende, immerhin aber wohl in den Generalverweis auf die Verschmelzungsregeln in § 125 Satz 1 UmwG hineinlesbare Bekenntnis zum Gleichklang von Spaltung und Verschmelzung zum Ausgangspunkt, so liegt es nahe, zunächst die Rechtslage bei der Verschmelzung in den Blick zu nehmen, um alsdann zu prüfen, ob für die Spaltung Entsprechendes gilt. 1. Spezifika der Verschmelzung Die Verschmelzung ist ihrem Wesen nach durch zwei im vorliegenden Kontext relevante Merkmale19 gekennzeichnet, die kraft Gesetzes mit Wirksamwerden der Verschmelzung eintreten. Erstens erlischt der übertragende, sich verschmelzende Rechtsträger, ohne dass es der Liquidation bedarf, § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG. Zweitens geht das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers einschließlich der Verbindlichkeiten auf den übernehmenden Rechtsträger über, § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. Von den vier denkbaren Lösungsansätzen, die für das Schicksal der gebundenen, rechtsgeschäftlich nicht übertragbaren Beteiligung bei der Verschmelzung grundsätzlich in Betracht kommen, verbleiben vor dem Hintergrund dieser Spezifika lediglich zwei. Von vornherein auszuscheiden ist die Möglichkeit, dass der übertragende Rechtsträger trotz Wirksamwerdens der Verschmelzung nicht erlischt, sondern weiterhin als Zuordnungssubjekt der (immobilen) Beteiligung bestehen bleibt bzw. sein Fortbestehen für diesen Zweck zumindest fingiert wird. Die damit einhergehende, fundamentale Abweichung von § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG wäre schwerlich begründbar und ein (womöglich unerkannter) Fortbestand des übertragenden Rechtsträgers der gebotenen Rechtssicherheit abträglich. Das Ergebnis wäre auch nicht interessengerecht, weil den Mitgesellschaftern des übertragenden Rechtsträgers die Fortsetzung eines Gesellschaftsverhältnisses mit einem im Übrigen vollends seines Vermögens beraubten Rechtsträger nicht zumutbar wäre. Dieser Lösungsansatz, Fortbestand des übertragenden Rechtsträgers trotz Wirksamwerdens der Verschmelzung, wird denn auch – anders als bei der Aufspaltung20 – soweit ersichtlich nirgendwo vertreten. Ebenso verbietet sich der zweite, kategorisch immerhin denkbare Lösungsansatz, dass die gebundene Beteiligung, weil sie nicht übertragbar ist, ersatzlos erlischt. Der damit verbundene Vermögenszugewinn der Mitgesellschafter wäre nicht zu rechtfertigen und den Anteilsinhabern des übertragenden Rechtsträgers nicht zumutbar. Es verbleibt nur die dritte Möglichkeit, dass der umfassende Vermögensübergang vom übertragenden auf den übernehmenden Rechtsträger zwar Anerkennung findet, sich die Mitgliedschaft aber nicht in der Person des übernehmenden Rechtsträgers fortsetzt, sondern an ihre Stelle ein Surrogat, namentlich ein

__________ 19 Das dritte die Verschmelzung kennzeichnende Merkmal, dass die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers zu Anteilsinhabern des übernehmenden Rechtsträgers werden, § 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG, ist vorliegend nicht relevant. 20 S. Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 21; dazu noch unten IV. 3.

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Abfindungsanspruch, tritt. Viertens könnte der übernehmende Rechtsträger, ebenso wie hinsichtlich anderer Vermögensgegenstände, auch im Hinblick auf die gebundene Beteiligung dem übertragenden Rechtsträger nachfolgen. Zu entscheiden ist also zwischen dem die Beteiligung unberührt lassenden, der Figur der Universalsukzession entsprechenden Rechtsübergang einerseits und der Ersetzung der gebunden Beteiligung durch ein Surrogat andererseits. 2. Meinungsstand zur GmbH und AG Die erste Alternative, also Vorrang der Universalsukzession und Übergang der gebundenen Beteiligung auf den übernehmenden Rechtsträger, mit dem die Gesellschaft fortgesetzt wird, entspricht für den vinkulierten GmbH-Anteil der einhelligen Auffassung im Schrifttum21; für die vinkulierte Namensaktie in der Aktiengesellschaft (AG) gilt dasselbe22. Übertragungshindernisse der Einzelrechtsnachfolge sollen nicht auf die Gesamtrechtsnachfolge durchschlagen23. Im Zusammenhang mit der Verschmelzung wird jedoch vereinzelt die Ansicht vertreten, sich unzulässigerweise auf die Gesamtrechtsnachfolge beziehende Vinkulierungen seien nach den Umständen des Einzelfalls für den Verschmelzungsfall in ein Ausschlussrecht umzudeuten24.

__________ 21 Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 20 UmwG Rz. 7; Vossius in Widmann/ Mayer, § 20 UmwG Rz. 156 mit dem Hinweis, dass die Satzung der GmbH, deren Anteile übertragen werden, so ausgelegt werden kann, dass die GmbH bei Inhaberwechsel zur Einziehung der Anteile berechtigt ist; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 63; Schäffler in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 20 UmwG Rz. 12; Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, 1995, § 20 UmwG Rz. 14; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 20 UmwG Rz. 22; Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 17; Riegger in FS Bezzenberger, 2000, S. 279, 281; Reichert/ Weller, Der GmbH-Geschäftsanteil, 2006, § 15, 363; H. Winter/Seibt in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 15 GmbHG Rz. 113. 22 Nach wohl einhelliger Auffassung betrifft § 68 Abs. 2 AktG ausschließlich Fälle der rechtsgeschäftlichen Übertragung von Namensaktien; Vinkulierungsbestimmungen in der Satzung sollen durch die Verschmelzung und die mit ihr einhergehende Universalsukzession überwunden werden, vgl. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 68 AktG Rz. 11; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 68 AktG Rz. 22; Heinrich in AnwKomm., 2. Aufl. 2007, § 68 AktG Rz. 14; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 68 AktG Rz. 52; Cahn in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 68 AktG Rz. 32 f.; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 68 AktG Rz. 6 und Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 68 AktG Rz. 283. 23 Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 131 UmwG Rz. 21. 24 Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 20 UmwG Rz. 22, der festhält, dass ein Ausschluss der Übertragung im Verschmelzungsvertrag nicht möglich sei, da die Anteile mit dem Erlöschen des übertragenden Rechtsträgers herrenlos würden, es soll jedoch möglich sein, in der Satzung der AG oder GmbH eine Regelung einzufügen, die den als übertragenden Rechtsträger in eine Verschmelzung involvierten Mitgesellschafter entweder aus der Gesellschaft ausschließt oder ihn dazu verpflichtet, seine Anteile auf die Mitgesellschafter zu übertragen, wobei im Einzelfall zu ermitteln sei, ob und inwieweit Vinkulierungs- und Ausschlussklauseln eine solche Rechtsfolge entnommen werden kann; Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 17; Riegger in FS Bezzenberger, 2000, S. 279, 281, der zwischen AG und

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3. Meinungsstand bei Personengesellschaften Demgegenüber ist das Schicksal der Beteiligung an der GbR, an einer oHG oder als persönlich haftender Gesellschafter einer KG25 bei der Verschmelzung in der Literatur Gegenstand einer nach wie vor streitigen und nicht in allen Einzelheiten übersichtlichen Diskussion. Dazu trägt die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten, die den Gesellschaftern in der Personengesellschaft für die privatautonome Regelung ihrer Rechtsbeziehungen im Gesellschaftsvertrag offenstehen, maßgeblich bei. Für den Fall, dass in Ermanglung abweichender Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag das gesetzliche Regelstatut gilt, lassen sich in der Diskussion zwei Meinungslager unterscheiden: Nach der einen Auffassung steht die verschmelzungsbedingte Vollbeendigung der Gesellschafter-Gesellschaft dem Tod der natürlichen Person gleich. Danach soll die Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit Wirksamwerden der Verschmelzung aufgelöst sein, § 727 Abs. 1 BGB, während in der OHG der übertragende Rechtsträger entsprechend § 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB aus der Gesellschaft ausscheide. An die Stelle seines Anteils trete ein Abfindungsanspruch, der dem übernehmenden Rechtsträger zustehe. Nach der gegenläufigen, inzwischen wohl vorherrschenden Auffassung geht der Anteil im Wege der Verschmelzung dagegen grundsätzlich auf den übernehmenden Rechtsträger über. a) Der restriktive Ansatz Zentraler gesetzlicher Anknüpfungspunkt derjenigen, die eine Fortsetzung der Gesellschaft unter Anerkennung des Übergangs der Beteiligung auf den aufnehmenden Rechtsträger ablehnen, ist § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG, nach dem der übertragende Rechtsträger mit Wirksamwerden der Verschmelzung liquidationslos erlischt. Denn das Erlöschen stehe dem Tod der natürlichen Person gleich. Diese Auffassung wird nach wie vor von einer Reihe von Autoren vertreten26. Auch nach dieser Meinung soll aber, wenn der Gesellschafts-

__________ GmbH differenziert, weil bei der AG eine Zwangseinziehung der Aktien nach § 237 AktG in der Praxis so gut wie nie in die Satzung aufgenommen werde, und hinsichtlich der GmbH zur Vorsicht rät, was die „Umdeutung“ einer Vinkulierungsbestimmung in ein Ausschluss- bzw. Einzugsrecht betrifft, in einem solchen Fall müsse immer aus der Satzung heraus der Sinn der konkreten Satzungsregelung ermittelt werden und eine Umdeutung sei nur vorzunehmen, wenn ganz konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vinkulierungsklausel gerade den Übergang des Geschäftsanteils auf den übernehmenden Rechtsträger verhindern sollte. 25 Die Kommanditistenstellung ist wegen § 177 HGB aus dem Kreis der höchstpersönlichen und deshalb umwandlungsrechtlich problematischen Beteiligungen demgegenüber ausgeschieden. 26 Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 18 f.; Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 20 UmwG Rz. 7; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 64 ff.; Schäffler in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 20 UmwG Rz. 13 ff.; Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 131 HGB Rz. 21; Kamanabrou in Oetker, 2. Aufl. 2011, § 131 HGB Rz. 28; Klöhn in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 131 HGB Rz. 44.

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vertrag eine Nachfolgeklausel enthalte, wonach der Erbe in die Gesellschaft eintrete und diese mit dem Erben fortgesetzt werde, oder sich sonst aus dem Vertrag oder aus den Umständen eine grundsätzliche Übertragbarkeit der Beteiligung ergebe, diese Wertung auch für den Fall der Rechtsnachfolge kraft Verschmelzung gelten, die Beteiligung also unverändert übergehen. b) Der umwandlungsfreundliche Ansatz Die gegenläufige, im Vordringen begriffene Auffassung spricht sich für einen uneingeschränkten Übergang der Beteiligung aus27. Sie verweist auf den Unterschied zwischen dem Tod einer natürlichen Person und der verschmelzungsbedingten Vollbeendigung einer Gesellschafter-Gesellschaft und hebt auf die Interessenlage der Beteiligten ab, der eine Anwendung der § 727 BGB, § 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB nicht Rechnung trage. Ihr gesetzlicher Anknüpfungspunkt ist § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG, wonach das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers mit Wirksamwerden der Verschmelzung vollumfänglich auf den übernehmenden Rechtsträger übergeht. c) Kritische Würdigung Gegen den restriktiven Ansatz, der auf einer Betonung des höchstpersönlichen Charakters der Beteiligung einerseits und der Vergleichbarkeit von Tod und verschmelzungsbedingter Vollbeendigung der Gesellschafter-Gesellschaft andererseits beruht, sind eine Reihe von Einwendungen zu erheben. Diese Auffassung lässt unberücksichtigt, dass der übertragende Rechtsträger vollumfänglich in dem aufnehmenden Rechtsträger aufgeht, und deshalb gerade nicht ersatzlos wegfällt, sondern in der ihm nachfolgenden Rechtsperson gleichsam fortlebt28. Das gilt zumal in wirtschaftlicher Hinsicht, weil das Prinzip der Universalsukzession sicherstellt, dass alle Rechte, Vermögens- und Anspruchspositionen – kurz das Unternehmen des übertragenden Rechtsträgers, das für die Mitgesellschafter als Grundlage für die gemeinsame Fortsetzung der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein mag – in der Person des übernehmenden Rechtsträgers unverändert für die gemeinsame Zweckverfolgung zur Verfügung stehen29. Dass sich mit der Verschmelzung bei dem fraglichen Gesellschafter eine Veränderung des Gesamtvermögens und gegebenenfalls ein Wechsel im Kreis der geschäftsführenden Personen einstellt, ist demgegenüber kein relevanter Aspekt, weil diese Veränderungen auch bei Fortbestand des

__________

27 Vossius in Widmann/Mayer, § 20 UmwG Rz. 159 ff.; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 131 UmwG Rz. 20 f.; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 20 UmwG Rz. 24 f.; Riegger in FS Bezzenberger, 2000, S. 382 ff.; C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 83 f.; Lorz in Ebenroth/Bonjang/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 131 HGB Rz. 44; Ulmer/C. Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 727 BGB Rz. 8; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2006, § 131 HGB Rz. 96; Dreyer, JZ 2007, 606, 612; Koller in Koller/Roth/Morck, 6. Aufl. 2007, § 131 HGB Rz. 22. 28 Vgl. C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 84, ebenso schon Ulmer in der Vorauflage. 29 Vgl. Riegger in FS Bezzenberger, 2000, S. 383 unter Hinweis auf RGZ 123, 289, 295.

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übertragenden Rechtsträgers eintreten könnten und von den Mitgesellschaftern grundsätzlich hinzunehmen wären. Zur Rechfertigung der These, dass das verschmelzungsbedingte, liquidationslose Erlöschen einer Gesellschafter-Gesellschaft dem Tod der natürlichen Person gleichzusetzen sei, reicht auch die Tatsache nicht aus, dass es in beiden Fällen zu einem Wegfall der Rechtsperson als Zuordnungssubjekt für die in der Beteiligung gebündelte Rechte- und Pflichtenstellung kommt. Damit erschöpft sich die Problematik nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob die im Gesetz – und gegebenenfalls im Gesellschaftsvertrag – getroffenen Regeln für den Tod des Mitgesellschafters gleichermaßen auch für das verschmelzungsbedingte Erlöschen einer Gesellschaft passen. Ob sie, anders gewendet, von den Gesellschaftern, wenn sie den Fall bedacht hätten, ebenso vereinbart worden wären. Deshalb erweist sich die Streitfrage als eine Frage der Vertragsauslegung, deren Beantwortung, wenn der Gesellschaftsvertrag schweigt, von dem mutmaßlichen Willen der Gesellschafter abhängt30. Weder die automatische Auflösung der Gesellschaft noch die Belastung mit einem Abfindungsanspruch infolge einer Verschmelzung liegen indessen im Regelfall im Interesse der Mitgesellschafter. Erst recht passen diese Rechtsfolgen bei der zweigliedrigen Gesellschaft nicht. Gegen die restriktive Auffassung spricht weiter, dass die fehlende Zustimmung zur Anteilsübertragung nach allgemeinen Grundsätzen zunächst nur zur schwebenden Unwirksamkeit der Verfügung führt, diese bei Nachholung der Zustimmung aber wirksam wird. Mit der im Vordringen begriffenen Auffassung ist deshalb davon auszugehen, dass die Verschmelzung keinen absoluten Auflösungs- bzw. Ausscheidensgrund darstellt, und zwar selbst dann nicht, wenn der Gesellschaftsvertrag die Übertragbarkeit der Mitgliedschaft ausdrücklich ausschließt31. Die Lösung ist vielmehr darin zu suchen, den Mitgesellschaftern das Recht zuzusprechen, den Ausschluss des übernehmenden Rechtsträgers oder die Auflösung der Gesellschaft zu betreiben, wenn ihnen eine Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses mit dem neuen Gesellschafter nicht zumutbar ist32. Die Begründung hierfür kann allerdings nicht im bloßen Wechsel in der Mitgliedschaft gefunden werden, sondern muss sich auf eine konkrete Veränderung der Verhältnisse stützen, namentlich auf für die Mitgesellschafter nicht akzeptable Besonderheiten des aufnehmenden Rechtsträgers, wie etwa eine von ihm verfolgte Wettbewerbstätigkeit, mangelnde Vertragstreue in der Vergangenheit oder fehlende Kreditwürdigkeit.

__________ 30 Zutr. Riegger in FS Bezzenberger, 2000, S. 379, 384 m. w. N.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2006, § 131 HGB Rz. 68 mit der zutr. Feststellung, dass der auf den Tod der natürlichen Person zugeschnittene § 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB auf das Erlöschen durch Verschmelzung nicht passe. 31 Pointiert und zutr. C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 84 m. w. N. in Fn. 217. 32 Zutr. Vossius in Widmann/Mayer, § 20 UmwG Rz. 159 ff.; C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 84. K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2006, § 131 HGB Rz. 84; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 20 UmwG Rz. 21 jew. m. w. N.

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Dass es in der Sache um eine Frage der Vertragsauslegung unter Berücksichtigung der Interessen der Gesellschafter geht, findet Bestätigung darin, dass im Gesellschaftsvertrag die Unübertragbarkeit der Anteile für den Fall der umwandlungsrechtlichen Universalsukzession vorgesehen werden kann33. Die Parteien können also den Fall des liquidationslosen Erlöschens der beteiligten Gesellschafter-Gesellschaft infolge einer Verschmelzung mit denselben Rechtsfolgen belegen, die für den Fall des Todes einer natürlichen Person im Gesetz bestimmt sind. Tun sie dies nicht, ist indessen vom Übergang der Beteiligung und der Fortsetzung der Gesellschaft mit dem übernehmenden Rechtsträger auszugehen34. Es lässt sich danach festhalten, dass die Frage der Rechtsfolgen einer Verschmelzung für die Beteiligung des übertragenden Rechtsträgers an einer Personengesellschaft umwandlungsrechtlich nur insoweit vorgeprägt sind, als der übertragende Rechtsträger an der Gesellschaft nicht mehr beteiligt sein kann, weil er liquidationslos erlischt. Welche Konsequenzen der Übergang der Beteiligung auf den übernehmenden Rechtsträger hat, bestimmt sich nach Maßgabe des Gesellschaftsvertrags, der unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Mitgesellschafter auszulegen ist. Das Dogma der Höchstpersönlichkeit der Beteiligung an der Personengesellschaft steht jedenfalls der Anerkennung der umwandlungsrechtlichen Rechtsnachfolge in die Beteiligung richtigerweise nicht entgegen. Insofern sind gebundene Beteiligungen in der Personengesellschaft nicht anders zu behandeln als vinkulierte GmbH-Anteile.

IV. Sachlage bei der Spaltung 1. Spezifika der Spaltung Ist bei der Verschmelzung von einem Übergang der gebunden Beteiligung auszugehen und sind die Mitgesellschafter darauf verwiesen, gegebenenfalls den Ausschluss des übernehmenden Rechtsträgers oder die Auflösung der Gesellschaft zu betreiben, so fragt sich, ob für die Spaltung dasselbe gilt. Denn alle Formen der Spaltung unterscheiden sich von der Verschmelzung dadurch, dass es nicht zu einer Universalsukzession des aufnehmenden Rechtsträgers in das Gesamtvermögen des übertragenen Rechtsträgers kommt, sondern der jeweils übernehmende Rechtsträger nur ein Teilvermögen des übertragenden Rechtsträgers aufnimmt („partielle“ Gesamtrechtsnachfolge). Das geht einher mit der Anerkennung des Grundsatzes der Spaltungsfreiheit35. Danach haben es die beteiligten Rechtsträger grundsätzlich in der Hand, welche Vermögensgegenstände sie dem jeweils übergehenden Vermögen zuweisen und welche (bei der Aufspaltung) auf einen anderen übernehmenden Rechtsträger übertragen wer-

__________ 33 Zutr. C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 84 a. E. 34 Dies kann indes nicht für die GmbH gelten, da dort der Kapitalschutz vorgeht, vgl. statt aller Rubel/Sandhaus, Der Konzern 2009, 327, 332; Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 17. 35 Vgl. dazu statt aller Maier-Reimer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 133 UmwG Rz. 1 m. w. N.

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den, bzw. (bei Abspaltung und Ausgliederung) bei dem übertragenden Rechtsträger zurückbleiben. Hinzu kommt, dass bei der Abspaltung und bei der Ausgliederung der übertragende Rechtsträger, anders als bei der Verschmelzung, nicht erlischt, sondern fortbesteht; nur bei der Aufspaltung erlischt der übertragende Rechtsträger wie bei der Verschmelzung liquidationslos. Die beiden oben herausgestellten Spezifika der Verschmelzung, nämlich universaler Vermögensübergang auf den übernehmenden Rechtsträger und ersatzloser Wegfall des übertragenden Rechtsträgers, gelten für Ausgliederung und Abspaltung also gerade nicht. Zu prüfen ist, ob sich deshalb für das Schicksal der gebundenen Beteiligung, die auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen soll, gegenüber der Verschmelzung Abweichendes ergibt. 2. Meinungsstand zur GmbH und AG Die inzwischen vorherrschende Auffassung zum gebundenen Anteil in der Kapitalgesellschaft überträgt die für die Verschmelzung geltenden Grundsätze auf die Spaltungsfälle und votiert für Vorrang des Umwandlungsrechts. Grundsätzlich kommt es also trotz Vinkulierung zu einem Übergang der gebundenen Beteiligung36. 3. Meinungsstand bei Personengesellschaften Demgegenüber ist die Frage nach dem Schicksal der Beteiligung an einer Personengesellschaft bei der Spaltung gleichermaßen streitig wie bei der Verschmelzung. a) Der restriktive Ansatz Nach einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum soll die Übertragung des Anteils im Wege der partiellen Gesamtrechtsnachfolge – vorbehaltlich spezieller gesellschaftsvertraglicher Regelungen oder der Umstände des Einzelfalls – ausgeschlossen sein. Stattdessen soll es, bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, zur Auflösung der Gesellschaft oder, bei der Personenhandelsgesellschaft, zu deren Fortsetzung ohne den übertragenden oder den übernehmenden Rechts-

__________ 36 Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 38 m. Verweis auf § 20 UmwG Rz. 63; Schröer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 131 UmwG Rz. 25, der explizit festhält, Anteile an Kapitalgesellschaften seien auch bei ausdrücklicher Vinkulierung grundsätzlich frei übertragbar, da die Vinkulierung die Gesamtrechtsnachfolge grundsätzlich nicht erfasse; Vossius in Widmann/Mayer, § 131 UmwG Rz. 74 m. Verweis auf § 20 UmwG Rz. 156; Raible in Maulbetsch/Klumpp/ Rose, 2009, § 131 UmwG Rz. 48. Restriktiver demgegenüber wohl noch Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 53; ebenso, freilich vor Aufhebung von § 132 UmwG, u. a. auch H. Winter/Seibt (Fn. 21), § 15 GmbHG Rz. 113 m. w. N. aus dem älteren Schrifttum.

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träger kommen37, oder der Anteil soll ohne Zustimmung der übrigen Gesellschafter trotz Eintragung der Spaltung bei dem übertragenden Rechtsträger verbleiben38. Vereinzelt wird auch von Vertretern dieser Auffassung indessen die Frage aufgeworfen, ob die Zustimmungskompetenz der übrigen Gesellschafter durch die Spaltung überhaupt berührt wird. Dies sei nicht der Fall, wenn die Gesellschaft auf die Beteiligung juristischer Personen ausgerichtet ist39. b) Der umwandlungsfreundliche Ansatz Nach der Gegenansicht ist demgegenüber auch in Bezug auf die Übertragung von Anteilen an einer Personengesellschaft von einer Rechtsnachfolge des übernehmenden Rechtsträgers auszugehen, ohne dass eine Zustimmung der Mitgesellschafter erforderlich wäre40. c) Stellungnahme Zu folgen ist der umwandlungsfreundlichen Auffassung. Das folgt aus der Gleichsetzung der Spaltung mit der Verschmelzung. Zur Verschmelzung hat sich gezeigt, dass einem Übergang der Beteiligung auch bei der Personengesellschaft die angenommene Rechtsnatur der Höchstpersönlichkeit der Mitgliedschaft nicht entgegensteht. Vielmehr ergeben sich aus der Höchstpersönlichkeit des Gesellschaftsverhältnisses lediglich Auswirkungen auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gesellschaftsverhältnis mit dem übernehmenden Rechtsträger fortzusetzen ist. Das kann für die Aufspaltung schon deshalb nicht anders sein, weil der übertragende Rechtsträger mit Wirksamwerden der Aufspaltung liquidationslos erlischt. Weil es ein trägerloses Recht nicht gibt und die gebundene Beteiligung auch nicht ersatzlos unter-

__________ 37 Schröer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 131 UmwG Rz. 25; Hörtnagl in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 38; Fuhrmann/Simon, AG 2000, 49, 56 f., die von der grundsätzlichen Möglichkeit zur Ausgliederung eines oHG- nicht aber eines GbR-Anteils ausgehen; zu § 20 UmwG auch Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 20 Rz. 7; Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 18 f.; Schäffler in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 20 UmwG Rz. 13 ff.; Keßler in Keßler/Kühnberger, 2009, § 20 UmwG Rz. 9. 38 So hierzu Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 52; Raible in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 131 UmwG Rz. 48 sowie Fuhrmann/Simon, AG 2000, 49, 57. 39 Vgl. Teichmann in Lutter, § 131 UmwG Rz. 52 (der die Höchstpersönlichkeit durch eine Interessenabwägung bestimmen will und daher zu einer Höherbewertung der Interessen der Kapitalgesellschaften gelangt); Dreyer, JZ 2007, 606, 611; Rieble, ZIP 1997, 301, 307; wohl auch Schröer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 131 UmwG Rz. 25. 40 Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 131 UmwG Rz. 22 und § 20 UmwG Rz. 20 f.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2006, § 131 HGB Rz. 96; Vossius in Widmann/Mayer, § 131 UmwG Rz. 74 i. V. m. § 20 UmwG Rz. 159 ff.; Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 20 UmwG Rz. 25; C. Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 HGB Rz. 84; für den Fall, dass juristische Personen den Anteil halten, auch Wolf, Der Konzern 2003, 670 ff.; wohl auch Dreyer, JZ 2007, 606, 612.

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Die gebundene Beteiligung bei der Spaltung

gehen kann, bleibt nur die Anerkennung eines Rechtsnachfolgetatbestandes. Den schutzwerten Belangen der Mitgesellschafter ist wie bei der Verschmelzung Rechnung zu tragen. Nicht zu folgen ist demgegenüber einem in der Literatur vereinzelt vertretenen Ansatz, wonach trotz Wirksamwerdens der Aufspaltung ein Fortbestand des übertragenden Rechtsträgers in Erwägung zu ziehen ist41. Für eine solche der Rechtssicherheit abträgliche und den Interessen der Mitgesellschafter regelmäßig nicht gerecht werdende Durchbrechung von § 131 Abs. 1 Nr. 2 UmwG besteht weder Anlass noch Rechtfertigung. Für Abspaltung und Ausgliederung könnte anderes gelten, weil hier der übertragende Rechtsträger nicht in Wegfall gerät, sondern fortbesteht. Indessen ist auch insoweit von einem Vorrang der partiellen Gesamtrechtsnachfolge auszugehen, die Vinkulierungsklauseln überwindet. Es gilt das oben zur Verschmelzung Entwickelte entsprechend. Dass die Mitgliedschaft auch in der Personengesellschaft kein in dem Sinne höchstpersönliches Recht ist, dass die umwandlungsrechtliche Rechtsnachfolge in die Beteiligung kategorisch ausgeschlossen wäre, folgt daraus, dass nach dem heute erreichten Diskussionsstand die Mitgliedschaft grundsätzlich übertragbar ist. Selbst wenn die Mitgliedschaft nicht explizit im Gesellschaftsvertrag übertragbar ausgestaltet ist, besteht Einvernehmen darüber, dass bei Zustimmung aller Mitgesellschafter ein Übergang möglich ist42. Fehlt die erforderliche Zustimmung, ist die Übertragung deshalb zunächst auch nur schwebend unwirksam. Erst die Verweigerung oder Erteilung der Zustimmung zur Übertragung entscheidet endgültig, ob die Mitgliedschaft übertragen werden kann oder nicht. Demgemäß ist die Mitgliedschaft in der Personengesellschaft gerade nicht per se unübertragbar. Es kommt auf den Willen der Gesellschafter an. Bei der Frage der Übertragung der Mitgliedschaft geht es um den Schutz der Mitgesellschafter. Nur ihre Belange erfordern es, den Anteilsübergang von ihrer Zustimmung abhängig zu machen. Das ist von Karsten Schmidt zutreffend wie folgt auf den Punkt gebracht: „Die Mitgliedschaft ist kein ihrer Art nach unübertragbares Recht, sondern es müssen nur die Schutzbelange der Mitgesellschafter gewahrt bleiben“43. Die Mitgliedschaft in der Personengesellschaft gehört demgemäß nicht zur Gruppe der höchstpersönlichen Vermögensgegenstände, die auch nach Aufhebung von § 132 UmwG a. F. im Wege der Spaltung nicht auf einen übernehmenden Rechtsträger übergehen können. Gebundene Anteile gehen folglich auch bei der Abspaltung und der Ausgliederung grundsätzlich auf den übernehmenden Rechtsträger über.

__________ 41 Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 21, der entweder eine Analogie zu § 25 Abs. 2 UmwG in Betracht zieht, wonach der Fortbestand des Rechtsträgers fingiert wird und insoweit die bisherigen Organe weiterhandeln können, oder ein Fortbestehen des übertragenden Rechtsträgers etwa als Personengesellschaft i.L. oder als nicht beendete AG bzw. GmbH für möglich hält. 42 S. Nachw. in Fn. 8. 43 Vgl. K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 45 III.

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V. Schutzkonzept 1. Parallele zur Verschmelzung Kann danach die gebundene Beteiligung auch im Wege der Spaltung auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen, so fragt sich, wie der Schutz der Mitgesellschafter zu bewerkstelligen ist, die im Falle des rechtsgeschäftlichen Übergangs der Beteiligung eine Zustimmungskompetenz haben. Insoweit gilt zunächst nichts anderes als bei der Verschmelzung: Ist den Mitgesellschaftern die Fortsetzung der Gesellschaft mit dem übernehmenden Rechtsträger nicht zumutbar, können sie dessen Ausschluss oder die Auflösung der Gesellschaft betreiben44. 2. Missbräuchliche Nutzung der Spaltung zur Umgehung der Vinkulierung Unabhängig davon, ob die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses mit dem übernehmenden Rechtsträger den Mitgesellschaftern zumutbar ist oder nicht, sind die Mitgesellschafter im Übrigen vor einer missbräuchlichen Ausnutzung des Spaltungsrechts zum Zwecke der Umgehung von Vinkulierungen zu schützen. Ein solcher Rechtsmissbrauch ist namentlich dann anzunehmen, wenn die gebundene Beteiligung im Wesentlichen den einzigen Vermögensgegenstand bildet, der im Wege der Spaltung auf den übernehmenden Rechtsträger übertragen werden soll. In diesem Fall ist von einem Eintragungshindernis auszugehen, das das Handelsregister von Amts wegen zu beachten hat45. Darüber hinaus können, sofern die Eintragung gleichwohl erfolgt, die Mitgesellschafter in den Fällen der Abspaltung und der Ausgliederung die Wiederherstellung des vertragsgemäßen Zustandes verlangen, also Rückübertragung der gebundenen Beteiligung auf den fortbestehenden, übertragenden Rechtsträger46. Dass die Eintragung der Spaltung Spaltungsmängel heilt, steht nicht entgegen, denn es liegt ein fortdauernder Eingriff in die subjektive Rechtsposition der Mitgesellschafter vor47.

__________ 44 Dazu oben III. 3. 45 Cahn in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 68 AktG Rz. 33; Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 17; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 131 UmwG Rz. 19. S. auch LG Hamburg, ZIP 2005, 2331, worin es um die rechtsmissbräuchliche Durchführung einer Ausgliederung ging, die zur Folge hatte, dass das Handelsregister die Eintragung des angemeldeten Vertrags zu Recht ablehnte, da der Vertrag nicht wirksam war. 46 Vgl. in diesem Sinne bereits Teichmann in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 22; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 131 UmwG Rz. 19; Cahn in Spindler/ Stilz, 2. Aufl. 2010, § 68 AktG Rz. 33; Raible in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 131 UmwG Rz. 77; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 131 UmwG Rz. 114; Kort, AG 2010, 235 ff.; K. Schmidt in FS Ulmer, 2003, S. 557, 573 ff.; ders., ZIP 1998, 181, 187; a. A. wohl Kallmeyer/Sickinger in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 131 UmwG Rz. 16. 47 Vgl. K. Schmidt in FS Ulmer, 2003, S. 557, 573 ff.; ders., ZIP 1998, 181, 187; ferner Kort, AG 2010, 235 ff.; Raible in Maulbetsch/Klumpp/Rose, 2009, § 131 UmwG Rz. 77.

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Die gebundene Beteiligung bei der Spaltung

VI. Zusammenfassung 1. Die Beteiligung an einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder als persönlich haftender Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft geht nicht nur bei der Verschmelzung, sondern auch bei der Spaltung auf den übernehmenden Rechtsträger über. Das gilt auch dann, wenn die Beteiligung im Gesellschaftsvertrag nicht übertragbar gestellt ist. Es gilt der Vorrang des umwandlungsrechtlichen Prinzips der universellen bzw. partiellen Gesamtrechtsnachfolge. Für den vinkulierten GmbH-Anteil gilt nichts anderes. 2. Wenn den Mitgesellschaftern die Fortsetzung der Gesellschaft mit dem übernehmenden Rechtsträger nicht zumutbar ist, können sie den Ausschluss des übernehmenden Rechtsträgers oder die Auflösung der Gesellschaft betreiben. Bei Abspaltung und Ausgliederung kommt außerdem ein Anspruch auf Wiederherstellung des alten Zustands, also Rückübertragung der Beteiligung auf den übertragenden Rechtsträger, in Betracht. Entsprechendes gilt dann, wenn die Spaltung ersichtlich der Umgehung der Vinkulierung dient. Das ist im Zweifel anzunehmen, wenn die gebundene Beteiligung im Wesentlichen der einzige Vermögensgegenstand ist, der auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen soll. 3. Es ist Aufgabe der Kautelarpraxis, die Rechtsfolgen eines Beteiligungsübergangs infolge einer Verschmelzung oder Spaltung im Gesellschaftsvertrag zu regeln. Der Gesellschaftsvertrag kann den Beteiligungsübergang im Wege der umfassenden oder der partiellen Gesamtrechtsnachfolge allerdings nicht sperren. Er kann ihn durch Rückabwicklungs-, Einziehungs-, Ausschlussoder Auflösungsklauseln aber sanktionieren.

VII. Nachsatz Ob Martin Winter den vorstehenden Überlegungen zugestimmt hätte, bleibt offen. Gewiss ist, dass es außerordentlichen Ertrag versprochen hätte, sie mit ihm im kritischen Diskurs zu erörtern. Er kannte die Kategorien wie kein Zweiter.

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Georg Jaeger

Zur Problematik der Einbeziehung von „good leaver“Klauseln in die Regelung der variablen Vergütung von Vorstandsmitgliedern Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtlicher Prüfungsmaßstab für „good leaver“-Klauseln 1. AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB 2. Prüfung einer „unangemessenen Benachteiligung“ i.S. von § 307

Abs. 2 BGB durch die „good-leaver“Klausel innerhalb der variablen Vergütungsregelung 3. Rechtsfolgen inhaltlich überzogener und daher unangemessener „good leaver“-Klauseln

Die berufliche Verbindung, welche neben der engen persönlichen Freundschaft mit Martin Winter bestand, ist insbesondere in der gemeinsamen Tätigkeit an den Schnittstellen des Gesellschafts- und Arbeitsrechts zum Tragen gekommen. Aus diesem Grund behandelt der nachfolgende Beitrag, der zur Erinnerung an ihn gewidmet ist, eine der aktuellen Schnittstellen zwischen diesen beiden Rechtsgebieten.

I. Einführung Durch das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (nachfolgend „VorstAG“ zitiert) sind umfangreiche Änderungen im Bereich von § 87 AktG vorgenommen worden, durch den die gesetzlichen Vorgaben für die Vergütung der Vorstandsmitglieder einer AG getroffen werden. Zu den wichtigsten Änderungen des VorstAG zählt die Einfügung von § 87 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG; danach bestimmt Satz 2 den Grundsatz, wonach die Vergütungsstruktur bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten ist. Im nachfolgenden Satz 3 erfolgt eine Umsetzung dieses Grundsatzes für die variable Vergütung, welche nach den Vorgaben des Gesetzgebers eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben soll. Auch wenn die Vorschriften des § 87 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG nach ihrem Wortlaut unmittelbar nur für börsennotierte Aktiengesellschaften gelten, werden sie in der Praxis auch für nicht börsennotierte Gesellschaften angewandt, da die Ausrichtung der variablen Vergütung am Prinzip einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung ausweislich der Gesetzesmaterialien des VorstAG den Grundsätzen einer verantwortlichen Unternehmensführung entspricht und daher auch von den Aufsichtsorganen nicht börsennotierter Gesellschaften im Rah-

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Georg Jaeger

men der Vergütungsregelungen für die Vorstandsmitglieder zu berücksichtigen ist1. Die aus § 87 Abs. 1 Satz 3 AktG für variable Vergütungen folgende Vorgabe einer „mehrjährigen Bemessungsgrundlage“ erschöpft sich nach einhelliger Auffassung nicht etwa darin, dass lediglich die Fälligkeit der variablen Vergütung auf mehrere Raten in den Folgejahren aufzuteilen ist2. Vielmehr ist im Hinblick auf das zugrunde liegende Ziel der Sicherung einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung die Regelung der variablen Vergütung in der Weise auszugestalten, dass diejenigen Teile der variablen Vergütung, welche in die Folgejahre aufgeschoben werden (sog. Deferring) an der weiteren Entwicklung der Gesellschaft partizipieren und daher von der Erreichung entsprechender wirtschaftlicher Ziele zu den jeweiligen Stichtagen abhängig gemacht werden sollen. Dies erfolgt in der Praxis seit Inkrafttreten des VorstAG3 in der Regel dadurch, dass eine prozentuale Aufteilung der variablen Vergütung des Vorstandsmitglieds vorgenommen wird (z. B. Auszahlung in Höhe von 50 % der variablen Vergütung nach Feststellung des Jahresabschlusses sowie Aufschieben von jeweils 25 % auf die beiden Folgejahre), wobei die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung an die Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher Kennziffern geknüpft sind. Über diese Ausgestaltung der variablen Vergütung sollen die Vorstandsmitglieder dazu angehalten werden, anstelle kurzfristiger Erfolge eine nachhaltig positive Entwicklung der Gesellschaft zu verfolgen. Werden nämlich in den Folgejahren die wirtschaftlichen Kennziffern für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung nicht erreicht, so führt dies insoweit zum Entfallen ihres Vergütungsanspruchs. Neben diesem Abstellen auf die Erreichung wirtschaftlicher Kennziffern durch die Gesellschaft ist in der Praxis eine zunehmende Tendenz festzustellen, für die in Folgejahre aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung zusätzlich auf solche Voraussetzungen abzustellen, welche den Bestand des Dienstverhältnisses des Vorstandsmitglieds betreffen. Danach sollen die Ansprüche auch dann entfallen, wenn das Vorstandsmitglied zum jeweiligen Stichtag für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung aus seinem Dienstverhältnis mit der Gesellschaft ausgeschieden ist. Der Eintritt dieses Verfalls der noch offen stehenden Vergütungsansprüche wird lediglich für diejenigen Fälle ausgeschlossen, in denen das Vorstandsmitglied als sog. „good leaver“ ausgeschie-

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1 Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 16/13433, S. 10) sind die durch das VorstAG erfolgten Änderungen für die Vergütung der Vorstandsmitglieder einer AG nicht auf die Geschäftsführer einer GmbH, und zwar auch nicht der mitbestimmten GmbH, anzuwenden. Es entspricht daher einhelliger Auffassung (vgl. Jaeger in MünchKomm. GmbHG, § 35 GmbHG Rz. 305; Habersack, ZHR 174 [2010), 2 [7/8]; Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 [126]; Döring/Grau, DB 2009, 2139 [2140]), dass eine Geltungserstreckung von § 87 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG auf die Geschäftsführer-Vergütung ausgeschlossen ist. 2 Hüffer, 9. Aufl., § 87 AktG Rz. 4; Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl., § 87 AktG Rz. 32; Jaeger, NZA 2010, 128 (129); Hoffmann-Becking/Krieger, Beil. NZG 26/2009, S. 3 (4); Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (723). 3 Zur Frage der Anwendung des VorstAG auf die zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens bereits bestehenden Vorstandsdienstverträge vgl. Jaeger/Balke, ZIP 2010, 1471 ff.

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Zur Problematik der Einbeziehung von „good leaver“-Klauseln

den ist. Hierzu wird in aller Regel ein Katalog derjenigen Tatbestände aufgestellt, bei deren Eintritt das ausscheidende Vorstandsmitglied als „good leaver“ behandelt wird und deshalb seine Ansprüche auf variable Vergütung – vorbehaltlich der Erfüllung der wirtschaftlichen Ziele der Gesellschaft – behält. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass für alle übrigen Fälle des Ausscheidens des Vorstandsmitglieds die in die Folgejahre aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung unabhängig von einer nachhaltig erfolgreichen Entwicklung der Gesellschaft entfallen. Im folgenden Beitrag soll daher der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja mit welchem inhaltlichen Umfang es rechtlich zulässig ist, die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung eines Vorstandsmitglieds zusätzlich zu den Kriterien einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen, welche am Bestand des Dienstverhältnisses oder den Gründen seiner Beendigung anknüpfen.

II. Rechtlicher Prüfungsmaßstab für „good leaver“-Klauseln 1. AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB Für die Bestimmung des rechtlichen Prüfungsmaßstabes ist zunächst zu klären, ob die durch §§ 305 ff. BGB normierte AGB-Kontrolle auch für die Vergütungsregelungen in Vorstands-Anstellungsverträgen gilt. Dies erscheint in mehrfacher Hinsicht fraglich: a) Zunächst könnte dem Eingreifen der §§ 305 ff. BGB entgegenstehen, dass durch § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB mehrere Bereiche von der Geltung der AGBVorschriften ausgenommen wurden, zu denen auch das Gesellschaftsrecht zählt. Insoweit ist jedoch anerkannt4, dass die Ausnahme des Gesellschaftsrechts von der AGB-Kontrolle lediglich für das Organisationsstatut der Gesellschaft, d. h. die innergesellschaftlichen Regelungen gilt, wohingegen die von der Gesellschaft abgeschlossenen schuldrechtlichen Verträge und damit auch die Anstellungsverträge mit ihren Vorstandsmitgliedern nicht durch die Ausnahme-Regelung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB erfasst sind. b) Für den persönlichen Anwendungsbereich ist im Rahmen von § 310 Abs. 3 BGB erforderlich, dass es sich bei dem Vorstand um einen „Verbraucher“ handelt. Nach der Legaldefinition des § 13 BGB ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang das Eingreifen der zweiten Alternative, wonach im Abschluss eines Vorstands-Anstellungsvertrages die rechtsgeschäftliche Begründung zur anschließenden Ausübung einer selbständigen beruflichen Tätigkeit liegen könnte. Entscheidend ist somit, ob bei dem Abschluss eines Anstellungsvertrages durch das Vorstandsmitglied von

__________ 4 Thüsing/Granetzny, NZG 2010, 449 (453); Menke, NJW 2009, 636 (639); Bauer/ Arnold, ZIP 2006, 2337 (2338); Grüneberg in Palandt, 70. Aufl., § 310 BGB Rz. 49; Basedow in MünchKomm. BGB, 5. Aufl., § 310 BGB Rz. 80.

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einer solchen Selbständigkeit gesprochen werden kann, dass damit sein Status als „Verbraucher“ ausscheidet. Eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage durch den BGH ist bisher noch nicht erfolgt. Für den Personenkreis der GmbH-Geschäftsführer haben sowohl der BGH5 als auch das BAG6 den persönlichen Status der Geschäftsführer als „Verbraucher“ bejaht. Hieraus wird in der instanzgerichtlichen Rspr.7 sowie in der Lit.8 die Schlussfolgerung gezogen, dass dies in gleicher Weise auch für die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft gelten müsse. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sowohl der FremdGeschäftsführer als auch minderheitlich beteiligte Gesellschafter-Geschäftsführer dem Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung unterliegen (vgl. § 37 GmbHG), was gegen ihre berufliche Selbständigkeit i. S. von § 13 BGB spricht9. Demgegenüber ist den Vorstandsmitgliedern ein weitergehendes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung eingeräumt, da sie keinem Weisungsrecht des Aufsichtsrats und der Hauptversammlung unterworfen sind (vgl. § 76 Abs. 1/§ 119 Abs. 2 AktG). Gleichwohl ist auch den Vorstandsmitgliedern der „Verbraucher“-Status zuzuerkennen, und zwar aus folgenden Gründen: zunächst bereits deshalb, da die Ausübung der späteren Vorstandstätigkeit nicht mit dem Abschluss des Anstellungsvertrages gleichgesetzt werden darf. Während die Vorstandstätigkeit nämlich in eigener Verantwortung wahrgenommen werden darf, kann das Vorstandsmitglied bei Abschluss seines Anstellungsvertrages gerade nicht eigenverantwortlich und selbständig rechtsgeschäftlich handeln. Des weiteren ist zu beachten, dass nach der Zwecksetzung von § 13 BGB grundsätzlich nur solche beruflichen Tätigkeiten als selbständig zu qualifizieren sind, welche im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erfolgen, so dass das wirtschaftliche Risiko der Tätigkeit vom Vertragsabschließenden selbst getragen wird. Dies ist jedoch auch bei Vorstandsmitgliedern nicht der Fall, da sie das unternehmerische Risiko ihrer VorstandsTätigkeit nicht selbst tragen, sondern dies bei der von ihnen vertretenen Gesellschaft liegt10. Damit kommt den Vorstandsmitgliedern grundsätzlich der Status als „Verbraucher“ i. S. von § 13 BGB im Hinblick auf ihre Anstellungsverträge sowie die Vereinbarungen zur variablen Vergütung innerhalb des laufenden Anstellungsverhältnisses zu. Ein Ausnahme gilt – ebenso wie für den Bereich der GmbH-Geschäftsführer – lediglich für die Fälle, in denen das Vorstandsmitglied aufgrund seiner Kapitalbeteiligung einen maßgebenden Einfluss

__________ 5 BGH, NJW 2000, 3133 (3135/3136); BGH, NJW 1996, 2156 (2158) jeweils zur Frage, ob Geschäftsführer als „Verbraucher“ i. S. des VerbrKrG zu qualifizieren sind. 6 BAG, NZA 2010, 939 (940/941); vgl. hierzu auch Hümmerich, NZA 2006, 709 (710). 7 OLG Hamm, AG 2007, 910 (911/912). 8 Micklitz in MünchKomm. BGB, 5. Aufl., § 13 BGB Rz. 49; Bauer/Baeck/v. Medem, NZG 2010, 721 (723); kritisch hierzu jedoch Thüsing/Granetzny, NZG 2010, 449 (453), wonach bereits die Anerkennung des Verbraucher-Status für den Geschäftsführer als „verfehlt“ zu bezeichnen sei, aber bei konsequenter Fortführung dieser Rechtsprechung auch auf das Vorstandsmitglied zu übertragen sei. 9 Hierauf hebt insbesondere das BAG (Fn. 6) für die Anerkennung des „Verbraucher“Status eines Fremd-Geschäftsführers ab. 10 Auf diesen Gesichtspunkt stellt maßgebend das OLG Hamm (Fn. 7) zur Begründung des „Verbraucher“-Status für Vorstandsmitglieder ab.

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auf die Gesellschaft hat, so dass von einer Unternehmer-Stellung und einer damit einhergehenden Selbständigkeit gesprochen werden kann11. c) Neben dieser persönlichen Geltungsvoraussetzung verlangt § 310 Abs. 3 BGB, dass der Verbraucher auf die vom Unternehmen gestellten Regelungen keinen Einfluss nehmen konnte. Hierzu ist anerkannt12, dass für eine – die Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB ausschließende – Möglichkeit der Einflussnahme nicht erforderlich ist, dass es zu einer Änderung der vorformulierten Regelung gekommen ist. Vielmehr reicht es aus, dass sich das Unternehmen deutlich und ernsthaft zu Änderungen hinsichtlich der abzuschließenden Vereinbarung bereiterklärt hat und es deshalb bei den vorformulierten Regelungen geblieben ist, da der Betroffene sich im Rahmen ergebnisoffen geführter Verhandlungen von ihrer sachlichen Richtigkeit überzeugt hat. Bei realistischer bzw. praxisbezogener Betrachtung wird eine solche Möglichkeit der Einflussnahme des Vorstandsmitglieds auf die Regelungen zur variablen Vergütung in aller Regel nicht gegeben sein. Dies folgt bereits daraus, dass die Regelungen zur variablen Vergütung nach der durch das VorstAG vorgenommenen Erweiterung des Katalogs von § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG der Beschlussfassung durch das Plenum des Aufsichtsrats unterliegen. Sind die Festsetzungen zur variablen Vergütung durch das Plenum des Aufsichtsrats erfolgt, wozu nicht nur die qualitativen und quantitativen Ziele gehören, von deren Erreichung die Höhe der variablen Vergütung abhängt, sondern auch die wirtschaftlichen Kennziffern, welche für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung gesetzt werden, so werden die Vorstandsmitglieder diese vom Aufsichtsrat getroffenen Festsetzungen inhaltlich nicht mehr ändern können. Es fehlt daher an einer Möglichkeiten zur Einflussnahme i. S. von § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB, die nach h. M.13 gleichbedeutend mit einem Aushandeln von Vertragsbedingungen i. S. von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB zu verstehen ist. Für ein solches „Aushandeln“ genügt nämlich nicht, dass die einzelnen Regelungen inhaltlich erläutert und erörtert werden, vielmehr muss von Seiten der Gesellschaft bzw. des Aufsichtsrats deutlich und ernsthaft die Bereitschaft zur Änderung der vorgeschlagenen Regelungen erklärt werden, wofür im Streitfall die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast trägt14. Dieser Nachweis wird nur ausnahmsweise gelingen. Ein solcher Ausnahme-Fall liegt jedoch dann vor, wenn der Präsidial- oder Personal-Ausschuss im Vorfeld der Sitzung des Aufsichtsrats-Plenums mit den Vorstandsmitgliedern die Konditionen für ihre variable Vergütung i. S. von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im Einzelnen ausgehandelt hat. Zwar ist auf Seiten der Gesellschaft für die Entscheidung über die Vergütungsregelung das Plenum des Auf-

__________ 11 In diese Richtung deutend OLG Hamm, AG 2007, 910 (912) unter Hinweis auf Mülbert in FS Hadding, 2004, S. 575 (583 f.). 12 BAG, NZA 2010, 939 (941); BAG, NZA 2005, 1111 (1116); Preis in ErfurtKomm., 11. Aufl., §§ 305–310 BGB Rz. 24. 13 Preis in ErfurtKomm., 11. Aufl., §§ 305–310 BGB Rz. 24; Schlosser in Staudinger, Bearb. 2006, § 310 BGB Rz. 64 mit weiteren Nachweisen. 14 BAG, NZA 2010, 939 (941); BGH, NJW 2008, 2250 (2251); Grüneberg in Palandt, 70. Aufl., § 310 BGB Rz. 13.

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sichtsrats zuständig15. Übernimmt das Plenum des Aufsichtsrats jedoch bei seiner Beschlussfassung die durch den Präsidial- oder Personal-Ausschuss mit den Vorstandsmitgliedern ausgehandelte Regelung zur variablen Vergütung, so sind für diesen Fall die Voraussetzungen im Sinne der Möglichkeit einer Einflussnahme gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB bzw. einem Aushandeln gemäß § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB ausnahmsweise erfüllt, da die Vorstandsmitglieder den Inhalt der Regelung zur variablen Vergütung maßgebend mitbestimmen konnten. Von solchen Sachverhalten abgesehen bleibt es jedoch für alle übrigen Fälle bei dem Grundsatz, wonach die vom Aufsichtsrat beschlossenen Regelungen zur variablen Vergütung der Vorstandsmitglieder als von der Gesellschaft i. S. von § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB „gestellt“ gelten. Diese unterliegen daher als allgemeine Geschäftsbedingungen der Inhaltskontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB. 2. Prüfung einer „unangemessenen Benachteiligung“ i.S. von § 307 Abs. 2 BGB durch die „good-leaver“-Klausel innerhalb der variablen Vergütungsregelung Die in der Praxis anzutreffenden Regelungen zur variablen Vergütung der Vorstandsmitglieder bestimmen häufig für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung, dass diese nicht nur von der Erreichung der für die Folgejahre festgelegten wirtschaftlichen Ziele der Gesellschaft abhängen, sondern darüber hinaus an die persönliche Voraussetzung geknüpft sind, dass das Vorstandsmitglied zum jeweiligen Stichtag in den Diensten der Gesellschaft steht. Sofern diese persönliche Voraussetzung nicht erfüllt ist, wird die Zahlung des aufgeschobenen Teils der variablen Vergütung ausnahmsweise nur für die Fälle vorgesehen, dass das Vorstandsmitglied als sog. „good leaver“ ausgeschieden ist. Zu diesem Zwecke wird ein Katalog derjenigen Tatbestände definiert, für welche dem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied der Status eines „good leaver“ zuerkannt wird (z. B. Ausscheiden wegen Erreichen der Altersgrenze oder Eintritt einer dauerhaften Dienstunfähigkeit). Ist dagegen kein „good leaver“Tatbestand erfüllt, so entfällt für das ausgeschiedene Vorstandsmitglied der Anspruch auf den aufgeschobenen Teil der variablen Vergütung, auch wenn die hierfür maßgebenden wirtschaftlichen Ziele der Gesellschaft erreicht wurden. Da die durch das VorstAG erfolgte Einführung einer mehrjährigen Bemessungsgrundlage für variable Vergütungen in § 87 Abs. 1 Satz 3 AktG mit der vom Gesetzgeber ausdrücklich erklärten Zwecksetzung begründet wurde, eine nachhaltige Unternehmensentwicklung zu erreichen, stellt sich daher die Frage, ob es rechtlich zulässig ist, trotz der Erreichung der für die nachhaltige Unternehmensentwicklung festgeschriebenen wirtschaftlichen Ziele der Ge-

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15 Auch nach der Aufnahme der Vergütungsentscheidungen in den Katalog der plenumspflichtigen Entscheidungen des Aufsichtsrats nach § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG ist es weiterhin zulässig, dass ein Personal-Ausschuss zur Vorbereitung der Entscheidung des Aufsichtsrats-Plenums beschlussreife Vorlagen vorbereiten, vgl. Hüffer, 9. Aufl., § 107 AktG Rz. 18; Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl., § 107 AktG Rz. 88; Seibert, WM 2009, 1489 (1491); Hoffmann-Becking/Krieger, Beil. NZG 2006/2009, S. 1 (9).

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sellschaft gleichwohl dem Vorstandsmitglied die Zahlung der aufgeschobenen variablen Vergütung unter Hinweis darauf zu entziehen, dass es zwischenzeitlich aus den Diensten der Gesellschaft ausgeschieden sei. Durch die Koppelung des Anspruchs auf Zahlung der aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung an den Bestand des Dienstverhältnisses bzw. den „good leaver“-Status eines ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds werden zusätzliche Voraussetzungen aufgestellt, welche über die Intentionen des Gesetzgebers hinausgehen. Dies erscheint insbesondere deshalb bedenklich, da das Vorstandsmitglied seine Dienste für den jeweiligen Referenz-Zeitraum bereits in vollem Umfang erbracht hat, für welchen die ihm zustehende variable Vergütung – zu erheblichen Teilen – in die Folgejahre aufgeschoben wurde. Sind die hierfür gestellten (Erfolgs-)Ziele durch Erreichung der wirtschaftlichen Kennziffern erfüllt, so soll das Vorstandsmitglied seinen Anspruch auf die Vergütung allein deshalb verlieren, da es zu einem nach Ablauf des Referenz-Zeitraums liegenden Datum (z. B. im 2. Folgejahr) aus den Diensten der Gesellschaft ausgeschieden ist. Im Hinblick hierauf stellt sich die Frage, ob durch die von der Gesellschaft vorgegebene Ausgestaltung der variablen Vergütung in unzulässiger Weise in bereits erdiente Vergütungsansprüche des Vorstandsmitglieds für zurückliegende Zeiträume eingegriffen wird. Die hieraus folgende Problematik verschärft sich insbesondere bei eng gefassten „good leaver“-Klauseln, welche die typischen Fälle des Ausscheidens eines Vorstandsmitglieds (z. B. Nichtverlängerung der Bestellung und des Vorstands-Anstellungsvertrages) unberücksichtigt lassen und daher notwendigerweise dazu führen, dass das ausscheidende Vorstandsmitglied den Status eines „bad leaver“ trägt, so dass seine Ansprüche auf die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung entfallen. Es ist daher zu prüfen, ob und inwieweit in einer solchen Regelung zur variablen Vergütung eine unangemessene Benachteiligung i. S. von § 307 Abs. 1 BGB liegt. a) Nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist von einer „unangemessenen Benachteiligung“ auszugehen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. Zur Klärung der Frage, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, bedarf es einer Abwägung, bei welcher das Interesse des Unternehmens an der Aufrechterhaltung der Regelung dem Interesse des Vorstandsmitglieds an einer Ersetzung der vorgegebenen Klauseln durch die gesetzliche Regelung gegenüberzustellen ist16. Unter die Rechtsvorschriften i. S. von § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB fallen hierbei nicht nur gesetzliche Bestimmungen, sondern auch allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze und hierbei insbesondere auch die durch das Richterrecht entwickelten Rechtsgrundsätze sowie die sich aus der Natur des jeweiligen Vertragsverhältnisses ergebenden Haupt-Rechte und Pflichten17. Im Rahmen der Abwägung zwischen den wechselseitig bestehenden Interessen ist nach der Rechtsprechung des BAG18 ein genereller typisierender Maßstab anzulegen, bei welchem insbesondere die durch Art. 12 GG verfassungsrechtlich garantierte

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16 BAG, NZA 2009, 783 (784); BAG, NZA 2008, 1066 (1070). 17 BAG, NZA 2008, 1066 (1070); BAG, NZA 2008, 40 (42); BAG, NZA 2007, 87 (88). 18 BAG, NZA 2010, 1237 (1241); BAG, NZA 2009, 1337 (1340); BAG, NZA 2009, 783 (784); BAG, NZA 2008, 40 (42); BAG, NZA 2007, 853 (854).

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Berufsfreiheit zu beachten ist. Dies hat für den Bereich von Bindungs- und Stichtagsklauseln für Sondervergütungen dazu geführt, dass feste zeitliche Grenzen aufgestellt wurden, bei deren Überschreitung durch die jeweiligen Klauseln von einer unangemessenen Benachteiligung der Arbeitnehmer i. S. von § 307 BGB auszugehen ist. Danach darf bei Sondervergütungen von bis zu einem Monatsbezug eine Bindung bis zum 31.3. des Folgejahres und bei Sondervergütungen von bis zu zwei Monatsbezügen eine Bindung bis zum 30.6. des Folgejahres vorgenommen werden. b) Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Bindungs- bzw. „good leaver“-Klauseln für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung von Vorstandsmitgliedern muss jedoch aus mehreren Gründen ausscheiden: Zunächst bereits deshalb, da im Gegensatz zu den Sondervergütungen von Arbeitnehmern, für welche die vorstehend zitierte Rechtsprechung des BAG entwickelt wurde, der Anspruch auf die variable Vergütung des Vorstandsmitglieds mit Ablauf des jeweiligen Geschäftsjahres noch nicht rechtskräftig entstanden ist. Während bei der typischen Sondervergütung eines Arbeitnehmers der Anspruch hierauf mit Erreichen der für das jeweilige Geschäftsjahr gesetzten wirtschaftlichen oder persönlichen Ziele rechtskräftig entstanden ist, ohne dass es noch auf die Erfüllung weiterer zukunftsbezogener wirtschaftlicher Ziele in den Folgejahren ankommt, hängt der Anspruch eines Vorstandsmitglieds auf die variable Vergütung für das abgelaufene Geschäftsjahr nach der gesetzlichen Neuregelung des § 87 Abs. 1 Satz 3 AktG davon ab, dass für die – aus Gründen der Sicherstellung einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung – in die Folgejahre aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung die hierfür gesteckten wirtschaftlichen Ziele erfüllt werden. Da sich die Regelung zur variablen Vergütung gerade nicht darin erschöpfen darf, eine bloße Verschiebung der Fälligkeit für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung vorzusehen (vgl. oben I.), sondern diese an die Erreichung wirtschaftlicher Ziele zu knüpfen sind, welche als weitere anspruchsbegründende Voraussetzung erfüllt sein müssen, kann für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung nicht von rechtskräftig erwachsenen Ansprüchen des Vorstandsmitglieds gesprochen werden. Hieraus folgt zugleich, dass auch kein Eingriff in bereits erdiente Ansprüche vorliegt, da der Anspruch auf die – in die Folgejahre aufgeschobenen – Teile der variablen Vergütung noch nicht entstanden und auch nicht an einen bloßen Zeitablauf geknüpft ist, sondern maßgebend davon abhängt, dass auch die für die Folgejahre gesetzten wirtschaftlichen Ziele der Gesellschaft erreicht werden. Für die Erreichung dieser weiteren Ziele ist die Fortsetzung der Tätigkeit des Vorstandsmitglieds und damit notwendigerweise auch der Fortbestand seines Dienstverhältnisses eine wesentliche Voraussetzung. Auch wenn der Gesetzgeber bei Neuregelung von § 87 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG primär davon ausgegangen ist, dass die Führung der Gesellschaft durch die Vorstandsmitglieder auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausgerichtet sein soll, so dass die Erfolge ihrer Tätigkeit nicht auf den Ablauf des einzelnen Geschäftsjahres projiziert, sondern auch in den Folgejahren fortwirken sollen, so beschränkt 320

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sich diese Vorstellung nicht etwa darauf, dass im ersten Jahr die Weichen gestellt werden, welche damit quasi zwangsläufig auch zur Fortführung dieser Entwicklung in den Folgejahren führen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Erreichung der Ziele in den Folgejahren durch eine aktive Tätigkeit des Vorstandsmitglieds weiter gefördert und die Erreichung der hierfür gesetzten Ziele damit vollendet wird. Hieraus folgt als Zwischenergebnis, dass die Fortsetzung der Tätigkeit des Vorstandsmitglieds zur anspruchsbegründenden Voraussetzung für die in die Folgejahre aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung gemacht werden darf. c) Von einem solchen Grund-Verständnis geht auch das BAG19 bei seiner Inhaltskontrolle von Aktienoptionsplänen aus. Danach stellt es keine unangemessene Benachteiligung i. S. von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB dar, wenn ein Ausschluss vom Bezugsrecht für den Fall vorgesehen ist, dass zu dem für die Ausübung maßgebenden Stichtag der Angestellte bereits aus der Gesellschaft ausgeschieden ist. Zur Begründung für die rechtliche Anerkennung einer solchen Ausschluss-Regelung werden vom BAG zwei Gründe angeführt: zum einen sei die unterschiedliche Qualität von Ansprüchen auf Bonuszahlungen gegenüber Bezugsrechten aus Aktienoptionsprogrammen zu beachten. Während nämlich Bonuszahlungen eine zusätzliche Vergütung für die von den Angestellten im Geschäftsjahr erbrachte individuelle Leistung und den hiermit verbundenen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens darstellen, handele es sich bei dem Bezugsrecht aus Aktienoptionsplänen um Erwerbschancen mit stark spekulativem Charakter, denen daher kein gleicher Bestandsschutz wie für Vergütungsbestandteile zuzuerkennen sei20. Als zweiten Grund führt das BAG an, dass durch die Bindungsklausel in zulässiger Weise der Zweck verfolgt werde, dass die bezugsberechtigten Angestellten ihre Tätigkeit auf einen langfristigen Unternehmenserfolg ausrichten. Dieser Motivationszweck könne jedoch durch die vorzeitig ausgeschiedenen Angestellten nicht mehr erfüllt werden, so dass es zulässig sei, ihr Bezugsrecht auszuschließen, wenn sie vor dem für die Ausübung des Bezugsrechts maßgebenden Stichtag bereits aus der Gesellschaft ausgeschieden sind21. d) Überträgt man diese Rechtsprechung auf die variable Vergütung von Vorstandsmitgliedern, so stellt sich die Frage, ob das erste Begründungselement einschlägig ist, welches eine Differenzierung zwischen Vergütungen für individuell erbrachte Leistungen gegenüber bloßen Erwerbschancen mit stark spekulativem Charakter vornimmt, oder ob auf das zweite Begründungselement abzustellen ist, welches die aktive Mitwirkung an einem langfristigen Unternehmenserfolg zum Maßstab macht. Richtigerweise kommen bei der variablen Vergütung der Vorstandsmitglieder beide Begründungselemente zum Tragen, wobei das Schwergewicht jedoch auf den Vergütungscharakter zu legen ist. Bei

__________ 19 BAG, NZA 2008, 1066 (1073). 20 BAG, NZA 2008, 1066 (1071); Leuzinger, Aktienoptionen im Arbeitsverhältnis, S. 176 ff.; Pulz, Personalbindung durch aktienkursorientierte Vergütung, S. 130. 21 BAG, NZA 2008, 1066 (1072); Leuzinger (Fn. 20), S. 183; Lembke, BB 2001, 1469 (1473 f.).

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den in die Folgejahre aufgeschobenen Teilen der variablen Vergütung handelt es sich nicht nur um bloße Erwerbschancen mit stark spekulativem Charakter, wie dies für die Bezugsrechte aus Aktienoptionsplänen der Fall ist, vielmehr ist von einer konkreten Vergütungsanwartschaft des Vorstandsmitglieds auszugehen, deren Erstarkung zu einem Anspruch von der Erfüllung einer noch offen stehenden Bedingung, nämlich dem Erreichen der wirtschaftlichen Kennziffer für das jeweilige Folgejahr abhängt. Hierbei ist des weiteren zu berücksichtigen, dass je nach Ausgestaltung der Vergütungsregelung der wesentliche Teil der Anspruchsvoraussetzungen bereits durch die qualitativen und quantitativen Erfolge in dem für die variable Vergütung maßgebenden Ausgangsjahr erfüllt wurde, so dass es nur noch um die Vervollständigung der Anspruchsvoraussetzungen durch einen vergleichsweise geringeren Anteil in den Folgejahren geht. Dies spricht dafür, dem Vorstandsmitglied einen Bestandsschutz für die von ihm bereits weitgehend erdiente variable Vergütung zuzuerkennen. Das zusätzliche Kriterium, wonach die aktive Mitwirkung des Vorstandsmitglieds an der Erreichung der noch offen stehenden wirtschaftlichen Ziele in den Folgejahren durch die vertragliche Regelung eingefordert werden soll, lässt sich durch eine sowohl inhaltlich als auch zeitlich gestufte Ausgestaltung der Vergütungsregelung in angemessener und interessengerechter Form realisieren: aa) Was die inhaltliche Seite anbetrifft, so ist danach zu differenzieren, ob das vorzeitige Ausscheiden auf Veranlassung der Gesellschaft oder des Vorstandsmitgliedes erfolgte. Der maßgebende Grund für die Anknüpfung an diesem Differenzierungsmerkmal liegt darin, dass die Gesellschaft sich widersprüchlich verhalten würde, wenn sie zur Begründung für den Verfall der aufgeschobenen Vergütungsansprüche dem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied entgegenhält, nach der getroffenen Regelung sei der Fortbestand seines Anstellungsverhältnisses zu den jeweiligen Stichtagen erforderlich gewesen, obwohl sie selbst die Ursache für die vorzeitige Beendigung des Anstellungsverhältnisses gesetzt hat. Dies betrifft insbesondere den für die Praxis besonders bedeutsamen Fall, dass die Bestellung und der hieran geknüpfte Vorstands-Anstellungsvertrag durch die Gesellschaft nicht verlängert wurde, obwohl das Vorstandsmitglied gegenüber dem Aufsichtsrat seine Bereitschaft zu einer solchen Verlängerung erklärt hat. Zwar steht es in der freien Entscheidung des Aufsichtsrats, ob die auslaufende Bestellung eines Vorstandsmitglieds für eine weitere Amtsperiode verlängert und dementsprechend auch der Anstellungsvertrag für die Dauer der Wiederbestellung verlängert wird22. Es stellt jedoch einen Verstoß gegen das Verbot des venire contra factum proprium im Hinblick auf die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung dar, wenn die Gesellschaft sich für den vertraglich angeordneten Verfall der aufgeschobenen Vergütungsansprüche darauf beruft, dass das Vorstandsmitglied vorzeitig ausgeschieden sei, obwohl von dessen Seite die Bereitschaft zur Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses bestand, dies jedoch von der Gesellschaft abgelehnt wurde. Ein solcher Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens

__________ 22 Hüffer, 9. Aufl., § 84 AktG Rz. 5; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 84 AktG Rz. 14.

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Zur Problematik der Einbeziehung von „good leaver“-Klauseln

liegt jedoch nicht vor, wenn die Gesellschaft aus gewichtigen Gründen, welche durch das Vorstandsmitglied zu vertreten waren, eine Verlängerung seiner Bestellung abgelehnt hat. Hat das Vorstandsmitglied z. B. zum Ende der abgelaufenen Bestellungsperiode erhebliche Versäumnisse und Pflichtverletzungen begangen, welche zwar nicht zu einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund i. S. von § 626 Abs. 1 BGB führten, jedoch maßgebend für die Nichtverlängerung seiner Vorstandsbestellung waren, so wurde von ihm letztlich die Ursache dafür gesetzt, dass es zu keiner Fortsetzung seiner Tätigkeit kam und sein Anstellungsverhältnis daher vor dem für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung maßgebenden Stichtag endete. Diese inhaltliche Differenzierung danach, ob die vorzeitige Beendigung der Sphäre der Gesellschaft oder des Vorstandsmitglieds zuzurechnen ist, ergibt sich insbesondere aus dem vorstehend bereits hervorgehobenen Vergütungscharakter. So hat auch das BAG in seiner jüngeren Rechtsprechung23 angedeutet, dass jedenfalls dann nach der Verantwortung für die Beendigung des Anstellungsverhältnisses zu differenzieren ist, wenn der noch offen stehende Teil der Vergütung, welcher im Hinblick auf ein vorzeitiges Ausscheiden entfallen soll, einen erheblichen Anteil an der Gesamtvergütung ausmacht. Hiervon ist bei den aufgeschobenen Teilen der variablen Vergütung regelmäßig auszugehen, da diese Anteile von ihrer Gewichtung so hoch anzusetzen sind, dass sie ihrerseits einen maßgebenden Vergütungsanreiz für das Vorstandsmitglied zur Verfolgung einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung begründen. bb) Ist das inhaltliche Erfordernis erfüllt, da das vorzeitige Ausscheiden nicht durch das Vorstandsmitglied zu vertreten ist, so stellt sich die weitergehende Frage, ob der Anspruch auf die in den Zeitraum nach seinem Ausscheiden fallenden Teile der variablen Vergütung in vollem Umfang oder nur zeitanteilig besteht. Für diese Prüfung darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das ausgeschiedene Vorstandsmitglied für einen Teil des Zeitraums, welcher der aufgeschobenen variablen Vergütung zugrunde liegt, keinen Tätigkeitsbeitrag mehr erbracht hat. Ebenso wie es unbillig erscheint, ihm den Anspruch auf die aufgeschobenen Teile seiner variablen Vergütung unter Hinweis auf sein vorzeitiges Ausscheiden vollständig zu entziehen und damit auch für diejenigen Zeiträume, in denen er tätig war und damit einen Beitrag zur Erreichung der jeweiligen Ziele erbracht hat, so erscheint es umgekehrt auch nicht geboten, die noch offen stehende variable Vergütung vollständig, d. h. zeitlich ungekürzt zu gewähren. Damit würde nämlich das ausgeschiedene Vorstandsmitglied selbst für denjenigen Zeitraum noch vergütet, in welchem es für die Gesellschaft nicht mehr tätig war. Dies würde jedoch über einen Bestandsschutz für einen teilweise erdienten Vergütungsanspruch ausgehen, indem auch ein Anspruch auf den nicht erdienten Teil der Vergütung zuerkannt würde. Hierfür besteht

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23 BAG, NZA 2008, 40 (43), wobei hinsichtlich der Grenzziehung, ab welcher von einem erheblichen Anteil an der Gesamtvergütung auszugehen ist, auf die hierzu bestehende Rechtsprechung (BAG, NZA 2007, 87 (89); BAG, NZA 2005, 465 (467/468)) zur Grenze von Widerrufsvorbehalten im Rahmen von Vergütungsregelungen abgestellt wird: danach darf der unter den Vorbehalt eines Widerrufs gestellte Teil der Vergütung max. 25 % der Gesamtvergütung betragen.

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weder unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes noch im Hinblick auf eine angemessene Beteiligung des Vorstandsmitglieds an der erfolgsbezogenen Vergütung für den aufgeschobenen Zeitraum eine Notwendigkeit. In der konkreten Anwendung der vorstehend dargelegten Grundsätze bedeutet dies für den Beispielsfall einer auf drei Jahre verteilten variablen Vergütung, bei welcher das Vorstandsmitglied nach Ablauf des zweiten Jahres aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen ausgeschieden ist, dass ihm der in das dritte Jahr aufgeschobene Teil der variablen Vergütung – sofern die hierfür gesteckten wirtschaftlichen Ziele erreicht wurden – zu zwei Dritteln zusteht. Dies entspricht dem zeitlichen Anteil, mit welchem das ausgeschiedene Vorstandsmitglied bezogen auf den in das dritte Jahr aufgeschobenen Teil der variablen Vergütung durch aktive Tätigkeit zu dem eingetretenen Erfolg der Gesellschaft beigetragen hat. 3. Rechtsfolgen inhaltlich überzogener und daher unangemessener „good leaver“-Klauseln Wurden weder inhaltliche noch zeitliche Grenzen bei der Ausgestaltung der „good leaver“-Klausel gezogen, welche in die Regelung für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung durch die Gesellschaft eingesetzt wurde, so stellt sich die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen hieraus folgen: a) Enthält eine als Allgemeine Geschäftsbedingung zu qualifizierende Klausel eine „unangemessene Benachteiligung“ i. S. von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, so ergibt sich die hieraus resultierende Rechtsfolge unmittelbar aus § 307 Abs. 1 BGB, wonach derartige Klausel unwirksam sind. Geht die von der Gesellschaft in die variable Vergütungsregelung eingesetzte „good leaver“-Klausel über die vorstehend dargelegten Grenzen der Angemessenheit hinaus, so stellt sich die weitergehende Frage, ob zumindest eine geltungserhaltende Reduktion der Klausel innerhalb der vorstehend dargelegten Grenzen (vgl. II. 2.) in Betracht kommt. Dies ist jedoch ausgeschlossen, da anerkanntermaßen24 eine Aufrechterhaltung unangemessener und daher unwirksamer Klauseln in dem auf einen zulässigen Inhalt beschränkten Umfang dem gesetzgeberischen Zweck der §§ 305 ff. BGB zuwiderlaufen würde. Der wesentliche Grund für den Ausschluss einer geltungserhaltenden Reduktion besteht darin, dass andernfalls für den Verwender unangemessener Klauseln das Risiko allein darin bestünde, in einem etwaigen späteren Rechtsstreit auf das rechtlich gerade noch zulässige Maß zurückgeführt zu werden. Durch den Ausschluss einer geltungserhaltenden Reduktion soll der Verwender einer Klausel jedoch dazu angehalten werden, im Hinblick auf das von ihm zu tragende Risiko der vollständigen Unwirksamkeit der Klausel bereits bei ihrer inhaltlichen Ausgestaltung die Grenzen der Angemessenheit zu beachten.

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24 Aus der Rspr. des BGH vgl. hierzu BGH, NJW 2008, 3772 (3774); BGH, NJW 2006, 1059 (1060); aus der Rspr. des BAG vgl. hierzu BAG, NZA 2007, 748 (750); BAG, NZA 2005, 1111 (1114); H. Schmidt in Ulmer/Brandner/Hensen, 11. Aufl., § 306 BGB Rz. 14 f.; Preis in ErfurtKomm., 11. Aufl., §§ 305–310 BGB Rz. 104; Schlewing, RdA 2011, 92/93; Grüneberg in Palandt, 70. Aufl., § 306 BGB Rz. 6.

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b) In gleicher Weise scheidet eine auf eventuelle Besonderheiten des konkreten Einzelfalls abstellende Prüfung aus, um eine unangemessene Klausel ausnahmsweise aufrechtzuerhalten. Da für die Inhaltskontrolle nach § 307 BGB nämlich ein genereller und typisierender Maßstab anzulegen ist25 schließt dies eine Berücksichtigung individueller Besonderheiten notwendigerweise aus. Die Vorschriften der §§ 305 ff. BGB missbilligen nämlich bereits das Stellen inhaltlich unangemessener Klauseln und machen die Rechtsfolge der Unwirksamkeit nicht davon abhängig, dass das Risiko, welches sich für den Betroffenen aus dem unangemessenen Teil der Klausel ergibt, im konkreten Fall auch tatsächlich realisiert hat26. Hieraus folgt für die hier zu behandelnden „good leaver“-Klauseln, dass sich bei einer unangemessen engen Klausel-Fassung, welche z. B. nicht nach dem Grund des vorzeitigen Ausscheidens differenziert, sich auch ein solches Vorstandsmitglied auf die Unwirksamkeit dieser Klausel berufen darf, das durch Eigenkündigung bzw. Ablehnung der angebotenen Verlängerung des Anstellungsvertrages ausgeschieden ist. c) Schließlich scheidet auch eine teilweise Aufrechterhaltung nach § 306 Abs. 1 BGB für inhaltlich überzogene und daher unangemessene „good leaver“-Klauseln aus. Eine teilweise Aufrechterhaltung setzt nämlich notwendigerweise die Teilbarkeit der jeweiligen Klauseln voraus. Hierfür ist der sog. „blue-pencil“Test maßgebend27, wonach allein durch die Streichung des unwirksamen Teils der Klausel der verbleibende Rest eine in sich geschlossene und anwendbare Regelung bleibt. Für die Fälle inhaltlich überzogener „good leaver“-Klauseln versagt der „blue-pencil“-Test bereits deshalb notwendigerweise, da es nicht um die Streichung der zu weit gehenden Teile der Klauseln geht, sondern vielmehr nachträglich die inhaltlichen und zeitlichen Grenzen (vgl. hierzu unter II. 2. d) aa) – bb) in den Klausel-Text aufgenommen werden müssen. Dies stellt jedoch keinen Fall der inhaltlichen Teilung einer überzogenen und daher unangemessenen Klausel dar. d) Wurden die vorstehend (unter II. 2.) dargelegten Grenzen für sog. „good leaver“-Klauseln bei deren Verwendung im Rahmen der variablen Vergütungsregelung nicht beachtet, so hat dies nach § 307 Abs. 1 BGB deren Unwirksamkeit zur Folge. Da die „good leaver“-Klausel daher hinfällig ist, kann das ausgeschiedene Vorstandsmitglied die in die Folgejahre aufgeschobenen Teile seiner variablen Vergütung daher unabhängig von seinem Ausscheiden vor den hierfür maßgebenden Stichtagen geltend machen. Der Anspruch hängt in diesem Fall somit allein davon ab, ob die für die aufgeschobenen Teile der variablen Vergütung gesetzten wirtschaftlichen Ziele durch die Gesellschaft erreicht wurden. Dagegen lässt das vorzeitige Ausscheiden des Vorstandsmitglieds seinen Vergütungsanspruch unberührt.

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25 BAG, NZA 2009, 1253 (1255); BAG, NZA 2007, 853 (854); BAG, NZA 2007, 809 (811); Preis in ErfurtKomm., 11. Aufl., §§ 305–310 BGB Rz. 42. 26 BAG, NZA 2010, 1237 (1241); BAG, NZA 2007, 809 (811); BAG, NZA 2006, 1042 (1045). 27 BAG, NZA 2011, 89 (90); BAG, NZA 2009, 783 (784); BAG, NZA 2008, 699 (701); Preis in ErfurtKomm., 11. Aufl., §§ 305–310 BGB Rz. 103; Grüneberg in Palandt, 70. Aufl., § 306 BGB Rz. 7.

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Beschränkungen des gesellschaftsrechtlichen Innenregresses bei Bußgeldzahlungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Meinungsstand III. Gesetzliche Anhaltspunkte für einen Regressausschluss 1. Gesetzeslage und versicherungsrechtliche Position der Geschäftsleitung 2. Bedenken gegen die gesetzestreue Lösung IV. Ansätze zu einem vollständigen Regressausschluss 1. Sanktionsrechtliches Regressverbot a) Sanktionsrechtliche Festlegung des Bußgeldadressaten b) Sanktionsrechtliche Freistellung des Organmitglieds 2. Arbeitsrechtliche Begründung eines Regressausschlusses 3. Schutzbereich der § 93 Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG V. Reduzierung des Regressanspruchs 1. Gesellschaftliche Fürsorgepflicht als dogmatischer Ausgangspunkt

2. Die Grundsätze betrieblich veranlasster Tätigkeit als Referenzmodell a) Tragende Motive der Privilegierung einer betrieblich veranlassten Tätigkeit b) Vergleichbare Schutzbedürftigkeit von Organmitgliedern? aa) Unverhältnismäßige Belastung bb) Fehlende Weisungsbindung von Organmitgliedern c) Folgerungen aus dem arbeitsrechtlichen Wertungstransfer 3. Erfasste Verschuldensformen und anderweitige Entlastung der Geschäftsleitung 4. Umfang der Reduktion a) Hypothetische Sanktionshöhe bei individueller Bebußung als Maßstab b) Inhaltliche Ausfüllung des Angemessenheitsbegriffs VI. Ergebnis

I. Einleitung Der letzte Beitrag aus der Feder Martin Winters erschien im Jahr 2009 in der Festschrift für Uwe Hüffer und war der Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für Corporate Compliance gewidmet. Wie stets in seiner Karriere entwickelte Martin Winter auch zu diesem Thema Lösungsvorschläge, die der praktischen anwaltlichen Anschauung entsprangen, sodann aber mit wissenschaftlichem Tiefgang zu Ende gedacht wurden und aus dieser Kombination ihre bemerkenswerte Überzeugungskraft gewannen. Die stetig wachsende Aufmerksamkeit, die dem Compliance-Thema in den letzten beiden Jahrzehnten zuteil wurde, findet ihren Ursprung nicht zuletzt in einer immer schärfer werdenden Sanktionspraxis. Namentlich im Kartellrecht hat man sich an Bußgelder ge-

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wöhnt, die im gehobenen dreistelligen Millionenbereich angesiedelt sind1. Aber auch in anderen Bereichen gehen deutsche und internationale Behörden mit zunehmender Härte gegen rechtswidriges Unternehmenshandeln vor. So mussten etwa in der Siemens-Korruptionsaffäre Strafzahlungen in Höhe von über einer Milliarde Euro erbracht werden2. Diese außerordentlichen Beträge kommen auch dadurch zustande, dass die Bußgeldhöhe am Umsatz des Unternehmens, zum Teil sogar des gesamten Unternehmensverbundes, bemessen wird3. Eine solche Orientierung an der persönlichen Leistungsfähigkeit des Sanktionsadressaten ist im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht üblich, ihre sachliche Angemessenheit ohne weiteres einleuchtend. Problematisch erscheint es aber, wenn die an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines ganzen Unternehmens oder Unternehmensverbundes bemessene Sanktion im Wege des Innenregresses auf Organmitglieder abgewälzt wird, deren Leistungsfähigkeit nicht annähernd an die des korporativen Sanktionsadressaten heranreicht. Genau dies ist aber augenscheinlich die Konsequenz einer buchstabengetreuen Anwendung der § 93 AktG, § 43 GmbHG. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die intuitive Irritation, die eine solche Abwälzung bei manchem Beobachter auslösen mag, auch einen juristischen Widerklang in der Rechtsordnung findet oder ob sie als Folge einer legislativen Grundentscheidung selbst in extrem gelagerten Ausnahmefällen hinzunehmen ist.

II. Meinungsstand Trotz der hohen praktischen Bedeutung dieses Themas zeichnet sich bislang eine klar herrschende Meinung noch nicht ab. In zahlreichen Kommentaren werden für diesen speziellen Regressfall keine Sonderregeln vorgesehen, was darauf hinzudeuten scheint, dass die Autoren stillschweigend von einem unbeschränkten Rückgriff ausgehen4. Angesichts der verhältnismäßig geringen Beachtung, die das Thema bislang im wissenschaftlichen Diskurs gefunden hat, ist dieser Rückschluss aber nicht selbstverständlich. Wo sich nämlich nähere Stellungnahmen zu dieser Frage finden, begegnet eine beachtliche Zahl von Stimmen, die einen Ausschluss oder zumindest eine Beschränkung des Regresses für geboten halten, wobei die Begründungen voneinander abweichen.

__________ 1 Vgl. dazu die Kartellstatistik der Kommission (http://ec.europa.eu/competition/ cartels/statistics/statistics.pdf; zuletzt abgerufen am 5.5.2011); ferner die Zusammenstellung bei Dannecker/Biermann in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht: EG, 4. Aufl. 2007, Art. 23 VO Nr. 1/2003 Rz. 92 ff. und Bechtold/Wernicke, Kartellbußen ohne Maß, FAZ v. 14.2.2009. 2 Diese Summe setzt sich zusammen aus einer vom LG München verhängten Geldbuße i. H. v. 201 Mio. Euro, einer Zahlung an die Staatsanwaltschaft München i. H. v. 395 Mio. Euro, einer Zahlung an das US-Justizministerium i. H. v. 450 Mio. Dollar und einer Zahlung an die SEC i. H. v. 350 Mio. Dollar; vgl. dazu die Geschäftsberichte 2008 und 2009 der Siemens AG. 3 Zu den Einzelheiten vgl. noch III. 2. m. w. N. in Fn. 26. 4 Aus diesem Umstand mag es sich erklären, dass Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 30 zu dem abweichenden Befund gelangen, eine klar h. M. lehne eine Rückgriffsbeschränkung ab.

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So fordert Dreher speziell für das Kartellsanktionsrecht einen generellen Regressausschluss, um das sorgsam austarierte Sanktionssystem des Ordnungswidrigkeitenrechts nicht durch die Hintertür des Innenregresses aus der Balance zu bringen5. Dem haben sich im Grundsatz mehrere Autoren angeschlossen, wobei überwiegend aber nicht ein vollständiger Ausschluss des Rückgriffs, sondern lediglich eine summenmäßige Begrenzung befürwortet wird6. Hinsichtlich der Höhe der Beschränkung herrscht auch innerhalb dieser zweiten Meinungsgruppe keine Einigkeit. Zum Teil wird pauschal eine „angemessene“ Begrenzung gefordert7, während andere den für persönlich Betroffene geltenden Bußgeldrahmen als Obergrenze des Regressanspruchs heranziehen wollen8. Auch in der dogmatischen Fundierung weicht das neuere Schrifttum von der ursprünglichen Konzeption Drehers ab und begründet die Beschränkung nicht mit sanktionsrechtlichen Erwägungen, sondern leitet sie aus der Treu- und Fürsorgepflicht der Gesellschaft für ihre Organe ab9. Dieser Meinungsgruppe stehen zahlreiche Stimmen gegenüber, die sich generell gegen eine Rückgriffsbeschränkung aussprechen10. Auch die Einheitlichkeit dieses Meinungsblocks muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass die hier angenommene strenge Regressfolge sich zum Teil auf bereichsspezifische Eigenheiten eines Rechtsgebiets bezieht11 oder dadurch kompen-

__________ 5 Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 105; ähnlich auch bereits Horn, ZIP 1997, 1129, 1136. 6 Bayer in FS K. Schmidt, 2009, S. 85, 96 f.; Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 84 Rz. 9, § 93 Rz. 15; Marsch-Barner, ZHR 173 (2009), 723, 730; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533 f.; für einen vollständigen Ausschluss dagegen R. Krause, BB-Spezial 2007, 2, 13 f.; differenzierend Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 56 nach dem Zweck der Geldbuße. 7 Bayer (Fn. 6), S. 85, 97; Hüffer (Fn. 6), § 84 Rz. 9, § 93 Rz. 15. 8 So namentlich Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533 f. und Fleischer, BB 2008, 1070, 1073 im Anschluss an Dreher (Fn. 5), S. 85, 105, der diese Lösung hilfsweise für den Fall formuliert, dass man den von ihm bevorzugten Regressausschluss ablehnt. 9 Bayer (Fn. 6), S. 85, 97; Hüffer (Fn. 6), § 84 Rz. 9, § 93 Rz. 15; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533 f.; wie Dreher dagegen Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 56, die sich in Rz. 38 nur für Schadensersatzforderungen der Regressbeschränkung aufgrund einer Fürsorgepflicht anschließen (s. dazu noch V. 2. c). 10 Vgl. Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344 ff.; Haas/Ziemons in Michalski GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 43 Rz. 205a; Kapp/Gärtner, CCZ 2009, 168, 170; Habersack in Karlsruher Forum 2009: Managerhaftung, 2010, S. 5, 32 f.; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 569 ff.; Werner, CCZ 2010, 143, 145; Zimmermann, WM 2008, 433, 436 ff.; ebenso bei Vorsatz, zögernd aber bei Fahrlässigkeit Wilsing in Krieger/Uwe H. Schneider, Hdb. Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 39 ff. 11 Das gilt speziell für den grundlegenden Beitrag von Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344 ff., deren Ausführungen sich noch auf das Kartellrecht vor der 7. GWBNovelle bezogen, das für fahrlässige Verstöße wenig Raum ließ (so in der Tat auch die Prämisse von Glöckner/Müller-Tautphaeus, a. a. O., S. 346: keine Unangemessenheit, da es „nur um eindeutige Rechtsverstöße geht“). Ausgehend von dieser Regelvermutung eines Vorsatztäters erschien eine regressrechtliche Privilegierung in der Tat kaum erwägenswert (s. dazu noch V. 3.). Zu der deutlich gesteigerten Wahrscheinlichkeit eines fahrlässigen Verstoßes nach Einführung eines Systems der kartellrechtlichen Selbsteinschätzung in Art. 101 Abs. 3 AEUV und § 2 GWB vgl. insb. Spindler in FS Canaris, Band II, 2007, S. 403, 407 ff.

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siert wird, dass auf anderen Ebenen der Haftungsbegründung eine Erleichterung vorgesehen wird12. Vor diesem Hintergrund ist eine pauschale Aufbereitung des Streitstandes kaum möglich, sondern jede Position ist im Pendelblick zur sonstigen tatbestandlichen Ausgestaltung des Regressanspruchs auszumessen.

III. Gesetzliche Anhaltspunkte für einen Regressausschluss 1. Gesetzeslage und versicherungsrechtliche Position der Geschäftsleitung Orientiert man sich zunächst am Gesetzestext, so bestätigt dieser die letztgenannte Auffassung und führt ohne größere Deutungsspielräume zu einer uneingeschränkten Einstandspflicht der Geschäftsleiter. Ein sanktionsbewehrter Rechtsbruch im Außenverhältnis stellt auch im Innenverhältnis eine Pflichtverletzung dar, und zwar auch dann, wenn sich der Verstoß letztlich als für die Gesellschaft vorteilhaft erwiesen hat; für ein Geschäftsleiterermessen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG besteht hier kein Raum13. Nur bei Rechtsverstößen infolge einer unklaren Gesetzeslage wird eine Ausnahme in Erwägung gezogen, die allerdings im Schrifttum umstritten und von der Rechtsprechung nicht bestätigt ist14. Als weiteres Korrektiv wird vorgeschlagen, auf der Rechtsfolgenseite die Regeln über die Vorteilsausgleichung anzuwenden, was dazu führen würde, dass Bußgelder nur insofern einen Rückgriffsanspruch begründen könnten, als sie über den Gewinnabschöpfungsanteil nach §§ 17 Abs. 4, 30 Abs. 3 OWiG hinausgehen oder einen reinen Ahndungszweck verfolgen15. Auch dieser Weg ist indes mit zahlreichen dogmatischen Unwägbarkeiten gepflastert und höchstrichterlich nicht abgesichert16. Überdies könnte er den Organmit-

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12 So lassen etwa Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 346; Haas/Ziemons (Fn. 10), § 43 Rz. 205a; Kapp/Gärtner, CCZ 2009, 168, 170; Werner, CCZ 2010, 143, 145 f.; Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 35 ff. und Zimmermann, WM 2008, 433, 438 f. in großzügigem Umfang eine Vorteilsausgleichung zu (vgl. auch noch die Nachw. in Fn. 16), während Habersack (Fn. 10), S. 5, 32 f. in diesen Fällen zumindest die Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats relativieren möchte. 13 Dazu ausführlich Fleischer, ZIP 2005, 141 ff. m. w. N.; vgl. ferner RegBegr. UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Bayer (Fn. 6), S. 85, 88 ff.; Fleischer in Hdb. Vorstandsrecht, 2006, § 7 Rz. 13 f.; Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344; Harbarth in Krieger/Uwe H. Schneider, Hdb. Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 22 Rz. 69; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 11. Lieferung (1999), § 93 Rz. 99; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 513 ff. 14 Vgl. dazu etwa Bayer (Fn. 6), S. 85, 92 f.; Dreher (Fn. 5), S. 85, 96 f.; Fleischer in Hdb. Vorstandsrecht, 2006, § 7 Rz. 19; dens. in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 93 Rz. 29; dens., ZIP 2005, 141, 149 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 65 ff.; dens. in FS Canaris II, 2007, S. 403, 415; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 521 ff. 15 So die Konsequenz von Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 56 und Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 39. 16 Gegen eine Vorteilsanrechnung Lohse in FS Hüffer, 2010, S. 581, 597 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 77; ders., FS Canaris II, 2007, S. 403, 426; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 529 ff.; dafür Bayer (Fn. 6), S. 85, 94 f.; Habersack (Fn. 10), S. 5, 34; Marsch-Barner, ZHR 173 (2009), 723, 724 ff.; Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 63; zu entsprechenden Stellungnahmen speziell in dem hier interessierenden Kontext vgl. bereits die Nachw. in Fn. 12.

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gliedern nur dort Sicherheit gewähren, wo sie tatsächlich quantifizierbare Vorteile auf Seiten der Gesellschaft nachweisen können17. Können ungeachtet dieser hier nicht vertieften Zweifelsfragen Pflichtverletzung und bußgeldbedingter Schaden festgestellt werden, so wird dieser nach den üblichen Vertragsbedingungen einer für die Organmitglieder abgeschlossenen D&O-Versicherung regelmäßig nicht gedeckt. Diese Folge ergibt sich allerdings nicht mit der wünschenswerten Klarheit aus den einschlägigen Vertragswerken18. Dort wird eine Versicherungsdeckung zumeist für Schäden „wegen oder infolge von Strafen, Geldbußen oder Entschädigungen mit Strafcharakter“ ausgeschlossen19. Danach steht fest, dass die Versicherung nicht greift, wenn das Bußgeld unmittelbar gegen das versicherte Organmitglied gerichtet ist20. Hier geht es jedoch um den anders gelagerten Fall, dass das Bußgeld zunächst die Gesellschaft trifft, sich dort als Schaden auswirkt und erst über den Transmissionsriemen des Innenregresses auf das Organmitglied abgewälzt wird. Berücksichtigt man indes den Schutzzweck derartiger Klauseln, so wird man kaum zweifeln können, dass sie sich auch auf solche Schäden erstrecken. Der Ausschluss von Geldstrafen und Bußgeldern findet seine Rechtfertigung darin, dass eine Versicherung dieses Risikos die Abschreckungswirkung unterlaufen und damit gegen §§ 134, 138 BGB verstoßen würde21. Dafür macht es aber keinen Unterschied, ob die Versicherung unmittelbar ein gegen den Geschäftsleiter gerichtetes Bußgeld erstattet oder ob die Gesellschaft ein an sie gerichtetes Bußgeld über den Umweg des Organmitglieds auf die Versicherung abwälzt22. Auch der weit gefasste Wortlaut der Musterklauseln („wegen oder infolge“) deutet in diese Richtung, so dass davon auszugehen ist, dass eine D&O-Versicherung den Schaden nicht auffangen wird23.

__________ 17 Vgl. zu dieser erheblichen praktischen Erschwernis der Vorteilsanrechnung MarschBarner, ZHR 173 (2009), 723, 726. 18 So auch der Befund von Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 55; dem folgend Werner, CCZ 2010, 143, 147. 19 Vgl. dazu Klausel 5.11 der GDV-Musterbedingungen 2008 (AVB-AVG – abgedruckt bei Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, Teil III F. IX); ferner § 3 Nr. 4.2 der Allgemeinen Bedingungen zur VOV D&O-Versicherung (AVB-VOV 2008). 20 Olbrich, Die D&O-Versicherung, 2. Aufl. 2007, S. 187 f.; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 570 Fn. 50; Voit in Prölss/Martin (Fn. 19), § 1 AVB-AVG Rz. 17; Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 52 ff. 21 Dreher, ZWeR 2004, 75, 76 mit Fn. 7; Ihlas, Organhaftung und Haftpflichtversicherung, 1997, S. 73 und 290; Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 54. 22 So im Ergebnis wohl auch Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 55; ihm folgend Werner, CCZ 2010, 143, 146 f. 23 Zu der (überwiegend verneinten) Frage, ob dem Geschäftsleiter die Möglichkeit offensteht, sich schon im Vorfeld durch eine entsprechende Gestaltung des Anstellungsvertrages gegen eine sanktionsbedingte Regressforderung abzusichern, vgl. Bastuck, Enthaftung des Managements, 1986, S. 134 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 84 Rz. 71 f.; Happ, AktienR, 3. Aufl. 2007, 8.08 Rz. 13; Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 775; Holly/Friedhofen, NZA 1992, 145, 148 f.; Hüffer (Fn. 6), § 84 Rz. 16a; Kapp/Gärtner, CCZ 2009, 168, 173; R. Krause, BB-Spezial 2007, 2, 9; Krieger in FS Bezzenberger, 2000, S. 211, 220; Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 94 f.; Zimmermann, DB 2008, 687, 690 f.

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2. Bedenken gegen die gesetzestreue Lösung Wenn trotz dieses klaren Befundes Zweifel an der Richtigkeit der gesetzestreuen Lösung geäußert werden, so finden sie ihren Ursprung in erster Linie in der Art und Weise der Bußgeldfestsetzung. Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 OWiG sind bei der Bußgeldbemessung die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu beachten24. Für das Kartellrecht hat dieser Gedanke noch eine schärfere Ausprägung erfahren: Nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003, § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB darf die gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung gerichtete Geldbuße eine Summe von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen. Dabei soll der Ermittlung des Gesamtumsatzes nach der kryptischen Vorschrift des § 81 Abs. 4 Satz 3 GWB der weltweite Umsatz aller natürlichen und juristischen Personen zugrunde gelegt werden, sofern sie als wirtschaftliche Einheit operieren25. Speziell bei Großunternehmen kann diese Orientierung an den wirtschaftlichen Verhältnissen des Sanktionsadressaten dazu führen, dass die Geldbuße Dimensionen erreicht, die die Leistungsfähigkeit eines Einzelnen deutlich übersteigen26. Trotzdem stellt sie aus Unternehmenssicht einen Schaden dar, der über § 93 AktG, § 43 GmbHG auf die handelnden Organmitglieder abgewälzt werden kann. Die an der Leistungsfähigkeit des Unternehmens bemessene Sanktion wird also einem anderen auferlegt, der sie nicht zu tragen vermag27. Eine solche Belastung ist nicht nur unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zweifelhaft, sondern auch aus Praktikabilitätserwägungen bedenklich, da es dem Geschäftsleiter faktisch unmöglich gemacht wird, bei der Aufdeckung eines Verstoßes zu kooperieren, will er nicht seine wirtschaftliche Existenz aufs Spiel setzen28.

__________ 24 Im Strafrecht ergibt sich diese Orientierung aus dem Tagessatzsystem, das in diesem Zusammenhang allerdings von geringerem Interesse ist, da ein Unternehmen nicht Adressat einer Kriminalstrafe sein kann; vgl. dazu statt aller Heine in Schönke/ Schröder StGB, 28. Aufl. 2010, vor §§ 25 ff. Rz. 119 ff. m. w. N. 25 Zu den Schwächen dieser überhasteten Neufassung vgl. Achenbach, ZWeR 2009, 3 ff.; Bechtold GWB, 6. Aufl. 2010, § 81 Rz. 30; Brettel/Thomas, ZWeR 2009, 25 ff.; Buntscheck, WuW 2008, 981 ff.; zur vergleichbaren (wenn auch keineswegs identischen) Vorgehensweise im europäischen Recht vgl. bereits J. Koch, ZHR 171 (2007), 554, 556 ff. 26 Zu den Einzelheiten der Berechnung im europäischen Recht vgl. die ermessenskonkretisierenden Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – ABl. 2006, C 210/2 ff. und dazu Dieckmann in Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, 2. Aufl. 2008, § 46 Rz. 11 ff.; Sura in Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 11. Aufl. 2010, Art. 23 VO Nr. 1/2003 Rz. 41 ff. 27 Zu ähnlichen Verzerrungen kann es führen, wenn die Bußgeldbemessung an dem Gewinn des Täters ausgerichtet wird, da der u. U. erhebliche Unternehmensgewinn ein Vielfaches des persönlichen Einkommens des Geschäftsleiters ausmachen wird. 28 Habersack (Fn. 10), S. 5, 33; Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 771; R. Krause, BBSpezial 2007, 2, 10 ff. (mit weiteren praktischen Überlegungen etwa zur Förderung des Verfahrensabschlusses und zur Arbeitsfähigkeit der Geschäftsleitung).

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IV. Ansätze zu einem vollständigen Regressausschluss 1. Sanktionsrechtliches Regressverbot a) Sanktionsrechtliche Festlegung des Bußgeldadressaten Ein erster Ausweg, um dieser auf den ersten Blick widersinnigen Rechtsfolge zu entgehen, ist mit Dreher im Sanktionsrecht zu suchen. Dabei können zwei Ansatzpunkte unterschieden werden: Zum einen kann man einen Regress für ausgeschlossen halten, weil er den Sanktionsadressaten in unzulässiger Weise von der gesetzlich vorgesehenen Belastung befreit. Zum anderen kann man ihn aber auch aus der Gegenperspektive ablehnen, weil er den Geschäftsleiter mit einer Sanktion belastet, obwohl das Sanktionsrecht eine solche Folge ausschließt. In beiderlei Gestalt lässt sich dieses Erklärungsmodell auf andere Schadensformen als Geldbußen nicht übertragen, sondern es müsste insofern auf parallel entwickelte dogmatische Figuren zurückgegriffen werden29. Der erste Ansatz, wonach das Sanktionsrecht selbst einer regressbedingten Befreiung des Adressaten entgegensteht, ist mit dem heutigen Entwicklungsstand der Strafrechtsdogmatik nicht in Einklang zu bringen30. Aufschlussreich ist dabei der Diskussionsverlauf zu § 258 Abs. 2 StGB31. Nach der älteren Rechtsprechung sollte die Zahlung von fremden Geldstrafen noch eine Vollstreckungsvereitelung im Sinne dieser Vorschrift begründen32. Der BGH hat diese Sichtweise im Hinblick auf die kaum kontrollierbaren Umgehungsmöglichkeiten verworfen33; das Schrifttum ist dem mehrheitlich gefolgt34. Zwar wird zum Teil beanstandet, dass diese Rechtsprechung die Geldstrafe entwerte, die aufgrund ihrer Orientierung am Tagessatzsystem doch gerade als höchstpersönliche Sanktion ausgestaltet sei35. Selbst diese kritischen Autoren halten es jedoch überwiegend für unbedenklich, wenn die Strafe zunächst aus dem Vermögen des Täters bezahlt und erst später von einem Dritten erstattet

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29 Darauf läuft etwa die Trennung bei Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 38 und 56 hinaus. 30 Speziell unter dem Blickpunkt des Regressausschlusses vgl. zum Folgenden Bayer (Fn. 6), S. 85, 96; Fleischer, BB 2008, 1070, 1073 und im Grundsatz auch Dreher (Fn. 5), S. 85, 104, der aber für das Kartellrecht zu abweichenden Ergebnissen gelangt (s. dazu noch unter IV. 1. b); a. A. noch Bastuck (Fn. 23), S. 127 ff. zur umgekehrten Konstellation einer Erstattung durch die Gesellschaft; grds. ähnlich, aber nur für Geldstrafen (also gerade nicht für Geldbußen) Ebert in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 249 Rz. 57; Schiemann in Staudinger, BGB, 2004, § 249 Rz. 203. 31 Unmittelbar ist die Norm auf Geldbußen nicht anwendbar; statt aller Kühl in Lackner, StGB, 27. Aufl. 2011, § 258 Rz. 11. 32 Vgl. noch RGSt. 30, 232, 235 zur Vorläufervorschrift § 257 StGB i. d. F. v. 15.5.1871; OLG Dresden, JW 1919, 837 Nr. 6; anders allerdings bei einer erst nachträglichen Erstattung RGZ 169, 267 ff.; BGHZ 23, 222, 224 = NJW 1957, 586; umfassende Aufbereitung des früheren Streitstandes bei Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 561 ff. 33 BGHSt. 37, 226, 227 ff. = NJW 1991, 990; dem folgend auch die Zivilgerichtsbarkeit, vgl. nur BGH, NJW 1997, 518, 519. 34 Cramer in MünchKomm. StGB, 2003, § 258 Rz. 35; Engels, Jura 1981, 581 ff.; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 258 Rz. 32; Krey, JZ 1991, 889; Kühl (Fn. 31), § 258 Rz. 13; Rengier, Strafrecht Bes. Teil I, 12. Aufl. 2010, § 21 Rz. 20. 35 Vgl. dazu etwa OLG Frankfurt, StV 1990, 112; Hillenkamp, JR 1992, 72, 74 ff.; Krey, JZ 1991, 889; Mitsch, JA 1993, 304.

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wird36. In diesem Fall hat der Täter das Strafübel der Geldzahlung verspürt; ob es nachträglich von dritter Seite kompensiert wird, kann durch staatliche Sanktionen nicht mehr kontrolliert oder gesteuert werden37. Da auch in den hier diskutierten Fällen die Inanspruchnahme regelmäßig zeitlich vor dem Rückgriff liegen wird, würde der gedankliche Transfer dieser Rechtsprechung dafür sprechen, einen Rückgriffsausschluss abzulehnen. Allerdings muss dieser Schluss noch gegen einen naheliegenden Einwand abgesichert werden. Die Vergleichbarkeit dieser beiden Fallgruppen ist nämlich keinesfalls so selbstverständlich, wie es in der Literatur zum Teil dargestellt wird. Vielmehr ist es ein erheblicher Unterschied, ob die Rechtsordnung sich der freiwilligen Erstattung einer Geldstrafe durch einen Dritten nicht entgegenstellt oder ob sie selbst den Dritten dazu verpflichtet, die Strafe zu übernehmen. Auch die freiwillige Drittkompensation wurde nur hingenommen, weil man der offenkundigen Umgehungsmöglichkeiten ohnehin nicht Herr werden konnte und ein Komödienspiel vermeiden wollte, bei dem nur ungeschickt taktierende Helfer noch der Bestrafung unterfielen38. Aus dieser Kapitulation vor den tatsächlichen Gegebenheiten muss nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass auch das Gesetz selbst eine Befreiung anordnen sollte. Trotz dieser Bedenken ist im Ergebnis aber doch der herrschenden Meinung zuzustimmen, die eine sanktionsrechtliche Begründung des Regressausschlusses ablehnt39. § 93 AktG, § 43 GmbHG sehen eine uneingeschränkte Schadensersatzpflicht des Geschäftsleiters vor. Diese klare Anordnung könnte nur im Wege einer teleologischen Reduktion missachtet werden, wenn sich aus dem Zweck der Norm oder ihrer systematischen Einbettung zwingende Gründe ergäben, die ihrer Anwendung entgegenstehen. An derartigen Gründen fehlt es indes, soweit man im Hinblick auf die Diskussion zu § 258 StGB die Höchstpersönlichkeit der Sanktion ablehnt. Vielmehr stellt sich die rechtspolitische Würdigung dann als durchaus ambivalent und vielschichtig dar. Auf der einen Seite kann nicht verkannt werden, dass die Abwälzung der Sanktion den Strafzweck zu vereiteln droht40. Auf der anderen Seite illustrieren aber gerade die hier in Frage stehenden Fälle einer Unternehmensgeldbuße, dass es auch sachgerecht sein kann, die Sanktion von der juristischen Person auf das Organmitglied abzuwälzen, das die zugrunde liegende Pflichtverletzung zu verantworten hat41. Speziell in den Fällen, in denen das Sanktionsrecht (wie namentlich im europäischen Kartellrecht) ausschließlich eine Geldbuße gegen das Unterneh-

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36 Vgl. Altenhain in Nomos Kommentar StGB, 3. Aufl. 2010, § 258 Rz. 65; MüllerChristmann, JuS 1992, 379, 381; Scholl, NStZ 1999, 599, 605; auch insofern a. A. Wodicka, NStZ 1991, 487, 488. 37 Vgl. dazu Stree/Hecker (Fn. 23), § 258 Rz. 29. 38 BGHSt. 37, 226, 231. 39 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 6. 40 Vgl. zu der Rspr. zu § 258 StGB etwa auch die durchaus ambivalenten Stellungnahmen ihrer Befürworter, etwa Kühl (Fn. 31), § 258 Rz. 13: „vorzugswürdig, kriminalpolitisch aber bedauerlich“. 41 Im europäischen Kartellrecht etwa wird die fehlende Verantwortlichkeit der Handelnden durchaus als Missstand empfunden; vgl. Dannecker/Biermann (Fn. 1), vor Art. 23 VO Nr. 1/2003 Rz. 17 ff.; Wils, World Competition 2005, 117, 138 ff.

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men vorsieht, nicht aber gegen die handelnden Personen, fiele anderenfalls der Vorstand als Adressat verhaltenssteuernder Wirkungen aus42. Welche dieser Erwägungen letztlich die überzeugendere ist, bedarf hier keiner weiteren Vertiefung. Die teleologische Reduktion, derer es bedürfte, um die Regressanordnung der § 93 AktG, § 43 GmbHG unbeachtet zu lassen, lässt sich nicht aus einer Abwägung von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten begründen, sondern der Befund rechtspolitischer Wünschbarkeit muss sich zu einer teleologischen Zwangsläufigkeit verdichten, die hier nicht festgestellt werden kann43. b) Sanktionsrechtliche Freistellung des Organmitglieds Der zweite Ansatz, um einen Regressausschluss sanktionsrechtlich zu begründen, liegt darin, der Bußgeldverhängung insofern eine abschließende Zuordnung beizumessen, als sie nicht nur den Sanktionsadressaten belastet, sondern spiegelbildlich auch jeden, der davon nicht (oder nicht in vergleichbarem Umfang) betroffen ist, bewusst von dieser Belastung ausspart. Der Ursprung dieser Überlegungen liegt im europäischen Kartellrecht, das anders als das deutsche Kartellrecht lediglich eine Geldbuße gegen das Unternehmen vorsieht, nicht aber gegen dessen Geschäftsleitung. Namentlich Dreher hat daraus den Schluss gezogen, dass sich „die alleinige Zuweisung von Geldbußen an Vorstandsmitglieder im Wege der Geltendmachung von Regressansprüchen in Widerspruch setzen würde sowohl zu der bußgeldrechtlichen Betonung des Unternehmens selbst im EG-Kartellrecht als auch zu der differenzierten bußgeldrechtlichen Erfassung von Unternehmen bzw. Organmitgliedern im deutschen Kartellrecht“44. Die dieser Folgerung zugrunde liegende Vermutung einer abschließenden Regelung findet aber im europäischen Wettbewerbsrecht keinen Anhaltspunkt45. Gerade im Gegenteil sieht Art. 5 Satz 2, 3. SpStr. VO Nr. 1/2003 vor, dass neben Geldbußen und Zwangsgeldern auch „sonstige im innerstaat-

__________ 42 So zutr. Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533; vgl. auch bereits Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345; die gegenläufige Befürchtung Drehers (Fn. 5), S. 85, 105 f., dass eine Abwälzung der Sanktion ihre generalpräventive Wirkung verwässern könnte, erscheint dagegen weniger bedrohlich, agiert das Unternehmen doch gerade über seine Geschäftsleitung, auf die das Bußgeldrisiko abgewälzt werden soll. 43 So im Ergebnis auch die ganz h. M. im Gesellschafts- und Sanktionsrecht; vgl. RGZ 169, 267, 269; BGH, NJW 1997, 518, 519; BGH, DStR 2010, 1695; Buchta, DB 2006, 1939, 1940 f.; Fleischer in Hdb. Vorstandsrecht, 2006, § 7 Rz. 14; Hopt (Fn. 13), § 93 Rz. 142; Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 77; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 569 f.; Schlechtriem in Kreuzer, Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, 1991, S. 9, 20 f.; Wilsing (Fn. 10), § 27 Rz. 22. 44 Dreher (Fn. 5), S. 85, 105. 45 Vielmehr dürften dieser Zurückhaltung kompetenzrechtliche Erwägungen zugrunde liegen, da der EU keine unmittelbare Strafgewalt über natürliche Personen zustehen soll (vgl. Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-KartellR, 2. Aufl. 2009, Art. 23 VO 1/2003 Rz. 90; Dannecker/Biermann (Fn. 1), Art. 23 VO Nr. 1/2003 Rz. 290; Engelsing/Schneider in MünchKomm. KartR, Europ. KartR, 2007, Art. 23 VO 1/2003 Rz. 12). Diese Bedenken hindern den nationalen Gesetzgeber aber nicht daran, an einen Verstoß gegen die europäische Vorgabe Sanktionsfolgen anzuknüpfen; vgl. Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345.

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lichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt“ werden können. Erwägungsgrund 8 der VO Nr. 1/2003 konkretisiert diese Anordnung dahingehend, dass es den innerstaatlichen Rechtsordnungen unbenommen bleibt, auch natürlichen Personen weitere Sanktionen aufzuerlegen46. Wenn die Festlegungen des europäischen Kartellrechts demnach selbst auf der Sanktionsebene keine Ausschlusswirkung entfalten, kann kaum begründet werden, dass ihnen diese Wirkung auf zivilrechtlicher Ebene zukommen soll47. Ebenso wenig kann dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht eine solche Ausschließlichkeitswirkung beigemessen werden. Gedanklicher Ausgangspunkt muss hier wiederum die Haftungsanordnung in § 93 AktG, § 43 GmbHG sein, die nur dann zu missachten wäre, wenn sich dies zwingend aus systematischteleologischen Erwägungen ergäbe. Den Befürwortern einer solchen Beschränkung obliegt insofern die argumentative Beweislast. Der von Dreher vorausgesetzte abschließende Charakter der sanktionsrechtlichen Freistellung eines Akteurs findet aber auch im nationalen Recht keine Stütze. Eine zivil-/strafrechtliche Doppelbelastung wird generell als selbstverständlich hingenommen. Die Besonderheit dieser Gestaltung liegt nur darin, dass der Schaden hier ebenfalls in einem Bußgeld besteht. Allein aus dieser Kategorisierung kann aber nicht hergeleitet werden, der Geschädigte habe ihn selbst zu tragen. Vielmehr ist es in vielerlei Konstellationen anerkannt, dass es dem primären Sanktionsadressaten gestattet ist, Rückgriff gegenüber einer anderen Person zu nehmen. Das gilt insbesondere, wenn es gerade dieser Person oblag, den Täter an der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu hindern48. Nichts anderes kann gelten, wenn der in Regress Genommene selbst den Verstoß begangen hat und dieser nur über die ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorschriften der §§ 30, 130 OWiG zu einer Belastung des Unternehmens führte49. 2. Arbeitsrechtliche Begründung eines Regressausschlusses Kann ein Regressverbot danach nicht schon aus dem Sanktionsrecht hergeleitet werden, bleibt die Möglichkeit, seinen Ursprung in arbeitsrechtlichen Grundsätzen zu suchen. Schließlich liegt es auf der Hand, dass die Erwägungen, die einen Regress hier nahelegen, eng verwandt sind mit den Regeln betrieblich

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46 Vgl. zu dieser Folge, die auch in Art. 12 Abs. 3 VO Nr. 1/2003 vorausgesetzt wird, Sura (Fn. 26), Art. 5 VO Nr. 1/2003 Rz. 10; Wils, World Competition 2005, S. 117, 129 (mit einem Überblick, welche Staaten davon Gebrauch gemacht haben, auf S. 130); Zuber in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, 2. Aufl. 2009, Art. 5 VerfVO Rz. 16. 47 So im Ergebnis auch Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345. 48 Vgl. insofern etwa RGZ 169, 267, 269; BGHZ 23, 222, 225 = NJW 1957, 586; BGH, NJW 1997, 518, 519; BGH, DStR 2010, 1695 sowie im Grundsatz auch LG Bonn, NJW 1997, 1449 und AG Kempen, NZV 2007, 475. 49 Dass dem Handelnden damit im wirtschaftlichen Ergebnis u. U. eine doppelte Sanktionsfolge auferlegt wird, ist auch im Lichte des aus Art. 103 Abs. 3 GG gefolgerten Grundsatzes „ne bis in idem“ unbedenklich, da der Regress der Kompensation eines Vermögensnachteils dient, aber keine hoheitliche Bestrafung auf der Grundlage der allgemeinen Strafgesetze ist.

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veranlasster Tätigkeit. Auch dieser Rechtsfigur liegt die Überlegung zugrunde, dass es nicht angehen kann, der Gesellschaft in ihrer Funktion als Arbeitgeber sämtliche unternehmerischen Chancen zuzuweisen, den Arbeitnehmer hingegen das unternehmerische Risiko tragen zu lassen, selbst wenn es in keinem angemessenen Verhältnis zu seiner persönlichen Leistungsfähigkeit und zu seinem Verdienst stehen mag50. Trotz dieser Parallelen wird eine pauschale Übertragung der arbeitsrechtlichen Grundsätze auf die Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft ganz überwiegend zu Recht abgelehnt51. Auf die teleologischen Erwägungen, auf die sich diese Ablehnung stützt, soll später noch eingegangen werden (unter V.). An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass es für einen solchermaßen begründeten Regressausschluss schlicht an den rechtstechnischen Voraussetzungen fehlt52. Das Bundesarbeitsgericht konnte die Grundsätze betrieblich veranlasster Tätigkeit richterrechtlich entwickeln, da es keine spezielle Vorgabe für die Haftung des Arbeitnehmers gibt und damit eine Regelungslücke angenommen werden konnte53. Für die Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften enthalten § 93 AktG, § 43 GmbHG dagegen eine ausdrückliche Haftungsanordnung, wobei zumindest der aktienrechtliche Normenbestand in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch eine Regelung vorsieht, die der besonderen Risikoträchtigkeit unternehmerischen Handelns Rechnung trägt; auf das GmbH-Recht wird die Vorschrift analog angewandt54. Angesichts dieser expliziten Regelung, die (anders als § 280 BGB) speziell auf das Haftungsverhältnis zwischen Unternehmen und angestelltem

__________ 50 Vgl. zu dieser Wertungsgrundlage etwa BAGE 101, 107, 112 ff. = AP Nr. 122 zu § 611 BGB (Haftung des Arbeitnehmers) = NJW 2003, 377; Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 17. Aufl. 2007, Rz. 243; Canaris, RdA 1966, 41, 45; Henssler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 619a Rz. 9; Joussen, RdA 2006, 129, 130, 132; Otto/Schwarze, Die Haftung des Arbeitnehmers, 3. Aufl. 1998, Rz. 29 ff., 32, 37; Preis in Erfurter Komm. Arbeitsrecht, 11. Aufl. 2011, § 619a Rz. 9; Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und leitenden Angestellten, 2001, S. 4. 51 Vgl. BGH, WM 1975, 467, 469; OLG Düsseldorf, AG 1995, 416, 420; Hopt (Fn. 13), § 93 Rz. 339 ff.; Hüffer (Fn. 6), § 93 Rz. 14; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 26. Lieferung (2006), § 84 Rz. 461; Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 37; A. Jäger, Aktiengesellschaft, 2004, § 21 Rz. 97; umfassende Darstellung des Streitstandes bei Sandmann (Fn. 50), S. 333 f. 52 Vgl. dazu Henssler (Fn. 50), § 619a Rz. 19; Krieger, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 1995, 1996, S. 149, 164 f.; Sandmann (Fn. 50), S. 335. 53 BAGE 78, 56, 61 f. = AP Nr. 103 zu § 611 BGB (Haftung des Arbeitnehmers) = NJW 1995, 210; schon in den BGB-Materialien wurde eine Sonderregelung für Arbeitsverträge gefordert; vgl. Mugdan, Materialien zum BGB, Bd. II, S. 1328, 1333, 1340; zur dogmatischen Verortung der Haftungsprivilegierung in einem Analogieschluss s. auch Henssler (Fn. 50), § 619a Rz. 10; Reichold in MünchHdb. Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, § 51 Rz. 25, 28; gegen abweichende Ansätze in den Materialien zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (BT-Drucks. 14/6857, S. 48) etwa Henssler, RdA 2002, 129, 133; Otto, Jura 2002, 1, 8; Waltermann, RdA 2005, 98, 99 f.; ders., JuS 2009, 193, 195; Wank in FS Schwerdtner, 2003, S. 247, 260 ff. 54 So die ganz h. M. – vgl. etwa Altmeppen in Roth/Altmeppen GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 43 Rz. 9; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 43 Rz. 16; Klöhn in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 43 Rz. 28; Paefgen in Ulmer, GmbHG, 2006, § 43 Rz. 52; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 43 Rz. 22.

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Geschäftsleiter zugeschnitten ist, wird man gerade in diesem Bereich nicht von einer Regelungslücke ausgehen können. 3. Schutzbereich der § 93 Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG Ein dritter Ansatz, der einen Regressanspruch mit der Begründung verneint, der Schaden liege nicht mehr im Schutzbereich der § 93 Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG, soll hier nicht vertieft untersucht werden. Die Befürworter dieser These stützen sich auf den bereits oben behandelten abschließenden Charakter der sanktionsrechtlichen Regeln55. Selbst wenn man sich dieser Sichtweise anschließen wollte, so würde sie doch methodisch eher eine teleologische Reduktion aufgrund systematischer-teleologischer Erwägungen nahelegen als eine Begrenzung über den Schutzzweck der Norm. Verneint man mit der hier vertretenen Auffassung bereits den abschließenden Charakter, so ist ohnehin kein weiterer Grund ersichtlich, warum § 93 AktG gerade diesen Schaden nicht erfassen sollte; denn schließlich wird mit dieser Anordnung der Ausgleichs- und der Präventionsfunktion der Norm gleichermaßen gedient56. Die Zweifel an der Angemessenheit dieses Ergebnisses richten sich nicht so sehr gegen die grundsätzliche Ersatzpflicht, sondern gegen ihre Höhe (s. oben III. 2.)57.

V. Reduzierung des Regressanspruchs 1. Gesellschaftliche Fürsorgepflicht als dogmatischer Ausgangspunkt Auch wenn man einen vollständigen Regressausschluss verwirft, so bleibt doch eine Reduzierung der Regresssumme, wie sie namentlich von Bayer vorgeschlagen wurde, erwägenswert. In der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht für ihre Organe könnte eine solche Beschränkung eine Stütze finden58, doch ist dieser gesetzlich nur unzureichend vorgezeichnete Weg in mehrfacher Hinsicht abzusichern. So ist zunächst zu klären, ob die Fürsorgepflicht tatsächlich eine entsprechende Rücksichtnahme gebieten kann. Dabei muss der Frage nachgegangen werden, ob das Gesetz einer etwaigen Unverhältnismäßigkeit zwischen Belastung und persönlicher Leistungsfähigkeit nicht bereits auf anderen Ebenen hinreichend entgegenwirkt. Stellt man in dem gesetzlichen Schutzkonzept Lücken fest, so können daraus Fallgruppen entwickelt werden, in denen ein Korrekturbedarf verbleibt, dem über die Fürsorgepflicht abgeholfen werden kann. Dabei muss aber dafür Sorge getragen werden, dass auf diesem Wege nicht

__________ 55 So Dreher (Fn. 5), S. 85, 104; Horn, ZIP 1997, 1129, 1136; R. Krause, BB-Spezial 2007 Nr. 8, S. 2, 13. 56 Krit. daher auch Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Habersack (Fn. 10), S. 5, 32 f.; Zimmermann, WM 2008, 433, 437. 57 Fraglich kann allerdings der Zurechnungszusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Geldbuße sein, wenn die Gesellschaft sich mit den Behörden über die Sanktion geeinigt hat; vgl. dazu Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 57. 58 Zu dieser Wirkrichtung der Treu- und Fürsorgepflichten gegenüber den Organen vgl. Fleischer (Fn. 23), § 84 Rz. 31; Hüffer (Fn. 6), § 84 Rz. 9; Kort (Fn. 51), § 84 Rz. 280; Spindler (Fn. 14), § 84 Rz. 58.

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die gesetzliche Haftungsanordnung umgangen wird, indem die arbeitsrechtliche Haftungsprivilegierung durch die Hintertür der Fürsorgepflicht de facto auch auf die Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften übertragen wird. Sieht man im Lichte dieser Maßgabe für eine Korrektur noch Raum, gelangt man zu der abschließenden Frage, ob dem Gesetz Anhaltspunkte für eine summenmäßige Festlegung der Beschränkung zu entnehmen sind. 2. Die Grundsätze betrieblich veranlasster Tätigkeit als Referenzmodell a) Tragende Motive der Privilegierung einer betrieblich veranlassten Tätigkeit Der Begriff der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht ist aufgrund seiner verschwommenen Konturen besonders anfällig dafür, gesetzliche Vorgaben durch allgemeine Billigkeitserwägungen zu verwässern59. Dieser Gefahr lässt sich am zuverlässigsten dadurch entgegenwirken, dass zu seiner inhaltlichen Ausformung anerkannte juristische Wertungsmaßstäbe herangezogen werden. Den gedanklichen Ausgangspunkt bilden insofern die richterrechtlich entwickelten Grundsätze betrieblich veranlasster Tätigkeit60. Obwohl ihre innere Verwandtschaft mit dem Innenregress gegen Organmitglieder bereits festgestellt wurde, konnten sie nicht zur Anwendung gelangen, da die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung nicht vorlagen (s. oben IV. 2.). Die Frage, ob die zugrunde liegenden Rechtsgedanken nicht zumindest teilweise auch auf Organmitglieder übertragbar sind, musste deshalb nicht vertieft werden. Diese Prüfung ist hier nachzuholen, da die einschlägigen Wertungen zwar möglicherweise keine teleologische Reduktion tragen61, aber doch dazu dienen können, Inhalt und Grenzen der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht gegenüber den Organen klarer zu umreißen. Ein solcher Wertungstransfer wird allerdings dadurch erschwert, dass das Institut der betrieblich veranlassten Tätigkeit zwar im Grundsatz unbestritten ist, über seine theoretische Fundierung aber keine Einigkeit herrscht62. Richterrechtliche Herleitung und literarischer Zuspruch gründen sich nicht auf ein einheitliches Motiv, sondern auf ein facettenreiches Motivbündel, dessen Bestandteile nur schwer fassbar sind63. Sammelt man die zentralen Erwägungen, so lassen sie sich in grober Form folgendermaßen zusam-

__________ 59 Kritisch bereits Canaris, RdA 1966, 41, 45. 60 Vgl. bereits die Nachw. oben unter IV. 2. Diese Vorgehensweise bietet sich hier an, da auch die Grundsätze betrieblich veranlasster Tätigkeit ursprünglich ebenfalls auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gestützt wurden; vgl. Gaul, DB 1958, 1011, 1012; Gumpert, BB 1958, 740; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1961, § 27 V 4; Überblick über diese Entwicklung bei Frisch, Haftungserleichterung für den GmbHGeschäftsführer nach dem Vorbild des Arbeitsrechts, 1998, S. 141 ff.; Sandmann (Fn. 50), S. 57 ff. 61 Obwohl die arbeitsrechtlichen Grundsätze sonst auf einen Analogieschluss gestützt werden (s. Fn. 53), müsste für Organmitglieder aufgrund der Anordnung in § 93 AktG, § 43 GmbHG auf eine teleologische Reduktion zurückgegriffen werden. 62 So auch der Befund von Joussen, RdA 2006, 129, 131; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 26: „zu komplex, um durch monokausale Konzeptionen angemessen erklärt werden zu können“. 63 Umfassende Analyse bei Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 29 ff.

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menfassen: Den Kerngedanken bildet die Überlegung, dass es unangemessen wäre, die Chancen unternehmerischen Handelns dem Arbeitgeber zuzuweisen, die daraus erwachsenden Risiken aber dem Arbeitnehmer, selbst wenn sie aufgrund der durch die Unternehmung bedingten Größe seine wirtschaftliche Existenz vernichten könnten64. Dabei werden ergänzend die geringen Verdienstmöglichkeiten des Arbeitnehmers angeführt, die zu diesem Risiko in keinem Verhältnis stünden65. Schließlich wird auf die Weisungsbindung des Arbeitnehmers hingewiesen, die dazu führe, dass er in eine fremdbestimmte Arbeitsorganisation integriert sei und damit Risiken zu tragen habe, die er selbst nicht steuern könne66. b) Vergleichbare Schutzbedürftigkeit von Organmitgliedern? aa) Unverhältnismäßige Belastung Untersucht man, inwiefern sich diese zentralen Motive auf Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften übertragen lassen, so gelangt man zu einem ambivalenten Ergebnis. Bereits die einleitenden Beispiele (unter I.) belegen zur Genüge, dass es auch bei Kapitalgesellschaften zu erheblichen Diskrepanzen zwischen der (aus der unternehmerischen Tätigkeit resultierenden) Schadenshöhe und der persönlichen Leistungsfähigkeit des Geschäftsleiters kommen kann67. Da Bußgelder an der Wirtschaftskraft des korporativen Sanktionsadressaten bemessen werden (s. oben III. 2.), ergibt sich die unverhältnismäßige Belastung des Betroffenen hier geradezu paradigmatisch aus den gesteigerten Risiken unternehmerischen Handelns68. Die schadensmultiplizierende Wirkung des unternehmerischen Handelns, die im Arbeitsrecht lediglich vermutet wird, ist hier gesetzlich angeordnetes Programm. Infolge dieser Vervielfachung droht der Innenregress die wirtschaftliche Existenz des Verantwortlichen zu zerschla-

__________ 64 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 50; zur Möglichkeit einer Versicherung auf Arbeitgeberseite s. noch Fn. 69. 65 Vgl. dazu etwa Brox/Rüthers/Henssler (Fn. 50), Rz. 245; Buchner, RdA 1972, 153, 157; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 42 f.; Preis, AuR 1986, 360, 364. 66 S. dazu etwa Brox/Rüthers/Henssler (Fn. 50), Rz. 243; Canaris, RdA 1966, 41, 45; Gamillscheg/Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2. Aufl. 1974, S. 50 f.; Otto/ Schwarze (Fn. 50), Rz. 31, 38; Richardi, NZA 1994, 241, 242; zu der Relevanz dieses Merkmals bei der Diskussion um die Privilegierung leitender Angestellter vgl. die Ausführungen unter V 2 b bb. 67 Darauf verweisen auch die Stimmen, die Geschäftsleiter entgegen der hier vertretenen Auffassung generell in den Genuss einer Privilegierung nach den Grundsätzen betrieblich veranlasster Tätigkeit kommen lassen wollen; vgl. etwa Brox/Walker, DB 1985, 1469, 1476 f.; Höhn, Die Geschäftsleitung der GmbH, 2. Aufl. 1995, S. 198 f.; Wehrmeyer, Die arbeitsrechtliche Einordnung der Organe juristischer Personen, 1988, S. 192 f.; monographisch auch Frisch (Fn. 60). 68 Diese Vergleichbarkeit wird in gewisser Weise in Frage gestellt, wenn ein Geschäftsleiter gewinnorientierte Vergütungsbestandteile erhält. Auch in diesem Fall ist die Partizipation an den unternehmerischen Chancen aber nicht hinreichend gewichtig, um ihm deshalb auch die Betriebsrisiken uneingeschränkt zuzuweisen; vgl. dazu auch Frisch (Fn. 60), S. 181 ff., dessen strengere Sichtweise aber vor dem Hintergrund zu lesen ist, dass er einen gänzlichen Haftungsausschluss diskutiert.

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gen, ohne dass er die Möglichkeit hat, sich gegen dieses Risiko zu versichern (s. oben III. 1.)69. Das sich danach aufdrängende Korrekturbedürfnis kann nicht schon unter Verweis auf den gehobenen Verdienst der Geschäftsleiter pauschal in Zweifel gezogen werden70. Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass sich die zum Teil großzügig bemessenen Gehälter deutscher Vorstandsmitglieder kaum in die herkömmliche sozialpolitische Perspektive der arbeitsrechtlichen Grundsätze einrücken lassen71. Ebenso wenig darf verkannt werden, dass die Ausgestaltung der Vorstandsverträge den gesteigerten Risiken oftmals bereits durch entsprechende Risikoprämien Rechnung tragen wird72. Auf der anderen Seite verbietet es aber schon die rechtstatsächliche Vielgestaltigkeit der Kapitalgesellschaften sämtliche ihrer Erscheinungsformen über einen Kamm zu scheren. Die Einkünfte eines GmbH/UG-Fremdgeschäftsführers in einem kleineren Betrieb werden oftmals die eines durchschnittlichen Angestellten nicht übersteigen, so dass es kaum einleuchtet, seine soziale Schutzbedürftigkeit gänzlich zu vernachlässigen73. Aber auch in den oberen Sphären der Gehaltsskala können sich je nach dem Zuschnitt der Gesellschaft aus dem vielfach potenzierten Risiko in Einzelfällen ebenso krasse Unverhältnismäßigkeiten ergeben wie in einem herkömmlichen Arbeitsverhältnis ohne gesteigerte Risikoneigung74. Diese Risiken werden auch nicht stets durch entsprechende Risikoprämien abbedungen. Die Gefahr einer „wirtschaftlichen Todesstrafe“75 für ein möglicherweise nur fahrlässiges Versäumnis wird kein Organmitglied in Kauf nehmen. Vielmehr wird es auf eine versicherungsrechtliche Absicherung seiner Position drängen, die ihm in der Regel in Gestalt einer D&O-Versicherung auch gewährt wird76. Ist ein Geschäftsleiter in dieser Form ersichtlich um die Eingrenzung seiner Risiken bemüht, so kann kaum behauptet werden, er hätte sie gegen eine Prämie sehenden Auges hingenommen, wenn die-

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69 Nicht zu verkennen ist natürlich, dass es auch der Gesellschaft nicht möglich ist, sich gegen dieses Risiko zu versichern (s. oben III. 1.), obgleich auch dieser Gesichtspunkt oftmals herangezogen wird, um die Haftungsprivilegierung betrieblich veranlasster Tätigkeit zu begründen (vgl. etwa Canaris, RdA 1966, 41, 45; Sandmann [Fn. 50], S. 61, 134 ff.; Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 66 f.). Da dieser Gedanke in die tatbestandliche Ausformung des Instituts durch das Richterrecht aber keinen Eingang gefunden hat, muss es auch für Organmitglieder nicht als zwingende Voraussetzung betrachtet werden. 70 In diese Richtung etwa Sandmann (Fn. 50), S. 337 f. 71 Vgl. Kort (Fn. 51), § 84 Rz. 461; Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 37; zu dieser sozialpolitischen Komponente BAGE 63, 127, 133 ff. = AP Nr. 97 zu § 611 BGB (Haftung des Arbeitnehmers) = NJW 1990, 468; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 41 ff. 72 Vgl. zu diesem Gedanken auch Bayer (Fn. 6), S. 85, 97 f.; Frisch (Fn. 60), S. 181; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 570 f. 73 Vgl. dazu etwa Fleck in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 196, 208 f.; Wank in FS Wiedemann, 2002, S. 587, 589; a. A. Sandmann (Fn. 50), S. 337 f.: bewusster beruflicher Aufstieg, der mit erheblichen wirtschaftlichen Chancen verbunden ist. 74 So auch Bastuck (Fn. 23), S. 82; Hopt (Fn. 13), § 93 Rz. 341; Krieger (Fn. 52), S. 149, 164. 75 Bayer (Fn. 6), S. 85, 97. 76 Zur Verbreitung von D&O-Versicherungen vgl. Rudzio, Vorvertragliche Anzeigepflicht bei der D&O-Versicherung der Aktiengesellschaft, 2010, S. 17: „Standardprodukt“; ferner Dreher, AG 2008, 429; Ulmer, ZHR 171 (2007), 119, 120.

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ser Schutz wegen der Grenzen der Versicherungsleistung ausnahmsweise versagt (s. oben III. 1.)77. bb) Fehlende Weisungsbindung von Organmitgliedern Lassen sich diese Wertungsgesichtspunkte also zumindest in Einzelfällen auch auf die Organmitglieder einer Kapitalgesellschaft übertragen, so ergeben sich doch größere Unterschiede im Hinblick auf ihre Weisungsbindung: Geschäftsleiter werden nicht in einen fremden Arbeitsbereich integriert, sondern gestalten diesen selbst. Allerdings kann auch diese Feststellung nicht pauschal getroffen werden. Geschäftsführer einer GmbH sind nach § 37 GmbHG an die Weisungen ihrer Gesellschafter gebunden78. Auf Vorstandsmitglieder trifft das zwar nicht zu (§ 76 AktG), doch kann sich auch hier aufgrund des Charakters des Vorstands als Kollektivorgan ergeben, dass das einzelne Mitglied nicht alleinverantwortlich über die gesamte Organisations- und Risikostruktur der Gesellschaft zu entscheiden vermag. Bedeutsamer als diese differenzierende Betrachtungsweise ist der Umstand, dass es generell zweifelhaft ist, ob es sich bei der Weisungsunterworfenheit des Arbeitnehmers tatsächlich um ein tragendes und nicht nur um ein stützendes Element seiner Haftungsprivilegierung handelt. Im Rahmen dieses Beitrags kann diese Frage nicht umfassend beleuchtet werden, doch sollen in knappen Zügen mehrere Entwicklungslinien aufgezeigt werden, die gegen ein solches Verständnis sprechen. Als aufschlussreich erweist sich insofern zunächst die Wertung des § 831 BGB. Diese Regelung gründet auf die Weisungsbindung des Arbeitnehmers die Vermutung, dass ein Schaden innerhalb des Betriebs nicht allein auf seinem Verschulden beruht, sondern auch auf einem Verschulden des Unternehmers79. Der Unternehmer kann sich von diesem Vorwurf aber exculpieren, da die Norm im Gegensatz zu ausländischen Rechtsordnungen nicht als umfassende Verantwortlichkeit für Gehilfenversagen konzipiert wurde (respondeat superior), sondern in der Tradition des gemeinen Rechts stehend das Verschuldensprinzip umsetzt80. Die Privilegierung nach den Grundsätzen betrieblich veranlasster Tätigkeit scheitert dagegen nach ihrer herkömmlichen richterrechtlichen Ausgestaltung nicht, wenn der Arbeitgeber die fehlende Ursächlichkeit seiner Leitungsmacht nachweisen kann. Dieser Wirkungsunterschied gibt einen ersten Hinweis darauf, dass die Haftungsprivilegierung

__________ 77 Auch im Arbeitsrecht werden Geschäftsleiter keinesfalls als generell nicht schutzwürdig angesehen. So zieht etwa Sandmann (Fn. 50), S. 348 ff. eine Ausgleichspflicht der Gesellschaft in Betracht, wenn sie es versäumt, ihrem Geschäftsführer eine entsprechende Versicherung anzubieten. Dieser Ansatz würde hier aber versagen, da die Gefahr in diesem speziellen Fall eben nicht versicherbar ist (s. oben III. 1.). 78 Zu den – meist wenig überzeugenden – Ansätzen, diese Weisungsbindung inhaltlich von der eines leitenden Angestellten abzugrenzen, vgl. etwa Joussen, RdA 2006, 129, 135. 79 Vgl. zu diesem Normzweck statt aller G. Wagner in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 831 Rz. 1 ff. 80 Vgl. Matusche-Beckmann, Das Organisationsverschulden, 2001, S. 15 ff.; Spindler, Unternehmensorganisationspflichten, 2001, S. 689 f.; G. Wagner (Fn. 79), § 831 Rz. 1 ff.

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des Arbeitnehmers ihre Rechtfertigung nicht darin findet, dass die Bindung an fremde Weisungen eine Schadensverursachung provoziert; denn anderenfalls würde einer solchen Bindung im arbeitsrechtlichen Kontext eine wesentlich höhere Aussagekraft beigemessen, als es in der spiegelbildlichen gesetzlichen Wertung des § 831 BGB vorgegeben ist. Als alternatives Erklärungsmodell ist deshalb in Betracht zu ziehen, ob die Privilegierung sich nicht vielmehr aus dem Umstand erklärt, dass es auch in einer optimalen Organisationsstruktur allein aufgrund der langfristigen Einbindung des Arbeitnehmers früher oder später zu einer fahrlässigen Schadensverursachung kommen muss, deren Folgen durch das Betriebsrisiko um ein Vielfaches potenziert werden und deshalb nicht zu seinen Lasten gehen sollen81. Der Unterschied zwischen diesen beiden Deutungsmöglichkeiten wäre gerade für die hier behandelte Frage relevant, da auch weisungsfreie Organmitglieder fortdauernd im fremden Interesse tätig werden und dabei nach der gesetzlichen Regelung mit dem Betriebsrisiko belastet wären. Es spricht viel dafür, dass zumindest nach dem heutigen arbeitsrechtlichen Entwicklungsstand in der Tat nicht mehr ein schadensmitverursachendes Weisungsrecht des Arbeitgebers für die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers maßgeblich ist, sondern die generelle Mitverantwortung für ein davon unabhängiges Betriebsrisiko82. Das zeigt sich etwa in der Aufgabe des Kriteriums einer schadensgeneigten Tätigkeit83 sowie in der deutlich erkennbaren Tendenz, die inhaltliche Umschreibung des zentralen Haftungsgrundes „Betriebsrisiko“ weitgehend von einem Schadensverursachungsbeitrag des Arbeitgebers loszulösen84. Auch der stetig wachsende Zuspruch für eine Ausdehnung der Haftungsprivilegierung auf leitende Angestellte belegt85, dass ihr Wertungskern nicht maßgeblich in der Weisungsunterworfenheit liegt, da auch dieser

__________ 81 Vgl. dazu neben den Nachw. in Fn. 50 die klassische Begründung des RAG, wonach „auch einem gewissenhaften Dienstverpflichteten Fehlgriffe unterlaufen, die zwar für sich betrachtet jedesmal vermeidbar sind, mit denen aber angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit als mit einem typischen, mehr oder minder genau voraussehbaren Abirren der Dienstleistung erfahrungsgemäß gerechnet wird“ (RAGE 24, 199, 202 f.). 82 Zu diesem allgemeinen Konzept einer Risikohaftung bei Tätigkeit in fremdem Interesse vgl. auch Canaris, RdA 2006, 41, 45; Frisch (Fn. 60), S. 146 ff.; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 37. 83 Grundlegend BAGE 78, 56, 61 ff. = AP Nr. 103 zu § 611 BGB (Haftung des Arbeitnehmers) = NJW 1995, 210; im Anschluss an die Vorlage des 8. Senats, BAGE 63, 120, 123 ff. = AP Nr. 98 zu § 611 BGB (Haftung des Arbeitnehmers) = NJW 1990, 472; vgl. zu dieser hier nicht weiter nachzuzeichnenden Entwicklung den Überblick bei Richardi, NZA 1994, 241 ff. 84 Vgl. zu dieser Entwicklung die kritische Darstellung von Sandmann (Fn. 50), S. 61 ff. m. w. N.; umfassende Analyse der zahlreichen Facetten des „Betriebsrisikos“ bei Otto/ Schwarze (Fn. 50), Rz. 29 ff. 85 Sehr restriktiv noch BGH, VersR 1985, 693, 695 f.; großzügiger jetzt aber BGHZ 148, 167, 172 f. = NJW 2001, 3123; für eine Einbeziehung leitender Angestellter etwa Henssler (Fn. 50), § 619a Rz. 17; Joussen, RdA 2006, 129, 130 ff.; R. Krause, NZA 2003, 577, 581; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 128; Preis (Fn. 50), § 619a Rz. 19; Waltermann, RdA 2005, 98, 100; ders., JuS 2009, 193, 195; dagegen Fleck (Fn. 73), S. 197, 216; Kaiser, AR-Blattei SD 2004, N4. 70.2 Rz. 227 ff.

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Personenkreis in vielen Fällen selbst zur Ausgestaltung seines Arbeits- und Risikoumfeldes befugt ist86. Ausschlaggebend scheint vielmehr auch hier zu sein, dass leitende Angestellte fortdauernd zur Gewinnerzielung für Dritte tätig werden und dabei an den fremddefinierten Unternehmensgegenstand gebunden sind. Dieser Gedanke der langfristigen Einbindung und der sich daraus ergebenden dauerhaften Risikoerhöhung trifft auf Organmitglieder aber nicht minder zu als auf einfache Arbeitnehmer87. c) Folgerungen aus dem arbeitsrechtlichen Wertungstransfer Nach den bisherigen Feststellungen können die zentralen Wertungen, die dem Institut der betrieblich veranlassten Tätigkeit zugrunde liegen, in bestimmten Konstellationen auch auf die Organmitglieder einer Gesellschaft übertragen werden88. In diesem Fall liegt es nahe, einen Innenregress der Gesellschaft aufgrund ihrer Fürsorgepflicht nicht uneingeschränkt zuzulassen89. Allerdings ist diese Wertung von zahlreichen Umständen des Einzelfalls abhängig und kann nicht gleichermaßen standardisiert vorgenommen werden, wie es bei Arbeitnehmern möglich ist. Diese Einzelfallbezogenheit erschwert die juristische Handhabung, entspricht aber zugleich dem rechtlichen Ursprung der Beschränkungsmöglichkeit in der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht. Tatsächlich wäre es nicht nur in der Sache unangemessen, sondern auch methodisch unzulässig, wollte man aus der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht ähnliche Freistellungspflichten herleiten wie bei der betrieblich veranlassten Tätigkeit. Eine solche Vorgehensweise würde mittelbar doch zu einer teleologischen Reduktion der § 93 AktG, § 43 GmbHG führen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind (s. oben IV. 2.). Eine einzelfallbezogene Korrektur, wie sie hier befürwortet wird, ist diesem Vorwurf hingegen nicht ausgesetzt. Es geht nicht darum, das Organmitglied gänzlich aus der Haftung zu entlassen, sondern um die Frage, ob die Gesellschaft in der Durchsetzung dieses Anspruchs wie ein außenstehender Geschädigter bis zu den sozialpolitischen Pfändungsgrenzen gegen ihren Geschäftsleiter vorgehen darf oder ob sie zu einem erhöhten Maß an Rücksichtnahme verpflichtet ist. Dass damit die Grenzen der Rechtsfortbildung nicht überschritten werden, belegt ein Vergleich mit den Treupflichten der Gesellschafter untereinander, die der Fürsorgepflicht der Gesellschaft ge-

__________ 86 Zu diesen eigenen Leitungsbefugnissen vgl. auch Joussen, RdA 2006, 129, 133. 87 Vgl. zu dieser Konsequenz Frisch (Fn. 60), S. 177 ff.; auch Sandmann (Fn. 50), S. 62 stellt fest, dass das neuere Verständnis des Betriebsrisikobegriffs konsequenterweise zu einer Einbeziehung der Geschäftsleiter führen müsste. 88 Hält man die Weisungsbindung entgegen der hier vertretenen Auffassung für ein tragendes Element der Arbeitnehmerprivilegierung, so folgt daraus noch nicht, dass eine Regressminderung ausgeschlossen ist, sondern lediglich, dass die inhaltliche Ausformung des Fürsorgebegriffs weniger deutlich an das arbeitsrechtliche Referenzmodells angelehnt werden kann. 89 Die von Habersack (Fn. 10), S. 5, 32 f. vorgeschlagene Lösung, in diesem Fall nur die Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats aufzulockern, stellt die Rücksichtnahme in die Willkür dieses Organs und kann daher den berechtigten Schutzbelangen der Geschäftsleiter nicht gerecht werden.

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genüber ihren Organen nah verwandt sind90. Auch hier wird es den Gesellschaftern verwehrt, gesetzlich zugewiesene Rechtspositionen auszuüben. Da es sich aber nicht um standardisierte, sondern nur um punktuelle Korrekturen in Ausnahmefällen handelt, muss dafür die Analogievoraussetzung einer planwidrigen Regelungslücke nicht erfüllt sein. Folgt man diesem Ansatz, so muss die Regressreduzierung – anders als nach dem sanktionsrechtlichen Ansatz – nicht zwingend auf bußgeldbedingte Schäden beschränkt sein, sondern kann unter Umständen auch auf sonstige Haftungskonstellationen übertragen werden. Im Rahmen dieser Untersuchung soll dieser Möglichkeit nicht weiter nachgegangen werden, sondern der Fokus auf Bußgeldzahlungen gerichtet bleiben, bei denen sich die Frage der Regressreduzierung aufgrund des fehlenden Versicherungsschutzes und der Bußgeldbemessung am Maßstab der Leistungsfähigkeit mit besonderer Dringlichkeit stellt. Dennoch sollte für die weitere Diskussion nicht aus den Augen verloren werden, dass mit dem Wechsel in der dogmatischen Begründung auch die Beschränkung auf den Sanktionsbereich zweifelhaft geworden ist. 3. Erfasste Verschuldensformen und anderweitige Entlastung der Geschäftsleitung Bejaht man die generelle Möglichkeit, auch Organmitglieder partiell von ihrer Innenhaftung freizustellen, so liegt es nahe, den zugrunde liegenden Wertungstransfer zu den Grundsätzen betrieblich veranlasster Tätigkeit im Ausgangspunkt auch auf die tatbestandliche Ausformung der Regressbeschränkung zu übertragen. Auch wenn die Einzelheiten hier nicht vertieft werden sollen, so kann danach doch schon eine erste Eingrenzung des Anwendungsbereichs vorgenommen werden. Geht man mit der herrschenden Meinung davon aus, dass eine Privilegierung des Arbeitnehmers in der Regel nur in Fällen leichter und mittlerer Fahrlässigkeit eingreift91, ist für Geschäftsleiter keine weitergehende Freistellung begründbar. Gerade aus dieser Beschränkung auf leichtere Verschuldensgrade erwächst allerdings noch ein letzter Einwand gegen die hier vertretene Lösung. Es drängt sich nämlich die Frage auf, ob gerade bei diesen Fahrlässigkeitsformen für eine Entlastung der Geschäftsleiter überhaupt noch Raum besteht. Das wäre zweifelhaft, wenn das Gesetz schon selbst Kautelen vorsieht, um Organmitglieder vor einer übermäßigen Belastung mit unternehmerischen Risiken zu bewahren. Einen Ansatzpunkt für diese Erwägung enthält § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG92. Diese Regelung eröffnet Geschäftsleitern einen sicheren Hafen vor etwaigen Regressansprüchen, die aus Schadensfällen infolge unternehmerischer Tätigkeit resultieren. Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass eine überzogene Sanktionsdrohung die erwünschte Risikobereitschaft der Geschäftsleitung mindert93. Im sicheren Hafen befindet sich

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90 Vgl. dazu statt aller K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20 IV. 91 Zu dieser – hier nicht weiter zu hinterfragenden – h. M. vgl. statt vieler Henssler (Fn. 50), § 619a Rz. 36 m. w. N. 92 Zur entsprechenden Anwendung auf die GmbH vgl. bereits die Nachw. in Fn. 54. 93 Vgl. dazu bereits J. Koch, ZGR 2006, 769, 782 m. w. N.

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ein Organmitglied, wenn es bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen darf, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Damit wird ein relativ großzügiger Haftungsfreiraum eröffnet. Ein Vorstand, der vernünftigerweise nicht annehmen darf, zum Wohle seiner Gesellschaft zu handeln, wird sich oftmals im Bereich grober Fahrlässigkeit bewegen94, wo eine Haftungsprivilegierung regelmäßig nicht mehr in Betracht kommt. Dass trotz dieser gesetzlichen Freistellung für eine Regressreduzierung noch Raum bleibt, erklärt sich speziell bei Bußgeldern daraus, dass hier regelmäßig schon der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht eröffnet sein wird. Im sanktionsbewehrten Bereich greifen gesetzliche Bindungen ein, die nicht mehr unter das Merkmal der unternehmerischen Entscheidung fallen95. Aufgrund der Legalitätspflicht des Vorstands wird dann regelmäßig auch im Innenverhältnis ein Pflichtverstoß anzunehmen sein, so dass er sich allenfalls noch auf ein fehlendes Verschulden berufen könnte96. Auf der Verschuldensebene gilt jedoch der einfache Fahrlässigkeitsmaßstab, so dass hier nach dem Gesetzeswortlaut aus einem Fehlverhalten ohne gesteigerte Schuld schwerwiegende Haftungsfolgen erwachsen können. Der gesetzlichen Regelung lassen sich keine Hinweise entnehmen, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in einem solchen Fall auch hinsichtlich des Umfangs der Belastung eine abschließende Regelung trifft97. 4. Umfang der Reduktion a) Hypothetische Sanktionshöhe bei individueller Bebußung als Maßstab Lässt man eine Regressminderung grundsätzlich zu, so bleibt die Frage nach ihrer summenmäßigen Fixierung zu beantworten. Im Schrifttum wird dazu vorgeschlagen, der Regress solle sich an der maximalen Bußgeldhöhe orientieren, die gegen das Organmitglied selbst hätte verhängt werden können, wäh-

__________ 94 Von einer Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit hat der Gesetzgeber zwar bewusst abgesehen (vgl. noch die abweichende Gestaltung des Referentenentwurfs zum UMAG, NZG 2004, Beil. 4, S. 5; zur Kritik an dieser Ausgestaltung s. DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2004, 555, 556; Hüffer [Fn. 6], § 93 Rz. 4g; Ihrig, WM 2004, 2098, 2106; Ulmer, DB 2004, 859, 861 ff.); die Schnittmenge zwischen diesen beiden Formen der Haftungsfreistellung ist aber nichtsdestotrotz groß. 95 Zum Gegensatz zwischen unternehmerischen und gesetzlich gebundenen Entscheidungen vgl. RegBegr UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; aus dem Schrifttum statt aller Hüffer (Fn. 6), § 93 Rz. 4 f. 96 Zu der noch immer nicht abschließend geklärten Frage, ob bei gebundenen Entscheidungen unter dem Vorzeichen juristischer Unsicherheit etwas anderes gilt, vgl. den Streitstand unter III. 1. 97 So im Ergebnis auch Mertens/Cahn (Fn. 6), § 93 Rz. 38. Lässt man eine Reduzierung auch in anderen Schadensfällen zu (s. oben V. 2. c), so werden zahlreiche Fälle in der Tat schon durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufgefangen. Welche Relevanz der Reduzierung dann verbleibt, hängt von den bis heute ungeklärten tatbestandlichen Grenzen der Norm ab. Je enger man ihren Anwendungsbereich fasst, desto weiter dehnt sich der Anwendungsbereich für eine etwaige Regressbeschränkung aus.

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rend andere schlicht für eine „angemessene“ Reduktion plädieren98. Die erste Lösung wurde ursprünglich auf der Grundlage des oben verworfenen sanktionsrechtlichen Ansatzes (s. IV. 1.) entwickelt. Namentlich Thole hat sich aber dafür ausgesprochen, daran im Hinblick auf die fehlende Bestimmtheit des Angemessenheitsbegriffs auch auf der dogmatischen Grundlage der Fürsorgepflicht festzuhalten99. Dazu ist zunächst festzustellen, dass die fehlende Bestimmtheit zumindest unter zivilprozessualen Aspekten einer Reduktion nicht entgegensteht. Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass den Gerichten damit eine ausgesprochen schwierige Aufgabe ohne klare normative Vorgabe zugewiesen wird, so findet eine derartige Schätzungsbefugnis doch in § 287 ZPO einen gesetzlichen Anhaltspunkt. Auch dem Aktienrecht ist sie nicht fremd, wie § 87 AktG belegt, der in seinen beiden ersten Absätzen ein gerichtlich zu überprüfendes Angemessenheitspostulat aufstellt. Schließlich entspricht diese Angemessenheitsprüfung auch den als Referenzmodell herangezogenen Grundsätzen betrieblich veranlasster Tätigkeit, die im Bereich mittlerer Fahrlässigkeit ebenfalls eine Haftungsquotelung nach Abwägung der Umstände des Einzelfalls vorsehen100. Tatsächlich hält auch Thole den Maßstab einer angemessenen Herabsetzung nicht etwa aus prozessualen Gründen für unzulässig, sondern gibt vielmehr zu bedenken, für den Handelnden selbst könne sein Schadensrisiko schwer zu ermitteln und in sein Verhaltenskalkül einzupreisen sein101. Unter sanktionsrechtlichen Gesichtspunkten mag ein solches Vorhersehbarkeitserfordernis durchaus erwägenswert sein, dient die Festlegung eines Strafrahmens doch auch dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot102. Der Geschäftsleiter wird hier aber gerade nicht einer hoheitlichen Sanktion unterworfen, sondern nur mit einem Schadensersatzanspruch belastet. Dem Schadensrecht ist ein Bestimmtheitserfordernis jedoch fremd. Vielmehr gilt der Grundsatz, dass der Schädiger den Geschädigten so zu nehmen hat, wie er ist103. Vor diesem Hintergrund ist die Regressminderung schon an sich eine Regeldurchbrechung. Dass ihre Höhe darüber hinaus schon im Vorfeld erkennbar sein müsste, kann nicht gefordert werden. Damit ist es auch aus diesem Blickwinkel nicht zwingend, die Minderung auf die Sanktionshöhe im Falle einer individuellen Bebußung zu beschränken. Vielmehr müssten positive Hinweise erkennbar sein, dass diese hypothetische Sanktion tatsächlich einen sachgerechten Indikator liefern könnte, wie hoch die Belastung des Handelnden ausfallen darf.

__________ 98 99 100 101 102

Zum Streitstand vgl. die Nachw. unter II. Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533 f. Vgl. statt aller Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 183 ff. Thole, ZHR 173 (2009), 504, 533. Eser/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 1 Rz. 16; Hassemer/Kargl in Nomos Kommentar StGB, 3. Aufl. 2010, § 1 Rz. 14; Roxin, Strafrecht AT Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rz. 80 ff. 103 BGHZ 20, 137, 139 = NJW 1956, 1108; BGHZ 56, 163, 165 = NJW 1971, 1883; BGHZ 107, 359, 363 = NJW 1989, 2616; Oetker in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 249 Rz. 133 ff. m. w. N.

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Diese Indizwirkung ist aber fraglich. Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht treffen eine Aussage darüber, in welchem Rahmen die Sanktionierung einer Zuwiderhandlung als angemessen angesehen wird. Der Geschäftsleiter soll aber nicht in angemessener Form für einen Rechtsverstoß bestraft werden, sondern es soll unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten von der Durchsetzung eines Regressanspruchs abgesehen werden. Über die Tragweite der zugrunde liegenden Fürsorgepflicht lässt sich der sanktionsrechtlichen Vorgabe keine Aussage entnehmen104. Erst recht besteht auf der Basis dieses dogmatischen Ausgangspunktes kein Anlass – wie von Dreher angenommen105 – von einem Rückgriff gänzlich abzusehen, wenn der Geschäftsleiter nicht selbst mit einer Strafe bedroht ist. Eine solche Sichtweise wäre allenfalls auf der Grundlage einer sanktionsrechtlichen Begründung der Regressbeschränkung sachgerecht. Verwirft man diesen Ansatz, ist ein Gleichlauf von Sanktion und Regress nicht geboten. b) Inhaltliche Ausfüllung des Angemessenheitsbegriffs Sucht man nach anderweitigen Anhaltspunkten, um den Angemessenheitsbegriff mit Inhalt zu füllen, so bietet es sich an, auch hier in einem ersten Schritt auf die Maßstäbe des arbeitsrechtlichen Referenzmodells zurückzugreifen, die sodann um spezifisch gesellschaftsrechtliche Wertungen anzureichern sind106. Danach wird zunächst abzuwägen sein, wie schwer das Verschulden des Geschäftsleiters tatsächlich wiegt, wobei eine gewisse Subjektivierung der grundsätzlich objektiv zu bestimmenden Fahrlässigkeit zu erfolgen hat107. Eine Modifikation erfahren die arbeitsrechtlichen Grundsätze allerdings dahingehend, dass auch bei leichter Fahrlässigkeit keine vollständige Freistellung anzunehmen ist. Das folgt schon im dogmatischen Ausgangspunkt aus dem Ausnahmecharakter der Freistellung (s. oben V. 2. c) und findet für das Aktienrecht eine weitere Stütze in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG. Danach ist die Gesellschaft verpflichtet, bei Abschluss einer D&O-Versicherung einen Selbstbehalt von mindestens 10 % des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen der festen jährlichen Vergütung des Vorstandsmitglieds vorzusehen. Damit hat der Gesetzgeber eine Mindestbelastung formuliert, die er selbst bei bestehendem Versicherungsschutz dem Vorstand für zumutbar hält108. Zumindest im Aktienrecht sollte diese Untergrenze auf die Regressminderung übertragen werden, da es kaum sachgerecht wäre, den nicht versicherten Vorstand besserzustellen als den versicherten. In einem engen Zusammenhang mit dem Verschulden steht das „Betriebsrisiko“, d. h. die konkrete Schadensneigung der unternehmerischen Tätigkeit (s. oben V. 2. b) bb). Auch sie spielt bei der An-

__________ 104 Gegen eine Übertragung dieses Maßstabs deshalb auch Bayer (Fn. 6), S. 85, 97; Haas/Ziemons (Fn. 10), § 43 Rz. 205a. 105 Dreher (Fn. 5), S. 85, 105. 106 Vgl. zu den Abwägungskriterien im Einzelnen Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 183 ff. 107 So für das Arbeitsrecht auch Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 184. 108 Zur Heranziehung des Selbstbeteiligungsbetrags als Orientierungsgröße s. auch LAG Köln, NZA 1992, 1032, 1033; Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 187.

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gemessenheitsprüfung eine wichtige Rolle, wobei es aufgrund der hier vorgenommenen thematischen Eingrenzung nicht um die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, sondern einer Sanktionierung geht. Auch diese kann aber je nach der unternehmerischen Ausrichtung stark divergieren. So ist es etwa für den Vorstand eines Mineralölkonzerns deutlich wahrscheinlicher, wegen eines Umweltvergehens bebußt zu werden, als für den Vorstand eines Kreditinstituts. Bei Verstößen gegen das Kreditwesengesetz wird es umgekehrt sein. Daneben lässt sich § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG noch ein weiteres Kriterium zur Präzisierung des Angemessenheitsbegriffs entnehmen. Diese Vorgabe gibt nämlich nicht nur einen Hinweis auf eine Mindestbelastung des Organmitglieds, sondern die Berechnung dieser Mindestbelastung zeigt überdies, dass (ebenso wie im Arbeitsrecht109) auch die Höhe der Entlohnung ein wichtiges Datum ist, um die bußgeldbedingten Belastungen angemessen zwischen der Gesellschaft und dem Regresspflichtigen aufzuteilen. So wird zunächst mit Blick auf die Vergütungskalkulation zu erwägen sein, ob die Bezüge des Organmitglieds bereits eine entsprechende Risikoprämie enthalten. Je höher diese ausfällt, desto zurückhaltender wird man eine Minderung annehmen110. Dasselbe gilt mit Blick auf die oben dargestellten Wertungsgrundlagen (V. 2.), wenn die Geschäftsleitung durch großzügige variable Vergütungselemente oder eine eigene nennenswerte Gesellschaftsbeteiligung selbst an den aus dem Betriebsrisiko erwachsenden unternehmerischen Chancen partizipiert111. Schließlich stellt wie im Arbeitsrecht das Verhältnis zwischen der Schadenshöhe und der Vergütung eine entscheidende Richtgröße zur Berechnung der Schadensteilung dar. Je weiter die Schadenshöhe die persönlichen Bezüge übersteigt, desto mehr wird man über eine Minderung nachzudenken haben. Schließlich können auch nach dem hier vertretenen Ansatz sanktionsrechtliche Aspekte zur Präzisierung der Regresshöhe herangezogen werden. So wird die Gesellschaft zu berücksichtigen haben, inwiefern das Organmitglied schon selbst als Sanktionsadressat mit den Folgen seines Verstoßes belastet ist. Darüber hinaus ist auch die Bußgeldhöhe, die gegen die Einzelperson verhängt werden kann, nicht ohne jede Aussagekraft. Auch wenn man diesen Betrag nicht als allein maßgeblichen Bezugspunkt anerkennt (s. oben V. 4. a), so indiziert er doch, in welchem Umfang der Schaden durch Unternehmensgröße und Betriebsrisiko über die Person des Handelnden hinaus potenziert worden ist. Gerade in dieser schadensmultiplizierenden Wirkung, die sich aus der wirtschaftlichen Zusammenballung zu einem Unternehmen ergibt, liegt ein wesentlicher Geltungsgrund der Regeln betrieblich veranlasster Tätigkeit und der darauf aufbauenden Fürsorgepflicht gegenüber den Organmitgliedern. Zumindest ergänzend kann daher auch dieses Kriterium in die Berechnung der Schadensteilung einbezogen werden.

__________ 109 Vgl. zu diesen Grundsätzen Otto/Schwarze (Fn. 50), Rz. 185. 110 So auch Bayer (Fn. 6), S. 85, 97 f. 111 Dazu ausführlich Frisch (Fn. 60), S. 181 ff., 184 ff.

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Jens Koch

VI. Ergebnis Wird gegen eine Kapitalgesellschaft ein Bußgeld verhängt, so kann sie aufgrund einer gesellschaftlichen Fürsorgepflicht dazu verpflichtet sein, einen etwaigen Regressanspruch gegen ihre Organe nur in beschränktem Umfang durchzusetzen. Die Fürsorgepflicht kann dabei durch die zur betrieblich veranlassten Tätigkeit entwickelten Grundsätze inhaltlich ausgefüllt werden. Anders als in dem arbeitsrechtlichen Modell kann die Haftungsminderung hier allerdings nicht standardisierter Regelfall sein, sondern ist nur ausnahmsweise geboten. Ein solcher Ausnahmefall ist dann anzunehmen, wenn sich in Fällen leichter oder mittlerer Schadensverursachung gerade die gesteigerte wirtschaftliche Potenz des Unternehmens derart schadensmultiplizierend auswirkt, dass die Leistungsfähigkeit des Einzelnen deutlich überschritten wird. Indizien dafür, ab welcher Höhe und in welchem Umfang eine Regressminderung geboten ist, lassen sich dem Verschuldensgrad, dem Betriebsrisiko des Unternehmens, der Vergütung des Geschäftsleiters, aber auch der maximalen Sanktionshöhe entnehmen, die bei seiner individuellen Bebußung möglich gewesen wäre. Zumindest im Aktienrecht bildet der für eine D&O-Versicherung gesetzlich vorgeschriebene Selbstbehalt nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG eine Untergrenze für die zulässige Belastung des Geschäftsleiters.

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Zum beherrschenden Einfluss des Komplementärs in der KGaA Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beherrschender Einfluss des Komplementärs 1. Auslösung eines Pflichtangebots bei der KGaA 2. Beherrschender Einfluss des persönlich haftenden Gesellschafters a) Konzernrecht

b) Mitbestimmung gemäß MitbestG c) Konzernrechnungslegung gemäß § 290 HGB aa) § 290 Abs. 1 HGB bb) § 290 Abs. 2 HGB d) Stimmrechtszurechnung nach WpHG und WpÜG

Im Gedenken an Martin Winter sollen an dieser Stelle einige Überlegungen zur Stellung des persönlich haftenden Gesellschafters in der KGaA zu Papier gebracht werden. Das Kapitalgesellschaftsrechts war einer der Schwerpunkte der anwaltlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit von Martin Winter, und es war der Bereich, in dem wir uns beruflich begegnet sind.

I. Einleitung Seit dem Urteil des BGH vom 24.2.19971 ist anerkannt, dass die Position des persönlich haftenden Gesellschafters („phG“) einer KGaA auch für Kapitalgesellschaften eröffnet ist. Seit dieser Entscheidung hat die KGaA stärkere Aufmerksamkeit in der Praxis erfahren, auch wenn sie bis heute aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung einnimmt und nach wie vor im Schatten ihrer großen Schwester, der Aktiengesellschaft, steht. Die KGaA ist einerseits börsenfähig und ermöglicht so den Zugang zum Eigenkapitalmarkt. Andererseits kann die Gesellschaft personalistisch (fort-)geführt werden, indem beispielsweise dem Gründer über die Stellung als Komplementär – oder als dessen Alleingesellschafter – eine Einflussnahme auf die Geschäftsführung gesichert wird, die sich in der Aktiengesellschaft nur mittelbar über eine Mehrheit der Stimmrechte verwirklichen ließe. Betrachtet man die Aktiengesellschaft als Ausgangspunkt, so läge die „kleine“ Lösung zur Perpetuierung des Einflusses bei gleichzeitiger Eigenkapitalschöpfung in der Ausgabe von Vorzugsaktien neben den stimmberechtigten Stammaktien. Vorzugsaktien ohne Stimmrecht dürfen allerdings nur bis zur Hälfte des Grundkapitals

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1 BGHZ 134, 392; der Gesetzgeber ist dieser Rechtsprechung durch die Anpassung von § 279 Abs. 2 AktG gefolgt.

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ausgegeben werden (§ 139 Abs. 2 AktG). Die „große“ Lösung zur Wahrung des Einflusses liegt daher in der Umwandlung der Aktiengesellschaft in eine KGaA unter Beibehaltung oder Herstellung einer einheitlichen Gattung stimmberechtigter (Kommandit-)Aktien und Zuweisung der Komplementärstellung an denjenigen, dessen Einfluss strukturell gesichert werden soll. Dreh- und Angelpunkt der KGaA ist der persönlich haftende Gesellschafter. Ihm obliegt die Geschäftsführung und Vertretung der KGaA. Damit entspricht die Stellung des phG der eines Vorstands in der AG, wie auch die Regelungen in § 282 Abs. 1 Satz 1 AktG („Bei der Eintragung der Gesellschaft sind statt der Vorstandsmitglieder die persönlich haftenden Gesellschafter anzugeben.“), § 283 AktG („Für die persönlich haftenden Gesellschafter gelten sinngemäß die für den Vorstand der Aktiengesellschaft geltenden Vorschriften über […].“) oder § 287 Abs. 3 AktG („Persönlich haftende Gesellschafter können nicht Aufsichtsratsmitglied sein.“) zeigen. Diese Rolle ist dem phG durch die Rechtsform der KGaA zugewiesen. Er ist geborenes Leitungsorgan. Die Rolle des Aufsichtsrats einer KGaA ist entsprechend reduziert, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt. Eine „Bestellung“ der Mitglieder des zur Vertretung berechtigten Organs durch den Aufsichtsrat findet nicht statt, auch nicht in der mitbestimmten KGaA (§ 31 Abs. 1 Satz 2 MitbestG)2. Folgerichtig entfällt auch die Bestellung eines Arbeitsdirektors (§ 33 Abs. 1 Satz 2 MitbestG). Zwar obliegt dem Aufsichtsrat der KGaA ebenso wie dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft die Überwachung der Geschäftsführung (§ 278 Abs. 3 i. V. m. § 111 Abs. 1 AktG); der phG ist daher wie der Vorstand einer Aktiengesellschaft dem Aufsichtsrat gegenüber zur Berichterstattung (§ 90 AktG) und zur Vorlage von Jahres- und Konzernabschluss verpflichtet (§§ 283 Nr. 9, 170 Abs. 1 AktG). Einen Katalog von Geschäftsführungsmaßnahmen, die seiner Zustimmung bedürfen, kann der Aufsichtsrat aber aus eigenem Recht nicht erlassen. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG findet insoweit keine Anwendung auf die KGaA3. Auch das scharfe Schwert der Abberufung steht dem Aufsichtsrat in der KGaA nicht zur Verfügung. Wenn in der Satzung nicht Abweichendes bestimmt ist, kann der phG nur im Wege der Ausschließungsklage aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden (§ 289 Abs. 1 AktG, §§ 161 Abs. 2, 140 HGB). Dafür muss in der Person des phG ein wichtiger Grund vorliegen (§ 289 Abs. 1 AktG, §§ 161 Abs. 2, 140, 133 HGB). Zudem müssen die Kommanditaktionäre die Ausschließung vor Klageerhebung mit einer Drei-Viertel-Mehrheit beschließen, falls nicht die Satzung eine größere Mehrheit oder weitere Erfordernisse vorsieht (entsprechend § 289 Abs. 4 Satz 3 und 4 AktG)4. Der phG ist aber nicht nur geborenes Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan, sondern auch Mitgesellschafter der Kommanditaktionäre. Die hybride

__________ 2 Gleiches gilt in der nach dem Drittelmitbestimmungsgesetz mitbestimmten KGaA, Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63. 3 Vgl. nur Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 51. 4 Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 38; Semler/Perlitt in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2000, § 125 Rz. 125; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 289 Rz. 57.

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Rechtsform der KGaA, die durch das Nebeneinander des Aktien- und Personengesellschaftsrechts geprägt ist, spiegelt sich damit auch in der Stellung des phG wider. Gemäß § 278 Abs. 2 HGB bestimmt sich das Rechtsverhältnis des phG gegenüber der Gesamtheit der Kommanditaktionäre nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches über die Kommanditgesellschaft. Mit dieser Maßgabe stehen phG und Kommanditaktionäre wie Gesellschafter einer KG zueinander. Daraus erklärt sich, dass sich der phG an der Feststellung der Satzung beteiligen muss (§ 280 Abs. 2 AktG), der Beschluss der Hauptversammlung über die Feststellung des Jahresabschlusses der Zustimmung des phG bedarf (§ 286 Abs. 1 Satz 2 AktG) und auch für sog. Grundlagenbeschlüsse grundsätzlich das Einverständnis des phG erforderlich ist (§ 285 Abs. 2 Satz 1 AktG). Darüber hinaus gilt über § 278 Abs. 2 AktG auch in der KGaA das KG-rechtliche Konsensprinzip für außergewöhnliche Geschäfte (vgl. § 164 Satz 1 HGB)5: Dem Komplementär obliegt zwar kraft Rechtsstellung die Geschäftsführung, jedoch kann die Gesamtheit der Kommanditaktionäre solchen Geschäftsführungsmaßnahmen widersprechen, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen. Die Satzung börsennotierter KGaAs sieht allerdings typischerweise vor, dass die Geschäftsführungsbefugnis des phG auch außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen umfasst und das Widerspruchsoder Zustimmungsrecht der Aktionäre insoweit ausgeschlossen ist. Dies ist auch zulässig6. KG-rechtlich, nämlich aus dem Gesellschafterverhältnis zwischen dem phG einerseits und den Kommanditaktionären andererseits, erklärt sich schließlich, dass die Satzung der KGaA dem Aufsichtsrat Zustimmungsrechte zu Geschäftsführungsmaßnahmen des phG einräumen oder § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG insgesamt für anwendbar erklären kann7. Obwohl der phG Gesellschafter der KGaA ist, hat er in der Hauptversammlung kein Stimmrecht aus seiner Stellung als phG. Ein Stimmrecht in der Hauptversammlung steht dem phG nur zu, soweit er zugleich Kommanditaktionär ist, und zwar nur in dieser Eigenschaft (§ 285 Abs. 1 Satz 1 AktG). Der Vorstand einer Aktiengesellschaft darf aus ihm gehörenden oder von ihm vertretenen Aktien das Stimmrecht nicht ausüben, wenn es um seine Entlastung, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen ihn oder den Verzicht darauf (vgl. § 136 Abs. 1 AktG) oder um die Bestellung von Sonderprüfern (vgl. § 142 Abs. 1 Satz 2 AktG) geht. Ebenso wenig darf der phG als Kommanditaktionär oder als Vertreter eines Kommanditaktionärs in vergleichbaren Fällen vom Stimmrecht Gebrauch machen (im Einzelnen § 285 Satz 2 Nr. 1 bis 6 AktG). Aufgrund der vorstandsähnlichen Funktion des phG würden sich sonst Interessenkollisionen ergeben8.

__________ 5 Vgl. auch § 116 Abs. 2 HGB für die nichtgeschäftsführenden Komplementäre. 6 Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 17; ders., VGR 1998, 23, 36 f.; Schütz/ Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 5 Rz. 100 f. 7 Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 57; vgl. Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 43 f. 8 Dreisow, DB 1977, 851.

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II. Beherrschender Einfluss des Komplementärs Trotz mancher Vergleichbarkeit unterscheidet sich die Verfassung der KGaA erheblich von der einer Aktiengesellschaft. Vollziehen sich in der Aktiengesellschaft Kontrolle und Herrschaft in erster Linie über die Stimmrechtsmehrheit (vgl. § 17 Abs. 1 AktG) oder die Kapitalmehrheit (§ 17 Abs. 2 AktG), kommt es in der KGaA vor allem auf den phG an. Abgesehen von der – im Folgenden ausgeklammerten – Gestaltung, dass sämtliche Anteile am phG von der KGaA gehalten werden9, lassen sich zwei Fragestellungen unterscheiden: Zum einen kann der phG einem Mehrheitskommanditaktionär den Weg zur Kontrolle oder Herrschaft versperren. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Frage, welche Stimmrechtsbeteiligung bei der KGaA ein Pflichtangebot nach § 35 WpÜG auslösen kann (dazu unten 1.). Zum anderen könnte der phG aufgrund seiner Organstellung die Möglichkeit haben, selbst beherrschenden Einfluss auszuüben. Dies kann für das Konzernrecht, die Zurechnung von Arbeitnehmern gemäß MitbestG (§ 5 Abs. 1 MitbestG), die Pflicht zur Konzernrechnungslegung (§ 290 HGB) und schließlich die Stimmrechtszurechung nach WpHG (§ 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 22 Abs. 3 WpHG) und WpÜG (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 2 Abs. 6 WpÜG) von Bedeutung sein (dazu unten 2.). 1. Auslösung eines Pflichtangebots bei der KGaA Der Kontrollbegriff des WpÜG ist typisiert und aus empirischer Erfahrung abgeleitet. § 29 Abs. 2 WpÜG definiert Kontrolle als das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft. Bei der Festlegung dieser Grenze orientierte sich der Gesetzgeber zum einen an Regelungen in anderen europäischen Staaten. Zum anderen hatten die Präsenzen in den Hauptversammlungen börsennotierter deutscher Unternehmen gezeigt, dass mit einer Stimmrechtsbeteiligung von 30 % in den meisten Fällen eine Hauptversammlungsmehrheit besteht10. Mit dieser Mehrheit können die Anteilseignervertreter des Aufsichtsrats bestellt und damit (mittelbar) auch die Mitglieder des Vorstands bestimmt werden. Bei der Berechnung des Stimmrechtsanteils ist jeweils auf die absolute Zahl der Stimmrechte abzustellen; ob die Hauptversammlungspräsenzen der jeweiligen Gesellschaft über oder unter 60 % liegen, ist ohne Bedeutung. Der Gesetzgeber wollte dem (Kapital-)Markt klar erkennbare Kriterien liefern11. Es entspricht der heute ganz herrschenden Auffassung, dass der formelle Kontrollbegriff, der schon in der Aktiengesellschaft nicht auf die konkreten Umstände der betroffenen Zielgesellschaft schaut, in gleich starrer Weise auf die KGaA Anwendung findet. Wer also 30 % der Stimmrechte aller Kommandit-

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9 So z. B. bei der Henkel AG & Co. KGaA. Gemäß § 8 Abs. 1 der Satzung ist persönlich haftende Gesellschafterin der Gesellschaft die Henkel Management AG; sie scheidet gemäß § 8 Abs. 5 aus der Gesellschaft aus, sobald die KGaA nicht mehr sämtliche Anteile an ihr hält. 10 RegBegr. Drucks. 14/7034, S. 53. 11 RegBegr. Drucks. 14/7034, S. 53.

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aktionäre erwirbt, muss den verbleibenden Aktionären grundsätzlich ein Pflichtangebot unterbreiten. Dass der Erwerb eines Stimmrechtsanteils von 30 % bei der KGaA materiell keine Kontrollmöglichkeit eröffnet, wenn nicht auch der phG – zumindest mittelbar (wie in der Einheits-KGaA) – miterworben wird, soll unbeachtlich sein12. Damit gilt zunächst: Form over substance. Im praktischen Ergebnis werden die Dinge aber wieder zurechtgerückt. In aller Regel wird nämlich eine Befreiung von der Angebotspflicht erteilt werden können. Zwar greift keiner der § 36 WpÜG oder § 9 Angebots-VO konkretisierend genannten Befreiungstatbestände unmittelbar. Zurückzugreifen ist aber auf die in § 37 Abs. 1 WpÜG genannten Fallgruppen, die wegen der besonderen „Beteiligungsverhältnisse an der Zielgesellschaft“13 oder im Hinblick auf die „tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung der Kontrolle“14 eine Befreiung vom Pflichtangebot ermöglichen. Dies ist der Aufhänger, substance over form zur Geltung zu bringen. Über die Befreiungsnorm des § 37 Abs. 1 WpÜG kann somit berücksichtigt werden, dass die faktische Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung weder unmittelbar noch mittelbar Einfluss auf die Leitung der KGaA vermittelt. Unmittelbarer Einfluss ist praktisch vollständig ausgeschlossen, wenn und soweit die Satzung das Widerspruchs- oder Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre nach § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 HGB abbedingt. Ein mittelbarer Einfluss, der sich in der Aktiengesellschaft über die Besetzung des Aufsichtsrats und die Bestellung des Vorstands durch den Aufsichtsrat vermittelt, besteht bei der KGaA mangels Personalkompetenz des Aufsichtsrats ebenfalls nicht. Der durch das WpÜG bezweckte Schutz, den außenstehenden Aktionären bei einer Veränderung der Kontrolle über die Gesellschaft eine Desinvestitionsentscheidung zu ermöglichen, ist daher nicht tangiert. Die Interessen der außenstehenden Kommanditaktionäre werden erst dann berührt, wenn der phG oder dessen Gesellschafter ausgetauscht werden. Eine analoge Anwendung der §§ 35 ff. WpÜG, die in diesem Fall vom Ergebnis her plausibel und aus Kapitalmarktsicht auch wünschenswert wäre, wird in der Literatur aber zu recht als zu weitgehend abgelehnt15 – die Interessenlage mag vergleichbar sein, aber es fehlt an der unbewussten Regelungslücke des Gesetzgebers. Die Lösung kommt auch hier aus der Praxis: In der Satzung der KGaA kann – wie bei der Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA sowie der Fresenius SE & Co. KGaA – vorgesehen werden, dass der KapitalgesellschaftsphG aus der Gesellschaft ausscheidet, sobald er von einem dritten Gesellschafter übernommen wird, der kein Übernahme- oder Pflichtangebot an die Kommanditaktionäre unterbreitet.

__________ 12 v. Bülow in KölnKomm WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 29 Rz. 71; Wieneke/Fett in Schütz/ Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 10 Rz. 151. 13 So Versteegen in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 37 Rz. 63. 14 So wohl eher: v. Bülow in KölnKomm WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 29 Rz. 71 (unter Hinweis auf § 9 Satz 2 Nr. 2 Angebots-VO). 15 Wieneke/Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 10 Rz. 153.

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2. Beherrschender Einfluss des persönlich haftenden Gesellschafters Der phG führt die Geschäfte der KGaA und bestimmt daher – jedenfalls operativ – das Wohl und Wehe der Gesellschaft. Dies gilt erst recht, wenn die Satzung das Recht der Kommanditaktionäre nach § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 HGB ausgeschlossen hat, außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen zu widersprechen. a) Konzernrecht Dieses besondere Verhältnis zwischen dem phG und „seiner“ KGaA hat zunächst eine konzernrechtliche Dimension, die aus dem Recht der GmbH & Co. KG geläufig ist. Dort ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, ob das Verhältnis zwischen der Komplementär-GmbH zu ihrer KG einen Konzernsachverhalt darstellt, der besondere Sicherungen der (Mit-)Gesellschafter und der Gläubiger gegen gesellschaftsschädigende Eingriffe der KomplementärGmbH erforderlich macht. Beschränkt sich die GmbH darauf, die Geschäfte der KG zu führen, ohne eine vergleichbare Komplementärstellung bei anderen GmbHs auszuüben oder einen nennenswerten eigenen Geschäftsbetrieb zu unterhalten, fehlt es allerdings bereits an der konzernspezifischen Interessenkollision, die die konzernrechtlichen Mechanismen auf den Plan ruft. Zwar handelt es sich um zwei Rechtsträger; wirtschaftlich betrachtet handelt es sich jedoch um ein einziges Unternehmen16. Die Rechtslage bei der KGaA kann nicht anders sein17. Beschränkt sich die Komplementär-GmbH, -AG oder -SE auf ihre Komplementärrolle in der KGaA, ist daher kein Abhängigkeitsbericht nach § 312 AktG zu erstatten. Ob die Rechtslage anders ist, wenn der phG Unternehmer im konzernrechtlichen Sinne ist18, soll hier offen bleiben. b) Mitbestimmung gemäß MitbestG Auch mitbestimmungsrechtlich stellt sich die Frage, ob die KomplementärGmbH, -AG oder -SE herrschendes Unternehmen der KGaA ist. Typischerweise verfügt der phG selbst nicht über 2000 Arbeitnehmer, die eine paritätische Mitbestimmung „aus einem Recht“ begründen könnten. In Betracht kommt allein eine Zurechnung von Arbeitnehmern der KGaA oder ihr nachgeordneter Unternehmen. Gemäß § 5 Abs. 1 MitbestG werden dem herrschenden Unternehmen die Arbeitnehmer der Konzernunternehmen zugerechnet. § 5 Abs. 1 MitbestG ver-

__________ 16 Wie hier Ulmer, NJW 1986, 1579, 1585; K. Schmidt, ZGR 1981, 478; Emmerich/ Habersack, Konzernrecht, 9. Aufl. 2008, § 33 Rz. 5 f. 17 Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 12 Rz. 40 f. 18 So die ganz h. M., wenn nicht in der Satzung der KGaA Weisungsrechte für den Aufsichtsrat oder die Hauptversammlung begründet werden, vgl. Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 17 Rz. 126.

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weist auf § 18 Abs. 1 AktG und führt damit zum Herrschaftsbegriff des § 17 Abs. 1 AktG. Was bedeutet das für die KGaA? Anders als im Konzernrecht (oben a)) kann die Lösung nicht schon daraus abgeleitet werden, dass sich die Komplementär-Gesellschaft nicht anderweitig unternehmerisch betätigt und eine Konzernzurechnung schon aus diesem Grund entfällt. Denn für § 5 MitbestG soll nicht der konzernrechtliche Unternehmensbegriff gelten, der sich aus dem konzernrechtlichen Gesichtspunkt des Gläubiger- und Mitgesellschafterschutzes erklärt. Der Schutzzweck von § 5 MitbestG geht dahin, die paritätische Unternehmensmitbestimmung dorthin zu verlagern, wo die unternehmerischen Leitentscheidungen getroffen werden. Mitbestimmung soll stattfinden, wo „die Musik spielt“, ohne dass es darauf ankommt, ob von dort auch andere unternehmerische Aktivitäten ausgehen19. Damit wäre auf den ersten Blick der Weg frei, die paritätische Mitbestimmung bei der Komplementär-Kapitalgesellschaft der KGaA zu verankern, die wie ein herrschendes Unternehmen die Geschäftspolitik der KGaA bestimmt20. Die Wertungen des MitbestG stehen dem jedoch entgegen. Das MitbestG ist, wie der BGH in der Leitentscheidung vom 24.2.199721 betont hat, Ausdruck eines politischen Kompromisses. Analogien und erweiternde Auslegungen sind daher mit Vorsicht zu genießen. Festzuhalten ist zunächst, dass die KGaA selbst zum Kreis der paritätisch mitbestimmen Unternehmen gehört. Die rechtsformspezifisch reduzierten Kompetenzen des Aufsichtsrats der KGaA setzen sich daher in einer rechtsformspezifisch reduzierten Ausprägung der im Aufsichtsrat verankerten Mitbestimmung fort. Da der Aufsichtsrat der KGaA keine Personalkompetenz besitzt, sondern das zur Geschäftsführung und Vertretung berufene Organ vorfindet, muss auch der paritätisch mitbestimmte Aufsichtsrat den Komplementär und dessen Befugnisse so hinnehmen, wie Gesetz und Satzung dies vorgeben. Ist der phG eine natürliche Person, steht dies außer Frage, wie es der Gesetzgeber in § 31 Abs. 1 Satz 2 MitbestG auch ausdrücklich klargestellt hat. Der phG ist Gesellschafter. Wer phG ist und welche Befugnisse der phG hat, darüber entscheiden die Gesellschafter. Die Aufnahme eines neuen phG bedarf, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, der Zustimmung aller Komplementäre sowie eines zustimmenden Beschlusses der in der Hauptversammlung zusammengefassten Kommanditaktionäre. Der phG ist damit die Domaine der Gesellschafter. Diese Kompetenzordnung verbietet es, die als Kapitalgesellschaft verfasste Komplementärin einer KGaA der Arbeitnehmerzurechnung des MitbestG zu unterwerfen. Die Regelung in § 4 MitbestG unterstreicht dies. § 4 MitbestG geht zwar von einem anderen Ausgangspunkt aus, denn § 4 MitbestG bezieht sich

__________ 19 So der mitbestimmungsrechtliche Unternehmensbegriff, OLG Stuttgart, DB 1989, 1128; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 5 Rz. 16; a. A. Joost, ZGR 1998, 334, 347 f.; zum Streitstand auch Sigle in FS Peltzer, 2001, S. 539, 543 f. 20 So im Ergebnis Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 Rz. 40a, § 4 Rz. 5. 21 BGHZ 134, 392; der Gesetzgeber ist dieser Rechtsprechung durch die Anpassung von § 279 Abs. 2 HGB gefolgt.

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auf die KG, die – anders als die KGaA gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG – selbst nicht mitbestimmt ist. Das Regelungsthema von § 4 MitbestG lässt sich dennoch auf die KGaA – und zwar erst recht – übertragen. § 4 MitbestG beantwortet die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Arbeitnehmerzurechnung an den phG erfolgt. Die Zurechnung erfolgt nicht schon deshalb, weil der phG die Leitungsfunktion ausübt. Wenn die Leitungsfunktion ausreichen würde, hätte es § 4 MitbestG nicht bedurft. Das MitbestG knüpft die Arbeitnehmerzurechnung vielmehr daran, dass die Mehrheit der Kommanditisten ebenfalls Mehrheitsgesellschafter des phG (jeweils nach Stimmen oder Anteilen) ist22. Ob dieses Kriterium rechtspolitisch überzeugt, soll hier offen bleiben; in den Gesetzesmaterialien wurde das Kriterium nicht weiter begründet23. Offen bleiben kann auch, ob § 4 MitbestG auf die KGaA analog anzuwenden ist, wenn die in § 4 MitbestG vorausgesetzte Mehrheitenidentität gegeben ist24. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der Gesetzgeber die Arbeitnehmerzurechnung zu einem phG für regelungsbedürftig gehalten und fragmentarisch auf den Sonderfall der Mehrheitenidentität beschränkt hat. Dies schließt schon bei der KG einen Rückgriff auf § 5 Abs. 1 MitbestG aus, weil sonst die GmbH & Co. KG über die – aus Sicht der KG und ihrer Arbeitnehmer zufällige – Rechtsform der Komplementärin grundsätzlich unter die Mitbestimmung fallen würde, obwohl die KG an sich mitbestimmungsfrei ist25. Für die KGaA illustriert § 4 MitbestG, dass es einer klaren Aussage des Gesetzgebers bedarf, um in die den Gesellschaftern vorbehaltenen Domaine des phG vorzudringen, zumal die KGaA bereits selbst – rechtsformspezifisch reduziert – mitbestimmt ist26. Schwieriger wird der Begründungsansatz, wenn man – entgegen der hier vertretenen Ansicht – einen Rückgriff auf § 5 Abs. 1 MitbestG nicht von vornherein ausschließt. Dann muss man begründen, dass zwischen Komplementär und KGaA kein Herrschaftsverhältnis i. S von § 17 Abs. 1 AktG besteht – jedenfalls für Zwecke der Mitbestimmung. Dass dies begründbar ist, zeigen die nachfolgenden Ausführungen zur Konzernrechnungslegung. Im Kern dieser Argumentation steht die Erkenntnis, dass Komplementär und KGaA in einem rechtsformspezifischen Binnenverhältnis stehen und als Einheit zu betrachten sind27. Dies lässt keinen Raum für eine Mitbestimmung qua Zurechnung auf

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22 Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 5 Rz. 9. 23 BT-Drucks. 7/2172, S. 20. 24 So Joost, ZGR 1998, 334, 345; gegen eine analoge Anwendung des § 4 MitbestG Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 273, 279; Sigle in FS Peltzer, 2001, S. 539, 553. 25 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 14 Rz. 68; Zöllner, ZGR 1977, 319, 334; a. A. Schneider, ZGR 1977, 335, 346; Grossmann, BB 1976, 1391, 1395 ff.; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 Rz. 40a, § 4 Rz. 5; Raiser/Veil in MitbestimmG. Komm., 5. Aufl. 3009, § 5 Rz. 21; zum Streitstand: Sigle in FS Peltzer, 2001, S. 539, 545 f. 26 Ebenso im Ergebnis: Hecht in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 5 Rz. 529 ff.; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63 f.; Joost, ZGR 1998, 334, 346 f.; Sigle in FS Peltzer, 2001, S. 539, 553 f. 27 Vgl. Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63a.

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der Ebene des phG – wie sich bei der Mitbestimmung auch an dem unmöglichen Ergebnis zeigt, dass die KGaA im Falle einer Arbeitnehmerzurechnung an den phG über zwei mitbestimmte Aufsichtsräte verfügen würde28. c) Konzernrechnungslegung gemäß § 290 HGB Bei der Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die Komplementär-Kapitalgesellschaft gemäß § 290 HGB zur Aufstellung eines Konzernabschlusses und eines Konzernlageberichts29 verpflichtet ist, in denen die Unternehmensbereiche des KGaA-Konzerns konsolidiert werden, geht es nicht wie im Konzernrecht um Interessenkollisionen oder wie im Mitbestimmungsrecht um Mitsprache der Arbeitnehmervertreter. Thema ist vielmehr die bilanzielle Transparenz. Die Voraussetzungen, unter denen ein Konzernabschluss aufzustellen ist, sind in § 290 HGB geregelt. Die Vorschrift wurde durch das BilMoG neu gefasst. Die Konsolidierungspflicht wird nunmehr ausschließlich daran geknüpft, dass das Mutterunternehmen unmittelbar oder mittelbar einen „beherrschenden Einfluss“ auf das Tochterunternehmen ausüben kann. Das vormals in § 290 Abs. 1 HGB a. F. vorgesehene Kriterium der einheitlichen Leitung wurde aufgegeben; anstelle der bisherigen Konsolidierungskonzepte „einheitliche Leitung“ und „tatsächliche Kontrolle“ ist das international übliche Konzept „mögliche Beherrschung“ getreten. Die Tatbestände von § 290 Abs. 2 HGB entsprechen im Wesentlichen dem bisherigen „Control-Konzept“ des § 290 Abs. 2 HGB a. F. und sind nun als typisierende Tatbestände ausgestaltet. aa) § 290 Abs. 1 HGB Ein beherrschender Einfluss im Sinne von § 290 Abs. 1 HGB liegt nach der Gesetzesbegründung vor, wenn ein Unternehmen die Möglichkeit hat, die Finanz- und Geschäftspolitik eines anderen Unternehmens dauerhaft zu bestimmen, um aus dessen Tätigkeit Nutzen zu ziehen30. Damit lehnt sich § 290 Abs. 1 HGB n. F. an das zu IAS 27 entwickelte Verständnis an. Die tatsächliche Ausübung des beherrschenden Einflusses ist für § 290 Abs. 1 HGB ebenso wenig erforderlich wie das Vorliegen einer Beteiligung nach § 271 HGB31. Der beherrschende Einfluss muss sich auf ein anderes Unternehmen beziehen. Unter einem Unternehmen im Sinne des § 290 HGB sind alle Wirtschaftseinheiten zu verstehen, die eigenständige Interessen kaufmännischer oder wirtschaftlicher Art mittels einer nach außen in Erscheinung tretenden Organisation verfolgen32.

__________

28 Vgl. Hecht in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 5 Rz. 535. 29 Nachfolgend vereinfachend zusammengefasst als Konzernabschluss. 30 Begr. BeschlussE. BilMoG, BT-Drucks. 16/12407, S. 89. 31 Begr. BeschlussE. BilMoG, BT-Drucks. 16/12407, S. 89; Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 34. Aufl. 2010, § 290 Rz. 6. 32 Begr. BeschlussE. BilMoG, BT-Drucks. 16/12407, S. 89 im Rahmen des § 290 Abs. 2 Nr. 4 HGB.

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Auf den ersten Blick scheint es so, als unterfalle das Verhältnis der Komplementär-Kapitalgesellschaft zur KGaA dem Tatbestand des § 290 Abs. 1 HGB. Die dem phG zustehende Befugnis zur Geschäftsführung und Vertretung könnte sogar als besonders intensive Form erscheinen, die Finanz- und Geschäftspolitik der KGaA zu beherrschen. Diese Auffassung teilte offenbar auch der Gesetzgeber. Bei der Umsetzung der sog. GmbH & Co-Richtlinie (90/605/EWG) im Jahr 1999 war angeregt worden, eine Klarstellung aufzunehmen, dass eine Komplementär-Kapitalgesellschaft dann nicht als Unternehmen im Sinne des § 290 HBG anzusehen sei, wenn sie keinen eigenen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält und lediglich die Komplementärfunktion in einer GmbH & Co. KG ausübt33. In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es dazu aber: „Dieser Auffassung […] soll nicht gefolgt werden. Mit der herrschenden Meinung ist vielmehr davon auszugehen, dass, wenn die typische GmbH und Co. KG nach dem gesetzlichen Normalstatut organisiert ist und die Komplementär-Kapitalgesellschaft ohne Beschränkung der Geschäftsführungsbefugnis alleinige Geschäftsführerin und Vertreterin der GmbH und Co. KG ist, die Komplementär-GmbH die einheitliche Leitung im Sinne des § 290 Abs. 1 HGB ausübt“34. In der KGaA können die Kommanditaktionäre einen Einfluss haben, der die Geschäftsführungsbefugnis des phG erheblich einschränkt. Das wichtigste Instrument ist das Widerspruchsrecht der Kommanditaktionäre bei außergewöhnlichen Geschäften gemäß § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 HGB. Ist dieses Zustimmungsrecht in der Satzung der KGaA nicht abbedungen, soll dies dem beherrschenden Einfluss des phG nach einer Ansicht entgegenstehen35. Bei der GmbH & Co. KG wird das Widerspruchsrecht interessanterweise selten als Ausschlussfaktor angesprochen; dort soll der beherrschende Einfluss des Komplementärs (erst) durch die Einräumung eines Weisungsrechts der Kommanditisten gegenüber dem Komplementär, die Mehrheit der Mitglieder der Geschäftsführung zu bestimmen, oder durch besondere Einschränkungen der Geschäftsführungs- und Vertretungsrechte des Komplementärs ausgeschlossen sein36. Besteht demgegenüber nur das gesetzliche Widerspruchsrecht des § 164 HGB, bleibt die Gesellschaft in der Logik der Begründung des Regierungsentwurfs von 1999 eine „typische GmbH und Co. KG nach dem gesetzlichen Normalstatut“. Die bei KG und KGaA angelegten Maßstäbe sind insoweit nicht deckungsgleich. Zu Recht ist daher die Frage aufgeworfen worden, ob der phG überhaupt Mutterunternehmen seiner KGaA sein kann. Dies wird von einigen Autoren grund-

__________ 33 So die Auffassung von Biener, GmbHR 1975, 30, 33 f.; Plagemann, BB 1986, 1122, 1128. 34 BT-Drucks. 14/1806, S. 22. 35 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 278 Rz. 106 f. und 116; Förl, Die GmbH & Co. KGaA als abhängiges Unternehmen, 2003, S. 172. 36 Etwa Sudhoff/Dill, GmbH & Co. KG, 6. Aufl. 2005, § 22 Rz. 54.

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sätzlich verneint37. Dahinter steht die Überlegung, dass die Kapitalgesellschaft & Co. KGaA dem gesetzlichen Leitbild des § 290 Abs. 1 HGB schon vom Ansatz her nicht entspricht. Dieser Ansatz soll im Folgenden vertieft werden. Der typische Anwendungsfall des § 290 Abs. 1 HGB ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Unternehmen die Möglichkeit hat, die Finanz- und Geschäftspolitik eines anderen Unternehmens zu bestimmen. Bei einer Kapitalgesellschaft & Co. KGaA stehen phG und KGaA demgegenüber nicht als Gesellschaftsexterne nebeneinander. Vielmehr ist der phG integraler Bestandteil der Rechtsform KGaA. Der aus der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis resultierende faktische Einfluss des phG ist eine rechtsformspezifische Ausprägung der Kompetenzverteilung innerhalb der KGaA38. Es handelt sich lediglich um eine „Binnenherrschaft“39. PhG und der Rechtsträger, in dem der phG die Leitungsfunktion übernimmt, stehen in einem rechtsformspezifischen Sonderverhältnis sui generis, das mit dem Verhältnis anderer Gesellschaften zueinander nicht vergleichbar ist. Gäbe es eine Konzernrechnungslegungspflicht für Einzelpersonen, wäre es ebenso befremdlich, vom Vorstand einer AG eine Konzernrechnungslegung im Verhältnis zu der von ihm geleiteten AG zu verlangen. Auch wirtschaftlich handelt es sich um ein Unternehmen: Rechtsträger ist die KGaA; die Geschäftsführung und Vertretung dieses Rechtsträgers liegt beim phG, der als phG unter der Firma der KGaA handelt. Wenn die KomplementärKapitalgesellschaft neben der Leitung der KGaA kein eigenes Geschäft betreibt, wird das operative Geschäft, das im und unterhalb des Rechtsträgers KGaA geführt wird, in der Konzernrechnungslegung der KGaA abgebildet. Eine (weitere) Konzernrechnungslegungspflicht auf der Ebene des phG, der keinen eigenen Geschäftsbetrieb hat, würde keinen weiteren Informationsgehalt liefern40. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert gewesen, wenn der BilMoGGesetzgeber die Streitfrage entschieden hätte. Angesichts der nach 1999 fortgesetzten Diskussion in der Literatur, dass § 290 Abs. 1 HGB auf die Komplementär-Kapitalgesellschaft nicht richtig passt, hätte es nahe gelegen, die Pflicht zur Konzernrechnungslegung ausdrücklich auf die Kapitalgesellschaft & Co. KGaA zu erstrecken, wenn der Gesetzgeber dies so gewollt hätte.

__________ 37 So grundsätzlich Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 54; Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 12 Rz. 52; für die GmbH & Co. KG Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 15 Rz. 40. 38 Vgl. Claussen/Scherrer in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 290 HGB Rz. 14, 68; Siebourg in Küting/Weber, Handb. Konzernrechnungslegung, 2. Aufl. 1998, § 290 Rz. 11; bereits zu § 11 PublG Biener, GmbH-Recht 1975, 30, 33 f.; Plagemann, DB 1986, 1122, 1128. 39 Treffend v. Bülow in KölnKomm. WpHG, 2007, § 22 Rz. 264; vgl. auch Mülbert in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2007, Anh. Konzernrecht Rz. 52 f. 40 Vgl. Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 54; Fett in Schütz/ Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004,, § 12 Rz. 52; für die KG auch Claussen/Scherrer in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 290 HGB Rz. 14.

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So ergibt sich insgesamt ein unklarer Befund. Fest steht jedenfalls, dass die Regelung in § 290 Abs. 1 HGB auf das Rechtsverhältnis der KomplementärKapitalgesellschaft zur KGaA nicht zugeschnitten ist und die Besonderheiten dieses rechtsformspezifischen Sonderverhältnisses nicht berücksichtigt. Einen sicheren Schluss, dass die Komplementär-Kapitalgesellschaft kraft ihrer Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis „beherrschenden Einfluss“ im Sinne des § 290 Abs. 1 HGB in der KGaA ausübt, lässt die Norm nicht zu41. bb) § 290 Abs. 2 HGB Auch bei der Auslegung der in § 290 Abs. 2 HGB genannten typisierenden Tatbestände, in denen eine gesetzliche Vermutung für das Vorliegen eines beherrschenden Einflusses besteht, zeigt sich, dass eine Konzernrechnungslegungspflicht der Komplementär-Kapitalgesellschaft nicht überzeugend begründet werden kann. Dies gilt sowohl für § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB als auch für § 290 Abs. 2 Nr. 3 2. Alt. HGB, die beiden in Betracht kommenden Tatbestände. (1) § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB Gemäß § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB übt beherrschenden Einfluss aus, wer über die sog. Organbestellungsmehrheit verfügt, d. h. wem das Recht zusteht, die Mehrheit der Mitglieder des die Finanz- und Geschäftspolitik bestimmenden Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen oder abzuberufen; gleichzeitig muss sie Gesellschafterin der KGaA sein. Die vorausgesetzte Gesellschafterstellung meint Mitgliedschaft, nicht Beteiligung am Kapital. Die Komplementär-Kapitalgesellschaft einer KGaA ist nach allgemeiner Meinung unabhängig von einer Kapitalbeteiligung als „Gesellschafterin“ im Sinne des § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB anzusehen42. Die Frage, ob einem Komplementär „das Recht zusteht, die Mehrheit der Mitglieder des die Finanz- und Geschäftspolitik bestimmenden Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen oder abzuberufen“, ist bisher vornehmlich für die GmbH & Co. KG diskutiert worden. Sie wird dort nicht einheitlich beantwortet43. Das gleiche Bild zeigt sich für die Kapitalgesellschaft & Co. KGaA. Teile der Literatur argumentieren mit dem Wortlaut der Vorschrift und lehnen eine Anwendbarkeit des § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB ab. § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB beziehe sich explizit auf das Bestellen und Abberufen des Leitungs-

__________ 41 So im Ergebnis grundsätzlich auch Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 54 ff.; Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 12 Rz. 52; Claussen/Scherrer in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 290 HGB Rz. 14; anders, wenn die die Komplementär-Gesellschaft zugleich Mehrheitsaktionärin ist oder andere Umstände die Herrschaftsmöglichkeiten der Komplementär-Gesellschaft verstärken, vgl. Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 55. 42 Vgl. nur Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 11. 43 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 15 Rz. 41; Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 290 Rz. 52.

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organs. Der phG sei jedoch selbst das Leitungsorgan kraft Gesetzes; die Anwendung dieses Kontrollkriterium auf die KG oder KGaA scheide daher aus44. Die überwiegende Meinung argumentiert demgegenüber, dass die Komplementär-Kapitalgesellschaft die Mitglieder des Leitungsorgans der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA zwar nicht bestellen oder abberufen könne. Die Komplementär-Kapitalgesellschaft verfüge jedoch als Leitungsorgan kraft Gesetzes über ein stärkeres Recht als ein bloßes Bestellungsrecht. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sei es daher gerechtfertigt, die typische, nach dem gesetzlichen Normalstatut organisierte Kapitalgesellschaft & Co. KGaA (erst recht) unter den Tatbestand des § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu subsumieren45. Das Institut der Wirtschaftsprüfer IDW hat sich dem angeschlossen46. Gegen die überwiegende Meinung spricht schon der klare Wortlaut der Vorschrift. Dem phG steht nicht das Recht zu, Mitglieder des Leitungsorgans der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA zu bestellen oder abzuberufen. Ein Bestellungs- oder Abberufungsrecht kann nur von Gesellschaftsexternen ausgeübt werden, nicht aber von dem Organ selbst, um dessen Bestellung oder Abberufung es geht. § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB liefert damit einen weiteren Beleg dafür, dass eine Binnenherrschaft für die Konzernrechnungslegung nicht genügt. Gegen eine erweiternde Auslegung sprechen ferner die Zweifelsfragen und Graubereiche, die damit verbunden wären. So bleibt völlig offen, welche Satzungsgestaltungen im Einzelnen erfüllt sind. Fordert man die Konzernrechnungslegung dann, wenn der phG auch außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen vornehmen kann, und hält sie für entbehrlich, wenn das Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre nicht abbedungen ist, würde man ein Kriterium einführen, das in § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB weder vorgesehen noch angelegt ist. Denn im Rahmen des § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB wird nicht danach unterschieden, ob und welchen Zustimmungsvorbehalten die Mitglieder des Leitungsorgans unterliegen. Jedenfalls wäre es auch nicht zwingend, die Trennlinie ausgerechnet beim Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre für außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen verlaufen zu lassen. Man könnte auch darauf abstellen, dass Kommanditaktionäre weiterhin für Grundlagengeschäfte (§§ 278 Abs. 3, 179, 179a AktG, Holzmüller/GelatineZuständigkeiten) zuständig bleiben und die Geschäftsleitungskompetenz des phG insoweit begrenzt ist, oder den beherrschenden Einfluss erst dann zurückgedrängt sehen, wenn die Kommanditaktionäre unmittelbar oder mittelbar – etwa über einen Gesellschafterausschuss – Mitwirkungsrechte bei der Bestel-

__________ 44 Krietenstein, WPg 2005, 1200, 1204; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 58; Ammenwerth, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) – Eine Rechtsformalternative für personenbezogene Unternehmen, 1997, S. 95. 45 Adler/Düring/Schmaltz, § 290 HGB Rz. 123 m. w. N.; Kozikowski/Ritter in BeckBilKomm, 7. Aufl. 2010, § 290 HGB Rz. 57; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 287 Rz. 14; weitere Verweise bei Claussen/Scherrer in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 290 HGB Rz. 68. 46 FN-IDW 2008, IDW RS HFA 7, Tz. 56, S. 370/378.

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lung der Mitglieder der Geschäftsführung der Komplementär-Kapitalgesellschaft haben47. (2) § 290 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 HGB Gemäß § 290 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 HGB besteht ein beherrschender Einfluss der Komplementärin dann, wenn ihr das Recht zusteht, die Finanz- und Geschäftspolitik der KGaA auf Grund einer Bestimmung in der Satzung zu bestimmen. Der Phantasie bei der Anwendung dieser Vorschrift auf die KGaA sind kaum Grenzen gesetzt. Es werden Satzungsregelungen verlangt, die „die Position des Komplementärs maßgeblich verstärken“48 oder solche, die vom dispositiven Gesetzesrecht so weit abweichen, dass die Komplementär-Gesellschaft die KGaA in ihrer Gesamtheit und nicht nur im Hinblick auf einzelne Geschäftsbereiche oder Geschäftsarten beherrschen kann49; es soll aber nicht genügen, nur das Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre zu außergewöhnlichen Geschäften abzubedingen50. Nach gegenteiliger Auffassung soll es ausreichen, wenn die Rechte der Kommanditaktionäre auf Mitwirkung bei außergewöhnlichen Geschäften ersatzlos zurückgedrängt werden, d. h. ohne Verlagerung auf den Aufsichtsrat bzw. einen von den Kommanditaktionären kontrollierten Ausschuss51. Gegen die Anwendbarkeit des § 290 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 HGB spricht in der vorliegenden Konstellation zunächst wiederum der Wortlaut der Vorschrift. Danach muss dem Mutterunternehmen auf Grund einer Bestimmung in der Satzung das Recht zustehen, die Finanz- und Geschäftspolitik zu bestimmen. Die Geschäftsleitungskompetenz, die dem phG in der KGaA zusteht, folgt aber nicht aus der Satzung, sondern steht ihm kraft Gesetzes zu. Die Satzung kann von den gesetzlichen Regelungen etwa dadurch abweichen, dass das Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre für außergewöhnliche Geschäfte ausgeschlossen wird. Diese Regelung verleiht dem phG jedoch nicht das Recht, die Finanz- und Geschäftspolitik der KGaA zu bestimmen, sondern erweitert lediglich seine Kompetenzen in bestimmten Sondersituationen52. Auch hier wäre es eine willkürliche Trennlinie, wenn man gerade im Ausschluss des Zustimmungsrechts der Kommanditaktionäre das entscheidende Kriterium sehen wollte. Diese Willkür erklärt auch das bunte Meinungsbild in

__________ 47 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 278 Rz. 106 f. und 116; Förl, Die GmbH & Co. KGaA als abhängiges Unternehmen, 2003, S. 172; für die GmbH & Co. KG Dill in Sudhoff, GmbH & Co. KG, 6. Aufl. 2005, § 22 Rz. 54. 48 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 278 AktG Rz. 116. 49 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 61; für Erfordernis, dass Satzungsbestimmung die Beherrschung des Unternehmens in seiner Gesamtheit sichern muss auch: Adler/Düring/Schmaltz, § 290 HGB Rz. 59; Siebourg in Küting/Weber, Handb. Konzernrechnungslegung, 2. Aufl. 1998, § 290 HGB Rz. 92; Kozikowski/Ritter in BeckBilKomm, 7. Aufl. 2010, § 290 HGB Rz. 60. 50 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 61. 51 Förl, Die GmbH & Co. KGaA als abhängiges Unternehmen, 2003, S. 172 f. 52 Vgl. Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 286 Rz. 61.

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der Literatur. Das Instrument, das es dem phG ermöglicht, die Finanz- und Geschäftspolitik zu bestimmen, liegt in dessen Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis; diese steht dem Komplementär schon kraft Gesetzes und nicht auf Grund einer Bestimmung in der Satzung zu. Im Kern belegt § 290 Abs. 2 Nr. 3 HGB damit den Ausgangspunkt der Betrachtung: § 290 HGB wird weder in Abs. 1 noch in Abs. 2 der Sonderbeziehung zwischen der Komplementär-Gesellschaft und der KGaA gerecht. § 290 Abs. 2 Nr. 3 HGB stellt deshalb auf Satzungsbestimmungen (oder, was es noch deutlicher macht, auf das Bestehen eines Beherrschungsvertrages) ab, weil die Vorschrift von Unternehmen ausgeht, die nicht schon aufgrund ihrer Rechtsform und der Kompetenzverteilung innerhalb dieser Rechtsform in einem Näheoder Herrschaftsverhältnis zueinander stehen. Ein solches rechtsformspezifisches Sonderverhältnis besteht aber zwischen der Komplementär-Gesellschaft und der KGaA. Soll dieses Sonderverhältnis in den Anwendungsbereich des § 290 HBG einbezogen werden, müsste es in § 290 Abs. 2 Nr. 3 HGB heißen: „[…] die Finanz- oder Geschäftspolitik aufgrund eines mit einem anderen Unternehmen geschlossenen Beherrschungsvertrags, aufgrund einer Bestimmung in der Satzung des anderen Unternehmens oder aufgrund einer kraft Gesetzes bestehenden Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis […]“. Ohne eine solche ausdrückliche Regelung kann eine Pflicht zur Konzernrechnungslegung für den phG einer KGaA nicht überzeugend begründet werden. d) Stimmrechtszurechnung nach WpHG und WpÜG Seit jeher umstritten ist die Frage der Stimmrechtszurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG und der inhaltsgleichen Norm des § 30 Abs. 1 Satz 1 WpÜG: Wird eine Meldepflicht der B-GmbH ausgelöst, wenn die B-GmbH anstelle der A-GmbH als alleinige Komplementärin der GmbH & Co. KGaA beitritt und die KGaA eine nach § 21 WpHG meldepflichtige Beteiligung an der börsennotierten X-AG hält? Die gleiche Frage stellt sich beim Rechtsformwechsel einer AG in eine Kapitalgesellschaft & Co. KGaA: Ist die im Wege des Formwechsels nach §§ 190 ff. UmwG als phG hinzutretende Kapitalgesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der KGaA an der X-AG meldepflichtig? Die KGaA als solche trifft in diesem Falle keine Meldepflicht, weil der Rechtsformwechsel identitätswahrend erfolgt, der Rechtsträger der Beteiligung an der X-AG also vom Formwechsel nicht berührt wird53. Die am Wortlaut des Gesetzes orientierte Auslegung, die zu einer Stimmrechtszurechnung gelangt, hat hier zunächst (jedenfalls theoretisch) eine breitere Basis, da die Zurechnung nicht über den Begriff des Tochterunternehmens

__________ 53 Hirte in KölnKomm. WpHG, 2007, § 21 Rz. 111; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 154; Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 28.4.2009, S. 132. Auch die mit dem Rechtsformwechsel verbundene Umfirmierung löst keine Meldepflicht aus: Hirte in KölnKomm. WpHG, 2007, § 21 Rz. 151; Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 28.4.2009, S. 132; LG München, AG 2009, 632, 635; OLG Düsseldorf, NZG 2009, 260, 261; a. A. LG Köln, AG 2008, 336, 338.

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i. S. von § 290 HGB erfolgen muss, sondern auf den neben § 290 HGB stehenden Begriff des „beherrschenden Einflusses“ ausweichen kann (§ 22 Abs. 3 Alt. 2 WpHG; § 2 Abs. 6 Alt. 2 WpÜG). Nach der Verwaltungspraxis der BaFin zur GmbH & Co. KG findet eine Zurechnung der von einer GmbH & Co. KG gehaltenen Stimmrechte an die Komplementär-GmbH statt, soweit die Komplementärin mit umfangreichen Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnissen ausgestattet ist. Bei einer nach dem gesetzlichen Normalstatut organisierten GmbH & Co. KG sei die KG daher als Tochterunternehmen der Komplementär-GmbH anzusehen, so dass es zu einer generellen Zurechnung der Stimmrechte kommt. Auch eine KG, die nicht GmbH & Co. KG ist, sei immer dann als Tochterunternehmen des Komplementärs zu qualifizieren, wenn die Gesellschaft nach dem gesetzlichen Normalstatut organisiert ist. Die BaFin verortet die Zurechnung an den Komplementär in § 290 Abs. 1 HGB a. F. (einheitliche Leitung54) sowie in § 290 Abs. 2 Nr. 2 HGB. Bei GmbH & Co. KGs, deren Verfassung vom gesetzlichen Normalfall abweicht, soll die Zurechnung von den Regelungen des Gesellschaftsvertrags abhängen55. Es liegt nahe, dass die BaFin diese Position auch zur KGaA vertritt, wenngleich dieser Fall im Emittentenleitfaden nicht behandelt wird. Die konzernrechtliche Unternehmenseigenschaft des Komplementärs ist für die Stimmrechtszurechnung nach WpHG und WpÜG kein Kriterium56. Die BaFin würde voraussichtlich in einem Rechtsformvergleich mit der AG darauf abstellen, dass der phG der KGaA eine im Vergleich zum Vorstand einer AG noch stärkere und zudem gesellschaftsrechtlich vermittelte Stellung hat und als geborenes Organ über die Geschäftsführungsbefugnis verfügt. Versteht man die Möglichkeit, beherrschenden Einfluss auszuüben, in Anlehnung an § 17 Abs. 1 AktG57 als Möglichkeit, die Führung der Geschäfte zu bestimmen58, ist damit die Qualifizierung der KGaA als Tochter ihres phG vorgezeichnet. Ob ein beherrschender Einfluss des phG auch dann angenommen wird, wenn das Zustimmungsrecht der Kommanditisten zu außergewöhnlichen Geschäften nicht ausgeschlossen ist, ist auch in diesem Zusammenhang umstritten59 und von der Bafin, soweit ersichtlich, bisher nicht geklärt. In der Praxis wird bei den Stimmrechtsmitteilungen aus Gründen der Vorsicht davon ausgegangen, dass der phG mitteilungspflichtig ist, wenn die KGaA eine nach § 21 WpHG meldepflichtige Beteiligung an einer börsennotierten Gesell-

__________ 54 So auch die h. M., Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 264c Rz. 5 sowie 34. Aufl. 2010, § 264c Rz. 5 zu § 290 Abs. 1 n. F. 55 Emittentenleitfaden der BaFin, Stand 28.4.2009, S. 138. 56 Zutreffend Opitz in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. 2010, § 22 WpHG Rz. 18; Versteegen in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 2 Rz. 199a. 57 Vgl. BT-Drucks. 14/7034, S. 35. 58 Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 38. 59 Für die Annahme beherrschenden Einflusses des Komplementärs i. S von § 17 Abs. 1 AktG auch beim Widerspruchsrecht der Kommanditaktionäre nach § 278 Abs. 2 AktG, § 164 Abs. 2 HGB: Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 12 Rz. 28.

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schaft hält. Es erscheint jedoch auch hier befremdlich, dass die KGaA „Tochterunternehmen“ ihres phG sein soll. Letztlich geht es um die Reichweite der Meldepflichten. Soll der Kapitalmarkt nur über externe Kontrollstrukturen informiert werden, oder dienen die §§ 21 ff. WpHG auch dazu, rechtsformspezische Binnenstrukturen zu offenbaren? Wenn man sich dieser Frage von der Binnenstruktur einer AG aus nähert, liegt die Antwort auf der Hand: Der Vorstand, der die Aktiengesellschaft „unter eigener Verantwortung“ leitet (§ 76 Abs. 1 AktG), bestimmt zwar kraft Organstellung die Führung der Geschäfte und übt damit in gewisser Weise beherrschenden Einfluss aus. Dennoch trifft den Vorstand keine eigene Meldepflicht hinsichtlich der Beteiligung der AG an einer börsennotierten Gesellschaft. Der Rechtsverkehr kann durch Einsichtnahme in das Handelsregister sehen, wer Vorstand der meldepflichtigen AG ist. Die Binnenstruktur der AG unterliegt der handelsregisterlichen Publizität, nicht aber der Kapitalmarkttransparenz des WpHG. Das Gleiche sollte für den phG einer KGaA gelten, unabhängig davon, ob der phG eine natürliche oder juristische Person ist60. Betrachtet man für die Zwecke der §§ 21 ff. WpHG die KGaA somit nicht als Tochterunternehmen ihrer Komplementär-Kapitalgesellschaft, wird dadurch die wünschenswerte Beteiligungstransparenz „nach oben“ nicht abgeschnitten. Das wäre nur dann der Fall, wenn der phG rechtstechnisch als „Mutterunternehmen“ gebraucht würde, um eine Zurechnung an den Mehrheitsgesellschafter dieses Mutterunternehmens zu gewährleisten. Dass der Wechsel des Mehrheitsgesellschafters des phG eine Mitteilungspflicht auslöst, wenn die KGaA eine mitteilungspflichtige Beteiligung hält und die Geschäftsführungsbefugnis des Komplementärs nicht erheblich eingeschränkt ist, steht im Ergebnis außer Zweifel. In diesem Fall ist die rechtsformspezifische Binnenkompetenz des phG das Beherrschungsmittel des Gesellschaftsexternen, dem in der AG funktional die Stimmrechtsmehrheit entspricht61; es liegt daher ein (mittelbar) beherrschender Einfluss i. S. von § 22 Abs. 3 Alt. 2 WpHG und § 2 Abs. 6 Alt. 2 WpÜG vor. Aufschlussreich ist schließlich die Rechtslage nach WpÜG. Hält die KGaA, der der phG beitritt, ihrerseits eine Beteiligung von mindestens 30 % der Stimmrechte an einer börsennotierten Gesellschaft, löst dies nach der hier vertretenen Auffassung kein Pflichtangebot aus. Voraussetzung einer Angebotspflicht des phG wäre, dass die von der KGaA gehaltene Beteiligung dem phG gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 WpÜG zugerechnet wird, weil die KGaA

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60 Ebenso v. Bülow in KölnKomm. WpHG, 2007, § 22 Rz. 233 und Rz. 264; Opitz in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. 2010, § 22 WpHG Rz. 19, allerdings nur für den Komplementär, dessen einzige Tätigkeit die Leitung der KGaA ist; a. A. Schwark in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 22 WpHG Rz. 43; und zu § 2 Abs. 6 WpÜG Versteegen in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 2 Rz. 229; offen LG München, AG 2009, 632, 633: Abhängigkeit einer KG von ihrer einzigen Komplementär-GmbH, die über 51 % der Gesellschaftsanteile der KG hält: „Diese Umstände begründen auch bei einer Personengesellschaft die Abhängigkeit.“ 61 So im Ergebnis auch Opitz in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. 2010, § 22 WpHG Rz. 20.

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„Tochterunternehmen“ des phG ist. Das aber ist mit den oben zum WpHG dargestellten Argumenten abzulehnen62. Dieses Ergebnis lässt sich im WpÜG durch ein weiteres Argument absichern: Wie unter 1. dargestellt, löst der Eintritt eines neuen phG gesetzlich kein Pflichtangebot gegenüber den Kommanditaktionären der betroffenen börsennotierten KGaA aus. Gemäß § 29 Abs. 2 WpHG ist Kontrolle das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte. Der Kontrollbegriff des WpÜG setzt damit eindeutig von außen kommende, externe Kontrolle voraus. Die Binnenherrschaft des phG, die sich nicht über Stimmrechte in der Hauptversammlung vermittelt, ist irrelevant. Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn der neu eintretende phG, der aufgrund des formellen Kontrollbegriffs auf der Ebene „seiner“ KGaA kein Pflichtangebot unterbreiten muss, dazu aber auf der Ebene darunter, also gegenüber den Aktionären der Gesellschaft, an der die KGaA mindestens 30 % der Stimmrechte hält, verpflichtet wäre. Der auf externe Herrschaft gerichtete Kontrollbegriff des WpÜG strahlt insoweit auf die WpÜGZurechnung aus. Eine Zurechnung der von der KGaA gehaltenen Stimmrechte an den phG ist daher im Ergebnis abzulehnen. Eine Zurechnung an den Mehrheitsgesellschafter des phG, der je nach Satzungsgestaltung mittels des phG mittelbar beherrschenden Einfluss im Sinne von § 2 Abs. 6 WpÜG ausüben kann, bleibt davon unberührt.

__________ 62 Ebenso v. Bülow in KölnKomm WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 30 Rz. 76.

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Herabsetzung von Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Allgemeine Grundsätze der Vergütungsherabsetzung 1. Herabsetzung laufender Bezüge 2. Herabsetzung von Versorgungsbezügen 3. Meinungsstand zur Herabsetzung von Abfindungen III. Abfindungen bei vorzeitiger Vertragsbeendigung 1. Herabsetzung der Abfindungszusage vor Eintritt des Abfindungsfalles

2. Herabsetzung bereits entstandener Abfindungsansprüche 3. Vertraglicher Ausschluss des Herabsetzungsrechts IV. Abfindungen bei regulärer Vertragsbeendigung V. Change of Control-Abfindung

I. Einführung Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen (§ 87 Abs. 1 Satz 1 AktG). Verschlechtert sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung so, dass die Weitergewährung der Bezüge unbillig für die Gesellschaft wäre, soll der Aufsichtsrat die Bezüge auf die angemessene Höhe herabsetzen (§ 87 Abs. 2 Satz 1 AktG). Das Recht, Vorstandsbezüge bei einer Verschlechterung der Lage der Gesellschaft herabzusetzen, kennt das Gesetz schon lange. Es wurde schon in § 78 Abs. 2 AktG 1937 eingeführt und in § 87 Abs. 2 AktG 1965 zunächst unverändert übernommen. Es war als Kann-Vorschrift formuliert („ist berechtigt“) und setzte den Eintritt einer so „wesentlichen“ Verschlechterung in den Verhältnissen der Gesellschaft voraus, dass die Fortzahlung der Bezüge eine „schwere“ Unbilligkeit für die Gesellschaft sein würde. Es war beschränkt auf die Aktivenbezüge, während Ruhegehälter, Hinterbliebenenbezüge und ähnliche Leistungen nicht herabgesetzt werden konnten. In der Praxis hatte das Herabsetzungsrecht bis vor kurzem kaum Bedeutung1.

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1 Vgl. nur Martens, ZHR 169 (2005), 124, 130; Diller, NZG 2009, 1006; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 59. In der Rechtsprechung sind nur Einzelfälle bekannt geworden, in denen eine Herabsetzung der Vergütung von AG-Vorstandsmitgliedern versucht wurde, vgl. LG Essen, AG 2006, 635; LG Duisburg, BB 1971, 145; OLG Düsseldorf, ZIP 2004, 1850, 1854 f.

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Der Gesetzgeber des VorstAG2 hat Defizite bei der Struktur und der Höhe der Vorstandsbezüge als eine der Ursachen der Finanzmarktkrise ausgemacht3 und eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen im Recht der Vorstandsvergütung vorgenommen, um dem entgegenzuwirken. Unter anderem sollte die Herabsetzbarkeit von Vorstandsvergütungen erleichtert und ausgeweitet werden. Dazu sind in § 87 Abs. 2 AktG n. F. die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Bezüge in der Weise reduziert worden, dass das Gesetz keine „wesentliche“ Verschlechterung der Verhältnisse der Gesellschaft mehr voraussetzt und nicht mehr verlangt, dass die Weitergewährung der Bezüge eine „schwere“ Unbilligkeit für die Gesellschaft wäre. Vielmehr genügt es dem Gesetz heute, wenn sich die Lage der Gesellschaft so verschlechtert, dass die Weitergewährung der Bezüge unbillig wäre. Die bisherige Kann-Vorschrift, nach der der Aufsichtsrat bei Vorliegen der Voraussetzungen zu einer Herabsetzung „berechtigt“ war, wurde in eine Soll-Vorschrift umformuliert. Vor allem aber wurde das Herabsetzungsrecht auch auf Ruhegehälter, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art erstreckt, allerdings mit der Maßgabe, dass diese nur in den ersten drei Jahren nach Ausscheiden aus der Gesellschaft herabgesetzt werden können. Ob diese Gesetzesänderungen wirklich zu einer praktisch relevanten Veränderung der materiellen Rechtslage geführt haben, mag man allerdings bezweifeln. Der Unterschied zwischen einer „wesentlichen“ und einer nur einfachen Verschlechterung der Verhältnisse der Gesellschaft und zwischen einer „schweren“ und einer nur einfachen Unbilligkeit wird eher in der Theorie bestehen, als in der konkreten Rechtsanwendung zu anderen Ergebnissen führen, denn eine Weitergewährung der vereinbarten Bezüge bei Verschlechterung der Lage der Gesellschaft kann nur dann unbillig sein, wenn es sich um eine „wesentliche“ Verschlechterung handelt, und wenn die Unbilligkeit nicht „schwer“ ist, kann es auch im Hinblick auf Art. 14 GG kaum angehen, der Gesellschaft einseitig das Recht zu geben, sich von den vertraglichen Vereinbarungen loszusagen4. Auch die Umformulierung der früheren Kann- in eine Soll-Vorschrift ist rechtlich bedeutungslos, denn der Aufsichtsrat war auch früher schon gehalten, die Vermögensinteressen der Gesellschaft zu wahren und von einem ihm zustehenden Herabsetzungsrecht Gebrauch zu machen, wenn nicht überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstanden5. Und die Ausdehnung des Herabsetzungsrechts auf Versorgungsleistungen ist verfassungsrechtlich so problematisch, dass wohl auch künftig eine Herabsetzung erworbener Versorgungsanwartschaften und laufender Versorgungsbezüge nur in seltenen

__________ 2 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung v. 31. Juli 2009, BGBl. I 2009, 2509. 3 Vgl. nur Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum VorstAG, BTDrucks. 16/12278, S. 1; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 1 f. 4 So bereits DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612 Tz. 14; ähnlich Diller, NZG 2009, 1006, 1007; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 94. 5 Vgl. nur Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 Rz. 99; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1988, § 87 Rz. 15; Wittuhn/Hamann, ZGR 2009, 847, 863 f.

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Ausnahmefällen in Betracht kommt, in denen die Rechtsprechung solche Eingriffe auch bislang schon auf der Basis von § 242 BGB zugelassen hat6. Auch wenn sich rechtlich nicht viel geändert haben dürfte, hat der Gesetzgeber aber erreicht, dass das in der Vergangenheit weitgehend bedeutungslose Herabsetzungsrecht erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen hat und Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften, die sich in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befinden, sich heute weitaus häufiger mit der Frage einer Herabsetzung der Vorstandsbezüge befassen. Sie stoßen dabei auf vielfältige praktische Schwierigkeiten und rechtliche Unklarheiten. Zu ihnen gehört die hier zu untersuchende Frage, ob neben den laufenden Bezügen und Versorgungsleistungen auch Abfindungsleistungen herabgesetzt werden können. Die Frage kann sich schon vor Eintritt eines Abfindungsfalles im Hinblick auf Abfindungszusagen stellen, die dem Vorstandsmitglied für den Fall seines künftigen Ausscheidens aus dem Vorstandsamt gemacht worden sind. Es kann sich aber auch die Frage stellen, ob ein bereits entstandener Abfindungsanspruch noch im Nachhinein nach § 87 Abs. 2 AktG gekürzt und die danach zu viel gezahlte Abfindung wegen Wegfalls ihres Rechtsgrundes gemäß § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB zurückgefordert werden kann.

II. Allgemeine Grundsätze der Vergütungsherabsetzung Vor einem Eingehen auf die konkrete Frage nach der Herabsetzbarkeit von Abfindungen empfiehlt sich ein kurzer Blick auf die allgemeinen Grundsätze der Vergütungsherabsetzung. 1. Herabsetzung laufender Bezüge Die Herabsetzung der in § 87 Abs. 1 AktG definierten laufenden Bezüge setzt voraus, dass sich die Lage der Gesellschaft so verschlechtert hat, dass die Weitergewährung ungekürzter Bezüge für die Gesellschaft unbillig wäre (§ 87 Abs. 2 Satz 1 AktG). Ob das der Fall ist, ist eine Frage des Einzelfalls, bei der das Ausmaß der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Gesellschaft ebenso eine Rolle spielt, wie die Höhe der Bezüge und die persönlichen Verhältnisse des Vorstandsmitglieds7. Ob dem Vorstandsmitglied die Verschlechterung der Lage der Gesellschaft zurechenbar ist, wird als ein Gesichtspunkt in diese Abwägung einzustellen sein, ist aber weder erforderlich, noch ausreichend, um die Unbilligkeit der Weiterzahlung der Bezüge anzunehmen8.

__________ 6 Vgl. näher unten Ziff. II. 2. 7 Näher OLG Düsseldorf, ZIP 2004, 1850, 1854; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 63 f.; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 35 ff.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 87 Rz. 9. 8 So jedoch wohl die Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 6; mit Recht kritisch demgegenüber Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 64; Dauner-Lieb in Henssler/ Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 35.

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Liegen die Voraussetzungen für einen Eingriff in die Vergütung vor, soll eine Herabsetzung auf die angemessene Höhe erfolgen, d. h. auf den Betrag, der der Gesellschaft billigerweise zugemutet werden kann. Der Aufsichtsrat ist im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht gehalten, von dem Herabsetzungsrecht Gebrauch zu machen, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die dafür sprechen, von der Herabsetzung abzusehen9. Solche Umstände können etwa dann vorliegen, wenn es im Interesse der Gesellschaft besser ist, auf eine Herabsetzung zu verzichten, als das Risiko einer vorzeitigen Kündigung durch das Vorstandsmitglied nach § 87 Abs. 2 Satz 4 AktG einzugehen10. Bessern sich die Verhältnisse wieder, hat das Vorstandsmitglied Anspruch auf Wiedereinräumung seiner ursprünglichen Bezüge11. Technisch handelt es sich bei dem Herabsetzungsrecht um ein einseitiges Gestaltungsrecht der Gesellschaft, das durch eine Erklärung des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstandsmitglied ausgeübt wird (§ 112 AktG). Der Aufsichtsrat muss über die Ausübung dieses Gestaltungsrechts Beschluss fassen. Nach § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG ist dafür zwingend das Plenum des Aufsichtsrats zuständig. 2. Herabsetzung von Versorgungsbezügen Nach altem Recht erstreckte sich das Herabsetzungsrecht nicht auf Ruhegehälter, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art. Das ergab sich regelungstechnisch daraus, dass § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F. ausdrücklich nur die in Abs. 1 Satz 1 aufgeführten Bezüge nannte, nicht jedoch auf die in Abs. 1 Satz 2 geregelten Versorgungsleistungen Bezug nahm. Der Grund dieser Ausnahme von Versorgungsleistungen bestand darin, dass sie Teil der Gegenleistung für die in der Vergangenheit erbrachten Arbeitsleistungen sind12. Eine Herabsetzung von Versorgungsbezügen war damit nicht nach § 87 Abs. 2 AktG a. F., sondern nur nach den von der Rechtsprechung zum Betriebsrentenrecht entwickelten Grundsätzen möglich. Danach kommen Eingriffe in laufende Versorgungsbezüge oder in bereits verdiente Versorgungsanwartschaften auf der Basis von § 242 BGB nur „in seltenen Ausnahmefällen“ in Betracht13, etwa dann, wenn der Versorgungsberechtigte den Versprechenden in eine seine Existenz bedrohende Lage gebracht hat oder wenn und soweit die Berufung auf die Versorgungszusage sonst wegen grober Treuepflichtverletzung rechtsmissbräuchlich ist14.

__________ 9 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 16. 10 DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612, 614; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beilage Heft 26, Tz. 38. 11 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 73; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 45. 12 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 1. Aufl. 2007, § 87 Rz. 37; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 Rz. 107. 13 BAG, NZA 1986, 57. 14 Vgl. etwa BGH, NZG 2002, 695; BGH, ZIP 1985, 760, 762; BAG, NJW 1981, 188; BAGE 36, 327, 337 f.

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Die Neufassung des Gesetzes weicht von diesen Grundsätzen ab, indem sie auch die Herabsetzung von Ruhegehältern und Leistungen verwandter Art zulässt, allerdings mit der Einschränkung, dass die Herabsetzung nur in den ersten drei Jahren nach Ausscheiden aus der Gesellschaft möglich ist (§ 87 Abs. 2 Satz 2 AktG). Diese Einbeziehung der Versorgungsansprüche in das Herabsetzungsrecht ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf nachhaltige Kritik gestoßen. Insbesondere werden erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung geäußert15. Diese resultieren zum einen daraus, dass die Versorgungsbezüge bereits durch Arbeitsleistung der Vergangenheit verdient wurden und ihre Reduzierung damit einen nachträglichen Entzug von Vergütungsleistungen der Vergangenheit und einen Eingriff in das Eigentum (Art. 14 GG) darstellt; das Bundesarbeitsgericht hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, eine Kürzung des erdienten Teilbetrags einer Anwartschaft „käme einer entschädigungslosen Enteignung gleich“16. Zum anderen wird der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG) genannt und darauf hingewiesen, dass durch § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG n. F. eine Schlechterstellung der Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft gegenüber den Geschäftsführern einer GmbH erfolgt, da für die Kürzung oder Entziehung von Ruhegeldansprüchen von GmbH-Geschäftsführern auch weiterhin die strengeren Regeln gelten, die BAG und BGH zum Betriebsrentenrecht entwickelt haben17. Vereinzelt wird auch das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) erwähnt. Aber auch wenn man nicht so weit gehen will, die Regelung als verfassungswidrig anzusehen, folgt aus der Tatsache, dass hier rückwirkend in bereits verdiente Versorgungsleistungen eingegriffen wird, dass die Anforderungen an eine Herabsetzung von Versorgungsbezügen höher sein müssen als die Anforderungen an eine Herabsetzung laufender Bezüge. Das Vertrauen des Zusageempfängers in den Bestand seiner Ruhegehaltszusagen ist besonders schützenswert18. In der Literatur wird deshalb betont, dass eine Unbilligkeit, die für die Herabsetzung laufender Bezüge reiche, nicht dasselbe sei, wie eine Unbilligkeit, die für eine Herabsetzung von Versorgungsbezügen gefordert werden müsse. Vielmehr erscheine „der Zugriff auf Versorgungsleistungen nur in existenziellen Notlagen der Gesellschaft als hinnehmbar“19; von der Regelung sei „(wenn überhaupt) nur äußerst restriktiv Gebrauch zu machen“20; ihre An-

__________ 15 Hölters/Weber, AktG, 2011, § 87 Rz. 57; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 42; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 105; Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2437; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1353; Hoffmann-Becking/Krieger, Beilage zu NZG Heft 26/2009, Rz. 42; Nicolay, NJW 2009, 2640, 2643; Jaeger/Balke, ZIP 2010, 1471, 1476; Wurth in FS Maier-Reimer, 2010, S. 919, 922 f.; a. A. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 69; ders., ZIP 2009, 801, 804; Thüsing, AG 2009, 517, 523. 16 BAG, NZA 1986, 57, 59. 17 Jaeger, NZA 2010, 128, 132. 18 Hölters/Weber, AktG, 2011, § 87 Rz. 57; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 69; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 Rz. 42; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1353. 19 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 87 Rz. 9a; Wurth in FS Maier-Reimer, 2010, S. 919, 922 f. 20 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 Rz. 42.

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wendung erscheine nur dann als vertretbar, wenn so massive „Pflichtverstöße vorliegen, dass die Berufung auf die Versorgungszusage arglistig erscheint“21. 3. Meinungsstand zur Herabsetzung von Abfindungen Vor diesem Hintergrund beurteilt sich die Frage nach der Einbeziehung von Abfindungen in das Herabsetzungsrecht des § 87 Abs. 2 AktG danach, ob man diese den laufenden Bezügen i. S. von § 87 Abs. 1 AktG gleichstellen muss, für die die allgemeinen Herabsetzungsgrundsätze des § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG gelten, ob sie den Versorgungsansprüchen gleichzustellen sind, für deren Herabsetzung nicht nur die Dreijahresfrist des § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG, sondern vor allem die aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderlichen Herabsetzungsschranken gelten, oder ob Abfindungen weder das eine noch das andere, sondern ein Aliud sind, auf das § 87 Abs. 2 AktG überhaupt nicht anzuwenden ist. Rechtsprechung zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG herabgesetzt werden können, ist nicht ersichtlich. Auch in der Literatur ist die Frage wenig erörtert, und die Äußerungen, die sich finden, lassen nicht immer deutlich werden, welchen Abfindungsfall sie vor Augen haben und ob es um die Herabsetzung einer generellen Abfindungszusage oder eines konkreten Abfindungsanspruchs geht. Zu § 87 Abs. 2 AktG a. F. wurde von einigen Autoren angenommen, die Herabsetzung einer Abfindung sei nicht möglich, weil die Abfindung nicht als Bezug für laufende Dienste angesehen werden könne; zur Stützung dieser Auffassung wurde auch auf die bilanzrechtliche Regelung des § 285 Nr. 9 lit. b) HGB verwiesen, wo Abfindungen in einer Reihe mit Ruhegehältern, Hinterbliebenenbezügen und Leistungen verwandter Art genannt werden22. Aber schon zum alten Recht war diese Auffassung umstritten, und es gab Stimmen in der Literatur, die jedenfalls Abfindungsleistungen aufgrund einer Change of ControlKlausel als Teil der Bezüge i. S. von § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG ansehen wollten23, auf die sich das Herabsetzungsrecht erstreckte. Zu § 87 Abs. 2 AktG n. F. enthält der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum VorstAG die Bemerkung, die Regelung erfasse auch Ansprüche „auf Auszahlung der Restlaufzeit des Vertrages bei Entlassung des Vorstands“24. Unter Berufung auf diese Formulierung wird von einigen Auto-

__________ 21 Martens in FS Hüffer, 2010, S. 647, 654. 22 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 Rz. 93; Thüsing in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 6 Rz. 30; ebenso Dreher, AG 2002, 214, 216 für eine Change of Control-Abfindung, sofern deren Leistung das Ausscheiden des Vorstandsmitglied voraussetze; offengelassen bei Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 87 Rz. 333 ff. 23 Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035/1040 f.; Bork, Change of Control Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern, 2009, S. 204: für sämtliche Abgeltungsleistungen, die an die Stelle der ursprünglichen vertraglichen Bezüge träten, greife § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG ein. 24 BT-Drucks. 16/12278, S. 6.

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ren angenommen, das VorstAG sei damit von der bisher herrschenden Meinung abgerückt, die eine Anwendung des § 87 Abs. 2 AktG a. F. auf Abfindungszahlungen abgelehnt hatte25. Und auch bei den Autoren, die zum alten Recht eine Herabsetzung von Abfindungen nicht zulassen wollten, weil es sich dabei nicht um einen Bezug für laufende Dienste handele, ist zweifelhaft, ob sie diese Auffassung noch aufrechterhalten würden, nachdem der Gesetzgeber das Herabsetzungsrecht auf Versorgungsbezüge erstreckt hat26. Demgegenüber gehen einzelne Stimmen davon aus, dass Abfindungen in einem Aufhebungsvertrag nicht unter § 87 Abs. 2 AktG n. F. fielen, weil sie nicht als Gegenleistung für die Tätigkeit gezahlt würden, sondern für deren Beendigung27.

III. Abfindungen bei vorzeitiger Vertragsbeendigung Die größte praktische Bedeutung haben Abfindungen, die einem Vorstandsmitglied im Zusammenhang mit dessen vorzeitigem Ausscheiden aus dem Vorstand gezahlt werden. Wird das Vorstandsamt vorzeitig beendet, ohne dass zugleich ein wichtiger Grund i. S. von § 626 BGB zur Kündigung des Anstellungsverhältnisses vorliegt, kann es sich im Einzelfall anbieten, den Anstellungsvertrag aufrechtzuerhalten und von Seiten der Gesellschaft weiter zu erfüllen. Eine solche Lösung bedeutet aber in aller Regel Streit. Sie liegt zumeist weder im Interesse des Vorstandsmitglieds, das sich dabei anderweitige Einkünfte nach § 615 Satz 2 BGB anrechnen lassen muss, noch im Interesse der Gesellschaft, die mit dem Vorstandsmitglied nicht darüber streiten will, ob ein wichtiger Grund für die vorzeitige Beendigung des Vorstandsamtes i. S. von § 84 Abs. 3 AktG bestanden hat. Im Allgemeinen einigen sich Gesellschaft und Vorstandsmitglied daher auf eine einvernehmliche Beendigung des Vorstandsamtes und des Dienstvertrages gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe sich in aller Regel nach der voraussichtlichen Vergütung der restlichen Vertragslaufzeit bemisst. Daneben finden sich in zunehmendem Maße schon in den Vorstands-Anstellungsverträgen Regelungen über die Zahlung einer Abfindung für den Fall einer vorzeitigen Vertragsbeendigung28. Solche Abfindungsklauseln sind insbesondere im Zusammenhang mit der Vereinbarung einer sog. Koppelungsklausel sachgerecht, nach welcher der Anstellungsvertrag durch auflösende

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25 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 68; vgl. auch Seibert, WM 2009, 1489/1491 durch die Regelung könne „nach Entlassung eines glücklosen Vorstands die Auszahlung eines 5-Jahresvertrages … gekappt werden“; Bosse, BB 2009, 1650/1651; im Ergebnis ebenso Bork, Change of Control-Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern, 2009, S. 204, nach dessen Meinung auch schon unter § 87 Abs. 2 AktG a. F. Abfindungen mit denen künftige Bezüge abgegolten werden, unbegrenzt herabsetzbar waren. 26 Vgl. etwa Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 87 Rz. 333 f., der nur die Frage offen gelassen hat, ob Abfindungen unter § 87 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 AktG fallen, auf die es heute für das Herabsetzungsrecht nicht mehr ankommt. 27 Diller, NZG 2009, 1006, 1009; Jaeger, NZA 2010, 128, 134 f. 28 Vgl. etwa den Muster-Anstellungsvertrag von Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch, 10. Aufl. 2010, Formular X.13, § 5 Abs. 4.

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Bedingung automatisch endet oder ordentlich gekündigt werden kann, wenn die Vorstandsbestellung beendet wird29; eine solche Koppelungsklausel wird ohne eine angemessene Abfindungsregelung für das Vorstandsmitglied im Allgemeinen nur schwer zumutbar sein. Abfindungsregelungen dieser Art sollen den mit dem vorzeitigen Wegfall der vertraglich zugesagten Vergütung einhergehenden Nachteil kompensieren. Für sie empfiehlt der Deutsche Corporate Governance Kodex, dass sie den Wert von zwei Jahresvergütungen nicht überschreiten und nicht mehr als die Restlaufzeit des Anstellungsvertrages vergüten sollen (Ziff. 4.2.3 Abs. 4 DCGK). Lassen sich solche Abfindungsvereinbarungen nach § 87 Abs. 2 AktG herabsetzen? 1. Herabsetzung der Abfindungszusage vor Eintritt des Abfindungsfalles Bei der Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, zunächst den einfacher gelagerten Fall ins Auge zu fassen, dass die Gesellschaft dem Vorstandsmitglied eine anstellungsvertragliche Abfindungszusage gemacht hat, der Abfindungsfall bislang aber nicht eingetreten ist. a) Wenn es sich um eine Abfindungsklausel handelt, die die Höhe der Abfindung von der Höhe der aktuellen Bezüge abhängig macht, genügt es den Interessen der Gesellschaft, die laufenden Bezüge ihrer Vorstandsmitglieder nach § 87 Abs. 2 AktG herabzusetzen, weil sich dies zugleich auf die Höhe der Abfindung auswirkt. Auf diese Weise lässt sich das Problem aber nicht in jedem Fall lösen. Abfindungsklauseln stellen nicht notwendig auf die Höhe der aktuellen Bezüge ab, sondern vielfach werden der Abfindungsberechnung Durchschnittsbezüge der Vergangenheit – etwas des letzten Geschäftsjahres30 oder der letzten zwei Geschäftsjahre – zugrunde gelegt. Die Praxis kennt auch Verträge, die genau bezifferte Abfindungsbeträge enthalten. Überdies mag die Gesellschaft ein Interesse daran haben, die laufenden Vorstandsbezüge unangetastet zu lassen, im Hinblick auf Abfindungszusagen von einem etwa bestehenden Herabsetzungsrecht hingegen Gebrauch zu machen31. Ist es in solchen Situationen nach § 87 Abs. 2 AktG möglich, vor Eintritt des Change of Control-Falles die Leistungszusage zu reduzieren? b) Das Herabsetzungsrecht aus § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG erfasst die gesamten Bezüge nach Abs. 1, und § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG zeigt, dass das Gesetz mit den Bezügen des Vorstandsmitglieds im weitesten Sinne sämtliche Leistungen meint, die dem Vorstandsmitglied von der Gesellschaft als Gegenleistung für

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29 Vgl. etwa den Muster-Anstellungsvertrag von Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch, 10. Aufl. 2010, Formular X.13, § 5 Abs. 3. 30 So im Muster-Anstellungsvertrag von Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch, 10. Aufl. 2010, Formular X.13, § 5 Abs. 4. 31 Eine sachwidrige Differenzierung zwischen den Vorstandsmitgliedern, die unzulässig wäre (OLG Düsseldorf, ZIP 2004, 1850, 1855; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 87 Rz. 9), läge darin nicht, sondern es würde sich nur die (nicht generell zu verneinende) Frage stellen, ob eine ungekürzte Aufrechterhaltung der Abfindungszusage unbillig sein kann, wenn die laufenden Bezüge nicht gekürzt werden.

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Herabsetzung von Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG

dessen Tätigkeit gewährt werden. Dazu gehören auch die hier in Rede stehenden Abfindungszusagen, denn auch sie sind Teil der Gegenleistung, die die Gesellschaft dem Vorstandsmitglied für dessen Vorstandstätigkeit gewährt. Die Überlegung, Abfindungen fielen nicht unter § 87 Abs. 2 AktG, sondern seien ein von der Vorschrift nicht erfasstes aliud, weil sie nicht als Gegenleistung für die Tätigkeit gezahlt würden, sondern für deren Beendigung32, ist – jedenfalls soweit es um die Herabsetzung einer Abfindungszusage vor Eintritt des Abfindungsfalles geht – nicht überzeugend. Kommt es später zum Abfindungsfall und entsteht damit der Abfindungsanspruch, mag dieser Zahlungsanspruch als Gegenleistung für die Beendigung des Anstellungsvertrages qualifiziert werden. Die bloße Zusage aber, in bestimmten Fällen einer künftigen Vertragsbeendigung eine Abfindung zu zahlen, ist als solche keine Gegenleistung für die Beendigung des Anstellungsverhältnisses, sondern sie ist Teil des „Gegenleistungspakets“ für die Vorstandstätigkeit selbst33. c) Eher kann man die Frage aufwerfen, ob die hier in Rede stehenden Abfindungszusagen statt den laufenden Bezüge i. S. von § 87 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 AktG den Versorgungsbezügen i. S. von § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG gleichzustellen sind. Die h. M. zu § 87 Abs. 2 AktG a. F. ging davon aus, dass Abfindungszahlungen den Versorgungsbezügen gleichstanden und damit nach altem Recht ebenso wie die Versorgungsbezüge von der Herabsetzungsmöglichkeit ausgenommen waren34. Die Neufassung von § 87 Abs. 2 AktG lässt zwar auch die Herabsetzung von Versorgungsbezügen zu, jedoch gelten hierfür weiterhin die oben Ziff. II 2 geschilderten Besonderheiten, so dass sich die Frage stellt, ob diese auch im Falle einer Herabsetzung von Abfindungszusagen für den Fall des künftigen Ausscheidens gelten. Offensichtlich bedeutungslos ist dabei allerdings die Regelung des § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG, die eine Herabsetzung von Versorgungsbezügen nur innerhalb eines Dreijahreszeitraums nach dem Ausscheiden zulässt (§ 87 Abs. 2 Satz 2 AktG). Hinter dieser Befristung steht die Erwägung, dass die Verschlechterung der Lage der Gesellschaft dem ausgeschiedenen Vorstand bei dieser zeitlichen Nähe zum Ausscheiden im Rahmen der Billigkeitsprüfung noch zugerechnet werden könne35. Diese Einschränkung betrifft nur die Herabsetzung von Versorgungsleistungen nach Ausscheiden des Vorstandsmitglieds und ist für die Frage, ob eine Abfindungszusage für den Fall künftigen Ausscheidens herabgesetzt werden kann, irrelevant. Von Bedeutung ist jedoch die Frage, ob die verfassungsrechtlichen Vorbehalte gegen die Herabsetzung von Versorgungsansprüchen auch für die Herabsetzung von Abfindungszusagen gelten, d. h. ob in dieser Hinsicht für eine Gleichstellung von Versorgungsansprüchen und Abfindungsansprüchen eine hinreichende Basis besteht.

__________ 32 33 34 35

Vgl. oben Fn. 27. Zutreffend Jaeger, NZA 2010, 128, 134. Vgl. oben Fn. 22. Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum VorstAG, BTDrucks. 16/13433, S. 16; kritisch hiergegen Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 43; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 64.

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Die Literatur zu § 87 Abs. 2 AktG a. F. hat sich auf § 285 Nr. 9 lit. b) HGB berufen, wo die Abfindungen zusammen mit den Ruhegehältern, Hinterbliebenenbezügen und Leistungen verwandter Art genannt sind36. Dieses Argument ist aber allenfalls für ausgeschiedene Vorstandsmitglieder tragfähig. Denn § 285 Nr. 9 lit. b) HGB erfasst ausschließlich die Bezüge früherer Vorstandsmitglieder. Abfindungszusagen, die einem amtierenden Vorstandsmitglied für den Fall der Beendigung seiner Tätigkeit gemacht worden sind, werden hingegen von § 285 Nr. 9 lit. a Satz 6 aa und bb HGB den laufenden Bezügen gleichgestellt. Wäre die bilanzrechtliche Behandlung der Abfindungsansprüche für die Frage der Herabsetzbarkeit überhaupt ein tragfähiges Argument, würde § 285 Nr. 9 lit. a Satz 6 HGB gerade für die Annahme sprechen, dass ein Abfindungsversprechen für den Fall künftigen Ausscheidens zu den laufenden Bezügen zähle. Tatsächlich ist es jedoch verfehlt, aus der bilanzrechtlichen Behandlung von Abfindungszusagen überhaupt Rückschlüsse auf die Herabsetzbarkeit solcher Zusagen ziehen zu wollen. Die Pflichtangaben des § 285 HGB verfolgen einen Informationszweck, haben hingegen keinen Bezug zu der materiellrechtlichen Frage, ob ein einseitiger Eingriff in diese Rechte zulässig ist oder nicht. Diese Frage kann nur danach beurteilt werden, ob die Abfindungszusage in ähnlicher Weise schutzbedürftig ist wie die Ruhegeldzusage. Eine Gleichstellung mit Versorgungszusagen wäre bei Abfindungszusagen, die an eine vorzeitige Beendigung des Anstellungsverhältnisses anknüpfen, nicht gerechtfertigt. Wird einem Vorstandsmitglied beispielsweise zugesagt, dass es bei einer vorzeitigen Beendigung seines Dienstvertrages eine Abfindung erhält, so verfolgt diese Regelung den Zweck, dem Vorstandsmitglied eine Entschädigung für den Wegfall der Vergütung der restlichen Vertragslaufzeit zu gewähren. Dieser Entschädigungsanspruch ist nicht schutzwürdiger als der Anspruch auf die laufende Vergütung für die restliche Vertragslaufzeit. So wie dieser herabgesetzt werden kann, muss auch jener dem Herabsetzungsrecht unterliegen. Zwar stellt die Herabsetzung einen Eingriff in die vertraglichen Rechte des Vorstandsmitglieds dar, und möglicherweise ist dieser Eingriff so stark, dass das Vorstandsmitglied sein Amt nur im Vertrauen auf die Abfindungsklausel angenommen hat. Aber das ist bei der laufenden Vergütung nicht anders, und ein qualitativer Unterschied ist insoweit nicht vorhanden. 2. Herabsetzung bereits entstandener Abfindungsansprüche Bedeutsamer und schwieriger als die Frage, ob eine für den Fall der vorzeitigen Vertragsbeendigung gemachte Abfindungszusage vor Eintritt des Abfindungsfalls herabgesetzt werden kann, ist die Frage nach der Herabsetzbarkeit eines bereits entstandenen Abfindungsanspruchs. Das kann ein Abfindungsanspruch sein, der sich aufgrund einer im Anstellungsvertrag für den Fall einer vorzeitigen Vertragsbeendigung getroffenen Abfindungszusage ergibt, häufiger wird es sich aber um eine Ad hoc-Abfindungsvereinbarung handeln, die als Ergebnis von Verhandlungen über die vom Aufsichtsrat gewünschte vorzeitige Beendi-

__________ 36 Vgl. oben Fn. 22.

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gung des Vorstandsamtes getroffen wurde. Der Kodex empfiehlt in diesen Fällen eine Abfindung von höchstens zwei Jahresvergütungen (Ziff. 4.2.3 Abs. 4 DCGK), aber wenn die Gesellschaft sich ohne einen wichtigen Grund i. S. von § 84 Abs. 3 AktG und/oder § 626 BGB von einem Vorstandsmitglied trennen will, und die Restamtszeit noch länger als zwei Jahre dauert, wird es häufig nicht möglich sein, sich auf eine Abfindung von zwei Jahresvergütungen zu beschränken, sondern der vereinbarte Abfindungsbetrag mag dann im Einzelfall auch drei oder vier Jahresvergütungen betragen. Wenn anschließend die Gesellschaft in eine Krisensituation gerät und sich die Frage einer Herabsetzung der laufenden Bezüge der aktiven Vorstandsmitglieder stellt, drängt sich naturgemäß die Frage auf, ob auch die dem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied für seine restliche Vertragsdauer gezahlte Abfindung herabgesetzt werden kann. a) Die überwiegende Meinung in der Literatur will anscheinend die Herabsetzung einer gezahlten Abfindung nach § 87 Abs. 2 AktG zulassen und stützt sich dabei insbesondere auf die Bemerkung im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum VorstAG, wonach das Herabsetzungsrecht auch Ansprüche „auf Auszahlung der Restlaufzeit des Vertrages bei Entlassung des Vorstands“ erfasse37. Nach anderer Ansicht soll sich diese Bemerkung aus der Gesetzesbegründung hingegen nur auf den Fall beziehen, dass der Aufsichtsrat den Vorstand abberuft, aber den Anstellungsvertrag bis zum vereinbarten Vertragsende unter Freistellung weiterlaufen lässt38, oder auf den Fall, dass dem Vorstandsmitglied für den Fall seiner vorzeitigen Abberufung ein Anspruch auf Kapitalisierung der Bezüge zusteht39. Diese Ansicht ist jedoch keineswegs zwingend. Der Wortlaut der Fraktionsbegründung („Auszahlung der Restlaufzeit“) lässt es auch zu und legt es sogar nahe, dass damit nicht nur die monatliche Weiterzahlung der laufenden Bezüge, sondern auch deren Abfindung durch eine Einmalzahlung gemeint ist. Und der Wortlaut passt nicht nur auf den Fall einer vollen, sondern auch auf den Fall einer nur teilweisen „Auszahlung der Restlaufzeit“ durch Abfindung. b) Allerdings ist anerkannt, dass das Herabsetzungsrecht des § 87 Abs. 2 AktG nur im Hinblick auf Vergütungsansprüche für die Zukunft besteht. Die für bereits erbrachte Arbeitsleistungen gezahlte Vergütung kann nicht im Nachhinein herabgesetzt und zurückgefordert werden. Das war zu § 87 Abs. 2 AktG a. F. unbestritten40, und die Neufassung von § 87 Abs. 2 AktG hat an diesem Grundsatz nichts geändert. Auch das neue Recht lässt es grundsätzlich nur zu, Vergütungsansprüche für die Zukunft herabzusetzen, hingegen ist es auch weiterhin ausgeschlossen, die gezahlte Vergütung für bereits erbrachte Arbeits-

__________ 37 38 39 40

Vgl. oben Fn. 24 f. Diller, NZG 2009, 1006/1009. Jaeger, NZA 2010, 128, 134. Vgl. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 1. Aufl. 2007, § 87 Rz. 33; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 1. Aufl. 2008, § 87 Rz. 12; Bürgers/Israel in Bürgers/ Körber, AktG, 1. Aufl. 2008, § 87 Rz. 13.

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leistungen nachträglich zu kürzen41. Vor diesem Hintergrund ist zu erwägen, ob einer nachträglichen Herabsetzung gezahlter Abfindungen der Grundsatz entgegensteht, dass auch nach der Neufassung von § 87 Abs. 2 AktG grundsätzlich keine rückwirkende Herabsetzung bereits erbrachter Leistungen möglich ist. Auch das wäre jedoch kein überzeugendes Argument. Der Grundsatz, dass bereits geleistete Zahlungen nicht mehr zurückgefordert werden können, gilt nicht uneingeschränkt. Vielmehr war schon zum alten Recht anerkannt, dass vorausgezahlte Bezüge, die durch Arbeitsleistung noch nicht verdient waren, herabgesetzt und zurückgefordert werden konnten42. Dabei ist es auch nach neuem Recht geblieben43. Die hier in Rede stehenden Abfindungen sind der Sache nach die Abgeltung künftiger Bezüge, und es besteht eine deutliche wirtschaftliche Parallele zu dem Fall der Vorauszahlung auf künftige Vergütungsansprüche, die es nahelegt, das Herabsetzungsrecht, das nach allgemeiner Meinung die geleistete Vorauszahlung erfassen würde, auf die geleistete Abfindung zu erstrecken. c) Gewichtig ist demgegenüber der Einwand, dass die Abfindung deshalb nicht unter § 87 Abs. 2 AktG falle, weil sie nicht Gegenleistung für die Vorstandstätigkeit sei, sondern für deren Beendigung44. Denn das Herabsetzungsrecht soll den Anspruch auf künftige Vergütungen für die Vorstandstätigkeit erfassen, während die Abfindung, auch wenn sie nach den Vergütungsansprüchen bemessen wird, die das Vorstandsmitglied bis zum Ende der Vertragslaufzeit noch hätte, in der Tat nicht die Gegenleistung für zukünftige Tätigkeiten, sondern die Gegenleistung dafür ist, dass das Vorstandsmitglied vorzeitig bereit war, sein Amt zur Verfügung zu stellen und keine weiteren Tätigkeiten mehr zu erbringen. Es handelt sich dabei auch nicht nur um einen dogmatischen Unterschied, sondern die künftige Vergütung und die Abfindung sind auch aus wirtschaftlicher Sicht qualitativ etwas anderes. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Abfindung bei Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds im Regelfall nicht einfach durch Addition aller künftig noch ausstehenden Bezüge gebildet wird. Der Kodex empfiehlt vielmehr einen Abfindungs-Cap von zwei Jahresvergütungen ohne Rücksicht auf die Dauer der restlichen Vertragslaufzeit (Ziff. 4.2.3 Abs. 4 DCGK), und in der Praxis ist die Bemessung der Abfindung häufig Gegenstand schwieriger Verhandlungen, bei denen es insbesondere um die Frage geht, in welcher Höhe variable Vergütungsteile abzufinden sind und welchen Abzug sich das Vorstandsmitglied dafür gefallen lassen muss, dass die Gesellschaft mit Vereinbarung einer Abfindung auf die Anrechnung anderweitiger Bezüge verzichtet. Im Ergebnis sind Abfindungsvereinbarungen

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41 Vgl. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 72; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 102; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beilage Heft 26, Rz. 36; Diller, NZG 2009, 1006, 1008; DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612, 614 Rz. 21. 42 Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 1. Aufl. 2008, § 87 Rz. 12; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 Rz. 96; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 87 Rz. 295. 43 Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beilage zu Heft 26, Tz. 36; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 39. 44 Diller, NZG 2009, 1006, 1008; Jaeger, NZA 2010, 128, 134.

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in einem Aufhebungsvertrag Teil eines gegenseitigen Vertrages, in dem zumeist streitige Positionen in vergleichsähnlicher Weise in Form gegenseitigen Nachgebens geregelt werden. Die Abfindungsvereinbarung schafft damit nicht nur einen neuen Rechtsgrund für die Zahlung, sondern enthält auch ein Entgegenkommen des Vorstandsmitglieds, zu dem dieses gegen Leistung einer geringeren Abfindung möglicherweise nicht bereit gewesen wäre. d) Es ist vor diesem Hintergrund nicht von vornherein von der Hand zu weisen, wenn in der Literatur die Ansicht vertreten wird, eine nochmalige Kürzung der Abfindungszahlung, bei welcher es sich ohnehin nur noch um einen prozentualen Anteil der bis zum Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer anfallenden Bezüge handele, sei unbillig45. Gleichwohl wäre es letztlich ein ungereimtes Ergebnis, wenn die amtierenden Vorstandsmitglieder eine Herabsetzung ihrer Bezüge hinnehmen müssten, während das noch „rechtzeitig“ gegen Abfindungszahlung ausgeschiedene Vorstandsmitglied für die Bereitschaft zum Amtsverzicht eine höhere „Vergütung“ erhielte als die aktiven Vorstandsmitglieder für ihre Amtsführung, und wenn der ausgeschiedene Vorstand durch die Abfindungsleistung besser gestellt würde, als er bei Fortsetzung des Vertrages stünde. Die besseren Argumente sprechen für die Annahme, dass dies nicht dem Gesetzeszweck entspricht, sondern es möglich sein muss, die Gegenleistung für die Bereitschaft zum Amtsverzicht erst recht herabzusetzen, wenn schon die Vergütung für die weitere Amtstätigkeit herabgesetzt werden kann. Der Gesetzeszweck des § 87 Abs. 2 AktG geht dahin, dass auch die Vorstandsmitglieder durch Reduzierung ihrer Bezüge einen angemessenen „Sanierungsbeitrag“ leisten sollen. Dieser Zweck verlangt es, auch das ausgeschiedene Vorstandsmitglied durch die Möglichkeit einer nachträglichen Reduzierung der Abfindung zu beteiligen. Das gilt um so mehr, wenn man die durch § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG vorgenommenen Ausdehnung des Herabsetzungsrechts auf Ruhegehälter ins Auge fasst. Wenn das ausgeschiedene Vorstandsmitglied im Nachhinein durch Herabsetzung seines Ruhegehaltes – für das es seine Arbeitsleistung bereits erbracht hat – zu einem Sanierungsbeitrag soll herangezogen werden können, wäre es wertungswidersprüchlich, wenn das ausgeschiedene Vorstandsmitglied seine Abfindungsleistung – für die es eine Arbeitsleistung gerade nicht erbracht hat – ungeschmälert behalten könnte. Richtig ist allerdings wohl der Hinweis, dass es unbillig wäre, das ausgeschiedene Vorstandsmitglied doppelt zu belasten, indem man es an den finanziellen Zugeständnissen, die es im Zuge der Aufhebungsvereinbarung gegenüber den Ansprüchen bei voller Erfüllung des Dienstvertrages bereits gemacht hat, festhält und ihm dann eine nochmalige Kürzung der Abfindungszahlung auferlegt. Gerade in den typischen Fällen, in denen die Gesellschaft auf eine einvernehmliche Beendigung von Vorstandsamt und Dienstvertrag angewiesen war, weil weder ein wichtiger Grund zur Abberufung i. S. von § 84 Abs. 3 AktG noch gar ein wichtiger Grund zur Vertragskündigung i. S. von § 626 BGB bestand, wäre das Vorstandsmitglied möglicherweise nicht bereit gewesen, gegen eine niedrigere Abfindung auszuscheiden, sondern hätte dann eine Fortsetzung

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45 So Jaeger, NZA 2010, 128, 134.

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seines Vertrages vorgezogen. Dem kann man jedoch bei der Bestimmung der Höhe der herabgesetzten Abfindung in angemessener und ausreichender Weise dadurch Rechnung tragen, dass man die Herabsetzung höchstens bis zu dem Betrag zulässt, den das Vorstandsmitglied bei Fortführung seines Amtes als herabgesetzte Vergütung erhalten hätte. Das Vorstandsmitglied wird dann nicht schlechter gestellt, als wäre es im Amt geblieben, es erleidet keinen Nachteil, sondern vermieden wird nur ein ungerechtfertigter „windfall profit“ aus seinem frühzeitigen Ausscheiden. Folgt man diesem Ansatz, bleibt ein Stichtagsproblem zu klären. Scheidet ein Vorstandsmitglied z. B. mit einer restlichen Vertragslaufzeit von drei Jahren aus und tritt die Herabsetzungssituation ein Jahr nach seinem Ausscheiden ein, ist die Herabsetzung pro rata temporis in der Weise vorzunehmen, dass ein Drittel des Abfindungsbetrages, nämlich der Anteil für das erste Jahr der restlichen Vertragslaufzeit, ungekürzt bleibt und zwei Drittel gekürzt werden. 3. Vertraglicher Ausschluss des Herabsetzungsrechts In der Literatur besteht weitgehend Einigkeit, dass das Herabsetzungsrecht des § 87 Abs. 2 AktG zwingendes Recht ist und weder durch Satzung noch Vertrag ausgeschlossen werden kann46. Vereinzelt wird allerdings die Ansicht vertreten, dieser Grundsatz könne nicht für den Fall einer Aufhebungsvereinbarung gelten, da dieser sich grundlegend von der Ausgangslage bei Abschluss eines Dienstvertrages unterscheide. Denn während der Abschluss des Dienstvertrages über eine Laufzeit von bis zu fünf Jahren erfolge, gehe es bei einer Aufhebung um eine überschaubare kürzere Dauer. Weiter müsse berücksichtigt werden, dass die Abfindungsleistung in der Praxis ohnehin schon gegenüber den vollen Bezügen der restlichen Vertragslaufzeit gekürzt sei. Vor allem aber sei von Bedeutung, dass das Vorstandsmitglied seine Bereitschaft zu einem vorzeitigen Ausscheiden häufig von einer vertraglichen Sicherung der Abfindung abhängig machen werde. Der Aufsichtsrat handele deshalb nicht pflichtwidrig, wenn er im Rahmen einer Gesamtabwägung einem Ausschluss der Herabsetzung zustimme. Eine andere Beurteilung sei nur angebracht, wenn die Abfindung in der ungekürzten Zahlung sämtlicher vertragsgemäßen Bezüge bestehe47. Dem wird man schwerlich zustimmen können. § 87 Abs. 2 AktG dient dem Schutz der Gesellschaft in wirtschaftlich kritischen Situationen. Dem Gesetzgeber des VorstAG war es ein Anliegen, das Herabsetzungsrecht im Interesse der Gesellschaft weiter auszubauen. Das spricht für die Annahme der herrschenden Meinung, dass es sich hierbei um zwingendes Recht handelt und schließt vertragliche Abweichungen auch dann aus, wenn es hierfür im Einzel-

__________ 46 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 87 AktG Rz. 35; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 61; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 96; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 12; Weller, NZG 2010, 7, 12. 47 So Jaeger, NZA 2010, 128, 131, 132 f., 135.

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Herabsetzung von Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG

fall einen sachlichen Grund geben mag. Die Frage, ob der Aufsichtsrat sich „pflichtwidrig“ verhält oder nicht, wenn er einen Ausschluss des Herabsetzungsrechts vereinbart, stellt sich nicht, denn zwingendes Recht kann der Aufsichtsrat auch dann nicht vertraglich ausschließen, wenn es dafür im Einzelfall gute Gründe geben mag. Die Überlegungen von Jaeger sind aber auch unabhängig davon nicht überzeugend. Dass die Abfindungsdauer kürzer ist als die Laufzeit des Dienstvertrages, ist keineswegs sicher. Nach Meinung von Jaeger wäre es unzulässig, in einem Dreijahres-Dienstvertrag das Herabsetzungsrecht auszuschließen, während in einer Aufhebungsvereinbarung bei einer vertraglichen Restlaufzeit von drei Jahren der Ausschluss des Herabsetzungsrechts zulässig sein soll; das scheint wenig folgerichtig. Auch das Argument, dass ein Vorstandsmitglied möglicherweise zu einer Aufhebungsvereinbarung nicht bereit sei, wenn keine vertragliche Sicherung der Abfindung vereinbart werde, ist nicht überzeugend; mit demselben Argument könnte man begründen, auch bei Abschluss des Anstellungsvertrages müsse das Herabsetzungsrecht ausgeschlossen werden können, weil sonst möglicherweise ein Vorstandsmitglied nicht bereit sei, das Amt zu übernehmen. Das Hauptargument Jaegers, dass die Abfindung ohnehin schon in aller Regel ein finanzielles Nachgeben des Vorstandsmitglieds enthalte, überzeugt ebenfalls nicht. Es ist das gleiche Argument, mit dem in der Literatur versucht wird, die angebliche Nichtherabsetzbarkeit von Abfindungen zu begründen; aus den gleichen Gründen, aus denen es dort nicht verfängt, verfängt es auch hier nicht (vgl. oben Ziff. 2). Wenn es zutrifft, dass auch eine Abfindung trotz des darin schon enthaltenen finanziellen Nachgebens noch herabgesetzt werden kann, wäre es wertungswidersprüchlich, einen vertraglichen Ausschluss des Abfindungsrechts zuzulassen. Das ausgeschiedene Vorstandsmitglied ist ausreichend geschützt, wenn man – wie oben vorgeschlagen – eine Herabsetzung höchstens bis zu dem Betrag zulässt, den das Vorstandsmitglied ohne die vorzeitige Beendigung seiner Tätigkeit als herabgesetzte Bezüge noch erhalten hätte.

IV. Abfindungen bei regulärer Vertragsbeendigung Neben den Abfindungen bei vorzeitiger Vertragsbeendigung kennt die Unternehmenspraxis Abfindungen, die dem Vorstandsmitglied im Falle der regulären Vertragsbeendigung gezahlt werden, wenn die Amtsperiode ausläuft und der Aufsichtsrat von einer Wiederbestellung absieht. Die Grundsätze des verfehlten Mannesmann-Urteils des Bundesgerichtshofs48 werden zwar vielfach entgegenstehen, in solchen Situationen ad hoc eine Abfindung zu vereinbaren. Denn freiwillige Leistungen der Gesellschaft, auf die das Vorstandsmitglied keinen vertraglichen Anspruch hat, sollen nach Meinung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nur zulässig sein, wenn sich mit ihnen ein konkreter Vorteil für die Gesellschaft verbindet, während freiwillige Zuwendungen rein be-

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48 BGH, ZIP 2006, 72 – Mannesmann; zur Kritik statt (nahezu) aller nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 50 m. w. N. in Fn. 220 f.

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lohnenden Charakters angeblich den Straftatbestand der Untreue verwirklichen49. In der Vertragspraxis findet man aber häufiger Vereinbarungen, die dem Vorstandsmitglied schon in seinem ursprünglichen Anstellungsvertrag für den Fall, dass es nach Ablauf der Amtsperiode nicht wiederbestellt wird, eine Abfindung zusagen50. Abfindungsregelungen dieser Art verfolgen einen ganz anderen Zweck als die Abfindungen bei vorzeitiger Vertragsbeendigung. Sie sollen nicht den vorzeitigen Wegfall der vertraglich zugesagten Vergütung kompensieren, sondern sie haben den Charakter eines Übergangsgeldes und wollen dem Vorstandsmitglied eine Überbrückungshilfe für die Zeit bis zur Aufnahme einer neuen Tätigkeit oder bis zum Eintritt in den Ruhestand gewähren. Übergangsgelder wurden früher häufig in Form laufender Zahlungen, zumeist in Höhe der vereinbarten Ruhegeldleistungen („Dritter Pensionsfall“), vereinbart51, sind aber im Hinblick auf ihre Angemessenheit in die Kritik geraten52 und werden daher vermehrt durch die Zusage einer Abfindung bei Nichtwiederbestellung ersetzt. Eine solche Abfindung hat Versorgungscharakter. Das Vorstandsmitglied hat schon während seiner Amtszeit eine gesicherte Anwartschaft auf die Zahlung, die es durch die bislang erbrachte Arbeitsleistung erdient hat. Die Herabsetzung einer solchen Abfindungszusage vor Eintritt des Abfindungsfalls ist daher der Herabsetzung einer Versorgungszusage gleichzustellen, sie begegnet den gleichen verfassungsrechtlichen Vorbehalten wie diese und kann nur in seltenen Ausnahmefällen zulässig sein53. Nach Eintritt des Abfindungsfalls ist eine Herabsetzung solcher Abfindungszahlungen ausgeschlossen. Hier gilt der Grundsatz, dass § 87 Abs. 2 AktG sich nur auf Zahlungen für die Zukunft erstreckt, jedoch nicht die nachträgliche Herabsetzung von Vergütungsleistungen zulässt, die eine Gegenleistung für die Vorstandstätigkeit der Vergangenheit darstellen und bereits geleistet worden sind54.

V. Change of Control-Abfindung Von erheblicher praktischer Bedeutung sind schließlich Abfindungszusagen im Rahmen von Change of Control-Klauseln55. Solche Abfindungsregeln geben

__________ 49 BGH, ZIP 2006, 72, 74 f. – Mannesmann. 50 Vgl. etwa den Musteranstellungsvertrag von Hoffmann-Becking in Beck’sches Formularbuch, 10. Aufl. 2010, Formular X.13, § 5 Abs. 5. 51 Näher Beinert, Der Vorstandsvertrag, 2005, Rz. 386 ff.; Fonk in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 9 Rz. 242. 52 Vgl. nur Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 426. 53 Vgl. näher oben Ziff. II. 2. 54 Vgl. oben Ziff. III. 2. b). 55 Zur Gestaltung von Change of Control-Klauseln vgl. etwa Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005), 155/170; ders., ZIP 2007, 2101/2103; Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1036 f.; Dauner-Lieb, DB 2008, 567; Bork, Change of Control-Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern 2009, S. 116 ff., 175. ff.; Fleischer in Spindler/ Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rz. 53; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 Rz. 82 ff.

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Herabsetzung von Abfindungsleistungen nach § 87 Abs. 2 AktG

dem Vorstandsmitglieder typischerweise Anspruch auf eine Abfindungszahlung, wenn es im Zusammenhang mit einem näher definierten Kontrollwechsel aus seinem Amt ausscheidet, sei es, dass es aufgrund eines vereinbarten Sonderkündigungsrechts das Amt von sich aus niederlegt, sei es, dass es auf Veranlassung der Gesellschaft in zeitlicher Nähe zum Kontrollwechsel aus seinem Amt vorzeitig ausscheidet oder bei Ende seiner Antszeit nicht wiederbestellt wird. Die Abfindungshöhe ist – bei allen Unterschieden der Klauseln im Einzelnen – zumeist so gestaltet, dass der Abfindungsbetrag die Vergütung für die restliche Vertragslaufzeit deutlich übersteigen kann56. Ziel solcher Change of Control-Klauseln ist es, die Unabhängigkeit des Vorstandsmitglieds in einer Übernahmesituation zu schützen und es diesem zu erleichtern, sein Verhalten bei einem bevorstehenden Kontrollwechsel allein an den Interessen des Unternehmens und seiner Aktionäre auszurichten und seine Entscheidungen frei von der Sorge um den Fortbestand seiner Anstellung nach einem möglichen Kontrollwechsel zu treffen57. In der Literatur werden Change of Control-Abfindungen zum Teil insgesamt den laufenden Bezügen gleichgestellt58, zum Teil werden sie insgesamt den Versorgungszusagen zugeordnet59, zum Teil wird der Teil der Abfindung, der die restliche Vertragslaufzeit abgilt, als Teil der laufenden Bezüge angesehen, während ein darüber hinausgehender Abfindungsanteil Versorgungscharakter habe60. Solange der Change of Control-Fall noch nicht eingetreten ist, spricht nichts für die Annahme, die Herabsetzbarkeit einer Change of Control-Abfindungsklausel anders zu beurteilen als eine sonstige vertragliche Abfindungsklausel, die dem Vorstandsmitglied für den Fall der vorzeitigen Beendigung seiner Tätigkeit eine Abfindung zusagt. Die Change of Control-Klausel als solche ist Teil des vertraglichen Gegenleistungsversprechens der Gesellschaft. Eine gesicherte Anwartschaft des Vorstandsmitglieds auf Abfindungsleistungen, die einer Versorgungsanwartschaft gleichgestellt werden könnte und entsprechenden Schutz verdiente, gibt es nicht. Solange sich ein Kontrollwechsel nicht abzeichnet, ist die Abfindungszusage daher nach den allgemeinen Grundsätzen von § 87 Abs. 2 AktG herabsetzbar. Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn der Abfindungsfall eingetreten ist. In dieser Situation ist es am ehesten überzeugend, im Anschluss an Bork61 danach zu differenzieren, inwieweit die gezahlte Abfindung eine Abgeltung für die Vergütung der restlichen Vertragslaufzeit ist und inwieweit es sich um eine Zusatzabfindung handelt. Den Abfindungsteil, der im jeweiligen Einzel-

__________ 56 Eingehend Bork, Change of Control-Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern, 2009, S. 175 ff. 57 Eingehend Bork, Change of Control-Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern, 2009, S. 9 ff. 58 Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1040. 59 Dreher, AG 2002, 214, 216, unter der stets gegebenen Voraussetzung, dass die Leistung das Ausscheiden des Vorstandsmitglieds voraussetzt. 60 Bork, Change of Control-Klauseln in Anstellungsverträgen von Vorstandsmitgliedern, 2009, S. 201 ff. 61 Vgl. oben Fn. 60.

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fall die restliche Vertragslaufzeit abgegolten hat, kann man schwerlich anders behandeln als eine andere Abfindung für die restliche Vertragslaufzeit; er ist nach den Ausführungen oben Ziff. III. 2 also für die Zukunft herabsetzbar. Eine über die Vergütung der restlichen Vertraglaufzeit hinausgehende zusätzliche Abfindung hingegen wird man von dem Herabsetzungsrecht ausnehmen müssen. Der Grund liegt allerdings nicht darin, dass diese Zahlung Versorgungscharakter hätte, sondern er liegt darin, dass es sich hierbei um die Gegenleistung für loyales Verhalten des Vorstandsmitglieds im Vorfeld des Kontrollwechsels handelt. Ist der Kontrollwechsel vollzogen, hat das Vorstandsmitglied seine Leistung erbracht, und einer nachträglichen Herabsetzung steht der Grundsatz entgegen, dass das Herabsetzungsrecht nur Vergütungsansprüche der Zukunft betrifft, nicht aber bereits in der Vergangenheit verdiente und gezahlte Vergütungsbestandteile erfasst62. Schwierig, aber wohl sehr akademisch bleibt die Frage zu beurteilen, nach welchen Grundsätzen sich eine Herabsetzung der Abfindungszusage in dem Zeitraum beurteilt, in dem sich der Kontrollwechsel abzeichnet, der Abfindungsfall aber noch nicht eingetreten ist. Das ist der Zeitraum, in dem die Abfindungszusage ihre Motivationswirkung entfalten soll und das Vorstandsmitglied sein Verhalten möglicherweise schon im Vertrauen auf den Bestand der Abfindungszusage eingerichtet hat. In dieser Situation gibt es keine sichere Abfindungsanwartschaft des Vorstandsmitglieds, die wie eine Versorgungsanwartschaft nur unter erhöhten Voraussetzungen herabgesetzt werden könnte, sondern man wird eine angemessene Lösung eher finden, wenn man das schützenswerte Vertrauen des Vorstandsmitglieds auf den Bestand der Change of Control-Abfindungszusage bei der Billigkeitsabwägung im Rahmen von § 87 Abs. 2 AktG berücksichtigt.

__________ 62 Vgl. oben Ziff. III. 2. b).

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Geklärte und ungeklärte Fragen bei der GeschäftsführerAbberufung aus wichtigem Grund Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Sicherungsmechanismen für die Abberufung aus wichtigem Grund 1. Stimmrechtsausschluss 2. Positive Stimmpflichten a) Meinungsstand b) Legitimation positiver Stimmpflichten 3. Negierung statutarischer Beschlussquoren III. Die Ausnahmekonstellationen 1. Geschäftsführer-Bestellung durch den Aufsichtsrat 2. Sonderrechte des Geschäftsführers

IV. Rechtsfolgen- und Verfahrensprobleme 1. Beschlüsse ohne förmliche Feststellung 2. Förmlich festgestellte Beschlüsse a) Meinungsstand b) Legitimation vorläufiger Beschlussgültigkeit durch den Versammlungsleiter c) Einfluss der Stimmenmehrheit auf vorläufige Beschlussgültigkeit d) Geschäftsführer-Bestellung durch den Aufsichtsrat e) Sonderrechte des Geschäftsführers

I. Einleitung Der Widerruf der Geschäftsführer-Bestellung in der GmbH bereitet in seiner reinsten Form keine größeren rechtlichen Probleme. Dies wird schlagartig anders, sobald eine Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund ansteht. Innerhalb dieser Kategorie beschäftigt vor allem der „wichtige Grund“ die Instanzgerichte. Die damit eröffnete Kasuistik soll hier jedoch ausgeblendet und das Vorliegen eines wichtigen Grundes durchgängig unterstellt werden. Gleichwohl verbleiben in einer solchen Konstellation verschiedene Verfahrensfragen, die nur scheinbar durchgängig gelöst sind. Die h. M. hat hierzu ein ganzes Gerüst von Sicherungsmechanismen zur Ermöglichung der Abberufung aus wichtigem Grund entwickelt, die sich umgekehrt als Restriktionen zu Lasten des betroffenen Geschäftsführers auswirken. So unterliegt der betroffene Geschäftsführer bei seiner eigenen Abberufungsentscheidung beispielsweise einem Stimmrechtsverbot. Weiterhin soll jeden Gesellschafter bei Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Verpflichtung zur Stimmabgabe für eine Geschäftsführer-Abberufung treffen. Schließlich sollen satzungsmäßig verankerte Mehrheitserfordernisse für die Abberufung aus wichtigem Grund keine Geltung beanspruchen dürfen. Ob und inwieweit die vorstehenden Grundsätze Ausnahmen für Gesellschafter-Geschäftsführer oder wenigstens für Gesellschafter mit Sonderrechten zulassen, ist umstritten. Völlig ungeklärt ist dage387

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gen die Rechtsfolgeneinschätzung, insbesondere für die Schwebezeit zwischen Beschlussfassung und rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidung über den maßgeblichen Beschlussinhalt. Obwohl die materiell-rechtlichen Grundsätze zur Abberufung aus wichtigem Grund jeweils isoliert betrachtet im Kern konsensfähig sind, nötigen sie in ihrer kumulierten Anwendung doch zu einer kritischen Reflexion. Diese soll mit dem vorliegenden Beitrag angeregt werden. Zugleich bemüht sich der Verfasser, nach schlüssigen prozessualen Konsequenzen für die verschiedenen Regelverstöße zu suchen.

II. Die Sicherungsmechanismen für die Abberufung aus wichtigem Grund 1. Stimmrechtsausschluss Ein Geschäftsführer, der als Gesellschafter bei der Entscheidung über seine eigene Abberufung aus wichtigem Grund mitwirkt, ist von der Teilnahme an der Abstimmung hierüber – nicht aber von der Beratung1 – ausgeschlossen2. Dieser Stimmrechtsausschluss zu Lasten des Gesellschafter-Geschäftsführers kann sich im Grundsatz auf einen breiten Konsens stützen. Die wissenschaftliche Diskussion konzentriert sich somit eher auf Randbereiche. Dabei geht es zum einen um die dogmatische Herleitung des Stimmrechtsverbots, das nur noch selten aus § 47 Abs. 4 GmbHG3 und stattdessen überwiegend aus einem Verbot des Richtens (besser: der Entscheidung) in eigenen Angelegenheiten4 hergeleitet wird. Zum andern geht es um die Frage, ob der „wichtige Grund“ für die Annahme eines Stimmrechtsausschlusses objektiv vorliegen muss5 oder ob dessen bloße Behauptung ausreicht6. Schließlich sind die Folgewirkungen eines (möglicherweise fehlerhaften, weil ohne „wichtigen Grund“ erfolgten) Abberufungsbeschlusses bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Klärung Gegenstand laufender Diskussionen.

__________ 1 BGH, GmbHR 1985, 256, 257 f.; BGH, NJW-RR 1992, 993; Goette, DStR 1998, 938, 940. 2 Vgl. nur BGHZ 34, 367, 371; BGHZ 102, 172, 176; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 47 Rz. 85 m. w. Nachw. 3 So z. B. noch OLG Düsseldorf, GmbHR 1989, 468, 469; Hüffer in Ulmer, GmbHG, 2005 ff., § 47 Rz. 175. 4 So BGHZ 97, 28, 33 f.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 47 Rz. 40; Zöllner (Fn. 2), § 47 Rz. 85; Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 47 Rz. 62; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 47 Rz. 141; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 47 Rz. 77; Uwe H. Schneider, ZGR 1983, 535, 540. 5 So OLG Karlsruhe, ZIP 2007, 1319, 1320; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 45; Bayer (Fn. 4), § 47 Rz. 40 (anders noch Voraufl. § 38 Rz. 17); Paefgen in Ulmer, GmbHG, 2005 ff., § 38 Rz. 86; Zöllner (Fn. 2), § 47 Rz. 85; ders., Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, 1963, S. 237 f. 6 So OLG Brandenburg, GmbHR 1996, 539, 542; K. Schmidt (Fn. 4), § 46 Rz. 76; Koppensteiner (Fn. 4), § 47 Rz. 77; Uwe H. Schneider, ZGR 1983, 535, 541; Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 183.

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Geschäftsführer-Abberufung aus wichtigem Grund

Für die hier anzustellenden Betrachtungen genügt es festzuhalten, dass die Stimmen des Gesellschafter-Geschäftsführers – tatsächliches Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ unterstellt – bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses zur eigenen Abberufung nicht mitzählen. Dies hat wiederum zwei Konsequenzen: Erstens hat der Mehrheitsgesellschafter damit den Schutz des Prinzips einfacher Stimmenmehrheit (§ 47 Abs. 1 GmbHG) verloren, wenn es um sein eigenes Geschäftsführungsgebaren geht. Zweitens ermöglicht es der Stimmrechtsausschluss in der sog. zweigliedrigen GmbH jedem Gesellschafter, den jeweiligen Mitgesellschafter bei Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ der Geschäftsführung zu entheben. Beides ist im Ergebnis grundsätzlich akzeptabel – vorausgesetzt, der „wichtige Grund“ wird nicht nur behauptet. 2. Positive Stimmpflichten a) Meinungsstand Obwohl der Stimmrechtsausschluss nach § 47 Abs. 4 GmbHG eine unbefangene (weil ohne die Stimmen des Betroffenen gefällte) Entscheidung der Gesellschafter absichert, kann hierdurch lediglich eine materielle Verfälschung des Beschlussergebnisses durch den selbst betroffenen Gesellschafter-Geschäftsführer verhindert werden. Ist dieser hingegen nur minderheitlich oder als Fremdgeschäftsführer gar nicht an der GmbH beteiligt, so hilft das Stimmverbot des § 47 Abs. 4 GmbHG bei der Abberufung aus wichtigem Grund nicht entscheidend weiter. Hier bedarf es vielmehr einer Regel im Umgang mit den Stimmen der übrigen Gesellschafter. Eine derartige Regel hatte der BGH zur Geschäftsführervergütung in der Personengesellschaft bereits im Jahre 1965 aufgestellt, indem er ausnahmsweise eine Verpflichtung zur Zustimmung in der Gesellschafterversammlung statuierte7. Die hiermit geborene Stimmpflicht wurde vom BGH später auf die Geschäftsführer-Abberufung übertragen. Danach nötigt das Vorliegen eines wichtigen Grundes jeden Gesellschafter dazu, einem Antrag auf Abberufung des Geschäftsführers zuzustimmen (positive Stimmpflicht). Die schlichte Kernaussage des II. Senats aus der viel zitierten Entscheidung vom 9.11.19878 lautet hierzu: „Liegt ein wichtiger Grund vor, so hat aber auch kein (Mehrheits-)Gesellschafter das Recht, den untragbaren Geschäftsführer im Amt zu halten; kommt es auf die Stimme des Gesellschafters an, weil die Abberufung aus wichtigem Grund nur einstimmig oder mit einer bestimmten Mehrheit des Gesellschaftskapitals beschlossen werden kann, so gebietet jenem in der Regel seine gesellschaftliche Treuepflicht, der Ablösung zuzustimmen; …“

Auf der Rechtsfolgenseite wurde von der Rechtsprechung die Kopie eines Verstoßes gegen das Stimmrechtsverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG kreiert. Danach sind alle entgegen der Stimmpflicht abgegebenen Stimmen mit der Folge nich-

__________

7 Vgl. BGHZ 44, 40, 41 f.; ebenso BGHZ 64, 253, 257 ff.; BGHZ 68, 81, 82 ff.; BGHZ 102, 172, 176; BGH, NJW 1991, 846, 847. 8 BGHZ 102, 172, 176.

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tig, dass sie bei der Ermittlung des Beschlussergebnisses nicht mitgezählt werden dürfen9. Werden sie gleichwohl mitgezählt und ein die Abberufung ablehnender Beschluss festgestellt, so ist dieser anfechtbar. Für die Praxis bedeutet diese Rechtsprechung, dass ein Beschlussantrag zur Abberufung eines Geschäftsführers bei Vorliegen eines wichtigen Grund keine gültigen Nein-Stimmen – weder des Betroffenen (Verstoß gegen § 47 Abs. 4 GmbHG!) noch der übrigen Gesellschafter (Treuepflichtverstoß!) auf sich vereinigen kann. Anders gewendet: Die Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund kann und muss rechtmäßigerweise stets einstimmig erfolgen. Die vom II. Senat als Begründung expressis verbis ins Feld geführte gesellschaftliche Treuepflicht wurde in der Literatur bereitwillig aufgegriffen und verfestigte sich schnell zum „Standardargument“ für eine positive Stimmpflicht aller Gesellschafter10. Einzelne Aspekte blieben dabei jedoch bis heute im Dunkeln. Dies beginnt bei der rechtssicheren Fixierung der Parteien des zur Stimmpflicht herangezogenen Treueverhältnisses. Hierauf basierend, ist auch die Frage der Aktivlegitimation im Beschlusskontrollverfahren nicht geklärt. Völlig offen ist schließlich die materielle Einordnung der positiven Stimmpflichten in ähnlich gelagerte Treuepflichten. Insbesondere gibt es noch keine handhabbaren Unterschiedskriterien für die Verpflichtung zur Abberufung eines Geschäftsführers einerseits und zu dessen Ausschluss als Gesellschafter andererseits. b) Legitimation positiver Stimmpflichten aa) Die Existenz mitgliedschaftlicher Treuepflichten in der GmbH ist im Grundsatz unbestritten. Insbesondere der körperschaftliche Charakter dieser Rechtsform hindert spätestens seit der ITT-Entscheidung11 nicht die Annahme, dass die Mitgliedschaft des GmbH-Gesellschafters Treuepflichten sowohl gegenüber dem Verband als auch gegenüber den Mitgesellschaftern begründen kann. Die hierfür relevanten Anknüpfungspunkte hat Martin Winter12 ausführlich beschrieben; seine Einordnung ist bis heute aktuell. Seine Kategorisierung liefert allerdings noch keinen schlüssigen Beweis für die inhaltliche Ausformung positiver Stimmpflichten gerade in Abberufungsfragen. bb) Der Rückgriff auf positive Stimmpflichten richtet sich regelmäßig nicht gegen Minderheiten, da deren Opposition bereits mit einer schlichten Mehrheitsentscheidung beim Abberufungsbeschluss überspielt werden kann. Vielmehr ist die Gesellschaftermehrheit oder – bei entsprechenden Beschlussquoren in der Satzung – die qualifizierte Minderheit das Subjekt der Zuordnung der-

__________ 9 So BGHZ 102, 172, 176; BGH, NW 1991, 846; OLG Hamburg, GmbHR 1992, 43, 47; Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 85. 10 Vgl. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 38 Rz. 49; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 45; Hüffer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 47 Rz. 192 ff. 11 BGHZ 65, 15. 12 Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 85 ff.

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artiger Loyalitätspflichten. Das steht im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen der mitgliedschaftlichen Treuepflicht. Diese ist nahezu unbestrittenermaßen kein Instrument speziell des Minderheitenschutzes13. Spätestens seit der Girmes-Entscheidung14 steht vielmehr höchstrichterlich fest, dass die Treuepflicht in der Kapitalgesellschaft für alle Beteiligungsgrößen gilt. cc) Ist ein Rückgriff auf die Treuepflicht in der GmbH nach alledem grundsätzlich nicht zu beanstanden, so verdient doch die konkrete Ausformung eine genauere Betrachtung. Unter dem Beifall der h. L. statuiert der BGH nämlich eine positive Verhaltenspflicht (Abgabe einer Ja-Stimme zum Abberufungsantrag). Dies widerspricht scheinbar in zweifacher Weise der herkömmlichen Einordnung der Treuepflicht. (1) Zum einen wirkten Treuepflichten ursprünglich rein rechtsbegrenzend. Eine derartige Sichtweise konnte deshalb lange vorherrschen, weil die Modellierung der Treuepflichten stets bei der Personengesellschaft begann und nur mit Zeitverzögerung auf die Kapitalgesellschaft übertragen wurde. Selbst Martin Winter räumte ein, dass der GmbH-Gesellschafter ein Recht auf „unternehmerisches Desinteresse“ habe und der Treuepflicht in der GmbH somit in erster Linie Schrankenfunktion zukomme15. Allerdings entwickelte er selbst an gleicher Stelle16 für die GmbH handhabbare Kriterien für eine Ausweitung der Treuepflicht als Verpflichtung zu einem positiven Tun. Die vom BGH apostrophierte Verpflichtung zur Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund begegnet daher heute keinen Bedenken im Hinblick auf deren dogmatische Herleitung. Insbesondere wäre eine bloße Ungültigkeit der abgegebenen Nein-Stimmen zu kurz gegriffen, denn eine Abberufung ohne Ja-Stimmen gibt es auch bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nicht. Insofern ist die treuepflichtbedingte Annahme einer Ja-Stimme konsequent. Sie allein ermöglicht auch erst die Erhebung einer positiven Beschlussfeststellungsklage, da es eine auf Stimmenthaltung gerichtete Klage nicht gibt. (2) Fraglich ist damit nur noch, ob die mitgliedschaftliche Treuepflicht das Gebot zu einer aktiven Stimmabgabe mit einem vorbestimmten Inhalt – nämlich einer Zustimmung zum Abberufungsantrag aus wichtigem Grund – zu legitimieren vermag. Die hierfür entwickelten Kriterien sind ebenfalls weitgehend unstreitig. Es muss zum einen ein Interesse der Gesellschaft an der Abberufung bestehen, welches das Interesse des einzelnen Gesellschafters am status quo überragt und den Beschluss daher für diesen zumutbar erscheinen lässt; zum andern muss ein weniger einschneidendes Mittel als die positive Stimmpflicht zur konkreten Zweckerreichung ausscheiden17.

__________ 13 14 15 16 17

So aber noch Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 8. BGHZ 129, 136. (Fn. 12), S. 120. (Fn. 12), S. 178 ff. Vgl. mit geringen Unterschieden im Detail BGH, WM 1986, 1348, 1349; M. Winter (Fn. 12), S. 178 f.; K. Schmidt, ZGR 1982, 519, 525 f.; ders. in Scholz, GmbHG, 6. Aufl. 1978/1983, § 47 Rz. 26 (ab 7. Aufl. nicht mehr ausgeführt).

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Die Anwendung dieser Maßstäbe wirft damit zunächst die Frage nach der Relevanz des Gesellschaftsinteresses an einer – aus objektiver Sicht – tragbaren Geschäftsführung auf. Mit anderen Worten: Gibt es ein Interesse der Gesellschaft an geordneten Geschäftsführungs- und Vertretungsverhältnissen, das ein etwa gegenläufiges Interesse einzelner Gesellschafter überwiegt? Die Frage ist zu bejahen – allerdings mit der Einschränkung, dass die zur Abberufung herangezogenen Defizite beim Geschäftsführer wertungsmäßig denjenigen entsprechen, die die Rechtsprechung zum Anlass für eine positive Stimmpflicht bei Satzungsänderungen heranzieht. Der Verbleib des Geschäftsführers muss für die Gesellschaft mithin zu einer existentiellen Angelegenheit werden, um eine Zustimmung zur Abberufung kraft Treuepflicht zu begründen. Eine bloße Leistungs- oder gar Vergütungsoptimierung zu Gunsten der Gesellschaft genügt hingegen nicht. Dies zeigt zugleich, dass der Umgang mit dem wichtigen Grund im Sinne des § 38 Abs. 2 GmbHG ein äußerst sorgfältiger und sparsamer sein sollte. Liegt er allerdings vor, so ist die Zustimmung für jeden Gesellschafter zumutbar und daher potenzielle Stimmrechtsdirektive aus der gesetzlichen Loyalitätspflicht. Um hieraus eine positive Stimmpflicht abzuleiten, ist darüber hinaus allerdings eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit folgendem Inhalt anzustellen: Ist die Abberufung des Geschäftsführers einerseits geeignet, um einen objektiv unhaltbaren Zustand abzustellen und – falls ja – wäre das verfolgte Ziel nicht auch anderweitig zu erreichen? Die Eignung der Abberufung zur Beendigung des Geschäftsführungsdefizits dürfte regelmäßig zu bejahen sein. Schwieriger ist dagegen die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. So liegt beispielsweise die Versuchung nahe, die Zuweisung einer anderen – häufig geringerwertigen – Aufgabe (innerhalb oder unterhalb der Geschäftsführung) an den Geschäftsführer als Lösung aller abberufungsrelevanten Probleme anzusehen18. Indes liegt hierin kein milderes Mittel zur Vermeidung der Abberufung, sondern ein korporationsrechtlich irrelevantes aliud, das eine Zustimmungspflicht in Sachen Abberufung nicht auszuschließen vermag. Dasselbe gilt im Ergebnis bei einer ansonsten funktionierenden Gesamtgeschäftsführung, deren übrige Mitglieder die Fehler und Defizite des Abzuberufenden regelmäßig ausgleichen. Hier wie dort geht es bei der Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund um die sofortige Beendigung eines bestimmten Amtes, das mit einer bestimmten Person fehlbesetzt ist. Ersatzlösungen unter Einsatz anderer Aufgaben oder anderer Personen vermögen eine positive Stimmpflicht zum Abberufungsantrag daher nicht zu beseitigen. 3. Negierung statutarischer Beschlussquoren Neben dem Stimmverbot des Betroffenen und neben einer gesetzlich hergeleiteten Treuepflicht zur Annahme von Abberufungsanträgen hat die wohl h. M. mit der Negierung von statutarischen Beschlussquoren eine weitere Erleichterung bei der Abberufung aus wichtigem Grund geschaffen. Danach sollen alle

__________ 18 In diese Richtung Uwe H. Schneider, ZGR 1983, 535, 549 f.

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Einschränkungen, die im Ergebnis auf eine größere als die in § 47 Abs. 1 GmbHG vorgesehene (einfache) Stimmenmehrheit hinauslaufen, im Falle der Abberufung aus wichtigem Grund unbeachtlich sein19. Nachdem dieses Verdikt zunächst nur den Fremdgeschäftsführer traf20, hat der BGH den Gesellschafter-Geschäftsführer später ausdrücklich mit einbezogen21. Die Begründungen der h. M. für diese Missachtung satzungsgeberischen Willens sind allerdings eher dürftig. Vor allem die Berufung auf § 38 Abs. 2 GmbHG22 verschlägt nicht, weil diese Vorschrift die Existenz von Quoren überhaupt nicht regelt23. § 38 Abs. 2 GmbHG sorgt lediglich dafür, dass ein Widerruf der Bestellung aus wichtigem Grund überhaupt möglich bleibt und nicht (gar versehentlich) satzungsmäßig versperrt wird. Ob die Satzung hierfür eine besondere Mehrheit oder gar Einstimmigkeit vorsieht, hat mit dem materiellen Widerrufsgrund zunächst einmal nichts zu tun24. Der zweite Begründungsstrang für eine Negierung statutarischer Beschlussquoren gleicht eher einem Schreckensszenario. Es dürfe nicht passieren, dass es die Satzung der Gesellschaft unmöglich mache, sich von einem unfähigen Geschäftsführer zu lösen25. Aus diesem Grunde müssten alle Mehrheits- oder gar Einstimmigkeitserfordernisse in der Satzung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes zurücktreten. Ausreichend sei kraft zwingenden Gesetzesrechts daher die einfache Stimmenmehrheit (§ 47 Abs. 1 GmbHG). Dass derart zwingende Lösungsrechte gesellschaftsimmanent sind, ist jedoch schon im Ausgangspunkt unzutreffend. Wie die §§ 117, 127 HGB zeigen, ist die Einstimmigkeit mit gerichtlicher Überprüfung als Prinzip zumindest in der personalistischen GmbH durchaus kein Fremdkörper26. Letztlich entscheidend ist allerdings ein anderes Gegenargument: Wenn schon der betroffene Gesellschafter-Geschäftsführer wegen eines Stimmrechtsausschlusses nicht mitstimmen darf und die anderen Gesellschafter aufgrund ihrer Treuepflicht dem Abberufungsantrag zustimmen müssen, besteht für eine „Zwangsabsenkung“ satzungsmäßiger Quoren bei Vorliegen eines wichtigen Abberufungsgrundes kein Bedürfnis; das gewünschte Ergebnis ergibt sich vielmehr bereits aus den zuvor dargestellten Rechtsgrundsätzen27.

__________ 19 Vgl. BGHZ 86, 177, 179; BGHZ 102, 172, 178 f.; BGH, WM 1984, 29; Roth/ Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 18; Stein in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1997, § 38 Rz. 91; Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 19; Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 83; Fleck, WM 1985, 677, 680; dagegen z. B. Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 30; Uwe H. Schneider, ZGR 1983, 535, 540; Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 179. 20 Für den Gesellschafter-Geschäftsführer noch ausdrücklich offengelassen von BGH, WM 1984, 29. 21 Vgl. BGHZ 102, 172, 178 f. 22 So BGHZ 86, 177, 179. 23 Zutr. Baums, Der Geschäftsleitervertrag, 1987, S. 318. 24 Zutr. Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 30. 25 So BGHZ 86, 177, 179; Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 19. 26 Ähnl. Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 30. 27 So auch Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 30.

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III. Die Ausnahmekonstellationen 1. Geschäftsführer-Bestellung durch den Aufsichtsrat Ist in der GmbH auf Grund mitbestimmungsrechtlicher Regelungen ein Aufsichtsrat zu installieren, so ist dieser nach § 31 Abs. 1 MitbestG zwingend für die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer zuständig. Dasselbe gilt für einen fakultativen Aufsichtsrat, sofern diesem die Bestellungskompetenz und/ oder die Abberufungskompetenz28 zufällt. Auch wenn § 84 AktG in den Aufgabenkatalog des § 52 Abs. 1 GmbHG nicht einbezogen ist, ist eine solche Zuständigkeitsverlagerung kraft Satzungsregelung gleichwohl möglich. Obliegt damit die Abberufung von Geschäftsführern (bei mitbestimmten Aufsichtsräten wegen der Verweisung auf § 84 AktG nur aus wichtigem Grund möglich!29) dem Aufsichtsrat, so sind die unter II. beschriebenen Sicherungsmechanismen innerhalb der beschließenden Gesellschafterversammlung nicht mehr anwendbar. Dies gilt zunächst für den Stimmrechtsausschluss des betroffenen Gesellschafter-Geschäftsführers, weil eine „Infizierung“ selbst bei von diesem entsandten Aufsichtsratsmitgliedern (einschließlich naher Angehöriger30) nicht zu einem Stimmverbot führen kann. Auch die aus der Mitgliedschaft resultierende positive Stimmpflicht ist auf die Abberufungsentscheidung des Aufsichtsrates nicht übertragbar; hier muss jedes Organmitglied sein Abstimmungsverhalten ausschließlich am Wohl der Gesellschaft – nicht aber an irgendwelchen Treuerechtsansprüchen einzelner Gesellschafter – orientieren. Überlegenswert ist allenfalls, ob verschärfte Satzungsanforderungen an die Beschlussfähigkeit oder die Mehrheit anlässlich der Abberufungsentscheidungen durch den Aufsichtsrat an § 38 Abs. 2 GmbHG zu messen sind. Mit Blick darauf, dass die herrschende Meinung derartige Klauseln im Rahmen der Gesellschafterentscheidung nicht akzeptiert, könnte ein solcher Rechtssatz durchaus auf den Aufsichtsratsbeschluss übertragen werden. Wie zu II.3. ausgeführt, ist eine Negierung statutarischer Beschlussfähigkeitsregelungen jedoch bereits für die Gesellschafterversammlung nicht hinreichend begründbar. Für eine Übertragung auf Entscheidungen des Aufsichtsrates ist sie schon deshalb völlig inakzeptabel, weil § 31 Abs. 2 MitbestG selbst eine zwingende Zwei-Drittel-Stimmenmehrheit für die Geschäftsführerbestellung und -abberufung (vgl. § 31 Abs. 5 MitbestG) vorsieht. Die zur Sicherung einer erfolgreichen Abberufungsentscheidung entwickelten Rechtssätze sind daher von der Gesellschafterversammlung auf den Aufsichtsrat nicht übertragbar. Dessen Mitglieder entscheiden vielmehr unabhängig von allen gesellschafterinternen Regeln. Als Konsequenz hieraus ist auch jedwede Maßnahme im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, zumal es zwischen einzelnen Gesellschaftern auf der einen Seite und den Auf-

__________ 28 Die Abberufungskompetenz folgt als actus contrarius auch ohne ausdrückliche Erwähnung der Bestellungskompetenz. 29 A. A. nur Vollmer, ZGR 1979, 135, 157 f. 30 Vgl. zur Ausdehnung des Stimmrechtsausschlusses nach § 47 Abs. 4 GmbHG auf nahe Angehörige Zöllner (Fn. 2), § 47 Rz. 101; K. Schmidt (Fn. 4), § 47 Rz. 154.

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sichtsratsmitgliedern auf der anderen Seite keine entscheidungsrelevante Rechtsbeziehung gibt. 2. Sonderrechte des Geschäftsführers Völlig ungeklärt ist die Rechtslage bei der Abberufung solcher Geschäftsführer, denen ein mitgliedschaftliches Sonderrecht31 auf Geschäftsführung eingeräumt wurde. Unstreitig ist lediglich, dass eine Abberufung sonderberechtigter Geschäftsführer ohne wichtigen Grund gegen deren Willen nicht wirksam erfolgen kann32. Ob sich ein solches Sonderrecht auch gegen einen wichtigen Grund für die Abberufung als Geschäftsführer durchsetzen kann, ist hingegen strittig. Der BGH33 hat diese Frage im Zusammenhang mit der Negierung satzungsmäßiger Beschlussquoren ausdrücklich offen gelassen. Im Schrifttum wird das Thema hingegen kontrovers diskutiert34. Im Vordringen begriffen ist dabei eine Meinung, die eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes proklamiert und nach geeigneten milderen Mitteln als der sofortigen Abberufung sucht35. Beispielhaft hierfür stehen die Installierung einer Gesamtgeschäftsführung (an Stelle der bisherigen Einzelgeschäftsführung des abzuberufenden Geschäftsführers) oder eine inhaltliche Aufgabenreduktion beim betroffenen Geschäftsführer. Dies mag als Kompromiss dienen und ist nicht zu beanstanden, sofern der abberufungsbedrohte Geschäftsführer sein Einverständnis hierzu erteilt. Ein satzungsmäßiges Sonderrecht auf Geschäftsführung bedeutet jedoch im Zweifel gegenständlich unbeschränkte Geschäftsführung in der satzungsmäßig geregelten Vertretungsform. „Degradierungen“ als Ersatz für eine juristisch unsichere Abberufung aus wichtigem Grund sind hingegen nicht anzuerkennen. Wer bei Gründung einem Mitgesellschafter ein satzungsmäßiges Sonderrecht auf Geschäftsführung einräumt, muss dieses Recht für die Dauer der GmbH oder für die Lebensdauer des sonderberechtigten Gesellschafters grundsätzlich hinnehmen – und zwar auch dann, wenn ein wichtiger Grund für die Abberufung vorliegen sollte. Allerdings sind auch mitgliedschaftliche Bande nicht unauflösbar, so dass bei Vorliegen eines wichtigen Grundes, der zur Ausschließung des Sonderrechtsinhabers aus der Gesellschaft berechti-

__________ 31 Hiervon zu unterscheiden sind rein schuldrechtlich vermittelte Sonderrechte (z. B. aus Stimmbindungsverträgen); diese genießen bei den hier anstehenden Fragen keinerlei Privileg. 32 Allg. A.; vgl. Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 104; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 61; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 38 Rz. 41; Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 189. 33 BGHZ 86, 177, 179; BGH, WM 1984, 29. 34 Gegen eine Abberufung von Sonderrechtsinhabern aus wichtigem Grund Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S. 100; Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 24; K. Schmidt (Fn. 4), § 46 Rz. 73; für eine Abberufung auch bei Bestehen von mitgliedschaftlichen Sonderrechten dagegen Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 10; Zöllner/ Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 8; Stein (Fn. 19), § 38 Rz. 26; Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 189. 35 In diesem Sinne Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 65; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 38 Rz. 23; Uwe H. Schneider (Fn. 32), § 38 Rz. 41; Stein (Fn. 19), § 38 Rz. 39.

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gen würde, erst recht eine Abberufung als Geschäftsführer möglich sein muss36. Erforderlich dafür ist also eine Art „besonders wichtiger Grund“. Ob sich das mitgliedschaftliche Sonderrecht insbesondere gegen den Stimmrechtsausschluss des sonderberechtigten Gesellschafter-Geschäftsführers durchsetzt, ist von eher theoretischem Interesse. Prinzipiell dürfte das Verbot des Richtens in eigener Sache auch dann keine Ausnahme zulassen, wenn es durch Schaffung statutarischer Sonderrechte reaktiviert würde. Die Lösung hängt entscheidend von der Frage ab, ob die Satzung vom Stimmverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG abweichen kann37. Ist dies der Fall, so führt die satzungsmäßige Installierung von Sonderrechten auf Geschäftsführung zwangsläufig zur Aufhebung des Stimmverbots. Hält man dagegen § 47 Abs. 4 GmbHG zutreffenderweise für satzungsresistent38, so kann der Stimmrechtsausschluss des Gesellschafter-Geschäftsführers bei seiner Abberufung aus wichtigem Grund durch Sonderrechte nicht beeinträchtigt werden.

IV. Rechtsfolgen- und Verfahrensprobleme 1. Beschlüsse ohne förmliche Feststellung Auf der Rechtsfolgenseite sind die Konsequenzen von Fehlern bei der Abberufung von Geschäftsführern aus wichtigem Grund noch weitgehend ungeklärt. Einzig konsensfähig ist die Folge eines Verstoßes gegen den Stimmrechtsausschluss des Gesellschafter-Geschäftsführers. Danach ist dessen Stimmabgabe nichtig mit der Folge, dass diese Stimmen bei der Ergebnisermittlung nicht mitgezählt werden dürfen39. Werden sie gleichwohl mitgezählt, so ist der Abberufungsbeschluss verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Angenommen wird hierbei eine Nichtigkeit des Beschlusses, sofern die fehlerhaft abgegebenen Stimmen hierfür rechnerisch ursächlich sind40. Fehlt es in den vorbeschriebenen Fällen an einer verbindlichen Ergebnisfeststellung, so muss die Nichtigkeit allerdings per Feststellungsklage geltend gemacht werden, um Rechtssicherheit zu erreichen. Die Klage ist dabei auf die Feststellung der Nichtigkeit des angegriffenen Abberufungsbeschlusses zu richten. Selbstverständlich kann der Betroffene unter den Voraussetzungen des § 256 ZPO auch die Feststellung wirksamer (ablehnender) Beschlussfassung verlangen. Dies alles ist im Grundsatz unstreitig.

__________ 36 Für einen „einfachen“ wichtigen Grund dagegen Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 8; ähnl. wie hier Kleindiek (Fn. 35), § 38 Rz. 23. 37 So noch RGZ 89, 367, 383, 122, 159, 162; OLG Stuttgart, BB 2001, 794, 796; Immenga/ Werner, GmbHR 1976, 53, 55; Bacher, GmbHR 2001, 133, 135. 38 So die h. M.; vgl. OLG Hamm, GmbHR 1993, 815; K. Schmidt (Fn. 4), § 47 Rz. 173; Koppensteiner (Fn. 4), § 47 Rz. 83; Hüffer (Fn. 3), § 47 Rz. 191; Zöllner (Fn. 2), § 47 Rz. 106. 39 So BGHZ 102, 172, 176; BGH, NW 1991, 846; OLG Hamburg, GmbHR 1992, 43, 47; Paefgen (Fn. 5), § 38 Rz. 85. 40 Zu dieser mathematischen Kausalität OLG Brandenburg, GmbHR 1996, 538; OLG Koblenz, NZG 2008, 280 (LS Nr. 1); a. A.: OLG Frankfurt, NZG 1999, 767, 768: Anfechtbarkeit.

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Ähnliches gilt prinzipiell für solche Nein-Stimmen zum Abberufungsantrag, die aufgrund der gesellschafterlichen Treuepflicht nicht hätten abgegeben werden dürfen. Allerdings dürfen diese Stimmen richtigerweise nicht einfach negiert werden; sie sind vielmehr als Ja-Stimmen zu fingieren41. Ansonsten wäre eine Beschlussfeststellungsklage als Verfahrenspendant zum materiellrechtlichen Anspruch auf Zustimmung zum Abberufungsantrag nicht zulässig, weil sie nur auf Stimmenthaltungen gerichtet wäre. Anders als bei Verstößen gegen den Stimmrechtsausschluss des betroffenen Gesellschafter-Geschäftsführers nimmt die h. M.42 bei Treuepflichtverstößen allerdings keine Beschlussnichtigkeit, sondern – wenig überzeugend43 – lediglich eine Anfechtbarkeit wegen Gesetzesverletzung (§ 243 Abs. 1 AktG analog) an. Daneben bleibt eine Klage gegen die Mitgesellschafter auf Stimmabgabe mit einem bestimmten inhaltlichen zulässig44. Im Hinblick auf die nach § 38 Abs. 2 GmbHG (vermeintlich) unzulässigen Beschlussquoren in der Satzung setzt die h. M. ihre Sanktion nicht erst bei der rechtlichen Bewertung der Stimmabgabe an. Vielmehr wird bereits die der Abberufung aus wichtigem Grund entgegenstehende Satzungsklausel schlichtweg mit der Folge negiert, dass sich die rechtliche Ergebnisermittlung an einer (fiktiven) einfachen Stimmenmehrheit orientiert. Mit anderen Worten: Die einfache Stimmenmehrheit wird für einen Abberufungsantrag als ausreichend betrachtet, wenn sie denn erreicht wird oder aus Gründen der Loyalitätspflichten erreicht werden müsste. Gegenteilige Feststellungen des Versammlungsleiters sind aus der Praxis zwar nicht bekannt; sie dürften die h. M. jedoch konstruktiv vor große Probleme stellen, weil der Versammlungsleiter nicht die (Un-)Gültigkeit abgegebener Stimmen, sondern die (Un-)Wirksamkeit einer Satzungsklausel feststellen müsste. Fraglich ist, wer für hieraus resultierende Klagen gegen nicht förmlich festgestellte Beschlüsse passivlegitimiert ist. Erstaunlicherweise ist die Praxis in dieser Frage wenig sensibel. So hat der BGH45 ohne jedwede Begründung einer Feststellungsklage gegen die GmbH stattgegeben. Das OLG Hamburg bejaht eine Passivlegitimation der Gesellschaft für derartige Beschlussfeststellungsklagen gar entsprechend § 246 Abs. 2 Satz 1 AktG, obwohl im entschiedenen Fall keinerlei Beschlussfeststellung vorlag46. Richtigerweise wird man für die reine Beurteilung von Satzungskollisionen mit § 38 Abs. 2 GmbHG die Nichtigkeitsklage entsprechend § 249 AktG präferieren müssen; diese ist ausschließlich gegen die Gesellschaft zu richten. Die für nicht festgestellte Beschlüsse daneben zulässige Feststellungsklage gegen einzelne oder alle Mitgesellschafter erscheint dagegen nicht sehr sinnvoll, da es nicht um die Wirksamkeit einzelner Stimmabgaben – sondern um

__________ 41 A. A. die h. M.; vgl. OLG Hamburg, GmbHR 1992, 43, 45; K. Schmidt (Fn. 4), § 47 Rz. 32; Koppensteiner (Fn. 4), § 47 Rz. 125. 42 Vgl. M. Winter(Fn. 12), S. 296 f.; K. Schmidt (Fn. 4), § 45 Rz. 76, 107; Zöllner (Fn. 2), Anh. § 47 Rz. 98; Koppensteiner (Fn. 4), § 47 Rz. 125. 43 So auch OLG Hamburg, GmbHR 1992, 43, 47. 44 Vgl. BGH, WM 1986, 1348, 1349; OLG Köln, NZG 2011, 307 ff. 45 Vgl. BGH, WM 1984, 29. 46 Vgl. OLG Hamburg, GmbHR 1992, 43, 44 f.

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die Satzungsresistenz der Möglichkeit zur Abberufung von Geschäftsführern aus wichtigem Grund – geht. Noch nicht gänzlich geklärt ist, wie mit den fehlerhaft zustande gekommenen Beschlüssen während der Schwebezeit bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung umzugehen ist. Soweit die überwiegende Auffassung nur eine Anfechtungsklage derselben zwecks Beseitigung zulässt, ist das Ergebnis eindeutig: Der Beschlussinhalt hat zunächst Bestand, und es stellt sich allenfalls die Frage nach einer (Anfechtungs)Frist zum endgültigen Ausschluss irgendwelcher Klagen. Soweit – wie beim Verstoß gegen Stimmrechtsverbote des betroffenen Gesellschafter-Geschäftsführers – keine vorläufige Gültigkeit oder Ungültigkeit angenommen wird, ist die Behandlung des Beschlussergebnisses in praxi schwierig. Erst mit Abschluss des gerichtlichen Verfahrens weiß man nämlich rückwirkend um die materiell-rechtliche (Un-)Wirksamkeit des gefassten Abberufungsbeschlusses. Die aus dieser Unsicherheit resultierende Empfehlung, bis einer zur gerichtlichen Klärung als eine Art Zweifelsregelung vom Fehlen eines Stimmverbots auszugehen47, lässt sich zwar dogmatisch nicht begründen und schon gar auf die Vertretungsbefugnis im Außenverhältnis übertragen, ist aber gleichwohl sinnvoll. Schließlich deckt sich diese vorläufige Einschätzung mit der Registerlage, die aufgrund nicht festgestellter Abberufungsbeschlüsse keine Abmeldung des (vermeintlich) abberufenen Geschäftsführers im Handelsregister zulässt. 2. Förmlich festgestellte Beschlüsse a) Meinungsstand Anders stellt sich Rechtlage dar, wenn der Abberufungsbeschluss vom Versammlungsleiter oder – in der Praxis eher selten – von allen Gesellschaftern übereinstimmend förmlich festgestellt wird, sei es mit positivem Inhalt (Abberufung) oder mit negativem Inhalt (Ablehnung der Abberufung). In beiden Konstellationen nimmt die h. M. bis zu einer gegenläufigen rechtskräftigen Entscheidung eine vorläufige Gültigkeit des festgestellten Beschlussinhalts an48. Eine dieses Ergebnis tragende analoge Anwendung des § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG wird dabei allerdings überwiegend abgelehnt49. Konsequenterweise wird zur Überwindung „vorläufig rechtskräftiger Versammlungsleiterentscheidungen“ einstweiliger Rechtsschutz zugelassen50.

__________ 47 So Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 47 Rz. 25; in gleichem Sinne BGHZ 102, 172, 176 f. 48 Vgl. BGHZ 104, 66, 69; Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 39; Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 23; a. A. Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 185 f., die §§ 117, 127 HGB entsprechend anwendet. 49 So von BGHZ 86, 177, 181 f. (für die zweigliedrige GmbH); Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 23; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 50; Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 44; a. A. OLG Braunschweig, GmbHR 1977, 61; Kleindiek (Fn. 35), § 38 Rz. 30; Uwe H. Schneider, ZGR 1983, 535, 542 f. 50 Vgl. BGHZ 86, 177, 183; OLG Hamburg, NJW 1992, 186 f.

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Ungeachtet einer analogen Anwendung des § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG geht es mit Blick auf den Schwebezustand nachfolgend im wesentlichen um die Lösung folgender Fragen: Erstens: Besitzt das Amt des Versammlungsleiters eine hinreichende Legitimation, um rechtliche (und nicht nur rechnerische) Beschlussergebnisse mit vorläufiger Gültigkeit auszustatten (dazu unter b)? Zweitens: Hängt die Feststellungskompetenz des Versammlungsleiters davon ab, ob der abberufene Geschäftsführer mehrheitlicher, minderheitlicher oder überhaupt kein Gesellschafter ist (dazu unter c)? Schließlich verdienen auch die beiden Ausnahmekonstellationen – nämlich Abberufung durch einen Aufsichtsrat (dazu unter d) und Abberufung von sonderberechtigten Gesellschaftern (dazu unter e) – eine kurze Betrachtung. b) Legitimation vorläufiger Beschlussgültigkeit durch den Versammlungsleiter Anders als im Aktienrecht wird das Amt des Versammlungsleiters im GmbHG nicht einmal ansatzweise erwähnt. Gleichwohl ist diese Rechtsfigur der GmbHGesellschafterversammlung in der Praxis nicht fremd. Sie wird allerdings eher mit der Abwicklung der Versammlung und der Erstellung des Protokolls als mit der Befugnis in Zusammenhang gebracht, streitverdächtige Beschlussinhalte vorläufig verbindlich festzustellen. Da dem Versammlungsleiter in der aktienrechtlichen Hauptversammlung eine solche Befugnis unzweifelhaft zufällt, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einer vergleichbaren Legitimation in der GmbH. Während der aktienrechtliche Versammlungsleiter in Gestalt des Aufsichtsratesvorsitzenden regelmäßig qua Satzung definiert ist, gibt es derart „geborene“ Versammlungsleiter in der GmbH praktisch nicht. Sieht der Gesellschaftsvertrag überhaupt einen Versammlungsleiter vor, so ist dies in praxi regelmäßig der Gesellschaftervertreter der Mehrheit, der – ohne Bindung an eine bestimmte Person – zu Beginn der Versammlung spontan gewählt wird. Dasselbe gilt aufgrund eigener Organisationshoheit der Gesellschafterversammlung, wenn die Satzung einen Versammlungsleiter gar nicht erst erwähnt. In beiden Fällen steht daher die Versammlungsleitung der Stimmenmehrheit in aller Regel sehr nahe. Hierin liegt im Vergleich zur Aktiengesellschaft ein empirisches Neutralitätsdefizit, das aufgrund einer regelmäßig engen Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzendem bei Organbestellungsfragen in der Aktiengesellschaft allerdings nicht überbewertet werden darf. Intellektuelle Unterschiede zwischen dem Versammlungsleiter der aktienrechtlichen Hauptversammlung einerseits und der GmbH-Gesellschafterversammlung andererseits sind strukturell nicht auszumachen. Insofern ist die Frage, ob der Leiter einer GmbH-Gesellschafterversammlung mit der Entscheidung über das (Nicht-)Vorliegen eines wichtigen Grundes bei der Abberufung eines Geschäftsführers überfordert ist51, nur scheinbar richtig gestellt. Zutreffend hier-

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51 So z. B. – bejahend – Grunewald in FS Zöllner I, 1998, S. 183; ähnl. auch Roth/ Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 51.

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an ist die Unterstellung, dass das (Nicht-)Vorliegen eines wichtigen Grundes fast immer die entscheidende Vorfrage für die Annahme eines Stimmrechtsausschlusses oder einer Zustimmungspflicht ist. Unzutreffend ist es hingegen, diese Vorfragen-Entscheidungskompetenz auf die GmbH zu fokussieren. Zugegebenermaßen kann man die rechtliche Beurteilung von Stimmrechtsverboten und anderen abstimmungsrelevanten Sachverhalten – insbesondere qua Vorliegen eines wichtigen Grundes – durch den Versammlungsleiter pauschal in Frage stellen. Da dies in der Aktiengesellschaft jedoch nicht geschieht, ist auch kein Grund ersichtlich, dem Leiter einer GmbH-Gesellschafterversammlung eine mindere Kompetenz bei der Beurteilung juristisch relevanter Sachverhalte zu unterstellen. Im Ergebnis besteht daher kein Anlass, von der vorläufigen Geltung desjenigen Beschlussinhaltes abzurücken, den der Versammlungsleiter förmlich festgestellt hat. Dies gilt zum einen grundsätzlich für den Beschluss zur Abberufung eines Geschäftsführers, indem der Versammlungsleiter entweder dessen Stimmen oder die treuwidrig gegen die Abberufung abgegebenen Stimmen anderer Gesellschafter nicht mitgezählt hat. Dasselbe gilt aber auch für den umgekehrten Fall, nämlich die Ablehnung des Abberufungsantrags durch die Gesellschafterversammlung. In beiden Konstellationen muss der betroffene Geschäftsführer oder ein anderer Gesellschafter die Beschlussanfechtung (ggf. in Kombination mit positiver Beschlussfeststellung) betreiben, um den vorläufig festgestellten Beschlussinhalt noch zu ändern. Nur der reine Fremdgeschäftsführer wird durch die vorläufig falsche Beschlussfeststellung des Versammlungsleiters endgültig benachteiligt, da ihm mangels mitgliedschaftlicher Bindungen jedwede Anfechtungsbefugnis fehlt. c) Einfluss der Stimmenmehrheit auf vorläufige Beschlussgültigkeit Wie bereits unter b) skizziert, ist der Versammlungsleiter in der Gesellschafterversammlung der GmbH regelmäßig dem mehrheitlichen Lager zuzuordnen. Dies führt in der Praxis regelmäßig dazu, dass sich mehrheitliche Anschauungen sowohl über das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Geschäftsführer-Abberufung als auch für die daraus zu ziehenden rechtlichen Schlussfolgerungen (Stimmverbot des Betroffenen, positive Stimmpflicht der übrigen Gesellschafter und ggf. Negierung entgegenstehender Beschlussquoren in der Satzung) in Gestalt entsprechender Beschlussfeststellungen durchsetzen. Hieraus folgt zwar keine erhöhte Richtigkeitsgewähr für den festgestellten Beschlussinhalt, wohl aber die Gewähr für eine gewisse Konformität mit der Rechtsansicht der Gesellschaftermehrheit. Umso verwunderlicher erscheint es, dass die vorläufige Geltungskraft des vom Versammlungsleiter festgestellten Beschlussinhaltes nach überwiegender Ansicht nicht – oder jedenfalls nicht ohne weiteres – gelten soll, wenn die Feststellung inhaltlich zu Lasten eines Mehrheitsgesellschafters oder zu Lasten

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eines Gesellschafters der zweigliedrigen GmbH ausfällt52. Hinter dieser Einschränkung der Feststellungsbefugnis des Versammlungsleiters verbirgt sich offenbar die Furcht, dass aufgrund bloßer Behauptung eines wichtigen Grundes vorläufige Abberufungsentscheidungen getroffen werden könnten, die den Betroffenen wegen der anschließenden Prozessdauer nachhaltig von der Geschäftsführung ausschließen. Die Furcht ist begründet; allerdings dürfte sich die Abwehrmaßnahme in praxi als untauglich erweisen. Insbesondere die Begriffsdualität wirklicher/behaupteter wichtiger Grund im Zusammenhang mit dem Stimmrechtsverbot beim Betroffenen hilft im Hinblick auf die vorläufige Wirksamkeit der Beschlussfeststellung nicht weiter. Kein Versammlungsleiter wird nämlich einräumen, dass er zwar nicht an das Vorliegen eines wichtigen Grundes glaube (oder einen diesbezüglichen Sachverhalt juristisch anders subsumiere), die Stimmen des abzuberufenden Geschäftsführers aber gleichwohl nicht mitgezählt habe und somit zu einer Abberufungsentscheidung gelangt sei. Umgekehrt gilt nichts anderes. Man mag daher für die vorläufige Gültigkeit des festgestellten Beschlussinhalts eine schlüssige Begründung des Versammlungsleiters verlangen, um völlig abwegige Gedankengänge auszuklammern. Eine regelmäßige Privilegierung von mehrheitlich oder zweigliedrig beteiligten Geschäftsführern ist damit allerdings nicht begründbar. Im übrigen wäre der Preis in Gestalt der Aufgabe von Rechtssicherheit (endgültige Beschlusswirksamkeit bei ausbleibender Anfechtung!) zu hoch. Schließlich kann sich der (vermeintlich) zu Unrecht abberufene Mehrheitsgesellschafter mit seinen eigenen Stimmen kurzfristig wiederbestellen lassen und somit einen für ihn positiven vorläufigen Status herstellen. Vor allem in den beschriebenen Konstellationen liegen regelmäßig gewichtige Gründe vor, wenn sich der – von der Mehrheit gewählte oder wenigsten von dieser getragene – Versammlungsleiter dazu entschließt, mehrheitlich abgegebene Stimmen gegen die Abberufung bei der Ermittlung des rechtlichen Beschlussergebnisses nicht mitzuzählen. Liegt ein solcher Fall vor, so besteht kein Anlass, die vorläufige Gültigkeit des vom Versammlungsleiter festgestellten Beschlusses zu Gunsten einer Gesellschaftermehrheit in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Versammlungsleiter, die minderheitliche Rechtspositionen in entsprechende Beschlussfeststellungen umwandeln, verdienen mit ihren Entscheidungen erhöhten Bestandsschutz. Insofern ist auch die von Altmeppen53 entwickelte Differenzierung während der Schwebezeit bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung zwischen Beschlussfassungen „mit und ohne rechnerische Mehrheit“ abzulehnen. d) Geschäftsführer-Bestellung durch den Aufsichtsrat Erfolgt die Abberufung aus wichtigem Grund durch einen mitbestimmten Aufsichtsrat, so ist die rechtliche Behandlung des Beschlusses eindeutig. Nach

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52 Vgl. BGHZ 86, 177, 181 f. (für die zweigliedrige GmbH); Wicke, GmbHG, 2008, § 38 Rz. 11; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 53; Uwe H. Schneider (Fn. 32), § 38 Rz. 67; Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 26. 53 Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 52 ff.

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§ 84 Abs. 3 Satz 4 AktG, der über § 31 Abs. 1 MitbestG Anwendung findet, ist der Beschluss als wirksam zu behandeln, bis seine Unwirksamkeit rechtskräftig festgestellt wird. Da § 84 AktG in die Verweisungen des § 52 Abs. 1 GmbHG nicht einbezogen ist, kommt es hinsichtlich der vorläufigen Wirksamkeit der Abberufungsentscheidung im fakultativen Aufsichtsrat vorrangig auf die Satzungsregelung an. Schweigt der Gesellschaftsvertrag zu dieser Frage, wird man richtigerweise § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG gleichwohl (dann allerdings analog) anwenden müssen. Billigt man nämlich dem Leiter der Gesellschafterversammlung ein vorläufiges Letztentscheidungsrecht hinsichtlich des festgestellten Beschlussinhalts zu, so muss dies im Hinblick auf die Neutralität des Beschlussgremiums (einschl. dessen Vorsitzenden) und die Rechtssicherheit für den Abberufungsbeschluss des fakultativen GmbH-Aufsichtsrats in gleicher Weise gelten. Auch die Parallele zur Wirkung der Feststellung aktienrechtlicher Hauptversammlungsbeschlüsse ist evident. Konsequenterweise muss dann auch die Möglichkeit einstweiligen Rechtsschutzes entfallen54. e) Sonderrechte des Geschäftsführers Fraglich ist, ob die vorläufige Gültigkeit des förmlich festgestellten Beschlussinhalts in Gestalt der Abberufung auch zu Lasten eines GesellschafterGeschäftsführers wirken kann, der ein mitgliedschaftliches Sonderrecht auf Geschäftsführung besitzt. Trotz erhöhter materieller Anforderungen an den Abberufungsgrund (vgl. oben II. 2.) kann es auch hier zu einer entsprechenden Beschlussfeststellung durch den Versammlungsleiter kommen. Anders als beim gewöhnlichen Geschäftsführer muss eine solche Feststellung jedoch zunächst folgenlos bleiben. Eine Abberufung kann folglich nur durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung erfolgen. Ob man diese dogmatisch auf eine Analogie zu §§ 117, 127 HGB stützt55 oder einfach nur die Feststellungskompetenz des Versammlungsleiters dem Sonderrecht unterordnet56, ist dabei nebensächlich. Im Ergebnis setzt sich das mitgliedschaftliche Sonderrecht somit gegen alle Interimsentscheidungen durch.

__________ 54 So auch zutr. Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 22. 55 So Uwe H. Schneider (Fn. 32), § 38 Rz. 66; dagegen z. B. Koppensteiner (Fn. 4), § 38 Rz. 24. 56 So offenbar Zöllner/Noack (Fn. 10), § 38 Rz. 63; Roth/Altmeppen (Fn. 4), § 38 Rz. 61 f.; Paefgen (Fn. 5), 38 Rz. 104; Kleindiek (Fn. 35), § 38 Rz. 34.

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Der (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen nach MoMiG Inhaltsübersicht I. Einführung II. (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen nach altem Recht 1. Gesetzlich determinierte Stückelung 2. Eingeschränkte Teilbarkeit a) Zustimmung der Gesellschaft gemäß § 17 GmbHG a. F. b) Teilungsbeschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG a. F. 3. Ungeregelte Zusammenlegung von Geschäftsanteilen III. Zu der durch das MoMiG modifizierten neuen Rechtslage 1. Freie Stückelung 2. Dispositionsfreiheit der Gesellschafterversammlung im Rahmen der Teilung 3. Beschlusserfordernis für die Anteilszusammenlegung

IV. Streitfragen nach neuem Recht 1. Mitwirkung des Betroffenen a) Gesetzeswortlaut b) Gesetzeshistorie c) Gesetzessystematik d) Ergebniskontrolle e) Zwischenergebnis 2. Außenwirkung des Teilungsbeschlusses a) Gesetzesbegründung b) Gesetzessystematik c) Sonstige Erwägungen d) Zwischenergebnis 3. Inhaltliche Anforderungen an den Teilungsbeschluss a) Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes b) Inhaltliche Mindestanforderungen c) Zwischenergebnis V. Fazit

I. Einführung Es schmerzt, Martin Winter durch die Mitwirkung an einer Gedächtnisschrift zu ehren; er ist viel zu früh von uns gegangen und alle, die ihn kannten, vermissen seinen treffsicheren, auf fundierter juristischer Analyse beruhenden Rat. Martin Winter, von ganzem Herzen und mit Herzblut Jurist und Anwalt, begeisterte sich gleichermaßen für komplexe und juristisch anspruchsvolle Probleme der Praxis, für das Ringen um das Recht, also die Suche nach der rechten Lösung hochumstrittener Grundsatzfragen des Gesellschaftsrechts und für die Fortbildung des Handels- und Gesellschaftsrechts. Diese Passion prägte seine Tätigkeit als engagierter Wirtschaftsanwalt, als renommierter Wissenschaftler und als Mitglied des Handelsrechtsausschusses des DAV. Ich hoffe, dieser Leidenschaft mit einem Thema, welches alle drei Facetten seines juristischen Wirkens anspricht, gerecht werden zu können. Martin Winter hat sich schon früh und vertieft den Voraussetzungen einer Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen sowie den in diesem Zusammenhang auf403

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geworfenen Rechtsfragen gewidmet1. Zu diesen Rechtsfragen zählt auch der (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Anteilen. Eben jene Stückelung von GmbHGeschäftsanteilen wurde durch das MoMiG, die letzte Gesetzesnovelle, in die sich Martin Winter als Mitglied des Handelsrechtsausschusses des DAV eingebracht hat2, neu geregelt – kurz gesagt: Das Zustimmungserfordernis des § 17 GmbHG a. F. wurde abgeschafft, die Notwendigkeit eines Teilungsbeschlusses der Gesellschafterversammlung gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG beibehalten und auf die Anteilszusammenlegung erstreckt; die übrigen Restriktionen wurden weitgehend beseitigt. Zudem bietet der letzte Fall, den wir gemeinsam bearbeitet haben, Gelegenheit sich mit den im Zusammenhang mit dem Anteilszuschnitt im Lichte des MoMiG aufgeworfenen Rechtsfragen vertieft zu befassen. Dies auch deshalb, weil das mit dem Streitfall befasste Gericht I. Instanz eine dieser Fragen, nämlich die Frage nach der Außenwirkung des Teilungsbeschlusses gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG nach neuem Recht als streitentscheidend ansah3.

II. (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen nach altem Recht Die Regelungen des GmbHG, die vor dem am 1.11.2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) galten, waren im Hinblick auf den (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen außerordentlich restriktiv. Die gesetzliche Regelung war von dem Anliegen beseelt, die Verkehrsfähigkeit von GmbH-Anteilen zu beschränken4. 1. Gesetzlich determinierte Stückelung Nach damals geltendem Recht konnte im Rahmen der GmbH-Gründung und auch im Zuge einer Kapitalerhöhung einer GmbH jeweils nur eine Stammeinlage übernommen werden; dem Inferenten war mithin die Übernahme von mehreren Geschäftsanteilen nicht möglich, sondern er erhielt einen einzigen Anteil in dem Nennbetrag der von ihm übernommenen Stammeinlage. Diese Stammeinlage war zwar nach oben der Höhe nach unbegrenzt. Allerdings betrug der Mindestnennbetrag eines Anteils 50 Euro; zudem musste der Nennbetrag des Anteils stets durch 50 teilbar sein (vgl. § 5 Abs. 1 und 3 GmbHG a. F.).

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1 Vgl. die Kommentierung M. Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, §§ 15 bis 17 sowie Reichert/Winter in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 209 ff. 2 Vgl. die Stellungnahmen Nr. 06/07 und 43/07 des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zum Referenten- und zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) aus dem Feb. und vom 5. Sept. 2007, abrufbar unter www. anwaltverein.de. 3 Vgl. LG Mannheim, Urt. v. 1.3.2010 – 24 O 110/09 (nicht veröffentlicht und nicht rechtskräftig); s. zu weiteren, aus dem MoMiG resultierenden Rechtsfragen, die der genannte Fall aufwirft: Liebscher/C. Goette, DStR 2010, 2038 ff. 4 RG, Urt. v. 12.5.1914 – II 51/14, RGZ 85, 48; BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, BGHZ 14, 31, 32; Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 17 Rz. 1; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 10.

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2. Eingeschränkte Teilbarkeit Auch in Teilungsfragen war das alte Recht außerordentlich restriktiv. Es war von dem Ziel durchdrungen, eine Vervielfältigung der Geschäftsanteile zu erschweren5. a) Zustimmung der Gesellschaft gemäß § 17 GmbHG a. F. Dem entsprach, dass die Anteilsteilung gemäß § 17 Abs. 1 GmbHG a. F. der Zustimmung der Gesellschaft bedurfte, vertreten durch ihren Geschäftsführer. Dieses Zustimmungserfordernis war Voraussetzung für die dinglichen Wirksamkeit der Anteilsteilung, so dass die fehlende Zustimmung ins Außenverhältnis durchschlug. Verstöße gegen § 17 GmbHG a. F. hatten die Unwirksamkeit der Teilung zur Folge6. Die Zustimmung konnte zudem nur für einen konkreten Veräußerungsfall erteilt werden (vgl. § 17 Abs. 6 GmbHG a. F.). Daher war nach früherem Recht allgemein anerkannt, dass eine Teilung ohne konkreten Teilungsanlass unzulässig war (Verbot der Vorratsteilung). Es gab mithin keine Teilung eines Geschäftsanteils ohne Abtretung, sondern nur eine Zustimmung zu einem konkreten Teilungsvorgang, der durch eine vom Betroffenen intendierte Anteilsübertragung veranlasst wurde7. Nach altem Recht erfolgte mithin die Teilung von Geschäftsanteilen stets zwingend anlassbezogen. Die Teilung selbst wurde von dem übertragungswilligen Gesellschafter anlässlich einer Veräußerung oder Vererbung vorgenommen. Aus diesem Grunde wurde die Teilung nach altem Recht vielfach als quasi unselbständiger Bestandteil dieser Verfügung über den Anteil unter Lebenden bzw. von Todes wegen angesehen8. Nach diesem Verständnis bezog sich die Teilungserklärung des Geschäftsführers nach § 17 Abs. 1 GmbHG a. F. auf diese Teilungserklärung des veräußerungswilligen Gesellschafters9.

__________ 5 BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, BGHZ 14, 25, 34; OLG Hamm, Urt. v. 5.2.1976 – 15 W 289/75, DB 1976, 907, 908; OLG Frankfurt, Urt. v. 7.6.1977 – 20 W 353/77, DB 1977, 2180; Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 1; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 17 Rz. 1. 6 RG, Urt. v. 17.6.1922 – III 453/21, RGZ 105, 153; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., § 17 Rz. 7; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 8; Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 17 Rz. 31; Jasper in MünchHdb. GesR, Band 3 (GmbH), 3. Aufl., § 23 Rz. 29; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 17 Rz. 9; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl., § 17 Rz. 17; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 17 Rz. 16, 42; Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 16. 7 Allgem. Meinung: OLG Frankfurt, Urt. v. 7.6.1977 – 20 W 353/77, OLGZ 1978, 33 = DB 1977, 2180; Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 17 Rz. 9; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 17 Rz. 9; Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, 4. Aufl., § 17 Rz. 16; H. Winter in Scholz, GmbHG, 9. Aufl., § 17 Rz. 6; Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 23; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 17 Rz. 7. 8 Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 4. 9 Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 4.

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Angesichts dieses Konzepts des alten Rechts (anlassbezogene Genehmigung einer Teilung aufgrund eines ganz konkreten Veräußerungsvorgangs) musste die Teilungsgenehmigung des GmbH-Geschäftsführers selbst inhaltlich ganz konkret bestimmt sein, wobei zudem erforderlich war, dass die Genehmigung schriftlich erfolgt (vgl. § 17 Abs. 2 GmbHG a. F.). Diese schriftliche Genehmigung musste mithin sowohl die Person des Erwerbers als auch den Betrag bezeichnen, welcher von der Stammeinlage des ungeteilten Geschäftsanteils auf jeden durch die Teilung entstehenden Geschäftsanteil entfällt10. Weiterer Ausfluss der restriktiven Grundhaltung des früheren Rechts war § 17 Abs. 3 GmbHG a. F., wonach nur eng umrissene Ausnahmefälle (Veräußerungen im Gesellschafterkreis und unter Erben) durch ausdrückliche Satzungsregelung vom Erfordernis einer Teilungsermächtigung frei gestellt werden konnten. Im Übrigen war das Teilungserfordernis zwingend, so dass § 17 GmbHG a. F. nach altem Recht nicht abdingbar war11. b) Teilungsbeschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG a. F. Die nach altem Recht zur Zustimmungserteilung zuständige Geschäftsführung ihrerseits musste vor Erteilung der Teilungsgenehmigung einen zustimmenden Gesellschafterbeschluss einholen (vgl. § 46 Nr. 4 GmbHG a. F.). Gegenstand des Beschlusses nach § 46 Nr. 4 GmbHG war die vom Geschäftsführer erklärte Genehmigung der Gesellschaft nach § 17 Abs. 1 GmbHG a. F., die sich ihrerseits auf einen konkreten Veräußerungsvorgang bezog, so dass es nach altem Recht nicht nur keine Vorratsgenehmigungen, sondern auch keine Vorratsbeschlüsse gab12. Die Abgabe der Teilungserklärung nach § 17 Abs. 1 GmbHG a. F. durch den GmbH-Geschäftsführer setzte mithin nach § 46 Nr. 4 GmbHG a. F. einen zustimmenden Gesellschafterbeschluss voraus, wobei strittig war, ob dieses Beschlusserfordernis per se ins Außenverhältnis durchschlägt oder es sich grundsätzlich um ein Gesellschaftsinternum handelt. Dieser Meinungsstreit nach altem Recht wirkte sich jedoch im Ergebnis regelmäßig nicht aus. Denn auch

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10 BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, BGHZ 14, 25, 32 oben; Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 17 Rz. 21 f.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 17 Rz. 11; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 13; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 17 Rz. 26; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 17 Rz. 23. 11 Allgemeine Meinung nach altem Recht: OLG Koblenz, Urt. v. 16.1.1992 – 6 U 963/91, GmbHR 1992, 464, 466 = NJW 1992, 2163, 2165; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., § 17 Rz. 28; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 17 Rz. 13; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 17; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl., § 17 Rz. 38; H. Winter in Scholz, GmbHG, 9. Aufl., § 17 Rz. 18, 29 a. E.; Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 23; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 17 Rz. 21. 12 Allgem. Meinung: Hüffer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 46 Rz. 38; ders. in Großkomm. GmbHG, § 46 Rz. 35; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 46 Rz. 9; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 17 Rz. 20; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 46 Rz. 31.

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diejenigen, die dem Beschlusserfordernis nur Bedeutung im Innenverhältnis zuerkannten, kamen über die Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht regelmäßig zum gleichen Ergebnis, nämlich dass die fehlende Zustimmung der Gesellschafterversammlung einer wirksamen Anteilsteilung entgegensteht13. Denn das Zustimmungserfordernis ist gesetzlich verankert und allgemein anerkannt. Eine Abbedingung des Zustimmungserfordernisses hätte in der Satzung oder als satzungsdurchbrechender Beschluss im Handelsregister verlautbart sein müssen. Daher konnten sich weder der Gesellschafter, der die internen Verhältnisse der Gesellschaft ohnehin intim kennt, noch der Dritterwerber, der sich üblicherweise mit den Gesellschaftsverhältnissen schon im wohlverstandenen eigenen Interesse intensiv befasst, überzeugend darauf herausreden, dass sie insoweit guten Glaubens und daher schutzwürdig seien. 3. Ungeregelte Zusammenlegung von Geschäftsanteilen Die Möglichkeit zur Zusammenlegung von GmbH-Geschäftsanteilen, die bis zum Inkrafttreten des MoMiG nicht gesetzlich geregelt war, ist seit langem anerkannt; nach altem Recht war lediglich strittig, ob die Möglichkeit der Zusammenlegung einer ausdrücklichen statutarischen Grundlage bedarf14. Nach herrschender Meinung bedurfte die Anteilszusammenlegung zudem der Zustimmung des betroffenen Gesellschafters und es war nach bisheriger Rechtslage anerkannt, dass die Zusammenlegung einen Gesellschafterbeschluss erfordert15.

__________ 13 Für Außenwirkung nach altem Recht: Römermann in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 46 Rz. 180; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 46 Rz. 66; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 46 Rz. 31 – für Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht etwa Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., § 17 Rz. 8; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 8; Jasper in MünchHdb. GesR, Band 3 (GmbH), 3. Aufl., § 24 Rz. 29; Winter/Löbbe in Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 28; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 17 Rz. 20. 14 Dies forderten etwa: RG, Urt. v. 17.10.1933 – II 108/33, RGZ 142, 39, 42; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., § 15 Rz. 31; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 15 Rz. 105; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 15 Rz. 140 – diese ausdrücklich ablehnend: KG Berlin, Urt. v. 10.3.2000 – 14 U 21/05, 98, NZG 2000, 787 ff.; Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 15 Rz. 175; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 15 Rz. 18; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. § 15 Rz. 14; Rowedder/Bergmann in Rowedder/SchmittLeithoff, GmbHG, 4. Aufl., § 15 Rz. 110. 15 Ebbing in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 15 Rz. 175; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 15 Rz. 18; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 15 Rz. 132; Rowedder/Bergmann in Rowedder/Schmitt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl., § 15 Rz. 110; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 15 Rz. 105; Zutt in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 15 Rz. 142 – a. A. indes Meyer-Landrut in Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbHG, 1987, 1. Aufl., § 15 Rz. 24, wonach ein Gesellschafterbeschluss ohne Zustimmung des Betroffenen genügen soll, sowie Priester, GmbHR 1976, 130, 132; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 53 Rz. 106, die die einseitige Erklärung des betroffenen Gesellschafters nach altem Recht genügen lassen wollten.

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III. Zu der durch das MoMiG modifizierten neuen Rechtslage Das MoMiG hat mit dieser etablierten Rechtslage gebrochen und den Gesamtkomplex neu geregelt. Im Ergebnis wurde die Anteilsstückelung von Restriktionen freigestellt und die Entscheidung hierüber in die Hände der Gesellschafter gelegt, die Teilungserklärung nach § 17 GmbHG a. F. abgeschafft und in § 46 Nr. 4 GmbHG einheitlich geregelt, dass Teilung und Zusammenlegung von GmbHG-Geschäftsanteilen eines Beschlusses der GmbH-Gesellschafterversammlung bedürfen. Die Erleichterungen im Hinblick auf den Erwerb einer GmbH-Beteiligung, die durch das MoMiG bewirkt wurden, zielen darauf, durch die Stärkung der Fungibilität der Anteile der GmbH, die Attraktivität von deren Anteilen als Grundlage der Besicherung von (Unternehmens-) Finanzierungen zu erhöhen, mehr Rechtssicherheit zu schaffen und vor allem die mit Unternehmenskäufen verbundenen Transaktionskosten und zwar sowohl die Beurkundungskosten, als auch die Kosten einer Due Diligence, zu verringern16. 1. Freie Stückelung Der Grundsatz der einheitlichen Mitgliedschaft, wonach der Gesellschafter grundsätzlich nur einen Geschäftsanteil innehaben sollte, wurde bereits im Referentenentwurf des MoMiG aufgegeben17. GmbH-Geschäftsanteile müssen angesichts der Neuregelungen durch das MoMiG lediglich auf volle Euro lauten und mind. 1 Euro betragen (vgl. § 5 Abs. 2 GmbHG n. F.). Mithin können künftig bei Gründung und Kapitalerhöhung mehrere Geschäftsanteile übernommen und die Nennbeträge dieser neuen GmbH-Geschäftsanteile frei bestimmt werden. Es wurde mithin die Gestaltungsfreiheit der GmbH-Gesellschafter aufgewertet. Umgehungsgestaltungen, die nach altem Recht in der Praxis verbreitet gewählt wurden, um dem praktischen Bedürfnis nach mehreren Geschäftsanteilen in den Händen ein und desselben Gesellschafters Rechnung zu tragen, wurden hierdurch obsolet, was zugleich der Grund dafür ist, dass die Neuregelung im Schrifttum einhellig begrüßt worden ist18. 2. Dispositionsfreiheit der Gesellschafterversammlung im Rahmen der Teilung Während der Referentenentwurf des MoMiG noch § 17 GmbHG a. F. an die geänderte Rechtslage im Zusammenhang mit der Stückelung der GmbH-Anteile anpassen wollte19, wurde im Regierungsentwurf vorgesehen, § 17 GmbHG a. F. ersatzlos zu streichen; der Streichungsvorschlag wurde unverändert in die endgültige Gesetzfassung des MoMiG übernommen. Die Aufhebung ist Reak-

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16 RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 30; Mayer, DNotZ 2008, 403; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 1. 17 BMJ-Referentenentwurf v. 29.5.2006, Ziff. 9. 18 Vgl. statt aller Greitemann/Bergjan in FS P+P Pöllath + Partner, 2008, S. 271, 290; Mayer, DNotZ 2008, 403, 424. 19 BMJ-Referentenentwurf v. 29.5.2006, Ziff. 9.

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tion darauf, dass der Wert der Teilungsbeschränkung in § 17 GmbHG a. F. vor Erlass des MoMiG im Schrifttum – etwa von Martin Winter – kritisch gesehen wurde20. Dementsprechend sind die durch das MoMiG insoweit herbeigeführten Änderungen ebenfalls überwiegend positiv aufgenommen worden21. Demgegenüber wurde an dem Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG unverändert festgehalten, wobei der Gesetzgeber diese Regelung im Rahmen des MoMiG dahingehend ergänzte, dass nunmehr auch die Zusammenlegung von GmbH-Geschäftsanteilen ausdrücklich eines Gesellschafterbeschlusses bedarf (dazu noch sogleich). Die Gesetzesbegründung führt insoweit ausdrücklich aus, dass die Gesetzesnovelle darauf zielt, „die Teilung und Zusammenfassung wesentlich [zu] erleichter[n] und zusammenfassend in § 46 [zu regeln]“22. Der MoMiG-Gesetzgeber hat mithin die Teilungszuständigkeit der GmbH-Gesellschafterversammlung zugleich mit Aufhebung des § 17 GmbHG in den Blick genommen sowie bewusst und gewollt die Gestaltungsfreiheit der GmbH-Gesellschafter aufgewertet; alle Fragen des (Neu-)Zuschnitts von GmbH-Anteilen unterliegen mithin nunmehr dem Primat des Gesellschafterwillens. Auch dies bringt die Regierungsbegründung deutlich zum Ausdruck. Denn hiernach ist „es Sache der Gesellschafter zu entscheiden, ob und was sie an Teilungen und Zusammenlegungen zulassen wollen“. Die Gesellschafter können mithin weitergehende Beschränkungen anordnen als diejenigen, die nach früherem Recht, namentlich § 17 GmbHG a. F. galten, die Gesellschafterkompetenz zur Beschlussfassung über den Anteilszuschnitt im Einzelnen ausgestalten oder ihre Teilungszuständigkeit schlicht beseitigen. Auch dies hebt die Regierungsbegründung hervor, indem betont wird, dass „der Katalog des § 46 dispositiv [ist und] der Gesellschaftsvertrag die Teilung und Zusammenlegung an höhere oder geringere Voraussetzungen knüpfen [kann]“23. Macht die Gesellschafterversammlung von dieser Kompetenz keinen Gebrauch, gilt § 46 Nr. 4 GmbHG n. F.: Der (Neu-) Zuschnitt erfordert einen einfachen (vgl. § 47 Abs. 1 GmbHG), nicht beurkundungspflichtigen, ja nicht einmal schriftlich abzufassenden Gesellschafterbeschluss, der den allgemeinen Regeln unterliegt und zwar sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht. Die Gesetzesnovelle insbesondere die Streichung des § 17 Abs. 6 Satz 1 GmbHG a. F., wonach eine Teilung nur anlässlich einer Veräußerung oder Vererbung eines Geschäftsanteils in Betracht kam, führt dazu, dass nunmehr

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20 Vgl. Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 2, die Wert des § 17 GmbHG a. F. als „für die Praxis zweifelhaft“ ansehen. 21 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 17 ff.; Förl, RNotZ 2008, 409 ff.; Greitemann/Bergjan in FS P+P Pöllath + Partner, 2008, S. 271, 291 ff.; Irringer/ Münstermann, GmbHR 2010, 617 ff.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 80 ff.; Mayer, DNotZ 2008, 403, 422 f.; Müller/Federmann, BB 2009, 1375, 1377; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 46 Rz. 166 ff.; Rubel, NJW-Spezial 2009, 367 f.; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 1 ff.; Tebben, RNotZ 2008, 441, 458; Wachter, DB 2009, 159, 162. 22 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 39 zur Aufhebung des § 17. 23 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45; Mayer, DNotZ 2008, 403, 425; Tebben, RNotZ 2008, 441, 458.

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auch eine Vorratsteilung zulässig ist. Eine Teilung kann nach neuem Recht mithin auch dergestalt erfolgen, dass die aus dem Teilungsvorgang resultierenden neuen Geschäftsanteile unverändert in der Hand des bisherigen Gesellschafters verbleiben. Einzige Voraussetzung für die Anteilsteilung (sowie für die Anteilszusammenlegung) ist mithin ein zustimmender Gesellschafterbeschluss. Die Regierungsbegründung betont insoweit, dass „der Grundsatz der Zustimmung der Gesellschaft sinnvoll [ist]“ und es „der Zustimmung des Gesellschafters, dessen Geschäftsanteile von der Zusammenlegung oder Teilung betroffen sind, [nicht bedarf]“24. 3. Beschlusserfordernis für die Anteilszusammenlegung Zugleich hat das MoMiG die rechtlichen Anforderungen, die an die Teilung und den actus contrarius, die Zusammenlegung von Geschäftsanteilen zu stellen sind, vereinheitlicht. Künftig wird die Zusammenlegung von GmbHAnteilen genauso behandelt, wie deren Teilung, indem die Anteilszusammenlegung dem Beschlusserfordernis gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG unterworfen wird. Die Anteilszusammenlegung soll zudem nach der Regierungsbegründung auch bei Anteilen, die verschiedene Rechte verleihen bzw. die unterschiedlich belastet sind, möglich sein25. Auch die Neuregelung des Komplexes Anteilszusammenlegung ist im Schrifttum überwiegend positiv aufgenommen worden26.

IV. Streitfragen nach neuem Recht Zweifelsfragen des neuen, durch das MoMiG modifizierten Rechts werden gerade im Zusammenhang mit den Anforderungen diskutiert, die an einen (Neu-)Zuschnitt der Anteile zu stellen sind. Die Streitfragen betreffen bei Lichte besehen Anteilsteilung und -zusammenlegung; denn beides soll ja nach neuem Recht den gleichen Voraussetzungen unterliegen. De facto konzentriert sich die Diskussion jedoch auf die praktisch relevantere Teilung. Insoweit rankt die Debatte darum, dass nach bisherigem Recht die Teilung vom Gesellschafter ausging, was allerdings in der gesetzlichen Konzeption des § 17 GmbHG a. F. begründet lag, so dass sich nach Entfallen dieser Vorschrift die Frage stellt, wer Teilender ist, insbesondere ob die Anteilsteilung auch gegen den Willen einzelner Gesellschafter bewirkt werden kann (dazu 1.); darüber hinaus wird erörtert, ob der Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG eine „Bedeutungsaufwertung“27 dadurch erfahren hat, dass das unstreitig nach

__________ 24 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45 li. Sp. 25 RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45 li. Sp. 26 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 20 f.; Greitemann/Bergjan in FS P+P Pöllath + Partner, 2008, S. 271, 292 f.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 87 f.; Mayer, DNotZ 2008, 403, 425; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 46 Rz. 180 a. E.; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 1, 14. 27 So Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 4.

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altem Recht ins Außenverhältnis durchschlagende Genehmigungserfordernis nach § 17 GmbHG a. F. entfallen ist, der MoMiG-Gesetzgeber jedoch an dem Beschlusserfordernis nach § 46 Nr. 4 GmbHG festgehalten hat (dazu 2.). Schließlich wird die Frage nach den inhaltlichen Anforderungen, die nunmehr nach geänderter Rechtslage an die Teilung insbesondere den Teilungsbeschluss zu stellen sind, gestellt (dazu 3.). Die nachstehenden Überlegungen setzen jeweils auf den Stand der Erörterung der genannten Themenkreise im Schrifttum auf, nehmen jedoch dem gesetzgeberischen Ziel des MoMiG entsprechend Teilung und Zusammenlegung als zwei Seiten derselben Medaille in den Blick. 1. Mitwirkung des Betroffenen Dass über die Frage, von wem die Teilung bzw. Anteilszusammenlegung auszugehen hat, diskutiert wird, überrascht auf den ersten Blick, da die Gesetzesmaterialien insoweit – wie dargelegt – eindeutig anordnen, dass es der „Zustimmung des Gesellschafters, dessen Geschäftsanteile von der Zusammenlegung oder Teilung betroffen [sind, nicht] bedarf“28. Der Umstand, dass die Frage gleichwohl umstritten ist, hat zwei Gründe: Zum einen der Umstand, dass nach altem Recht zur Anteilsteilung und Zusammenlegung – wie ebenfalls bereits dargelegt – der Betroffene stets zustimmen musste. Zum anderen ist während des Gesetzgebungsverfahrens bereits frühzeitig geltend gemacht worden, dass es nicht sachgerecht sei, wenn insbesondere eine Anteilszusammenlegung mehrheitlich gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werden könne, da hierdurch legitime Veräußerungsinteressen des betroffenen Gesellschafters tangiert würden29. Dementsprechend wird teilweise davon ausgegangen, dass insbesondere eine Anteilszusammenlegung nicht gegen den Willen des Betroffenen erfolgen könne30; teilweise wird dieses zwingende Mitwirkungserfordernis auch auf die Teilung erstreckt31. Es sprechen indes die besseren Gründe dafür, dass eine Mitwirkung des betroffenen Gesellschafters nicht notwendig ist und zwar weder bei der Teilung, noch bei der Zusammenlegung32.

__________ 28 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45 li. Sp. 29 Vgl. die Stellungnahmen des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf des MoMiG, Nr. 43/07, Rz. 69, veröffentlicht beispielsweise NZG 2007, 735 ff. 30 Vgl. die Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Regierungsentwurf des MoMiG, Nr. 43/07, Rz. 69, veröffentlicht beispielsweise NZG 2007, 735 ff.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 20; Bergjan in Saenger/Inhester, GmbHG, § 46 Rz. 25; Förl, RNotZ 2008, 409, 411; Geitemann/ Bergjan in FS P+P Pöllath + Partner, 2008, S. 271, 291 f.; Mayer, DNotZ 2008, 403, 426; Tebben, RNotZ 2008, 441, 458. 31 Irringer/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 618 ff.; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 5; wohl auch Tebben, RNotZ 2008, 441, 458, der die Entbehrlichkeit einer Zustimmung des Betroffenen im Hinblick auf die Teilung als „zweifelhaft“ bezeichnet. 32 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 88; Rubel, NJW-Spezial 12/2009, 367; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 46 Rz. 180a; Wachter, DB 2009, 159, 162 f.

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Die bisherige Diskussion der Streitfrage lässt eine überzeugende Anwendung der allgemeinen Regeln vermissen. Sie ist zu stark in dem Bemühen, die alte Rechtslage fortzuschreiben, verhaftet. Zudem wird angesichts des zutreffenden Befundes, dass Teilungs- und Zusammenlegungsbeschlüsse geeignet sein können, legitime Gesellschafterinteressen zu verletzen, übersehen, dass dies allein einen Zustimmungsvorbehalt, sprich ein Vetorecht des einzelnen Gesellschafters nicht zu rechtfertigen vermag. Vielmehr können interessengerechte Ergebnisse auch auf anderem Weg erreicht werden. Im Einzelnen: a) Gesetzeswortlaut Der Wortlaut des § 46 Nr. 4 GmbHG n. F. ist eindeutig. Hiernach unterliegen die Teilung und die Zusammenlegung von Geschäftsanteilen (neben der Einziehung) „der Bestimmung der Gesellschafter“. Von einem Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Betroffenen ist in der Gesetzesvorschrift keine Rede. Ein solcher Zustimmungsvorbehalt könnte sich mithin allenfalls aus allgemeinen Regeln ergeben, die indes weder bei der Anteilsteilung, noch bei der Anteilszusammenlegung einschlägig sind. Denn es geht nicht um die Mehrung der Pflichten eines GmbH-Gesellschafters (vgl. § 53 Abs. 3 GmbHG) und auch nicht um den Eingriff in ein Sonderrecht (vgl. § 35 BGB). Auch eine Zweckänderung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht ersichtlich. Der Umstand, dass der Anteilszuschnitt letztlich, je nach dem, wie er gewählt wird, womöglich die Fungibilität der Anteile tangiert, offenbart zwar, dass eine Teilung bzw. insbesondere eine Zusammenlegungsentscheidung die berechtigten Belange eines Gesellschafters tangieren kann, er begründet jedoch keine Rechtsposition, die ein Zustimmungserfordernis des betroffenen Gesellschafters aus Rechtsgründen zwingend geboten erscheinen lässt. b) Gesetzeshistorie Auch aus der Gesetzeshistorie kann die Gegenauffassung, die ein Zustimmungserfordernis des Betroffenen jedenfalls für Zusammenlegungsfälle, teilsweise gar für Teilungsfälle zu begründen sucht, nichts für sich gewinnen. Im Gegenteil: Die Gesetzesbegründung ordnet vielmehr expressis verbis das Gegenteil an, indem sie ausdrücklich ausspricht, dass es einer Zustimmung des betroffenen Gesellschafters „nicht bedarf“. Hintergrund dieser Aussage ist die Konzeption des alten Rechts, welches in Teilungsfragen zwingend die Initiative beim Teilungswilligen ansiedelte sowie der Meinungsstand auf der Basis des früheren GmbHG, wonach die Zusammenlegung von Anteilen stets die Zustimmung des Betroffenen erforderte. Wer vor diesem Hintergrund ausdrücklich einer Zustimmung des Betroffenen eine Absage erteilt und hieran im Gesetzgebungsverfahren trotz Einspruchs aus berufenem Munde, nämlich des Handelsrechtsausschusses des DAV festhält, bringt klar zum Ausdruck, dass es künftig allein auf den Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG ankommt.

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Auch der Versuch, aus der in der Gesetzesbegründung gewählten Wendung, dass die Gesellschafterversammlung der Teilung bzw. Zusammenlegung „zustimme“, abzuleiten, dass dies eine Teilungs- bzw. Zusammenlegungsentscheidung des Betroffenen impliziere, so dass die Gesetzesbegründung insoweit ambivalent sei, überzeugt nicht. Es ist bereits überzeugend nachgewiesen worden, dass die Gesetzesbegründung den Terminus „Zustimmung“ im Kontext des Beschlusses nach § 46 Nr. 4 GmbHG untechnisch verwendet33. Die Gesetzesmaterialien sind mithin nicht ambivalent, sondern sprechen sich eindeutig gegen ein Zustimmungserfordernis des Betroffenen aus. c) Gesetzessystematik Auch systematische Erwägungen bestätigen den Befund, dass es einer Zustimmung des Betroffenen nicht bedarf. Denn bereits die Verortung des (Neu-) Zuschnitts der Geschäftsanteile in § 46 GmbHG offenbart, dass der Gesetzgeber die Gesamtthematik allein der Dispositionsfreiheit der Gesellschafter (vgl. § 45 Abs. 2 GmbHG) unterstellt hat. Bestätigt wird dies durch drei Aussagen aus den Gesetzesmaterialien. Denn bereits die Aufhebung des § 17 GmbHG a. F. wird damit begründet, dass die Thematik „zusammenfassend in § 46 GmbHG geregelt [wird]“34. Auch im Zusammenhang mit der Änderung des § 46 Nr. 4 GmbHG wird doppelt betont, dass „die Vorschrift die Teilung und Zusammenlegung von Geschäftsanteilen unter der Voraussetzung der Zustimmung der Gesellschafter frei [gibt]“ und „es Sache der Gesellschafter [ist] zu entscheiden, ob und was sie an Teilungen und Zusammenlegungen zulassen wollen“35. Auch aus dem Vergleich mit der Rechtslage vor Erlass des MoMiG kann kein Argument für ein zwingendes Mitwirkungsrecht des Betroffenen abgeleitet werden. Die Frage der Anteilszusammenlegung war nach altem Recht überhaupt nicht geregelt. Im Rahmen der Anteilsteilung resultierte das Mitwirkungsrecht des Betroffenen aus der früheren Gesetzeskonzeption, nämlich daraus, dass die Teilung nach altem Recht nur anlassbezogen in Veräußerungsund Vererbungsfällen möglich war. Dies folgte aus § 17 Abs. 6 GmbHG a. F. Diese Vorschrift ist indes ausdrücklich aufgehoben worden. Hierdurch ist zugleich auch der Grundsatz nach altem Recht, dass vom Betroffenen die Teilungsinitiative ausgeht, obsolet geworden. Denn das neue Recht will ja ausdrücklich anlassunabhängige Vorratsteilungen zulassen. Bei dieser liegt es indes in der Natur der Sache, dass die Initiative von der Gesellschaft und ihren Geschäftsführer bzw. allenfalls von einzelnen Gesellschaftern und nicht von jedem einzelnen Betroffenen ausgeht.

__________ 33 Vgl. Förl, RNotZ, 2008, 403, 410 f.; Rubel, NJW-Spezial, Heft 12/2009, S. 367 – a. A. Irringer/Müstermann, GmbHR 2010, 617, 618 f. 34 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 39. 35 Vgl. REgBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45 li. Sp.

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d) Ergebniskontrolle Auch Erwägungen des Gesellschafter- und Eigentumsschutzes stehen nicht entgegen. Es ist zwar durchaus zutreffend, dass – und zwar sowohl durch Beschlüsse über die Anteilszusammenlegung, als auch über die Anteilsteilung – im Einzelfall berechtigte Belange des Betroffenen verletzt werden können. Umgekehrt gibt es allerdings auch eine Vielzahl von Situationen, in denen es – von Obstruktionen abgesehen – kein Grund gibt, an einem (Neu-)Zuschnitt der Anteile Anstoß zu nehmen, etwa dann wenn ein neuer Zuschnitt gewählt wird, der berechtigte Veräußerungsinteressen beim besten Willen nicht tangiert, wie etwa der Übergang von Anteilen à 1 Euro auf Anteile à 2 Euro bei extrem hohem Grundkapital der Gesellschaft und hohen Beteiligungen der einzelnen Gesellschafter. Es sind auch andere neutrale Fälle denkbar, bei denen bereits sachlich ein Veto-Recht hypotroph erscheint. Gibt es beispielsweise in einer Gesellschaft aufgrund einer Vielzahl von Veräußerungsvorgängen aus der Vergangenheit Anteile sehr unterschiedlicher Größe und wollen die Gesellschafter den Anteilszuschnitt vereinheitlichen, ohne auf die kleinste denkbare Stückelung von 1 Euro zurückzugehen, kann es beispielsweise notwendig sein, Anteile zunächst zusammen zu legen und dann alle Anteile neu in gleiche Teile zu parzellieren. In einer solchen Situation kann schwerlich eine Interessenverletzung der betroffenen Gesellschafter behauptet werden. Wenn man gleichwohl stets eine Zustimmung des Betroffenen zur Anteilszusammenlegung verlangt, wäre Obstruktion Tür und Tor geöffnet. Denn eine Zustimmungspflicht zur Anteilsteilung qua Treuepflicht wird man wohl kaum annehmen können. Geht man indes mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, dass der (Neu-) Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen allein Sache der Gesellschafterversammlung ist, führt dies nicht etwa dazu, dass der Betroffene schutzlos gestellt wird. Denn es ist allgemein anerkannt, dass sämtliche einfachen Gesellschafterbeschlüsse einer GmbH-Gesellschafterversammlung, die geeignet sind, berechtigte Gesellschafterbelange zu beeinträchtigen, einer materiellen Beschlusskontrolle unterliegen. Dies hat zur Folge, dass der entsprechende Beschluss durch überwiegende sachliche Gründe im Interesse der Gesellschaft gerechtfertigt erscheinen muss. Der Beschluss ist mithin am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, so dass er nur zulässig ist, wenn er geeignet und erforderlich ist, um die mit dem Beschluss verfolgten Gesellschaftsinteressen zu erreichen und die Vorteile der entsprechenden Maßnahme für die Gesellschaft in Abwägung mit den damit verbundenen Nachteilen für die Gesellschafter überwiegen36. Im Rahmen der hiernach gebotenen Interessenabwägung erweisen sich tendenziell Anteilsteilungen als weniger problematisch, da sie die Anteilsfungibilität fördern. Demgegenüber dürften Anteilszusammenlegungen in der Tendenz eher problematisch sein, da hierdurch womöglich die

__________ 36 Grundlegend BGH, Urt. v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 46 ff. (Kali & Salz); BGH, Urt. v. 19.4.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319, 320 ff. (Holzmann); vgl. aus dem Schrifttum statt aller etwa Hüffer, AktG, 9. Aufl., § 243 Rz. 27; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl., § 16 Rz. 149.

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Veräußerbarkeit der Anteile erschwert wird. Mithin dürften an die eine Teilung rechtfertigenden Gründe regelmäßig keine hohen Anforderungen zu stellen sein, wohingegen die Zusammenlegung grundsätzlich von schwerwiegenden Gründen, die im Gesellschaftsinteresse liegen, getragen sein muss37. Werden diese Bindungen nicht eingehalten, ist der entsprechende Teilungsbzw. Zusammenlegungsbeschluss anfechtbar, so dass der Betroffene in die Lage versetzt wird, seine Interessen zu wahren. e) Zwischenergebnis Mithin ist kein überzeugender Grund ersichtlich, unter der Geltung des neuen Rechts stets die Mitwirkung des Betroffenen zu verlangen. Vielmehr überantwortet das neue Recht die Entscheidung über den (Neu-)Zuschnitt von GmbHGeschäftsanteilen der Gesellschafterversammlung; diese allein ist befugt, mit dem (Neu-)Zuschnitt der Anteile zu befinden. Der Betroffene ist in der Lage, seine Interessen dadurch zu wahren, dass er den entsprechenden Mehrheitsbeschluss der GmbH-Gesellschafterversammlung im Wege der Beschlussanfechtung auf den gerichtlichen Prüfstand stellt. 2. Außenwirkung des Teilungsbeschlusses Die zweite Frage, die das neue Recht aufwirft, ist die Frage, ob das Erfordernis eines Teilungsbeschlusses ins Außenverhältnis durchschlägt, so dass der Versuch, einen ungeteilten Teil-Geschäftsanteil abzutreten, mangels wirksamer Teilung fehl geht, wenn und solange die Gesellschafterversammlung der Teilung nicht gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG zugestimmt hat. Die aufgeworfene Frage stellt sich zwar gleichermaßen bei der Anteilszusammenlegung, ist dort indes deutlich weniger virulent. Denn auch unter der Geltung des neuen Rechts werden sich die Beteiligten über den Neuzuschnitt von Anteilen primär anlassbezogen und zwar im Zusammenhang mit der Absicht einen Teilgeschäftsanteil abzugeben, Gedanken machen. Die ganz herrschende Meinung im GmbH-rechtlichen Schrifttum, welches sich mit dieser Frage nach Erlass des MoMiG befasst hatte, bejaht eine Außenwirkung des Teilungsbeschlusses. Hiernach ist die Veräußerung eines TeilGeschäftsanteils ohne Teilungsbeschluss (schwebend) unwirksam38. Diese ganz herrschende Meinung ist jüngst von einer vereinzelten Literaturstimme in Zweifel gezogen worden39. Die jüngst geäußerte Kritik überzeugt indes nicht:

__________

37 Vgl. Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 83 a. E. sowie Rz. 88 a. E. 38 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 18; Bergjan in Saenger/ Inhester, GmbHG, § 46 Rz. 19; Förl, RNotZ 2008, 409, 412; Greitmann/Bergjan in FS P+P Pöllath + Partner, 2008, S. 271, 291 f.; Rubel, NJW-Spezial 12/2009, S. 367; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 84; Mayer, DNotZ 2008, 403, 425; Müller/Federmann, BB 2009, 1375, 1377; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 46 Rz. 180; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 4; Tebben, RNotZ 2008, 441, 458; Wachter, DB 2009, 159, 163; Wicke, GmbHG, 2008, § 46 Rz. 9. 39 Vgl. Irriger/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 620 ff.

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a) Gesetzesbegründung Bereits die Behauptung, die Regierungsbegründung enthalte keinen Hinweis darauf, dass der Gesellschafterbeschluss nun Wirksamkeitsvoraussetzung der Teilung (sowie der Zusammenlegung) ist40, verfängt nicht. Die Regierungsbegründung hebt gleich mehrfach hervor, dass die Teilung und Zusammenlegung „zusammenfassend in § 46 GmbHG geregelt werden“ sollen, einzige „Voraussetzung die Zustimmung der Gesellschafter [ist] und es Sache der Gesellschafter ist, [hierüber] zu entscheiden“41. Deutlicher kann man kaum zum Ausdruck bringen, dass die Fragen des (Neu-)Zuschnitts von GmbHGeschäftsanteilen dem Primat der Gesellschafterversammlung unterworfen werden. Auch mit den Zielen des MoMiG lässt sich insoweit nicht überzeugend argumentieren. Das MoMiG verfolgt zwar einen Liberalisierungszweck, die Gesetzesmaterialien betonen indes zugleich die Dispositionsfreiheit der Gesellschafter. Sie sollen entscheiden, „ob und was sie an Teilungen und Zusammenlegungen zulassen wollen“ und „der Gesellschaftsvertrag kann die Teilung und Zusammenlegung an höhere oder geringere Voraussetzungen knüpfen“42. Beseitigen die Gesellschafter das Zustimmungserfordernis nicht, besteht gerade kein Freibrief eines Gesellschafters, der den Zuschnitt seiner Anteile ändern will, sich über diesen Willen der Gesellschafterversammlung, der dann dahin geht, an dem Zustimmungserfordernis festzuhalten, hinweg zu setzen. b) Gesetzessystematik Auch die Behauptung, Zuständigkeiten nach § 46 GmbHG beträfen lediglich die (interne) Willensbildung der Gesellschafter, so dass die entsprechenden Zuständigkeiten niemals ins Außenverhältnis durchschlagen würden43, ist falsch. Beispielsweise ist im Rahmen des Beschlusserfordernisses gemäß § 46 Nr. 8 GmbHG allgemein anerkannt, dass die Beschlussfassung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen Außenwirkung hat; eine ohne Gesellschafterbeschluss erhobene Klage ist wegen Fehlens einer materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzung nach herrschender Meinung als unbegründet abzuweisen44. Auch im Rahmen des § 46 Nr. 5 GmbHG, also der Beschlussfassung über Geschäftsführungsangelegenheiten handelt es sich um eine originäre Gesellschafterzuständigkeit, die (selbstverständlich) ins Außenverhältnis durchschlägt; ein Geschäftsführer(kollege) kann von seinem Mitgeschäfts-

__________ 40 41 42 43 44

So Irriger/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 620. Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 39 re.Sp., 45 li. Sp. Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45 re.Sp. So Irriger/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 621. Vgl. statt aller BGH, Urt. v. 20.11.1958 – II ZR 17/57, BGHZ 28, 355, 358; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 22; Hüffer in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 46 Rz. 98; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 252; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., § 46 Rz. 60; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 46 Rz. 142, 159; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 46 Rz. 61.

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führer weder wirksam bestellt werden, noch können wirksame Anstellungsbedingungen vereinbart werden, noch ist eine Entlastung des Kollegen möglich, da diese Beschlüsse naturgemäß Außenwirkung haben45. Gleiches gilt für die Zuständigkeit gemäß § 46 Nr. 1 GmbHG betreffend den Jahresabschluss und die Ergebnisverwendung sowie für die Gesellschafterbeschlüsse nach § 46 Nr. 2 GmbHG betreffend die Einforderung von Einzahlungen sowie die Rückzahlung von Nachschüssen; auch hierbei handelt es sich um echte Kompetenzregelungen, die keine bloße interne Bedeutung haben, sondern nach außen wirken. Die durch das MoMiG neu gefasste Vorschrift des § 46 Nr. 4 GmbHG, die nunmehr Teilung und Zusammenlegung von Geschäftsanteilen betrifft und den Komplex des Neuzuschnitts von GmbH-Geschäftsanteilen zusammenfassend regelt, ist mithin in Regelungen eingebettet, die alle ins Außenverhältnis durchschlagen, so dass die Behauptung, die systematische Verortung der Thematik innerhalb des § 46 GmbHG führe zu einer bloßen internen Bedeutung der Gesellschafterzuständigkeit, fehl geht. c) Sonstige Erwägungen Auch die Sorge, dass eine Außenwirkung zu einer Benachteiligung von Minderheitsgesellschaftern führe, vermag nicht zu überzeugen46. Diese Erwägung hat bereits im Kontext der Frage nach der Innen- oder Außenwirkung des Beschlusses nichts verloren. Denn auch eine bloße Innenbindung müsste selbstverständlich von dem (Minderheits-)Gesellschafter beachtet werden. Die vorgeschützte Sorge um das Wohl von Minderheitsgesellschaftern offenbart, was die Gegenmeinung in Wahrheit erstrebt, nämlich einen Freibrief, sich ungestraft über die vom MoMiG-Gesetzgeber gewollte Gesellschafterzuständigkeit hinweg setzen zu können. Man mag de lege ferenda bestimmt trefflich darüber streiten können, ob es nicht wünschenswert wäre, den Anteilszuschnitt gänzlich von Restriktionen freizustellen. De lege lata gibt es da indes nichts zu deuteln: Die Gesellschafterversammlung ist zuständig, hierüber zu befinden und niemand ist befugt, sich über diese Gesellschafterkompetenz hinweg zu setzen, zumal die entsprechende Zuständigkeit gesetzlich verankert ist und statutarisch ausdrücklich abbedungen werden müsste, wenn sie nicht gelten soll. Selbst wenn man argumentationshalber eine bloße Innenbindung annehmen wollte, spräche mithin – wie bereits nach altem Recht – alles dafür, die Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht anzuwenden und Verfügungen, die in der Absicht getroffen werden, sich über die Gesellschafterzuständigkeit gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG hinweg zu setzen, allein aus diesem Grunde die Wirksamkeit zu versagen.

__________ 45 Vgl. statt aller BGH, Urt. v. 9.10.1989 – II ZR 16/89, GmbHR 1990, 33, 34; vgl. statt aller beispielsweise für die Bestellung Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 23; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 101; Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., § 46 Rz. 23; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 46 Rz. 71, 80. 46 So aber Irringer/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 622.

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Auch die weiteren gegen eine Außenwirkung des Beschlusserfordernisses vorgebrachten Aspekte sind von ähnlicher Art und Güte47. Der Umstand, dass bei Veräußerungen insbesondere im Rahmen sog. Due Diligence-Prüfungen künftig nach wie vor verifiziert werden muss, ob die Anteile wirksam geteilt werden, bietet kein Argument, sich über den gesetzgeberischen Willen, Anteilsteilungen und -zusammenlegungen an einen Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG zu binden, hinweg zu setzen. Auch die Erwägung, dass der Geschäftsführer im Rahmen der Erstellung der Gesellschafterliste sich ebenfalls mit der Wirksamkeit der Teilung zu befassen hat, bietet keinen überzeugenden Sachgrund, die Außenwirkung der Gesellschafterkompetenz zu leugnen, zumal die Sache bei einer bloßen Innenwirkung für den Geschäftsführer – wie aufgezeigt – gar nicht einfacher würde, da er sich dann mit der Frage befassen müsste, ob die Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht dem Versuch entgegensteht, sich über die Gesellschafterkompetenzen hinweg zu setzen. d) Zwischenergebnis Die alte Rechtslage unterscheidet sich von der durch das MoMiG modifizierten mithin allein dadurch, dass die Genehmigungserklärung der Gesellschaft, vertreten durch ihren Geschäftsführer entfallen ist; das Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses besteht unverändert fort, wobei diesem unverändert – heute erst recht – Außenwirkung zukommt. Denn die Teilung von Geschäftsanteilen unterliegt nach neuem Recht unverändert der Bestimmung der Gesellschafter. § 46 Nr. 4 GmbHG besteht unverändert fort, wobei die Gesellschafter nun in jedem Fall auch im Außenverhältnis gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG n. F. für die Teilung von Geschäftsanteilen zuständig sind. Dies ist herrschende Meinung und wird im Übrigen durch die Regierungsbegründung bestätigt. 3. Inhaltliche Anforderungen an den Teilungsbeschluss Schließlich stellt sich auch noch die Frage, welchen inhaltlichen Anforderungen der Teilungsbeschluss genügen muss. Nach alter Rechtslage gab es eine anlassbezogene ganz konkrete Teilungserklärung des Betroffenen, die Gegenstand der Genehmigung nach § 17 GmbHG war, die ihrerseits Gegenstand des Beschlusses nach § 46 Nr. 4 GmbHG a. F. war. Gegenstand des Beschlusses war mithin immer eine ganz konkrete Transaktion. Denn es gab keine Vorratsteilungen und daher keine Vorratsbeschlüsse. Da der Gesetzgeber indes Teilungsanordnung und Genehmigungserklärung nach § 17 GmbHG beseitigt hat und er den Gesamtkomplex des (Neu-)Zuschnitts der Anteile einheitlich in § 46 Nr. 4 GmbHG geregelt hat, ohne inhaltliche Anforderungen zu definieren, ist die Frage aufgeworfen, ob überhaupt (dazu a) und wenn ja, welche inhaltliche Mindestanforderungen an den Teilungsbeschluss zu stellen sind (dazu b).

__________

47 Irringer/Münstermann, GmbHR 2010, 617, 622.

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a) Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes Die erste Frage nach dem ob der inhaltlichen Bestimmtheit, ist klar zu bejahen. Aus dem Schweigen der Gesetzesmaterialien zu inhaltlichen Anforderungen kann nicht geschlussfolgert werden, dass es keine inhaltlichen Anforderungen gebe. Im Gegenteil: Nach der Gesetzeskonzeption, die dem MoMiG zugrunde liegt, ist der Beschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG der einzige Anknüpfungspunkt, um den Anteilszuschnitt, den die Gesellschafter gewählt haben, verifizierbar zu dokumentieren und zu belegen. Würde man demgegenüber allgemein gehaltene Teilungs- und Zusammenlegungsbeschlüsse ausreichen lassen, bestünde die Möglichkeit der Erteilung einer „Blankovollmacht“ zu jeder Form der Teilung und/oder Zusammenlegung von Geschäftsanteilen. Die Entscheidung über die genaue Teilung bzw. Anteilszusammenlegung läge bei einer solchen Sichtweise aufgrund der erteilten Blankoermächtigung nunmehr beim betroffenen Gesellschafter, obwohl der MoMiG-Gesetzgeber den (Neu-) Zuschnitt von GmbH-Anteilen doch gerade in die Hände der Gesellschafter gelegt und deren Disposition durch abweichende Satzungsregelung (vgl. § 45 Abs. 2 GmbHG) unterworfen hat. Eine Blankoermächtigung ist mithin mit dem Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses nicht in Einklang zu bringen. Dieser ist – vorbehaltlich einer anderweitigen Disposition des Satzungssouveräns – nach wie vor darauf gerichtet, zu verhindern, dass bei der GmbH die meist beschränkte Zahl von Mitgliedern unangemessen erweitert und dadurch das in der Regel enge Verhältnis zwischen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern gelockert wird48. Etwas anderes gilt nur, wenn die Gesellschafter etwas anderes wünschen und sie diesem Wunsch durch eine abweichende Satzungsregelung Ausdruck verliehen haben. b) Inhaltliche Mindestanforderungen Soll der genannte Schutzzweck nicht vollkommen ausgehebelt werden, sind an den Beschluss der Gesellschafterversammlung über die Teilung eines Geschäftsanteils bzw. die Zusammenlegung mehrerer Anteile mithin inhaltliche Mindestanforderungen zu stellen49. Der Beschluss muss insbesondere Angaben dazu enthalten, in welchem Verhältnis der betreffende Geschäftsanteil zu teilen ist. Es kann nicht nach Jahren, noch dazu ohne dass die Gesellschafter „sehenden Auges“ über die Frage der Genehmigung der Teilung befunden haben, im freien Ermessen eines veräußerungswilligen Gesellschafters liegen, zu entscheiden, wie die von ihm gehaltenen Anteile geteilt werden. Ansonsten würde der Gesellschafter de facto das Recht der Gesellschafterversammlung zur Entscheidung über die Teilung selbst ausüben.

__________ 48 Vgl. RegBegr., BT-Drucks. 16/6140, S. 45; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 51; BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, BGHZ 14, 25, 34; OLG Hamm, Beschl. v. 5.2.1976 – 15 W 289/75, DB 1976, 907; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., § 17 Rz. 1; Winter/Löbbe in Ulmer, Großkomm. GmbHG, § 17 Rz. 1. 49 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, § 46 Rz. 86; Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. Band III, § 17 a. F., Nachtrag MoMiG, Rz. 7.

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Die genaue Angabe, in welchem Verhältnis der Anteil zu teilen ist, muss – vor dem Hintergrund des geschilderten Schutzzwecks – dem Gesellschafterbeschluss selbst zu entnehmen sein. Denn grundsätzlich können Geschäftsanteile nach allgemeiner Auffassung nur real, d. h. in selbstständige und nach einem Nennbetrag bezeichnete Stücke geteilt werden50. Hierfür ist es insbesondere erforderlich, dass die einzelnen Anteile individualisierbar sind, zumal sie ab ihrer Teilung hinsichtlich Inhalt und Inhaberschaft unterschiedlichen Entwicklungen unterliegen können51. Das bereits nach altem Recht anerkannte Bestimmtheitsgebot gebietet, dass im Wege der Auslegung zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass und welche Teilung angestrebt ist52. An diesen Individualisierbarkeitsanforderungen hat sich auch nach Inkrafttreten des MoMiG nichts geändert. Durch den Wegfall des § 17 GmbHG a. F. sollte nichts an der Kontrollzuständigkeit der Gesellschafter geändert werden; diese sollte vielmehr gestärkt werden. Grund für die Gesetzesänderung war ausweislich der Begründung nur, dass die Voraussetzungen für die Teilung und Zusammenlegung nunmehr einheitlich in § 46 GmbHG geregelt sind und das Verbot, mehrere Geschäftsanteile gleichzeitig an denselben Erwerber zu übertragen, entfallen sollte53. Es wurde daher nur von der Zustimmungsbedürftigkeit nach § 17 GmbHG abgesehen, im Übrigen hat sich nichts geändert. Es muss mithin – schon sachenrechtlich54 – hinreichend klar zum Ausdruck kommen, in welche – individualisierbaren – Anteile das Gesellschaftsvermögen aufgeteilt sein soll55. Erforderlich ist demnach insbesondere, dass u. a. der Betrag der durch die Teilung entstehenden Geschäftsanteile klar ersichtlich ist56. Angesichts dieser inhaltlichen Vorgaben kommt auch ein konkludenter Teilungsbeschluss nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, da ein solcher nur dann möglich ist, wenn alle Gesellschafter an der Abtretung eines konkret bezifferten Anteils mitwirken bzw. im Falle der Vinkulierung zustimmen57. Ein konkludenter Teilungsbeschluss muss mithin anerkanntermaßen ebenfalls den sachenrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen genügen; auch insoweit hat sich gegenüber der früheren Rechtslage nichts geändert.

__________ 50 Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., § 46 Rz. 17; Wicke, GmbHG, § 46 Rz. 10; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 17 Rz. 2. 51 OLG Oldenburg, Urt. v. 11.10.2007 – 1 U 17/07, BeckRS 2008, Nr. 00546. 52 OLG Oldenburg, Urt. v. 11.10.2007 – 1 U 17/07, BeckRS 2008, Nr. 00546. 53 Vgl. die RegBegr., BT- Drucks. 16/6140, S. 39. 54 BGH, Urt. v. 19.1.1987 – II ZR 158/86, NJW 1987, 1262, 1263; KG, Urt. v. 22.11.1996 – 5 U 1304/96, NJW-RR 1997, 1259, 1260 f.; H. Winter/Seibt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 15 Rz. 89. 55 Römermann in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 46 Rz. 172; s. auch Mayer/Weiler, Beck’sches Notar-Handbuch, 5. Aufl., Teil D Rz. 33. 56 Römermann in Michalski, GmbHG, 1. Aufl., § 46 Rz. 172. 57 BGH, Urt. v. 13.5.1968 – II ZR 218/66, BB 1968, 1053; BGH, Urt. v. 6.6.1988 – II ZR 318/87, NJW 1989, 168, 169; aus der Literatur statt aller: Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 46 Rz. 19.

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c) Zwischenergebnis Der Teilungsbeschluss muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Im Ergebnis muss mithin der Beschluss selbst exakt die zukünftige Anteilsstückelung festlegen. Dies erfordert, dass die zukünftigen Geschäftsanteile nach Inhaber und Nennbetrag so konkret bezeichnet werden, dass sie individualisierbar sind. Diesem Bestimmtheitserfordernis trägt die Gesellschafterversammlung am besten dadurch Rechnung, dass sie zugleich auch die ohnehin erforderliche Nummerierung der Anteile mit in den Beschluss aufnimmt58.

V. Fazit Die Ergebnisse der hiesigen Untersuchungen lassen sich wie folgt thesenartig zusammenfassen: 1. Der MoMiG-Gesetzgeber hat sämtliche Fragen betreffend den (Neu-)Zuschnitt von GmbH-Geschäftsanteilen einheitlich in § 46 Nr. 4 GmbHG geregelt. 2. Hierdurch wurden sämtliche Fragen der Anteilsteilung und/oder -zusammenlegung dem Primat des Gesellschafterwillens unterworfen, in dem die Gesellschafter entweder hierüber gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG aktuell Beschluss fassen oder sie von ihrer Dispositionsfreiheit dahingehend Gebrauch machen, dass sie den Gesamtkomplex „Anteilsstückelung“ statutarisch anderweitig regeln (vgl. § 45 Abs. 2 GmbHG). 3. Anteilsteilung und -zusammenlegung sind nach den gesetzgeberischen Willen des MoMiG-Gesetzgebers zwei Seiten derselben Medaille; die rechtlichen Anforderungen an Teilung und Zusammenlegung sind grundsätzlich gleich. 4. Die Initiative zu Änderungen des Anteilszuschnitts liegt zukünftig einzig bei der Gesellschafterversammlung, die anlassunabhängig, auch auf Vorrat, den Zuschnitt ändern kann. 5. Einer Zustimmung des Betroffenen zur Neustückelung der Anteile bedarf es nicht, allerdings unterliegt der Teilungs- bzw. Zusammenlegungsbeschluss einer materiellen Beschlusskontrolle; im Rahmen dieser materiellen Beschlusskontrolle hängen die Anforderungen, die an die den Neuzuschnitt rechtfertigenden Gründe zu stellen sind, davon ab, ob sich mit dem Beschluss ein intensiver Eingriff in Gesellschafterrechte verbindet. Tendenziell ist dies bei Teilungsbeschlüssen eher nicht der Fall, da hierdurch die Anteilsfungibilität verbessert wird. Hingegen liegt bei Zusammenlegungsbeschlüssen ein Eingriff in schützwürdige Positionen der Gesellschafter

__________ 58 Vgl. zu den im Zusammenhang mit der Anteilsnummerierung durch Teilung/ Zusammenlegung von Geschäftsanteilen aufgeworfenen Rechtsfragen etwa: Lücke/ Simon in Saenger/Inhester, GmbHG, § 40 Rz. 6; Terlau/Schäfers in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 40 Rz. 4; Wicke, GmbHG, § 40 Rz. 3; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl., § 40 Rz. 13 jew. m. w. N.

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nahe, da die Verkäuflichkeit der Anteile womöglich – aber keineswegs stets – tangiert wird, so dass insoweit die rechtfertigenden Gründe hohen Anforderungen genügen müssen. 6. Das Beschlusserfordernis gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG schlägt nach zutreffender, ganz herrschender Meinung ins Außenverhältnis durch; möchte ein Gesellschafter einen Teilgeschäftsanteil veräußern, ohne den notwendigen Teilungsbeschluss eingeholt zu haben, ist diese Verfügung angesichts der Außenwirkung des Teilungsbeschlusserfordernisses (schwebend) unwirksam. 7. Gesellschafterbeschlüsse gemäß § 46 Nr. 4 GmbHG betreffend den Anteilszuschnitt müssen inhaltlich hinreichend spezifiziert sein; es muss hinreichend klar zum Ausdruck kommen, in welche individualisierbaren Anteile das Stammkapital aufgeteilt werden soll; die zukünftige Anteilsstückelung muss insbesondere nach den Nennbeträgen der künftigen Anteile bezeichnet werden.

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Gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten des Debt Equity Swap Inhaltsübersicht I. Einführung II. Interessenlage der Beteiligten 1. Gesellschaft 2. Investoren 3. Gesellschafter 4. (Alt-)Gläubiger III. Erforderlichkeit einer Sachkapitalerhöhung IV. Gestaltung der Sachkapitalerhöhung 1. Sachkapitalerhöhung mit Bezugrechtsausschluss

2. Kombinierte Sach- und Barkapitalerhöhung (gemischte Kapitalerhöhung) a) Gemischte Kapitalerhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss b) Gemischte Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss 3. Barkapitalerhöhung mit anschließender Sachkapitalerhöhung bei Nichtausübung des Bezugsrechts V. Ergebnis

I. Einführung Im Rahmen der Restrukturierung von Unternehmen hat in den vergangenen Jahren – nicht zuletzt auch als Ausfluss der Finanzkrise – ein aus dem angloamerikanischen Rechtskreis stammendes Sanierungsinstrument erheblich an Bedeutung gewonnen: der sog. Debt Equity Swap. Beim Debt Equity Swap werden Verbindlichkeiten des Unternehmens, deren Bonität zweifelhaft geworden ist, in Eigenkapital umgewandelt. Dies entlastet die Passivseite der Bilanz und erhöht gleichzeitig die Eigenkapitalquote des Unternehmens. Auf diesem Wege kann es dem Unternehmen in einer Krisensituation gelingen, die bilanzielle Überschuldung zu vermeiden und damit den Weg für eine Sanierung des Unternehmens außerhalb des förmlichen Insolvenzverfahrens freizumachen1. Der Autor hatte die Gelegenheit, bereits im Jahr 2006 an der Seite Martin Winters ein in eine existenzbedrohende Krise geratenes Unternehmen bei seiner wirtschaftlichen Konsolidierung anwaltlich zu begleiten. Die von Martin Winter damals entwickelte rechtliche Gestaltung ermöglichte es dem börsennotierten Unternehmen, den Debt Equity Swap trotz der bei diesem Sanierungsinstrument üblicherweise bestehenden hohen Anfechtungsrisiken umzusetzen, ohne dass eine Anfechtungsklage erhoben wurde. Damit war die

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1 Zu den aktuellen Reformbestrebungen (Gesetzentwurf zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen: RegE-ESUG), der es ermöglichen soll, Forderungen von Gläubigern in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Unternehmen im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens umzuwandeln, vgl. Meyer/Degener, BB 2011, 846 ff.

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(rechtliche) Grundlage für den späteren Sanierungserfolg gelegt. Am 1. Mai 2011 wurde das betreffende Unternehmen Deutscher Fußballmeister, was Martin Winter als großen Fußballfan in besonderer Weise gefreut haben dürfte. Anlass genug, sich in einem Liber amicorum für Martin Winter mit den gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten eines Debt Equity Swap näher auseinandersetzen und die auf eine Idee Martin Winters zurückgehende Gestaltung, mit der juristisches Neuland betreten wurde, einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzustellen. Der nachfolgende Beitrag, der ausschließlich die klassische Form des Debt Equity Swap durch Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital in Form von Gesellschaftsanteilen im Blick hat2, konzentriert sich auf die Ausgestaltung des Kapitalerhöhungsvorgangs3 bei einer Aktiengesellschaft. Hier sind die Anfechtungsrisiken insbesondere bei börsennotierten Publikumsgesellschaften wegen der formellen und materiellen Anforderungen des Aktienrechts besonders hoch, da eine Abstimmung des Sanierungskonzepts mit sämtlichen Gesellschaftern in der Regel nicht möglich ist.

II. Interessenlage der Beteiligten Zum besseren Verständnis der verschiedenen kautelarjuristischen Gestaltungsmöglichkeiten soll zunächst die Interessenlagen der von einem Debt Equity Swap Betroffenen analysiert werden. Bei einem Debt Equity Swap kaufen zumeist auf Sanierungsfälle spezialisierte Finanzinvestoren – in der Vergangenheit häufig Hedgefonds oder Investmentbanken – notleidende Kredite (sog. „non-performing loans“ oder „distressed debt“) deutlich unter dem Nennwert der jeweiligen Forderungen auf und bringen diese anschließend im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung gegen die Gewährung von Anteilen an dem zu sanierenden Unternehmen ein4. Dies kann für alle Beteiligten eine „win-win“Situation darstellen. 1. Gesellschaft Für die Gesellschaft selbst bietet der Debt Equity Swap die Chance zur Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens. Die Vermeidung des förmlichen Insolvenzverfahrens kann für das Unternehmen einen wichtigen, wenn nicht gar

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2 Alternative Gestaltungen, die mit Genussrechten, stillen Einlagen oder anderen Formen des Hybridkapitals arbeiten, können im Rahmen dieses Beitrags nicht erörtert werden. 3 Rechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem dem Swap-Vorgang vorangegangenen Forderungskauf sowie Fragen des Eigenkapitalersatzrechts und des WpÜG bleiben außer Betracht vgl. dazu bereits ausführlich: Redeker, BB 2007, 673, 674 ff.; Sydow/ Beyer, AG 2005, 635, 636 ff.; Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561, 562. 4 Eine Sonderkonstellation des Debt Equity Swaps regelt das neue Schuldverschreibungsgesetz. § 5 Abs. 3 Nr. 5 SchVG gestattet den Gläubigern von Schuldverschreibungen durch Mehrheitsbeschluss der Umwandlung oder dem Umtausch der Schuldverschreibungen in Gesellschaftsanteile zuzustimmen, vgl. dazu Leuering, NZI 2009, 638, 640.

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für den Erfolg der Sanierung entscheidenden Vorteil bedeuten5. Zwar bietet auch die Insolvenzordnung die Möglichkeit zum Erhalt des Unternehmens, und zahlreiche insolvenzrechtliche Vorschriften begünstigen gerade die Gläubigerbefriedigung durch Fortführung bzw. Veräußerung des Unternehmens6. Dennoch ist die Einleitung eines Insolvenzverfahrens allein schon wegen des damit verbundenen Image- und Wertverlusts für das Unternehmen regelmäßig eine erhebliche Belastung. Mit der Abwendung des Insolvenzverfahrens können nicht nur Wertabschläge auf das Aktivvermögen vermieden werden, die mit der Stellung des Insolvenzantrages typischerweise verbunden sind. Zusätzlich wird auch das Vertrauen von Kunden und Lieferanten in einer für das Unternehmen schwierigen Situation gestärkt. Der Debt Equity Swap kommt als Sanierungsinstrument in erster Linie bei sog. „turn-around“-Kandidaten in Betracht. Diese Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar finanziell angeschlagen sind – insbesondere über eine zu hohe Fremdkapitalquote verfügen –, aber in ihrem Kern „gesund“ sind, weil sie über gute Produkte bzw. ein überzeugendes Geschäftsmodell verfügen und in erster Linie durch Managementfehler bzw. zu hohe Schulden in die Krise geraten sind. In diesen Fällen wird bereits durch die Entschuldung des Unternehmens ein wesentlicher Sanierungsbeitrag geleistet7. Aber auch außerhalb der Krise kann der Debt Equity Swap ein geeignetes Instrument zur Verbesserung der Eigenkapitalquote des Unternehmens darstellen. So kann ein Debt Equity Swap etwa dazu eingesetzt werden, das Rating des Unternehmens bei Kreditinstituten zu verbessern, und damit zu einer Verbesserung der Konditionen für die Aufnahme von Fremdkapital führen. 2. Investoren Aber nicht nur für das zu sanierende Unternehmen, auch für den bzw. die Investor(en) – den/die „Sanierer“ – bietet der Debt Equity Swap Chancen. Als Forderungskäufer haben sie zunächst die Möglichkeit, die Forderungen zu einem Betrag deutlich unter ihrem Nennwert zu erwerben. Gelingt die Sanierung des Unternehmens, profitieren sie nach der Umwandlung ihrer Forderungen in Gesellschaftsanteile im Rahmen des Debt Equity Swap von dem gesteigerten Unternehmenswert8. Auf der anderen Seite bringt der Wechsel von der Gläubigerstellung in die Anteilseignerposition für den Forderungserwerber auch erhebliche Risiken mit sich. Scheitert die Sanierung und muss das Unternehmen Insolvenzantrag stellen, sind seine Forderungen verloren. Eine Debt Equity Swap-Strategie macht aus Sicht der Investoren daher von vornherein nur dann einen Sinn, wenn sie

__________ 5 Zu weiteren Möglichkeiten der Sanierung außerhalb eines förmlichen Insolvenzverfahrens vgl. Seagon in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 3. Aufl. 2009, § 27 Rz. 115. 6 Vgl. dazu ausführlich Westpfahl/Janjuah, Beilage zu ZIP 3/2008, 1, 2. 7 Vgl. Redeker, BB 2007, 673, 673; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 582. 8 Vgl. Halász/Kloster, WM 2006, 2152, 2152; Sydow/Beyer, AG 2005, 635, 635 f.

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den Fortführungswert der Gesellschaft höher einstufen als deren Zerschlagungswert und sie ihre Ziele alleine aus der Gläubigerstellung nicht realisieren können9. Um seine Risiken zu minimieren, wird der Forderungserwerber und neue Investor das Unternehmen vor dem Erwerb der Forderung einer gründlichen Due Diligence Prüfung unterziehen. Darüber hinaus wird der Forderungserwerber in der Regel versuchen, durch den Wechsel in die Eigentümerstellung und die damit verbundene Möglichkeit zur Ausübung von Gesellschafterrechten Einfluss auf die Unternehmensführung zu nehmen, insbesondere den Sanierungskurs mitzugestalten. Dies kann dadurch geschehen, dass die Investoren Personen ihres Vertrauens in den Vorstand berufen oder zumindest eine starke Stellung im Aufsichtsrat des Unternehmens anstreben. Auf diese Weise können sie sicherstellen, dass der Sanierungsplan nur in enger Absprache mit ihnen umgesetzt wird10. Nicht selten werden die Investoren sogar bestrebt sein, sämtliche Anteile des Unternehmens zu übernehmen, um bei ihren Sanierungsbemühungen nicht durch „lästige“ Minderheitsgesellschafter behindert zu werden. 3. Gesellschafter Auch die übrigen Anteilsinhaber können von dem Debt Equity Swap profitieren. Zwar wird sich ihre Beteiligungsquote am Unternehmen im Rahmen des Debt Equity Swap regelmäßig verringern, da sie an der (Sach-)Kapitalerhöhung, im Rahmen derer der neue Investor die von ihm erworbenen Forderungen in Eigenkapital umwandelt, nicht teilnehmen. Daher besteht für sie die Gefahr einer Verwässerung ihrer Beteiligung. Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer Beteiligungsquote als auch im Hinblick auf den Wert ihrer Beteiligung, wenn die von dem/den Investor(en) eingebrachten Forderungen überbewertet werden. Allerdings wird der Wert des Unternehmens und damit auch der Beteiligung in einer Krisensituation in aller Regel bereits stark gefallen sein. Fällt das Unternehmen in die Insolvenz, weil niemand mehr bereit ist, der Gesellschaft Fremd- oder Eigenkapital zur Verfügung zu stellen, wird ihre Beteiligung wertlos. Auch sie werden daher regelmäßig ein hohes Interesse an der Sanierung des Unternehmens außerhalb eines förmlichen Insolvenzverfahrens haben. Bleiben sie an der Gesellschaft beteiligt und gelingt die Sanierung, kommt auch ihnen der gesteigerte Unternehmenswert zu gute, obwohl sie keinen eigenen Sanierungsbeitrag geleistet haben. Strebt der Investor sogar eine vollständige Übernahme des Unternehmens an, so bietet sich den Gesellschaftern die Möglichkeit, ihre Anteile in einer Krisensituation zu veräußern. Fiele die Gesellschaft in Insolvenz, würde sich der vollständige Wertverlust ihrer Beteiligung realisieren.

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9 Ist der Forderungserwerber in der Lage, seine Ziele ohne Wechsel in die Eigentümerposition zu realisieren, wird er in erster Linie darauf spekulieren, dass das Unternehmen später in der Lage ist, einen höheren Betrag als den von ihm an den Altgläubiger gezahlten Kaufpreis zu tilgen, unter Umständen sogar den vollen Nennwert der Forderung, vgl. Redeker, BB 2007, 673, Kestler/Striegel/Jesch, Distressed Debt Investments, 2006, Rz. 68. 10 Redeker, BB 2007, 673, 673.

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Um „windfall profits“ der (Alt-)Gesellschafter zu vermeiden und dem/den Investor(en) eine Beteiligungsquote zu sichern, die dem Wert des Unternehmens vor der Kapitalerhöhung und dem Wert der von ihnen in Eigenkapital umgewandelten Forderungen entspricht, wird der zur Umsetzung des Debt Equity Swap erforderlichen (Sach-)Kapitalerhöhung nicht selten eine nominelle Kapitalherabsetzung vorgeschaltet (sog. Kapitalschnitt). Diese kann dann notwendig werden, wenn das Grundkapital durch Verluste ganz oder teilweise aufgezehrt ist. Möglich ist sogar eine Kapitalherabsetzung auf null, wenn durch eine gleichzeitige Kapitalerhöhung das gesetzlich erforderliche Mindestkapital wiederhergestellt wird11. Da bei der nominellen Kapitalerhöhung kein Vermögen an die Gesellschafter ausgeschüttet wird, kann sie unter erleichterten Voraussetzungen durchgeführt werden (§§ 229 ff. AktG)12. 4. (Alt-)Gläubiger Schließlich profitieren auch die Gläubiger vom Debt Equity Swap. Die Altgläubiger erhalten die Möglichkeit, ihre Forderungen gegen das in der Krise befindliche Unternehmen, wenn auch mit einem zumeist beträchtlichen Abschlag auf den Nennwert der Forderung, zu verwerten. Dadurch wird das Ausfallrisiko auf den Erwerber der Forderung verlagert13. Angesichts des erheblichen Ausfallrisikos von Gläubigern im Rahmen eines förmlichen Insolvenzverfahrens kann der Verkauf der Forderung auch mit einem deutlichen Abschlag insbesondere für ungesicherte Gläubiger ein willkommenes Instrument der Risikobegrenzung darstellen. Sind die notleidenden Kredite bereits wertberichtigt, kann sich für Altgläubiger sogar ein außerordentlicher Erlös ergeben. Zudem ermöglicht der Forderungsverkauf den Altgläubigern, den noch vorhandenen wirtschaftlichen Wert ihrer Forderungen unmittelbar und sofort zu realisieren, ohne den Abschluss des förmlichen Insolvenzverfahrens abwarten zu müssen. Schließlich entfallen mit dem Verkauf der Forderungen auch die mit der Einziehung der Forderung verbundenen Verwaltungskosten. Ist Forderungsinhaber ein Kreditsinstitut werden mit dem Verkauf der Forderung auch die nach den bankaufsichtsrechtlichen Vorgaben vorzuhaltenden Eigenmittel frei, deren Umfang sich seit „Basel II“ nach der Bonität des Schuldners richtet14. Aber nicht nur diejenigen Altgläubiger, die ihre Forderungen an den neuen Investor veräußern, können vom Debt Equity Swap profitieren. Mit der Umwandlung der Forderungen in Eigenkapital verlieren die übrigen Gläubiger einen konkurrierenden Gläubiger, ohne dass sich das Nettovermögen der Gesellschaft verringert. Andernfalls wäre eine Tilgung dieser Forderung nur durch einen Abfluss von Aktivvermögen möglich gewesen. Aufgrund des Debt

__________ 11 BGHZ 119, 305, 319 f.; BGHZ 142, 167, 168 f. 12 Ausführlich zum Schutz der Altgesellschafter beim Kapitalschnitt Ekkenga, ZGR 2009, 581, 592 f., 604 ff. 13 Sydow/Beyer, AG 2005, 635, 635. 14 Krolop, GmbHR 2007, 117, 118: vgl. ausführlich zu Basel II Hennrichs, ZGR 2006, 563 ff.; Wittig, ZHR 169 (2005), 212 ff.

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Equity Swap aber gibt es einen Altgläubiger weniger, mit dem das zur Befriedigung der Gläubiger verfügbare Vermögen geteilt werden muss15. Gelingt die mit dem Debt Equity Swap angestrebte Sanierung des Unternehmens, werden die vormals mit einem hohen Ausfallrisiko behafteten Forderungen wieder liquide.

III. Erforderlichkeit einer Sachkapitalerhöhung Die Umwandlung der vom Investor erworbenen Forderungen in Eigenkapital erfolgt in der Regel im Wege einer Kapitalerhöhung16. Die Einlagefähigkeit von Forderungen gegen die Gesellschaft ist dabei heute im Grundsatz allgemein anerkannt17. Zwar wird der Gesellschaft durch die Einbringung der gegen sie selbst gerichteten Forderung kein Aktivposten zugeführt, da die Forderung mit ihrer Einbringung untergeht. Die Einbringung der Forderung führt jedoch auf der Passivseite der Bilanz zu einer Verminderung der Verbindlichkeiten, die einen Aktivposten in entsprechender Höhe neutralisiert haben. Wirtschaftlich betrachtet wirkt die Einbringung in gleicher Weise, als wäre der Gesellschaft ein dem Wert der Forderung entsprechender Geldbetrag zugeführt worden, der sodann zur Tilgung der entsprechenden Verbindlichkeit gegenüber der Gesellschaft eingesetzt wurde. Die Einbringung der Forderung kann rechtstechnisch entweder dadurch erfolgen, dass sie an die Gesellschaft abgetreten wird, was zum Erlöschen der Forderung im Wege der Konfusion führt. Alternativ dazu kommt der Abschluss eines Erlassvertrages zwischen dem Forderungsinhaber und der Gesellschaft in Betracht18. In der Praxis werden regelmäßig die von dem Investor bzw. den Investoren erworbenen Forderungen, die im Rahmen des Debt Equity Swap in Eigenkapital umgewandelt werden sollen, vor ihrer Einbringung im Wege der Novation durch eine neue einzige Forderung oder bei mehreren Investoren jeweils eine Forderung pro Investor ersetzt. Dies erleichtert die Bezeichnung der einzubringenden Forderungen im Kapitalerhöhungsbeschluss. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung muss die Einbringung der gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen im Wege einer Sacheinlage erfolgen19. Rechtlichen Gestaltungen, die eine Einbringung der gegen die Ge-

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15 Krolop, GmbHR 2007, 117, 118. 16 Zu alternativen Gestaltungen vgl. Ekkenga, ZGR 2009, 581, 582 f. 17 BGHZ 110, 47, 60; BGHZ 113, 335, 341 jeweils m. w. N. zur Rechtsprechung; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 13; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 183 AktG Rz. 28; Priester in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 56 GmbHG Rz. 49; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 589; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 495. Für die bedingte Kapitalerhöhung (§ 194 Abs. 3 AktG), für das genehmigte Kapital (§ 205 Abs. 5 AktG) ist die Einlagefähigkeit von gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen inzwischen sogar gesetzlich ausdrücklich anerkannt. 18 BGHZ 110, 47, 60; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 589; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 495; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 25; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 80. 19 BGHZ 110, 47, 60 f.; BGHZ 113, 335, 341 f.; BGHZ 118, 83, 93 f.; BGHZ 125, 141, 141; BGH, NJW 2006, 1736, 1737.

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sellschaft gerichteten Forderungen im Wege einer Barkapitalerhöhung zu realisieren versuchen, hat der Bundesgerichtshof eine Absage erteilt. Eine im Vorhinein mit der Gesellschaft vereinbarte Verrechnung der gegen sie gerichteten Forderungen gegen die vom Investor übernommene Einlageverpflichtung scheitert bereits am Aufrechnungsverbot des §§ 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG20. Eine Tilgung der gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen des Investors mit den von ihm im Rahmen der Barkapitalerhöhung als Einlage geleisteten Barmitteln stehen die Grundsätze der „verschleierten Sacheinlage“ entgegen21. Diese Rechtsprechung ist in der Literatur nicht zuletzt wegen der strengen formellen Anforderungen bei der Sachkapitalerhöhung als sanierungsfeindlich kritisiert worden22. Die Vorschriften über Sacheinlagen setzen nicht nur voraus, dass die einzubringenden Forderungen, der Betrag für die einzubringenden Forderungen übernommenen Stammeinlagen bzw. der Nennbetrag, bei Stückaktien die Zahl der für die einzubringenden Forderungen zu gewährenden Aktien, sowie die Person des Einbringenden im Kapitalerhöhungsbeschluss festgesetzt werden (§ 83 Abs. 1 AktG)23. Vielmehr hat zusätzlich auch noch eine Prüfung der Werthaltigkeit der Forderungen durch einen Wirtschaftsprüfer zu erfolgen (§ 183 Abs. 3 Satz 1 AktG). Denn nach gefestigter Rechtsprechung und überwiegender Meinung in der Literatur ist auch bei der Einbringung von gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen nicht der Nennwert, sondern der reale Wert der Forderungen maßgeblich24. An dieser Auffassung ist im Schrifttum wiederholt Kritik geübt worden25. Die Gegenauffassung verweist darauf, dass eine gegen die Gesellschaft gerichtete Forderung aus deren Sicht stets als werthaltig anzusehen sei, weil der betreffende Posten auf der Passivseite stets in der vollen Höhe des Nennwerts der Forderung entfalle, auch wenn diese aus der Sicht des Gläubigers bereits nicht mehr voll werthaltig sei. Weder unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes noch zum Schutz der Mitgesellschafter sei es geboten, auf den realen Wert der Forderung abzustellen26. Trotz der durchaus beachtlichen Gegenargumente wird die Praxis vorbehaltlich einer künftigen Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht davon ausgehen können, dass beim Debt Equity Swap eine Werthaltigkeitsprüfung der

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20 Ekkenga, ZGR 2009, 581, 589; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 29. 21 BGHZ 15, 52, 60 f.; BGHZ 110, 47, 61; BGHZ 113, 353, 341; BGHZ 118, 83, 93; BGHZ 125, 141, 141; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 589. 22 Vgl. Reuter, BB 1978, 1195; Honsell in FS Frotz, 1993, S. 307, 317; Hannemann, DB 1995, 2055; Bergmann, AG 1987, 57, 68 ff. 23 Dazu Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 34; Redeker, BB 2007, 673, 675; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 495; Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561, 562. 24 BGHZ 113, 335, 341 f.; BGHZ 110, 47, 61 jeweils m. w. N.; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 Rz. 29; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 81; Priester, DB 2010, 1445, 1447 f. 25 Zuletzt Cahn, DB 2010, 1629 ff.; zuvor bereits u. a. Karollus, ZIP 1994, 589, 595 f. m. w. N. 26 Ausführlich zum Ganzen zuletzt auch unter Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten Cahn, DB 2010, 1629 ff.

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eingebrachten Forderungen im Rahmen der Sachkapitalerhöhung entbehrlich ist und die Einbringung der Forderungen zum Nennwert erfolgen kann. Da es sich meist um Forderungen gegen eine Gesellschaft handelt, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, ist hierbei nicht selten mit teilweise erheblichen Abschlägen auf den Nennwert zu rechnen27.

IV. Gestaltung der Sachkapitalerhöhung In der Praxis wird die zur Umsetzung des Debt Equity Swap erforderliche Sachkapitalerhöhung in der Regel unter Ausschluss des Bezugsrechts der übrigen Aktionäre durchgeführt. Aufgrund der hohen rechtlichen Anforderungen, die von der Rechtsprechung an den Bezugsrechtsausschluss gestellt werden, ist dieser Weg jedoch mit Anfechtungsrisiken behaftet. Dies kann zu erheblichen Transaktionsunsicherheiten führen. Durch die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf Kapitalmaßnahmen (§ 246 a AktG) wurden die Blockademöglichkeiten von Berufsopponenten zwar deutlich eingeschränkt. Gerade in einer Krisensituation des Unternehmens können jedoch bereits geringfügige Unsicherheiten und Verzögerungen dazu führen, dass der Sanierungserfolg gefährdet wird. Daher werden in der Literatur und in der Kautelarpraxis verschiedenen Gestaltungsalternativen diskutiert, um die sich aus dem Bezugsrechtsausschluss ergebenden Anfechtungsrisiken zu reduzieren oder sogar ganz zu vermeiden28. Vereinzelt hat sich auch die Rechtsprechung bereits mit diesen Alternativgestaltungen auseinandergesetzt29. Teilweise wird vorgeschlagen neben der Sachkapitalerhöhung parallel eine Barkapitalerhöhung zu beschließen, um den nicht am Debt Equity Swap beteiligten Aktionären auf diese Weise ihr Bezugsrecht zu sichern. Eine von Martin Winter entwickelte Gestaltung geht dahin, der Sachkapitalerhöhung eine Barkapitalerhöhung vorzuschalten, im Rahmen derer den Altaktionären ein Bezugsrecht eingeräumt wird, und den/die Investor(en) zur Einbringung der erworbenen Forderungen im Rahmen einer nachgeschalteten Sachkapitalerhöhung nur insoweit zuzulassen, wie die (Alt-)Aktionäre ihr Bezugsrecht nicht ausgeübt haben. In beiden Gestaltungsvarianten stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Bezugsrechtsausschluss überhaupt noch erforderlich ist. Nachfolgend soll ausgehend vom „Normalfall“ der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsauschluss zunächst untersucht werden, welche Risiken sich aus den rechtlichen Anforderungen an den Bezugsrechtsauschluss für einen Debt Equity Swap ergeben können. Im Anschluss daran werden die Vor- und Nachteile der verschiedenen in der Literatur diskutierten Gestaltungsalternativen analysiert.

__________ 27 Vgl. BGH, ZIP 1984, 698, 698; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 496; Redeker, BB 2007, 673, 675. 28 Vgl. Lutter, ZGR 1979, 401, 406 f.; Hirte, Bezugsrechtsausschluss und Konzernbildung, 1986, S. 81 ff.; Groß, AG 1993, 449, 453 f.; Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 121 ff.; Lappe, BB 2000, 313, 313 f.;. Aha, BB 2001, 2225, 2225 f. 29 OLG Jena, ZIP 2006, 1989 ff.; RG, ZIP 2010, 1849 ff.

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1. Sachkapitalerhöhung mit Bezugrechtsausschluss Der herkömmliche Weg zur Umwandlung der von dem bzw. den Investor(en) erworbenen Forderungen in Eigenkapital ist der einer Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss30. Das in § 186 Abs. 1 AktG geregelte Bezugsrecht schützt die Aktionäre vor der Verwässerung des Wertes ihrer Beteiligung und gibt ihnen die Möglichkeit, ihre ursprüngliche Beteiligungsquote aufrecht zu erhalten. Das gesetzliche Bezugsrecht ist ein Kernbestandteil des Mitgliedschaftsrechts, weshalb das Gesetz (§ 186 Abs. 3 und 4 AktG) und die Rechtsprechung hohe formelle und materielle Anforderungen an seinen Ausschluss stellen. Der Bezugsrechtsausschluss muss gemeinsam mit der Kapitalerhöhung beschlossen werden. Er ist untrennbarer Bestandteil des Kapitalerhöhungsbeschlusses31. Er kann also nicht mehr nachträglich beschlossen werden. Ist der Bezugsrechtsausschluss fehlerhaft und deshalb anfechtbar, erstreckt sich die Anfechtbarkeit auch auf die Kapitalerhöhung32. In formeller Hinsicht setzt der Beschluss über den Bezugsrechtsausschluss nach § 186 Abs. 3 Satz 2 AktG neben den in Gesetz oder Satzung für die Kapitalerhöhung aufgestellten Erfordernissen eine Mehrheit von mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung der Hauptversammlung vertretenen Grundkapitals voraus. Anders als für den Kapitalerhöhungsbeschluss selbst, für den die Satzung abweichend vom gesetzlichen Leitbild auch die einfache Mehrheit genügen lassen kann, kann das Erfordernis einer Drei-Viertel-Mehrheit für den Bezugsrechtsauschluss durch die Satzung nur verschärft und nicht herabgesetzt werden (§ 186 Abs. 3 Satz 3 AktG). Zudem muss der Vorschlag zum Ausschluss des Bezugsrechts gemäß § 186 Abs. 4 Satz 1 AktG ausdrücklich und ordnungsgemäß mit der Einladung zur Hauptversammlung bekannt gemacht werden. Die allgemeine Umschreibung, sich mit dem Bezugsrecht befassen zu wollen, reicht nicht aus33. Weiter hat der Vorstand der Hauptversammlung einen schriftlichen Bericht über den Grund für den Ausschluss des Bezugsrechts zu erstatten und alsbald nach der Einberufung der Hauptversammlung zugänglich zu machen34. In dem Bericht müssen neben der Begründung des vorgeschlagenen Ausgabebetrages der neuen Aktien (§ 186 Abs. 4 Satz 2 AktG) auch die Gründe für den Bezugsrechtsausschluss im Einzelnen dargestellt werden. Der Bericht des Vorstands muss so detailliert sein, dass der Hauptversammlung eine sachgerechte Entscheidung ermöglicht wird. Die Aktionäre müssen also ohne weiteres das

__________ 30 Für die prinzipielle Zulässigkeit dieses Ansatzes Redeker, BB 2007, 673, 675; Sydow/ Beyer, AG 2005, 635, 637; Kraft/Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 85; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 495; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 35. 31 Vgl. statt aller Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 20. 32 RGZ 118, 67, 70 f.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 42. 33 Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 64; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 22. 34 So Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 23 im Anschluss an die vor der Neufassung durch das ARUG herrschende Meinung LG Heidelberg, ZIP 1988, 1257, 1258; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 186 AktG Rz. 57; Kort, ZIP 2002, 685, 688.

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Interesse der Gesellschaft an einem Bezugsrechtsausschluss erkennen können und in die Lage versetzt werden, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen35. Der Bericht bildet zugleich die Grundlage für die gerichtliche Überprüfung der sachlichen Rechtsfertigung des Bezugsrechtsausschlusses36. Daher ist es der Gesellschaft grundsätzlich verwehrt im Anfechtungsverfahren oder auch in einem vorhergehenden Freigabeverfahren Gesichtspunkte vorzutragen, die den Bezugsrechtsrechtsausschluss zwar rechtfertigen mögen, aber im Bericht des Vorstands nicht zumindest angelegt sind. Versucht sie den Bezugsrechtsrechtsausschluss mit anderen Argumenten als den im Bericht erwähnten zu rechtfertigen, manifestiert sich darin die Unvollständigkeit des Vorstandsberichts37. Daraus können sich für die Gesellschaft nicht unerhebliche Anfechtungsrisiken ergeben. Sind die formellen Anforderungen bei einer ordnungsgemäßen und professionellen Vorbereitung der Hauptversammlung zumeist noch beherrschbar, so bereiten der Praxis insbesondere die hohen materiellen Anforderungen, die die Rechtsprechung an den Bezugsrechtsausschluss stellt, erhebliche Schwierigkeiten. Aufgrund der Schwere des mit dem Bezugsrechtsausschluss verbundenen Eingriffs in die Mitgliedschaft fordert die Rechtsprechung eine sachliche Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses und unterwirft den betreffenden Hauptversammlungsbeschluss einer materiellen Inhaltskontrolle. Die insoweit bis heute gültigen Anforderungen hat der Bundesgerichtshof bereits in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1978, der sog. „Kali+Salz“-Entscheidung38, näher konkretisiert. Danach genügt es nicht, wenn der Hauptversammlungsbeschluss mit allgemeinen Grundsätzen wie der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht, dem Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53a AktG) oder mit § 138 BGB in Einklang steht39. Vielmehr muss der Ausschluss des Bezugsrechts im Gesellschaftsinteresse liegen, zur Verwirklichung des Gesellschaftsinteresses geeignet und erforderlich sein und in einem angemessenen Verhältnis zu den Nachteilen der betroffenen Aktionäre stehen40. Ob diese Anforderungen im

__________ 35 Vgl. zu den Anforderungen an Inhalt und Umfang des Berichts im Einzelnen BGHZ 83, 319, 326; OLG Schleswig, AG 2004, 155, 158; OLG München, AG 1991, 210, 211; OLG Hamm, AG 1989, 31, 32 f.; LG Frankfurt, AG 1984, 296, 299; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 24; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 186 AktG Rz. 88; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 125 f.; Bayer, ZHR 168 (2004), 132, 153; Happ, Aktienrecht, 12.02 lit. b); Kort, ZIP 2002, 685, 688. 36 BGHZ 83, 319, 326; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 23; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 65; Lutter, ZGR 1979, 401, 415; a. A. Servatius in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 52. 37 Lutter, ZGR 1979, 401, 415; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 37. 38 BGHZ 71, 40 ff.; später bestätigt durch BGHZ 83, 319 ff. („Holzmann“). 39 So noch RGZ 68, 235, 243 ff.; RGZ 105, 373, 375 f.; RGZ 118, 67, 71. 40 BGHZ 71, 40, 44; BGHZ 83, 319, 321; BGHZ 120, 141, 145; BGHZ 125, 239, 241; BGHZ 136, 133, 139; aus der Literatur vgl. nur Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 25 ff.; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 71 f.; Servatius in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 40 ff.; Veil in K. Schmidt/ Lutter, 2. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 34.

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konkreten Einzelfall erfüllt sind, ist gerichtlich nachprüfbar41. Zwischenzeitlich gegen diese Rechtsprechung vorgebrachte europarechtliche Bedenken hat der EuGH nicht als durchgreifend erachtet42. Auch in der sog. „Siemens/ Nold“-Entscheidung des BGH43 ist keine Abkehr von dem Erfordernis der sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses und der materiellen Beschlusskontrolle zu sehen. Vielmehr hat der II. Zivilsenat in dieser Entscheidung lediglich die Berichtsanforderungen im Rahmen der Schaffung eines genehmigten Kapitals, das den Vorstand auch zum Bezugsrechtsausschluss ermächtigt, aus Praktikabilitätserwägungen gelockert und die materielle Beschlusskontrolle auf eine nachgelagerte Ebene, den Vorstandsbeschluss zur Ausübung des genehmigten Kapitals, verlagert44. Für die Praxis bedeutet dies, dass – wenn zur Durchführung des Debt Equity Swap der Weg der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss gewählt wird – der Ausschluss des Bezugsrechts zur Verwirklichung des Gesellschaftsinteresses geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Mitunter findet sich insoweit in der Literatur die pauschale Einschätzung, dass diese Voraussetzungen im Rahmen eines Debt Equity Swap als erfüllt anzusehen seien45. Begründet wird dies damit, dass die Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss zu Sanierungszwecken geschehe und eine Barkapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss für Gesundung und Fortbestand der Gesellschaft keine realistische Perspektive biete. Die Anforderungen an einen Bezugsrechtsausschluss dürften insoweit nicht überspannt werden. Daher müsse es ausreichen, wenn ein nachvollziehbares Interesse der Gesellschaft an der Beteiligung des Investors und der Einbringung der Forderungen bestehe46. Zutreffend daran ist, dass der mit dem Debt Equity Swap regelmäßig verfolgte Sanierungszweck den Bezugsrechtsausschluss sachlich rechtfertigen kann. Ob die materiellen Voraussetzungen des Bezugsrechtsausschluss tatsächlich erfüllt sind, ist jedoch eine Frage der tatrichterlichen Würdigung im konkreten Einzelfall. Dazu muss die Gesellschaft zunächst darlegen, dass der Bezugsrechtsausschluss zu dem angestrebten Sanierungszweck geeignet und erforderlich ist. Letzteres ist dann der Fall, wenn entweder anderweitige Sanierungsmöglichkeiten, die ohne einen Bezugsrechtsausschluss auskommen, nicht bestehen oder der Be-

__________ 41 Zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle: Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 73; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 36. 42 EuGH, NJW 1997, 721 ff. Zu den gegen die Rechtsprechung erhobenen europarechtlichen Einwänden vgl. nur Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 360 ff. 43 BGHZ 136, 133 ff. 44 So allgemein heute das Verständnis der „Siemens/Nold“-Entscheidung; zwischenzeitlich auch klargestellt durch BGHZ 164, 249, 255 („Mangusta/Commerzbank II“): Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 539; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 203 AktG Rz. 116 ff.; Kraft/Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 79; Wamser in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 203 AktG Rz. 83; Lappe, BB 2000, 313; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 610. 45 Sydow/Beyer, AG 2005, 635, 637; Redeker, BB 2007, 673, 675; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 495. 46 Kraft/Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 85 unter Berufung auf BGHZ 71, 40, 46 f.

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zugsrechtsausschluss unter mehreren Möglichkeiten als der zur Erreichung des Sanierungszwecks am besten geeignete Weg erscheint47. Die Gesellschaft muss daher insbesondere prüfen, ob der Sanierungszweck auch durch eine Barkapitalerhöhung mit gesetzlichem Bezugsrecht der Aktionäre erreicht werden kann48. Können die zur Schuldentilgung erforderlichen Mittel auf diesem Wege ohne Bezugsrechtsausschluss erlangt werden, ist der Bezugsrechtsausschluss nicht erforderlich und damit sachlich nicht gerechtfertigt49. In Situationen, in denen die Gesellschaft einen Debt Equity Swap erwägt, bestehen regelmäßig keine hinreichenden Erfolgsaussichten, die Gesellschaft über eine Barkapitalerhöhung mit Bezugsrecht zu sanieren. Zumeist ist die Gesellschaft finanziell angeschlagen oder es droht ihr sogar die Insolvenz, weshalb die Aktionäre kein Interesse mehr haben, der Gesellschaft weiteres Eigenkapital zuzuführen. Der/die Investor(en) sind dann in aller Regel der/die Einzige(n), die noch bereit sind, durch Einbringung der von Ihnen zuvor erworbenen Forderungen im Rahmen des Debt Equity Swap einen Sanierungsbeitrag zu leisten. Ob ein mit der Sache befasstes Gericht solche aus der allgemeinen Interessenlage abgeleiteten Erwägungen ausreichen lässt, oder ob und gegebenenfalls welche weitergehenden Anforderungen die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang an die Darlegung der Erforderlichkeit des Bezugsrechtsausschlusses stellen wird, ist bislang nicht abschließend geklärt. Auch wenn die Ungewissheit der Bezugsrechstausübung den Bezugsrechtsausschluss grundsätzlich nicht zu rechtfertigen vermag50, sollten gerade in einer Krisensituation des Unternehmens insoweit jedoch keine überzogenen Anforderungen an die Darlegungsund Beweislast der Gesellschaft gestellt werden. Zudem ist den an der Entscheidung beteiligten Organen ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzubilligen, der den Umfang der gerichtlichen Kontrolle beschränkt51. Soweit bei der Beurteilung der sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechstausschlusses daher Wertungen und Prognosen erforderlich sind, darf das Gericht nur prüfen, ob die zuständigen Organe von zutreffenden und vollständigen Tatsachen ausgegangen, keine gesellschaftsfremden Erwägungen eingeflossen und alle wesent-

__________ 47 Vgl. BGHZ 83, 319, 321; BGHZ 125, 239, 244; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 27; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 186 AktG Rz. 63; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 76; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 144 f. 48 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 27; Peifer in MünchKomm, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 76. 49 Vgl. Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 186 AktG Rz. 80; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 39; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 35; Füchsel, BB 1972, 1533, 1538. 50 OLG Celle, AG 2002, 292, 293. 51 Dies ist im Grundsatz auch in der Rechtsprechung anerkannt vgl. BGHZ 71, 40, 50; OLG Stuttgart, AG 1998, 529, 531; OLG Braunschweig, AG 1999, 84, 86; LG Kassel, AG 1975, 163, 164; LG Heidelberg, ZIP 1988, 1257, 1258; LG München I, AG 1991, 73, 74. In der Literatur wird insoweit teilweise von einem Kernbereich unternehmerischen Beurteilungsermessens gesprochen Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 73; Lutter, ZGR 1979, 401, 405; kritisch zu dieser Begriffsbildung Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 185 AktG Rz. 36.

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lichen Gesichtspunkte erfasst sind52. Die Gesellschaft wird die von ihr in dieser Hinsicht angestellten Erwägungen aber im Vorstandsbericht darlegen müssen. Ebenso in die Sanierungsüberlegungen einzubeziehen und im Vorstandsbericht gegebenenfalls anzusprechen, sind die unter 2 und 3 dargestellten Gestaltungsalternativen einer kombinierten Bar- und Sachkapitalerhöhung oder einer Barkapitalerhöhung mit nachgeschalteter Sachkapitalerhöhung bei Nichtausübung des Bezugsrechts. Da sie das Bezugsrecht der Aktionäre jedenfalls im Ausgangspunkt wahren, stellen sie im Vergleich zur bloßen Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsauschluss den geringfügigeren Eingriff in die Rechte der Aktionäre und damit das mildere Mittel zur Erreichung des Sanierungszwecks dar53. In der Literatur wird deshalb teilweise sogar ein genereller Vorrang dieser Gestaltungen gegenüber der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss befürwortet mit der Folge, dass der Bezugsrechtsausschluss nur noch dann sachlich zu rechtfertigen ist, wenn die anderen Gestaltungen nicht in Betracht kommen54. Schließlich muss der Bezugsrechtsausschluss auch verhältnismäßig sein. Dies ist dann der Fall, wenn das Interesse der Gesellschaft am Bezugsrechtsausschluss höher zu bewerten ist als das Interesse der Aktionäre an der Wahrung ihrer Rechtsposition55. Diese Voraussetzung wird beim Debt Equity Swap angesichts der Krisensituation, in der sich das Unternehmen in einem solchen Fall in aller Regel befindet, grundsätzlich als erfüllt anzusehen sein. Das Interesse der Gesellschaft am Sanierungserfolg oder gar an der Vermeidung der Insolvenz ist insoweit höher zu bewerten als das Interesse der Anteilseigener an der Aufrechterhaltung ihrer Beteiligungsquote. Vor der Gefahr einer wertmäßigen Verwässerung ihrer Beteiligung werden die Aktionäre überdies durch die Differenzhaftung bei einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen und die Anfechtungsmöglichkeit nach § 255 Abs. 2 AktG geschützt56. Kommt es infolge der gescheiterten Sanierung hingegen zur Insolvenz der Gesellschaft ist auch die Beteiligung der Aktionäre an der Gesellschaft nichts mehr „wert“. Trotz dieser abstrakten Grundregel handelt es sich bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung um eine Interessenabwägung im konkreten Einzelfall, bei der ein mit der Sache befasstes Gericht das Interesse der Gesellschaft an der durch den Debt Equity Swap eintretenden Entschuldung des Unternehmens gegen das

__________ 52 Vgl. BGHZ 71, 40, 50; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 36; Hirte, Bezugsrechtsauschluss und Konzernbildung, 1986, S. 225. 53 Lutter, ZGR 1979, 401, 406; Lappe, BB 2000, 313, 315. 54 So jedenfalls für die kombinierte Bar- und Sachkapitalerhöhung Lutter, ZGR 1979, 401, 406 f. 55 BGHZ 71, 40, 46; BGHZ 83, 319, 321; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 28. 56 Die analoge Anwendung von § 255 Abs. 2 AktG auf Sachkapitalerhöhungen mit Bezugsrechtsausschluss ist heute allgemein anerkannt: Grundlegend BGHZ 71, 40, 50 ff.; OLG Frankfurt, NZG 1999, 119, 121; OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1994; Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 515; Jäger, NZG 2001, 97, 103; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 11; Stilz in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 12.

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Interesse der Aktionäre an der Aufrechterhaltung ihrer Beteiligungsquote abwägen muss. Im Grundsatz gilt insoweit: Je gravierender sich der Eingriff in die Aktionärsrechte darstellt, desto gewichtiger müssen die Interessen der Gesellschaft am Bezugsrechtsausschluss sein57. Führt der Bezugsrechtsauschluss bei dem betroffenen Aktionär daher etwa zu dem Verlust einer Sperrminorität, sind im Rahmen der gerichtlichen Angemessenheitsprüfung höhere Anforderungen an das den Bezugsrechtsauschluss rechtfertigende Gesellschaftsinteresse zu stellen als bei Aktionären, deren Beteiligungsquote ohnehin unterhalb der nach dem Aktienrecht relevanten Minderheitsquoren liegt58. Je nach Schwere des Eingriffs in die Mitgliedschaft kann dies dazu führen, dass eine im Sinne der Erforderlichkeit aus Sicht der Gesellschaft nur „zweitbeste“ Lösung unter dem Gesichtpunkt der Angemessenheit geboten erscheint, weil sie erhebliche Nachteile für die Aktionäre vermeidet59. Auch insoweit können wiederum die nachfolgend unter 2 und 3 darzustellenden Gestaltungsalternativen Bedeutung erlangen. Umgekehrt können, je zugespitzter sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens darstellt, umso schwerwiegendere Eingriffe in die Mitgliedschaft der Aktionäre gerechtfertigt sein, da ihre Beteiligung in der Insolvenz ohnehin ihren Wert vollständig verlöre. Aufgrund der insoweit geringeren Kontroll- und Rechtschutzmöglichkeiten der Aktionäre wird in der Praxis bei einer Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss häufig der Weg des genehmigten Kapitals beschritten. Im Rahmen des Debt Equtity Swap bildet das genehmigte Kapital zumeist jedoch schon deshalb keine echte Alternative, weil das der Gesellschaft zur Verfügung stehende genehmigte Kapital trotz der in der Praxis üblicherweise äußerst weiten Zwecksetzung eine Ausnutzung des genehmigten Kapitals zum Zwecke der Sanierung des Unternehmens nicht zulässt. Daher bleibt allein die Schaffung eines genehmigten Kapitals zum Zwecke der Durchführung des Debt Equtity Swap in der Krisensituation, das in unmittelbaren Anschluss an seine Schaffung vom Vorstand ausgenutzt wird. Ob dadurch die Anfechtungsrisiken tatsächlich reduziert werden können erscheint indes zweifelhaft, zumal eine solche Konstruktion, wenn bereits im Zeitpunkt der Schaffung des genehmigten Kapitals, die Art und Weise seiner Ausnutzung durch den Vorstand feststeht, dem Einwand des Gestaltungsmissbrauchs ausgesetzt sein könnte60. In jedem Fall verbleibt im Fall eines sachlich nicht gerechtfertigten Bezugsrechtsausschlusses ein Haftungsrisiko für den Vorstand, da die materielle Beschluss-

__________ 57 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 28; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 79; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 147. 58 Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 79; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 28. 59 Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 186 AktG Rz. 63 f.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 28. 60 Zur Streitfrage der Subsidiarität des genehmigten Kapitals vgl. Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 202 AktG Rz. 80 ff.; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 5; Seibt/Voigt, AG 2009, 133, 144; Pentz, ZGR 2001, 901, 907. Aus der Rechtsprechung LG Heidelberg, AG 2002, 298, 300 f.

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kontrolle durch die „Siemens/Nold“-Rechtsprechung nur auf den Vorstandsbeschluss zur Ausnutzung des genehmigten Kapitals verlagert wurde61. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten: Der mit dem Debt Equtity Swap regelmäßig verfolgte Sanierungszweck kann zwar einen Bezugsrechtsausschluss im Rahmen der zur Umwandlung der erworbenen Forderungen in Eigenkapital notwendigen Sachkapitalerhöhung rechtfertigen. Die hohen rechtlichen Anforderungen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung in materieller Hinsicht an den Bezugsrechtsausschluss stellt und die den Gerichten Wertungsspielräume eröffnen, die eine Prognose der Prozessaussichten erschweren, führen jedoch bei dem Weg der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss zu nicht unerheblichen Anfechtungsrisiken. Diese werden durch die formellen Anforderungen an den Inhalt des Vorstandsberichts weiter erhöht. Zudem besteht die Gefahr einer Anfechtung des Kapitalerhöhungsbeschlusses analog § 255 Abs. 2 AktG, wenn die eingebrachten Forderungen überbewertet sind. Aus diesen Anfechtungsrisiken können sich Transaktionsunsicherheiten ergeben, die den Sanierungserfolg des Debt Equity Swap gefährden können. Vor diesem Hintergrund erscheint es für die Gesellschaft nicht nur empfehlenswert, sondern mit Blick auf die Anforderungen der Erforderlichkeit und der Angemessenheit des Bezugsrechtsauschlusses unter Umständen sogar rechtlich geboten, sich im Rahmen des Debt Equity Swap mit den nachfolgend dargestellten Gestaltungsalternativen auseinanderzusetzen. 2. Kombinierte Sach- und Barkapitalerhöhung (gemischte Kapitalerhöhung) Um die dargelegten Anfechtungsrisiken auszuschließen oder zumindest zu reduzieren, wurde bereits unmittelbar nach der „Kali+Salz“ Entscheidung des BGH als Alternative zur Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss die kombinierte Sach- und Barkapitalerhöhung (sog. gemischte Kapitalerhöhung) entwickelt62. Heute unterscheidet man bei der Verbindung von Sach- und Barkapitalerhöhung herkömmlicherweise zwei Varianten: eine Kapitalerhöhung in zwei Beschlüssen mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss (a.) und eine Kapitalerhöhung in einem einzigen einheitlichen Beschluss ohne Bezugsrechtsausschluss (b.). a) Gemischte Kapitalerhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss Auf Lutter geht die Anregung zurück, Bar- und Sachkapitalerhöhung im Wege einer doppelten Beschlussfassung in der Weise zu kombinieren, dass zum einen eine Barkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss für den Sacheinleger erfolgt, zum anderen eine Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss für die übrigen Aktionäre63. Es müssen also zwei getrennte Kapital-

__________ 61 BGHZ 164, 249, 255 („Mangusta/Commerzbank II“). 62 Lutter, ZGR 1979, 401, 406 f. (Besprechung des Kali+Salz-Urteils). 63 Lutter, ZGR 1979, 401, 406 f.

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erhöhungsbeschlüsse gefasst werden, die aber inhaltlich miteinander verknüpft und aufeinander bezogen sind. Zwar wird bei diesem Modell die materielle Beschlusskontrolle durch die Gerichte nicht vermieden. Der Bezugsrechtsausschluss muss vielmehr sowohl mit Blick auf die Bar- als auch auf die Sachkapitalerhöhungskomponente im Interesse der Gesellschaft sachlich gerechtfertigt sein. Dieses Erfordernis wird jedoch regelmäßig als erfüllt anzusehen sein, da die mit dem Debt Equity Swap bezweckte Sanierung im Interesse der Gesellschaft liegt und die Aktionäre, die von der Sachkapitalerhöhung ausgeschlossen sind, ihre relative Stimmrechtsmacht im Rahmen der Barkapitalerhöhung wahren können64. Der gekreuzte Bezugsrechtsausschluss wirft daher weder unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit noch der Angemessenheit rechtliche Probleme auf. Die Anfechtungsrisiken werden damit gegenüber einer isolierten Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss deutlich reduziert. Das Berichtserfordernis gegenüber der Hauptversammlung des § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG bleibt zwar bestehen. Der Vorstand wird sich in seinem Bericht im Hinblick auf die sachliche Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschluss aber im wesentlichen darauf beschränken können, das Interesse der Gesellschaft am Debt Equity Swap darzulegen. Gegebenfalls ist noch darauf einzugehen, warum andere Sanierungsmöglichkeiten nicht in Betracht kommen bzw. nicht in gleicher Weise im Gesellschaftsinteresse liegen. Die verbleibenden Anfechtungsrisiken beschränken sich daher bei der kombinierten Bar- und Sachkapitalerhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss in erster Linie auf eine Anfechtung der Beschlussfassung wegen Überbewertung der Sacheinlage nach § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG und wegen einer Verletzung des aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (§ 53a AktG). Die Frage, warum dem/den Investor(en) gestattet wird, ihre/seine Einlageleistung durch die Einbringung von Forderungen im Wege einer Sacheinlage zu erbringen, während die übrigen Aktionäre auf die Barkapitalerhöhung verwiesen werden, stellt sich hier in gleicher Weise wie bei der kombinierten Bar- und Sachkapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss65. b) Gemischte Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss Alternativ zur einer parallelen Bar- und Sachkapitalerhöhung mit gekreuzten Bezugsrechtsausschluss kommt in Betracht, die Bar- und Sachkapitalerhöhung in einem einheitlichen Beschluss zusammenzufassen66. Die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Gestaltung ist zwischenzeitlich zumindest in der obergerichtliche Rechtsprechung, wenn auch noch nicht höchstrichterlich anerkannt67. Der Einheitlichkeit des Kapitalerhöhungsvorgangs steht insbe-

__________

64 OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1993 f.; Aha, BB 2001, 2225, 2226; Lappe, BB 2000, 313, 315. 65 Vgl. dazu ausführlich unter b) am Ende. 66 Hirte, Bezugsrechtsauschluss und Konzernbildung, 1986, S. 81; Groß, AG 1993, 449, 453 f.; Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 121; Lappe, BB 2000, 313, 316. 67 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2001, 200; OLG Jena, ZIP 2006, 1989.

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sondere nicht die Aufteilung in eine Bar- und Sachkapitalerhöhungstranche entgegen68. Denn eine Kapitalerhöhung begründet zunächst immer eine Pflicht zur Bareinlage. § 183 AktG gestattet dem Inferenten bei einer Sachkapitalerhöhung lediglich, die Bareinlage im Sinne einer Leistung an Erfüllung statt nach § 364 BGB durch eine Sacheinlage zu ersetzen. Dabei wird die Bareinlagepflicht nicht beseitigt, sondern nur verdrängt69. Werden im Rahmen der Kapitalerhöhung die besonderen für Sacheinlagen geltenden Vorschriften (§ 183 AktG) nicht beachtet, wird die Sacheinlage nicht erbracht oder ist sie nicht werthaltig, besteht die Bareinlagepflicht weiter fort. Teilweise wird die gemischte Kapitalerhöhung daher in der Praxis auch so ausgestaltet, dass eine Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen beschlossen wird, wobei bestimmten Aktionären gestattet wird, für alle oder einen Teil der von ihnen ausgeübten Bezugsrechte die Bareinlage durch die im Rahmen des Debt Equity Swap umzuwandelnden Forderungen als Sacheinlage zu ersetzen70. Im Hinblick auf letztere sind wiederum die für Sachkapitalerhöhungen geltenden Sondervorschriften einzuhalten. Ein zentraler Vorteil dieser Gestaltungsvariante gegenüber einer Bar- und Sachkapitalerhöhung in zwei Beschlüssen mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss wird darin gesehen, dass bei einem solchen einheitlichen Kapitalerhöhungsvorgang kein Bezugsrechtsausschluss erforderlich ist und der Kapitalerhöhungsbeschluss daher keiner gerichtlichen Inhaltskontrolle unterworfen ist71. Indes stellt – wie oben dargestellt – auch bei der in zwei Beschlüsse aufgeteilten Barund Sachkapitalerhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss die sachliche Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschluss regelmäßig keine wesentliche rechtliche Schwierigkeit mehr dar, so dass die Erleichterung für die Beratungspraxis bei dieser Gestaltungsvariante in erster Linie in der nicht bestehenden Berichtspflicht des Vorstands liegen dürfte. Umgekehrt erscheint schwer vorstellbar, dass – wenn der gekreuzte Bezugsrechtsausschluss der Inhaltskontrolle unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit und Angemessenheit ausnahmsweise nicht standhalten sollte – dasselbe Ergebnis allein dadurch erreicht werden können soll, dass Bar- und Sachkapitalerhöhung in einem Beschluss zusammengefasst werden. Es stellt sich daher die Frage, ob die Zusammenfassung von Bar- und Sachkapitalerhöhung in einem Beschluss darüber hinaus Vorteile bietet. Mitunter wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass bei einer gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss – anders als bei einer Erhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss – eine Anfechtung analog § 255 Abs. 2 AktG wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen

__________ 68 Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 121; Lappe, BB 2000, 313, 316. 69 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 183 AktG Rz. 4; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 7; Lutter in FS Stiefel, 1987, S. 505, 510. 70 So etwa im Fall des KG, ZIP 2010, 1849, 1851. 71 Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 183; Groß, AG 1993, 449, 453 f.; Aha, BB 2001, 2225, 2227; Lappe, BB 2000, 313, 314 f.; wohl eher ablehnend Pfeiffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 90.

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ausscheide72. Auch die instanzgerichtliche Rechtsprechung hat sich dieser Sichtweise teilweise angeschlossen73. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass der Anwendungsbereich der Norm nicht eröffnet sei, da das Bezugsrecht bei dieser Gestaltung nicht ausgeschlossen werde und § 255 Abs. 2 AktG tatbestandlich einen Bezugsrechtausschluss voraussetze. Zudem wird darauf verwiesen, dass die übrigen Aktionäre, wenn sich nachträglich eine Überbewertung der Sacheinlage herausstelle, hinreichend durch die verschuldensunabhängige Differenzhaftung geschützt seien. Diese Auffassung wurde jedoch vom OLG Jena in jüngerer Zeit in Zweifel gezogen74. Der Senat verweist in seiner im Freigabeverfahren ergangenen Entscheidung darauf, dass der Normzweck des § 255 Abs. 2 AktG auf den Schutz des Aktionärs vor einer vermögensmäßigen Entwertung seiner Beteiligung gerichtet sei. Bei einer gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung, die im Rahmen einer einheitlichen Beschlussfassung erfolgt, bestehe jedoch ein ähnliches Verwässerungsrisiko wie im Falle einer doppelten Beschlussfassung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss75. Daher „neigt“ der Senat dazu, § 255 Abs. 2 AktG auch auf diese Gestaltung analog anzuwenden, da der Rechtsschutz der Aktionäre, die zu einer Bareinlageleistung verpflichtet sind, durch die im Aktiengesetz nicht ausdrücklich geregelte gemischte Bar- und Sachkapitalerhöhung (ohne Bezugsrechtsauschluss) nicht verkürzt werden dürfe. Als nicht durchschlagend sieht der Senat schließlich auch das Argument an, dass den Sacheinleger im Falle der Überwertung der Sacheinlage eine Differenzhaftung treffe, da eine solche auch bei der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss eingreife, ohne dass deshalb dort die Anfechtungsmöglichkeit analog § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG in Zweifel gezogen würde76. In der Tat ist nicht so recht einsichtig, warum ein unterschiedlicher Rechtsschutz gelten soll, je nachdem, ob ein oder zwei Kapitalerhöhungsbeschlüsse gleichen Inhalts gefasst werden77. Vor diesem Hintergrund wird die Beratungspraxis bis zu einer gegenteiligen höchstrichterlichen Entscheidung nicht davon ausgehen können, dass sich im Rahmen des Debt Equity Swap das Risiko einer Anfechtung nach § 255 Abs. 2 AktG wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen durch die Zusammenfassung der gemischten Kapitalerhöhung in einer einheitlichen Beschlussfassung ausschließen lässt. Schließlich kann sich bei der Durchführung des Debt Equity Swap im Wege einer kombinierten Bar- und Sachkapitalerhöhung die Frage stellen, ob der Umstand, dass nur ein Teil der Aktionäre zur Sachkapitalerhöhung zugelassen wird, einen Verstoß gegen das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot des § 53a AktG darstellt. So hat vor kurzem das Kammergericht in einem Frei-

__________ 72 Vgl. Groß, AG 1993, 449, 454; Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 122 Fn. 25; Aha, BB 2001, 2225, 2227; Lappe, BB 2000, 313, 315. 73 So noch die Vorinstanz des OLG Jena, wiedergegeben in OLG Jena, ZIP 2006, 1993. 74 OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1994 f. 75 OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1994. 76 OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1995. 77 Ebenfalls zustimmend Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 186 AktG Rz. 90.

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gabeverfahren eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes darin gesehen, dass im Rahmen der Kapitalerhöhung nur den beiden größten Aktionären gestattet wurde, nach ihrer Wahl für alle oder einen Teil der jeweils von ihnen ausgeübten Bezugsrechte die Bareinlage durch eine Sacheinlage in Form von Darlehensrückzahlungsansprüchen zu ersetzen78. Anderen Aktionären wurde eine entsprechende Ersetzungsbefugnis verweigert, obwohl sie in dem der Entscheidung zugrundeliegeden Fall einen entsprechenden Antrag gestellt hatten79. Da es sich bei den im Rahmen des Debt Equity Swap eingebrachten Forderungen nicht um ein originär eigenes Darlehen der begünstigten Aktionäre, sondern teilweise um erworbene Forderungen handelte, vermochte das Gericht keinen anerkennenswerten Grund für die Privilegierung der beiden Großaktionäre erkennen80. Den sich daraus ergebenden Rechtsverstoß sah der Senat sogar als so gravierend, dass er trotz des von ihm ausdrücklich festgestellten überwiegenden Interesses der Gesellschaft an der alsbaldigen Umsetzung der Kapitalerhöhung die Freigabe ihrer Eintragung verweigerte81. Ausdrücklich spricht das Gericht davon, dass die Gesellschaft „ein überragendes wirtschaftliches Interesse“ an der alsbaldigen Umsetzung des Sanierungskonzeptes hatte, „um ihre finanzielle Notlage zu beheben und eine drohende Insolvenz dauerhaft abzuwenden“. Dem stünden „keine beachtenswerten wirtschaftlichen Interessen“ der nicht zur Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage zugelassenen Aktionäre gegenüber, die nicht gegebenenfalls durch Schadensersatz nach § 246 Abs. 4 AktG ausgeglichen werden könnten82. Angesichts dieses Befundes überrascht die vergleichsweise kurze Begründung des Gerichts zur Verletzung des aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Wenn das Sanierungsinteresse der Gesellschaft im Einzelfall sogar geeignet ist, den vollständigen Ausschluss des Bezugsrechts zu rechtfertigen, so muss es erst recht auch einen tauglichen Differenzierungsgrund im Sinne von § 53a AktG83 dafür bilden können, warum einzelnen Aktionären im Rahmen des Debt Equity Swap die Umwandlung ihrer Forderungen im Wege der Sachkapitalerhöhung gestattet, während den übrigen Aktionären die Aufrechterhaltung ihrer Beteiligungsquote nur durch Bareinlage ermöglicht wird84. Dies gilt entgegen der Begründung des Kammergerichts grundsätzlich auch dann, wenn die als Sacheinlage eingebrachten Forderungen zuvor von Dritten erworben wurden. Der mit dem Debt Equity Swap verfolgte Sanierungszweck bildet

__________ 78 KG, ZIP 2010, 1849 ff. 79 KG, ZIP 2010, 1849, 1852. 80 KG, ZIP 2010, 1849, 1852. Soweit es sich bei den eingebrachten Forderungen um ein eigenes Darlehen des zur Sachkapitalerhöhung zugelassenen Aktionärs handelte, ließ der Senat die Freigabe der Eintragung am eigenkapitalersetzenden Charakter des Darlehens scheitern; vgl. dazu kritisch auch Burg/Marx, EWiR § 53a AktG 1/10, 627 f. 81 KG, ZIP 2010, 1849, 1850 f. 82 KG, ZIP 2010, 1849, 1850. 83 Vgl. zu den Voraussetzungen einer sachlichen Differenzierung Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 53a AktG Rz. 10; Fleischer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 53a AktG Rz. 35; Bungeroth in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 53a AktG Rz. 15. 84 Ebenfalls kritisch Burg/Marx, EWiR § 53a AktG 1/10, 627 f.

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daher regelmäßig die sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung der Aktionäre im Rahmen der gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung. Dass das Kammergericht in dem von ihm zu beurteilenden Fall zu einem anderen Ergebnis kam, dürfte an den Besonderheiten des konkreten Einzelfalles gelegen haben. Die Begründung des Urteils legt nahe, dass der Senat davon ausging, dass das Sanierungskonzept so ausgestaltet hätte werden können, dass nicht nur die beiden Großaktionäre, sondern auch noch andere Aktionäre anteilig die von Dritter Seite erworbenen Forderungen hätten erwerben und dann im Rahmen der Kapitalerhöhung als Sacheinlage in die Gesellschaft einbringen können. Ob dies in dem konkret entschiedenen Fall so gewesen ist, lässt sich anhand des in der veröffentlichten Entscheidung mitgeteilten Sachverhalts nicht wirklich nachvollziehen. Damit wirft das Urteil des Kammergerichts letztlich die Frage auf, ob den übrigen Aktionären im Hinblick auf das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot nach § 53a AktG beim Debt Equity Swap nicht nur die Möglichkeit eingeräumt werden muss, ihre Beteiligungsquote durch Ausübung ihres Bezugsrechts im Wege einer Bareinlage aufrecht zu erhalten, sondern ihnen ebenso wie dem/den Investor(en) die Erbringung der Einlage durch Forderungen gegen die Gesellschaft als Sacheinlage gestattet werden muss. Dies wird man grundsätzlich verneinen müssen, da ein auf einem Debt Equity Swap basierendes Sanierungskonzept insbesondere bei Publikumsgesellschaften im Regelfall nicht dadurch verwirklicht werden kann, dass sich auch die übrigen Aktionäre am Forderungskauf und der nachfolgenden Umwandlung der Forderungen in Eigenkapital beteiligen. Dies scheitert bereits daran, dass das Sanierungskonzept in aller Regel nicht mit sämtlichen Gesellschaftern abgestimmt werden kann und viele der übrigen Aktionäre weder Willens noch in der Lage sein werden, in einer Krisensituation Forderungen gegen das Unternehmen aufzukaufen und in Eigenkapital umzuwandeln. Zudem müssen im Sachkapitalerhöhungsbeschluss die Person des bzw. der Inferenten und die eingebrachten Forderungen exakt bezeichnet werden (§ 183 Abs. 1 AktG). In Aktiengesellschaften mit geschlossenem Gesellschafterkreis oder wenn – wie im Fall des Kammergerichts – mehrere Aktionäre mit ähnlich großen Aktienpaketen an der Gesellschaft beteiligt sind, von denen nur bestimmte zur Sachkapitalerhöhung zugelassen werden85, mag es Fallkonstellationen geben, in denen das Sanierungskonzept auch unter Einbeziehung aller Gesellschafter bzw. sämtlicher investitionsbereiter Großaktionäre realisiert werden kann. Ein solches alternatives Sanierungskonzept müsste indes von denjenigen Aktionären dargelegt und im Streitfall bewiesen werden, die sich bei einem im Wege einer gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung durchgeführten Debt Equity Swap auf eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes berufen. Zwar liegt die Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die sachliche

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85 Im Fall des Kammergerichts waren neben den zur Sachkapitalerhöhung zugelassenen Aktionären, die mit ca. 10 % bzw. ca. 20 % an der Gesellschaft beteiligt waren, weitere Aktionäre mit größeren Aktienpaketen von bis zu 4 % an der Gesellschaft beteiligt.

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Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bei der Gesellschaft86. Dieser kommt die Gesellschaft grundsätzlich damit nach, indem sie das Interesse der Gesellschaft am Debt Equity Swap und die Eignung ihres Sanierungskonzeptes darlegt und beweist. Gelingt ihr dieser Nachweis muss der Aktionär im Sinne einer sekundären Beweislast darlegen, dass es auch ein anderes ebenso effektives Sanierungskonzept gegeben hätte, das ihm ebenfalls die Einbringung von Forderungen gegen die Gesellschaft im Wege einer Sacheinlage gestattet hätte87. Allein der Antrag, an der durchgeführten Sachkapitalerhöhung beteiligt zu werden, genügt insoweit nicht. Auch die Banken und die übrigen an dem Sanierungskonzept beteiligten Personen müssten bereit sein, das Sanierungskonzept unter Einbeziehung der übrigen Gesellschafter mit zu tragen, da ansonsten der Sanierungserfolg gefährdet werden könnte. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden: Die Gestaltung einer kombinierten Bar- und Sachkapitalerhöhung reduziert die Anfechtungsrisiken der Sachkapitalerhöhung im Rahmen des Debt Equity Swap im Vergleich zur herkömmlichen Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss erheblich. Dies gilt gleichermaßen für die kombinierte Bar- und Sachkapitalerhöhung mit gekreuzten Bezugsrechtsausschluss wie für die gemischte Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss. Bei letzterer findet mangels Bezugsrechtsausschluss überhaupt keine materielle Inhaltskontrolle des Beschlusses mehr statt. Bei der gemischten Kapitalerhöhung mit doppeltem Bezugsrechtsausschluss bestehen an der sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschluss grundsätzlich keine Zweifel mehr, da die übrigen Aktionäre die Möglichkeit haben, ihre Beteiligungsquote im Rahmen der parallel beschlossenen Barkapitalerhöhung aufrecht zu erhalten. Der Vorteil einer gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung ohne doppelten Bezugsrechtsausschluss besteht daher im Wesentlichen darin, dass der zur Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschluss erforderliche Vorstandsbericht entfällt. Die Anfechtungsrisiken beschränken sich bei der gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung auf die Anfechtung wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen analog § 255 Abs. 2 AktG sowie die Anfechtung wegen einer Verletzung des Gleichbehandlungsgebots nach § 53a AktG, wobei der Sanierungszweck regelmäßig einen tauglichen Differenzierungsgrund für die Aufteilung in eine Sachkapitalerhöhung für den/die Investor(en) und eine Barkapitalerhöhung für die übrigen Aktionäre bildet. 3. Barkapitalerhöhung mit anschließender Sachkapitalerhöhung bei Nichtausübung des Bezugsrechts Der Weg einer parallel zur Sachkapitalerhöhung beschlossenen Barkapitalerhöhung stellt beim Debt Equity Swap allerdings nur dann eine taugliche Gestaltungsalternative zur Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss dar, wenn der bzw. die Investor(en) vor der Sachkapitalerhöhung bereits in sig-

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86 Vgl. statt aller Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 53a AktG. 87 Zur sekundären Beweislast vgl. Saenger, 4. Aufl. 2011, § 286 ZPO Rz. 91 m. N. zur Rechtsprechung.

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nifikantem Umfang an der Gesellschaft beteiligt sind88. Besitzt der Investor vor dem Debt Equity Swap noch keine Aktien der Gesellschaft, ist eine parallele Barkapitalerhöhung zur Aufrechterhaltung der Beteiligungsquote der Altaktionäre bereits denklogisch ausgeschlossen89. Besteht nur eine geringe Beteiligung der Investoren, würde sich für die parallel zur Sachkapitalerhöhung durchgeführte Barkapitalerhöhung ein überproportional hoher Kapitalerhöhungsbetrag ergeben, der von den Altaktionären zum Großteil mangels Bezugsbereitschaft nicht gezeichnet würde. Dem kann theoretisch zwar durch die grundsätzlich zulässige Ausgestaltung als sog. „bis zu“ Kapitalerhöhung, im Rahmen derer nur der Höchstbetrag, bis zu dem das Grundkapital der Gesellschaft durch die Kapitalerhöhung erhöht werden kann, angegeben wird, Rechnung getragen werden. Allerdings können sich dann wiederum wegen des unverhältnismäßig hohen Kapitalerhöhungsbetrags, der bei der Barkapitalerhöhung zur Aufrechterhaltung der Beteiligungsquote erforderlich sein kann, Probleme des faktischen Bezugsrechtsausschlusses stellen90. Zudem wäre es auch dem Marktumfeld in einer Krisensituation des Unternehmens nur schwer vermittelbar, wenn die zu Sanierungszwecken durchgeführte Kapitalerhöhung nur zu einem sehr geringen Teil gezeichnet würde. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, wurde von Martin Winter eine in der Literatur bisher kaum diskutierte Gestaltungsvariante entwickelt91. Bei dieser Gestaltung werden Bar- und Sachkapitalerhöhung in der Weise kombiniert, dass die Barkapitalerhöhung der Sachkapitalerhöhung vorgeschaltet wird. Im Rahmen der Barkapitalerhöhung wird zunächst allen Aktionären ein Bezugsrecht eingeräumt. Dies geschieht allerdings mit der Maßgabe, dass – soweit die Aktionäre ihr Bezugsrecht nicht oder nicht vollständig ausüben – die nicht gezeichneten Aktien dem bzw. den Investor(en) zum Bezug angeboten werden, die dann die im Vorfeld des Debt Equity Swap erworbenen Forderungen als Sacheinlage einbringen können. Diese Lösung macht sich den Umstand zunutze, dass die Aktionäre in einer Krisensituation in der Regel nicht bereit sein werden, der Gesellschaft weiteres (Eigen-)kapital zur Verfügung zu stellen, und deshalb ihr Bezugsrecht nicht ausüben werden. Üben sie ihr Bezugsrecht – wider Erwarten – dennoch aus, stellt dies für den/die Investor(en) regelmäßig auch kein wesentliches Problem dar, da die der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Barmittel dazu führen, dass die von ihnen zuvor mit teilweise erheb-

__________ 88 So wurde der Weg einer gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung etwa bei der Lufthansa Kapitalerhöhung im Jahr 1987 gewählt, im Rahmen derer der Bund als Mehrheitsaktionär Forderungen in Höhe von 312 Mio. DM gegen neue Aktien in die Gesellschaft einbrachte vgl. BAnz 1987, 6378. Auch in den Fällen des OLG Jena, ZIP 2006, 1989 und des KG, ZIP 2010, 1849 erfolgte die Einbringung der Forderungen als Sacheinlage durch den Mehrheits- bzw. Großaktionär(e) der Gesellschaft. 89 Auf diese Problematik hinweisend auch Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 122. 90 Vgl. zum faktischen Bezugsrechtsausschluss Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1994, § 186 AktG Rz. 87; Groß, AG 1993, 49, 454 f. 91 Vgl. aber nunmehr Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 35; ansatzweise auch schon Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 122 f.

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lichen Abschlägen erworbenen Forderungen wieder werthaltig werden bzw. mit den Mitteln aus der Barkapitalerhöhung zurückgeführt werden können92. Ebenso wie bei der gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung stellt sich bei dieser Konstruktion die Frage, ob es hinsichtlich der nachgeschalteten Sachkapitalerhöhung noch eines formellen Bezugsrechtsausschlusses bedarf93. Da es dem bzw. den Investor(en) nur insoweit gestattet wird, seine/ihre Einlageverpflichtung durch die Einbringung von Forderungen gegen die Gesellschaft als Sacheinlage zu erbringen, wie die Altaktionäre ihr Bezugsrecht im Rahmen der Barkapitalerhöhung nicht ausüben, spricht nichts dagegen, die in dieser Weise kombinierte Bar- und Sachkapitalerhöhung als einheitlichen Kapitalerhöhungsvorgang auszugestalten94. In diesem Fall bedarf es keines formellen Bezugsrechtsausschlusses mehr. Aber auch wenn man sich im Rahmen der Ausgestaltung der nachgeschalteten Sachkapitalerhöhung für einen formellen Bezugsrechtsausschluss entscheidet, ergeben sich mit Blick auf die sachliche Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses wie bei der kombinierten Barund Sachkapitalerhöhung mit gekreuztem Bezugsrechtsausschluss keine relevanten Anfechtungsrisiken mehr. Da die (Alt-)Aktionäre im Rahmen der vorgeschalteten Barkapitalerhöhung Gelegenheit hatten, ihre Beteiligungsquote aufrechtzuerhalten, wird man den Bezugsrechtsausschluss im Rahmen der nachfolgenden Sachkapitalerhöhung als zur Erreichung des Sanierungszwecks erforderlich und angemessen ansehen können95. Damit beschränken sich die Anfechtungsrisiken bei dieser Gestaltungsvariante im Wesentlichen auf die Anfechtung wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen analog § 255 Abs. 2 AktG. Auch eine Verletzung des aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgebots (§ 53a AktG) liegt regelmäßig nicht vor, da der Sanierungszweck die sachliche Rechtfertigung dafür bildet, dass im Rahmen der nachgeschalteten Sachkapitalerhöhung nur der/die Investor(en) zur Einbringung der von ihnen erworbenen Forderungen gegen Sacheinlage zugelassen werden. Insoweit kann auf die Ausführungen zur gemischten Bar- und Sachkapitalerhöhung verwiesen werden (vgl. dazu unter 2. a. E.). Der einzige Nachteil dieser Gestaltungsvariante besteht darin, dass dem bzw. den Investor(en) anders als bei der Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss eine bestimmte Beteiligungsquote an der Gesellschaft nach Durchführung des Debt Equity Swap nicht sicher garantiert werden kann. Dies kann für Investoren mit Blick auf den von ihnen in der Regel gewünschten Einfluss auf den weiteren Sanierungskurs der Gesellschaft von Bedeutung sein, wenn sie sicherstellen wollen, dass sie nach der Durchführung der Sachkapitalerhöhung bestimmte Beteiligungsschwellen (25 %, 50 %, 75 % oder 95 %) überschreiten. Die damit verbundenen Risiken sind angesichts der in Krisensituationen

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92 Eine verschleierte Sacheinlage liegt nicht vor, da die Mittel aus der Barkapitalerhöhung in der Regel nicht von dem/den Investor(en) stammen. 93 Für einen solchen Bezugsrechtsausschluss wohl Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 35. 94 So erfolgte die Ausgestaltung auch bei der BVB Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA, vgl. https://www.ebundesanzeiger.de (17.8.2006). 95 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 35.

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regelmäßig fehlenden Bereitschaft der Aktionäre, der Gesellschaft weiteres Eigenkapital zur Verfügung zu stellen, zumeist überschaubar. Gegebenenfalls können die für die Überschreitung der vom Investor angestrebten Beteiligungsschwelle erforderlichen Aktien am Markt zugekauft oder die Bereitschaft der wichtigsten Aktionäre zur Bezugsrechtsausübung bei der vorgeschalteten Barkapitalerhöhung im Vorfeld abgeklärt werden96.

V. Ergebnis Als Fazit der vorstehenden Untersuchung kann festgehalten werden: Zwar kann der mit dem Debt Equity Swap regelmäßig verfolgte Sanierungszweck im Einzelfall geeignet sein, einen Bezugsrechtsausschluss im Rahmen der zur Umwandlung der erworbenen Forderungen in Aktien der Gesellschaft erforderlichen Sachkapitalerhöhung zu rechtfertigen. Der Beratungspraxis stehen jedoch Gestaltungsalternativen zur Verfügung, die mit erheblich geringeren Anfechtungsrisiken verbunden sind. Dies gilt sowohl für die kombinierte Barund Sachkapitalerhöhung als auch für die von Martin Winter entwickelte Gestaltung einer Barkapitalerhöhung mit nachgeschalteter Sachkapitalerhöhung bei Nichtausübung des Bezugsrechts. Diese Gestaltungsvarianten vermeiden insbesondere die Anfechtungsrisiken, die sich aus den hohen materiellen Anforderungen der Rechtsprechung an den Ausschluss des Bezugsrechts ergeben. Sich mit diesen Gestaltungen zumindest auseinanderzusetzen, empfiehlt sich bereits mit Blick auf die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit des Bezugsrechtsausschlusses. Bei einer Kombination von Bar- und Sachkapitalerhöhung liegt regelmäßig auch kein Verstoß gegen das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot (§ 53a AktG) vor, da der mit dem Debt Equity Swap verfolgte Sanierungszweck einen tauglichen Differenzierungsgrund bildet, um zu rechtfertigen, warum nur dem bzw. den Investor(en) die Erbringung seiner/ihrer Einlageleistung gegen die erworbenen Forderungen gestattet wird. Das Risiko einer Anfechtung wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen analog § 255 Abs. 2 AktG kann auf Basis des derzeitigen Standes der Rechtsprechung indes beim Debt Equity Swap selbst dann nicht ausgeschlossen werden, wenn eine Gestaltung ohne Bezugsrechtsausschluss gewählt wird.

__________ 96 Zu den möglichen Maßnahmen vgl. auch Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 122 f.

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Zur Bindung der Organmitglieder an die Kodex-Erklärung nach § 161 AktG Inhaltsübersicht I. Sachverhalt und Fragestellung

III. Fazit

II. Rechtliche Erörterung

I. Sachverhalt und Fragestellung In den Erklärungen der Vorstände und Aufsichtsräte nach § 161 AktG heißt es üblicherweise: „Vorstand und Aufsichtsrat der X-AG sind den Empfehlungen des Deutscher Corporate Governance Kodex gefolgt und werden ihnen folgen.“

Nun haben die Fälle Kirch/Deutsche Bank1 und Umschreibestopp2 gezeigt, dass es bei vielen Empfehlungen des Kodex gar nicht um die Organe Vorstand und Aufsichtsrat geht, sondern um deren einzelne Mitglieder. Diese erklären, dass sie Interessenkonflikte bekanntgeben werden3; die Vorstandsmitglieder erklären, dass sie nicht mehr als drei externe Aufsichtsrats-Sitze annehmen werden4, die Aufsichtsratsmitglieder, dass sie genügend Zeit für die Wahrnehmung ihres Mandats zur Verfügung stellen5. Was gilt dann aber, wenn einzelne der angesprochenen Mitglieder ihre Zusagen nicht einhalten? Sicher ist, dass die im Internet der Gesellschaft veröffentlichte Erklärung nach § 161 AktG jetzt falsch ist. Und falsche Erklärungen dürfen nicht stehen bleiben, müssen berichtigt werden6. Geschieht das nicht, können die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat nicht entlastet werden7. Das ist unangenehm genug. Aber hat es damit sein Bewenden? Immerhin haben die betreffenden Mitglieder doch die fragliche Erklärung abgegeben und ihrer Veröffentlichung zugestimmt. Können sie daraus nicht in Anspruch genommen werden?

__________ 1 2 3 4 5 6

BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460. BGH v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, BGHZ 182, 272 = ZIP 2009, 2051. Ziff. 4.3.4 und 5.5.2 des Kodex. Ziff. 5.4.5 Satz 2 des Kodex. Ziff. 5.4.5 Satz 1 des Kodex. BGH (Fn. 1); a. A. Ederle, NZG 2010, 655 ff. – zu Unrecht, da das Gesetz selbstverständlich eine dauerhaft wahre Erklärung verlangt. 7 BGH (Fn. 1 und 2); a. A. Leuering, DStR 2010, 2255 ff. – zu Unrecht, da § 30g WpHG nicht analog anwendbar ist.

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II. Rechtliche Erörterung Hier gilt es zu unterscheiden: 1. In manchen Gesellschaften werden die Empfehlungen des Kodex ganz oder teilweise in die gesellschaftsintern geltenden Regeln aufgenommen, sei es in die Anstellungsverträge der Vorstandsmitglieder, sei es in die Geschäftsordnungen von Vorstand und Aufsichtsrat8, sei es, soweit möglich, in die Satzung der Gesellschaft9. Im ersteren Fall sind die Vorstandsmitglieder der Gesellschaft gegenüber vertraglich gebunden. Diese kann von ihnen die Einhaltung der Empfehlungen verlangen, widrigenfalls aber die Bestellung zum Vorstandsmitglied aus wichtigem Grund – Vertragsbruch – widerrufen, § 84 Abs. 3 AktG, und den Anstellungsvertrag mit sofortiger Wirkung kündigen, § 626 BGB10. 2. Dasselbe gilt bei Aufnahme der Empfehlung in die Satzung. Sie ist das Grundgesetz der Gesellschaft, an das alle Mitglieder sowie alle Organe und Organmitglieder gebunden sind11. Fraglich aber könnte sein, ob Gleiches gilt, wenn die Empfehlungen in die Geschäftsordnungen von Vorstand bzw. Aufsichtsrat aufgenommen worden sind. Tatsächlich haben Geschäftsordnungen, die vom zuständigen Organ erlassen worden sind, normativen Charakter so, wie wenn sie Teil der Satzung wären12. Hat also der Aufsichtsrat dem Vorstand eine Geschäftsordnung gegeben und darin verfügt, dass der Vorstand und seine Mitglieder die Empfehlungen des Kodex einzuhalten haben, so sind alle Vorstandsmitglieder von Rechts wegen daran gebunden, § 77 Abs. 2 Satz 2 AktG. Ein Widerrufsrecht steht ihnen jetzt nicht mehr zu. Hält sich ein Mitglied nicht daran, gilt das Gleiche wie bei der Einbeziehung des Kodex in den Anstellungsvertrag: die Gesellschaft kann auf Einhaltung bestehen oder den Betreffenden aus wichtigem Grund abberufen und sein Vertragsverhältnis mit sofortiger Wirkung beenden, § 84 Abs. 3 AktG, § 626 BGB. Und das Gleiche gilt, wenn sich der Vorstand oder der Aufsichtsrat selbst eine Geschäftsordnung mit entsprechendem Inhalt gegeben haben, § 77 Abs. 2 AktG, § 108 Abs. 4 AktG13.

__________ 8 Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1542 ff.; Semler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl., § 161 Rz. 98 ff. 9 Vgl. Lutter, ZHR 166 (2002), 523, 538; Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 70. 10 Näher dazu Berg/Stöcker, WM 2002, 1569, 1575; Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/ v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 464, 1622; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 93 Rz. 31 f.; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 84 Rz. 157. 11 Vgl. Dauner-Lieb in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 2 Rz. 16; Limmer in Spindler/Stilz (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 23 Rz. 3. 12 Happ in Happ (Hrsg.), Aktienrecht, 3. Aufl., Ziff. 8.01 Rz. 3; Hefermehl/Spindler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl., § 77 Rz. 48 (in der 3. Aufl. nicht mehr enthalten); Richter in Semler/Peltzer (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, § 4 Rz. 90. 13 Zur Geschäftsordnung des Aufsichtsrats vgl. Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl., Rz. 652 f. und Ziff. 5.1.3 des Kodex und dazu Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 955.

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3. Natürlich kann eine solche Geschäftsordnung nach den gleichen Regeln wie ihr Erlass auch geändert werden. Geschieht das im hier angesprochenen Bereich, bestimmt also die geänderte Geschäftsordnung für den Vorstand, dass Ziff. 5.4.5 Satz 2 des Kodex über die Grenze von drei externen AufsichtsratsSitzen von den Vorstandsmitgliedern künftig nicht mehr eingehalten werden muss, so sind diese frei; soll von dieser Freiheit Gebrauch gemacht werden, müssen Vorstand und Aufsichtsrat zunächst ihre Erklärung nach § 161 AktG ändern, widrigenfalls sie nicht entlastet werden können14. Ja, man könnte darüber nachdenken, ob ohne Änderung auch der Wahlbeschluss bezüglich des 4. Aufsichtsrats-Sitzes anfechtbar ist, war der Betreffende doch nach der publizierten Erklärung „gesperrt“15. 4. Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, wenn – wie üblich – intern nur der – notwendig einmütige16 – Beschluss von Vorstand und Aufsichtsrat über die Einhaltung des Kodex und extern die Erklärung nach § 161 AktG vorliegt. Einmütig muss der Beschluss des Vorstands per se sein, § 77 AktG17, während der Aufsichtsrat an sich mit Mehrheit beschließen kann, § 108 AktG18. Da sich die Kodex-Bestimmungen aber teilweise an die Aufsichtsratsmitglieder persönlich wenden, ist deren individuelle Zustimmung erforderlich19. Das lässt sich am einfachsten in einem einmütigen Beschluss verwirklichen, der zugleich die individuelle Zustimmung aller Aufsichtsratsmitglieder enthält. Wird diese Einmütigkeit nicht erreicht oder ist der Aufsichtsrat nicht vollständig versammelt, muss die individuelle Zustimmung nachgeholt werden20. Für den Widerruf aber gilt hier, dass Vorstand, Aufsichtsrat und jedes einzelne Mitglied jederzeit widerrufen können21. Dennoch muss man auf dem Hintergrund des soeben Gesagten unterscheiden22. a) Die meisten Kodex-Empfehlungen richten sich an das Organ, sei es Vorstand oder Aufsichtsrat. Wenn der Kodex sagt, „Der Vorstand soll bei der Besetzung von Führungsfunktionen im Unternehmen auf Vielfalt (Diversity) achten …“ (Ziff. 4.1.5), dann ist Adressat dieser Empfehlung das Organ Vorstand. Und wenn der Kodex sagt, „Der Aufsichtsrat soll einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) einrichten …“ (Ziff. 5.3.2), dann ist damit der Aufsichtsrat als Organ angesprochen. Haben Vorstand und Aufsichtsrat diese

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14 S. oben Fn. 1 und Fn. 2. 15 Vgl. LG Hannover v. 17.3.2010 – 23 O 124/09, BB 2010, 2264 mit Anm. Lutter. 16 Dazu Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 41; Seibt, AG 2002, 249, 253; a. A. Spindler in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 161 Rz. 23. 17 Hüffer, AktG, § 77 Rz. 6 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 77 Rz. 11 f. 18 Hüffer, AktG, § 108 Rz. 6 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 108 Rz. 20. 19 Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 26. 20 Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 27. 21 Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 36; Spindler in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 161 Rz. 16; v. Werder in FS Hopt, S. 1475 unter Hinweis auf den dadurch eingeschränkten Informationsgehalt des prospektiven Erklärungsteils für Aktionäre und andere Stakeholder. 22 Die hier folgende wichtige Unterscheidung findet sich bisher in der Literatur nicht.

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Empfehlungen akzeptiert und nach § 161 AktG verlautbart, dann sind das Organ und jedes Organmitglied gebunden. Soll die Bindung beseitigt werden, muss das Organ nach seinen Regeln einen Gegenbeschluss fassen und diesen nach § 161 AktG verlautbaren. Das einzelne Organmitglied kann sich aus seiner Bindung an einen solchen Beschluss nur auf diesem Wege eines OrganGegenbeschlusses befreien; erklärt es allein und ohne Organbeschluss, es fühle sich nicht mehr gebunden, dann verstößt es gegen seine Pflichten aus §§ 93, 116 AktG und kann nach § 84 Abs. 3 AktG abberufen und sein Anstellungsvertrag kann nach § 626 BGB mit sofortiger Wirkung gekündigt werden23. b) Ganz anders ist die Rechtslage, wenn sich die Empfehlung an das einzelne Organmitglied wendet. Sagt der Kodex etwa: „Jedes Vorstandsmitglied soll Interessenkonflikte dem Aufsichtsrat gegenüber unverzüglich offenlegen …“ (Ziff. 4.3.4) oder formuliert er in Ziff. 4.3.5, dass „Vorstandsmitglieder Nebentätigkeiten, insbesondere Aufsichtsratsmandate außerhalb des Unternehmens, nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats übernehmen sollen“, so ist Adressat jeder dieser Empfehlungen jedes einzelne Vorstandsmitglied. Das Gleiche gilt, wenn der Kodex in Ziff. 5.5.2 formuliert: „Jedes Aufsichtsratsmitglied soll Interessenkonflikte … dem Aufsichtsrat gegenüber offenlegen.“ Angesprochen ist hier jedes Aufsichtsratsmitglied einzeln. Und weil das so ist, muss diesen Empfehlungen jedes einzelne Mitglied des betreffenden Organs zustimmen, soll die Erklärung nach § 161 AktG abgegeben werden können24. Hier haben die Organe Vorstand und Aufsichtsrat nichts zu beschließen, es geht um die Zustimmung des einzelnen Mitglieds25. Und weil das so ist, kann hier jedes einzelne Mitglied seine Zustimmung zur Empfehlung jederzeit widerrufen26 und von den Organen Vorstand und Aufsichtsrat eine entsprechende Gegenerklärung nach § 161 AktG verlangen. Will also ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied Interessenkonflikte nicht mehr dem Gesamtaufsichtsrat offenlegen, wie das der Kodex in Ziff. 5.5.2 empfiehlt, so genügt eine entsprechende Erklärung des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden, der dann den Vorstand unterrichtet und gemeinsam mit ihm für die notwendige Gegenerklärung nach § 161 AktG sorgt. Handelt es sich also um Empfehlungen an die einzelnen Mitglieder, so können diese ihre Kodex-Erklärung jederzeit widerrufen27. Dann kann hier allein aus

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23 Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1572; Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 76. 24 Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 26; Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/ v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1532. 25 Wird dennoch – wie üblich – einheitlich beschlossen, so liegt die Zustimmung des einzelnen Mitglieds in seiner positiven Mitwirkung am Beschluss. Und war es bei der Beschlussfassung nicht anwesend, muss seine Zustimmung nachträglich eingeholt werden. Zum Ganzen vgl. Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 27; Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1532. 26 Spindler in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 161 Rz. 16; Sester in Spindler/Stilz (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl.§ 161 Rz. 46. 27 Vgl. bereits oben Fn. 26.

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Zur Bindung der Organmitglieder an die Kodex-Erklärung nach § 161 AktG

der ursprünglichen Erklärung keine dauernde Rechtspflicht erwachsen. Jedes Mitglied ist zwar bis zum Widerruf an seine individuelle Erklärung gebunden; aber das nützt der Gesellschaft nichts. Denn wenn sie zugreifen will, erfolgt der Widerruf des betreffenden Mitglieds. Ja, mehr noch: dieser Widerruf liegt bereits konkludent in der Verletzung der Empfehlung. Nimmt das Vorstandsmitglied das vierte externe Aufsichtsratsmandat an, so liegt darin zugleich sein Widerruf der bislang positiven Erklärung nach Ziff. 5.4.5 des Kodex. Es kann vor einer förmlichen Veröffentlichung dieses Widerrufs zwar nicht entlastet werden, aber gebunden ist es intern, also der Gesellschaft gegenüber nicht mehr – soweit das nur den anderen Vorstandsmitgliedern oder dem Aufsichtsrat oder jedenfalls seinem Vorsitzenden bekannt geworden ist. c) Allerdings: Auch hier entsteht die Frage, ob in dieser Situation – keine publizierte Berichtigung – der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats der vierten Gesellschaft nichtig und der Wahlbeschluss ihrer Hauptversammlung anfechtbar ist28. 5. Bisher wurde davon ausgegangen, dass die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, die weder durch ihren Anstellungsvertrag noch durch ihre Geschäftsordnung gebunden sind, ihre individuelle Kodex-Erklärung jederzeit widerrufen können mit der Folge, dass dann Vorstand und Aufsichtsrat zu einem entsprechenden Berichtigungsbeschluss und einer Berichtigungs-Erklärung verpflichtet sind29. Das kann zu ausgesprochen negativer Publizität über die betreffende Gesellschaft führen. Andererseits sind alle Organmitglieder ihrer Gesellschaft gegenüber zu Treue verpflichtet30. Und das bedeutet mindestens, dass sie verpflichtet sind, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden und Schäden der Gesellschaft zu vermeiden31. Ist das einzelne Mitglied also aus Treupflicht gehalten, von einer Änderung seiner bisherigen Aussage abzusehen? Der Gedanke ist ausgesprochen naheliegend und würde zu gleichen rechtlichen Ergebnissen führen, wie wenn die Kodex-Bestimmung in die betreffende Geschäftsordnung aufgenommen worden wäre. Dennoch sollte man den Gedanken nicht weiter verfolgen. Der Kodex ist ausdrücklich als freie Entscheidung der Organe Vorstand und Aufsichtsrat und ihrer Mitglieder angetreten32. Durch Vertrag und satzungsähnliche Geschäfts-

__________ 28 LG Hannover (Fn. 15); zustimmend Lutter, Anm. zu LG Hannover, BB 2010, 2264, 2268; ablehnend Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1980. 29 BGH (Fn. 1 und 2); vgl. im Übrigen Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 161 Rz. 76; Spindler in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 161 Rz. 43. 30 Unstr., vgl. (für den Vorstand) Hüffer, AktG, § 84 Rz. 9; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 76 Rz. 14; Fleischer in Spindler/Stilz (Hrsg.), Komm. AktG, 2.Aufl., § 93 Rz. 113; (für den Aufsichtsrat) Hüffer, AktG, § 116 Rz. 4; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 116 Rz. 43; Spindler in Spindler/Stilz (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 116 Rz. 56. 31 Vgl. nur Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 93 Rz. 92; Habersack, in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 116 Rz. 46. 32 Vgl. § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG und dazu Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kodex-Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 46 ff.

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ordnungen kann diese Freiheit beseitigt werden. Die Treupflicht aber ist eine gesetzliche Pflicht, die in der Organstellung wurzelt33. Sie stünde mithin im Widerspruch zur gesetzlichen Freiheit des § 161 AktG. Und da muss dieser als der spezielleren Aussage der Vorrang eingeräumt werden.

III. Fazit Will die Gesellschaft also solche möglicherweise unangenehmen Entwicklungen vermeiden, so muss sie die Empfehlungen des Kodex in die Geschäftsordnungen ihrer Organe Vorstand und Aufsichtsrat aufnehmen und damit die Freiheit beseitigen, die das Gesetz (§ 161 AktG) den Organen Vorstand und Aufsichtsrat und ihren Mitgliedern gibt.

__________ 33 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 93 Rz. 113 ff.; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Komm. AktG, 2. Aufl., § 93 Rz. 16; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 93 Rz. 92; Hüffer, AktG, § 84 Rz. 9.

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Haftung für spaltungsbedingte Schulden Inhaltsübersicht I. Einführung II. Betroffene Falltypen 1. Verpflichtung aus dem Spaltungsvertrag 2. Gesellschafterrechte 3. Sonderrechte 4. Anspruch auf Sicherheitsleistung 5. Sonstige Gläubigerrechte 6. Schadensersatzpflichten III. Spaltungsbedingte Steuerpflichten 1. Ertragsteuern

2. Verkehrsteuern 3. Maßgebender Zeitpunkt IV. Steuer- und umwandlungsrechtliche Zuordnung 1. Problem 2. Analoge Anwendung des § 133 UmwG? 3. Rückwirkung 4. Folgefragen 5. Enthaftung V. Ergebnisse

I. Einführung Die Haftungsverhältnisse aufgrund einer Spaltung sind in § 133 UmwG geregelt: Für die vor der Spaltung begründeten Schulden haften die an der Spaltung beteiligten Rechtsträger fünf Jahre lang in der gesetzlichen Formulierung als Gesamtschuldner. Ob es sich hierbei wirklich um eine Gesamtschuld oder um eine Schuld desjenigen handelt, der nach dem Spaltungsplan die Schuld allein tragen soll, (der deshalb üblicherweise als „Hauptschuldner“1 bezeichnet wird) und einer akzessorischen Haftung der anderen (die in derselben Terminologie als „Mithafter“ bezeichnet werden), spielt für die folgenden Überlegungen keine Rolle2. Eine Verbindlichkeit ist „vor dem Wirksamwerden der Spaltung begründet“, wenn ihr Rechtsgrund in der Zeit vor dem Wirksamwerden liegt3. Die Spaltung wird wirksam mit Eintragung im Register des Sitzes des übertragenden Rechtsträgers, die erst nach der (mit einem sog. Spaltungsvermerk zu versehenden) Eintragung im Register des oder der übernehmenden Rechtsträger erfolgen darf4.

__________ 1 Begriff von Karsten Schmidt, ZGR 1993, 366, 286. 2 Für Gesamtschuld z. B. Maier-Reimer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 133 UmwG Rz. 29 ff.; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 5. Aufl. 2009, § 133 UmwG Rz. 2 ff.; ausf. Maier-Reimer/Gesell in FS Horn, 2006, S. 455 ff.; die von Habersack in FS Bezzenberger, 2000, S. 93 ff. begründete Gegenmeinung hat mittlerweile zahlreiche Anhänger gefunden, s. nur Schwab in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 133 UmwG Rz. 21 ff. 3 Maier-Reimer (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 12 ff.; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 133 UmwG Rz. 22 ff. 4 § 130 UmwG.

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Wie aber sind die Haftungsverhältnisse für Verbindlichkeiten, deren Rechtsgrund gerade in der Spaltung liegt und die deshalb erst mit dem Wirksamwerden der Spaltung, d. h. der Eintragung im Register des übertragenden Rechtsträgers begründet werden? Es gibt verschiedene Arten von Verpflichtungen, die gerade durch die Spaltung begründet werden (nachstehend II.), die also nach dem Wortlaut nicht unter den § 133 UmwG fallen. Einzelne Typen dieser Verbindlichkeiten sind ausdrücklich in § 133 UmwG geregelt, andere aber nicht. Der – soweit ersichtlich – bisher nicht behandelten Frage nach der Haftung für solche Verbindlichkeiten soll in diesen dem Andenken von Martin Winter gewidmeten Zeilen nachgegangen werden.

II. Betroffene Falltypen 1. Verpflichtung aus dem Spaltungsvertrag Das Umwandlungsgesetz enthält eine ausdrückliche Vorschrift für Ansprüche, die sich aus der Verschmelzung selbst ergeben5. Das sind außer den im Gesetz an erster Stelle genannten Schadensersatzpflichten6 Ansprüche, die sich „nach den allgemeinen Vorschriften aufgrund der Verschmelzung ergeben“. Darunter fallen nach h. M. auch Ansprüche auf Erfüllung des Verschmelzungsvertrages oder wegen seiner Nicht-Erfüllung7. Die Regelung in § 25 Abs. 2 UmwG – die auch für die Spaltung gilt8 – trifft eine Regelung allerdings nur in der Weise, dass für solche Ansprüche der übertragende Rechtsträger als fortbestehend gilt und Forderungen und Verbindlichkeiten „insoweit“, also wegen solcher Ansprüche, sich nicht durch die Verschmelzung vereinigen, und demgemäß von der Gesamtrechtsnachfolge ausgenommen sind9. Die hier gestellte Frage nach der Haftung betrifft nur den Fall von Verpflichtungen des übertragenden Rechtsträgers. Für diese Haftung hilft (außer zur Erhaltung von Aufrechnungslagen10) die Fiktion des Fortbestehens des übertragenden Rechtsträgers den Gläubigern nicht. Denn diese Fiktion ändert nichts daran, dass durch die Verschmelzung das gesamte Vermögen auf den übertragenden Rechtsträger übergegangen ist11, der als fortbestehend fingierte übertragende Rechtsträger also kein Vermögen hat, mit welchem er Verbindlichkeiten befriedigen könnte12. Für den vorliegenden Zusammenhang interessiert hiervon nur die Haftung für Verpflichtungen des übertragenden Rechtsträgers, die sich gerade aus der Verschmelzung ergeben. Hierzu wird bei § 25 UmwG unterstellt, dass diese Haf-

__________

5 § 25 Abs. 2 UmwG. 6 § 25 Abs. 2 Satz 1 erste Variante i. V. m. Abs. 1 UmwG. 7 OLG Frankfurt, ZIP 2007, 331; Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 25 UmwG Rz. 23; Simon (Fn. 3), § 25 UmwG Rz. 45; Blasche/Söntgerath, BB 2009, 1432, 1434. 8 § 125 UmwG. 9 Grunewald (Fn. 7), § 25 UmwG Rz. 32; Müller in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 25 UmwG Rz. 16, 19. 10 Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 25 UmwG Rz. 29; Grunewald (Fn. 7), § 25 UmwG Rz. 26. 11 § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. 12 Kübler (Fn. 10), § 25 UmwG Rz. 28; Grunewald (Fn. 7), § 25 UmwG Rz. 28.

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tung den übernehmenden Rechtsträger aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge treffe13. Für die Spaltungshaftung ist dann jedoch zu differenzieren. Verpflichtungen des übertragenden Rechtsträgers aus dem Spaltungsvertrag können sinnvollerweise nicht auf denjenigen übergehen, dem gegenüber sie übernommen werden, sondern müssen entweder beim abspaltenden Rechtsträger verbleiben oder im Falle der Aufspaltung auf andere Beteiligte übergehen. Schadensersatzpflichten aus der Spaltung sind gesondert zu betrachten14. 2. Gesellschafterrechte Eine Gruppe von Verpflichtungen, die durch die Spaltung begründet werden, beruht auf der Gesellschafterstellung des Rechtsinhabers. Dafür kommen drei Arten von Rechten in Betracht: – Im Spaltungsplan/Spaltungsvertrag bereits vorgesehene Barausgleichszahlungen15 – Ansprüche auf bare Zuzahlung aufgrund eines Spruchverfahrens16 – Ansprüche auf Zahlung einer Abfindung17 oder deren spätere Erhöhung in einem Spruchverfahren18 Die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs können außer hinsichtlich des Abfindungsanspruchs wegen anderer Rechtsform praktisch nur bei der Spaltung zur Aufnahme oder der nicht verhältniswahrenden Spaltung vorliegen. Da letztere nur mit Zustimmung aller Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers zulässig ist19, entschärfen sich die Fragen der Haftung für solche Verpflichtungen. Im Vordergrund stehen deshalb Fälle der Spaltung zur Aufnahme. Da diese immer einen Spaltungsvertrag voraussetzt, wird im Folgenden zur terminologischen Vereinfachung nur vom Spaltungsvertrag und nicht auch vom Spaltungsplan gesprochen. Anders als bei dem Anspruch auf Sicherheitsleistung20 findet sich in der Kommentarliteratur, soweit ersichtlich, keine ausdrückliche Bemerkung, dass § 133 UmwG nur für Gläubigerrechte, nicht aber für Gesellschafterrechte gilt. Hiervon ist jedoch auszugehen. Die Verpflichtung zur Leistung von Barzahlungen kann in den genannten Fällen nur den übernehmenden Rechtsträger treffen. Das sei stichwortartig an einigen Bespielen erläutert: a) Erfordert die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses bei der Spaltung eine bare Zuzahlung, so kann deren Zweck nur durch die Zahlung des übernehmenden Rechtsträgers erreicht werden. Eine Zahlung durch den über-

__________ 13 Simon (Fn. 3), § 25 UmwG Rz. 47; Kübler (Fn. 10), § 25 UmwG Rz. 28; Müller (Fn. 9), § 25 UmwG Rz. 18. 14 Dazu unten II. 6. 15 §§ 5 Abs. 1 Nr. 3, 54 Abs. 4, 68 Abs. 3, 87 Abs. 2 i. V. m. § 125 UmwG. 16 § 15 i. V. m. § 125 UmwG, § 1 Nr. 4 SpruchG. 17 § 29 i. V. m. § 125 UmwG. 18 § 34 i. V. m. § 125 UmwG, § 1 Nr. 4 SpruchG. 19 § 128 UmwG. 20 § 22 UmwG; s. etwa Müller (Fn. 13), § 22 UmwG Rz. 6.

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tragenden Rechtsträger würde die Unangemessenheit nicht beseitigen, sondern würde praktisch bedeuten, dass die Benachteiligten (aus der ihnen verbliebenen Gesellschaft) an sich selbst zahlen. Das gilt unabhängig davon, ob die Zuzahlung von vornherein im Spaltungsvertrag vorgesehen oder erst in der Folge eines Spruchverfahrens zu leisten ist. b) Im Falle der nicht verhältniswahrenden Spaltung ist denkbar, dass einem der übernehmenden Rechtsträger so viel Vermögen zugewiesen wird, dass es zur Herstellung der Gleichwertigkeit einer Ausgleichszahlung an diejenigen Gesellschafter des übertragenden Rechtsträgers bedarf, die an diesem übernehmenden Rechtsträger nicht oder unterproportional beteiligt sind. Auch in diesem Fall kann der Sinn der Ausgleichszahlung nur durch eine Zahlung desjenigen Rechtsträgers erreicht werden, der relativ zu viel erhalten hat, also durch eine Zahlung des übernehmenden Rechtsträgers. c) Hat der übernehmende Rechtsträger eine andere Rechtsform als der übertragende, oder unterliegen die Beteiligungen an ihm Verfügungsbeschränkungen, so könnte der Zweck des Abfindungsangebots gemäß § 29 UmwG nur unvollkommen erreicht werden, wenn ein anderer beteiligter Rechtsträger, beispielsweise der Abspaltende, die Beteiligung an dem übernehmenden Rechtsträger anderer Rechtsform übernehmen müsste. Denn der Gesellschafter, der den Anspruch geltend macht, wäre dann über die Beteiligung an dem anderen Rechtsträger mittelbar wiederum an dem Unternehmen der anderen Rechtsform beteiligt – was er eben nicht will. d) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Zahlungsansprüche, die sich aus einer Spaltung für den Anteilsinhaber eines spaltenden Rechtsträgers ergeben und ihren Grund im Gesellschaftsverhältnis haben, richten sich nur gegen den jeweils übernehmenden Rechtsträger. Eine gesamtschuldnerische Haftung gemäß § 133 UmwG kommt nicht in Betracht. Bestehen von vornherein Zweifel daran, ob der Übernehmer finanziell oder rechtlich in der Lage ist, die Zahlungsansprüche zu erfüllen, so ist der Spaltungsbeschluss rechtswidrig und anfechtbar21. Ergäbe sich eine solche Lage durch eine nicht verhältniswahrende Spaltung, so kann jeder einzelne Anteilsinhaber des übertragenden/spaltenden Rechtsträgers den Eintritt der Lage schlicht dadurch verhindern, dass er gegen die Spaltung stimmt22. 3. Sonderrechte Zwischen Gläubigerrechten und Gesellschafterrechten stehen die für die Verschmelzung in § 23 UmwG geregelten Sonderrechte wie stimmrechtslose Aktien, Wandelschuldverschreibungen, Genussrechte. Deren Schicksal für den Fall der Spaltung ist ausdrücklich geregelt: gleichwertige Rechte können so-

__________ 21 So zu § 29 UmwG (in Zusammenhang mit einer Verschmelzung) Grunewald (Fn. 7), § 29 UmwG Rz. 24; Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 29 UmwG Rz. 27; Müller (Fn. 9), § 29 UmwG Rz. 22; hinsichtlich der Folgen eines Spruchverfahrens für den Fall der Verschmelzung Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 572 f. 22 § 128 UmwG.

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wohl beim übertragenden als auch bei einem der übernehmenden Rechtsträger eingeräumt werden23. Der Anspruch auf Einräumung gleichwertiger Rechte wird durch die Spaltung begründet. Für die Erfüllung der Verpflichtung zur Einräumung solcher gleichwertigen Rechte haften alle beteiligten Rechtsträger als Gesamtschuldner24. Diese gesamtschuldnerische Haftung gilt jedoch nicht für die Erfüllung der Ansprüche, die sich aus diesen Rechten ergeben. Bestehen jedoch Zweifel daran, ob derjenige Beteiligte, der diese Rechte einzuräumen hat, diese auch wird erfüllen können, so sind die Rechte nicht gleichwertig. Soweit die Rechte auch Bestandteile echter Gläubigerrechte aufweisen, ist das Gläubigerrecht, also etwa der reine Zahlungsanspruch aus einer Wandelschuldverschreibung, kein erst durch die Spaltung begründetes Recht. Für diesen Zahlungsanspruch sollte die gesamtschuldnerische Haftung gemäß § 133 UmwG ebenso gelten wie das Recht auf Sicherheitsleistung gemäß § 22 UmwG25. 4. Anspruch auf Sicherheitsleistung Eine weitere Kategorie von Ansprüchen, die durch die Spaltung begründet werden, liegt in dem Recht der Gläubiger, Sicherheitsleistung zu verlangen26. Auch dieser Anspruch ist in § 133 UmwG ausdrücklich geregelt: Zur Sicherheitsleistung ist nur derjenige Beteiligte verpflichtet „gegen den sich der Anspruch richtet“. Damit ist nach allgemeiner Meinung derjenige gemeint, dem die entsprechende Schuld zugewiesen ist, also der sog. Hauptschuldner27. Sieht man in dem Anspruch auf Sicherheit nicht ohnehin einen Annex des schon vor der Spaltung begründeten Anspruchs, so enthält das Umwandlungsgesetz insoweit eine ausdrückliche Regelung, die weitere Fragen nach der Haftung erübrigt. 5. Sonstige Gläubigerrechte Abgesehen von möglichen Schadensersatzpflichten (darüber sogleich) ist kaum vorstellbar, dass Rechtsverhältnisse so gestaltet sind, dass gerade und erst durch die Spaltung ein Anspruch begründet wird. Möglich ist, dass vorher begründete Ansprüche aufgrund entsprechender Bedingungen durch die Spaltung entstehen. Dann sind sie jedoch vor der Spaltung begründet, sodass bedenkenlos § 133 UmwG auf sie anwendbar ist. 6. Schadensersatzpflichten Eine Sonderstellung nehmen möglicherweise Schadensersatzpflichten ein, die durch die Spaltung entstehen.

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23 24 25 26 27

§ 133 Abs. 2 Satz 2 UmwG. § 133 Abs. 2 Satz 1 UmwG. Grunewald (Fn. 7), § 22 UmwG Rz. 6; s. auch Simon (Fn. 3), § 22 UmwG Rz. 13 f. § 22 i. V. m. § 125 UmwG. Wardenbach in Henssler/Strohn (Fn. 9), § 133 UmwG Rz. 13; Schwab (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 90.

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a) Verbindlichkeiten der Organmitglieder des übertragenden Rechtsträgers können infolge von Pflichtverletzungen bei der Spaltung entstehen28. Solche Pflichtverletzungen können zu Ansprüchen des übertragenden Rechtsträgers, seiner Anteilsinhaber oder Gläubiger führen. Der übertragende Rechtsträger selbst wird aus solchen Pflichtungen jedoch nicht verpflichtet, auch nicht über § 31 BGB. Denn der Haftungsgrund liegt in einer Verletzung der Verpflichtungen ihm gegenüber29. b) Möglich ist aber, dass der übertragende Rechtsträger – durch seine Organe – den übernehmenden Rechtsträger anlässlich der Spaltung getäuscht hat und dadurch aus c.i.c.30 oder deliktisch schadensersatzpflichtig wird. Das ergibt sich nicht aus § 25 UmwG, sondern aus den allgemeinen Vorschriften. Bei der Abspaltung steht dem übernehmenden Rechtsträger in diesem Fall unbedenklich der Schadensersatzanspruch gegen den übertragenden (spaltenden) Rechtsträger zu. Aber auch für die Aufspaltung stellt dieser Fall keine besonderen Probleme. Denn der Grund der Haftung – die Täuschung, das haftungsbegründende Verhalten – liegt notwendig vor dem Wirksamwerden der Spaltung. Zwar entsteht der Anspruch erst mit dem Schaden, d. h. mit der Spaltung; das ändert jedoch nichts daran, dass der Anspruch schon vor dem Wirksamwerden der Spaltung „begründet“ ist. § 133 UmwG ist deshalb unmittelbar anwendbar. Das gilt auch für einen Schadensersatzanspruch auf der Grundlage, dass eine Anfechtungsklage gegen den Spaltungsbeschluss nach einer Freigabe gemäß § 16 Abs. 3 UmwG Erfolg hat31. Denn auch dieser beruht darauf, dass die – der Eintragung der Spaltung notwendig vorausgehende – Freigabe erwirkt wurde.

III. Spaltungsbedingte Steuerpflichten Die mit dem Thema gestellte Frage nach der Haftung für spaltungsverursachte Verbindlichkeiten scheint nach dem Vorgesagten keinen Anwendungsbereich zu haben. Dieser Eindruck trügt jedoch. Der Anwendungsbereich liegt im Steuerrecht. 1. Ertragsteuern Eine Spaltung kann oft steuerneutral durchgeführt werden, aber nicht immer. Wenn das Objekt der Abspaltung oder der dem abspaltenden Unternehmen verbleibende Bereich oder der bei der Aufspaltung an einen Beteiligten übertragene Bereich sich nicht als Teilbetrieb im Sinne des Steuerrechts qualifiziert, werden durch die Spaltung steuerpflichtige Gewinne realisiert, indem stille Reserven gehoben werden32. Gleiches gilt, wenn in den ersten fünf

__________ 28 29 30 31 32

§ 25 Abs. 1 i. V. m. § 125 UmwG. Grunewald (Fn. 7), § 25 UmwG Rz. 6; Simon (Fn. 3), § 25 UmwG Rz. 5. Jetzt § 311 Abs. 2 BGB. § 16 Abs. 3 Satz 8 i. V. m. § 125 UmwG; dazu Grunewald (Fn. 7), § 25 UmwG Rz. 28. § 15 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 11 Abs. 1, 2 UmwStG.

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Jahren nach der Spaltung bei einem der beteiligten Unternehmen Anteile von mehr als 20 % der vor Wirksamwerden der Spaltung bestehenden Anteile veräußert werden33. In allen diesen Fällen liegt der Grund für die Steuerpflicht in der Spaltung und dieser Grund entsteht in dem Moment, in dem die Spaltung wirksam wird. Die Steuerpflicht ist also im allgemeinen Sinne des Wortes nicht „vor dem Wirksamwerden der Spaltung begründet“. Im Einzelnen: a) Die steuerliche Behandlung der Spaltung ist in § 15 UmwStG geregelt. Diese verweist grundsätzlich auf die §§ 11 bis 13 UmwStG, welche die steuerliche Behandlung der Verschmelzung zwischen Kapitalgesellschaften behandeln. Für alle übertragenden Umwandlungen (Verschmelzung und Spaltung) einer Kapitalgesellschaft gilt § 2 UmwStG. Danach ist „das Einkommen … der übertragenden Körperschaft sowie des übernehmenden Rechtsträgers … so zu ermitteln, als ob das Vermögen der Körperschaft mit Ablauf des Stichtags der Bilanz, die dem Vermögensübergang zugrunde liegt (steuerlicher Übertragungsstichtag) … auf den übernehmenden Rechtsträger übergegangen wäre“34. Wenn sich aus den Ansätzen in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft ein über dem bisherigen Buchwert liegender Wert ergibt, führt dies zu einem steuerpflichtigen Gewinn der übertragenden Körperschaft35. b) Die Steuerpflicht hinsichtlich dieses Gewinns entsteht nicht mit dem Übertragungsstichtag, sondern mit Ablauf des Veranlagungszeitraums, in den der Übertragungsstichtag fällt36. Dies kann ein Zeitpunkt vor dem Wirksamwerden der Verschmelzung oder Spaltung oder auch ein späterer sein. Für die zeitliche Abgrenzung der der Spaltungshaftung unterliegenden Steuerpflichten kommt es allerdings auf die Tatbestandsverwirklichung, nicht auf den Ablauf des Veranlagungszeitraums an37, denn mit der Verwirklichung des Tatbestands ist der Grund für die Steuer gelegt. Geht es um Steuern aufgrund der Spaltung, dann wird die Steuerpflicht jedoch erst mit der Spaltung begründet und nicht vor dieser. c) Die bei dem übertragenden Rechtsträger in dieser Weise ggf. ausgelöste Steuerpflicht hat bei der Verschmelzung im Ergebnis der übernehmende Rechtsträger zu tragen. Dies ergibt sich aus § 12 Abs. 3 UmwStG: „die übernehmende Körperschaft tritt in die steuerliche Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft ein“. Diese Regelung gilt bei der Auf- und Abspaltung entsprechend38. Aufgrund der ausdrücklichen Verweisung in § 15 Abs. 1 i. V. m. § 12 Abs. 3 UmwStG kommt es nicht darauf an, ob sich dasselbe bereits aus § 45 Abs. 1 AO ergibt, dem zufolge bei Gesamtrechtsnachfolge Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den

__________ 33 34 35 36 37 38

§ 15 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 UmwStG. § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwStG. Schießl in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 11 UmwStG Rz. 14, 32. § 30 Nr. 3 KStG, § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwStG. Hörtnagl (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 14. § 15 Abs. 1 Satz 1 UmwStG.

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Rechtsnachfolger übergehen, und ob die Abspaltung steuerrechtlich ein Fall der Gesamtrechtsnachfolge ist39. Da allerdings bei der Spaltung immer nur ein Teil des Vermögens auf einen der übernehmenden Rechtsträger übergeht40, soll dieser Eintritt jeweils nur hinsichtlich derjenigen Teile des Vermögens gelten, die dem einzelnen übernehmenden Rechtsträger übertragen werden41. Wenn dies nicht nur für Wertansätze, sondern auch für die auf der Spaltung beruhenden Ertragsteuern gilt, hätte es zur Folge, dass jeder übernehmende Rechtsträger für die Steuern verantwortlich ist, die sich aus einem höheren Ansatz der ihm übertragenen Vermögenswerte gegenüber den zuvor maßgeblichen steuerlichen Buchwerten ergeben. Dies wäre die rein steuerrechtliche Regelung, aus der sich aber nichts über die Mithaftung der anderen Beteiligten (entweder des abspaltenden oder anderer übernehmender Rechtsträger) ergäbe. Es müsste auch geklärt werden, ob mit dem Wort „eintreten“ im Falle der Abspaltung wegen des Fortbestandes des übertragenden Rechtsträgers ein gesetzlicher Schuldbeitritt oder eine (befreiende) Schuldübertragung gemeint ist. Selbst wenn es sich um einen gesetzlichen Schuldbeitritt handelte mit der Folge, dass der übertragende Rechtsträger weiterhin für diese in seiner Person begründete Steuerpflicht haftet, wäre damit jedenfalls über eine Mithaftung anderer Spaltungsbeteiligter, insbesondere im Falle der Aufspaltung, nichts gesagt. 2. Verkehrsteuern Die Spaltung kann nicht nur zur Hebung stiller Reserven und damit zu einer Ertragsteuerpflicht führen. Wenn durch die Spaltung Grundbesitz übertragen wird, löst sie auch Grunderwerbsteuer aus42. Diese Grunderwerbsteuerpflicht entsteht mit der Spaltung. Sie ist deshalb keine Altverbindlichkeit43. Primärschuldner der Grunderwerbsteuer ist der Erwerber. Insofern ist jedenfalls die Existenz eines Steuerschuldners gesichert. Auch der Veräußerer schuldet die Grunderwerbsteuer44. Bei der Abspaltung ist deshalb auch der übertragende Rechtsträger auf dieser Grundlage Steuerschuldner. Im Fall der Aufspaltung ist auch § 45 AO zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Vorschrift gehen bei der Gesamtrechtsnachfolge die „Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den Rechtsnachfolger über“. Bei einer partiellen oder gespaltenen Gesamtrechtsnachfolge, wie sie bei der Aufspaltung stattfindet, kann dies aber jeweils nur für den übertrage-

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39 Verneinend Buciek in Beermann/Gosch, Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung, § 45 AO Rz. 15; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung, § 45 AO Rz. 13; AEAO, zu § 45 Nr. 2 und zu § 122 Nr. 2.15. 40 Mit der Ausnahme der Totalausgliederung; dazu Stengel/Schwanna in Semler/ Stengel (Fn. 2), § 123 UmwG Rz. 17 sowie Boeker (Fn. 39), § 45 AO Rz. 13, dem ist hier nicht weiter nachzugehen. 41 Hörtnagl (Fn. 2), § 15 UmwStG Rz. 274 f. 42 § 1 Abs. 1 Nr. 3 GrErwStG; Pahlke in Pahlke/Franz, 4. Aufl. 2010, § 1 GrErwStG Rz. 168. 43 Vossius in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 133 UmwG Rz. 23. 44 § 13 Nr. 1 GrErwStG; Pahlke (Fn. 42), § 13 GrErwStG Rz. 17.

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nen Vermögensteil gelten45. Für die anderen übernehmenden Rechtsträger kommt § 45 AO deshalb nicht zur Anwendung. 3. Maßgebender Zeitpunkt Für Verpflichtungen anderer Art als solchen, die gerade durch die Spaltung begründet werden, wird der maßgebliche Zeitpunkt zur Abgrenzung der Anwendbarkeit des § 133 UmwG oft durch die Regelung in § 15 Abs. 1 HGB relativiert46. Danach kann eine im Handelsregister einzutragende Tatsache, solange sie nicht eingetragen und bekannt gemacht ist, einem Dritten nicht entgegengesetzt werden, es sei denn, dass sie diesem bekannt war. Wer mit einem Unternehmen kontrahiert, das bereits wesentliche Teile abgespalten hat, kann also den übernehmenden Rechtsträger aus der gesamtschuldnerischen Haftung gemäß § 133 UmwG in Anspruch nehmen, wenn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses (= Begründung der vertraglichen Rechte) die Spaltung noch nicht bekannt gemacht und ihm auch nicht bekannt war. Diese Regelung löst aber das Problem der Haftung für die spaltungsbedingten Steuerverbindlichkeiten nicht. Denn die Steuer ergibt sich gerade aus der Spaltung. Der Steueranspruch besteht nur, wenn der Steuerfiskus sein durch § 15 HGB gegebenes Wahlrecht47 dahin ausübt, sich auf den Schutz durch dessen Absatz 1 nicht zu berufen.

IV. Steuer- und umwandlungsrechtliche Zuordnung 1. Problem Die Situation erscheint perplex. Die Steuerpflicht entsteht durch die Spaltung. Im Falle der Aufspaltung hat derselbe Vorgang die Begründung der Steuerpflicht und den Untergang des Steuerpflichtigen zur Folge. Die Lage ist insofern jedoch nicht anders als bei der Verschmelzung. Hier geht die steuerrechtliche Behandlung mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass der übernehmende Rechtsträger Steuerschuldner auch der Steuern wird, die bei dem übertragenden Rechtsträger gerade durch die Verschmelzung entstehen. Das ist so selbstverständlich, dass es kaum thematisiert wird und auch nicht erörtert wird, ob sich dies aus § 12 Abs. 3 UmwStG oder aus § 45 AO ergibt. Im Unterschied zur Verschmelzung gibt es bei der Aufspaltung jedoch nicht nur einen Rechtsträger, den diese Verpflichtung treffen kann, sondern mehrere. Auch darin wird steuerrechtlich eine – wenn auch geteilte – Gesamtrechtsnachfolge gesehen48. Das muss dann auch für den Übergang der Schulden aus dem Steuer-

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45 S. Fn. 41. 46 Maier-Reimer (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 11; § 22 UmwG Rz. 12 f.; a. M. Simon (Fn. 3), § 133 UmwG Rz. 25; Hörtnagl (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 10. Diese Gegenmeinung verkennt, dass es nicht um die Auslegung des § 133 Abs. 1 UmwG geht, sondern um den durch § 15 Abs. 1 HGB gewährten Verkehrsschutz, der durch § 133 UmwG nicht verdrängt wird. 47 Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 15 HGB Rz. 6. 48 Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 15 UmwStG Rz. 912 ff.

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schuldverhältnis gemäß § 45 AO gelten. Daran würde sich die Frage anschließen, ob sich die Steuerpflicht für die durch die Spaltung begründeten Steuern objektbezogen wie oben skizziert in der Weise aufteilt, dass jeder übernehmende Rechtsträger Schuldner derjenigen Steuern wird, die sich aus dem höheren Ansatz der von ihm übernommenen Vermögenswerte ergibt. Bei der Abspaltung soll steuerrechtlich dagegen – abweichend von der gesellschaftsrechtlich angenommenen „partiellen“ Gesamtrechtsnachfolge – nicht von einer Gesamtrechtsnachfolge auszugehen sein, mit der Folge, dass die Steuerpflicht notwendig beim abspaltenden/übertragenden Rechtsträger bleiben und Steuerbescheide ihm gegenüber zu ergehen haben49. Die steuerliche Zuordnung der Steuerpflicht besagt noch nichts über deren umwandlungsrechtliche Zuordnung und die Enthaftung. Das Haftungsregime des § 133 UmwG gilt jedenfalls auch für Steuerpflichten, deren Grund vor der Spaltung liegt50. Deshalb stellt sich auch und gerade für die spaltungsverursachten Steuern die Frage nach den für sie geltenden Haftungsverhältnissen. 2. Analoge Anwendung des § 133 UmwG? Rein umwandlungsrechtlich ließe sich die Frage dadurch lösen, dass § 133 UmwG analog auf Verpflichtungen angewandt wird, deren Grund gerade in der Spaltung liegt. Eine solche Analogie erscheint jedoch zweifelhaft. Der Grund für die Regelung des § 133 UmwG, den Gläubigern ihr Haftungssubstrat zu erhalten51, trifft auf Verpflichtungen, die erst durch die Spaltung begründet werden, nicht zu. Demgemäß wird eine solche Analogie soweit ersichtlich bisher nicht vertreten und für den Fall der Grunderwerbsteuer implizit abgelehnt52. 3. Rückwirkung Die sachgerechte Lösung der umwandlungsrechtlichen Fragen ist aus der steuerlichen Rückbeziehung der durch die Spaltung entstehenden Ertragsteuern zu finden. Zwar ist für die zivilrechtliche Verantwortlichkeit nicht unbedingt die steuerrechtliche Stellung als Steuerschuldner maßgeblich53, jedoch kann die steuerrechtliche Regelung doch Hinweise ergeben. Danach besteht folgende Lage: Auch steuerrechtlich wird die hier interessierende Steuerpflicht erst durch die Spaltung begründet. Die Regelung, wonach das Einkommen und das Vermögen der übertragenden Körperschaft so zu ermitteln ist „als ob das Vermögen der Körperschaft mit Ablauf des (Übertragungsstichtages) … auf den übernehmenden Rechtsträger übergegangen wäre“ stellt sich nach dem Wortlaut nicht als

__________ 49 50 51 52 53

Widmann (Fn. 48), § 15 UmwStG Rz. 911. Widmann (Fn. 48), § 15 UmwStG Rz. 912 ff.; dazu noch unten IV. 5. S. nur Schwab (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 11 ff. Vossius (Fn. 43), § 133 UmwG Rz. 23. BGHZ 120, 50.

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Fiktion dar, dass dies tatsächlich so geschehen sei. Die Regelung wird in der steuerrechtlichen Literatur jedoch allenthalben als Fiktion verstanden54. Anders als sonst üblicherweise bei Fiktionen formuliert das Gesetz freilich nicht, dass das Vermögen für Zwecke der einschlägigen Steuern als mit Ablauf des steuerlichen Übertragungsstichtags auf den übernehmenden Rechtsträger übertragen gelte55. Die ausdrückliche Anordnung einer Rückwirkung56 kam für den Gesetzgeber schon deshalb nicht in Betracht, weil die Rückbeziehung nur steuerrechtlich und auch dort nur für bestimmte Steuerarten gelten soll. Vielmehr ist die Fiktion durch eine Modifikation der Rechtsfolgen geregelt: Der Sachverhalt ist so zu behandeln, als ob der Übergang mit Ablauf des Übertragungsstichtages erfolgt wäre. Das ist in der Sache ebenfalls eine Fiktion, wie denn auch die Regelung im steuerrechtlichen Schrifttum durchgehend als Fiktion der Rückwirkung verstanden wird57. Denn eine gesetzliche Fiktion bedeutet nicht die Annahme des Gesetzes, der fingierte Tatbestand sei real gegeben. Sie bedeutet vielmehr, dass die an den Tatbestand geknüpften Rechtsfolgen eintreten sollen, unabhängig davon, ob er real gegeben ist oder auch davon, dass er eindeutig nicht gegeben ist58. Diese steuerrechtliche Rückbeziehung betrifft nicht lediglich die Bemessung der durch die Verschmelzung/Spaltung verursachten Steuern. Sie gilt für die weitere steuerrechtliche Behandlung auch für den Fall, dass wegen Buchwertfortführung durch die Verschmelzung/Spaltung gar keine Ertragsteuern verursacht werden. Gewinne, die der übertragende Rechtsträger seit dem Übertragungsstichtag in dem übertragenen Geschäftsbereich erwirtschaftet hat, werden nicht mehr ihm, sondern dem übernehmenden Rechtsträger zugerechnet und können59 gegen die Verlustvorträge bei diesem verrechnet werden; umgekehrt können Verlustvorträge des übertragenden Rechtsträgers nicht mehr zur steuerlichen Neutralisierung dieser Gewinne verwendet werden. Da die Steuerfolgen so sind, als ob die Übertragung mit dem steuerlichen Übertragungsstichtag erfolgt wäre, wird tatsächlich die Übertragung zu diesem Zeitpunkt für Zwecke der Ertragsteuern fingiert. Von da aus bedarf es nur noch eines – im steuerrechtlichen Schrifttum offenbar als selbstverständlich unterstellten60 – kleinen Schrittes: Die Fiktion gilt nicht nur für die Berechnung des der Besteuerung zugrunde liegenden Ein-

__________ 54 Besonders deutlich Hörtnagl (Fn. 2), § 2 UmwStG Rz. 10; s. auch Dötsch in Dötsch/ Jost/Pung/Witt, § 2 UmwStG Rz. 3, 22; Widmann (Fn. 47), § 2 UmwStG Rz. 30; Slabon in Haritz/Menner, 3. Aufl. 2010, § 2 UmwStG Rz. 4 f. 55 So beispielsweise die Rückwirkungsfiktionen in §§ 389, 1953 BGB oder ähnlich in § 142 Abs. 1 BGB. 56 So beispielsweise in § 184 Abs. 1 oder § 375 BGB. 57 S. die Nachweise in Fn. 54. 58 Zum Wesen rechtlicher Fiktionen s. ausführlich Jhering Geist des römischen Rechts, Dritter Teil (Nachdruck 1954) § 58 S. 301 ff.; v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts Bd. II 1 (1914) S. 13, 423 f.; aus dem neueren Schrifttum: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 58; Coing in Staudinger, Bearb. 2004, Einleitung zum BGB Rz. 117. 59 Unter Berücksichtigung der Einschränkungen des § 2 Abs. 4 UmwStG. 60 S. die Ausführungen oben IV. 1.

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kommens und Vermögens, sondern auch für die sich aus der Fiktion ergebenden Steuern. Die steuerrechtliche Regelung verlegt deshalb durch Fiktion den Rechtsgrund für die Steuerpflicht auf den Ablauf des steuerlichen Übertragungsstichtags zurück. Das bedeutet für die umwandlungsrechtliche Behandlung, dass die durch diese fingierte Rückbeziehung der Übertragung entstehende Steuerpflicht gesellschaftsrechtlich als eine bereits vor der Spaltung begründete, wenn auch noch nicht entstandene Verbindlichkeit zu behandeln ist. Für die zivilrechtliche Behandlung ist die steuerliche Rückbeziehung der Spaltung als Rückverlegung des Steuergrundes anzusehen. Die in § 2 UmwStG angeordnete gesetzliche Fiktion ist bezüglich der Steuerarten, für die sie steuerrechtlich gilt, auch für das Zivilrecht anzunehmen. Damit sind die Voraussetzungen des § 133 UmwG erfüllt. 4. Folgefragen Wird die Anwendbarkeit des § 133 UmwG mit der Folge einer gesamtschuldnerischen Haftung auf diese Weise im Grundsatz geregelt, so ergeben sich daraus Folgefragen: a) Die eben ausgeführten Grundsätze sind gegenstandslos, wenn die Spaltung im Ergebnis steuerneutral ist und bleibt. Dann gibt es die Verbindlichkeiten, die uns bisher beschäftigt haben, nicht. b) Steht dagegen von vornherein fest, dass die Spaltung zu einer Gewinnrealisierung führt, weil die Voraussetzungen für die Steuerneutralität nicht vorliegen oder die Beteiligten bewusst einen Ansatz über den bisherigen Buchwerten wählen, so wird der Spaltungsvertrag die Verantwortung für die Steuer regeln. Für die Haftung der anderen gilt nach dem Vorgesagten § 133 UmwG. c) Gehen die Beteiligten davon aus, die Voraussetzungen der Steuerneutralität lägen vor, und erweist sich diese Annahme, z. B. mangels Teilbetriebsqualität des übertragenden oder des verbleibenden Geschäftsbereichs, als irrig, so entspricht die Lage derjenigen einer „vergessenen“ Schuld. „Hauptschuldner“ einer solchen ist im Fall der Abspaltung der übertragende Rechtsträger, bei der Aufspaltung i. d. R. jeder übernehmende Rechtsträger61. d) Wenn die Spaltungsbeteiligten von einer Steuerneutralität ausgingen und diese Steuerneutralität nachträglich deshalb wegfällt, weil die Gesellschafter einer an der Spaltung beteiligten Körperschaft innerhalb der nächsten fünf Jahre mehr als 20 % der Beteiligung veräußert haben62, hat der nachträgliche Wegfall der Steuerneutralität die Folge, dass auch die dadurch ausgelöste Steuer aus denselben Gründen wie in den anderen Fällen als vor der Spaltung begründet anzusehen ist. Deshalb ist im Verhältnis der Beteiligten dafür § 133 UmwG anwendbar. Wenn der Spaltungsvertrag eine auf-

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61 Schwab (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 87 f.; Maier-Reimer (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 37 f. 62 § 15 Abs. 2 Satz 2 bis 4 UmwStG.

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grund solcher Veränderungen entstehende Steuerpflicht einem Beteiligten zuweist, ist er hinsichtlich der dadurch entstehenden Steuer Hauptschuldner und die anderen sind sog. Mithafter. Enthält der Spaltungsvertrag eine solche Regelung nicht und geht er erkennbar davon aus, dass die Spaltung steuerneutral sei, so wird der Spaltungsvertrag ergänzend dahin auszulegen sein, dass die durch den Gesellschafterwechsel bei einem Beteiligten ausgelöste Steuer diesem beteiligten Rechtsträger zugewiesen ist. Finden innerhalb der Fünf-Jahresfrist dann auch noch bei anderen Beteiligten entsprechende Gesellschafterwechsel statt, so ist dies für sich allein kein hinreichender Grund, die Zuweisung der Schuld aufgrund der ersten Steuerverursachung zu revidieren. Denn der spätere Gesellschafterwechsel bei ihnen hat die Steuer nicht ausgelöst und löst keine weitere Steuer aus. Die gesamte Steuerpflicht war vielmehr bereits durch den Gesellschafterwechsel bei dem ersten beteiligten Rechtsträger entstanden. Überdies ist keineswegs sicher, dass der Gesellschafterwechsel bei dem anderen beteiligten Rechtsträger stattgefunden hätte, wenn nicht mit dem Gesellschafterwechsel bei dem ersten beteiligten Rechtsträger die Steuer bereits ausgelöst worden und damit das Kind in den Brunnen gefallen wäre. 5. Enthaftung Es bleibt schließlich die Frage der Enthaftung. Die Enthaftungsmöglichkeit nach § 133 UmwG gilt grundsätzlich auch für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen. Das folgt bereits aus der ausdrücklichen Regelung, dass der Erlass eines Verwaltungsakts die die Enthaftung verhindernde Feststellungswirkung hat63, und gilt auch für Steuerschulden64. Wenn also die Beteiligten die Steuerschuld einem anderen als demjenigen zuweisen, der steuerrechtlich als Steuerschuldner anzusehen wäre (also einem anderen als demjenigen, der die Vermögenswerte übernommen hat, bei denen Gewinne realisiert wurden), so wird nach dem Vorgesagten derjenige, der primär Steuerschuldner war, nach fünf Jahren enthaftet. Dies kann vor allem deshalb relevant werden, weil die Haltefrist zur Wahrung der Steuerneutralität fünf Jahre beträgt. Wenn der Gesellschafterwechsel erst kurz vor Ablauf der Fünf-Jahresfrist erfolgt, kann die Zeit für den zur Vermeidung der Enthaftung erforderlichen Verwaltungsakt knapp werden.

V. Ergebnisse 1. Spaltungsbedingte Schulden sind solche, deren Rechtsgrund in der Spaltung selbst liegt und erst mit Wirksamwerden der Spaltung entsteht. 2. Spaltungsbedingte Schulden haben ihre Wurzel entweder im Gesellschaftsverhältnis, oder sie sind in § 133 UmwG ausdrücklich geregelt. Eine Aus-

__________ 63 § 133 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 UmwG; dazu Schwab (Fn. 2), § 133 UmwG Rz. 119 ff. 64 Widmann (Fn. 48), § 15 UmwStG Rz. 913 f.

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nahme bilden lediglich spaltungsbedingte Steuerschulden, insbesondere aus der Hebung stiller Reserven durch die Spaltung. 3. Spaltungsbedingte Ertragsteuerschulden sind als Schulden zu behandeln, deren Rechtsgrund durch die steuerrechtliche Rückbeziehung auf den Ablauf des steuerlichen Übertragungsstichtages zurückverlegt ist und deshalb ebenfalls vor der Spaltung liegt. 4. Deshalb ist § 133 UmwG auf solche Steuerschulden anwendbar. Das gilt sowohl für die gesamtschuldnerische Haftung als auch für die Enthaftung nach fünf Jahren.

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Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien nach den Regeln des AktG oder des UmwG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien durch Satzungsänderung oder ähnliche Verfahren III. Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien im Rahmen einer Umwandlung 1. Verschmelzung durch Aufnahme a) Keine Pflicht zur Gewährung gattungsgleicher Anteile b) Kein Zustimmungserfordernis der nicht stimmberechtigten Aktionäre c) Schutz durch das Gebot der Gleichwertigkeit

d) Gesellschaftsrechtliche Treuepflicht e) Rechtsschutz 2. Verschmelzung zur Neugründung a) Verfahren der Verschmelzung b) Satzung der neuen Gesellschaft c) Rechtsschutz 3. Formwechsel a) Umwandlungsbeschluss b) Feststellung der neuen Satzung c) Identität der Beteiligungen d) Gleichwertigkeit der Beteiligungen e) Ausgleich durch bare Zuzahlung f) Rechtsschutz IV. Fazit

I. Einführung Es gibt eine Reihe von Aktiengesellschaften und KGaA, die nicht nur Stammaktien, sondern auch stimmrechtslose Vorzugsaktien ausgegeben haben1. Die Ausgabe neuer stimmrechtsloser Vorzugsaktien ist in den letzten Jahren allerdings zurückgegangen. Gleichzeitig hat es mehrere Gesellschaften gegeben, die ihre bisherigen Vorzugsaktien ohne Stimmrecht in stimmberechtigte Stammaktien umgewandelt haben. Eine solche Umwandlung kann, wie z. B. im Falle der Metro AG2, durch freiwilligen Umtausch im Rahmen einer Satzungsänderung erfolgen. Sie ist aber auch, wie das neuere Beispiel der Fresenius SE & Co. KGaA3 zeigt, im Rahmen eines Formwechsels nach dem UmwG möglich. Die in beiden Fällen erhobenen Anfechtungsklagen werfen die Frage auf, welcher Weg der Abschaffung stimmrechtsloser Vorzugsaktien aus der Sicht der Gesellschaft der günstigere, d. h. der Weg ist, der am ehesten einen erfolgreichen und rechtssicheren Umtausch möglichst aller Vorzugsaktien verspricht.

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1 Vgl. z. B. BMW AG, Henkel KGaA, MAN SE, Metro AG, VW AG, Hugo Boss AG, ProSiebenSat1. Media AG, Q-Cells SE. 2 S. dazu OLG Köln, AG 2002, 244 ff. 3 S. dazu die Presseerklärung der Fresenius SE & Co. KGaA, früher Fresenius SE, v. 28.1.2011 sowie den Freigabebeschluss des OLG Frankfurt v. 2.12.2010, veröffentlicht in BeckRS 2011, 16034.

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II. Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien durch Satzungsänderung oder ähnliche Verfahren Die Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien und ihre Umwandlung in Stammaktien kann nach den Regeln des AktG auf verschiedenen Wegen erreicht werden4. Der einfachste Weg besteht darin, dass die Hauptversammlung die Abschaffung des Vorzugs durch eine entsprechende Satzungsänderung beschließt (§ 179 Abs. 1 AktG) und die Vorzugsaktionäre dieser Satzungsänderung in einem Sonderbeschluss zustimmen (§ 141 Abs. 3 AktG). Ein Sonderbeschluss der Stammaktionäre gemäß § 179 Abs. 3 AktG ist, wenn diese die einzigen stimmberechtigten Aktionäre sind, entbehrlich. Die Stammaktionäre haben ihre Zustimmung schon mit dem Beschluss der Hauptversammlung erteilt5. Nur vereinzelt wird vertreten, dass auf einen Sonderbeschluss der Stammaktionäre wegen dessen Warnfunktion nicht verzichtet werden könne6. Aus praktischer Sicht stellt sich vor allem die Frage, ob die für diese Beschlüsse erforderlichen Mehrheiten auch tatsächlich erreicht werden können. In der Hauptversammlung müssen mindestens drei Viertel des vertretenen Grundkapitals für die Satzungsänderung stimmen, bei entsprechender Herabsetzungsklausel in der Satzung genügt die einfache Mehrheit des vertretenen Kapitals (§ 179 Abs. 2 Satz 2 AktG). Diese Mehrheit gilt auch für einen vorsorglich vorgesehenen Sonderbeschluss der Stammaktionäre (§ 179 Abs. 3 Satz 3 AktG)7. Der Erreichung dieser Mehrheit kann entgegenstehen, dass das Stimmrecht der bisherigen Stammaktionäre durch das neu hinzutretende Stimmrecht der ehemaligen Vorzugsaktionäre verwässert wird. Besteht das Grundkapital zur Hälfte aus stimmrechtslosen Vorzugsaktien, so reduziert sich das Stimmrecht der bisherigen Stammaktionäre durch die Umwandlung der Vorzugsaktien auf die Hälfte. Dieser Stimmrechtsverlust kann vor allem für solche Aktionäre inakzeptabel sein, die bisher über die Mehrheit der Stimmrechte oder eine Sperrminorität verfügen. Auf Seiten der Vorzugsaktionäre muss sich eine (zwingende) Mehrheit von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen für die Umwandlung der Vorzugsaktien aussprechen (§ 141 Abs. 3 Satz 2 AktG). Das Erreichen dieser Mehrheit erscheint weniger problematisch, da stimmberechtigte Stammaktien in der Regel als die attraktivere Aktiengattung angesehen werden.

__________ 4 Der Fall, dass die Inhaber stimmrechtsloser Vorzugsaktien diese jederzeit durch individuelle Erklärung in Stammaktien wandeln können, wird im Folgenden nicht erörtert. Solche wandelbaren Vorzugsaktien sind zwar zulässig (vgl. Habersack in FS Westermann, 2008, S. 913 ff.), aber selten, vgl. z. B. Q-Cells SE. 5 Senger/Vogelmann, AG 2002, 194, 195; Wirth/Arnold, ZGR 2002, 859, 868; Hüffer, AktG, 9. Aufl., § 179 Rz. 42, 45; Körber in Bürgers/Körber, AktG, § 179 Rz. 53; Stein in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 179 Rz. 181; Gätsch in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl., § 5 Rz. 55 Fn. 2. 6 So Zöllner in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 179 Rz. 183; ihm folgend Butzke in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl., § 6 Rz. 19, 39, und ders., Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl., L 48. 7 Einen Sonderbeschluss der Stammaktionäre zur Abschaffung der Vorzugsaktien hat z. B. die SAP AG unter TOP 9 ihrer Hauptversammlung 2001 vorgesehen.

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Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien

Ob die erforderlichen Mehrheiten erreicht werden können, hängt allerdings auch davon davon, ob die beiden Aktiengattungen börsennotiert sind und in welchem Verhältnis die Börsenkurse zueinander stehen. Sind nur die Vorzugsaktien notiert8, ist deren Umwandlung in Stammaktien nur dann erfolgreich, wenn sie mit einer Börsenzulassung der alten und neuen Stammaktien verbunden wird. Die Abschaffung der Vorzugsaktien kann dann für die Inhaber beider Aktiengattungen vorteilhaft sein: Die bisherigen Stammaktionäre sind nach der Umwandlung der Vorzüge zwar nicht mehr allein stimmberechtigt, ihre Aktien sind dafür aber handelbar. Die bisherigen Vorzugsaktionäre erhalten nicht nur Aktien mit Stimmrecht, sondern auch Aktien mit einer größeren Liquidität als bisher. Für beide Aktiengruppen kommt hinzu, dass die Bereinigung der Aktionärsstruktur den Kurs der Aktie insgesamt beflügeln kann. Schwieriger ist die Umwandlung stimmrechtsloser Vorzugsaktien dann, wenn sowohl die Stämme als auch die Vorzüge börsennotiert sind. Liegt der Kurs der Stammaktien über dem der Vorzugsaktien9, kann die Abschaffung der Vorzugsaktien für die Stammaktionäre eventuell dadurch akzeptabel gemacht werden, dass die Umwandlung der Vorzugsaktien von der Zahlung einer Prämie an die Gesellschaft abhängig gemacht wird. Die Zahlung einer solchen Umtauschprämie, die der Höhe der Kursdifferenz oder einem Teil davon10 entspricht, erfolgt dann durch die Vorzugsaktionäre, die einen Umtausch ihrer Aktien in Stammaktien wünschen. Der Umtausch kann damit nur freiwillig11 in dem Umfang erfolgen, in dem die Prämie gezahlt wird. Eine Verpflichtung zur Zahlung der Prämie könnte nicht durch Mehrheitsbeschluss begründet werden (§ 180 AktG)12. Eine vollständige Abschaffung aller Vorzugsaktien kann auf diesem Wege in der Regel nicht erreicht werden13. Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn der Kurs der Vorzugsaktien über dem Kurs der Stammaktien liegt. Dieser Fall ist zwar eher die Ausnahme, kommt aber ebenfalls vor14. Die Vorzugsaktionäre werden in dieser Konstellation nicht daran interessiert sein, ihre Aktien im Verhältnis 1:1 in Stammaktien umzutauschen. Die bisherigen Stammaktionäre dürften ihrerseits kaum bereit sein

__________ 8 So z. B. bei der ProSiebenSat. 1 Media AG. 9 S. dazu die Auflistung der Gesellschaften von G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 139 Rz. 8. 10 Aus diesem Grund hält Altmeppen, NZG 2005, 771, 774, einen Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre gemäß § 141 Abs. 3 AktG für entbehrlich; dem folgend Holzborn in Bürgers/Körber, AktG, § 141 Rz. 6. 11 Im Falle Metro AG lag die Prämie 17 % unter dem Kurs der Stammaktien, vgl. OLG Köln, AG 2002, 244, 246; im Falle Fresenius Medical Care betrug sie zunächst 2/3 des Kurses der Stammaktien, wurde dann aber reduziert, vgl. Bormann in Spindler/ Stilz, AktG, 2. Aufl., § 141 Rz. 18 Fn. 57. 12 Senger/Vogelmann, AG 2002, 193, 198; Wirth/Arnold, ZGR 2002, 859, 975; Altmeppen, NZG 2005, 771, 773; Bormann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 141 Rz. 18; Holzborn in Bürgers/Körber, AktG, § 141 Rz. 6. 13 Im Falle Metro lag die Annahmequote bei 88 %, vgl. OLG Köln, AG 2002, 244, 245. 14 Vgl. z. B. die gegenüber den Stammaktien höheren Kurse der Vorzugsaktien bei Henkel KGaA und Hugo Boss AG.

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– wie in dem umgekehrten Fall die Vorzugsaktionäre – einen Ausgleich für die Kursdifferenz an die Gesellschaft zu zahlen. Denkbar ist aber, dass die Gesellschaft den Vorzugsaktionären, die zum Umtausch ihrer Aktien bereit sind, aus ihren freien Gewinnrücklagen einen Ausgleich für die Kursdifferenz anbietet. Eine solche Zuzahlung der Gesellschaft könnte in der Beschlussfassung über die Satzungsänderung mit vorgesehen werden. Allerdings ist nicht sicher, ob eine solche Zahlung an die Vorzugsaktionäre mit § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG vereinbar ist. Im Schrifttum wird diese Vereinbarkeit zwar mit plausiblen Überlegungen bejaht15, die praktische Durchführung einer solchen Umwandlung ist aber mit erheblichen Anfechtungsrisiken behaftet. Angesichts der unsicheren Rechtsgrundlage werden überstimmte Stammaktionäre schnell versucht sein, jedenfalls den Beschluss über die Ausgleichszahlung an die Vorzugsaktionäre gerichtlich überprüfen zu lassen. Damit ist eine zügige Umsetzung des Umtauschs regelmäßig blockiert. Als weiterer Weg zur Umwandlung stimmrechtsloser Vorzugsaktien in Stammaktien wird im Schrifttum ein komplizierter Dreischritt diskutiert, wonach die Gesellschaft zunächst eigene stimmrechtslose Vorzugsaktien erwirbt, diese gegen Entgelt einzieht und sodann im Rahmen einer Barkapitalerhöhung neue Stammaktien an die Inhaber der eingezogenen Vorzugsaktien ausgibt (§§ 71 Abs. 1 Nr. 6, 237 Abs. 1 Satz 1, 182 Abs. 1, 186 Abs. 3 AktG)16. Etwaige Unterschiede im Börsenkurs können in diesem Verfahren beim Entgelt für die Einziehung der Vorzugsaktien und bei der Festsetzung der Höhe der Bareinlage für den Bezug der neuen Stammaktien berücksichtigt werden. Die Zahlung an die Vorzugsaktionäre ist dabei durch § 57 Abs. 1 Satz 2 AktG legitimiert. Nach § 71 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 AktG können sogar sämtliche Vorzugsaktien zurückerworben werden. Dies kann aber nur jeweils freiwillig, also nur in dem Umfang geschehen, in dem die Vorzugsaktionäre zum Umtausch ihrer Aktien bereit sind. Eine Umwandlung sämtlicher Vorzugsaktien lässt sich deshalb auch auf diesem Wege kaum erreichen. Unabhängig davon erfordert dieses Verfahren mehrere Hauptversammlungsbeschlüsse und damit entsprechend viele Möglichkeiten, den Umtausch mit Anfechtungsklagen zu stören. Werden die Beschlüsse der Hauptversammlung angefochten, ist die Durchführung des Verfahrens für die Dauer des Rechtsstreits regelmäßig blockiert. Ein Freigabeverfahren ist zwar für Kapitalmaßnahmen, nicht aber für sonstige Satzungsänderungen eröffnet (§ 246a AktG)17. Die Abschaffung der stimmrechtslosen Vorzugsaktien als Aktiengattung ist damit nach den Regeln des AktG schwierig, unter Umständen sogar unmöglich.

__________ 15 Senger/Vogelmann, AG 2002, 193, 201. 16 Senger/Vogelmann, AG 2002, 193, 199 ff.; ähnlich Wirth/Arnold, ZGR 2002, 859, 890 ff. 17 Für eine Ausweitung des Freigabeverfahrens auf den Umtausch von Vorzugsaktien in Stammaktien J. Vetter, AG 2008, 177, 191.

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III. Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien im Rahmen einer Umwandlung Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stammaktien im Rahmen einer Umwandlung nach dem UmwG leichter durchgeführt werden kann. Das Umwandlungsrecht zeichnet sich dadurch aus, dass grundsätzlich nur die Mehrheit der stimmberechtigten Aktionäre entscheidet (§§ 13 Abs. 1, 65 Abs. 2, 125, 240 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Außerdem bietet das UmwG die Möglichkeit, Klagen gegen die Wirksamkeit des Umwandlungsbeschlusses im Rahmen eines Freigabeverfahrens zu überwinden (§ 16 Abs. 3 UmwG). Etwaige wirtschaftliche Nachteile einer Aktionärsgruppe, die mit der Umwandlung verbunden sind, können zudem durch bare Zuzahlung ausgeglichen werden (§§ 15, 125, 196 UmwG). Die Umwandlung einer Aktiengesellschaft, insbesondere durch Verschmelzung oder Formwechsel, ist allerdings ein komplexer rechtlicher und wirtschaftlicher Vorgang. Allein zur Abschaffung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien rechtfertigt sich eine derartige Umstrukturierung regelmäßig nicht. Wird ohnehin z. B. die Verschmelzung mit einer anderen AG oder ein Formwechsel in eine KGaA erwogen, ist aber zu entscheiden, ob eine gleichfalls angestrebte Vereinheitlichung der Aktienstruktur besser vor dieser Umstrukturierung18 oder in deren Rahmen durchgeführt werden soll. Aus rechtlicher Sicht interessiert dabei vor allem die Rechtsstellung der Vorzugsaktionäre bei der Aufhebung der Vorzüge und dem Umtausch ihrer Anteile in Stammaktien sowie die Rechtssicherheit bei der Durchführung dieses Umtauschs als Teil der Umwandlung der Gesellschaft. Der zuletzt genannte Aspekt betrifft insbesondere die Frage, wie die Gesellschaft auf etwaige Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen reagieren kann. 1. Verschmelzung durch Aufnahme a) Keine Pflicht zur Gewährung gattungsgleicher Anteile Soll eine AG, deren Grundkapital aus Stamm- und stimmrechtslosen Vorzugsaktien besteht, auf eine andere AG oder KGaA19 verschmolzen werden (§ 2 Nr. 1 UmwG), so besteht keine gesetzliche Verpflichtung, den Vorzugsaktionären der übertragenden Gesellschaft Vorzugsaktien mit gleicher Ausstattung wie bisher zu gewähren. Als Mitgliedschaftsrechte in der übernehmenden Gesellschaft können vielmehr auch stimmberechtigte Stammaktien ausgegeben werden. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 7 UmwG muss im Verschmelzungsvertrag nur festgelegt werden, welche Art von Aktien als Gegenleistung für die bisherigen Vorzugsaktien vorgesehen sind. Im Schrifttum wird zwar davon ausgegangen, dass den Anteilsinhabern des übertragenden Rechtsträgers grund-

__________ 18 So z. B. im Falle Campina, vgl. OLG Stuttgart, AG 2008, 510. 19 Eine solche Verschmelzung erfordert kein Abfindungsangebot gemäß §§ 29, 78 Satz 4 UmwG.

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sätzlich Anteile der gleichen Gattung zu gewähren sind20. Ein strenges Gebot der Gattungsgleichheit ist dem UmwG aber nicht zu entnehmen21. Er wäre bei der Verschmelzung auf einen Rechtsträger anderer Rechtsform auch gar nicht umzusetzen. So könnte einem GmbH-Gesellschafter, dessen Geschäftsanteil mit einem Bestellungsrecht für die Geschäftsführung ausgestattet ist, in einer AG als übernehmendem Rechtsträger gar keine entsprechende Rechtsstellung verschafft werden. Der Schutz solcher Sonderrechte wird deshalb dadurch gewährleistet, dass der Verschmelzungsbeschluss der übertragenden Gesellschaft der individuellen Zustimmung aller Gesellschafter bedarf, deren auf dem Gesellschaftsvertrag beruhende Minderheitsrechte durch die Verschmelzung beeinträchtigt werden22. Einen ähnlichen, durch das Mehrheitsprinzip aber eingeschränkten Schutz sieht das Gesetz bei besonderen Rechten vor, die nicht einzelnen Anteilsinhabern, sondern einer Gruppe von Anteilsinhabern zustehen. So müssen bei einer AG mit mehreren Aktiengattungen die stimmberechtigten Aktionäre jeder Gattung dem Verschmelzungsbeschluss jeweils in einem Sonderbeschluss zustimmen (§ 65 Abs. 2 UmwG). Ob Aktien derselben oder einer anderen Gattung als Gegenleistung für die untergehenden Anteile gewährt werden, hängt dann von der Zustimmung der Mehrheit der betroffenen Aktionäre ab. b) Kein Zustimmungserfordernis der nicht stimmberechtigten Aktionäre Bei Vorzugsaktien ohne Stimmrecht greift dieser Schutz durch Zustimmung allerdings nur unter besonderen Voraussetzungen. Dem Verschmelzungsbeschluss müssen nämlich nur die Inhaber stimmberechtigter Aktien zustimmen (§ 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG)23. Das sind die Inhaber stimmrechtsloser Vorzugsaktien nur dann, wenn der Gewinnvorzug in einem Jahr nicht oder nicht vollständig geleistet wurde (§ 140 Abs. 2 AktG). Wurde der Vorzug dagegen vollständig gezahlt, besteht kein Stimmrecht und damit auch kein Erfordernis einer Zustimmung durch Sonderbeschluss nach § 65 Abs. 2 Satz 2 UmwG24. Der Verschmelzungsbeschluss der übertragenden Gesellschaft kann vielmehr allein mit den Stimmen der Stammaktionäre gefasst werden25. Dies gilt auch

__________ 20 So z. B. Vossius in Widmann/Mayer, UmwG, § 23 Rz. 11 f., 33; vgl. auch MarschBarner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 8 und Schröer in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 5 Rz. 10. 21 Ausdrücklich ablehnend Simon in KölnKomm. UmwG, § 2 Rz. 114; vgl. auch Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 6 und 8; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 8; a. A. Timm/Schöne in FS Kropff, 1998, S. 315, 328 ff. 22 Vgl. auch § 13 Abs. 2 UmwG sowie die Sonderregelungen in §§ 50 Abs. 2, 51 Abs. 2 UmwG. 23 Ist die übertragende Gesellschaft eine SE, müssen dem Verschmelzungsbeschluss auch die nicht stimmberechtigten Vorzugsaktionäre zustimmen, vgl. Art. 60 Abs. 1 SE-VO als Sonderregelung gegenüber § 141 AktG. 24 Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl., S. 112. 25 Über die Beschaffung dieser Aktien durch entsprechende Kapitalerhöhung (§ 69 UmwG) beschließt allein die Hauptversammlung der übernehmenden Gesellschaft.

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dann, wenn der Verschmelzungsvertrag die ausschließliche Gewährung von Stammaktien und damit die Abschaffung der Vorzugsaktien vorsieht. Zwar bestimmt § 141 Abs. 1 AktG, dass ein Beschluss, durch den der Vorzug aufgehoben oder beschränkt wird, zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung der Vorzugsaktionäre bedarf. Diese Regelung wird aber durch § 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG als lex specialis verdrängt26. Unabhängig davon ist § 141 Abs. 1 AktG auch deshalb nicht anwendbar, weil der Verschmelzungsbeschluss nicht unmittelbar auf die Beseitigung der Vorzugsaktien gerichtet ist. Diese ist vielmehr nur eine mittelbare Folge der Verschmelzung und daher vom Zweck des § 141 Abs. 1 AktG nicht erfasst27. § 141 Abs. 1 AktG gilt ohnehin nur für Hauptversammlungsbeschlüsse, die einen satzungsändernden Charakter haben; für Strukturmaßnahmen gilt die Vorschrift dagegen nicht28. c) Schutz durch das Gebot der Gleichwertigkeit Die Inhaber der stimmrechtslosen Vorzugsaktionäre sind dennoch nicht schutzlos. Ihr Schutz erfolgt dadurch, dass die als Gegenleistung vorgesehenen Anteile gleichwertig sein müssen29. Das Gebot der Gleichwertigkeit der als Gegenleistung zu gewährenden Mitgliedschaftsrechte beherrscht als übergeordnetes Prinzip das gesamte Verschmelzungsrecht30. Er kommt insbesondere in der Prüfung der Verschmelzung gemäß §§ 9 ff. UmwG und in dem Rechtsschutzsystem der §§ 14, 15 UmwG zum Ausdruck. So ist das im Verschmelzungsvertrag vereinbarte Umtauschverhältnis (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG) darauf zu überprüfen, ob die Mitgliedschaft bei dem übernehmenden Rechtsträger als Gegenwert angemessen ist (§ 12 Abs. 2 Satz 1 UmwG). Sind die Mitgliedschaftsrechte in dem übernehmenden Rechtsträger kein ausreichender Gegenwert für die untergehenden Anteile an dem übertragenden Rechtsträger, so können die betroffenen Anteilsinhaber im Spruchverfahren einen Ausgleich durch bare Zuzahlung verlangen (§ 15 Abs. 1 UmwG).

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26 Diekmann in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 65 Rz. 24 a. E.; Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 65 Rz. 8; Mayer in Widmann/Mayer, UmwG, § 5 Rz. 75; Simon in KölnKomm. UmwG, § 65 Rz. 17; Zimmermann in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 65 Rz. 22; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 141 Rz. 25; wohl auch Volhard/Goldschmidt in FS Lutter, 2000, S. 779, 789; a. A. Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, UmwG, § 65 Rz. 19; Brause, Stimmrechtslose Vorzugsaktien bei Umwandlungen, 2002, S. 13 ff.; Kiem, ZIP 1997, 1627, 1628; Rieger in Widmann/Mayer, UmwG, § 65 Rz. 29 f.; offen gelassen von OLG Schleswig, AG 2008, 39, 41 f. 27 Vgl. Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 5 Rz. 15; Schröer in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 5 Rz. 23; vgl. auch Hüffer, AktG, 9. Aufl., § 141 Rz. 4; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 141 Rz. 14; Bormann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 141 Rz. 9; Volhard in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 141 Rz. 4; s. auch Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl., § 141 Rz. 5; a. A. Kiem, ZIP 1997, 1627, 1628 ff. 28 Krieger in FS Lutter, 2000, S. 497, 513 f. 29 G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 141 Rz. 25; Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 65 Rz. 6; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 4; Simon in KölnKomm. UmwG, § 65 Rz. 17. 30 Simon in KölnKomm. UmwG, § 2 Rz. 80 ff.

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Bei der Frage, ob die neue Mitgliedschaft als Gegenleistung angemessen ist, sind alle wertbildenden Faktoren der alten und neuen Anteile zu berücksichtigen. Dazu gehört die Ausstattung der Rechte im Einzelnen mit dem Stimmrecht der Stammaktien einerseits und dem Gewinnvorzug und einer eventuellen Mehrdividende bei stimmrechtslosen Vorzugsaktien andererseits. Die jeweilige mitgliedschaftliche Ausstattung der Anteile ist dabei Teil der wirtschaftlichen Betrachtung und nicht etwa von dieser getrennt zu sehen31. Das Umtauschverhältnis von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stammaktien kann deshalb vom Umtauschverhältnis der bisherigen Stammaktien in die künftigen Stammaktien abweichen32. Etwaige Unterschiede in der Bewertung der Stamm- und Vorzugsaktien können im Umtauschverhältnis zum Ausdruck kommen; sie können sich auch in einer baren Zuzahlung niederschlagen. Auf diese Weise können insbesondere unterschiedliche Börsenkurse angemessen berücksichtigt werden. Der Grundsatz der Gleichwertigkeit ergibt sich nicht nur aus der Angemessenheit des Umtauschverhältnisses, er ist auch in § 23 UmwG festgelegt. Danach sind den Inhabern von Sonderrechten im übertragenden Rechtsträger, darunter auch den Inhabern von Anteilen ohne Stimmrecht33, ausdrücklich nicht gleichartige, sondern gleichwertige Rechte in dem übernehmenden Rechtsträger zu gewähren34. Werden bei einer Verschmelzung Stammaktien anstelle stimmrechtsloser Vorzugsaktien gewährt, so ist dem Erfordernis der Gleichwertigkeit grundsätzlich entsprochen. Stimmberechtigte Stammaktien sind in der Regel als gleichwertige Rechte anzusehen35. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, z. B. weil die stimmrechtslosen Vorzugsaktien einen hohen Gewinnvorzug und/oder eine praktisch bedeutsame Mehrdividende vorsehen, muss dem Gleichwertigkeitsgebot entweder bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses der Anteile oder dadurch Rechnung getragen werden, dass der Wertunterschied der Aktien durch eine bare Zuzahlung ausgeglichen wird36.

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31 Vgl. Simon in KölnKomm. UmwG, § 2 Rz. 82 f.; anders jedoch Kiem, ZIP 1997, 1627, 1632. 32 Vgl. OLG Düsseldorf, AG 2002, 398, 402 Kaufhof/Metro und OLG Düsseldorf, DB 2003, 1941, 1942, jeweils mit einem Abschlag bei der Bewertung der Vorzugsaktien im Vergleich zu den Stammaktien; OLG Karlsruhe, NZG 2006, 670 Aditron: kein Abschlag bei gemäß § 140 Abs. 2 AktG aufgelebtem Stimmrecht; OLG München, FGPraxis 2007, 197 mit gleicher Bewertung von Stamm- und Vorzugsaktien. 33 So z. B. Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 10; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 4; Maulbetsch in Maulbetsch/Klumpp/Rose, UmwG, § 23 Rz. 11; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 23 Rz. 6; Vossius in Widmann/Mayer, UmwG, § 23 Rz. 1.10; Kiem, ZIP 1997, 1627, 1631; a. A. Hüffer in FS Lutter, 2000, S. 1227, 1231 f.; Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 23 Rz. 11; Simon in KölnKomm. UmwG, § 23 Rz. 9. 34 Vgl. Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 8. 35 Vgl. Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 11; von einer Besserstellung sprechen Schröer in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 5 Rz. 23; Kalss in Semler/ Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 23 Rz. 11 a. E. und Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 23 Rz. 10. 36 Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 8; wohl auch Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 11 und Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 23 Rz. 11.

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d) Gesellschaftsrechtliche Treuepflicht Fraglich ist, ob der Verschmelzungsbeschluss neben dem Gebot der Gleichwertigkeit weiteren materiellrechtlichen Anforderungen genügen muss. Eine sachliche Rechtfertigung der Verschmelzung ist zwar nicht erforderlich; die Verschmelzung unterliegt als solche keiner materiellen Rechtskontrolle37. Eine Begrenzung der Mehrheitsmacht der die Verschmelzung beschließenden Gesellschafter kann sich aber aus der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht ergeben. Ob diese auch für Umwandlungsbeschlüsse in einer Kapitalgesellschaft gilt, hat der BGH zum Formwechsel ausdrücklich offen gelassen38. Allerdings hat er geprüft, ob einzelne, von der bisherigen Satzung abweichende Regelungen im Gesellschaftsvertrag des Rechtsträgers neuer Rechtsform rechtsformbedingt oder aus anderen Gründen sachlich gerechtfertigt sind39. Tatsächlich kann kein Zweifel bestehen, dass die allgemeinen Regeln über die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht auch für einen Verschmelzungsbeschluss gelten40. Die Gesellschaftermehrheit muss bei ihren Entscheidungen Rücksicht auf die Interessen der Minderheit nehmen41. Diese Pflicht zur Rücksichtnahme schränkt die Zulässigkeit einer Umwandlung allerdings nur unter dem Gesichtspunkt sachwidriger oder missbräuchlicher Einzelregelungen ein, z. B. wenn die Verschmelzung funktionswidrig eingesetzt wird, um die Rechtsstellung der Minderheit zugunsten der Mehrheit in nicht erforderlicher oder unverhältnismäßiger Weise zu beeinträchtigen42. Von einer sachwidrigen oder gar missbräuchlichen Gestaltung kann bei der Gewährung von stimmberechtigten Stammaktien für stimmrechtslose Vorzugsaktien keine Rede sein. Die Vereinheitlichung der Aktienstruktur wird, wenn die übernehmende Gesellschaft börsennotiert ist, regelmäßig im Unternehmensinteresse liegen, weil dadurch die Liquidität der Stammaktien erhöht und die Attraktivität der Aktie für Anleger verbessert wird. Beide Aktiengattungen sind zudem grundsätzlich gleichwertig. Die Vorzugsaktionäre werden bei einem solchen Aktientausch nicht ungleich behandelt, sondern den Stammaktionären gleichgestellt43. Soweit es um etwaige wertmäßige Unter-

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37 Vgl. Ganske, Umwandlungsrecht, S. 61; OLG Jena, NJW-RR 2009, 182, 183; OLG Frankfurt, AG 2006, 249, 252; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 8 Rz. 8; differenzierend Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 13 Rz. 31 ff., 33, 37. 38 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1318, 1320 unter Bezugnahme auf BGH, ZIP 1983, 303 Freudenberg. 39 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1318, 1320, 1321. 40 OLG Frankfurt, ZIP 2006, 370, 373 T-Online; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 13 Rz. 39. 41 Vgl. die Rechtsprechung des BGH zu den Kapitalgesellschaften in BGHZ 65, 15, 19 ITT; BGHZ 103, 184, 195 Linotype und BGHZ 129, 136, 144 Girmes. 42 Vgl. OLG Frankfurt, ZIP 2006, 370, 373 T-Online; Hofmann/Krolop, AG 2005, 866, 873 ff.; Gehling in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 13 Rz. 23; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 13 Rz. 39; Simon in KölnKomm. UmwG, § 2 Rz. 86; BGH, ZIP 2005, 1318, 1320; gegen eine materielle Beschlusskontrolle beim übertragenden Rechtsträger Heckschen in Widmann/Mayer, UmwG, § 13 Rz. 163.24 ff. 43 Vgl. OLG Frankfurt, ReckRS 2011, 16034, S. 7, zum Formwechsel der Fresenius SE unter Aufhebung der Vorzüge.

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schiede des Umtauschs geht, bietet das Spruchverfahren ausreichenden Schutz44. Allerdings führt der Umtausch der Vorzugsaktien in Stammaktien dazu, dass sich das relative Stimmgewicht der bisherigen Stammaktien in der übernehmenden Gesellschaft durch die neuen Stammaktien reduziert. Liegt die Vereinheitlichung der Aktienstruktur im Interesse der Gesellschaft, so ist diese Benachteiligung jedoch sachlich gerechtfertigt45. e) Rechtsschutz Der Verschmelzungsbeschluss der übertragenden Gesellschaft wird gemäß §§ 13, 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG nur von den Stammaktionären gefasst. Die bei dieser Abstimmung unterlegenen Aktionäre können den Verschmelzungsbeschluss mit der Begründung anfechten, dass die Ausgabe von Stammaktien anstelle der bisherigen Vorzugsaktien ihr relatives Stimmgewicht in der übernehmenden Gesellschaft reduziert. Diesem Einwand lässt sich aber entgegenhalten, dass schon bisher die Möglichkeit eines Auflebens des Stimmrechts der Vorzugaktien bestanden hat (§ 140 Abs. 2 AktG)46. Liegt die Vereinheitlichung der Aktienstruktur im Interesse der Gesellschaft, wird der Einwand der Benachteiligung der Stammaktionäre im Freigabeverfahren überwindbar sein (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG). Da das Gesetz eine Aufgabe der Vorzüge im Rahmen der Verschmelzung erlaubt, ist die dadurch herbeigeführte Gleichbehandlung von Stamm- und Vorzugsaktionären weder sachfremd noch unverhältnismäßig47. Die Vorzugsaktionäre der übertragenden Gesellschaft sind, wie ausgeführt, am Verschmelzungsbeschluss nicht beteiligt. Sie können diesen Beschluss auch nicht mit der Begründung anfechten, dass die Stammaktien kein ausreichender Gegenwert für die Vorzugsaktien seien (§ 14 Abs. 2 UmwG). Dieser Einwand kann, da es um eine Frage der Angemessenheit des Umtauschverhältnisses geht, nur im Spruchverfahren gemäß § 15 UmwG geltend gemacht werden48. Teilweise wird auch vertreten, dass der Anspruch auf gleichwertige Anteile, gestützt auf § 23 UmwG, nur im Wege einer Leistungsklage gegen die übernehmende Gesellschaft durchgesetzt werden kann49. Weder das eine noch das andere Vorgehen löst allerdings eine Eintragungssperre nach § 16 Abs. 2 UmwG aus und steht der Durchführung der Verschmelzung damit nicht entgegen.

__________ 44 Gehling in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 13 Rz. 23. 45 Zum Erfordernis einer sachlichen Rechtfertigung für die Reduzierung des Stimmgewichts der Stammaktionäre auch Krieger in FS Lutter, 2000, S. 497, 515 f. 46 S. dazu beiläufig auch OLG München, ZIP 1993, 1001, 1004 Siemens/SNI zur Eingliederung. 47 Vgl. OLG Frankfurt, BeckRS 2011, 16034, S. 7, zum Formwechsel der Fresenius SE unter Aufhebung der Vorzüge. 48 Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 12; Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 11; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 13; abl. Simon in KölnKomm. UmwG, § 23 Rz. 29. 49 Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 23 Rz. 18; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 23 Rz. 13; Simon in KölnKomm. UmwG, § 23 Rz. 28.

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Die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft müssen der Verschmelzung ebenfalls zustimmen und zusätzlich über die Ausgabe neuer Stammaktien als Gegenleistung für die stimmrechtslosen Vorzugsaktien beschließen. Die überstimmten Aktionäre können theoretisch beide Beschlussfassungen mit der Begründung anfechten, dass die Ausgabe von Stammaktien für die stimmrechtslosen Vorzugsaktien der übertragenden Gesellschaft einen zu hohen Gegenwert darstellt. Sind die neuen Stammaktien den untergehenden Vorzugsaktien tatsächlich gleichwertig, so kann die übernehmende Gesellschaft diese Rüge allerdings im Freigabeverfahren als offensichtlich unbegründet überwinden (§ 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 UmwG). Das Freigabeverfahren kann dabei neben dem Verschmelzungsbeschluss auch auf den Beschluss über die Kapitalerhöhung und die damit verbundene Satzungsänderung erstreckt werden (§ 246a AktG). 2. Verschmelzung zur Neugründung Eine Verschmelzung durch Neugründung ist dadurch gekennzeichnet, dass an ihr zwei oder mehr übertragende Gesellschaften beteiligt sind, die eine neue Gesellschaft durch Verschmelzung auf diese gründen (§ 2 Nr. 2 UmwG). Hat eine der übertragenden Gesellschaften in der Rechtsform der AG neben Stammaktien auch stimmrechtlose Vorzugsaktien ausgegeben, so können die Vorzugsaktien im Rahmen dieser Verschmelzung dadurch beseitigt werden, dass in der neuen AG oder KGaA nur Stammaktien ausgegeben werden. a) Verfahren der Verschmelzung Das Verfahren der Verschmelzung durch Neugründung unterscheidet sich zunächst nicht von dem Verfahren bei der Verschmelzung zur Aufnahme: Im Verschmelzungsvertrag ist die Art der in der neuen Gesellschaft vorgesehenen Aktien anzugeben (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 und 7 UmwG). Im Verschmelzungsbericht ist diese Regelung zu erläutern und zu begründen (§ 8 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Die Verschmelzungsprüfer haben die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses zu prüfen und darüber zu berichten (§ 12 Abs. 2 UmwG). Im Verschmelzungsbeschluss ist sodann dem Verschmelzungsvertrag zuzustimmen (§§ 13, 65 UmwG). Bei dieser Beschlussfassung wirken die Vorzugsaktionäre mangels eigenem Stimmrecht nicht mit (§ 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG). b) Satzung der neuen Gesellschaft Eine Besonderheit besteht bei dieser Art der Verschmelzung darin, dass die übertragenden Gesellschaften zur Gründung der neuen AG auch deren Satzung feststellen müssen. In dieser ist u. a. die Aktiengattung festzulegen, die im Rahmen der Gründung ausgegeben werden soll (§ 36 Abs. 2 UmwG i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 4 AktG). Die Angabe, dass ausschließlich Stammaktien ausgegeben werden sollen, ist allerdings schon im Verschmelzungsvertrag enthalten. Mit der Feststellung der Satzung werden die Angaben im Verschmelzungsvertrag nur rechtstechnisch in die für die Gründung der neuen Gesellschaft erfor477

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derliche Form umgesetzt. Demgemäß müssen die Anteilsinhaber der übertragenden Gesellschaften der Satzung des neuen Rechtsträgers nicht noch einmal gesondert zustimmen. Die Zustimmung zum Verschmelzungsbeschluss umfasst vielmehr zugleich das Einverständnis mit der Satzung der neuen AG und zwar unabhängig davon, ob die Satzung Teil des Verschmelzungsvertrages ist oder diesem nur als Anlage beigefügt wird50. c) Rechtsschutz Hinsichtlich der Möglichkeit, den Verschmelzungsbeschluss anzufechten und damit die Durchführung der Verschmelzung zumindest zu verzögern, gelten die gleichen Überlegungen zur übertragenden Gesellschaft wie bei der Verschmelzung durch Aufnahme. Ein zustimmender Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre zu dem Verschmelzungsbeschluss ist wegen der Sonderregelung in § 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG nicht erforderlich. Auch ein Rückgriff auf § 141 Abs. 1 AktG wegen unmittelbarer Beeinträchtigung des Gewinnvorzugs ist in der Regel ausgeschlossen. Die Ausgestaltung der Mitgliedschaftsrechte in der neuen AG ist nicht das primäre Ziel, sondern nur eine Folge der Verschmelzung. Sind in der neuen AG im Unterschied zu einer übertragenden AG nur Stammaktien vorgesehen, so liegt darin allenfalls eine mittelbare Beeinträchtigung der bisherigen Vorzugsaktionäre. Die bisherigen Vorzugsaktionäre sind ausreichend dadurch geschützt, dass ihnen im neuen Rechtsträger gleichwertige Aktien zustehen. Ist der Gewinnvorzug und/oder die Mehrdividende der Vorzugsaktien gering und bei der tatsächlichen Gewinnverteilung ohne Bedeutung, so sind die dafür vorgesehenen Stammaktien als mindestens gleichwertig zu betrachten. Soweit Vorzugsaktionäre gleichwohl der Meinung sind, dass die Stammaktien als Gegenleistung nicht ausreichen, können sie den Verschmelzungsbeschluss mit dieser Begründung nicht anfechten (§§ 14 Abs. 2, 36 Abs. 1 UmwG). Zur Klärung der Frage, ob die Stammaktien eine angemessene Gegenleistung für die Vorzugsaktien darstellen, ist allein das Spruchverfahren zuständig (§§ 15, 36 Abs. 1 UmwG). Liegt die Aufhebung der Vorzugsaktien im Interesse des zusammengeführten Unternehmens, z. B. weil eine einheitliche Aktiengattung für Kapitalanleger attraktiver ist, so ist die ausschließliche Gewährung von Stammaktien auch aus der Sicht der bisherigen Stammaktionäre sachlich begründet. Überstimmte Stammaktionäre könnten den Verschmelzungsbeschluss zwar wegen der Verschiebung der Stimmgewichte als treuwidrig anfechten. Liegt die Vereinheitlichung der Aktiengattungen im Interesse der Gesellschaft, so wird eine solche Klage im Freigabeverfahren aber regelmäßig überwindbar sein (§§ 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3, 36 Abs. 1 UmwG).

__________ 50 Vgl. Simon in KölnKomm. UmwG, § 37 Rz. 8; zur notwendigen Mitbeurkundung in beiden Fällen Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl., S. 90.

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3. Formwechsel a) Umwandlungsbeschluss Soll eine AG in eine KGaA (oder umgekehrt)51 umgewandelt werden, so muss die Hauptversammlung diesem Formwechsel mit einer Mehrheit von mindestens drei Vierteln des vertretenen Grundkapitals zustimmen (§§ 193, 240 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. UmwG). In diesem Umwandlungsbeschluss ist die Art der Mitgliedschaft anzugeben, die im Rechtsträger neuer Rechtsform vorgesehen ist (§ 194 Abs. 1 Nr. 4 UmwG). Nach § 194 Abs. 1 Nr. 5 UmwG müssen vor allem die Rechte bestimmt werden, die den Inhabern der bisherigen Vorzugsaktien gewährt werden sollen. Welche Rechte dies sein können, lässt das Gesetz offen. Maßgeblich dafür sind die Rechtsregeln, die auf die neue Rechtsform anzuwenden ist52. Auf den Umwandlungsbeschluss ist § 65 Abs. 2 UmwG, wonach nur die stimmberechtigten Aktionäre an der Beschlussfassung teilnehmen, entsprechend anzuwenden (§ 240 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbs. UmwG). Hat die formwechselnde AG neben Stammaktien auch stimmrechtslose Vorzugsaktien ausgegeben und sollen diese im Zuge des Formwechsels durch Stammaktien ersetzt werden, so ist streitig, wie die Verweisung auf § 65 Abs. 2 UmwG zu verstehen ist. Überwiegend wird wie im Verschmelzungsrecht angenommen, dass § 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG als speziellere Regelung den § 141 AktG verdrängt. Ein Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre ist daher nur erforderlich, wenn das Stimmrecht der Vorzugsaktionäre gemäß § 140 Abs. 2 AktG wieder aufgelebt ist. Ist dies nicht der Fall, entscheiden die Vorzugsaktionäre beim Beschluss über den Formwechsel nicht mit53. Dies entspricht dem Gesetzeswortlaut und den Vorstellungen des Gesetzgebers zu § 65 UmwG, ohne dass dabei für den Formwechsel abweichende Gesichtspunkte erkennbar wären54. Sollen stimmrechtslose Vorzugsaktien im Zuge des Formwechsels in Stammaktien umgewandelt werden, so wird dies im Schrifttum zum Teil jedoch als Aufhebung des Gewinnvorzugs im Sinne von § 141 Abs. 1 AktG gewertet und dazu ein zustimmender Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre verlangt55. Auch in diesem Fall gehen jedoch die Bestimmungen der §§ 240 Abs. 1 Satz 1, 65 Abs. 2 UmwG als speziellere Regelung vor56. Hinzu kommt, dass die Abschaffung der besonderen Rechte der Vorzugsaktien nicht das Ziel des Formwechsels, sondern nur dessen mittelbare Folge ist. § 141 Abs. 1 AktG ist des-

__________ 51 Widersprechenden Aktionären muss bei einem solchen Formwechsel kein Abfindungsangebot unterbreitet werden, §§ 207, 250 UmwG. 52 Decher in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 194 Rz. 14. 53 Dirksen in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 240 Rz. 4; Happ/Göthel in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 240 Rz. 7; Rieger in Widmann/Mayer, UmwG, § 240 Rz. 38; Simon in KölnKomm. UmwG, § 240 Rz. 9. 54 Vgl. Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl., S. 112 und S. 257. 55 Dirksen in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 240 Rz. 4; Happ/Göthel in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 240 Rz. 6 und 8. 56 Arnold in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 240 Rz. 14; Petersen in KölnKomm. UmwG, § 240 Rz. 9; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 141 Rz. 25.

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halb auch aus diesem Grunde nicht anwendbar. Angesichts der im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Ansicht wird in der Praxis vielfach allerdings vorsorglich ein zustimmender Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre eingeholt57. b) Feststellung der neuen Satzung Im Umwandlungsbeschluss muss auch die Satzung der neuen AG oder KGaA festgestellt werden (§§ 218 Abs. 1 Satz 1, 243 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Die Satzung des künftigen Rechtsträgers ist wie bei der Verschmelzung zur Neugründung untrennbarer Bestandteil des Umwandlungsbeschlusses. Eine Aufspaltung des Beschlusses in einen Teil, der die Umwandlung und einen weiteren Teil, der die künftige Satzung betrifft, ist nicht zulässig58. Die neue Satzung muss sich nicht auf die gesetzlichen Mindestvorschriften oder die notwendigen Anpassungen der bisherigen Satzung an die neue Rechtsform beschränken. Sie kann vielmehr alle Regelungen enthalten, die in der neuen Rechtsform sinnvoll und zweckmäßig sind59. Sie kann deshalb auch vorsehen, dass das Grundkapital künftig nicht mehr aus Stamm- und Vorzugsaktien, sondern nur noch aus Stammaktien bestehen soll. Wie bei der Verschmelzung muss die Gesellschaftermehrheit bei der Zustimmung zur Umwandlung und darin inbegriffen der neuen Satzung allerdings auf die Interessen der Minderheit Rücksicht nehmen. Dies gilt auch im Verhältnis der allein stimmberechtigten Stammaktionäre gegenüber den an der Beschlussfassung nicht beteiligten Vorzugsaktionären. Diese Pflicht zur Rücksichtnahme verbietet aber nicht jede Veränderung der Mitgliedschaftsrechte, sondern nur sachwidrige oder missbräuchliche Regelungen60. Eine Abschaffung des Gewinnvorzugs ist daher nicht ausgeschlossen, zumal die Vorzugsaktionäre zum Ausgleich das Stimmrecht erhalten (§ 140 Abs. 2 AktG). Sind die Vorzugsaktien nicht höher zu bewerten als die Stammaktien und liegt die Abschaffung der Vorzüge im wohlverstandenen Unternehmensinteresse, so kann eine entsprechende Satzungsgestaltung nicht als treuwidrig gewertet werden. Die näheren Einzelheiten dazu sind im Umwandlungsbericht zu erläutern (§ 192 UmwG). c) Identität der Beteiligungen Beim Formwechsel wird der Grundsatz der Identität der Beteiligungen im bisherigen Rechtsträger und im Rechtsträger neuer Rechtsform besonders be-

__________ 57 S. z. B. OLG Stuttgart, AG 2007, 596. 58 Dauner-Lieb in KölnKomm. UmwG, § 218 Rz. 11; Schlitt in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 218 Rz. 5; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 218 Rz. 3. 59 Dirksen in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 243 Rz. 9; Mutter in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 243 Rz. 11; Happ/Göthel in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 243 Rz. 30; Rieger in Widmann/Mayer, UmwG, § 243 Rz. 12; Dauner-Lieb/Tettinger in KölnKomm. UmwG, § 218 Rz. 11; Schlitt in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 218 Rz. 5; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 218 Rz. 3. 60 Vgl. oben unter III 1. d) und BGH, ZIP 2005, 1318, 1320, 1321.

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tont61. Dieser Identitäts- oder Kontinuitätsgrundsatz kommt vor allem in den §§ 194 Abs. 1 Nr. 4, 202 Abs. 1 Nr. 2 UmwG zum Ausdruck. Er bedeutet aber nur, dass die bisherigen Anteilsinhaber im Rechtsträger neuer Rechtsform mit ihrer bisherigen Quote beteiligt bleiben sollen62. Inhaltliche Änderungen der Mitgliedschaftsrechte sind deswegen nicht ausgeschlossen. Solche Änderungen sind vielmehr regelmäßig mit einem Formwechsel, z. B. einer AG in eine GmbH, verbunden. Ein Formwechsel zielt, wie Zöllner63 bemerkt hat, prinzipiell nicht auf Erhaltung der Identität, sondern auf Veränderung. Der Grundsatz der Identität der Beteiligungen kann deshalb auch nicht dahin verstanden werden, dass inhaltliche Änderungen der Mitgliedschaftsrechte nur in dem Umfang zulässig sind, wie diese durch die neue Rechtsform bedingt sind. Eine solche Einschränkung der unternehmerischen Gestaltungsfreiheit der Mehrheit der Anteilseigner lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Bei dem Formwechsel einer AG in eine GmbH & Co. KG hat der BGH zwar geprüft, ob bestimmte Klauseln im Gesellschaftsvertrag der neuen Rechtsform rechtsformbedingt und deshalb nicht zu beanstanden sind64. Soweit dann einzelne Regelungen im neuen Gesellschaftsvertrag beanstandet wurden, geschah dies aber nicht deswegen, weil diese im Hinblick auf die neue Rechtsform nicht erforderlich waren, sondern weil sie in sachlich nicht begründeter Weise in das Mitgliedschaftsrecht der Gesellschafter eingegriffen haben65. Diese Betrachtungsweise entspricht der bereits oben zur Verschmelzung angestellten Überlegung, dass der Formwechsel als unternehmerische Entscheidung zwar keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, die Gesellschaftermehrheit bei der Beschlussfassung über die näheren Einzelheiten jedoch auf die Interessen der Minderheit Rücksicht nehmen muss. Dazu gehört beim Formwechsel insbesondere die Verpflichtung, im Gesellschaftsvertrag der neuen Rechtsform keine sachwidrigen Regelungen zu treffen. Werden im Zuge des Formwechsels einer AG in die KGaA (oder umgekehrt) die bisherigen stimmrechtslosen Vorzugsaktien durch Stammaktien ersetzt, so ist dies grundsätzlich keine sachwidrige Veränderung. Will die Gesellschaft mit der Vereinheitlichung der Aktiengattungen ihre Refinanzierungsmöglichkeiten am Kapitalmarkt verbessern, so liegt ein besonderes Interesse der Gesellschaft vor, das den Umtausch der Vorzugsaktien sachlich rechtfertigt. d) Gleichwertigkeit der Beteiligungen Wie bei der Verschmelzung so besteht auch beim Formwechsel keine Verpflichtung, im Rechtsträger neuer Rechtsform stets gleichartige Mitgliedschafts-

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61 Vgl. z. B. Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 194 Rz. 22: „tragender Grundsatz des Formwechselrechts“. 62 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1318, 1319 r.Sp.; s. auch BGH, ZIP 1997, 298, 299 zum Formwechsel einer LPG; Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 202 Rz. 28 ff., 35. 63 Zöllner in FS Claussen, 1997, S. 423, 438. 64 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1318, 1320, 1321. 65 BGH, ZIP 2005, 1318, 1323 f.; allgemein zustimmend OLG Frankfurt, BeckRS 2011, 16034, S. 7.

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rechte vorzusehen. Angesichts der unterschiedlichen Binnenstruktur der denkbaren neuen Rechtsträger wäre dies häufig gar nicht möglich. Zudem wäre die Gestaltungsfreiheit der Anteilsinhaber erheblich eingeschränkt, wenn im Rahmen eines Formwechsels Veränderungen der Mitgliedschaftsrechte nur insoweit zulässig wären wie dies rechtsformbedingt erforderlich ist. Der Schutz der Anteilsinhaber wird stattdessen dadurch gewährleistet, dass ihnen im Rechtsträger neuer Rechtsform grundsätzlich gleichwertige Anteile zu gewähren sind. Dies folgt aus § 194 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 196 UmwG, wonach die Anteile im Rechtsträger neuer Rechtsform einen ausreichenden Gegenwert für die bisherige Beteiligung darstellen müssen. Für die Inhaber von Sonderrechten ist zudem in §§ 204, 23 UmwG ausdrücklich bestimmt, dass im Rechtsträger neuer Rechtsform gleichwertige Rechte zu gewähren sind. Zu diesen Sonderrechten gehören auch Vorzugsaktien ohne Stimmrecht66. Dem Äquivalenzgebot wird zweifellos am besten dann entsprochen, wenn die Vorzugsaktionäre im Rechtsträger neuer Rechtsform wiederum Vorzugsaktien mit gleicher Ausstattung erhalten67. Dem Äquivalenzgebot wird aber auch entsprochen, wenn im neuen Rechtsträger nicht gleichartige, sondern gleichwertige Aktien einer anderen Gattung gewährt werden. Werden für Vorzugsaktien in der neuen Rechtsform stimmberechtigte Stammaktien ausgegeben, so handelt es sich in der Regel um gleichwertige Anteile. Ist der Gewinnvorzug nur gering und bei der Gewinnverteilung ohne praktische Auswirkung, wiegt das Stimmrecht den Gewinnvorzug regelmäßig auf. Die Stammaktien können dann sogar einen höheren Wert haben68. Dem Äquivalenzgedanken wird erst dann nicht entsprochen, wenn die Vorzugsaktien, etwa aufgrund eines hohen Gewinnvorzugs oder einer hohen Mehrdividende, tatsächlich höherwertig als die Stammaktien sind. Nur in einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob die Wertdifferenz dazu führt, dass das Stimmrecht auflebt. In der Tat wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, das § 141 AktG anzuwenden sei, wenn entgegen §§ 204, 23 UmwG kein dem Vorzugsrecht der Aktien gleichwertiges Sonderrecht geschaffen werde. Den Vorzugsaktionären müsse in einem solchen Fall entsprechend § 141 AktG das Stimmrecht eingeräumt werden69. Gemeint ist damit offenbar nicht ein generelles Aufleben des Stimmrechts, sondern, dass die Vorzugsaktionäre einem solchen Formwechsel durch Sonderbeschluss zustimmen müssen. Diese Ansicht ist jedoch nicht überzeugend. Die Verfahrensfrage, ob ein Sonderbeschluss gemäß § 141 Abs. 1 AktG erforderlich ist oder nicht, kann nicht davon abhängen, ob die im Rahmen des Formwechsels vorgesehene Beteiligung am Rechtsträger neuer Rechtsform gleichwertig ist oder nicht. Abgesehen davon, dass § 141 AktG durch die §§ 240 Abs. 1 Satz 1, 65 Abs. 2 Satz 1 UmwG als speziellerer Regelung ver-

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66 Decher in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 204 Rz. 22; Kalss in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 204 Rz. 4; Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 204 Rz. 10, 16. 67 Vgl. nur G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 139 Rz. 38. 68 Vgl. die oben in Fn. 29 zitierten Beispiele aus der Rechtsprechung. 69 So Happ/Göthel in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 240 Rz. 7 unter Bezugnahme auf Kiem, ZIP 1997, 1627, 1630 und Brause, Stimmrechtslose Vorzugsaktien, S. 115 ff.

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drängt wird70, besteht die Sanktion bei einem Verstoß gegen §§ 204, 23 UmwG nicht in der Gewährung eines Zustimmungsrechts. Der Ausgleich erfolgt vielmehr in einem Anspruch auf gleichwertige Gegenleistung. Dieser Anspruch muss erforderlichenfalls – wie bei der Verschmelzung – im Gerichtswege durchgesetzt werden. Das UmwG stellt ausreichend sicher, dass die Vorzugsaktionäre auch tatsächlich gleichwertige Aktien erhalten. Ein Bedürfnis, die Vorzugsaktien zusätzlich dadurch zu schützen, dass ihnen bei der Beschlussfassung über den Formwechsel das Stimmrecht zugesprochen wird, besteht daneben nicht. Für dieses Ergebnis spricht auch die grundsätzliche Überlegung, dass ein Aufleben des Stimmrechts der Vorzugsaktionäre gemäß § 141 Abs. 1 AktG nur bei einer unmittelbaren Beeinträchtigung des Vorzugs in Betracht kommt. Der Formwechsel ist jedoch in erster Linie auf die Änderung der Rechtsform des Rechtsträgers gerichtet. Die Einzelheiten der Beteiligung sind dieser Veränderung nachgeordnet. e) Ausgleich durch bare Zuzahlung In der Regel wird mit der Ausgabe von stimmberechtigten Stammaktien für stimmrechtslose Vorzugsaktien dem Gebot der Gleichwertigkeit der Beteiligung entsprochen. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, weil die Vorzugsaktien auf Grund ihrer besonderen Ausstattung höherwertig sind, so kann die Gleichwertigkeit der künftigen Beteiligung dadurch hergestellt werden, dass den Vorzugsaktionären neben den Stammaktien ein finanzieller Ausgleich in Form einer baren Zuzahlung gewährt wird. Anders als im Verschmelzungsvertrag (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG) ist im Beschluss zum Formwechsel eine bare Zuzahlung zwar nicht ausdrücklich vorgesehen (§ 194 Abs. 1 Nr. 4 UmwG). Es besteht aber Einigkeit, dass der Umwandlungsbeschluss die Gewährung einer solchen Zuzahlung vorsehen kann71. Ist die vorgesehene Zuzahlung zu niedrig, so kann das Gericht im Spruchverfahren die angemessene Höhe der Zuzahlung bestimmen. Diese Möglichkeit besteht insbesondere dann, wenn die neuen Anteile keinen ausreichenden Gegenwert für die bisherige Beteiligung darstellen (§ 196 Satz 1, 2. Alt. UmwG i. V. m. § 1 Nr. 4 SpruchG)72. In der Rechtsprechung wird § 196 UmwG zwar dahin verstanden, dass eine bare Zuzahlung nur denjenigen Anteilsinhabern zusteht, die infolge eines Formwechsels eine individuelle Benachteiligung erlitten haben. Allgemeine Veränderungen in der rechtlichen Ausgestaltung der Mitgliedschaft allein

__________ 70 S. dazu oben unter 3. vor a). 71 Decher in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 194 Rz. 18; Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 194 Rz. 49; Vollrath in Widmann/Mayer, UmwG, § 194 Rz. 39; Sagasser/Sickinger in Sagasser/Bula/Sickinger, Umwandlungsrecht, 3. Aufl., Rz. R 40; wohl auch Bärwaldt in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 194 Rz. 22; anders Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 194 Rz. 7, wonach bare Zuzahlungen beim Formwechsel keine Rolle spielen. 72 Vgl. z. B. OLG Stuttgart, AG 2007, 596 ff. zum Formwechsel einer AG in eine AG & Co. KG.

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sollen keinen Anspruch auf eine bare Zuzahlung auslösen73. Dieser einschränkenden Auslegung ist zuzustimmen, da andernfalls jede nachteilige Veränderung der Mitgliedschaft im Rahmen des Formwechsels im Spruchverfahren überprüft werden könnte. Die allgemeinen Veränderungen der Mitgliedschaft sind jedoch bereits Gegenstand des Umwandlungsbeschlusses. Ihnen wird zudem dadurch Rechnung getragen, dass widersprechende Anteilsinhaber im Regelfall gegen angemessene Abfindung aus der Gesellschaft ausscheiden können (§§ 29, 207 UmwG). Die dementsprechend restriktive Auslegung des § 196 UmwG schließt aber nicht aus, dass eine fehlende wirtschaftliche Gleichwertigkeit zwischen Vorzugsaktien und Stammaktien im Umwandlungsbeschluss durch eine bare Zuzahlung ausgeglichen wird. Liegt eine entsprechende Regelung vor, so spricht nichts dagegen, eine solche Zuzahlung dann auch im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Die Rechtslage ist dann nicht viel anders, als wenn die Gesellschaft den widersprechenden Vorzugsaktionären eine Abfindung angeboten hätte. f) Rechtsschutz Sowohl Stamm- als auch Vorzugsaktionäre können den Umwandlungsbeschluss anfechten und damit die Eintragung des Formwechsels zumindest aufhalten (§§ 16 Abs. 2, 198 Abs. 3 UmwG). Die Stammaktionäre können dabei geltend machen, dass ihr Stimmgewicht in der neuen Rechtsform verwässert wird. Dieser Einwand lässt sich im Freigabeverfahren überwinden, wenn die Vereinheitlichung der Aktiengattungen im überwiegenden Gesellschaftsinteresse liegt (§§ 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3, 198 Abs. 3 UmwG). Dies wird bei einer börsennotierten Gesellschaft, die sich am Kapitalmarkt nur noch über Stammaktien als der attraktiveren Aktiengattung refinanzieren will, regelmäßig zu bejahen sein, sofern keine Besonderheiten vorliegen. Die Vorzugsaktionäre können behaupten, dass die Stammaktien im Vergleich zu den bisherigen Vorzügen keine gleichwertigen Anteile darstellen. Dieser Einwand ist bei den üblichen Vorzugsaktien mit geringem Gewinnvorzug und geringer Mehrdividende, die sich bei der jährlichen Gewinnverteilung praktisch nicht auswirken, unbegründet. Die mit dem Stimmrecht versehenen Stammaktien sind dann mindestens gleichwertig, wenn nicht sogar höherwertig. Die mit der Anfechtung bewirkte Eintragungssperre lässt sich deshalb im Freigabeverfahren überwinden (§§ 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 und 3, 198 Abs. 3 UmwG). Handelt es sich um Vorzugsaktien, die wegen ihrer besonderen Ausstattung und/oder auf Grund des Börsenkurses einen höheren Wert als die Stammaktien haben, so kann die Wertdifferenz im Wege der Feststellungsoder Leistungsklage gegen den Rechtsträger neuer Rechtsform geltend gemacht werden (§§ 23, 204 UmwG). Ist die Differenz im Umwandlungsbeschluss durch eine bare Zuzahlung ausgeglichen, so kann die Höhe dieser Zuzahlung im Spruchverfahren überprüft werden (§ 196 Satz 1, 2. Alt. UmwG i. V. m. § 1

__________ 73 So OLG Stuttgart, AG 2008, 510; OLG Düsseldorf, ZIP 2004, 753, 754 f.

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Nr. 4 SpruchG). Die Eintragung des Formwechsels im Handelsregister wird dabei weder durch das eine noch das andere Verfahren verzögert. Angesichts der zum Formwechsel verstärkt vertretenen Ansicht, dass die Vorzugsaktionäre der Umwandlung ihrer Anteile in Stammaktien in einem Sonderbeschluss zustimmen müssen, kann es sich empfehlen, diese Zustimmung vorsorglich einzuholen. Kommt dieser Beschluss mit der nach § 141 Abs. 3 AktG erforderlichen Mehrheit zustande, wird er aber angefochten, so stellt sich die Frage, ob eine solche Klage der Eintragung des Formwechsels entgegensteht und im Freigabeverfahren gegebenenfalls überwunden werden kann. Nach §§ 16 Abs. 2, 198 Abs. 3 UmwG stehen der Eintragung nur solche Klagen entgegen, die sich gegen die Wirksamkeit des Umwandlungsbeschlusses, d. h. des Beschlusses nach § 194 UmwG, richten. Der Sonderbeschluss ist zwar nicht identisch mit dem Umwandlungsbeschluss, bezieht sich aber auf denselben Gegenstand wie dieser. Folgt man der Mindermeinung, ist er zur Wirksamkeit des Umwandlungsbeschlusses zwingend erforderlich. Angesichts dieses engen sachlichen Zusammenhangs erscheint es angebracht, beide Beschlüsse als Einheit zu behandeln und § 16 Abs. 3 UmwG auf den Sonderbeschluss entsprechend anzuwenden. Nur auf diese Weise wird dem Gesetzeszweck entsprochen, die Eintragung einer Umwandlung trotz Anfechtungsklagen zu erleichtern. Wird dagegen die Anfechtung des Sonderbeschlusses aus dem Anwendungsbereich des § 16 Abs. 3 UmwG ausgenommen, könnte das Freigabeverfahren praktisch mit jeder Anfechtungsklage gegen den Sonderbeschluss ausgehebelt werden. In dem eingangs zitierten Fall der Fresenius SE hat das OLG Frankfurt eine Freigabe des Sonderbeschlusses demgegenüber abgelehnt, weil dieser etwas anderes als der Umwandlungsbeschluss sei und zu ihm keine Negativerklärung nach § 16 Abs. 2 UmwG abzugeben sei74. Zudem komme eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 3 UmwG wegen des Ausnahmecharakters dieser Regelung nicht in Betracht75. Dieser sehr formalen Argumentation ist entgegenzuhalten, dass eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 3 UmwG im Verschmelzungsrecht seit längerem anerkannt ist. Sie betrifft dort das Verhältnis zwischen dem Verschmelzungsbeschluss und dem Beschluss über eine Kapitalerhöhung zur Durchführung der Verschmelzung (§§ 55, 69 UmwG). Auch der Kapitalerhöhungsbeschluss ist mit dem Verschmelzungsbeschluss nicht identisch, sondern setzt diesen lediglich um. Da die Verschmelzung ohne ihn nicht durchgeführt werden kann, ist anerkannt, dass der Kapitalerhöhungsbeschluss als notwendiger Annex des Verschmelzungsbeschlusses sinngemäß von der Regelung des § 16 Abs. 3 UmwG erfasst wird76. Das gilt selbst dann,

__________ 74 OLG Frankfurt, BeckRS 2011, 16034, S. 3 f. 75 Vgl. OLG Frankfurt (Fn. 74), S. 4 unter Bezugnahme auf Weber/Kerjes, Hauptversammlungsbeschlüsse vor Gericht, 2010, § 3 Rz. 13. 76 Vgl. BGH, NZG 2007, 714, 715; OLG Hamm, Der Konzern 2005, 374, 376; Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 69 Rz. 21; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 16 Rz. 55 und § 69 Rz. 23; Diekmann in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 69 Rz. 28; Simon in KölnKomm. UmwG, § 16 Rz. 52; M. Winter in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 55 Rz. 32.

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wenn nur der Kapitalerhöhungsbeschluss angefochten wurde77. Die analoge Anwendung des § 16 Abs. 3 UmwG wird dabei nicht dadurch in Frage gestellt, dass bei der Anmeldung des Kapitalerhöhungsbeschlusses keine Negativerklärung abgegeben werden muss. Angesichts der mit dem UMAG78 eingeführten Regelung des § 246a AktG ist diese Analogie mittlerweile zwar weniger bedeutsam, bei der Verschmelzung von GmbH aber durchaus noch praktisch relevant. Wie bei der Verbindung von Verschmelzung und Kapitalerhöhung sprechen jedenfalls auch beim Formwechsel die besseren Argumente dafür, den Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre in das Freigabeverfahren nach §§ 16 Abs. 3, 198 Abs. 3 UmwG einzubeziehen.

IV. Fazit Im Unterschied zur Abschaffung stimmrechtsloser Vorzugsaktien im Wege der Satzungsänderung bietet sowohl die Verschmelzung als auch der Formwechsel die Erleichterungen des Freigabeverfahrens gemäß § 16 Abs. 3 UmwG. Beide Formen der Umwandlung haben zudem den Vorzug, dass mit der Umstrukturierung nicht nur ein Teil, sondern sämtliche Vorzugsaktien in Stammaktien umgewandelt werden können. Auf der Grundlage des Gebots der Gleichwertigkeit der im Rahmen der jeweiligen Umwandlung zu gewährenden Anteile ist zugleich sichergestellt, dass etwaige Wertunterschiede zwischen den bisherigen Vorzugsaktien und den künftigen Stammaktien ausgeglichen werden. Ob der vorgesehene Ausgleich angemessen ist, kann im Spruchverfahren überprüft werden. Was die erforderlichen Mehrheiten betrifft, so ergeben sich zwischen der Abschaffung stimmrechtsloser Vorzugsaktien nach den Regeln des AktG und denen des UmwG keine wesentlichen Unterschiede. An den Beschlüssen nach dem UmwG müssen richtiger Ansicht nach die stimmrechtslosen Vorzugsaktionäre zwar nicht mitwirken. Da im Schrifttum jedoch – vor allem zum Formwechsel – auch die Meinung vertreten wird, dass wegen der Aufhebung des Gewinnvorzugs ein zustimmender Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre notwendig ist, wird es sich empfehlen, vorsorglich einen solchen Sonderbeschluss einzuholen. Ein Sonderbeschluss der Stammaktionäre ist dagegen entbehrlich. Die Zustimmung dieser Gattung liegt bereits im Beschluss der Hauptversammlung79.

__________ 77 Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl., § 16 Rz. 55; Mayer in Widmann/ Mayer, UmwG, § 55 Rz. 106; M. Winter in Lutter, UmwG, 4. Aufl., § 55 Rz. 32; Reichert in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl., § 55 Rz. 28; Simon/Nießen in KölnKomm. UmwG, § 55 Rz. 45; abl. Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 5. Aufl., § 55 Rz. 29. 78 Art. 1 Nr. 23 des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 79 S. oben bei Fn. 5 und 6.

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Der Geschäftsführer der GmbH und das Gesellschafterdarlehen in der Krise Inhaltsübersicht I. Das Problem II. Zweck der Haftungsvorschrift in § 64 Satz 3 GmbHG 1. Masseschutzvorschrift 2. Situation des Geschäftsführers 3. Anwendungsbereich III. Gibt § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht? 1. Zahlungsverbot 2. Kein Eingriff in das Forderungsrecht 3. Andersgeartetes Kapitalersatzrecht? 4. Vollstreckungshandlungen

IV. Handlungsmöglichkeiten des Geschäftsführers 1. Amtsniederlegung 2. Insolvenzeröffnungsgrund der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ 3. Gleichzeitigkeit der Voraussetzungen von § 18 InsO und § 64 Satz 3 GmbHG 4. Prüfungsschritte V. Kompetenzen und Weisungsbefugnisse 1. Entscheidungsbefugnis 2. Gesellschafterversammlung 3. Weisungsfestigkeit VI. Fazit

I. Das Problem Durch das MoMiG ist das Recht der Gesellschafterdarlehen (angeblich) wesentlich vereinfacht worden. Das von der Rechtsprechung erfundene Monstrum des Kapitalersatzes ist entfallen und damit sind auch die unsäglichen Abwägungen erledigt, die dem Geschäftsführer in einer sich anbahnenden Krise abverlangt wurden. Dabei ging es insbesondere um die Frage, ob bei Gewährung oder „Stehenlassen“ des Darlehens die Gesellschaft aus objektiver ex-ante Sicht noch kreditwürdig war oder nicht und ob und inwieweit daraus eine Auszahlungssperre entsprechend §§ 30/31 GmbHG für Zins und Tilgung auch bei jeweiliger Fälligkeit resultierte. Der Kapitalersatz ist expressis verbis abgeschafft (§ 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG). Gesellschafterdarlehen werden im neuen Recht insolvenzrechtlich behandelt (§§ 39 Abs. 1 Nr. 5; 135 InsO) und sind damit aus dem Zuständigkeitsbereich des Geschäftsführers herausgefallen. Grundsätzlich kann und muss er Gesellschafterdarlehen mit Zins und Tilgung bedienen wie jedes Fremddarlehen. Das gilt sicher aber nur grundsätzlich. Während der Geschäftsführer für alle Zahlungen, erfolgen sie nun an Dritte oder Gesellschafter, einer Auszahlungssperre nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung bei der Gesellschaft unterliegt (§ 64 Satz 1 GmbHG), hat das MoMiG den Geschäftsführer mit einer weiteren Auszahlungssperre bzw. einer korrespondierenden Haftung belegt, sofern er Zahlungen an Gesellschafter leistet, „soweit diese 487

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zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“, jedenfalls soweit ihm dies mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns erkennbar war (§ 64 Satz 3 GmbHG). Hier kommt es nicht auf die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft bei Hingabe oder Stehenlassen der Mittel, sondern auf die Zahlungsmittelbestandsprognose im Zeitpunkt der angeforderten bzw. geleisteten Zahlung an. Bei fällig werdenden Zins- und Tilgungsleistungen von Gesellschafterforderungen – nur damit will sich dieser Beitrag beschäftigen – kann der Geschäftsführer in Abwägungssituationen geraten, die an Schwierigkeit der bisherigen Prüfung des Kapitalersatzes in nichts nachstehen, nur mit dem Unterschied, dass das Risiko nunmehr den Geschäftsführer und nicht den Gesellschafter trifft. Ob dies eine gesetzespolitische Meisterleistung darstellt, soll hier einmal dahingestellt bleiben. Das gilt besonders dann, wenn dem Geschäftsführer auch in dieser Situation, deren Eintritt unter den Beteiligten durchaus streitig sein kann, gegen fällige Zins- und Tilgungsforderungen ein Leistungsverweigerungsrecht nicht zustehen soll (vgl. dazu unter III.). Das Gesetz lässt den Geschäftsführer scheinbar im Dunkel, wie er sich in dieser Situation verhalten soll. Ob dies wirklich so ist, dem sollen die nachfolgenden Erwägungen gewidmet sein.

II. Zweck der Haftungsvorschrift in § 64 Satz 3 GmbHG 1. Masseschutzvorschrift Wie bei § 64 Satz 1 GmbHG ganz unstreitig1 ist auch der gesetzgeberische Zweck des § 64 Satz 3 GmbHG ein rein insolvenzrechtlicher, nämlich die Masse für die Insolvenzgläubiger im Interesse der par conditio creditorum zu erhalten. Dabei steht bei § 64 GmbHG die Liquidität, der Zahlungsmittelbestand als für die Gläubiger bewertungsresistente Masse im Vordergrund. Es geht also um die Gläubigergemeinschaft und deren „Schaden“. Ein Schaden der Gesellschaft selbst kann in der Tilgung einer Verbindlichkeit, auch einer Gesellschafterforderung, schon ex definitione nicht gefunden werden2. Die Vermögenslage der Gesellschaft bleibt ja unverändert, tangiert wird lediglich die par conditio creditorum. Während § 64 Satz 1 GmbHG an den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder an die Feststellung der Überschuldung anknüpft, also an gesetzlich definierte (§§ 17 Abs. 2, 19 Abs. 1 InsO) und durch Praxis und Rechtsprechung einigermaßen genau umschriebene Tatbestandsmerkmale, bringt § 64 Satz 3 GmbHG einen neuen Haftungstatbestand speziell für Zahlungen an Gesellschafter für den Fall, dass die Zahlungen „zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“. Dies gilt nach durchgehend h. M. auch für Zins- und Tilgungsleistungen auf fällige Gesellschafterforderun-

__________ 1 Casper in Ulmer, GmbHG-Erg.-Bd., § 64 Rz. 4; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 6; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 32; Haas in Baumbach/ Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 1. 2 BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 78/09 (Doberlug), ZIP 2010, 1988, 1989; Habersack/ Schürnbrand, WM 2005, 957, 959; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 4.

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gen3. Gegenleistungen der Gesellschafter kommen allenfalls dann haftungsbegrenzend in Betracht, wenn sie zu einem liquiditätsäquivalenten Bestandszuwachs der Masse führen4, was bei der Tilgung einer – auch fälligen – Darlehensverbindlichkeit natürlich nicht der Fall ist. Die Vorschrift als Masseschutzvorschrift steht damit, soweit Gesellschafterdarlehen betroffen sind, in einem gewissen Korrespondenzverhältnis zu § 135 InsO, der für diese Fälle dem Insolvenzverwalter ein Anfechtungsrecht einräumt, sofern die Zahlung im letzten Jahr vor der Insolvenzeröffnung vorgenommen worden ist. Die Insolvenzmasse ist also doppelt gesichert durch Ansprüche (nach Anfechtung) gegen den Gesellschafter und durch Ansprüche gegen den Geschäftsführer, die unabhängig nebeneinander stehen. Wird der Geschäftsführer vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen, kann er allerdings nach § 255 BGB im Falle der Anfechtung nach § 135 InsO von der Masse Abtretung des Rückgewähranspruchs nach § 143 InsO verlangen5, so dass er auf diesem Wege sich bei dem eigentlich betroffenen Gesellschafter erholen kann. Das gelingt aber nur, sobald und soweit eine Anfechtung nach § 135 InsO vom Insolvenzverwalter ausgesprochen ist; erst dadurch entsteht ein abtretbarer Anspruch nach § 143 InsO. Unterlässt der Insolvenzverwalter, aus welchen Gründen auch immer, eine Anfechtung nach § 135 InsO, so kann der Geschäftsführer nicht etwa eine Abtretung des Anfechtungsrechts verlangen. Dabei handelt es sich nicht um einen Anspruch, sondern um ein Gestaltungsrecht, das ausschließlich dem Insolvenzverwalter zusteht (§ 129 InsO). Man wird aber dem Geschäftsführer bei möglicher aber (noch) nicht ausgeübter Anfechtung ein Zurückbehaltungsrecht (Leistungsverweigerungsrecht) nach § 273 BGB einräumen müssen, denn der Anspruch auf Abtretung der Ansprüche aus § 143 InsO umfasst auch einen vorgreiflichen Anspruch auf Ausübung des Anfechtungsrechts durch den Insolvenzverwalter. 2. Situation des Geschäftsführers Trotz dieser Möglichkeiten befindet sich der Geschäftsführer in der misslichen Lage, einem Haftungsrisiko mit einem höchst unbestimmten Tatbestandsmerkmal ausgesetzt zu sein, nämlich dem der Zahlungen an Gesellschafter, „die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen“ mussten. Dass es sich hier nicht um eine Kausalität i. S. der Äquivalenztheorie handeln kann, ergibt sich aus dem Nachsatz, dass die Folgewirkung mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns erkennbar sein musste. Damit wird man die Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns schon in den Zurechnungszusammenhang, nämlich

__________ 3 Casper in Ulmer, GmbHG-Erg.-Bd., § 64 Rz. 114; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 75; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 97. 4 Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 100; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 85; Casper in Ulmer, GmbHG-Erg.-Bd., § 64 Rz. 113; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 24. 5 Vgl. Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 107; Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 686; unklar K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 94 einerseits, Rz. 100 andererseits.

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in die Liquiditätsprognose und nicht erst in das Verschulden einbeziehen müssen6, denn die Liquiditätsprognosen können je nach Branche, Unternehmensgröße oder Führungsorganisation höchst unterschiedlich ausfallen. 3. Anwendungsbereich Altmeppen sieht für fällige Ansprüche des Gesellschafters, insbesondere für fällige Ansprüche aus Gesellschafterdarlehen gar keinen Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG7. Solche Ansprüche seien bei der Prüfung der Zahlungsfähigkeit zu berücksichtigen, bevor gezahlt wird, und wenn mit Zahlung Zahlungsunfähigkeit einträte, bereits unter den Tatbestand des § 64 Satz 1 GmbHG zu subsumieren. Insbesondere könne es nicht eine Folge von Satz 3 sein, fällige Ansprüche aus Gesellschafterforderungen etwa in die Prüfung der Zahlungsfähigkeit gar nicht einzubeziehen und damit die (unerwünschte) Krisenfinanzierung der Gesellschaft zu verlängern, anstatt rechtzeitig in das Insolvenzverfahren zu gehen. Das ist sicherlich für den von Altmeppen angesprochenen Fall richtig, dass die Zahlung der fälligen Schuld an den Gesellschafter unmittelbar und ohne das Hinzutreten weiterer Umstände zur Zahlungsunfähigkeit führt. Denn die Zahlung, die unmittelbar dazu führt, dass der Schuldner seine fälligen Forderungen nicht mehr bedienen kann, ist schon nach „Eintritt der Zahlungsunfähigkeit“ i. S. von § 64 Satz 1 GmbHG geleistet. Insoweit wird die fällige Gesellschafterforderung nicht anders behandelt als jede andere Zahlung an Dritte. Darin kann sich aber § 64 Satz 3 GmbHG m. E. nicht erschöpfen. Gesetzgeberischer Zweck des Satz 3 ist doch gerade eine Vorverlagerung des Gläubigerschutzes gegen den Abzug liquider Mittel zugunsten der Gesellschafter8. So gehen auch die Materialien ersichtlich davon aus, dass gerade Zahlungen vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit erfasst werden sollen, wenn sich nur im Zeitpunkt der Zahlung klar abzeichnet, dass die Gesellschaft bei normalem Geschäftsverlauf nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen, wobei außergewöhnliche Umstände, mit deren Eintritt realistischerweise nicht zu rechnen ist, außer Betracht bleiben sollen9. Es wird also vielmehr um die Zahlung an Gesellschafter gehen, nach deren Vornahme durchaus noch Mittel verbleiben, um für eine gewisse Zeit fällige Forderungen zu befriedigen, aber eine realistische Liquiditätsplanung absehen lässt, dass in der Planungsendphase, die auch weiter als 3 Wochen in der Zukunft liegen kann, Zahlungsunfähigkeit und nicht nur eine kurzfristige Zeitraum-Illiquidität (Zahlungsstockung) zu erwarten ist. Wie lange diese Zeitphase ist, lässt sich abstrakt nicht bestimmen. Es kommt auf die Verhältnisse des Einzelfalles an. Wird z. B. eine Anleihe zum Jahresende fällig, so kann durchaus die Tilgung eines zu Beginn oder Mitte des Geschäftsjahres fälligen Gesellschafterdarlehens

__________ 6 7 8 9

A. A. H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 Rz. 109, 173. Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 61 ff. Vgl. auch H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 Rz. 154. Begr. RegE BT-Drucks. 16/6140, S. 47.

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den Tatbestand des Satz 3 erfüllen, auch wenn nach Tilgung die liquiden Mittel noch für einige Monate ausreichen, aber eben nicht mehr ausreichen, um, ohne Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände, die Anleihetilgung vertragsgemäß zu bewerkstelligen. Dies ist die typische Situation, in der die Geschäftsführung zu Sanierungsverhandlungen mit allen Beteiligten, seien es nun Gesellschafter oder Dritte, aufgerufen ist. Das ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Pflichtenstandard des § 43 Abs. 1 GmbHG; das besondere Haftungsregime des § 64 Satz 3 GmbHG ist dazu eigentlich gar nicht erforderlich10.

III. Gibt § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht? 1. Zahlungsverbot Um dem Geschäftsführer aus seiner misslichen Lage wenigstens einigermaßen herauszuhelfen, will ihm die weitaus überwiegende Meinung in der Literatur in der Situation des § 64 Satz 3 GmbHG auch gegen fällige Gesellschafterforderungen ein Leistungsverweigerungsrecht einräumen. Sie geht sogar weiter und entnimmt dem Satz 3 ein zwingendes Zahlungsverbot, das den Geschäftsführer verpflichtet, die von ihm geforderte Leistung zu verweigern11. Damit wird gleichzeitig und konkurrierend ein Haftungstatbestand nach § 43 GmbHG konstruiert. Eine Mindermeinung will dagegen Satz 3 auf die Begleichung fälliger Gesellschafterforderungen nicht zur Anwendung bringen. Danach bestehen Einwendungen, insbesondere ein Leistungsverweigerungsrecht gegen einen fälligen Zahlungsanspruch des Gesellschafters – jenseits der Vorschrift des § 30 Abs. 1 GmbHG – gerade nicht12. Eine höchstrichterliche Entscheidung liegt nicht vor und die Meinungen der Instanzgerichte sind unterschiedlich13. 2. Kein Eingriff in das Forderungsrecht Ein Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft aus § 64 Satz 3 GmbHG abzuleiten, erscheint zwar praktisch, um dem Geschäftsführer eine Handhabe

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10 So im Ergebnis wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 65. 11 Vgl. H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 Rz. 174; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 91; Hölzle, GmbHR 2007, 729, 732; Bormann, DB 2006, 2616; Cahn, Der Konzern 2009, 7 ff.; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567, 569; Gehrlein, BB 2008, 846, 849; Spliedt, ZIP 2009, 149, 160; Kleindiek, GWR 2010, 75; Hoffmann, GmbHR 2010, 203 ff. Wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 65, obwohl für ihn die Frage für fällige Gesellschafterforderungen irrelevant ist, da Satz 3 gar nicht zum Zuge kommt. 12 Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rz. 99; ders., GmbHR 2010, 1, 6, der allerdings Satz 3 auf die Begründung der Forderung anwenden will; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 61; DAV Handelsrechtsausschuss, NZG 2007, 211, 218. 13 Gegen ein Leistungsverweigerungsrecht OLG München, Urt. v. 6.5.2010 – 23 U 1564/10, GmbHR 2010, 815, 817; für ein Leistungsverweigerungsrecht LG Berlin, Beschl. v. 16.12.2009 – 100 O 75/09, GmbHR 2010, 201, 203.

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gegen den Gesellschafter zur Verfügung zu stellen, ist aber m. E. weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck der Vorschrift abzuleiten. Satz 3 ist wie Satz 1 eine Haftungsvorschrift, die sich an den Geschäftsführer wendet, die aber nicht in Bestand und Inhalt von Forderungsrechten gegen die Gesellschaft eingreift. Die Konsequenz ist damit ein Auseinanderfallen des Zahlungsverbots an den Geschäftsführer einerseits und der Fälligkeit und Durchsetzbarkeit eines Anspruchs des Gesellschafters gegen die Gesellschaft andererseits. Das erklärt sich auch zwanglos dadurch, dass § 64 GmbHG als insolvenzrechtliche Vorschrift ausschließlich die Liquidität der Masse schützen soll, nicht aber die Forderungsrechte umgestaltet. Insoweit ist die Situation gerade anders als bei § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, der unmittelbar in die Rechtsbeziehungen (auch die schuldrechtlichen) zwischen Gesellschaft und Gesellschafter eingreift. Die Rechtslage ist keine andere als die bei Satz 1. Gläubiger können auch nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ihre fälligen Forderungen durchzusetzen versuchen. Soweit sie keine Erfüllung erlangen und auch keine Einzelvollstreckung zum Ziele führt, stehen ihnen schlussendlich die insolvenzrechtlichen Möglichkeiten zu, nämlich der Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (§ 14 InsO). Es obliegt dem Verhandlungsgeschick des Geschäftsführers innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden 3-Wochenfrist (§ 15a Abs. 1 Satz 1 InsO) ein Moratorium zur Verwirklichung eines Sanierungskonzepts zu erreichen. Nicht anders ist es im Falle des Satz 3. Nicht ein Leistungsverweigerungsrecht steht dem Geschäftsführer zur Seite; er hat vielmehr die Aufgabe entweder ein Moratorium zwecks Sanierung auszuhandeln oder die ihm zur Verfügung stehenden insolvenzrechtlichen Schritte zu gehen (dazu nachfolgend unter IV.). 3. Andersgeartetes Kapitalersatzrecht? Das Konstrukt eines Leistungsverweigerungsrechts würde bedeuten, dass die Gesellschafterforderung zumindest einredebehaftet wäre, allerdings von einem von der Zahlungsmittelprognose und damit höchst unklar zu bestimmenden Zeitpunkt an. Verzugsfolgen (§ 286 BGB) könnten nicht eintreten und, je nachdem wie man das Leistungsverweigerungsrecht qualifiziert, würde ggf. auch die Fälligkeit der Forderung entfallen. Das hätte aber den kontraproduktiven Effekt, dass die Gläubigerforderung auch im Zahlungsplan für die Feststellung des Eröffnungsgrunds der Zahlungsunfähigkeit nicht zu berücksichtigen wäre14. Dadurch würden aber gerade insolvenzrechtlich notwendige Maßnahmen hinausgeschoben und durch unzutreffende Behandlung fälliger Gesellschafterforderungen die Insolvenzreife hinausgeschoben. Damit würde durch die Hintertür ein, wenn auch anders geartetes, Kapitalersatzrecht wieder eingeführt, was aber dem in § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG zum Ausdruck gekommenen Gesetzeszweck, Gesellschafterdarlehen nicht anders als Drittdarlehen zu behandeln, widersprechen würde. Der Gesetzgeber ist davon abgerückt Gesellschaf-

__________ 14 So aber Casper in Ulmer, GmbHG-Erg.-Bd., § 64 Rz. 46; H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 Rz. 167; Dahl/Schmidt, NZG 2009, 567, 569; Spliedt, ZIP 2009, 149, 160; a. A. Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rz. 62.

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terdarlehen mit dem Odium der Krisenfinanzierung zu belasten und GmbHrechtliche Durchsetzungssperren aufzubauen. Die Problematik ist bewusst im Insolvenzrecht platziert und mit der Anfechtungsfolge nach § 135 InsO belegt worden. Diese Anfechtungsmöglichkeit sieht von dem Merkmal der Krise vollständig ab, auch wenn dies dogmatisch missglückt sein mag15. Diesem eindeutigen Gesetzeswillen würde eine Durchsetzungssperre von fälligen Gesellschafteransprüchen im Falle des § 64 Satz 3 GmbHG zuwiderlaufen. 4. Vollstreckungshandlungen Gegen ein Leistungsverweigerungsrecht spricht unter anderem auch der Umstand, dass § 64 Satz 3 GmbHG dann nicht zur Anwendung kommen kann, wenn es sich um Geldabflüsse handelt, die die Geschäftsführung gar nicht „veranlasst“ hat. Das sind insbesondere die Geldabflüsse, die auf einer Vollstreckungshandlung des Gesellschafter-Gläubigers beruhen. Für § 64 Satz 1 GmbHG ist anerkannt, dass die „Veranlassung“ der Zahlung durch die Geschäftsführung eine anspruchsbegründende Tatsache im Rahmen der Haftungsnorm ist16. Das muss auch für die Haftung aus § 64 Satz 3 GmbHG gelten („Die gleiche Verpflichtung trifft …“). Die Vollstreckung eines Titels z. B. durch eine Kontenpfändung bezüglich einer Gesellschafterforderung hat der Geschäftsführer zu dulden. Der Gesellschaft steht kein Leistungsverweigerungsrecht zu. Den Geschäftsführer trifft aber auch keine Haftung für die Auszahlung, die er gar nicht hätte verhindern können.

IV. Handlungsmöglichkeiten des Geschäftsführers 1. Amtsniederlegung Wenn dem Geschäftsführer einerseits ein Leistungsverweigerungsrecht nicht zur Seite steht, andererseits aber auch die Voraussetzungen des § 64 Satz 1 GmbHG (aktuelle Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) (noch) nicht gegeben sind, die ihn zur Stellung eines Insolvenzantrags verpflichten (§ 15a Abs. 1 InsO), ergibt sich für ihn die spannende Frage, wie er sich denn verhalten soll. Mit der faktischen Nichtzahlung einer fälligen Gesellschafterforderung kann das Problem offenbar nicht seine Erledigung finden. Natürlich kann und ggf. muss der Geschäftsführer sein Amt niederlegen, wenn er sich an der ordnungsgemäßen und seine Haftung ausschließenden Wahrnehmung seiner Pflichten gehindert sieht17; dazu gehört auch die Pflicht zur Erhaltung der Haftungsmasse für die Gesellschaftsgläubiger. Dies wird aber nur der letzte Ausweg sein, wenn er den nachfolgend beschriebenen Weg nicht gehen will oder nicht gehen kann.

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15 Vgl. Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, Anh. §§ 32a, b Rz. 4 ff. m. w. N. 16 BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, ZIP 2009, 956; OLG München, Urt. v. 19.1.2011 – 7 U 4342/10, ZIP 2011, 277; Wilkens/Breßler, EWiR 2009, 645. 17 BFH, Urt. v. 5.3.1985 – VII B 69/84, BFH/NV 1987, 422; FG München v. 15.7.2010 – 14 V 1552/10, BB 2011, 227, 228.

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2. Insolvenzeröffnungsgrund der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ Hier drängt sich aber geradezu ein – bisher weitgehend unbeliebtes18 – Instrument der InsO auf, nämlich der Eröffnungsgrund der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ in § 18 InsO. Zwar sind die Tatbestandsmerkmale, jedenfalls in ihrer verbalen Umschreibung, nicht deckungsgleich: § 18 InsO greift ein, wenn der Schuldner droht, zahlungsunfähig zu werden, was dann der Fall ist, wenn er voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. § 64 Satz 3 GmbHG hingegen stellt auf Zahlungen an Gesellschafter ab, „soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit führen mussten“! Es ist aber die Frage zu stellen, ob nicht der eine Tatbestand im anderen enthalten ist. Das ist uneingeschränkt zu bejahen: Zahlungen, die auch bei adäquatem Kausalzusammenhang, also ohne Hinzutreten weiterer Kausalbeiträge, zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen19, bewirken sachnotwendig, dass die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. § 64 Satz 3 GmbHG ist damit der engere Tatbestand, der immer von § 18 Abs. 1 und Abs. 2 InsO umfasst ist. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Geschäftsführer sich der Zahlung auf eine fällige Gesellschafterverbindlichkeit, sollte diese zur Zahlungsunfähigkeit führen, grundsätzlich immer durch Stellung eines Insolvenzantrags nach § 18 InsO erwehren kann. Sind die Voraussetzungen des § 64 Satz 3 GmbHG gegeben, sind in jedem Falle auch die Voraussetzungen des § 18 InsO erfüllt. Die Rechtslage ist insoweit nicht anders als bei aktueller Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO); auch hier kann sich der Geschäftsführer durch Stellung eines Insolvenzantrags der Zahlung auf fällige Forderungen, nunmehr auch von Drittgläubigern, erwehren. Diese von der InsO eingeräumte Möglichkeit ist deshalb so wichtig, weil sie dem Geschäftsführer für mögliche und notwendige Verhandlungen mit dem Gesellschafter über ein Moratorium, einen Rangrücktritt oder einen sonstigen Sanierungsbeitrag, ein nicht unwesentliches Druckmittel in die Hand gibt. Misslingen solche Verhandlungen und besteht der Gesellschafter auf Zahlung seiner fälligen Forderung, so ist eine vorverlagerte Insolvenzeröffnung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit auch der richtige Weg, der im Interesse der Erhaltung des Unternehmens und im Interesse der Gläubiger zu gehen ist. Dieser Weg eröffnet die rechtzeitige Anordnung von Sicherungsmaßnahmen (§ 21 Abs. 2 und Abs. 3 InsO), das Recht auf Vorlage eines eigenen Insolvenzplans bei Antragstellung (§ 218 Abs. 1 InsO) und die Option der Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO).

__________ 18 Vgl. Schmerbach in Frankfurter Komm. InsO, 6. Aufl., § 18 Rz. 32 ff.; Drukarczyk in MünchKomm. InsO, 2. Aufl., § 18 Rz. 3. 19 RegE-MoMiG S. 206.

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3. Gleichzeitigkeit der Voraussetzungen von § 18 InsO und § 64 Satz 3 GmbHG Die Brücke zu § 18 InsO versetzt den Geschäftsführer auch eher in die Lage, die notwendigen Kausalitätsüberlegungen für die Haftungsnorm des § 64 Satz 3 GmbHG anzustellen. Die besondere Schwierigkeit bei § 64 Satz 3 GmbHG besteht ja darin, dass der Geschäftsführer zur Abwägung seiner Handlungsalternativen eine ex-ante Betrachtung anstellen muss, während sich das Haftungsrisiko aus seinem Handeln aus einer ex-post Betrachtung erschließt20. Dem Geschäftsführer kommt deshalb die These zugute, dass nur dann überhaupt eine Haftung nach § 64 Satz 3 GmbHG in Betracht kommen kann, wenn gleichzeitig auch die Voraussetzungen des § 18 InsO erfüllt waren und damit dem Geschäftsführer und der Gesellschaft ein taugliches Gegenmittel zur Abwehr der fälligen Forderung zur Verfügung gestanden hat. Macht der Geschäftsführer davon keinen Gebrauch und gelingt es ihm auch nicht in Verhandlungen mit dem Gesellschafter ein Moratorium oder andere Sanierungsmaßnahmen zu erreichen, dann und nur dann kann im tatsächlichen Insolvenzfall eine Haftung nach § 64 Satz 3 GmbHG in Betracht kommen, wenn er trotz alldem die Rückzahlung veranlasst hat. 4. Prüfungsschritte Die notwendigen Prüfungsschritte zur Beantwortung der Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind oder nicht, sind für § 64 Satz 3 GmbHG und für § 18 InsO nahezu identisch. Beides sind Vorschriften, die auf die zeitraumbezogene Zahlungsunfähigkeit abstellen, im Gegensatz zu § 64 Satz 1 GmbHG und § 15a Abs. 1 InsO, die den Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit im Blick haben. Beide Vorschriften sind prognoseorientiert: Für § 64 Satz 3 GmbHG wird man, wie bei § 18 InsO für die Festlegung des maximalen Prognosezeitraumes auf den am weitesten entfernten Fälligkeitszeitpunkt einer dem Grunde nach bestehenden Zahlungsverpflichtung der Gesellschaft abstellen müssen. In den für den so bestimmten Zeitraum zu erstellenden Finanzplan sind dann alle Zahlungszu- und -abflüsse, einschließlich der Tilgung fälliger Gesellschafterdarlehen aufzunehmen. Dabei definiert der am weitesten entfernte Fälligkeitszeitpunkt natürlich nur den theoretisch maximalen Prognosezeitraum. Die Finanzplanung kann dort enden, wo „voraussichtlich“ Zahlungsunfähigkeit eintritt21. Allerdings besteht ein ganz entscheidender Unterschied zwischen dem Antragsrecht nach § 18 InsO und der Haftungsnorm des § 64 Satz 3 GmbHG. Das Antragsrecht ist gegeben, wenn Zahlungsunfähigkeit „droht“, wenn die Gesellschaft „voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen“. § 64 Satz 3 GmbHG setzt dagegen voraus, dass die Zahlungen an Gesellschafter zur „Zahlungsunfähig-

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20 Vgl. K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 86. 21 Vgl. Drukarczyk in MünchKomm. InsO, 2. Aufl., § 18 Rz. 40; Schmerbach in Frankfurter Komm. InsO, 6. Aufl., § 18 Rz. 13.

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keit der Gesellschaft führen mussten“. Die Prognosewahrscheinlichkeit ist unterschiedlich. Für das Antragsrecht ist ausreichend, dass mehr für als gegen den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit spricht; die Prognosewahrscheinlichkeit muss also 50 % übersteigen22. Für die Haftungsfolge nach § 64 Satz 3 GmbHG wird hingegen vorausgesetzt, dass die Zahlung an den Gesellschafter zur Zahlungsunfähigkeit „führen musste“. Das bedeutet für die ex-ante Prognose eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, die man wohl bei 95 % ansetzen muss. Darin kommt der signifikante und sinnvolle Unterschied zwischen Antragsrecht und Haftungsfolge zum Ausdruck.

V. Kompetenzen und Weisungsbefugnisse 1. Entscheidungsbefugnis Schuldner des Erstattungsanspruchs nach § 64 Satz 3 GmbHG sind die Geschäftsführer der Gesellschaft, sofern ihnen die Zahlung zuzurechnen ist23. Den Eröffnungsantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit können entweder alle Mitglieder des Vertretungsorgans (der Geschäftsführung), mindestens aber die Geschäftsführungsorgane in vertretungsberechtigter Zahl, so z. B. der einzelvertretungsberechtigte Geschäftsführer, stellen (§ 18 Abs. 3 InsO). In der Regel wird bei mehreren Geschäftsführern die Entscheidung von Zahlungen an Gesellschafter, die in der Nähe der Zahlungsunfähigkeit stattfinden, schon aus Gründen der Verantwortlichkeit eine Befassung des Geschäftsführungsgremiums erforderlich machen, so dass bei einer einstimmigen Auszahlung auch die Zurechnung an alle Geschäftsführer erfolgen kann. Bei einer Mehrheitsentscheidung kann ein Erstattungsanspruch bei dem widersprechenden Geschäftsführer an der mangelnden Zurechenbarkeit scheitern; allenfalls hat er die Möglichkeit, sofern er einzelvertretungsberechtigt ist, einen Antrag nach § 18 InsO zu stellen. Jedoch könnte dieser Antrag von den anderen Geschäftsführern, ggf. auf Weisung der Gesellschafterversammlung, zurückgenommen werden. 2. Gesellschafterversammlung Die Geschäftsführung bzw. der Geschäftsführer ist vor der Entscheidung, einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit zu stellen, grundsätzlich gehalten, die Gesellschafter zu unterrichten bzw. eine Gesellschafterversammlung einzuberufen. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Einberufung auch wegen § 49 Abs. 3 GmbHG (Verlust der Hälfte des Stammkapitals) notwendig ist oder eine solche Versammlung ggf. schon stattgefunden hat. Hält die Geschäftsführung die Gesellschaft für sanierungsfähig, i. d. R. mit einem Moratorium oder einem ganzen oder teilweisen Verzicht auf Gesellschafterforderungen und ggf. anderen Maßnahmen, so liegt es in der Kompetenz der

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22 Drukarczyk in MünchKomm. InsO, 2. Aufl., § 18 Rz. 19; Bußhardt in Braun, InsO, 4. Aufl., § 18 Rz. 5; Schmerbach in Frankfurter Komm. InsO, 6. Aufl., § 18 Rz. 23. 23 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 23.

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Gesellschafterversammlung ein solches Konzept zu beschließen. Die Thematik des § 64 Satz 3 GmbHG und des § 18 InsO erledigt sich damit24. Einigen sich die Gesellschafter hingegen nicht auf ein Sanierungskonzept und besteht der Gesellschafter auf Zahlung seiner fälligen Forderung, bleibt für die Geschäftsführung das Antragsrecht des § 18 InsO als Weg aus dem Dilemma. Gleiches gilt, wenn die Geschäftsführung die Gesellschaft von vorneherein gar nicht für sanierungsfähig hält. 3. Weisungsfestigkeit Dass Weisungen der Gesellschafterversammlung oder des Gläubiger-Gesellschafters die auszahlende Geschäftsführung nicht aus der Haftung nach § 64 Satz 3 GmbHG entlassen, ist einheitliche Meinung25. Umgekehrt bedeutet dies, dass eine Auszahlungsanweisung durch die Gesellschafterversammlung die Geschäftsführung nicht bindet; die Entscheidung der Geschäftsführung ist weisungsfest. Dem ist zu folgen, denn ein Geschäftsführer kann nicht gehalten sein, eine Weisung zu befolgen, die ihn in einen sicheren Haftungstatbestand führt. Allerdings macht sich der Geschäftsführer umgekehrt einer Pflichtverletzung schuldig, wenn er irrtümlich unter Vernachlässigung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns, z. B. wegen nicht plausibler Prognoseannahmen, die Voraussetzungen des § 64 Satz 3 GmbHG annimmt. Die Beweislast, dass dies nicht der Fall ist, trifft die Geschäftsführung und kann i. d. R. nur durch die später tatsächlich eingetretene Insolvenz geführt werden. Auch daran ist erkennbar, in welch beinahe unzumutbare Position § 64 Satz 3 GmbHG die Geschäftsführung bringen kann. Weisungsfest ist auch die Insolvenzantragspflicht nach § 15a Abs. 1 InsO und damit auch die Massesicherungspflicht nach § 64 Satz 1 GmbHG nach eingetretener Zahlungsunfähigkeit26. Ob dies auch für den Insolvenzantrag nach § 18 Abs. 1 InsO gilt, könnte vom Grundsatz her fraglich sein, weil es sich um ein Recht und keine Pflicht des Vertretungsorgans handelt27. Dies gilt umso mehr, weil die Geschäftsführung vor Ausübung des Antragsrechts nach § 18 InsO i. d. R. die Gesellschafterversammlung einberufen und eine entsprechende Beschlussfassung herbeiführen muss. In der Kombination der Sachlage des § 64 Satz 3 GmbHG und des § 18 Abs. 1 InsO ist jedoch die Entscheidung für den Insolvenzantrag auf jeden Fall als weisungsfest anzusehen. In die Verquickung beider Vorschriften zugunsten der Geschäftsführung kann die Gesellschafterversammlung nicht durch Beschluss oder Weisung eingreifen. Die Geschäftsführung ist an Weisungen nicht gebunden, die das Gläubigerinteresse wesent-

__________ 24 Vgl. Bork, ZIP 2011, 101, 106. 25 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 64 Rz. 33; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, § 64 Rz. 69; H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 Rz. 174; Casper in Ulmer, GmbHG-Erg.-Bd., § 64 Rz. 123. 26 Vgl. Strohn, DB 2011, 158, 166. 27 Strohn, DB 2011, 158, 166 hält auch diese Entscheidung für weisungsfest: Was für die Massesicherungspflicht nach § 64 Satz 1 GmbHG gelte, müsse gleichermaßen für die Insolvenzvermeidungspflicht nach § 64 Satz 3 GmbHG gelten.

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lich verletzen und sie selbst Erstattungs- oder Schadensersatzansprüchen aussetzen. Kein gewichtiges Entscheidungsproblem hat lediglich der Alleingesellschafter, Alleingeschäftsführer und Darlehensgeber in einer Person. Er kann sich sein Darlehen ruhig zurückzahlen. Er ist nur damit belastet, dass er ggf. nach § 64 Satz 3 GmbHG oder nach einer Insolvenzanfechtung aufgrund § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO zur Rückzahlung verpflichtet ist. Damit verwirklicht sich nur ein Risiko, dass schon immer dem Darlehensanspruch angehaftet hat.

VI. Fazit Als Ergebnis der Überlegungen ist festzuhalten: – § 64 Satz 3 GmbHG schützt den Zahlungsmittelbestand der Gesellschaft zugunsten späterer Insolvenzgläubiger. – Die Vorschrift kommt auch bei Zahlungen auf fällige Gesellschafterforderungen zur Anwendung und begründet damit einen Haftungstatbestand für die Geschäftsführung, ohne jedoch der Gesellschaft gegen die fällige Gesellschafterforderung – jedenfalls aus § 64 Satz 3 GmbHG heraus – ein korrespondierendes Leistungsverweigerungsrecht einzuräumen. – Der Tatbestand des § 64 Satz 3 GmbHG ist jedoch in dem Tatbestand des § 18 Abs. 1 InsO, dem Insolvenzantragsrecht bei drohender Zahlungsfähigkeit, enthalten. § 64 Satz 3 GmbHG ist der engere Tatbestand, weil Zahlungsunfähigkeit nicht nur drohen, sondern zwingend bevorstehen muss. – Fordert ein Gesellschafter in der Situation des § 64 Satz 3 GmbHG Rückzahlung eines fälligen Darlehens und ist er im Verhandlungswege nicht zu einem Sanierungsbeitrag, z. B. in Form eines Moratoriums, bereit, so steht der Geschäftsführung der Weg des Insolvenzantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit offen und ist sinnvollerweise bei Sanierungsunwilligkeit der Gesellschafter auch zu gehen. – Die Entscheidung der Geschäftsführung, Insolvenzantrag nach § 18 Abs. 1 InsO zu stellen, ist jedenfalls in der Kombination mit einem Sachverhalt, der den Tatbestand des § 64 Satz 3 GmbHG erfüllt, von Weisungen der Gesellschafterversammlung unabhängig (weisungsfest).

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Gemischte Sacheinlage ohne Offenlegung des Vergütungsbestandteils Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Meinungsstand zur gemischten Sacheinlage ohne Offenlegung des Vergütungsbestandteils 1. Meinungsstand zum früheren Recht 2. Meinungsstand zum neuen Recht a) Ausgangspunkt: Entsprechende Anwendung der Regelungen zur verdeckten Sacheinlage auf unvollständige Satzungsfestsetzungen b) Unterlassene Offenlegung des Vergütungsbestandteils bei der gemischten Sacheinlage im Konkreten aa) Erste Auffassung: Bareinlagepflicht mit anschließender Anrechnung bb) Zweite Auffassung: Sacheinlageverpflichtung, Vergütungsanspruch umstritten (1) Wirksame Sacheinlageverpflichtung und bestehender Vergütungsanspruch (2) Wirksame Sacheinlageverpflichtung, jedoch kein Vergütungsanspruch III. Stellungnahme 1. Vorüberlegungen a) Keine unmittelbare Beantwortung der zu untersuchenden Frage anhand der neuen Gesetzeslage b) Argumentum a maiore ad minus nicht tragfähig 2. Sach- oder Bareinlagepflicht des Inferenten bei nicht offen gelegter Vergütungsabrede? a) Ausgangspunkt: Wirksamkeit der Sacheinlageverpflichtung nach altem Recht

b) Keine unmittelbare Änderung der Rechtslage durch das neue Recht c) Umqualifizierung zur Eröffnung der Anrechnungsmöglichkeit? d) Zwischenergebnis 3. Zur kapitalaufbringungs- und kapitalerhaltungsrechtlichen Zulässigkeit eines nicht offen gelegten Vergütungsanspruchs a) Vorüberlegungen aa) Keine Bindung des Mehrwerts als Agio bb) Keine Vorgaben durch das Verbot der Bildung willkürlicher stiller Reserven cc) Kein Ausschluss der Problematik durch das Kapitalerhaltungsrecht dd) Keine durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf das Erfordernis der Leistung zur endgültigen freien Verfügung ee) Nähe des nicht festgesetzten Vergütungsanspruchs zur Mangelhaftigkeit der Sacheinlage b) Bedeutung der unterlassenen (vollständigen) Offenlegung aa) Relativierung der Offenlegung nach neuem Recht bb) Beeinträchtigung der registergerichtlichen Möglichkeiten nach neuem Recht kein durchgreifendes Argument cc) Ausschlaggebend: Unzutreffende Darstellung der Vermögensausstattung der Gesellschaft c) Folgerungen für die Frage der Umqualifizierung der Einlagepflicht IV. Zusammenfassung

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I. Einleitung Eine gemischte Sacheinlage liegt vor, wenn der Gegenstand der geschuldeten Sacheinlage wertmäßig den Nennbetrag der geschuldeten Einlage übersteigt und der Inferent von der Gesellschaft hinsichtlich des die Einlageschuld übersteigenden Betrags ein sonstiges Entgelt erhalten soll1. Dies unterscheidet sie von der Mischeinlage (teilweise auch als gemischte Einlage bezeichnet), bei der der Inferent als Einlage eine Bar- und eine Sacheinlage zu erbringen hat2. Das bei einer gemischten Sacheinlage von der Gesellschaft zu leistende Entgelt kann in einer baren Auszahlung des Differenzbetrags, aber auch in sonstigen Leistungen, beispielsweise in der Einräumung einer entsprechenden Darlehensforderung gegen die Gesellschaft liegen3. Im GmbH-Recht muss der Gegenstand der geschuldeten Sacheinlage gemäß § 7 Abs. 3 GmbHG vollständig vor der Anmeldung der Gesellschaft geleistet sein; im Aktienrecht richtet sich der Einbringungszeitpunkt zutreffender Auffassung zufolge nach dem Gegenstand der Sacheinlage4. Zu welchem Zeitpunkt die von der Gesellschaft bei einer gemischten Sacheinlage zu erbringende Vergütungsleistung erfolgt, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Sie kann vor oder nach der Anmeldung bzw. vor oder nach der Eintragung der Gesellschaft erfolgen. Zulässig sind gemischte Sacheinlagen sowohl bei der Gründung als auch bei der Kapitalerhöhung. Sind gemischte Sacheinlagen beabsichtigt, müssen sie jedoch in der Satzung festgesetzt und damit offen gelegt werden. Hierzu ist neben den Sacheinlagefestsetzungen ausdrücklich anzugeben, dass die Gesellschaft an den Inferenten eine zusätzliche Leistung erbringen soll, und die Art und Höhe dieser zusätzlichen Leistung ist ebenfalls offen zu legen5. Notwendig, aber auch genügend, ist es, wenn die Satzung die zur Bestimmbarkeit der Höhe der Gegenleistung erforderlichen Angaben enthält; präzise Angaben oder etwa eine Schätzung des von der Gesellschaft zu leistenden Betrages sind – was insbesondere bei der Einbringung von Unternehmen als gemischte Sacheinlage Bedeutung erlangt – nicht erforderlich6. Fraglich ist, was zu gelten hat, wenn die Satzung zwar die Erbringung einer Sacheinlage ausweist, den Vergütungsbestandteil der Abrede jedoch verschweigt. Diese bereits vom Reichsgericht behandelte7 Frage neu aufzuwerfen, wird durch das neue Recht der verdeckten Sacheinlage in § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG nahe gelegt. Zwar handelt es sich bei den Fällen der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage nicht um

__________ 1 Vgl. nur Ulmer in Ulmer, GmbHG, 2005, § 5 Rz. 118; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 Rz. 67. 2 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 119; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 67; § 36 Rz. 98 f. 3 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 118; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 67. 4 Str., näher Pentz in MünchKomm. AktG, § 36a Rz. 9 ff., 13 ff. 5 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 121; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 68. 6 Näher Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 122; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1992 ff., § 27 Rz. 108. 7 RGZ 114, 77, 81 f.; RGZ 118, 113, 117 f.; RGZ 125, 323, 328 f.

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eine verdeckte Sacheinlage, weil diese dadurch gekennzeichnet ist, dass die Vorschriften über die Sacheinlage durch die Aufspaltung eines wirtschaftlich einheitlich gewollten Vorgangs in zwei oder mehr Teile dahin umgangen werden, dass nach außen eine Bareinlage verlautbart wird, tatsächlich jedoch im Ergebnis eine Sacheinlage gewollt ist8. Unter Wertungsgesichtspunkten stellt sich jedoch die Frage, ob die neuen Regelungen zur verdeckten Sacheinlage, die immerhin davon ausgehen, dass eine tatsächlich gewollte Sacheinlage in keiner Weise offenbart worden ist, nicht auch Einfluss auf Gestaltungen haben müssen, in denen eine Sacheinlage als solche zwar offen gelegt worden ist, die Offenlegung den gesetzlichen Vorgaben aber nicht genügt9. Der Regierungsentwurf10 hatte im Zusammenhang mit den Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage noch eine der Sache nach auf die Leistung an Erfüllungs statt hinauslaufende Regelung mit einer Differenzhaftung des Gesellschafters vorgesehen11. Heute sehen § 19 Abs. 4 GmbHG und § 27 Abs. 3 AktG im Anschluss an einen Vorschlag des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins12, an dem Martin Winter nicht unmaßgeblich beteiligt war13, die Anrechnung des Wertes des verdeckt eingebrachten Vermögensgegenstands auf die Einlageverbindlichkeit des Gesellschafters vor, und zwar auf der Basis der Wirksamkeit der schuldrechtlichen und der dinglichen Rechtsgeschäfte nach § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG14.

__________ 8 An diesem Verständnis vom Tatbestand der verdeckten Sacheinlage hat auch die verunglückte Umschreibung in § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026 bzw. das Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) vom 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479 nichts geändert, näher Pentz in FS K. Schmidt, 2009, S. 1265, 1273; ders., GmbHR 2009, 126, 127; GmbHR 2009, 505, 507 f.; für das Aktienrecht gilt insoweit nichts anderes, mit Recht Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 27 Rz. 25: „Gewählte Umschreibung ist deshalb eine falsa demonstratio“; aus der Rechtsprechung s. BGHZ 180, 38 = NJW 2009, 2375 Tz. 8 – Qivive; BGH, NJW 2010, 1747 Tz. 15 – Eurobike; BGH, NJW 2010, 1948 Tz. 11 – Adcocom. 9 Vgl. bereits Habersack, GWR 2010, 107; Freitag/Riemenschneider in MünchHdb. GesR III, 3. Aufl. 2009, § 9 Rz. 59; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 19 Rz. 53, § 5 Rz. 18 f.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 5 Rz. 32, 41; Veil in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2010, Nachtrag MoMiG § 19 Rz. 13; Wicke, GmbHG, 2008, § 5 Rz. 15; zumindest bei unbewusstem Verstoß Herrler, DB 2008, 2347, 2351 f. 10 Abgedruckt etwa bei Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008, S. 243 f. bzw. Gehrlein, Das neue GmbH-Recht, 2009, S. 162 f. 11 Zur ursprünglichen Konzeption vgl. Märtens in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 19 Rz. 164 ff.; Veil in Scholz, Nachtrag MoMiG § 19 Rz. 17; Casper in Ulmer, Erg.-Bd. MoMiG § 19 Rz. 27 f.; zur Entstehungsgeschichte aus Sicht des zuständigen Referenten Seibert in FS Maier-Reimer, 2010, S. 673, 674 ff. 12 Die Stellungnahme ist u. a. abgedruckt in NZG 2007, 735, 739 Rz. 45 mit Hinweis auf die Stellungnahme zum Referentenentwurf des MoMiG in NZG 2007, 211, Rz. 110 ff. und vom Juni 1996, WiB 1996, 707 ff. 13 Martin Winter war 2006 einer der Berichterstatter der Stellungnahme 47/06; s. auch seinen Beitrag in FS Priester, 2007, S. 867, 878; den dortigen Überlegungen zust. Priester, ZIP 2008, 55, 56. 14 Hierzu bereits Martin Winter in FS Priester, 2007, S. 867, 878.

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Dass der Verf. der Gesetz gewordenen Anrechnungslösung kritisch gegenübersteht, wusste Martin Winter nicht zuletzt aus den Diskussionen im Handelsrechtsausschuss um das ARUG15 und Gesprächen außerhalb dieses Kreises16. An einer Diskussion über das Fruchtbarmachen der Gesetz gewordenen – und damit hinzunehmenden – Neuregelung für hiervon nicht unmittelbar erfasste Fälle hätte er jedoch vermutlich Freude gehabt, und einer dieser insoweit in Betracht kommenden Fälle soll deshalb Gegenstand des nachstehenden, dem Gedächtnis von Martin Winter gewidmeten Beitrags sein.

II. Meinungsstand zur gemischten Sacheinlage ohne Offenlegung des Vergütungsbestandteils 1. Meinungsstand zum früheren Recht Unter der Geltung des alten, durch das MoMiG bzw. das ARUG dann 2008 bzw. 2009 geänderten Rechts wurde für den Fall, dass die Satzung zwar eine Sacheinlage auswies, jedoch nicht offen gelegt wurde, dass von Seiten der Gesellschaft hierfür noch eine Vergütung an den Inferenten zu erbringen war, vertreten, dass es bei den Verlautbarungen in der Satzung der Gesellschaft sein Bewenden hatte. Der Inferent war infolgedessen zur Erbringung der in der Satzung ausgewiesenen Sacheinlage verpflichtet, konnte aber keinen Vergütungsanspruch gegen die Gesellschaft geltend machen17. Das Reichsgericht hatte zur AG in diesem Zusammenhang darauf abgestellt, dass die Gesellschaft nach dem Zweck der einschlägigen Bestimmung in § 186 Abs. 4 HGB a. F.18 mit nicht öffentlich „kundgegebenen Verpflichtungen“ nicht belastet werden solle, und jede Abrede, die sich nicht aus der Satzung selbst ergebe, der Gesellschaft gegenüber unwirksam sei, die Einlageverpflichtung im Übrigen aber nach Maßgabe ihrer Verlautbarung unberührt lasse19. Zur GmbH hat das Reichsgericht trotz Fehlens einer § 186 Abs. 4 HGB a. F. entsprechenden Vorschrift ausgeführt, dass Entsprechendes auch hier zu gelten habe und dass das „Einbringungsabkommen“ der Gesellschaft gegenüber nur so rechtliche Wirkung habe, wie es sich aus der Satzung ergebe; der Inferent müsse deshalb die Einbringung so gegen sich gelten lassen, wie sie in der Satzung geregelt sei, und könne sich nicht nachträglich auf eine unvollständige Beurkundung der Abreden berufen20. Sofern ausnahmsweise die Voraussetzungen für eine Teil-

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15 Während der Referentenentwurf des ARUG noch abwarten wollte, ob sich das GmbH-rechtliche Modell zur verdeckten Sacheinlage bewähren würde, wurde dieser Vorbehalt auf dem Weg zum Regierungsentwurf fallen gelassen. 16 S. auch Martin Winter in Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, Rz. 2.8, Rz. 2.21. 17 RGZ 114, 77, 81 f.; RGZ 118, 113, 117 f.; RGZ 125, 323, 328 f.; Habersack in FS Konzen, 2006, S. 179, 182; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 123; H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 84. 18 Die Bestimmung lautet: „Jedes Abkommen über die vorbezeichneten Gegenstände, welches nicht die vorgeschriebene Festsetzung im Gesellschaftsvertrag gefunden hat, ist der Gesellschaft gegenüber unwirksam.“ 19 RGZ 114, 77, 80, 81. 20 RGZ 118, 113, 117; s. auch RGZ 125, 323, 328 f.

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anfechtung vorlagen, wurde der Inferent als berechtigt angesehen, die Sacheinlagevereinbarung (nicht: die Beitrittserklärung) anzufechten21. Eine Aufnahme der getroffenen Vergütungsabrede nach Eintragung der Gesellschaft wurde nur im Wege der Satzungsänderung unter Berücksichtigung der für die Kapitalherabsetzung geltenden Vorschriften für möglich gehalten, da die Aufnahme der Vergütungsabrede im Ergebnis als Rückzahlung eines Teils der Einlage angesehen wurde22. Auf die Mitwirkung an der notwendigen Satzungsänderung bestand – im Rahmen des kapitalgesellschaftsrechtlich Zulässigen – ein Anspruch des Inferenten23. Im Übrigen wurden Ansprüche des Inferenten gegen seine Mitgesellschafter auf anteiligen internen Ausgleich in Betracht gezogen, wobei insoweit eine gleichwertige Nachzahlung in das Gesellschaftsvermögen seitens der Mitgesellschafter24 bzw. Bereicherungsansprüche gegen diese nach §§ 812, 815 BGB25 diskutiert wurden. 2. Meinungsstand zum neuen Recht Die Rechtsfolgen einer im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage unter der Geltung des seit MoMiG und ARUG neuen Rechts sind umstritten: a) Ausgangspunkt: Entsprechende Anwendung der Regelungen zur verdeckten Sacheinlage auf unvollständige Satzungsfestsetzungen Im Ausgangspunkt entspricht es nach der Änderung des Rechts der verdeckten Sacheinlage durch § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG der ganz herrschenden Meinung, diese Regelungen auch für die Fälle fruchtbar zu machen, in denen die nach §§ 5 Abs. 4, 56 Abs. 1 GmbHG bzw. §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1, 194 Abs. 1, 205 Abs. 2 AktG vorgeschriebenen Festsetzungen in der Satzung nicht vollständig enthalten sind. Begründet wird dies im Wege eines Erst-recht-Schlusses damit, dass es wertungswidersprüchlich sei, denjenigen, der – wie dies bei der verdeckten Sacheinlage der Fall ist – das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage gänzlich verschweigt, gegenüber demjenigen zu privi-

__________ 21 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 124, 103. 22 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 124; H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 84. 23 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 124, der für den satzungsändernden Beschluss Einstimmigkeit verlangte; abw. wohl H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 84; nachdem der BGH für den Fall der verdeckten Sacheinlage bei der GmbH einen Anspruch des Inferenten gegenüber seinen Mitgesellschaftern auf Mitwirkung an der Heilung einer verdeckten Sacheinlage bejaht hatte (BGHZ 155, 329 = NJW 2003, 3127; s. auch OLG Koblenz, NZG 2002, 977), konnte jedoch auch für den Fall der nicht aufgenommenen Vergütungsabrede nichts Abweichendes gelten. 24 Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 124. 25 H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 84.

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legieren, der die Sacheinlagevereinbarung zumindest teilweise offen legt26. Konsequenterweise erstreckt sich die entsprechende Anwendung dieser Regelungen auch auf die (Altfälle ebenfalls erfassenden)27 Übergangsbestimmungen in § 3 Abs. 4 EGGmbHG bzw. § 20 Abs. 7 EGAktG28. b) Unterlassene Offenlegung des Vergütungsbestandteils bei der gemischten Sacheinlage im Konkreten Umstritten ist jedoch die Anwendung des neuen Rechts der verdeckten Sacheinlage auf die unterlassene Offenlegung des Vergütungsbestandteils bei der gemischten Sacheinlage: aa) Erste Auffassung: Bareinlagepflicht mit anschließender Anrechnung Nach der ersten Auffassung hat die unterlassene Offenlegung des Vergütungsbestandteils die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung zur Folge und führt zur Pflicht des Inferenten, die geschuldete Einlage bar zu leisten29. Auf diese Bareinlageverpflichtung kann sodann entsprechend § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG auf der Basis der dort angeordneten Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte der Wert des Vermögensgegenstands angerechnet werden, der der unwirksam festgesetzten gemischten Sacheinlage zugrunde liegt30. bb) Zweite Auffassung: Sacheinlageverpflichtung, Vergütungsanspruch umstritten Nach der Gegenmeinung lässt die unvollständige Festsetzung der gemischten Sacheinlage im Vergütungsbestandteil die Sacheinlageverpflichtung als solche auch nach neuem Recht unberührt31. Innerhalb dieser Auffassung sind die Her-

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26 Allg. hierzu zum GmbH-Recht Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 5 Rz. 32; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, § 5 Rz. 50 f.; Märtens in MünchKomm. GmbHG, § 5 Rz. 240 (s. aber auch dens. zur nicht offen gelegten Vergütungsvereinbarung bei Rz. 211); Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 5 Rz. 55b; Schäfer in Bork/Schäfer, GmbHG, § 5 Rz. 24; Veil in Scholz, GmbHG, Nachtrag MoMiG § 19 Rz. 13; Wicke, GmbHG, § 5 Rz. 15, jew. m. w. N.; speziell zur nicht ordnungsgemäß offen gelegten gemischten Sacheinlage Habersack, GWR 2010, 107; Casper in Ulmer, GmbHG, Erg.-Bd. MoMiG § 19 Rz. 46; zum Aktienrecht: Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 27 Rz. 38. 27 BGHZ 185, 44 = NJW 2010, 1948 Tz. 19 ff. – Adcocom; zu dieser Entscheidung Altmeppen, NJW 2010, 1955; Bayer/Fiebelkorn, LMK 2010, 304927; Goette in VGR (Hrsg.) Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 1, 16 ff.; Haas/Vogel, NZG 2010, 1081; Pentz, GmbHR 2010, 673; ders., GWR 2010, 285. 28 Ausf. Habersack, GWR 2010, 107; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 5. Aufl. 2011 (erscheint demnächst), § 19 Rz. 214. 29 In diesem Sinne implizit offensichtlich Habersack, GWR 2010, 107. 30 Habersack, GWR 2010, 107. 31 Koch, ZHR 175 (2011), 55, 76 ff.; Stiller/Redeker, ZIP 2010, 865, 869; Benz, Verdeckte Sacheinlage und Einlagenrückzahlung im reformierten GmbH-Recht (MoMiG), 2010, S. 193 f.

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leitung dieses Ergebnisses und die hieraus zu ziehenden Konsequenzen jedoch streitig: (1) Wirksame Sacheinlageverpflichtung und bestehender Vergütungsanspruch Einerseits wird davon ausgegangen, dass aus der mit dem neuen Recht der verdeckten Sacheinlage bezweckten Deregulierung für den Fall der nicht vollständig offen gelegten gemischten Sacheinlage abzuleiten sei, dass die unterlassene Offenlegung des Vergütungsbestandteils sich auf die Wirksamkeit der Sacheinlageverpflichtung nicht auswirken könne32. Zudem wird hieraus und aus der Aufhebung des § 27 Abs. 3 AktG a. F. gefolgert, dass dem Inferenten ein Anspruch auf die Vergütung zustehen müsse33. (2) Wirksame Sacheinlageverpflichtung, jedoch kein Vergütungsanspruch Die andere Auffassung setzt schwerpunktmäßig zunächst bei der Frage an, ob sich aus dem neuen Recht ein Anlass dafür ergibt, in Abweichung von der satzungsmäßigen Festsetzung von einer Bareinlagepflicht auszugehen, hinsichtlich derer sodann in einem zweiten Schritt eine Anrechnung erfolgen kann. Hierzu wird festgestellt, dass eine Umqualifizierung der Sacheinlage in eine Bareinlage zum Schutz der Gesellschaft nichts beitrage und es ihr von daher an einer inneren Rechtfertigung mangele; insbesondere könne die Anrechnungsmöglichkeit als solche hierfür keine Grundlage liefern34. Ein Erst-recht-Schluss zur Regelung der verdeckten Sacheinlage sei nicht möglich. Denn während bei der verdeckten Sacheinlage die Anwendung des neuen Rechts dazu führe, dass die Gesellschaft wertmäßig so gestellt werde, wie es tatsächlich in der Satzung bzw. dem Kapitalerhöhungsbeschluss publiziert worden sei, stehe sie bei einer nicht offen gelegten Vergütung wertmäßig schlechter da als nach außen hin dargestellt. Es bewende deshalb bei den bisherigen Grundsätzen, die Sacheinlageverpflichtung sei wirksam, die nicht offen gelegte Vergütungsabrede jedoch nicht35.

III. Stellungnahme Im Rahmen einer Stellungnahme ist zunächst in Vorüberlegungen der Frage nachzugehen, inwieweit sich aus dem Gesetz unmittelbar Folgerungen für die vorliegend zu klärende Frage ableiten lassen; weiter ist die Tragfähigkeit des verbreitet herangezogenen argumentum a maiore ad minus zu untersuchen. Insoweit wird sich zeigen, dass beides nicht weiter führt (nachstehend unter 1.). In einem zweiten Schritt ist sodann darauf einzugehen, ob der Inferent im

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32 Stiller/Redeker, ZIP 2010, 865, 869; augenscheinlich auch Benz, Verdeckte Sacheinlage und Einlagenrückzahlung im reformierten GmbH-Recht (MoMiG), 2010, S. 194. 33 Stiller/Redeker, ZIP 2010, 865, 869. 34 Koch, ZHR 175 (2011), 55, 77 f. 35 Koch, ZHR 175 (2011), 55, 76 ff.; zu Ausgleichsansprüchen gegenüber Mitgesellschaftern in diesem Zusammenhang bei S. 80 ff.

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Falle einer im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage kapitalaufbringungsrechtlich zur Sacheinlage oder zur Bareinlage verpflichtet ist. Hierzu wird sich ergeben, dass es ungeachtet der unvollständigen Festsetzung bei der satzungsgemäß ausgewiesenen Sacheinlage verbleibt (nachstehend unter 2.). Vor diesem Hintergrund ist in einem dritten Schritt auf die Vereinbarkeit eines Vergütungsanspruchs des Inferenten mit dem Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsrecht einzugehen, wobei in diesem Zusammenhang auch die Frage zu behandeln ist, ob die hierzu gefundenen Ergebnisse Rückwirkung auf die Qualifizierung der Einlagepflicht haben können (nachstehend unter 3.). Im Ergebnis wird sich erweisen, dass der Vergütungsanspruch auch unter der Geltung des neuen Rechts nicht anerkannt werden kann, letztlich also der nachstehend noch zu vertiefenden und abzusichernden Auffassung von Koch zu folgen ist. 1. Vorüberlegungen a) Keine unmittelbare Beantwortung der zu untersuchenden Frage anhand der neuen Gesetzeslage Unmittelbare Anhaltspunkte für die rechtliche Behandlung einer hinsichtlich ihres Vergütungsbestandteils nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage lassen sich dem Gesetz nicht entnehmen. § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG gehen in ihrem unmittelbaren Anwendungsbereich von einer (fälschlicherweise) verlautbarten Bareinlageverpflichtung aus, während es in der vorliegenden Fragestellung um eine (in ihrem Umfang nicht vollständig offen gelegte) Sacheinlageverpflichtung geht. Aus dem neuen Recht zur verdeckten Sacheinlage lässt sich auch nicht unmittelbar ein Normbefehl dahin ableiten, dass eine unvollständig offen gelegte Sacheinlageverpflichtung kapitalaufbringungsrechtlich als Bareinlageverpflichtung angesehen werden müsste. Inwieweit Offenlegungsmängel am Charakter der Einlageverpflichtung etwas ändern können, richtet sich vielmehr nach den Ausgangsbestimmungen in § 5 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 1 AktG36 (hierzu nachstehend unter 2.). b) Argumentum a maiore ad minus nicht tragfähig Das auf den ersten Blick bestechende argumentum a maiore ad minus in dem Sinne, dass eine Privilegierung desjenigen, der eine verdeckte Sacheinlage verwirklicht, gegenüber demjenigen, der das Vorliegen einer Sacheinlage nicht gänzlich verschweigt, sich nicht rechtfertigen ließe und beide Fälle deshalb gleich behandelt werden müssten, hält für den Fall einer beabsichtigten, aber hinsichtlich des Vergütungsbestandteils nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage einer näheren Überprüfung nicht stand: Die dieser Auffassung zu Grunde liegende Sichtweise nimmt allein die Offenlegungsvorgänge in den Blick und geht davon aus, dass eine vollständig unter-

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36 Auf die Bestimmungen in § 56 Abs. 1 GmbHG bzw. §§ 183 Abs. 1, 194 Abs. 1, 205 Abs. 2 AktG wird im Nachfolgenden nicht mehr gesondert eingegangen.

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lassene Offenlegung in ihren Rechtsfolgen unter Wertungsaspekten nicht besser behandelt werden könne als eine Offenlegung, bei der das tatsächlich Gewollte zumindest teilweise offenbart wird. Im Falle der mangelhaften Festsetzung einer einfachen („normalen“) Sacheinlage greifen diese Erwägungen ohne Weiteres ein; denn in der Tat ließe sich in diesem Falle eine Ungleichbehandlung der jeweiligen Gestaltungen nicht erklären, nachdem sie in den für die rechtliche Bewertung maßgebenden Hinsichten gleich liegen37. Der bei einer im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage zu Grunde liegende Gesamtvorgang geht demgegenüber über den für § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG maßgeblichen Sachverhalt deutlich hinaus. Bei der verdeckten Sacheinlage geht es im Ergebnis darum, dass auf eine satzungsgemäß verlautbarte Bareinlageverpflichtung der Wert des verdeckt eingelegten Sacheinlagegegenstands angerechnet wird, soweit dieser die Verpflichtung abdeckt. Bei der hinsichtlich des Vergütungsbestandteils nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage geht es demgegenüber darum, dass im Ergebnis im Umfang tatsächlich weniger eingelegt werden soll als satzungsgemäß ausgewiesen wird. Hierin unterscheiden sich die Gestaltungen grundlegend. Mit einem argumentum a maiore ad minus ließe sich eine Gleichbehandlung der beiden Gestaltungen mithin noch nicht begründen; sie bedürfte weiterer Erwägungen. 2. Sach- oder Bareinlagepflicht des Inferenten bei nicht offen gelegter Vergütungsabrede? Für die weitere Untersuchung ist zunächst die Frage zu klären, welche Einlageform der Inferent im Falle der nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage schuldet. Sollte sich hierbei ergeben, dass seine Einlageschuld als Bareinlageschuld zu qualifizieren ist, wäre in der Tat die Frage zu klären, ob auf diese Bareinlageschuld der Wert der gemischten Sacheinlage entsprechend den Grundsätzen zur verdeckten gemischten Sacheinlage38 in Anrechnung gebracht werden kann. Sollte es demgegenüber bei der festgesetzten Sacheinlageschuld sein Bewenden haben, stellt sich die Frage, ob die Zahlung einer nicht offen gelegten Vergütung an den Gesellschafter mit dem Kapitalaufbringungsrecht in seiner heutigen Form vereinbar ist. Zur Beantwortung der Frage, ob der Inferent im Falle einer nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage zur Erbringung einer Sacheinlage oder einer Bareinlage verpflichtet ist, ist zunächst am Rechtszustand vor dem Inkrafttreten des MoMiG bzw. des ARUG anzusetzen (nachstehend unter a) und sodann die Frage zu stellen, ob sich an diesem Rechtszustand durch das neue Recht etwas geändert hat oder die neue Rechtslage es jedenfalls gebietet, insoweit nunmehr zu abweichenden Ergebnissen zu kommen (nachstehend unter b).

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37 Hierzu Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 19 Rz. 214, m. w. N. 38 Hierzu BGHZ 185, 44 = NJW 2010, 1948 Tz. 55 ff. – Adcocom; zur Anrechnung auch Altmeppen, NJW 2010, 1955; Bayer/Fiebelkorn, LMK 2010, 304927; Goette in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 1, 18; Pentz, GmbHR 2010, 673; ders., GWR 2010, 285.

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a) Ausgangspunkt: Wirksamkeit der Sacheinlageverpflichtung nach altem Recht Der Inhalt der Einlageverpflichtung des Gesellschafters richtet sich sowohl im GmbH-Recht als auch im Aktienrecht nach der maßgeblichen Verlautbarung in der Satzung. Wie vorstehend bereits ausgeführt, hat schon das Reichsgericht speziell zu der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage darauf abgestellt, dass jede sich nicht aus der Satzung selbst ergebende Abrede der Gesellschaft gegenüber unwirksam sei, die Einlageverpflichtung in der verlautbarten Form aber unberührt lasse39 und das Einlageversprechen des Inferenten der Gesellschaft gegenüber nur so rechtliche Wirkung habe, wie es sich aus der Satzung ergebe40. Auf dieser Grundlage war der Gesellschafter jedenfalls nach früherem Recht grundsätzlich zur Erbringung der festgesetzten Sacheinlage verpflichtet, ohne den nicht festgesetzten Vergütungsanspruch geltend machen zu können. Allerdings galt – und gilt – der Grundsatz, dass eine in der Satzung festgesetzte Sacheinlage auch stets als solche zu erbringen ist, nicht uneingeschränkt. Es war und ist zwar nach wie vor allgemein anerkannt, dass Sacheinlagevereinbarungen, die den Anforderungen des § 5 Abs. 4 Satz 1 GmbHG bzw. § 27 Abs. 1 AktG nicht genügen, unwirksam sind und der Inferent jedenfalls nach Eintragung der Gesellschaft bzw. der Kapitalerhöhung im Handelsregister verpflichtet ist, die auf ihn entfallende Einlage in bar zu erbringen41. Für den Fall der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage lassen sich hieraus jedoch – zumindest im Rahmen von Ausgangsüberlegungen – für eine Umqualifizierung der Sach- in eine Bareinlageverpflichtung keine Anhaltspunkte gewinnen. Denn maßgeblich für die Frage, ob von einer Umqualifizierung ausgegangen werden muss, sind Sinn und Zweck von § 5 Abs. 4 Satz 1 GmbHG bzw. § 27 Abs. 1 AktG42. Der Telos dieser Bestimmungen steht jedoch der Anerkennung der Sacheinlageverpflichtung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn man mit dem Reichsgericht43 davon ausgeht, dass eine im Vergütungsbestandteil in der Satzung nicht offen gelegte gemischte Sacheinlage zur Sacheinlageverpflichtung des Inferenten ohne die Möglichkeit der Geltendmachung der geplanten Vergütung führt. Denn in diesem Falle erfüllt die Festsetzung der Sacheinlage jedenfalls – ordnungsgemäße Festsetzung im Übrigen vorausgesetzt – die Anforderungen von § 5 Abs. 4 Satz 1 GmbHG bzw. § 27 Abs. 1 AktG, weil sie eine hinreichende Grundlage für die hinter diesen Bestimmungen stehenden kapitalaufbringungsrechtlichen Prüfungen bildet.

__________ 39 RGZ 114, 77, 80, 81. 40 RGZ 118, 113, 117; RGZ 125, 323, 328 f. 41 Zum alten Recht Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 154; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 74 ff.; zum neuen Recht Schäfer in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 5 Rz. 24; Bayer in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 27 Rz. 37; A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 27 Rz. 39, Letzterer allerdings mit ausdrücklichem Hinweis auf RGZ 114, 77, 82 und RGZ 118, 113, 117. 42 Zutr. in diesem Sinne Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 154. 43 Zum neuen Recht ausdrücklich ebenso A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 39; eingehend Koch, ZHR 175 (2011), 55, 76 f.

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Insoweit unterscheidet sich die Gestaltung von Festsetzungen, die beispielsweise deshalb fehlerhaft sind, weil der vom Inferenten einzubringende Vermögensgegenstand nicht hinreichend individualisiert ist und als Einlagegegenstand mehrere Vermögensgegenstände in Betracht kommen. Inwieweit sich an diesem (Zwischen-)Ergebnis, dem Fortbestand der Sacheinlageverpflichtung, etwas ändert, wenn man hinsichtlich des nicht aufgenommenen Vergütungsbestandteils zu dem Ergebnis kommt, dass dieser nach dem neuen Recht auch gegenüber der Gesellschaft anerkannt werden kann, ist eine andere Frage. Auf sie wird später noch zurückzukommen sein (unter 3. c). b) Keine unmittelbare Änderung der Rechtslage durch das neue Recht An dem Grundsatz, dass ein bei einer beabsichtigten gemischten Sacheinlage nicht aufgenommener Vergütungsbestandteil der Sacheinlageverpflichtung des Inferenten nicht entgegensteht und insbesondere nicht schon als solcher zur Umqualifizierung der Einlagepflicht in eine Bareinlagepflicht führt, hat auch das neue Recht von der verdeckten Sacheinlage zumindest unmittelbar nichts geändert: Zwar führt das neue Recht zur verdeckten Sacheinlage im Ergebnis dazu, dass der Inferent wegen der Anrechnung gemäß § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG der Sache nach im wirtschaftlichen Ergebnis keine Bareinlage leistet, sondern einen sonstigen Vermögensgegenstand, und damit eine Sacheinlage. Dies führt jedoch nicht zu einer rechtlichen Umqualifizierung der Einlageverbindlichkeit des Inferenten. Im Gegenteil belässt es die neue Regelung ungeachtet der Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte nach § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG ausdrücklich bei einer nach wie vor bestehenden Bareinlageverpflichtung, die lediglich im Wege der Anrechnung des Wertes des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands zum Erlöschen gebracht wird44. Da es damit auch nach neuem Recht zu keiner Änderung der Einlageverbindlichkeit des Inferenten kommt, kann ihm eine Umqualifizierung der Einlageverbindlichkeit bei der im Vergütungsbestandteil nicht ordnungsgemäß festgesetzten gemischten Sacheinlage unmittelbar jedenfalls nicht entnommen werden. c) Umqualifizierung zur Eröffnung der Anrechnungsmöglichkeit? Kommt es auch nach neuem Recht zu keiner unmittelbaren Änderung der Einlageverpflichtung des Gesellschafters, stellt sich allerdings noch die Frage, ob dem neuen (mit Rückwirkung ausgestatteten)45 Recht eine derartige Änderung nicht aber mittelbar entnommen werden muss.

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44 Zur Einordnung der Anrechnung als gesetzliches Erfüllungssurrogat eigener Art Pentz in FS K. Schmidt, 2009, S. 1265, 1275; ders., GmbHR 2009, 126, 127 und in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 19 Rz. 140 m. w. N. auch zu abw. Auffassungen; dieser Einordnung zust. Riegger/Gayk in FS Maier-Reimer, 2010, S. 557, 572; für Erfüllungssurrogat auch Bartels in Bork/Schäfer, GmbHG, § 19 Rz. 24. 45 S. bei Fn. 27.

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Für eine solche Umqualifizierung ließen sich ggf. Aspekte der Gleichbehandlung, letztlich also Analogieüberlegungen, dahin ins Feld führen, dass es vor dem Hintergrund des Rechts der verdeckten Sacheinlage geboten sei, dem Gesellschafter die nicht offen gelegte Vergütung zukommen zu lassen, und sich dies anders als über eine Umqualifizierung der Einlageverpflichtung zum Zwecke der Eröffnung der Anrechnungsmöglichkeit nicht bewerkstelligen ließe. Gegen einen solchen Ansatz bestünden im Hinblick auf seine Sachgerechtigkeit allerdings Bedenken. Denn wenn man die Sacheinlageverpflichtung des Inferenten in eine Bareinlageverpflichtung umqualifiziert, setzt man sich über den auf die Erbringung der konkreten Sacheinlage gerichteten Willen der Beteiligten hinweg. Insbesondere mit Blick auf das regelmäßig gegebene Interesse der Gesellschaft an der Erlangung des betreffenden Vermögensgegenstands erscheint es bedenklich, dem Inferenten die Möglichkeit zu eröffnen, die Gesellschaft auf eine Bareinlage zu verweisen, an der diese möglicherweise kein gleichwertiges Interesse hat. Ungeachtet der Frage, inwieweit auf die Interessen des Inferenten außerhalb des Rahmens einer gegebenenfalls möglichen Teilanfechtung oder treupflichtgebotenen Satzungsänderung überhaupt Rücksicht genommen werden kann, wird im Übrigen auch sein Interesse häufig dahin gehen, eine Sacheinlage und gerade keine Bareinlage zu leisten. d) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass auch nach neuem Recht jedenfalls im Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung von der Wirksamkeit der satzungsgemäß festgesetzten Sacheinlageverpflichtung des Inferenten auszugehen ist. Ob an dieser Einordnung festgehalten werden kann oder ob sonstige Überlegungen doch noch eine Umqualifizierung gebieten, kann erst nach einer näheren Untersuchung der kapitalaufbringungs- bzw. kapitalerhaltungsrechtlichen Situation beantwortet werden. 3. Zur kapitalaufbringungs- und kapitalerhaltungsrechtlichen Zulässigkeit eines nicht offen gelegten Vergütungsanspruchs Hinsichtlich der Frage, inwieweit die Zahlung einer nicht offen gelegten Vergütung im Falle der aus diesem Grund nicht ordnungsgemäß festgesetzten gemischten Sacheinlage anerkannt werden kann, ist zunächst – erneut im Rahmen von Vorüberlegungen – zu überprüfen, ob der Charakter des überschießenden Werts, der durch die nicht offen gelegte Vergütung ausgeglichen werden soll, kapitalaufbringungs- oder kapitalerhaltungsrechtlich schon von vornherein der Berücksichtigung einer solchen Zahlung entgegensteht. Dies ist, wie sich erweisen wird, nicht der Fall (nachstehend unter a). Im Anschluss hieran ist auf die Bedeutung der unterlassenen (vollständigen) Offenlegung des Gesamtvorgangs einzugehen (nachstehend unter b).

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a) Vorüberlegungen aa) Keine Bindung des Mehrwerts als Agio Im Vorfeld der Frage, inwieweit die Zahlung einer nicht offen gelegten Vergütung mit dem Kapitalaufbringungsrecht vereinbar wäre, ist zunächst zu bemerken, dass die im Falle der nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage zwischen dem für die Beteiligung geschuldeten Nennbetrag und dem höheren Wert der Sacheinlage bestehende Differenz kein Aufgeld (Agio) darstellt. Die Einordnung als Agio wäre für das Aktienrecht von Bedeutung, weil dort das Agio ebenfalls dem Recht der Kapitalaufbringung unterliegt, während diese Qualifikation für das GmbH-Recht irrelevant wäre, nachdem das Agio dort nach nahezu einhelliger Auffassung46 kapitalaufbringungsrechtlich nicht geschützt wird. Für die Einordnung der Wertdifferenz zwischen Nennbetrag der Einlage und tatsächlichem Wert der Sacheinlage als Agio fehlt es allerdings an der hierfür notwendigen Festsetzung in der Satzung. Da die Differenz nicht als Agio eingeordnet werden kann, ergibt sich für die Frage der Kapitalaufbringung sowohl für die GmbH als auch die Aktiengesellschaft, dass der Kapitalaufbringung selbst dann Genüge getan wäre, wenn die Gesellschaft verpflichtet wäre, die Wertdifferenz an den Gesellschafter auszuzahlen. Unter diesem Aspekt stünde das Recht der Kapitalaufbringung einer Anerkennung der nicht offen gelegten Vergütung also nicht entgegen. bb) Keine Vorgaben durch das Verbot der Bildung willkürlicher stiller Reserven Weiter ist vorab festzustellen, dass eine Anerkennung der nicht aufgenommenen Vergütung auch nicht am Verbot der Legung willkürlicher stiller Reserven scheitert. Zwar sprechen gute Gründe dafür, außerhalb des Anwendungsbereichs von § 20 UmwStG willkürlich stille Reserven nicht nur bei der AG, sondern auch bei der GmbH für unzulässig zu halten47. Es lässt sich jedoch gleichwohl nicht argumentieren, dass die bei der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage bestehende Wertdifferenz der Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB zugeführt werden müsse und sie damit zumindest im Aktienrecht der Bindung nach § 150 AktG unterliege. Denn die bilanzielle Abbildung des Vorgangs stellt lediglich eine Folge der ge-

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46 Eingehend hierzu Priester in FS Lutter, 2000, S. 617, 632 ff.; H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 33; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 18, m. w. N.; abw. Herchen, Agio und verdecktes Agio im Recht der Kapitalgesellschaften, 2004, S. 139 ff. 47 H. M. für die AG, vgl. eingehend Delmas, Die Bewertung von Sacheinlagen in der Handelsbilanz von AG und GmbH, 1997, S. 5 ff., 13 ff., 64 ff.; 147; 154; s. auch Hüffer, AktG, § 27 Rz. 20; § 34 Rz. 3; § 131 Rz. 29; Pentz in MünchKomm. AktG, § 27 Rz. 39; Tiedchen in MünchKomm. AktG, 2. Aufl., § 255 HGB Rz. 44; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 5 Rz. 27; Lange in MünchKomm. HGB, 2. Aufl., § 279 Rz. 9 f., jew. m. w. N.; zu der insbesondere im GmbH-Recht vertretenen Gegenauffassung s. nur Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 5 Rz. 37; H. Winter/H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, § 5 Rz. 56; Roth in Roth/ Altmeppen, GmbHG, § 5 Rz. 54a; Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 81 m. w. N.

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sellschaftsrechtlich vorzunehmenden Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Behandlung des überschießenden Wertes dar, und wenn in Höhe der Wertdifferenz ein Vergütungsanspruch des Inferenten bestehen sollte, könnte dieser Betrag nicht mehr in die Kapitalrücklage eingestellt werden, sondern wäre als Verbindlichkeit der Gesellschaft auszuweisen. cc) Kein Ausschluss der Problematik durch das Kapitalerhaltungsrecht Auf einer ähnlichen Ebene wie die bilanziellen Erwägungen läge die Überlegung, die Frage der Zulässigkeit der Zahlung einer Vergütung könne sich schon deshalb nicht stellen, weil eine solche als unzulässige Kapitalrückgewähr im Sinne von § 30 GmbHG bzw. § 57 AktG zu qualifizieren sei. Denn ungeachtet dessen, dass ein Verstoß gegen § 30 GmbHG voraussetzen würde, dass das zur Erhaltung des Stammkapitals notwendige Vermögen durch die Auszahlung tangiert wird48, lässt sich die vorliegend aufgeworfene Frage hiermit schon deshalb nicht erledigen, weil es sich bei ihr um einen Gegenstand des insoweit vorgelagerten Kapitalaufbringungsrechts handelt. Im Übrigen würde die Anerkennung des Vergütungsanspruchs jedenfalls dann, wenn er wie ein Drittanspruch behandelt werden könnte, auch dazu führen, dass er sowohl bei der Aktiengesellschaft als auch bei der GmbH zu erfüllen wäre, selbst wenn dies aus gebundenem Vermögen erfolgen müsste. Aus diesem Grunde ist es im vorliegenden Zusammenhang auch materiell nicht sinnvoll, danach zu fragen, ob es einen Unterschied macht, ob etwas aus dem Vermögen der Gesellschaft herausgenommen oder (wegen des möglicherweise bestehenden Vergütungsanspruchs) gar nicht erst zugeführt wird. Im Kern geht es allein um die Frage, ob ein Vergütungsanspruch unter dem Blickwinkel des Kapitalaufbringungsrechts anerkannt werden kann. dd) Keine durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf das Erfordernis der Leistung zur endgültigen freien Verfügung Ebenfalls kein Lösungsansatz für die hier in Rede stehende Problematik lässt sich aus der im Rahmen der Kapitalaufbringung gesetzlich geforderten Notwendigkeit herleiten, die Bar- oder Sacheinlage zur endgültigen freien Verfügung zu leisten. Zwar ist wegen des kapitalaufbringungsrechtlichen Hintergrunds dieses Erfordernisses nicht ganz zweifelsfrei, ob man die Leistung der Sacheinlage zur endgültigen freien Verfügung schon mit der Feststellung erledigen könnte, dass der Sacheinlagegegenstand als solcher nicht an den Inferenten zurückfließen soll49. Das neue Kapitalaufbringungsrecht enthält jedoch im

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48 Zutr. Koch, ZHR 175 (2011), 55, 80; die scheinbar weitergehenden Ausführungen bei Ulmer in Ulmer, GmbHG, § 5 Rz. 123 zum früheren Recht dürften sich auf die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft im unmittelbaren Zusammenhang mit der Gründung beziehen und vor dem Hintergrund seiner Auffassung zur bilanziellen Behandlung eines den Nennbetrag der Einlage übersteigenden Mehrwerts bei § 5 Rz. 81 zu verstehen sein. 49 Gegen Bedenken aus dem Erfordernis der endgültigen freien Verfügung Koch, ZHR 175 (2011), 55, 76.

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Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage und dem dort verabredeten Rückfluss der auf die Bareinlage geleisteten Mittel schon selbst eine Durchbrechung dieses Grundsatzes50, und vor diesem Hintergrund bedarf es keiner näheren Untersuchung dieser Problematik. Denn wenn sich aus dem neuen Recht in § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG ergeben sollte, dass der Vergütungsanspruch als solcher berücksichtigungsfähig ist, könnte dem selbst eine etwa fehlende Leistung zur endgültigen freien Verfügung konsequenterweise nicht mehr entgegenstehen. ee) Nähe des nicht festgesetzten Vergütungsanspruchs zur Mangelhaftigkeit der Sacheinlage Von den Auswirkungen gegenüber der Gesellschaft her stünde ein Vergütungsanspruch des Gesellschafters der bei einer mangelhaften Sacheinlage bestehenden Situation nahe. Denn es macht beispielsweise im Falle eines als Sacheinlage eingelegten Grundstücks im rechnerischen Ergebnis keinen Unterschied, ob für die Gesellschaft mit dem Erwerb der Sacheinlage umwelthaftungsrechtliche Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat verbunden sind oder ob es – wie bei der hier zu untersuchenden Fragestellung – um eine Verbindlichkeit gegenüber dem Gesellschafter geht. Eine kapitalaufbringungsrechtliche Differenzhaftung zu seinen Lasten käme nur dann in Betracht, wenn der Wert der Sacheinlage den Nennbetrag der dafür übernommenen Anteile aufgrund eines nicht offen gelegten, aber gleichwohl zu berücksichtigenden Gegenanspruchs nicht erreicht. Dies kommt bei der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage jedoch dann nicht in Betracht, wenn dem Gesellschafter lediglich der den Nennbetrag der übernommenen Einlage überschießende Betrag erstattet werden soll. Vor diesem Hintergrund erschiene es mithin nicht unbedingt geboten, dem Vergütungsanspruch des Inferenten von vornherein die Anerkennung zu versagen. b) Bedeutung der unterlassenen (vollständigen) Offenlegung Mit Blick auf die vorstehenden Feststellungen verdichtet sich die Fragestellung im Weiteren darauf, welche Bedeutung dem Umstand der unterlassenen Offenlegung des Vergütungsbestandteils zukommt. Für das frühere Recht konnte angesichts des Normbefehls des § 27 Abs. 3 AktG a. F.51, wonach – ähnlich der den Entscheidungen des Reichsgerichts zu Grunde liegenden Bestimmung des § 186 HGB a. F.52 – in der Satzung nicht offen gelegte Abreden zur Unwirksamkeit schuldrechtlicher und dinglicher Ausführungsgeschäfte der Gesellschaft gegenüber führten, insofern kein Zweifel daran bestehen, dass der Inferent eine Vergütung nicht beanspruchen konnte. Die Streichung dieser Anordnung durch das ARUG und die Änderung des Rechts der verdeckten

__________ 50 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 19 Rz. 101, 122. 51 Zur entsprechenden Geltung im GmbH-Recht s. nur BGHZ 155, 329 = NJW 2003, 3127 und hierzu Pentz, ZIP 2003, 2093 ff. 52 S. hierzu Fn. 18.

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Sacheinlage durch § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG haben diese Sperre beseitigt. Nachstehend ist deshalb darauf einzugehen, wie weit die hieraus zu ziehenden Folgerungen reichen. aa) Relativierung der Offenlegung nach neuem Recht Bei Zugrundelegung der durch das MoMiG bzw. ARUG gegebenen Vorgaben ist zunächst festzustellen, dass die fehlende Aufnahme der Vergütungsabrede ihrer Berücksichtigungsfähigkeit nicht schon abstrakt entgegengehalten werden kann. Ob sich dies schon unmittelbar aus der Aufhebung des § 27 Abs. 3 AktG a. F. ergibt53, wäre für sich zwar nicht ganz zweifelsfrei. Denn hierfür müsste die Reichweite der mit der Streichung dieser Bestimmung verfolgten Regelungsabsicht im Einzelnen festgestellt werden. Die abweichend vom früheren Recht heute zu konstatierende grundsätzliche Berücksichtigungsfähigkeit von in der Satzung nicht enthaltenen Abreden, selbst wenn hiervon der Bereich der Kapitalaufbringung betroffen ist, folgt jedoch aus § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 2 AktG und der dort angeordneten Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Teile des (nach wie vor unzulässigen)54 Umgehungsgeschäfts. bb) Beeinträchtigung der registergerichtlichen Möglichkeiten nach neuem Recht kein durchgreifendes Argument Auch aus dem Umstand, dass der Vergütungsbestandteil bei der nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage für das Registergericht nicht ersichtlich ist und deshalb bei der Überprüfung der Werthaltigkeit der Sacheinlage keine Berücksichtigung finden kann, lässt sich kein ausschlaggebendes Argument gegen die Anerkennung des Vergütungsanspruchs gewinnen. Denn bei der verdeckten Sacheinlage, dem unmittelbaren Regelungsgegenstand von § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG, findet hinsichtlich des verdeckt eingebrachten Vermögensgegenstands überhaupt keine Prüfung statt. Wenn die gesetzlichen Regelungen aber damit – ungeachtet der verbleibenden Strafbarkeit der Beteiligten55 – die Relativierung der ursprünglich unbedingt einzuhaltenden präventiven registergerichtlichen Kontrolle akzeptieren, kann das Versagen der registergerichtlichen Kontrolle bei der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage einer Anerkennung des Vergütungsanspruchs des Inferenten wertungsmäßig ebenfalls nicht entgegenstehen.

__________ 53 In diesem Sinne Stiller/Redeker, ZIP 2010, 865, 869. 54 Zu dem Wertungswiderspruch, dass Vereinbarungen über eine verdeckte Sacheinlage unzulässig sind, gleichwohl abgeschlossene Vereinbarungen aber durchgeführt werden müssen, s. Pentz in FS Goette, 2011, S. 355, 356 und in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, § 19 Rz. 101. 55 Zu der im Einzelnen str. Reichweite der Strafbarkeit im GmbH-Recht vgl. nur Casper in Ulmer, Erg.-Bd. MoMiG § 19 Rz. 87 f.; Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, § 19 Rz. 169, m. w. N.; zum Aktienrecht etwa Bayer in K. Schmidt/ Lutter, AktG, § 27 Rz. 77; A. Arnold in KölnKomm. AktG, § 27 Rz. 103.

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cc) Ausschlaggebend: Unzutreffende Darstellung der Vermögensausstattung der Gesellschaft Bedenken gegen die Anerkennung des nicht offen gelegten Vergütungsanspruchs des Inferenten entstehen jedoch unter dem Aspekt der unzutreffenden Darstellung der Vermögensausstattung der jeweiligen Gesellschaft56. Es ist nicht zweifelhaft, dass die Publizität der aufzubringenden Einlageleistungen in der Satzung zumindest auch dem Schutz der hiervon betroffenen Verkehrskreise (künftige Gesellschafter und Gläubiger der Gesellschaft) dient. An diesem Befund haben weder das MoMiG noch das ARUG etwas geändert. Insbesondere lassen sich aus dem Recht der verdeckten Sacheinlage insoweit keine Änderungen entnehmen. Denn bei der verdeckten Sacheinlage werden die betroffenen Verkehrskreise zwar hinsichtlich der Zusammensetzung des aufgebrachten Vermögens getäuscht, weil sie bei Zugrundelegung der satzungsrechtlichen Bestimmungen vom Vorliegen einer Bareinlage ausgehen, während im wirtschaftlichen Ergebnis der Gesellschaft tatsächlich ein sonstiger Vermögensgegenstand, also eine Sacheinlage, zufließt. Worüber die betroffenen Verkehrskreise jedoch nicht getäuscht werden, ist die Höhe des aufgebrachten und der Gesellschaft im Ergebnis zufließenden Vermögens. Denn dadurch, dass die Anrechnung auf den Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands beschränkt wird, wird sichergestellt, dass der Gesellschaft das satzungsgemäß verlautbarte Vermögen zumindest wertmäßig zugeführt wird. Hierin unterscheidet sich die Situation bei der im Vergütungsbestandteil nicht offen gelegten gemischten Sacheinlage grundlegend. Würde man den Vergütungsanspruch des Inferenten anerkennen, käme es hier zu einer Täuschung der betroffenen Verkehrskreise über den Umfang des tatsächlichen Vermögenszuflusses bei der Gesellschaft und damit über die Höhe ihrer Vermögensausstattung. Dies wird bei einer Gründung mit Bar- und Sacheinlagen deutlich: Wird der Vergütungsbestandteil der gemischten Sacheinlage nicht offen gelegt, wird in diesem Falle der Eindruck erweckt, der Gesellschaft sollten neben dem offen gelegten Sacheinlagegegenstand auch die in der Satzung ausgewiesenen Bareinlagen zugeführt werden; tatsächlich wäre dies jedoch nicht der Fall, weil die Bareinlagen zumindest teilweise dafür verwendet werden müssten, um die dem Gesellschafter zugesagte Vergütung zu begleichen. Im Falle der Kapitalerhöhung würden die betroffenen Verkehrskreise bei einer Anerkennung des Vergütungsanspruchs des Inferenten ebenfalls über die Höhe des tatsächlichen (effektiven) Vermögenszuflusses an die Gesellschaft getäuscht werden. Angesichts dieses Befundes lässt sich aus der eingangs umrissenen Überlegung, es könne doch materiell keinen Unterschied machen, ob jemand eine beabsichtigte gemischte Sacheinlage gar nicht offen legt oder (gleichsam „weniger schlimm“) diese zumindest teilweise offenbart, kein Argument dafür gewinnen, den nicht offen gelegten Vergütungsbestandteil rechtlich anzuerkennen. Im Gegenteil wird hieran deutlich, dass sich die Situationen wegen Irreführung über die Zusammensetzung des Gesellschaftsvermögens einerseits und über

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56 Zutreffend in diesem Sinne bereits Koch, ZHR 175 (2011), 55, 79 f.

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die vermögensmäßige Ausstattung der Gesellschaft andererseits gerade nicht vergleichen lassen57. Ebenso wenig lässt sich dem entgegenhalten, der überschießende Wert müsse in die Kapitalrücklage eingestellt werden58 und unterliege dort bei der GmbH der Disposition der Gesellschafter, weshalb jedenfalls für diese Rechtsform auch die Zahlung des nicht offen gelegten Vergütungsbestandteils zulässig sein und der Vergütungsanspruch anerkannt werden müsse. Einer solchen Betrachtung steht bei beiden Gesellschaftsformen bereits die Funktion des satzungsmäßigen Ausweises der Vermögensausstattung entgegen und zumindest bei der Mehrpersonen-GmbH greift dieses Argument auch deshalb nicht, weil die Ausschüttung aus einer Kapitalrücklage wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes allen Gesellschaftern zugute kommen müsste59, also auch etwaigen neu hinzugekommenen Gesellschaftern. Es ändert sich hieran schließlich auch nichts durch die Erwägung, dass bei der GmbH die an der nicht aufgenommenen Abrede Beteiligten auf der Gesellschafterebene letztlich das gleiche Ergebnis darüber erzielen könnten, dass sie eine Ausschüttung aus der Kapitalrücklage lediglich zu Gunsten des Inferenten vornehmen. Denn die die beteiligten Gesellschafter bindende Abrede60 könnte einem neu hinzukommenden Gesellschafter nicht entgegengehalten werden und für das Aktienrecht stünde dem die Kapitalbindung nach § 150 Abs. 3 und 4 AktG entgegen. Der Inferent ist deshalb insoweit letztlich auf gegebenenfalls bestehende Ausgleichsansprüche gegenüber seinen Mitgesellschaftern zu verweisen61. c) Folgerungen für die Frage der Umqualifizierung der Einlagepflicht Mit der Feststellung, dass es im Falle des Anerkennens des nicht offen gelegten Vergütungsbestandteils bei einer nicht ordnungsgemäß in der Satzung festgesetzten gemischten Sacheinlage zu einer Irreführung über die Vermögensausstattung der Gesellschaft käme, ergibt sich zugleich die endgültige Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer Umqualifizierung der Sacheinlagepflicht in eine Bareinlagepflicht zum Zwecke der Eröffnung der Anrechnungsmöglichkeit nach § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG. Denn wenn es gilt, entsprechend den gesetzlichen Vorgaben eine Täuschung der betroffenen Verkehrskreise zu verhindern, kann auch eine Umqualifizierung der Einlagepflicht zu dem Zweck, den Weg zur Anrechnung zu eröffnen, nicht in Betracht kommen. Denn die Unwirksamkeit der Sacheinlageverpflichtung könnte von den betroffenen Verkehrskreisen der Satzung nicht entnommen werden, womit es auch in diesem Falle zu der zu verhindernden Täu-

__________ 57 58 59 60

Zutr. in diesem Sinne bereits Koch, ZHR 175 (2011), 55, 79 f. Str., vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 47. Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, § 13 Rz. 63, 94 ff., 100, m. w. N. Zur Erstreckung der Bindungen einer (Neben-)Abrede allein auf die hieran Beteiligten vgl. zuletzt BGH, NJW 2010, 3718 Tz. 8 m. w. N. 61 Ausf. zu den insoweit in Betracht kommenden Ansprüchen Koch, ZHR 175 (2011), 55, 80 ff. m. w. N.

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schung käme62. Darauf, dass die Umqualifizierung zudem typischerweise nicht im Interesse der Gesellschaft liegen dürfte – häufig auch nicht im Interesse des Inferenten – wurde bereits hingewiesen (s. bei 2. c). Die Beteiligten sind deshalb auch nach neuem Recht darauf verwiesen, die Satzungsfestsetzungen hinsichtlich der Vergütungsabrede rechtzeitig vor der Eintragung im Handelsregister zu ergänzen.

IV. Zusammenfassung Wird im Falle einer beabsichtigten gemischten Sacheinlage der Vergütungsbestandteil in der Satzung nicht offen gelegt, kann der Inferent auch nach dem durch das MoMiG bzw. das ARUG geänderte Kapitalaufbringungsrecht weder gegenüber einer Aktiengesellschaft noch gegenüber einer GmbH Vergütungsansprüche hinsichtlich des den Nennbetrag der übernommenen Einlage übersteigenden Mehrwerts des Sacheinlagegegenstands herleiten. Der in die Satzung nicht aufgenommene Vergütungsanspruch ist gegenüber der Gesellschaft auch nach neuem Recht unwirksam. Nach der Eintragung der Gesellschaft bzw. der Kapitalerhöhung im Handelsregister kommen Ausgleichsansprüche lediglich auf der Gesellschafterebene in Betracht. Der Inferent ist gegenüber der Gesellschaft auch nach neuem Recht an die eine (einfache) Sacheinlage ausweisende Festsetzung in der Satzung gebunden. Insbesondere führt die unterlassene Aufnahme des Vergütungsbestandteils auch nicht zur Bareinlagepflicht des Inferenten wegen Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung. Dieses Ergebnis erstaunt zwar zunächst, weil es an sich nahe liegen würde, mit der herrschenden Meinung einen Erst-recht-Schluss in dem Sinne zu ziehen, dass derjenige, der eine beabsichtigte gemischte Sacheinlage zumindest teilweise (nämlich hinsichtlich des Sacheinlagegegenstands) offen legt, nicht schlechter behandelt werden dürfte als derjenige, der die beabsichtigte gemischte Sacheinlage überhaupt nicht offen legt und der sich in diesem Zusammenhang auf die vom BGH in der Adcocom-Entscheidung63 entwickelten Grundsätze zur verdeckten gemischten Sacheinlage berufen könnte. Einer genaueren Betrachtung hält diese Erwägung jedoch nicht stand: Bei der verdeckten gemischten Sacheinlage ist über die Anrechnungslösung gemäß § 19 Abs. 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 AktG sichergestellt, dass das ausgewiesene Vermögen wertmäßig (wenn auch nicht in seiner satzungsgemäß angegebenen Zusammensetzung) tatsächlich der Gesellschaft zugeführt wird. Im Falle der Anerkennung des Vergütungsbestandteils einer beabsichtigten, in diesem Punkt jedoch nicht hinreichend offen gelegten gemischten Sacheinlage käme es demgegenüber zu einer unzutreffenden Verlautbarung des der Gesellschaft tatsächlich zugeführten Vermögens gegenüber den hiervon betroffenen Verkehrskreisen. Dieser unzutreffende Hinweis ist auch unter der Geltung des neuen Rechts kapitalaufbringungsrechtlich nicht akzeptiert und steht deshalb als solcher auch einer etwaigen Anrechnungslösung entgegen.

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62 Im Erg. ebenso Koch, ZHR 175 (2011), 55, 80. 63 Hierzu die Nachweise in Fn. 27.

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Reinhard Pöllath

Zu Wirken und Geschichte von Martin Winters Anwaltsfirma, SZA Inhaltsübersicht 1. Mannheim a) Verkehr und Handel b) Liberalität c) Wissenschaft 2. Die Vorgeschichte von SZA bis 1931 a) Hachenburg (1860–1951) b) Geiler (1878–1953) und Kronstein (1897–1972)

c) Anschütz, Zutt und andere in der Zeit vor SZA 3. Von Geiler Zutt Schilling zu W+J Zutt W+J Schilling a) W+J Zutt b) W+J Schilling

Im März 2011 saß der Verfasser an Jürg Zutts Küchentisch, am Philosophenweg in Heidelberg, und der Hausherr pries Martin Winter, fachlich, menschlich, als Anwalt und seit 1990 Partner von Schilling Zutt Anschütz (SZA). Martin Winter war wirklich ein guter Teil von SZA. Nach Vorliegen der Druckfahnen starb J. Zutt. So wurde aus diesem Gedenken an M. Winter nachträglich ein breiterer Aufruf zur Besinnung an und für SZA und die badisch republikanische und liberale Juristentradition: vom Urgroßvater Zutt, nach 1848 nach Wertheim in Badisch-Sibirien verbannt, über den Großvater, Anwalt bei Karlsruhe, als Anwälte nur vormittags zu amten brauchten, zu W+J Zutt vor und in SZA. Ein paar der geraden und krummen Linien der Wirkungsgeschichte von SZA zeichnet dieser Beitrag auf, über etwa ein Jahrhundert hinweg: Mannheim, das Umfeld, die Vorgeschichte und die Entwicklung hin zu SZA. Der Beitrag ist eine laienhafte Aufzeichnung eines Kollegen, eine Wiedergabe von Mitgeteiltem, keine (und schon gar keine fachlich-kritische) Studie. Grundlage sind Materialien einschließlich einer Befragung eines SZA-Seniors, alle m. w. N. zitiert im SZA-Kapitel von „200 Jahre Wirtschaftsanwälte in Deutschland“1, und zwei Gespräche mit Jürg Zutt. Das erste davon veranlasste vor Jahren die Arbeit an dem genannten Buch. Wirkungen als Laudatio und Memento sind nicht angestrebt, folgen aber aus den Tatsachen. Diese Tatsachen bilden Linien, aneinander, durcheinander, gegeneinander, füreinander, im Saldo alle befruchtend. Dazu ganz am Ende noch ein paar Worte.

__________ 1 2009, dort vor allem S. 203–213; vgl. auch Verfasser, Der Wirtschaftsanwalt, in Deutscher Anwaltsverein (Hrsg.), Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltsvereins, Mohr Siebeck 2011, S. 899–912, und in FS Meilicke, 2010, S. 549–575 zu Steuerrechtsberatern im 20. Jahrhundert.

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1. Mannheim Mannheim ist seit Hachenburg eine Hochburg der deutschen Wirtschaftsanwaltschaft, und SZA verkörpert das seit langem einzigartig. Keine ansonsten vergleichbare deutsche „Mittelstadt“ schaffte es auf den Briefkopf gleich zweier internationaler Anwaltsfirmen, und dafür genügte je etwa die Hälfte von SZA2. Dieser Status von Mannheim ist insbesondere das Werk von SZA, und SZA profitierte dabei von Mannheims Stärken: Verkehrs-, Handels- und Industriemetropole, früher Sammelpunkt von (vor allem auch jüdischen) Anwälten als Frucht relativ aufgeklärter Liberalität Karl-Theodors und seines Hauses und (auch rechts-)wissenschaftliches Kraftzentrum. a) Verkehr und Handel Verkehrsknotenpunkte fördern Handel, und Handel braucht Recht und Rechtsanwälte. Das beste Beispiel ist Hamburg. Sieben der zehn ältesten großen Anwaltsfirmen in Deutschland begannen vor 1900 in Hamburg, und SZA könnte seine Wurzeln auf 1904 zurückführen (dazu unten in Ziff. 2). Der Verkehrsweg Rhein ließ auch Industrie in Mannheim entstehen und wachsen. Aber mehr als die Industrie bedürfen Handel und Transportwesen der Juristerei und der Anwaltschaft. So hat das Ruhrgebiet vergleichsweise wenige solche großen Anwaltsfirmen hervorgebracht, und auch Düsseldorf liegt am Rhein. Diese Basis für SZA verkümmerte mit und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein großer Teil der Mannheimer Industrie ging in anderswo geführten Unternehmen auf, so Benz in Daimler(-Benz), Lanz in John Deere, Brown Boveri in ABB, Boehringer Mannheim (Engelhorn) in Roche. Um Mannheim herum sind große Unternehmen übrig geblieben oder neu entstanden, so vor allem die BASF überm Rhein in Ludwigshafen (die wichtigste Mitgründung der Unternehmerfamilie Engelhorn, und auch ihre andere Mitgründung, Boehringer Ingelheim, könnte man dazu zählen), Freudenberg an der Weinstraße und SAP in Wiesloch. Die industrielle Entwicklung Mannheims stärkte in der Zeit ihrer Stärke die Wirtschaftsanwälte, schuf mit Hachenburg den Typ Wirtschaftsanwalt, aber diese Entwicklung lief dann doch gegen Mannheim. Die Mannheimer ist nicht mehr die wichtigste Deutsche Bank-Filiale, und sogar SHAPE folgt gerade eben dem Trend weg von Mannheim ins Rhein-Main-Dreieck, ein Trend seit 1945/48. b) Liberalität Der Bedarf von Handel und Industrie an Recht und Rechtsrat traf in Mannheim auf eine starke Anwaltschaft. Diese baute auf auf der Liberalität des herrschenden Hauses im 19. Jahrhundert3, die vor allem einer jüdischen aufstrebenden Schicht Entfaltungsfreiheit bot, ähnlich wie in Berlin, Hamburg

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2 Zur traumatischen Aufteilung von SZA 2000 und dem Anschluss je etwa der Hälfte seiner Anwälte an Allen & Overy und Shearman & Sterling s. 200 J. Wirtschaftsanwälte in Deutschland, S. 211; zum Wiedererstehen von SZA in 2008 s. dort S. 212, je m. w. N. 3 Bassermann, Mannheimer Anwalt, saß im Parlament 1848.

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und Frankfurt. Zum Vergleich: In München erzwang der Monarch erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Bürgerrecht für den ersten protestantischen Handwerker, kurz nach dem für den ersten Juden, gegen erbitterten Widerstand der Bürgerschaft. So sehr Berufsfreiheit für Juden die Anwaltschaft und die Rechtswissenschaft förderte, so schwer und irreparabel war der Rückschlag durch den Exodus ab 1933: Damals waren ein Drittel der Anwälte Juden, bei einem Prozent Bevölkerungsanteil4. Wirtschaft und Liberalität waren die ursprünglichen Standort-Vorteile und der Nährboden für die Mannheimer Anwaltschaft, und das darauf Gewachsene wirkte jahrzehntelang über 1933 hinaus fort, bis heute. c) Wissenschaft Nur die dritte Antriebsfeder für Rechtsanwälte und Rechtswissenschaft in und um Mannheim blieb ungemindert, die wissenschaftliche Stärke des benachbarten Heidelberg und zunehmend auch Mannheims selbst. SZA-Anwälte waren und sind intensiv daran beteiligt, als Gründer, Kommentatoren, Lehrer und Forscher in Heidelberg und Mannheim. Das Zutt‘sche Wohnhaus am Philosophenweg in Heidelberg liegt gegenüber den Physikalischen Instituten der Universität. Diese akademische Nähe ist eine innere: SZA-Senioren charakterisieren sich und SZA als bildungsbürgerlich, und das nicht nur als „Technikalität“, sondern als Wertordnung und Habitus. Diese Stärke blieb und bleibt als einzige der drei genannten intakt, sie trägt weiter. Martin Winter und andere „Junge“ belegen das. 2. Die Vorgeschichte von SZA bis 1931 In die Blütezeit badisch liberaler Anwälte im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts reicht SZA durch die Zutts und mit geistigen Wurzeln zurück, bis heute lebendige Wurzeln von S, Z und A: Hachenburg begann als Anwalt 1885, von ihm geht eine fachwissenschaftliche Linie zu Schilling. Geiler begann 1904, und nach der Emigration Kronsteins tat er sich mit W. Zutt zusammen. Der junge K. Anschütz kam erst 1965 dazu; der Name seiner Familie glänzt seit der Weimarer Republik. a) Hachenburg (1860–1951) Hachenburg gilt als der erste deutsche Vertreter des Typus Wirtschaftsanwalt. Er praktizierte in Mannheim als Einzelanwalt ab 1885 und später mit seinem Sohn Hans und seinem Schwiegersohn Fritz Bing. Die Hachenburg-Gedächtnisvorlesung findet seit 2010, dem neunten Mal, an der Universität Mannheim statt, der Nachfolgerin der 1907 ohne Hachenburg gegründeten Handelshochschule. 1907 war er ein Hauptredner auf dem Anwaltstag in Mannheim zum Ausweg aus dem Elend der Anwaltschaft. Jahrzehntelang war er Vizepräsident des Deutschen Anwaltsvereins, dessen Ehrenmitgliedschaft der Emigrierte 1950

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4 Zu Krieg und Emigration vgl. auch 200 J. Wirtschaftsanwälte in Deutschland, S. 17– 18.

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annahm, ein Jahr vor seinem Tod. Die Präsidentschaft des Vereins lehnte er in den 1920’er Jahren ab, aus Sorge vor antijüdischen Reaktionen, wenn Juden „ständig“ auf öffentlich sichtbare Positionen vordrängen. Hachenburg beriet die „ganze“ deutsche Wirtschaft. Mit Geiler beriet er z. B. 1925/26 die Gründung der IG Farben, als deren Liquidator die Amerikaner nach dem Krieg Schmidt (1889–1961) einsetzten (früher bei Pinner in Berlin, dann Düsseldorf), und auch W. Schilling prozessierte in der IG-Farben-Liquidation. Aus Schmidts Büro gingen „Star-Anwälte“ hervor wie Kreifels, und es wurde die Keimzelle des deutschen Büros von Shearman & Sterling, mit dem sich 2000 die Hälfte von SZA verband und aus dem sie sich 2008 wieder zu SZA herauslöste. Hachenburgs überwältigender Ruf schützte ihn nach 1933 nur wenige Jahre. Das Pogrom am 9. November 1938 zerstörte sein Büro, und sein Sohn Hans wurde ins KZ Dachau verschleppt. Kaum freigelassen, emigrierten er und der Vater 1939. Hachenburgs Tochter und sein Schwiegersohn Fritz Bing wurden in Auschwitz ermordet. Hachenburg ging 1946 nach Berkeley. Auch zur Annahme der Ehrenbürgerschaft Mannheims kam er nicht mehr nach Deutschland zurück5. Sein Sohn wurde Landgerichtsdirektor in Heidelberg. In seinem Richterzimmer hing ein großes Bild seines berühmten Vaters. J. Zutt war bei ihm Referendar, möglicherweise von ihm ausgesucht. Hachenburg war ein intensiver und extensiver Kommentator. Am HGB-Kommentar Düringer/ Hachenburg arbeitete Geiler mit. Der GmbHG-Kommentar Staub/Hachenburg ging auf Wunsch und Einladung Hachenburgs auf W. Schilling über, und im Laufe der Zeit kommentierten in ihm viele SZA-Juristen, auch J. Zutt und Martin Winter. b) Geiler (1878–1953) und Kronstein (1897–1972) Direkt rückführbar ist SZA auf Geiler und Kronstein. Karl Geiler stammte aus einer alten badischen Beamtenfamilie und galt als „Herr“ in Büro und Tanzsaal, als „großer Jurist“ und als großer Inspirator6. Als Einzelanwalt begann er 1904, mit Zutt tat er sich erst 1937 zusammen. In der Zwischenzeit war er u. a. mit Anton Lindeck assoziiert (Geiler Lindeck Pfefferle Eberhard). Lindeck war Halbjude und bis 1934 Vorsitzender des Mannheimer Anwaltsvereins. 1945 kam er zurück nach Mannheim und praktizierte eine Weile als Mitarbeiter bei SZA und dann allein bis zu seinem Tod 1956. Geiler war 1907 Mitgründer der Handelshochschule Mannheim, ab 1909 dort Dozent und von 1931 bis zu seiner Amtsenthebung (wohl wegen seiner jüdischen Frau) auch Dozent an der Universität Heidelberg, wo Kronstein bis 1930 sein Assistent war. Geiler kommentierte z. B. im Staudinger das Gesellschaftsrecht. Als 1945 die US-Truppen mit ihren Listen unbescholtener fachkundiger Deutscher kamen, wurden Geiler, W. Zutt und H. Anschütz in die erste deutsche

__________ 5 Hachenburgs Lebens-Erinnerungen sind von Schadt herausgegeben. Zu 1933–1945 s. auch Stiefel (zu diesem s. unten) in Hommelhoff/Rowedder/Ulmer, Max-Hachenburg Zweite Gedächtnisvorlesung, S. 1 ff. 6 So Kronstein in seinen Briefen an einen jungen Deutschen, 2. Aufl. 1968, S. 117–118.

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Zu Wirken und Geschichte von Martin Winters Anwaltsfirma, SZA

Provinzialregierung berufen, sodann Mittelrhein-Saar genannt, noch am Tag der Kapitulation am 9. Mai 1945. Kurz danach übergaben die Amerikaner die Region den Franzosen als Besatzungszone. W. Zutt wollte nicht mit den Amerikanern nach Frankfurt gehen, sondern als Anwalt Geld verdienen; er hatte zwei Ehefrauen und vier Kinder zu ernähren und war auch selber durchaus anspruchsvoll. So empfahl er den Amerikanern Geiler, der persönlich und beruflich Beziehungen nach Frankfurt hatte. Geiler schied aus der Kanzlei aus und wurde als erster Ministerpräsident Hessens eingesetzt, mit exekutiver und legislativer Gewalt. Das von ihm miterarbeitete Staatsgrundgesetz, die Landesverfassung, führte 1946 zur ersten gewählten Regierung, die ihn ablöste7. 1947 wurde Geiler als Ordinarius für internationales Recht an die Universität Heidelberg berufen und war 1948/49 deren Rektor. Schon mit 65 Jahren bekam er eine Festschrift. Heinrich Kronstein war Frontkämpfer und verwundet im Ersten Weltkrieg, zunächst Amtsrichter und ab 1926 Einzelanwalt in Mannheim. Mit Geiler, Knieriem und Hachenburg erlebte er in der Geilerschen Praxis u. a. die Gründung der IG Farben mit. Er konvertierte und war praktizierender Katholik. 1930 lehnte die Universität Heidelberg seine Habilitation unter unklaren Umständen ab. 1931 schloss er sich mit W. Zutt zusammen, 1932 begannen rassistische Angriffe, ab 1933 waren „gemischte“ Sozietäten unzulässig, 1934 wurde die Sozietät zwangsaufgelöst, 1935 emigrierte er. Seine Emigrationsstationen veranlassten mehrere Jura-Studien und machten ihn zu einem der angesehensten internationalen Juristen, Special Attorney im US-Justizministerium, Professor an der Georgetown University und Partner bei Arnold & Porter, dann 1951–1965 zum Professor in Frankfurt als Nachfolger von Walter Hallstein und Co-Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht. Kronsteins Schüler waren u. a. Biedenkopf (Kartellrechtler und CDU-Generalsekretär, Minister und zuletzt sächsischer Ministerpräsident) und Miegel (Philosoph, Jurist und Gründer des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft). W. Zutt, der sogleich 1933 bei Gleichschaltung des „Stahlhelm“ mit der SA durch Austritt Position bezog, riet ihm zur Emigration. Kronstein sah zwar deren Notwendigkeit, aber zuerst wollte er anderen dabei helfen. Er tat das mit W. Zutt so engagiert, dass Mannheimer Kollegen fürchteten, später einmal würden alle jüdischen Unternehmer sich nur noch von den beiden beraten lassen; dass es viel schlimmer kommen würde, verkannten sie. Ab 1945 engagierte sich Kronstein, tief betroffen über das Leiden, das er antraf, für die Deutschen, gegen die Demontage und für transatlantische Zusammenarbeit. Als er bei Kriegsende in US-Uniform die steile hohe Treppe am Hang zu W. Zutts Haus hinaufstieg, begrüßte der ihn erstaunt, was er denn da mache und wie er denn aussehe. Er begegnete W. Zutt mit großem Respekt, als einem, der es „wirklich verdient, nicht vergessen zu werden“, in der NS-Zeit „frei von allen unangenehmen und schlechten Bindungen“ und zugleich beim Wiedersehen als „fremd geworden“, weil völlig im Beruf aufgegangen8. Kronstein be-

__________ 7 Zu Anwälte als Politiker vgl. 200 J. Wirtschaftsanwälte in Deutschland, S. 24–26. 8 Kronstein (Fn. 6), S. 116–117.

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suchte SZA alljährlich. Er lebte die Verbindung von Anwalt und Akademiker und von Deutschland und der Welt bis kurz vor seinem Tod. c) Anschütz, Zutt und andere in der Zeit vor SZA In jener Vorzeit vor SZA war die Familie Anschütz juristisch, aber nicht anwaltlich berühmt. Gerhard Anschütz (1867–1948) glänzte als der führende Kommentator der Weimarer Verfassung. Der oben genannte Hans Anschütz, Vater des SZA-Namenspartners, war Richter in Mannheim, in der NS-Zeit wegen seiner jüdischen Frau, die sich im Schwarzwald verbergen musste, unter starkem Druck und nach seiner kurzen Tätigkeit 1945 als Justizminister später Landesgerichtspräsident und über seine Pensionierung hinaus Präsident des Staatsgerichtshofs von Baden-Württemberg. Er war wohl einmal der erste Referendar in der Anwaltsstation bei W. Zutt. Sein Sohn Klaus (geb. 1935), seit 1961 Anwalt bei SZA, wurde 1965 Partner. Er betrieb Unternehmensrecht, anfangs auch Schifffahrtsrecht, in Verfahren nach der „Mannheimer Akte“ von 1867, war wie ursprünglich alle Sozien im „grünen Verein“ und kam über den Gewerblichen Rechtschutz zum Kartellrecht. Seit dem Ausscheiden Schäfers 1971 nannte sich die Kanzlei SZA, eine richtige „Firma“, wie Boesebeck Barz in Frankfurt und mit kaufmännischem „&“ wie Nolte & Loewe/Schön & Pflüger in Hamburg; so etwas wurde damals beanstandet9. Auch W. Zutt selbst war in jener Zeit vor SZA nicht Anwalt, sondern BankJurist in der Rheinischen Creditbank. In der Weltwirtschaftskrise wurde sie mit der Diskonto-Gesellschaft und der Deutschen Bank fusioniert, und W. Zutt schied aus, wurde 1931 Anwalt und trat in Kronsteins Praxis ein. Sein Vater war Anwalt in der Gegend von Karlsruhe gewesen. W. Zutt war aufgrund seiner Bank-Tätigkeit mit Wirtschaftsrecht und großen Unternehmen vertraut. Er war älter und etablierter als Kronstein, und so hieß es damals angeblich: Ein großer Goj, ein kleiner Jud, das ist die Firma Kronstein-Zutt. Die größte Kanzlei jener Zeit in Mannheim war die von Pfeifenberger. Nur einer ihrer Namenspartner, Krämer, war arisch; alle anderen emigrierten in die USA. Bekannter Anwalt aus Mannheim und Emigrant war Ernst Carl Stiefel (1909–1997), wie Kronstein durch die Emigration zum Rechtsvergleicher geworden durch Studium in Frankreich, England und USA, ab 1950 Professor an der NYU und dann Partner bei Coudert Brothers, der wohl ersten „internationalen“ Anwaltsfirma schlechthin. Bedeutend neben SZA wurde in der Nachkriegszeit die Mannheimer Kanzlei Rowedder Zimmermann Hass, gegründet 1950 von Duden und Rowedder, letzterer 1948–1950 Junganwalt bei SZA. Rowedder (1919–2006) war erheblich kriegsverletzt. Gewissermaßen „hinter“ der familiären Phalanx von Zutt und Schilling sah er dort kein Fortkommen, blieb SZA aber freundlich verbunden. Er bezog ein Haus drei Häuser oberhalb von Zutt am Philosophenweg. Beim Rotwein scherzte er, man habe ihn „halt nicht genommen“. Seine Sozietät

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9 Vgl. 200 Jahre Wirtschaftskanzleien in Deutschland, S. 183–140; zur Firma dort S. 19– 20.

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Zu Wirken und Geschichte von Martin Winters Anwaltsfirma, SZA

wurde „die andere“ Anwaltsfirma in Mannheim. Erster Nachkriegspartner bei SZA wurde 1954 Schäfer (geb. 1922, ausgeschieden 1971), dann folgten etliche, 1990 Martin Winter, wie viele aus dem Wirtschaftsrechtlichen Seminar der Universität Heidelberg, dem er und dem SZA dauerhaft verbunden blieben. 3. Von Geiler Zutt Schilling zu W+J Zutt W+J Schilling Aus den zwei Wurzeln Geiler (seit 1904) und Kronstein (seit 1926) entstanden: Kronstein Zutt (ab 1931), nach Kronsteins Emigration 1934: Geiler Zutt (ab 1937), nach Schillings Verwundung 1942 und seinem Beitritt als Partner: Geiler Zutt Schilling (ab 1943) und nach Jürg Zutts Beitritt: W+J Zutt W+J Schilling Schäfer (ab 1957) und nach Schäfers Ausscheiden 1971: Schilling Zutt Anschütz (bis 2000 und wieder ab 2008). Die Aufeinanderfolge und Anordnung der Namen wiederspiegelt reale Bedeutung und den Wandel in den Zeitläufen. Zusätzlich zum Vorstehenden hier nur noch ein paar weitergegebene Mitteilungen. a) W+J Zutt10 Wilhelm (Willy) Zutt war Vollblut-Jurist, erst Bank-Jurist, dann Anwalt. Auf seine anwaltliche Praxis ging wohl die SZA-Übung zurück, dass auch junge Anwälte vom ersten Tag an Mandantenkontakt haben sollten, nicht wegen hohem „Associate-Leverage“, der lag auch am Ende von SZA unter 1, sondern als anwaltliche Selbstverständlichkeit, so wie jeder sein Fach beratend und prozessierend lernen und ausüben sollte. Dass W. Zutt „keine Zeile“ schrieb, war wohl eine Übertreibung im Rückblick. Aber er war schon komplementär zu dem großen Kommentator W. Schilling, dem (wegen einer Kriegsverletzung 1942) „geübten Linkshandschreiber“. W. Zutts Stärke war, einen Gegenüber (Mandant oder Gegner) und jede Situation sofort zu durchschauen und auf den Punkt zu bringen. Dabei verband er Züge eines Lebemanns mit dem Charakter eines Ehrenmanns. Noch nach dem Ausscheiden Kronsteins vertrat er unerschrocken jüdische Geschäftsleute gegen Ariseure und bei der Auswanderung. Kronstein beschrieb ihn nach 1945 als von seinem Beruf in Besitz genommen und vom Erfolgswillen gejagt. Er starb bei einer Verhandlung in einer Bank in Mannheim am Herzinfarkt. Früh erwarb er in schönster Hanglage Heidelbergs ein Haus, von einem amerikanischen Manager, der in Schwetzingen eine Geschäftsführung übernehmen hätte sollen, modern gebaut, mit weitem Blick ins Rheintal bis nach Mannheim, mit einem abenteuerlich-modernen „Lift“ von der Gartentür steil hinauf zur Terrasse des Hauses, den J. Zutt heute nicht mehr zu benutzen wagt. J. Zutt (geb. 1929) stammt aus der ersten Ehe W. Zutts, seine Mutter zog nach Freiburg. Zur Stiefmutter und den Stiefgeschwistern hatte er ein gutes Verhältnis und kaufte von ihr als Witwe das väterliche Haus, sie beraten von

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10 Zu Väter und Söhne (und andere Verwandschaft) bei Wirtschaftsanwälten vgl. 200 J. Wirtschaftsanwälte in Deutschland, S. 27–28.

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einem altansässigen Unternehmer. Sohn aus einer solchen Familie zu sein ist nicht einfach. J. Zutt verband das väterliche Anwaltstalent mit dem fachwissenschaftlichen Anspruch W. Schillings. 1954 kam der erste Nachkriegssozius, Schäfer, zu SZA, 1957 J. Zutt. 1948–1950 arbeitete Rowedder für SZA. Dass J. Zutt zur Festschrift für Rowedder einen Beitrag schrieb, erstaunte den, aber J. Zutt antwortete – wie meist trocken – er tue es auf Gegenseitigkeit. Sein Leben lang starker Raucher, zuletzt mit „Lights“, trotz des einschlägigen Leidens seiner Mutter, lebte J. Zutt bis Juli 2011 am Philosophenweg, zurückgezogen, wach und still, 1996 aus dem Anwaltsleben gerissen. Noch vor der Büroeröffnung 1995 in Frankfurt, 1992, eröffnete SZA ein Büro in Dresden als Vertrauensanwälte der Niederlassung der Treuhandanstalt. Martin Winter ging dorthin, ebenso J. Zutts Tochter, die juristische von den zweien, und sie praktiziert noch heute dort in eigener Kanzlei. Auf Martin Winter traf der Verfasser damals bei der Privatisierung von Meissen Keramik, von Winter souverän einfach vorangebracht. b) W+J Schilling Auch bei den Schillings gab es W+J, dort das Ehepaar, und einen Anwalt in der nächsten Generation, dort den Sohn Tilman. Johanna Schilling (1906–1992) arbeitete in der Kriegsabwesenheit (1939–1945) ihres Mannes Wolfgang für zwei, auch in 24-Stunden-Tagen, und brachte ihr zweites Kind zwischen zwei Fliegerangriffen zur Welt. Frauen konnten in Deutschland erst aufgrund eines Gesetzes von 1922 zur Anwaltschaft zugelassen werden; die erste war wohl Dr. Maria Otto in München, die erste in Mannheim wurde 1927 zugelassen, Emmy Rebstein-Metzger. 1932 gab es 79 Anwältinnen in Deutschland11. Die RAO von 1935 schloss Anwältinnen effektiv aus, indem der Reichsjustizminister die erforderliche Zulassung zum Probedienst versagte. So wurde J. Schilling erst 1945 zugelassen. Heute sind knapp ein Drittel der Anwälte weiblich und etwa die Hälfte der Jura-Studierenden. J+W Schilling waren sehr eng verbunden, hielten einen gemeinsamen Anteil an der Sozietät zur Mäßigung ihrer beider Stimmrecht-Einfluss, beide waren (große Ausnahme bei SZA) nicht promoviert, und sie verstarben im gleichen Jahr, Johanna, die zwei Jahre ältere, kurz vor Wolfgang. W. Schilling (1908–1992) wurde 1935 Anwalt in Mannheim. 1943 kam er zu SZA, kurz nach einer Kriegsverletzung 1942. Im Lazarett Heidelberg arbeitete er an Kanzlei-Fällen und lernte links schreiben. 1966 wurde er Honorarprofessor an der Universität Heidelberg. Da war er schon lange großer Kommentator und Dozent. Mit Hefermehl und P. Ulmer leitete er das dortige Wirtschaftsrechtliche Seminar, eine stetige Quelle für SZA-Nachwuchs, auch M. Winter kam dorther. Peter Ulmer wurde später „of counsel“ bei SZA. Dessen Vater, Eugen Ulmer, war der führende Gelehrte und Praktiker im gewerblichen Rechtsschutz, zuletzt als Direktor des Max-Planck-Instituts in München-Bogen-

__________ 11 Zu Anwältinnen vgl. 200 J. Wirtschaftsanwälte in Deutschland, S. 26–27.

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Zu Wirken und Geschichte von Martin Winters Anwaltsfirma, SZA

hausen in der Siebertstraße, wo ihn der Verfasser eindrucksvoll erlebte. Der Sohn Tilman Schilling, nach Praktikum bei Arnold & Porter in Washington (der Partnerschaft Kronsteins), war Partner bei SZA, im Gewerblichen Rechtschutz vor allem vor den Patentkammern in Mannheim und dem Patentsenat des BGH in Karlsruhe rechtsfortbildend tätig, gewürdigt in einer Festschrift zu seinem 70. Geburtstag. Den Übergang zu Shearman & Sterling 2000 machte er nicht mit, sondern gründete mit seinem Mitarbeiter Grosch eine Kanzlei in Mannheim. W. Schilling war lange ein Hauptanziehungspunkt von SZA. Er vertrat und beriet zusammen mit den berühmtesten Kollegen, so in den Flick-Prozessen mit Hans Hengeler, auf den er die Grabrede hielt. Seine SZA-Partner sagten ihm, er dürfe keineswegs vorzeitig aufhören, d. h. nicht vor seinem 80. Lebensjahr, und „drohten“ widrigenfalls mit einstweiliger Verfügung. Der Verfasser erlebte ihn noch im Büro als den aktiven Senior inmitten seiner Partner und Kollegen.

* Die großen moralphilosophischen Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts, so Georg Christoph Lichtenberg (Kollege von Adam Smith), wussten, dass das Leben des einzelnen wie der Gesellschaft ein undurchschaubares Gewirr von Interaktionen ist, ein Wirrwarr von Lebenslinien. So schrieb Lichtenberg von den Kausalketten, die man erst ex post und nur teilweise rückverfolgen könne. Sehe man ein ungutes Ergebnis, möge man fragen, nicht wie die direkte Ursache dieses Ergebnisses vermeidbar gewesen wäre, sondern die viel frühere und am leichtesten vermeidbare in der Kette. Und sehe man ein Ergebnis in Form einer schrecklichen Untat wie eines Mordes, so danke man Gott, dass er einen nicht an den Anfang jener langen Kette gestellt habe, die zu der Untat führte. Auch Lichtenberg beschrieb das Streben nach dem eigenen Vorteil, dies Wort gehörig verstanden, als Quelle gesellschaftlicher Gesundheit und als die ordnende Kraft, die Adam Smith als unsichtbare Hand im Chaos des und der Leben erkannte. All das trifft auch zu auf das Hin und Her, das Auf und Ab in den Leben der einzelnen und ihrer Verbindung in SZA. Freiberuflertum ist der Prototyp dieser Art von erfolgreicher, weil planungs- und organisationsfeindlicher Zukunftsbewältigung, SZA ist ein Prototyp von Freiberuflertum. Moderne Wissenschaft, z. B. die Hirnforschung, nimmt diesen liberalen Gedanken auf und begründet ihn biochemisch und evolutionsgeschichtlich: Mensch und Menschheit überlebten und überleben nicht durch Planen der unerkennbaren, sich interaktiv entwickelnden Zukunft, und das dezentrale, nicht hierarchisch gegliederte Hirn bewirkte dieses erfolgreiche Überleben nicht durch Befehlen und Befolgen, sondern Überleben und Erfolg beruhten auf aktuellem, realem Erkennen und dem angepassten Handeln. Das lässt sich auch im Leben, Überleben und Erfolg von SZA und seinen Partnern, Martin Winter und allen, erkennen, und das wünscht der Verfasser SZA weiterhin, im zukunftsgerichteten Gedenken an und aus Respekt vor Martin Winter und Jürg Zutt.

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Gedanken zur Bilanzpublizität und ihren Grenzen Inhaltsübersicht I. Thema II. Historische Entwicklung III. Aussagewert des Jahresabschlusses IV. Rechtfertigung 1. Anlegerschutz 2. Gläubigerschutz

3. Information der Öffentlichkeit 4. Verhaltenssteuerung V. Einwendungen 1. Wettbewerbsschutz 2. Gesellschafterschutz VI. Ergebnis

I. Thema Wenn nachstehend Überlegungen zu Nutzen und Schaden der Bilanzpublizität angestellt werden sollen, bedarf es zunächst einmal zweier definitorischer Abgrenzungen. Zum einen ist der Gegenstand der Publizität näher benennen. Unter „Bilanz“ wird der Jahresabschluss, also die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung (§ 242 Abs. 3 HGB) sowie der Anhang verstanden (§ 264 Abs. 1 Satz 2 HGB). In einem weiteren Sinne könnten auch der Lagebericht, der Bericht des Aufsichtsrats, die Erklärung nach § 161 AktG sowie der Vorschlag für die Verwendung des Ergebnisses und der Beschluss darüber hierher gerechnet werden, da auch diese Dokumente zusammen mit den Jahresabschluss beim Betreiber des elektronischen Bundesanzeigers elektronisch einzureichen sind (§ 325 Abs. 1 Sätze 1 und 3 HGB). Zum anderen ist der Adressat der Publizität zu umschreiben. Gemeint ist hier nicht die Offenlegung über Aufsteller und Feststeller hinaus im Sinne einer Weitergabe an bestimmte Dritte, etwa an Behörden, Banken oder Geschäftspartner. Es geht vielmehr um die Einsichtnahme durch Quivis ex populo, wie dies § 325 i. V. m. § 9 HGB vorsehen. Pro und contra der Bilanzpublizität sind im Laufe der deutschen Rechtsentwicklung – dazu sogleich einige Daten – immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen. Mit schöner Regelmäßigkeit haben sich publizitätsfreudige Gesetzgeber durchgesetzt und die Offenlegungspflichten jeweils weiter ausgebaut. Die Gesetzeslage erscheint also zementiert – vom europäischen Gemeinschaftsrecht vorgegeben und vom deutschen Verfassungsrecht gebilligt1. Damit bildet dieser Komplex für die Rechtspraxis ein – wenngleich vielfach als unbefriedigend empfundenes – Datum.

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1 So hat das BVerfG, GmbHR 2011, 528 jüngst wieder entschieden, die Offenlegungspflicht aus § 325 HGB und deren Sanktionierung durch § 335 HGB verstießen weder gegen die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) noch gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG).

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Die Wissenschaft hat dagegen das Thema noch keineswegs auf dem Stapel „Erledigt“ abgelegt. Die Diskussion ist vielmehr nicht zuletzt aus Anlass des EHUG2 deutlich wieder in Gang gekommen. Zu nennen sind insoweit neben kritischen Aufsatzbeiträgen3 vor allem das Zweite Heidelberger Gespräch zur Rechnungslegung aus dem Jahre 20094 und die ihm vorangegangene Untersuchung zu Rechnungslegung und Wettbewerbsschutz im deutschen und europäischen Recht5. Trotz dieses ökonomisch geprägten Ausgangspunkts hat die Frage nach Nutzen und Schaden der Bilanzpublizität entscheidende rechtliche Aspekte, und zwar nicht nur verfassungsrechtliche – die hier ausgeklammert werden –, sondern auch gesellschaftsrechtliche6. Sie sollen nachfolgend im Mittelpunkt stehen. Martin Winter, dem dieser Beitrag7 in memoriam gewidmet ist, hätte vielleicht über das Thema auf den ersten Blick ein wenig gestutzt, hatte er doch seinen praktischen wie seinen wissenschaftlichen Schwerpunkt im Recht der Kapitalgesellschaften und war im Bilanzrecht wohl eher weniger engagiert. Er war aber, wie nicht zuletzt seine eindrucksvolle Mandantenliste zeigt, vielen Unternehmen als Berater verbunden und hat dabei gewiss auch die Bedeutung der Rechnungslegung und ihrer Publizität im Auge gehabt.

II. Historische Entwicklung Es begann im Aktienrecht, und zwar mit der Abschaffung des Konzessionssystems für Aktiengesellschaften im Jahre 1870 und dem Übergang zum System der Normativbestimmungen. Als Ausgleich der Staatsaufsicht wurde in Art. 239 Abs. 1 Satz 2 des ADHGB vorgeschrieben, der Vorstand habe den Aktionären eine Bilanz vorzulegen und in den öffentlichen Blättern zu veröffentlichen. Ausgebaut wurde diese Verpflichtung mit der auf den Aktienschwindel der damaligen Gründerzeit zurückzuführenden Novelle von 1884. Fortan musste auch die Gewinn- und Verlustrechnung veröffentlicht werden und der Jahresabschluss war außerdem zum Handelsregister einzureichen (Artt. 239b, 185c ADHGB). Maßgebender Gesichtspunkt war vor allem der Anlegerschutz, nicht zuletzt der künftigen Anleger8.

__________ 2 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. I 2006, 2553; in Kraft getreten am 1.1.2007. 3 Vgl. nicht zuletzt die eingehende „Streitschrift gegen die Offenlegungspflicht von Jahresabschlüssen“ von Brete, GmbHR 2009, 617 ff. 4 Ebke/Möhlenkamp (Hrsg.), Rechnungslegung, Publizität und Wettbewerb, 2010, mit kritischen Beiträgen u. a. von Werner Ebke, Christian Starck und Wolfgang Schön. 5 Wolfgang Schön (Hrsg.), Rechnungslegung und Wettbewerbsschutz im deutschen und europäischen Recht, 2009. 6 Wie schon v. Caemmerer, mit seinem Aufsatz „Publizitätsinteresse der Öffentlichkeit und Gesellschaftsrecht“, Gesammelte Schriften Bd. 2, 1968, S. 98 ff. gezeigt hat. 7 Er geht zurück auf einen Vortrag des Verfassers vom November 2010 anlässlich der 4. Rheinischen Gesellschaftsrechtskonferenz in Düsseldorf. 8 Begründung S. 245 f., abgedr. b. Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4, 1985, S. 404, 414 f.

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Unter diesem Gesichtswinkel verwundert es nicht, dass der Gesetzgeber des Jahres 1892 für die GmbH eine solche Bilanzpublizität zwar erwogen, sie dann aber nicht eingeführt hat. Er sah dafür angesichts des vergleichsweise kleinen, geschlossenen Kreises der Gesellschafter kein Bedürfnis. Man kenne sich9. Vom Aktiengesetz 1965 wurde dann eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger und deren Einreichung beim Handelsregister verlangt (§§ 177, 178 AktG). Inzwischen hatte sich die Zielsetzung dergestalt erweitert, dass eine Information der Gläubiger und der Öffentlichkeit hinzugekommen war. Letzterer Gesichtspunkt wurde dann mit dem Publizitätsgesetz von 196910 maßgebender Grund für die Publizität. Große Unternehmen sollten transparent werden. Anschließend ging die Regelungshoheit auf die europäische Ebene über. In Umsetzung ihrer Bilanzrichtlinie11 bezog der deutsche Gesetzgeber 1985 im BiRiLiG12 auch die GmbH in Publizitätspflichten ein, wenngleich mit größenabhängig gestaffeltem Pflichtenstandard. Auf europäisches Drängen hat er dann gegen heftigen Widerstand vor allem der mittelständischen Wirtschaft auch die GmbH & Co. KG gleicher Publizität unterstellt13. Eine völlig neue Dimension wurde vor wenigen Jahren mit dem EHUG14 eröffnet. Das Gesetz hat zu einem „Qualitätssprung“15 geführt. Man könnte auch von einem Quantensprung sprechen16. Von nun an wurde über die Addition von Handelsregister und Unternehmensregister – beide elektronisch geführt – jedermann jederzeit schnell und bequem Einsicht in die Jahresabschlüsse gewährt. Hinzu kamen deutlich verschärfte Sanktionen bei Verletzung der Einreichungspflichten. So sieht § 335 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HGB bei pflichtwidrigen Unterlassen der rechtzeitigen Offenlegung ein vom Bundesamt für Justiz durchzuführendes Ordnungsgeldverfahren vor17. Neuerdings liegt allerdings ein Vorschlag der EU-Kommission zu Gunsten von Kleinstunternehmen (micro enterprises) auf dem Tisch, wenn diese unterhalb

__________ 9 Entwurf eines Gesetzes über Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen (Entwurf I), Amtliche Ausgabe 1891, S. 51. 10 Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen (Publizitätsgesetz – PublG) v. 15.8.1969, BGBl. I 1969, 1189, ber. I 1970, 1113. 11 RL 78/660/EWG v. 25.7.1978, ABl. EG Nr. L 222 v. 16.8.1978, S. 11. 12 Bilanzrichtlinie-Gesetz – BiRiLiG v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2355. 13 Durch das Kapitalgesellschaften & Co.-Richtlinie-Gesetz v. 24.2.2000, BGBl. I 2000, 154 als – späte – Erfüllung der Richtlinie 90/605/EWG v. 8.11.1990, ABl. EG Nr. L 317 v. 16.11.1990, S. 60. 14 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. I, S. 2553; in Kraft getreten am 1.1.2007. 15 Schön (Fn. 4), S. 161. 16 Seibert/Decker, DB 2006, 2446 haben das Gesetz als „Big Bang im Recht der Unternehmenspublizität“ bezeichnet. 17 Erfahrungsbericht aus der Sicht des Bundesamtes von Schlauß, DB 2008, 2821 ff.; kritisch etwa Kuntze-Kaufhold, GmbHR 2009, 73 ff.; die Zulässigkeit der Ordnungsgeldverfahren bestätigend allerdings soeben wieder das zuständige LG Bonn, dazu Ullrich, GmbHR 2011, R 149.

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der Kriterien von 1 Million Euro Netto-Umsatz, 500000 Euro Bilanzsumme und 10 Arbeitnehmern bleiben18.

III. Aussagewert des Jahresabschlusses Man könnte natürlich fragen, ob die Bilanzpublizität für Unternehmen so belastend ist, wie dies vielfach vorgetragen wird, oder anders: Kann man aus dem Jahresabschluss wirklich so viel erkennen? Zunächst einmal: Der Jahresabschluss zeigt immer die abgelaufene Periode, er ist also vergangenheitsbezogen19. Hinzu kommt, dass ihn Wilhelm Rieger, einer der Väter der Betriebswirtschaftslehre – wenn auch inzwischen vor vielen Jahrzehnten – einmal als „Gemisch aus Wahrheit und Dichtung“ bezeichnet hat20. Inzwischen sind allerdings die gesetzlichen Bilanzierungsvorschriften hinsichtlich Ansatz und Bewertung deutlich konkretisiert und verschärft worden21. Von seinem Inhalt her gab der deutsche HGB-Abschluss bisher wegen seiner Funktion als Instrument zur Ausschüttungsbemessung22 einen vom Grundsatz der Vorsicht beherrschten Einblick in den Vermögensstand des Unternehmens. Das hat sich jetzt freilich mit dem BilMoG23 geändert. In der Absicht, den zuvörderst anlegerinformationsbezogenen angelsächsischen Bilanzierungsregeln stärker Rechnung zu tragen, hat man ihnen insbesondere durch den Ansatz selbstgeschaffener immaterieller Vermögenswerte und mit der Berücksichtigung latenter Steuern Raum gegeben24. Damit sind Prognoseelemente in den Abschluss gekommen. Unter Kapitalerhaltungsgesichtspunkten sorgt freilich die Ausschüttungssperre des § 268 Abs. 8 HGB für einen gewissen Neutralisierungseffekt. Festzuhalten ist demnach: Ein gesetzeskonformer Jahresabschluss liefert – wenngleich zum Bilanzstichtag – unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage (§ 264 Abs. 2 Satz 1 HGB). Außerdem: Eine Abfolge von Abschlüssen lässt darüber hinaus Entwicklungstendenzen

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18 Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG v. 26.2.2009, KOM (2009) 83 endg.; dazu Lehne in Ebke/Möhlenbrock (Fn. 4), S. 225, 228 ff.; Bräuer, NZG 2011, 53, 54. 19 „Ex-post-Ausrichtung“; Strobel, BB 1981, 1742, 1750. 20 Rieger, Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 3. Aufl. 1964, S. 212. 21 Es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn ein alter Fahrensmann in Theorie und Praxis der Bilanzierung wie Hermann Clemm in seinen Betrachtungen „Zur Fragwürdigkeit und Zweckmäßigkeit von Jahresbilanzen“ in FS Beusch, 1993, S. 131 ff. zu dem Ergebnis kommt, die Jahresbilanzen seien noch immer das brauchbarste Instrument für die Ermittlung von Gewinn, Vermögens- und Schuldenstand, S. 148. 22 Schön, ZHR 161 (1997), 133, 140 ff.; Winnefeld, Bilanzhandbuch, 4. Aufl. 2006, Einf. Rz. 16; Pellens/Jödicke/Richard, DB 2005, 1393 ff. 23 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102. 24 Zum BilMoG nur Petersen/Zwirner, BilMoG – Gesetze, Materialien, Erläuterungen, 2009; Ernst/Seidler, BB 2009, 766 ff.; C. Meyer, DStR 2009, 762 ff.; Hennrichs, GmbHR 2010, 17 ff.

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erkennen. Die Offenlegung eines solchen Rechenwerks ist für das betroffene Unternehmen also durchaus relevant.

IV. Rechtfertigung 1. Anlegerschutz Der Einblick in die Bilanzen durch den Anleger ist im Grundsatz selbstverständlich. Er ist Eigentümer, ihm ist deshalb Rechenschaft darüber zu legen, wie mit seinem Investment gewirtschaftet wurde und wie es finanziell um seine Gesellschaft steht25. Der Anleger hat allerdings entscheidende gesellschaftsrechtliche Informationsrechte. Dabei müssen im Grunde die Fälle ausgeklammert werden, in denen die Gesellschafter bereits an der Feststellung des Jahresabschlusses mitwirken. So liegt es bei der offenen Handelsgesellschaft und der Kommanditgesellschaft. Auch bei dieser sind – wie seit langem feststeht – alle Gesellschafter, also auch die Kommanditisten zur Abschlussfeststellung berufen26. Gleiches gilt für die GmbH, wie § 46 Nr. 1 GmbHG ausdrücklich sagt. Zur Vorbereitung der Feststellungsbeschlüsse ist den Gellschaftern der Abschluss rechtzeitig vorher zur Kenntnis zu bringen (§ 42a Abs. 1 Satz 1 GmbHG). Die Geschäftsführer sind verpflichtet, die Beschlussunterlagen den Gesellschaftern zu erläutern27. Hinzu kommt das Informationsrecht aus § 51a GmbHG. Bei den Personengesellschaften gibt es ein Informationsrecht der Mitgesellschafter gegenüber den geschäftsführenden Gesellschaftern aus § 105 Abs. 3 HGB i. V. m. §§ 713, 666 BGB28. Freilich kann es auch bei einer GmbH oder einer Personengesellschaft Fälle geben, in denen die Möglichkeit zur Einsichtnahme des Jahresabschlusses im Handelsregister für den Gesellschafter hilfreich wäre, nämlich dann, wenn er ohne eine möglicherweise klimavergiftende Geltendmachung des Einsichtsrechts gewissermaßen anonym die Unterlagen prüfen möchte29. Anders sieht es im gesetzlichen und praktischen Regelfall für die Aktiengesellschaft aus. Bei ihr erfolgt die Feststellung des Jahresabschlusses im Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat30. Nur wenn diese übereinkommen, die Beschlussfassung der Hauptversammlung zu überlassen, können die Aktionäre, also die Anleger, tätig werden (§ 172 Satz 1 AktG). Solche Fälle sind selten und überwiegend dadurch gekennzeichnet, dass der Abschluss Probleme aufweist und den Aktionären damit quasi die „heiße Kartoffel“ zugeschoben werden soll. Für eine Information der Aktionäre auf der Ebene des Gesell-

__________ 25 Wie Noack, Unternehmenspublizität, 2002, S. 46 zutreffend feststellt. 26 BGHZ 132, 263 = ZIP 1996, 750, 751; heute unstr. 27 Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 42a Rz. 3; Paefgen in Großkomm. GmbHG, 2006, § 42a Rz. 11. 28 Für die OHG Priester in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2011, § 120 Rz. 67; für die KG Grunewald in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2007, § 167 Rz. 2. 29 Noack (Fn. 25), S. 58. 30 Zur Abschlussfeststellung bei unterbesetztem Vorstand soeben KG v. 29.10.2010, AG 2011, 299.

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schaftsrechts sorgt allerdings darüber hinaus die Vorschrift des § 175 Abs. 2 AktG, dessen Satz 1 die Gesellschaft verpflichtet, den Abschluss ab Einladung zur Hauptversammlung in den Geschäftsräumen der Gesellschaft auszulegen. Ergänzend können die Aktionäre gemäß Satz 2 die Übersendung des Jahresabschlusses verlangen. Diese Verpflichtungen entfallen allerdings, wenn die Dokumente für denselben Zeitraum über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich sind (Satz 4). Darüber hinaus sind diese Dokumente in der Hauptversammlung vorzulegen und zu erläutern (§ 176 Abs. 1 AktG). Fasst man dieses Bild zusammen, so ergibt sich: Derzeitige Anleger bedürfen einer Publizität im Grunde nicht. Sie haben oder bekommen jedenfalls die erforderlichen Informationen. Anderes gilt dagegen für künftige Anleger. Ihnen stehen solche Informationen nicht zur Verfügung. Andererseits muss man differenzieren: Wer einer geschlossenen Gesellschaft beitritt, also einer Personenhandelsgesellschaft oder einer GmbH, vielleicht auch einer Aktiengesellschaft mit kleinem Aktionärskreis, wird dies nicht tun, ohne dass man ihm im Rahmen der Beitrittsverhandlungen die von ihm verlangten Jahresabschlüsse vorlegt. Damit sind die wesentlichen Kapitalgeber des Mittelstands auf eine generelle Publizitätspflicht nicht angewiesen31. Es bleibt dann der Bereich der Publikumsgesellschaften, bei denen individuelle Beitrittsverhandlungen allenfalls von größeren Anlegern geführt werden. Regelmäßig findet hier vielmehr ein schlichter Anteilserwerb statt. Das gilt vor allem für Aktiengesellschaften mit großem Aktionärskreis und erst recht für börsennotierte, aber auch für Publikumspersonengesellschaften. Bei ihnen lässt sich eine Publizität gegenüber jedermann – und darum geht es hier – rechtfertigen32. In solchen Fällen sind aber nicht einzelne künftige Anleger, sondern recht eigentlich der Kapitalmarkt Adressat der Rechnungslegung. Eine Bilanzpublizität zu seinen Gunsten und im Interesse der Kapitalmarktteilnehmer steht dementsprechend auf einem ganz anderen Blatt. Hier sprechen überzeugende Argumente für eine gesetzliche Offenlegungspflicht. Die Bedeutung eines funktionierenden Kapitalmarkts begründet die Verpflichtung, Unternehmensinformationen offen zu legen, da die Publikumsaktionäre nicht in einer hinreichend starken Verhandlungsposition sind, um die benötigten Informationen auf freiwilliger Basis bei der Gesellschaft abzufordern33. 2. Gläubigerschutz Neben oder inzwischen sogar noch vor dem Anlegerschutz bildet der Schutz der Gesellschaftsgläubiger den entscheidenden Topos für die Offenlegung des Jahresabschlusses. Anknüpfungspunkt ist dabei in erster Linie die Haftungsbeschränkung. Insoweit ist freilich darauf hinzuweisen, dass der eigentliche

__________ 31 Wie O. Roth in Ebke/Möhlenkamp (Fn. 4), S. 133, 137 mit Recht konstatiert. 32 O. Roth (Fn. 31), S. 133, 140 f. 33 Schön (Fn. 4), S. 205.

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Publizitätsadressat, nämlich die Gesellschaft, bekanntlich unbeschränkt haftet34. Nach einem verbreiteten, heute weitgehend akzeptierten Slogan stellt die Bilanzpublizität den „Preis der Haftungsbeschränkung“ dar. Er ist inzwischen geradezu gesetzlich untermauert, hat jedenfalls Eingang in die Begründung des EHUG gefunden35. Die These taucht aber schon im dritten Erwägungsgrund zur Publizitätsrichtlinie 1968 der EG auf36. Auch im Schrifttum wird sie – übrigens schon lange37 – diskutiert und dezidiert vertreten38. Die zu Grunde liegende Konzeption ist die eines informationellen Gläubigerschutzes39. Den derzeitigen Gläubigern soll sie eine Überwachung ihres Schuldners ermöglichen und ihnen die Frage beantworten, ob sie Sicherheiten verlangen wollen. Die künftigen Gläubiger sollen beurteilen können, ob sie mit der Gesellschaft kontrahieren oder nicht. Die Wirksamkeit der Bilanzpublizität als Gläubigerschutzinstrument ist allerdings keineswegs unbestritten. So wird etwa bezweifelt, ob sie Forderungsausfälle verhindern kann oder zur Insolvenzwarnung geeignet ist40. Außerdem: Eine Offenlegung der Jahresabschlüsse kann allenfalls den rechtsgeschäftlichen Gläubigern helfen, nicht jedoch den deliktischen41. Der angelsächsische Rechtskreis hat sich der Maxime Publizität statt Kapitalschutz verschrieben. Ein wunderschönes Bild dafür hat der seinerzeitige Richter am Obersten Gerichtshof der USA Brandeis mit seiner auf das amerikanische Kapitalmarktrecht gemünzten Formulierung geliefert, elektrisches Licht sei der beste Polizist42. Allerdings unterliegen in den USA nur kapitalmarktorientierte Unternehmen der Offenlegungspflicht43. Demgegenüber kennt das deutsche Recht den Haftungsfonds als zentrales Instrument der Gläubigersicherung. Dessen Aufbringung und Erhaltung soll durch strenge Regeln gesetzlich gewährleistet werden. Dem liegt das Prinzip eines Ex ante-Schutzes zu Grunde44. Festzuhalten ist allerdings, dass mit der

__________ 34 35 36 37 38

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Wie Brete, GmbHR 2011, R 145, 146 mit Recht bemerkt hat. BT-Drucks. 14/2353, S. 26. Erste Richtlinie 68/151/EWG v. 9.3.1968, ABl. Nr. L v. 14.3.1968, S. 8–12. So bereits Ludwig Raiser in Verhandlungen des 39. DJT, 1951, B S. 66. Etwa Fehrenbacher in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 325 Rz. 62; Hommelhoff in FS W. Müller, 2001, S. 449, 450; Stollenwerk/Krieg, GmbHR 2008, 575, 576 f.; eingehend Buschmeyer, Publizität als Korrelat der Haftungsbeschränkung, 1993, S. 191 ff. Hommelhoff in GS Schindhelm, 2009, S. 365, 368; zum informationellen Ansatz im Gesellschaftsrecht Druey in FS Wiedemann, 2002, S. 809 ff. Deutlich Strobel, BB 1981, 1742, 1749 f. Sie brauchen institutionelle Schutzmaßnahmen, etwa Ausschüttungssperren oder eine persönliche Haftung der Leitungsorgane; Zetzsche in KölnKomm. Rechnungslegungsrecht, 2011, Vor § 325 HGB Rz. 3. Brandeis, Other People’s Money and How Bankers Use It, 1914, S. 92 (zit. b. Ebke [Fn. 4], 29). Nachweise bei Ebke (Fn. 4), S. 29, 34; ebenso schon ders., BB 2005, Heft 45, Die erste Seite. Prävention statt Reaktion, „Vorsorge ist besser als Nachsorge“, Priester in VGR (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 1, 22 ff.

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Schaffung der UG (haftungsbeschränkt), die im Extremfall ein Stammkapital von lediglich einem Euro genügen lässt, eine deutliche Bresche in dieses Gebäude geschlagen worden ist. Unabhängig davon ist der EuGH dem deutschen Modell nicht gefolgt, sondern hat den publizitätsorientierten Weg beschritten. Das beweisen vor allem die Urteile Centros und Überseering45. Das Gericht meint, ein Mindestkapital könne keinen ernsthaften Gläubigerschutz bieten, vielmehr sei es aus Gläubigersicht klüger, auf aktuelle Bilanzdaten oder Sicherheiten zu bauen46. Als Alternative zu einer Bilanzpublizität dürfen abweichende Gläubigersicherungsmöglichkeiten nicht außer Betracht bleiben. Hier sind zunächst die üblichen Instrumente der Kreditsicherung zu nennen: Bürgschaften, Grundpfandrechte oder sonstige Sicherheiten, zu denen auch der aus dem deutschen Wirtschaftsleben nicht wegzudenkende Eigentumsvorbehalt gehört. Ferner sind individuelle Auskunftsansprüche von Geschäftspartnern zu erwähnen. Die USA haben insoweit das Instrument der Covenants entwickelt, wonach den Gläubigern bei Verletzung bestimmter Schwellenwerte Sicherungs- oder Lösungsrechte eingeräumt werden. Derartige Covenants werden inzwischen zunehmend auch in Deutschland eingesetzt47. Zu bedenken ist allerdings, dass alle diese Sicherungsvorkehrungen rechtstatsächlich nur marktstarken Gläubigern zu Gebote stehen. Für den Eigentumsvorbehalt mag da anderes gelten, aber: Dienstleister haben keinen. Der Kreis informationsbedürftiger Gläubiger bedarf im Übrigen einer weiteren Einschränkung. Die Gesellschafter – will man sie wegen ihrer Gewinnauszahlungsansprüche insoweit als Gläubiger ansehen – haben Kenntnis von Abschluss oder jedenfalls Zugang dazu. Die Banken können aufgrund ihrer Geschäftsbeziehung Einblick nehmen bzw. sind dazu bei größeren Krediten sogar verpflichtet48. Die Finanzverwaltung hat ohnehin ein gesetzliches Einsichtsrecht49. Bleibt noch eine wichtige Gruppe in Gestalt der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften. Sie haben ihren Schutz durch § 106 Abs. 2 BetrVerfG, der eine Vorlage des Abschlusses an den Wirtschaftsausschuss vorsieht. Die Vorschrift greift allerdings nur bei mehr als 100 Arbeitnehmern ein, nimmt also einen zahlenmäßig großen Bereich der Unternehmen aus. Selbst wenn insoweit Nachbesserungsbedarf bestehen sollte, muss man eine Informationspflicht der jeweiligen Arbeitnehmer und eine allgemeine Breiteninformation trennen. Hinsichtlich der Bilanzpublizität als Gläubigerschutzmittel lässt sich das Zwischenfazit ziehen, dass gesicherte gesetzliche Einblicksmöglichkeiten für

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45 EuGH v. 9.3.1999, NZG 1999, 298 m. Anm. Leible – Centros; dazu W.-H. Roth, ZGR 2000, 311 ff.; EuGH v. 5.11.2002, NZG 2002, 1164 – Überseering; dazu Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 ff. 46 Vgl. Merkt, ZfbF, Sonderheft 55/06, S. 35. 47 Dazu Merkel in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 98 Rz. 255–260. 48 § 18 KWG. 49 Nach § 60 EStDV ist der Jahresabschluss der Steuererklärung beizufügen.

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die Betroffenen ausreichen50. Kräftige Unterstützung verdient deshalb der Vorschlag von Wolfgang Schön, die allgemeine Publizitätspflicht der Kapitalgesellschaften durch eine individuelle Vorlagepflicht gegenüber den Gesellschaftern, den Gläubigern und der Arbeitnehmervertretung gesetzlich anzuordnen. Parteien, die mit der Gesellschaft in eine Rechtsbeziehung treten wollen, soll es freistehen, den Eintritt in Vertragsverhandlungen von der freiwilligen Vorlage dieser Unterlagen abhängig zu machen51. 3. Information der Öffentlichkeit Die „Öffentlichkeit“ als Publizitätsadressat hat eine sehr lange Tradition und geht auf das Jahr 1870 zurück. Als Begründung der Bilanzveröffentlichungspflicht wurde nämlich auch die „volkswirtschaftliche Bedeutung“ der Aktiengesellschaften angeführt52. Zur Sicherung einer richtigen Bilanzaufstellung wurde eine Strafvorschrift geschaffen, in deren Auslegung das Reichsgericht das „öffentliche Interesse an gesunder Entwicklung des Aktienwesens“53, ja sogar die „Gesundheit des gesamten Wirtschaftslebens“54 als Ziel der Bilanzpublizität ansah. Das Schrifttum hat diesen Gesichtspunkt aufgegriffen und davon gesprochen, die „Gesamtheit der Staatsbürger“ habe einen Anspruch darauf, Einblick in das Aktienleben zu gewinnen55. Mit einem generellen Anspruch der Öffentlichkeit, die Zahlen großer Unternehmen zu kennen wurde später das Publizitätsgesetz aus dem Jahre 196956 gerechtfertigt. Regelungsunterworfen waren jetzt keineswegs nur Aktiengesellschaften, sondern Unternehmen jedweder Rechtsform. Einbezogen waren auch Personengesellschaften mit einem natürlichen Vollhafter, ja sogar Einzelunternehmen. Auslöser für die Anwendung des Gesetzes ist das Überschreiten von zwei der folgenden drei Kriterien: Bilanzsumme 65 Millionen – Umsatzerlöse 130 Millionen – 5000 Arbeitnehmer. Rekurriert wurde wieder auf die gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Unternehmen der Größenordnung hätten ein solches Gewicht, dass die Öffentlichkeit über ihre wirtschaftliche Situation unterrichtet werden müsse57. Hier wurde rechtsformunabhängig wirtschaftliche Größe mit Publizität in Bezug gesetzt58. Dieser Gesichtspunkt hat durch die finanzmarktinduzierte Wirtschaftskrise in jüngster Vergangenheit deutlich an Gewicht gewonnen. Besitzt ein Unternehmen eine derartiges Gewicht, dass es nicht untergehen darf („too big to fail“)

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50 In diesem Sinne schon Strobel, BB 1981, 1742, 1750. 51 Schön (Fn. 4), S. 161, 213 mit einem Vorschlag zu entsprechender Neufassung von § 325 Abs. 1 HGB. 52 Dazu Döllerer, BB 1958, 1281. 53 RGSt. 38, 195, 199. 54 RGSt. 49, 358, 364. 55 Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 96 unter Hinweis auf Quassowski, Gruchot 72 (1932), 401. 56 Fn. 10. 57 Vgl. Schön/Osterloh-Konrad in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II 2007, S. 933. 58 Noack (Fn. 25), S. 56.

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und deshalb vom Staat – am Ende also vom Steuerzahler – gerettet werden muss, erscheint eine Information zur Früherkennung von Risiken notwendig, selbst wenn Tsunami-Krisen dann doch zu einem Zusammenbruch führen sollten. Eine andere Frage ist, ob die Größenkriterien nicht zu niedrig angesetzt sind. Das ist hier aber nicht zu diskutieren. Auch wenn man solchermaßen ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an einer Publizität wirklich großer Unternehmen bejaht, ergibt sich umgekehrt: Jenseits entsprechender Größenordnungen lassen sich Einsichtsrechte auf dieser Grundlage nicht rechtfertigen. Anleger, Gläubiger und Marktteilnehmer sind nicht „die Öffentlichkeit“. 4. Verhaltenssteuerung Einen weiteren Rechtfertigungsgrund für Bilanzpublizität stellt die Vorstellung dar, es lasse sich mit ihr eine Verhaltenssteuerung erreichen: Durch die Möglichkeit, in ihre Zahlen Einblick zu nehmen, würden die Unternehmen zu einem seriösen Geschäftsgebaren angehalten59. Die Bilanzpublizität wird geradezu als „dritte Säule“ der Überwachung neben Gesellschaftern und Abschlussprüfer angesehen60. Diesem Argument gegenüber ist zumindest eine erhebliche Reserve geboten. Buchführung und Bilanzierung dienen gewiss auch der Eigenkontrolle des Kaufmanns61. Die Offenlegung des Zahlenwerkes mag darüber hinaus reflexhaft zu gewisser kaufmännischer Vorsicht anhalten. Soweit die Verhaltenssteuerung nicht bereits durch den Markt besorgt wird, dienen ihr aber andere Rechtsinstrumente, insbesondere Haftungsvorschriften. Bilanzpublizität soll der Information dienen, nicht dagegen der Disziplinierung62. Für volkswirtschaftlich relevante Großunternehmen mag das etwas anders zu sehen sein63. Bei ihnen ist dann aber ihre Größe Rechtfertigungsgrund für die Offenlegung. Nur für sie kann auch die Feststellung gelten, Publizität sei die einer freien Wirtschaft angemessene Alternative staatlicher Aufsicht64.

V. Einwendungen 1. Wettbewerbsschutz Das zentrale Argument der Gegner einer Bilanzpublizität geht dahin, sie habe Gefahren für das Unternehmen durch andere Marktteilnehmer zur Folge: Wettbewerber sowie – starke – Lieferanten und Abnehmer. Wettbewerber könn-

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59 Dazu Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 501, 518 f. m. w. N. 60 Fehrenbacher (Fn. 38), § 325 HGB Rz. 6. 61 SchulzeOsterloh in v. Wysocki/Schulze-Osterloh/Hennrichs/Kuhner, Handbuch des Jahresabschlusses, I/1, Lfg., Rz. 34. 62 In diesem Sinne auch Starck, DStR 2008, 2035, 2037. 63 Begründung zum Publizitätsgesetz (Fn. 10), BT-Drucks. 53197, S. 3. 64 Vgl. v. Caemmerer in Das Frankfurter Publizitätsgespräch, 1962, S. 141, 165 m. N.

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Gedanken zur Bilanzpublizität und ihren Grenzen

ten aus den veröffentlichten Zahlen Rückschlüsse auf Geschäftsstrategien ziehen. Lieferanten und Abnehmer könnten bei entsprechend machtvoller Verhandlungsposition zu ihren Gunsten Einfluss auf die Preisgestaltung bei ihren Geschäftsbeziehungen mit dem Unternehmen gewinnen65. Besondere Gefahr bestehen insoweit bei enger Angebotspalette des Unternehmens, vor allem bei Einproduktunternehmen. Hier lassen sich sehr leicht Rückschlüsse durch Dritte ziehen. Solche Unternehmen stehen quasi mit „gläsernen Taschen“ da66. Daraus resultieren verständlicherweise Geheimhaltungsinteressen. Der EuGH meint allerdings, wie seine Entscheidung „Axel Springer“67 zeigt, für solche Überlegungen gebe es angesichts des vorrangigen Publizitätsinteresses der Öffentlichkeit keinen Raum. Die Publizitätsbefürworter sehen in ihr dagegen ein „Korrelat der Teilnahme am Markt“68 oder auch einen „Funktionsschutz des Marktes“69. Dieser Ansatz geht über die Haftungsbeschränkung als publizitätsauslösendes Moment deutlich hinaus, denn sie soll auch bei persönlicher Haftung eines der Beteiligten eingreifen. Als „Trost“ wird darauf verwiesen, die Konkurrenz sei ja auch publizitätspflichtig, so dass es sich um ein „Geschäft auf Gegenseitigkeit“ handle70. Ob das einen Einproduktunternehmer wirklich tröstet, erscheint so sicher nicht. Bezogen auf die anderen Marktteilnehmer könnte man sogar die – etwas provokante – These wagen: Die Marktwirtschaft ist ein Pokerspiel, bei dem es keinen Einblick in die Karten gibt. 2. Gesellschafterschutz Ein Schutzbedürfnis haben aber auch die Gesellschafter. Bei ihnen geht es um Einblicke in ihre persönliche Einkommens- und Vermögenssphäre. Das gilt in ganz besonderem Maße für Einpersonen-Gesellschaften. Bei ihnen lässt sich der Gewinn ohne weiteres zuordnen. Bis zu einem gewissen Grade ähnlich sieht es aber auch bei Gesellschaften mit einigen wenigen Gesellschaftern aus. Verschärft wurde diese Situation durch das EHUG und die von ihm herbeigeführte Kombination von Handelsregister und Unternehmensregister. Aus dem Handelsregister lassen sich die Gesellschafterverhältnisse entnehmen. Bei der GmbH besorgt dies die Gesellschafterliste des § 40 GmbHG. Was die Kommanditgesellschaften angeht, werden zwar nur die Haftsummen eingetragen,

__________ 65 Vgl. insbes. Schön (Fn. 4), S. 161, 163, 174 ff.; ebenso etwa schon Gustavus, GmbHR 1987, 253, 254; Theile, GmbHR 1999, 1241, 1248. 66 Von „gläsernen Taschen für den Mittelstand“ spricht Hommelhoff in FS W. Müller, 2001, S. 449; das Bild der „gläsernen Taschen“ findet sich auch schon bei Friauf, GmbHR 1985, 245, 252; ähnlich Meilicke, DB 1986, 2445. 67 EuGH, Beschl. v. 23.9.2004, BB 2004, 2456; m. Bespr. Schulze-Osterloh, BB 2004, 2461. 68 Zetzsche (Fn. 41), Vor § 325 HGB Rz. 2 im Anschluss an Merkt (Fn. 55), S. 332 ff. 69 Merkt in Baumbach/Hueck, HGB, 34. Aufl. 2010, § 325 Rz. 1. 70 In diesem Sinne Noack (Fn. 25), S. 50.

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kautelarpraktisch stimmen diese aber zumeist mit den Beteiligungsquoten überein. Die Unterlagen gemäß § 325 HGB sind beim Unternehmensregister einzureichen (§ 8b Abs. 2 Nr. 4 HGB). Fährt man beide zusammen, lassen sich Gewinne auch hier relativ einfach zurechnen71. Wenn insoweit auf § 325 Abs. 1 Satz 4 HGB verwiesen wird, wonach bei der GmbH eine Ergebnisverwendung nicht gezeigt werden muss, ist das nicht ausreichend, denn auch Thesaurierung ist Gewinnteilhabe. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, wenn in dieser verschärften Offenlegungspflicht eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gesehen wird72. Das Bundesverfassungsgericht will diesen Einwand allerdings – wie einleitend erwähnt73 – nicht gelten lassen. Das ist hier indessen nicht zu erörtern. Vielmehr wird hier schlicht das Postulat aufgestellt: Es muss um eine Unternehmenspublizität gehen und nicht um eine Unternehmerpublizität.

VI. Ergebnis Eine Bilanzpublizität im hier verstandenen Sinne, also eine Einsichtsmöglichkeit für jedermann, sollte auf kapitalmarktorientierte Unternehmen beschränkt werden. Bei allen übrigen Unternehmen genügen individuelle Einsichtsansprüche von Gesellschaftern und Gläubigern. Erstere stellt das Gesetz schon bereit, letztere wären de lege ferenda zu schaffen. Etwas anderes hat allerdings für Unternehmen zu gelten, die wegen ihrer Größe volkswirtschaftlich so relevant sind, dass die Folgen ihres Scheiterns von der Allgemeinheit zu tragen wären.

__________ 71 Eine eindringliche Warnung findet sich schon in der Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV zum Entwurf des EHUG, NZG 2005, 586 ff. 72 Insoweit sei insbesondere auf Starck, DStR 2008, 2035, 2036 ff. verwiesen. 73 Fn. 1.

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Jochem Reichert

Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger – Auswirkungen auf Bilanzänderungen, Rücklagenbildung und Rücklagenauflösung nach Beendigung der Organschaft –

Inhaltsübersicht I. Einführung und Problemaufriss II. Voraussetzungen der nachträglichen Bilanzänderung der ehemals abhängigen Gesellschaft 1. Änderung eines fehlerfreien Jahresabschlusses 2. Ersatz eines nichtigen Jahresabschlusses 3. Änderung eines fehlerhaften Jahresabschlusses

III. Steuerliche Auswirkungen der gescheiterten Organschaft IV. Weisungsrecht und Treupflicht 1. Gesellschaftsrechtliche und vertragliche Herleitung 2. Reichweite der Pflichtenbindung V. Resümee

I. Einführung und Problemaufriss Es ist nicht einfach, ein Thema zu finden, dessen Auswahl sich mit der Hoffnung verbinden lässt, die Thematik und ihre Bewältigung hätten vor den kritischen Augen von Martin Winter Bestand haben können. Einerseits ist es verlockend, sich einer Frage zu widmen, die zumindest eine gewisse Verbindung zu den von ihm bevorzugten Forschungsgegenständen aufweist. Dies mag auf die Treupflicht zutreffen. Andererseits wäre es vermessen, mit einem Kurzbeitrag auf dem von Martin Winter bestellten Feld wirklich Neues zu Tage zu fördern. So beleuchtet der nachfolgende Beitrag auch nicht das Thema der gesellschafterlichen Treupflicht, sondern befasst sich mit der angrenzenden Frage, ob und mit welchen Folgen sich entsprechende Bindungen zwischen herrschendem und beherrschtem Unternehmen aus einem beendeten Beherrschungs- und/oder Ergebnisabführungsvertrag ergeben. Mit dem Aufgreifen dieses Themas wird einer zweiten Maxime Rechnung getragen, die die Chance erhöht, im Sinne von Martin Winter zu handeln: Es wird ein Thema aufgegriffen, das den Verfasser in seiner praktischen Tätigkeit beschäftigt hat und das nach seiner Einschätzung von großer praktischer Relevanz ist. Der erfahrene M&A-Anwalt weiß, dass es zu den anspruchsvollen Fragen der Vertragsgestaltung zählt, für bestimmte Konstellationen Vorsorge zu treffen, wenn Gegenstand des Verkaufs eine abhängige Gesellschaft ist. Dabei haben sich für die Beendigung des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages

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gewisse Standards durchgesetzt, auf die hier nicht näher einzugehen ist1. Weniger standardisiert – wenngleich häufig mit erheblichem kautelarjuristischem Aufwand verbunden – ist die Lösung des Problems, dass bei Veräußerung des abhängigen Unternehmens die Bilanz des letzten Geschäftsjahres, für den der Ergebnisabführungsvertrag gilt, noch nicht erstellt ist. Dann besteht die Versuchung, den vereinbarten Kaufpreis nachträglich durch einen Verlustausweis zu schmälern. So kann das veräußerte Unternehmen den vereinbarten Kaufpreis – dem wirtschaftlichen Ergebnis nach – für den Erwerber reduzieren, dessen Interessen als neuem Eigentümer er sich regelmäßig verpflichtet sieht (oder aufgrund eines neuen Unternehmensvertrages verpflichtet sehen muss). Während man derartige Fehlentwicklungen durch schuldrechtliche Mitwirkungsrechte bei der Bilanzauf- und -feststellung oder durch bestimmte Mechanismen der Preisermittlung in den Griff bekommt, ist eine weitere Gefahr oft nicht so präsent: Die Gefahr, dass das abhängige Unternehmen, meist unter Einfluss des Erwerbers, umfangreiche Untersuchungen einleitet, vermeintliche oder tatsächliche Fehler früherer Abschlüsse zu Tage fördert und aus diesen den Schluss zieht, berechtigt zu sein, die alten Abschlüsse für nichtig oder zumindest fehlerhaft zu erklären, sie zu korrigieren und neue Abschlüsse aufzustellen, wobei gegebene oder vermeintliche Ermessensspielräume genutzt werden, um den auszugleichenden Verlust zu erhöhen bzw. den abzuführenden Gewinn zu schmälern. Im engen Zusammenhang damit steht die Forderung, für die Vergangenheit zusätzliche Verlustausgleichsansprüche bei der ehemals herrschenden Gesellschaft zu verlangen oder, soweit die Gesellschaft Gewinne erwirtschaftet hat, auf vollständige oder teilweise Rückzahlung der Gewinnabführungen zu bestehen. Ein solches Vorgehen, das je nach Anspruchsgrundlage und Verjährungsregime einen mehrjährigen Zeitraum zu erfassen vermag2, kann erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben und damit für den Verkäufer zu einem Dahinschmelzen seines Kaufpreises oder gar zu einem negativen Kaufpreis führen. Die Behauptung der abhängigen Gesellschaft, die ehemalige Ergebnisabführung sei unrichtig gewesen, birgt für das ehemals herrschende Unternehmen, aber auch für das die Feststellung treffende ehemals abhängige Unternehmen, darüber hinaus erhebliche steuerliche Risiken. Zwar muss man richtigerweise davon ausgehen, dass selbst bei nachträglich ermittelter Unrichtigkeit der Ergebnisabführung der steuerlichen Organschaft nicht notwendigerweise die Anerkennung versagt wird. Immerhin jedoch bestehen in Praxis und Theorie erhebliche Unsicherheiten, etwa was die – richtigerweise zu bejahende – Frage anbelangt, ob eine Heilung der Organschaft möglich ist.

__________ 1 Hinweise zur Vertragsgestaltung finden sich bei Schwarz, DNotZ 1996, 68, 82 f. Vgl. ferner Hoffmann-Becking in MünchVertragsHdb., X.1./2., S. 1385, 1388; Wirth, DB 1990, 2105 ff. Nach heute h. M. kann eine ordentliche Kündigung vertraglich auch während des Geschäftsjahres zugelassen werden: Krieger in MünchHdb. GesR, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 70 Rz. 193; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 297 AktG Rz. 16 (m. w. N.). 2 Vgl. dazu Brandes, hier in Liber amicorum Martin Winter, S. 43 ff.

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Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger

Daher erscheint es lohnend, sich näher mit dem Problemkreis zu befassen, ob und in welchem Umfang die ehemalige Organgesellschaft berechtigt ist, ihre Jahresabschlüsse neu aufzustellen. Insbesondere dann, wenn sich im Nachhinein tatsächlich Fehler solcher Jahresabschlüsse herausstellen sollten, stellt sich die Frage, ob ggf. ein milderes Mittel als die Neuaufstellung der Jahresabschlüsse in Betracht kommt. Ist eine Korrektur der Abschlüsse erlaubt, so fragt es sich, inwieweit das abhängige Unternehmen an frühere – in den korrigierten Abschlüssen – verwirklichte Vorgaben des herrschenden Unternehmens gebunden ist. Ebenso ist zu erörtern, inwieweit neue Vorgaben des ehemals herrschenden Unternehmens, die sich aus der veränderten Situation, insbesondere auch der veränderten Ergebnissituation ergeben, beachtet werden müssen. Von besonderer Bedeutung kann dabei die Frage sein, inwieweit die herrschende Gesellschaft eine Auflösung von während der Organschaft gebildeten Rücklagen verlangen bzw. durchsetzen kann, dass eine Dotierung der Rücklage – wie sie in den ursprünglichen Abschlüssen vorgesehen sein mag – bei der Neuaufstellung unterbleibt, um etwaige Auswirkungen der Korrekturen auf das abzuführende oder auszugleichende Ergebnis zu neutralisieren oder zu mindern. All diesen Einzelfragen liegt letztlich die Grundfrage zugrunde, ob und in welchem Umfang sich aus dem Organschaftsverhältnis auch nach seiner Beendigung noch Weisungsrechte zugunsten des herrschenden Unternehmens oder zumindest Rücksichtnahmeverpflichtungen des beherrschten Unternehmens ergeben können, die – unter besonderen Voraussetzungen – ebenfalls eine Befolgung der Vorgaben des herrschenden Unternehmens gebieten können. Diese Frage soll im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Die steuerlichen Auswirkungen etwaiger Ergebnisänderungen sollen zwar nicht den Schwerpunkt dieses Beitrages bilden, sind indessen kurz zu skizzieren, da sie im Rahmen der Gesamtabwägung etwaiger Rücksichtnahmepflichten durchaus von Relevanz sein können. Im Folgenden soll es zunächst – unter II. – kurz um die allgemeinen Voraussetzungen gehen, unter denen fehlerhafte Jahresabschlüsse geändert werden können. Der dritte Abschnitt (III.) skizziert mit der gebotenen Knappheit die denkbaren steuerlichen Auswirkungen einer fehlerhaften Ergebnisermittlung. Unter IV. soll auf der Grundlage dieses Befundes beurteilt werden, ob und in welcher Form Entscheidungen über etwaige Korrekturen von Abschlüssen, ihre Form, Fragen des bilanziellen Ermessens einschließlich der Auflösung und Bildung von Rücklagen fortwirkenden Einflussrechten des herrschenden Unternehmens unterliegen, welche sich letztlich aus fortwirkenden Weisungsrechten, dem Zweck des Vertrags und Rücksichtnahme- und Treupflichten ergeben können. Unter V. folgt ein kurzes Resümee.

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II. Voraussetzungen der nachträglichen Bilanzänderung der ehemals abhängigen Gesellschaft Es liegt auf der Hand, dass es nicht zulässig sein kann, festgestellte3 Jahresabschlüsse beliebig zu ändern. Dies gilt namentlich dann, wenn solche Jahresabschlüsse Auswirkungen auf Dritte haben, wie dies etwa üblicherweise bei unabhängigen Gesellschaften im Hinblick auf Gewinn- und Dividendenansprüche der Fall ist. Die Drittwirkung besteht bei abhängigen Gesellschaften darin, dass eine Änderung der Bilanz zur Veränderung von Verlustausgleichsoder Gewinnabführungsansprüchen führen kann. Pauschal lässt sich die Frage nach den Voraussetzungen einer Bilanzänderung allerdings nicht beantworten, vielmehr ist zwischen fehlerfreien (dazu 1.), nichtigen (dazu 2.) und fehlerhaften Jahresabschlüssen (dazu 3.) zu differenzieren4. 1. Änderung eines fehlerfreien Jahresabschlusses Die Änderung eines festgestellten fehlerfreien Jahresabschlusses ist nach ganz herrschender Meinung nach Einberufung der ordentlichen Hauptversammlung nur bei Vorliegen wirtschaftlicher Gründe zulässig, die so gewichtig sind, dass bei verständiger Würdigung das Interesse der Öffentlichkeit und der Aktionäre an der Aufrechterhaltung des festgestellten Jahresabschlusses zurückzutreten hat5. Willküränderungen scheiden aus6. Ein fehlerfreier Abschluss in diesem Sinne liegt nicht nur dann vor, wenn der Jahresabschluss objektiv fehlerfrei ist, sondern auch dann, wenn der Bilanzierende einen möglichen objektiven Rechtsverstoß nach den Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung, bezogen auf die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse, nicht erkennen konnte7. 2. Ersatz eines nichtigen Jahresabschlusses Gleichsam am anderen Ende der Skala steht die Fallgruppe der nichtigen bzw. vermeintlich nichtigen Jahresabschlüsse. Zunächst sollen kurz die in Betracht kommenden Nichtigkeitsgründe und Heilungsmöglichkeiten skizzieren werden (dazu a), um anschließend der Frage nachzugehen, unter welchen Voraussetzungen der Vorstand die Nichtigkeit von Jahresabschlüssen annehmen darf (dazu b). Als letzter Punkt ist zu klären, ob im Falle der zu Recht angenomme-

__________ 3 Zur Änderung nicht festgestellter Abschlüsse vgl. Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 27; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 24. 4 Ebenso Winnefeld in BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.10 ff.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 9 f.; Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 24 ff.; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 172 AktG Rz. 48 ff. 5 Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 31; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 172 AktG Rz. 56; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 10; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 393 ff. 6 BGHZ 23, 150, 152. 7 Vgl. BFH, DStR 2010, 1015, 1017 f. (Rz. 21) m. w. N.

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Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger

nen Nichtigkeit ein Jahresabschluss aufgehoben und neu festgestellt werden muss (dazu c). a) Die maßgeblichen Nichtigkeitsgründe sind in § 256 Abs. 1 bis 5 AktG geregelt. Diese Aufzählung ist nach allgemeiner Meinung abschließend8. Nicht jeder Bilanzierungsfehler soll die Nichtigkeit eines festgestellten Jahresabschlusses begründen, sondern nur ein besonders gravierender9. Um Bagatellfehler auszuscheiden, setzt die Nichtigkeit daher als ungeschriebenes Merkmal voraus, dass die Darstellung der Vermögens- und Ertragslage wesentlich beeinträchtigt wird. Wann ein solcher Fall vorliegt, ist weder im Schrifttum noch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt10. Der Frage kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Ausschlaggebend sind sowohl die Bedeutung der verletzten Normen als auch die Auswirkungen des Verstoßes auf das Zahlenwerk11. Sämtliche Umstände des Einzelfalls gilt es zu berücksichtigen12. Im Falle des Bestehens eines Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrags bedürfen die Wesentlichkeitskriterien für die abhängige Gesellschaft einer Modifizierung. Die Abschlüsse sind in dem Fall nicht für Dividendenzahlungen maßgeblich, da solche während des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages nicht geleistet wurden. Der Inhalt der Jahresabschlüsse ist zudem nicht für den Verlustausgleich maßgeblich, das Gleiche dürfte für die Gewinnabführung gelten (vgl. dazu noch nachfolgend unter III.)13. Insofern liegt die Neuaufstellung des Abschlusses weder im Interesse der herrschenden Gesellschaft noch im Interesse der beherrschten Gesellschaft. Dieser Umstand muss sich in einer Anhebung der „Wesentlichkeitsschwelle“ niederschlagen. Insbesondere ist bei solchen Konstellationen nicht auf die – für die abhängige Gesellschaft im Vertragskonzern irrelevanten – Abweichungen im Jahresergebnis abzustellen. Im Übrigen gilt es zu berücksichtigen, dass nichtige Jahresabschlüsse geheilt werden können. Gemäß § 256 Abs. 6 AktG kann die Nichtigkeit eines Jahresabschlusses unter den dort näher genannten Voraussetzungen nicht mehr

__________ 8 BGHZ 124, 111, 116; Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 1; Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 6; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 1. 9 Rölike in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 64; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 24. 10 Vgl. nur Weilep/Weilep, BB 2006, 147, 148 f.; Schulze-Osterloh, ZIP 2008, 2241, 2243; Winkeljohann/Schellhorn in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 264 HGB Rz. 57; Schedlbauer, DB 1992, 2097, 2099. 11 Hennichs, ZHR 168 (2004), 383, 388; Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 15. 12 Weilep/Weilep, BB 2006, 147, 148 f.; Rölike in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 64; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 24. 13 Vgl. BGH, NJW 2000, 210; a. A. Krieger, NZG 2005, 787, 791 (zum Verlustausgleich); Brandes, hier in liber amicorum Martin Winter, S. 44, 57 (zur Gewinnabführung). Strittig ist, ob die BGH-Rechtsprechung zur Verlustübernahme entsprechende Anwendung hinsichtlich der Gewinnabführung findet: vgl. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 291 AktG Rz. 26.

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geltend gemacht werden, wenn seit der Bekanntmachung des Jahresabschlusses nach § 325 Abs. 2 HGB im Bundesanzeiger sechs Monate bzw. drei Jahre verstrichen sind14. Im Falle eines Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages werden die Gesellschaften jedoch häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, aufgrund der Einbeziehung in den Konzernabschluss Jahresabschlüsse gemäß § 264 Abs. 3 HGB nicht offen zu legen. Die vereinzelt gebliebene Annahme15, unter solchen Bedingungen komme eine Heilung nicht in Betracht, vermag nicht zu überzeugen. Immerhin hängt die Befreiung von der Zustimmung der Gesellschafter ab (§ 264 Abs. 3 Nr. 1 HGB) und erfordert, dass die Muttergesellschaft zur Verlustübernahme nach § 302 AktG verpflichtet ist (§ 264 Abs. 3 Nr. 2 HGB). Auch wird es für die Frage des Eintritts der Heilung nicht darauf ankommen, dass sämtliche Voraussetzungen des § 264 Abs. 3 HGB erfüllt sind. Es erschiene vollkommen unverhältnismäßig, die Rechtsfolge der unheilbaren Nichtigkeit bereits dann anzuordnen, wenn einzelne dem Zweck der Heilung nicht entgegenstehende Formalvorschriften nicht eingehalten worden sein sollten. b) Nicht zuletzt wegen des unscharfen Wesentlichkeitsmerkmals wird in der Praxis häufig zweifelhaft und umstritten sein, ob der Jahresabschluss tatsächlich nichtig ist oder nicht16. Daher wird ein Vorstand, der sich mit Einwänden gegen die Richtigkeit von Jahresabschlüssen vergangener Jahre konfrontiert sieht, nicht nur wissen wollen, welche Nichtigkeitsgründe als solche existieren, sondern auch und vor allem, unter welchen Umständen er selbst ungefährdet von der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse ausgehen kann. Dies gilt namentlich dann, wenn die Nichtigkeit nicht gerichtlich geltend gemacht wird. Diese Thematik wird im Schrifttum nur vereinzelt erörtert. Analysiert man die vorhandenen Stellungnahmen, so ergibt sich folgendes Bild: Ist keine Nichtigkeitsklage erhoben, darf sich ein Vorstand nach zutreffender Auffassung17 nur unter äußerst strengen Voraussetzungen über einen zuvor von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk versehenen Jahresabschluss hinwegsetzen. Dafür spricht bereits der erhebliche Aufwand, der für eine Gesellschaft mit einer Neufeststellung des Jahresabschlusses verbunden ist: Es muss eine erneute Prüfung durch den – möglicherweise auch durch neue – Abschlussprüfer erfolgen. Als Folge der Nichtigkeit des Jahresabschlusses sind Gewinnverwendungsbeschlüsse nichtig und müssen erneut durch die Hauptversammlung gefasst werden. Schon aus diesen Beispielen ergibt sich, dass die Berufung auf die Nichtigkeit eines Jahresabschlusses eine in hohem Maße schadensträchtige Maßnahme darstellt, die nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Der Vorstand muss daher eine entsprechende Entscheidung mit großer Sorgfalt treffen18. Unter keinen Umständen reicht ein bloßer Verdacht in Hinsicht auf die Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses aus. Vielmehr bedarf die Annahme der Nichtigkeit einer

__________ 14 15 16 17 18

Dazu Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 65. WP-Hdb., Bd. 1, 13. Aufl. 2006, Rz. 241. Vgl. Winnefeld in BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.82 ff. Insbesondere Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 689. Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 689.

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hohen Richtigkeitsgewähr. Eine solche Gewähr ist erst dann gegeben, wenn ein unabhängiges Sachverständigengutachten die Nichtigkeit plausibel und nachvollziehbar darlegt19. In jedem Fall kommt es darauf an, dass die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe von erheblichem Gewicht sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihrer Durchsetzung ausgegangen werden kann20. c) Vorstehend war davon die Rede, unter welchen Voraussetzungen Nichtigkeit eines Jahresabschlusses anzunehmen ist und dass die Nichtigkeit eines Jahresabschlusses – vorbehaltlich der noch zu erörternden Treupflichten (vgl. unter IV.) – zur Korrektur des Jahresabschlusses berechtigt. Davon zu sondern ist die Frage, ob eine etwaige Nichtigkeit des Jahresabschlusses auch notwendigerweise zu einer rückwirkenden Bilanzkorrektur führen muss. Können – wie häufig – letzte Zweifel an der Nichtigkeit nicht ausgeräumt werden, fehlt es schon – wie bereits dargelegt – an einer Berechtigung zur Rückwärtsberichtigung. Selbst wenn jedoch ein Fall vorliegen sollte, in dem man grundsätzlich von der Berechtigung zu einer Bilanzkorrektur ausgehen kann, bedeutet dies entgegen einer Mindermeinung21 nicht, dass es notwendigerweise einer rückwirkenden Berechtigung bedürfte. Häufig wird der Vorstand berechtigt sein, den Heilungseintritt abzuwarten22. Der Vorstand wird auf die Ersetzung des nichtigen Jahresabschlusses jedenfalls dann ohne weiteres verzichten können, wenn es sich um einen formalen Mangel handelt, der in sechs Monaten heilt. Aber auch bei anderen Mängeln ist nach Art und Schwere des Verstoßes und seiner Folgen zu entscheiden23. Zutreffend hebt eine Stellungnahme des IDW24 hervor, dass es insbesondere dann, wenn es sich um einen Ausweisfehler oder um einen Fehler mit ergebnismindernder Auswirkung handelt, eine Korrektur in laufender Rechnung ausreichend ist. Das trifft auch auf Fehler mit ergebniserhöhender Auswirkung zu, sofern die Aktionäre die Dividende im guten Glauben bezogen haben und eine Rückforderung ausgeschlossen ist (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AktG). Nichts anderes kann in Hinsicht auf einen Ergebnisabführungsvertrag gelten, wobei der für Dividendenzahlungen bestehende Gutglaubensschutz im Falle der Ergebnisabführung entsprechende Anwendung findet. Teilweise wird § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG indessen als nicht analogiefähig angesehen. Er sei nur auf Gewinnausschüttun-

__________ 19 20 21 22

Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 689. Winnefeld in BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.83. Vgl. Barz in FS Wolfgang Schilling, 1973, S. 127, 132. Vgl. Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 83 (vgl. ferner Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 33); Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 389 f.; ähnlich Casper, Die Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 318 ff.; strenger noch (generelle Pflicht zur Neuaufstellung) Barz in FS Wolfgang Schilling, 1973, S. 127, 132; vgl. auch Geist, DStR 1996, 306, 307 ff. 23 Zutreffend IDW RS HFA 6 Teilziff. 16 f. Vgl. auch OLG Köln, ZIP 1998, 994, 996; Kowalski, AG 2006, 502, 505; Zöllner in KölnKomm. AktG, 1985, § 256 AktG Rz. 118; Winnefeld, BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.83; WP-Hdb., Bd. 1, 13. Aufl. 2006, U Rz. 247. 24 Zutreffend IDW RS HFA 6 Teilziff. 16 f.

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gen anwendbar, die auf einem Gewinnausschüttungsbeschluss beruhen25. Ungeachtet dieses restriktiven Ansatzes hat man indes zu berücksichtigen, dass der Ergebnisabführung in gleicher Weise wie der Ausschüttung einer Dividende ein zuvor ermittelter Jahresabschluss zu Grunde liegt. Dass es – anders als bei der Dividendenausschüttung – eines Ausschüttungsbeschlusses nicht bedarf, hängt allein mit dem Umstand zusammen, dass dem herrschenden Unternehmen nach § 301 AktG grundsätzlich ein Anspruch auf den gesamten Jahresüberschuss der abhängigen Gesellschaft zusteht. Für die Anwendung des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG kann diese Besonderheit aber nicht entscheidend sein26. Darüber hinaus können sich – darauf wird noch einzugehen sein – weitere Einschränkungen aus der – nach Beendigung des Unternehmensvertrages fortgeltenden – Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger ergeben (vgl. dazu unter III.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass selbst bei Annahme einer Nichtigkeit des Jahresabschlusses nicht von einer allgemeinen Pflicht zur Rückwärtsberichtigung auszugehen ist. Eine solche Pflicht besteht nur dann, wenn – ausnahmsweise – eine Rückwärtsberichtigung aus materiellen Gründen erforderlich ist. Sollte bereits die Heilung eingetreten sein, reicht regelmäßig die Beseitigung des Mangels in laufender Rechnung aus. Aber auch vor Eintritt der Heilung genügt, soweit eine Rückwärtskorrektur nicht aus den vorgenannten Gründen erforderlich ist, eine zeitnahe Korrektur im Folgeabschluss. Denn es geht dann nur noch um die Information selbst, nicht um materielle Ansprüche. Im Ergebnis bedarf es also einer Interessenabwägung im Einzelfall. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die wirtschaftlichen Folgewirkungen der Entscheidung für die Gesellschaft und ihre Gesellschafter zu berücksichtigen27. 3. Änderung eines fehlerhaften Jahresabschlusses Liegen nicht einmal die Voraussetzungen für die Annahme einer Nichtigkeit vor, so wird man an die Berechtigung zur Änderung des Jahresabschlusses noch sehr viel höhere Anforderungen zu stellen haben28. Da die etwaigen Fehler

__________ 25 Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2000, § 62 AktG Rz. 67 ff.; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 62 AktG Rz. 60 ff.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 62 AktG Rz. 11; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 62 AktG Rz. 7 ff., 79 ff. 26 Ebenso überzeugend Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 700; Brandes, hier in liber amicorum Martin Winter, S. 52 f. Für eine ähnliche Anspruchssperre wie § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG sorgt § 814 BGB, sofern man – entgegen der h. M. (vgl. nur Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 301 AktG Rz. 24; Hirte in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 301 AktG Rz. 25) – § 812 BGB als maßgebliche Anspruchsnorm für eine Rückerstattung ansehen sollte. 27 Kowalski, AG 2006, 502, 505; Winnefeld, BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.83; WP-Hdb., Bd. 1, 13. Aufl. 2006, U Rz. 247. 28 Vgl. Brönner in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 175 AktG Rz. 26; Claussen/Korth in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1991, § 172 AktG Rz. 22; Winnefeld, BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.21: „erhebliche Fehler“; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 367; H.-P. Müller in FS Budde, 1995, S. 431, 434.

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Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger

vom Gesetz als weniger schwerwiegend eingestuft werden und sie die Bestandskraft des Jahresabschlusses nicht in Frage stellen, wird im Falle eines Fehlers, der keine Nichtigkeitsfolgen nach sich zieht, eine Änderung des Jahresabschlusses immer dann ausgeschlossen sein, wenn sie für die Gesellschaft oder für die Aktionäre mit nachteiligen Folgen verbunden ist. Eine Verpflichtung zur Aufhebung des Jahresabschlusses kommt in solchen Fällen regelmäßig nicht in Betracht. Vielmehr können die Betroffenen dem Informationsbedürfnis regelmäßig durch eine Korrektur in laufender Rechnung Rechnung tragen29.

III. Steuerliche Auswirkungen der gescheiterten Organschaft Bevor wir uns der Frage zuwenden, inwieweit sich aufgrund der Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger weitere Einschränkungen ergeben, soll dargelegt werden, welche Auswirkungen Bilanzkorrekturen auf die steuerliche Behandlung der Organschaft haben können. Dabei mag es unter Zugrundelegung der herrschenden Auffassung auf den ersten Blick verwundern, dass die Frage der steuerlichen Auswirkungen überhaupt im Zusammenhang mit Bilanzkorrekturen erörtert wird. Für die entscheidende Frage, ob die Organschaft durchgeführt ist, kommt es nämlich nicht auf die Jahresabschlüsse an, sondern darauf, ob das Ergebnis unter Berücksichtigung einer objektiv oder zumindest subjektiv richtigen Ergebnisermittlung entsprechend den im Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrag getroffenen Vereinbarungen abgeführt bzw. übernommen worden ist. Mit anderen Worten: Die steuerliche Anerkennung der Organschaft setzt voraus, dass der Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrag entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen vollzogen wurde30. Wird ein Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrag in einem Jahr nicht durchgeführt, so ist er von Anfang an als steuerrechtlich unwirksam zu betrachten, sofern er noch nicht fünf aufeinander folgende Jahre durchgeführt ist. Andernfalls – bei einer Durchführung in fünf aufeinander folgenden Jahren – ist er ab dem Jahr seiner Nichtdurchführung als steuerschädlich anzusehen31. Der BFH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 199532 überzeugend ausgeführt, dass zwar nicht auszuschließen sei, dass im Einzelfall unrichtige Handelsbilanzansätze Ausdruck einer mangelnden tatsächlichen Durchführung des EAV sein und zur Versagung der körperschaftssteuerlichen Anerkennung der Organschaft führen könnten. Zwingend sei dies indes nicht. Der BFH stellt maßgeblich darauf ab, ob die nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buch-

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29 Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 172 AktG Rz. 66; vgl. auch Euler/ Müller in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 39; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 172 AktG Rz. 10; Winnefeld, BilanzHdb., 4. Aufl. 2006, I.20; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 394 f.; ders., ZHR 174 (2010), 683, 701; ähnlich IdW, RS HFA 6, Rz. 21; WP-Hdb., Bd. I, 13. Aufl. 2006, E Rz. 473; Prinz in FS W. Müller, 2001, S. 687, 691. 30 BFH, BB 1995, 1626; bestätigt durch BFH, AG 2011, 87, Rz. 36. 31 R 60 Abs. 8 KStR. 32 BFH, BB 1995, 1626.

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führung ermittelten Gewinne tatsächlich durch Zahlung oder Verrechnung an den Organträger abgeführt wurden. Die nachträgliche Abführung bzw. Verrechnung von Gewinnen sei unschädlich, andernfalls müsse „bei unterschiedlicher Meinung zwischen Organgesellschaft und Finanzverwaltung über den (handelsrechtlichen) Ansatz von Bilanzposten stets die tatsächliche Durchführung eines EAV verneint werden …. Damit wäre der Anwendungsbereich des § 14 KStG in einem Umfang eingeschränkt, der dem Zweck der tatsächlichen Durchführung und der Einkommenszurechnung nicht mehr entspräche“33. Der BFH hat ferner – unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH34 – betont, dass eine Anpassung der Handelsbilanz nicht zwingend erforderlich sei. Maßgeblich ist demnach die Abführung des nach Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ermittelten Gewinns bzw. Ausgleich des ebenso ermittelten Verlustes. Ein solcher Ausgleich kann auch nachträglich erfolgen, sollte sich herausstellen, dass das Ergebnis ursprünglich unrichtig ermittelt wurde. Einer Korrektur der Handelsbilanz bedarf es nicht. Auch die Finanzverwaltung Hannover brachte in einer Verfügung vom 5.11.200835 zum Ausdruck, dass eine aufgrund nicht ordnungsgemäßer Buchführung erstellte fehlerhafte Bilanz einer ordnungsgemäßen Durchführung des Ergebnisabführungsvertrages nicht entgegenstehen muss. Die Entscheidung des BFH überzeugt. Es würde erhebliche Verzerrungen und Wertungswidersprüche mit sich bringen, wenn etwaige bilanzielle Fehler nicht korrigiert werden können und wenn eine den Auswirkungen auf das Ergebnis angepasste Korrektur der Ergebnisabführung nicht zu einer Aufrechterhaltung der Organschaft führen würde36. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass bei der Beurteilung der Auswirkung fehlerhafter Ergebnisabführungen Risiken bestehen. Es gibt Stimmen, die eine Heilung (zu Unrecht) in Abrede stellen37. Auch Dötsch38 stellt fest, „Unternehmen sollten sich in anderen Fällen … der wesentlichen Falschbewertung von Bilanzpositionen eher auf eine restriktive Haltung der Finanzverwaltung einstellen“39. Indessen geht Dötsch selbst grundsätzlich von einer Heilung aus, verlangt aber, dass nicht nur die Ergebnisabführung nachgeholt bzw. die Abführung zuviel gezahlter Gewinne rückgängig gemacht wird, sondern auch, dass der Jahresabschluss korrigiert wird40.

__________ 33 34 35 36

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38 39 40

BFH, BB 1995, 1626. BGH, BB 1989, 1518. BB 2009, 483. Vgl. auch Sterner in Herrmann/Heuer/Raupach, KStG, § 14 Rz. 204; Olbing in Streck, 7. Aufl. 2008, § 14 KStG Rz. 121. Grundsätzlich ablehnend: Frotscher in Frotscher/Maas, 2009, § 14 KStG Rz. 200a: „Eine spätere Berichtigung der Bilanzen von Organträger bzw. Organgesellschaft ändert an der Nichtdurchführung des Ergebnisabführungsvertrages nichts, d. h., eine rückwirkende Heilung des Fehlers ist steuerlich nicht möglich, da der Ergebnisabführungsvertrag nicht rückwirkend durchgeführt werden kann.“ Ebenso Neumann in Gosch, 2. Aufl. 2009, § 14 KStG Rz. 310: „… eine nachträgliche Korrektur des Fehlers nicht dazu angetan, den Verstoß ungeschehen zu machen.“ Referent bei der OFD Koblenz. Dötsch, Der Konzern 2009, 171, 173. Dötsch, Der Konzern 2009, 171, 172.

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Wenngleich es insofern letztlich für die Frage, ob die Organschaft durchgeführt wurde oder nicht, nicht auf den Jahresabschluss, sondern auf die Ergebnisabführung ankommt, so wird das eigene Urteil der Gesellschaft, die sich durch Aufhebung und Korrektur ihres Jahresabschlusses von diesem distanziert, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich die Finanzverwaltung dieser Sichtweise anschließt und die Richtigkeit der Ergebnisabführung bezweifelt. Die Frage, ob dieses Risiko eingegangen wird, ist insbesondere dann erheblich, wenn nicht sicher feststeht, ob der Abschluss tatsächlich fehlerhaft war, sondern allenfalls Zweifel bestehen. Hier mag es zumindest aus steuerlichen Gründen ratsam sein, zunächst die Beurteilung der Finanzverwaltung abzuwarten und erst dann, wenn aus der Sicht der Finanzverwaltung Mängel vorliegen, den Weg der nachträglichen Heilung zu beschreiten. Bei einer Abwägung sind dann die Auswirkungen auf den Organträger mit in den Blick zu nehmen – und insoweit gewinnen die aus der Treupflicht abzuleitenden Rücksichtnahmepflichten besonderes Gewicht.

IV. Weisungsrecht und Treupflicht 1. Gesellschaftsrechtliche und vertragliche Herleitung Zumindest für die Dauer des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages sind Organträger und Organgesellschaft meist gesellschaftsrechtlich dergestalt verbunden, dass der Organträger unmittelbar (manchmal auch nur mittelbar) an der Organgesellschaft beteiligt ist. Folglich gilt für das Verhältnis beider Gesellschaften zueinander die gesellschafterliche Treupflicht. Diese wirkt bekanntlich auch nach Beendigung der Gesellschafterstellung nach, so dass auch in Bilanzierungsfragen von einem Fortwirken von Abstimmungs- und Rücksichtnahmepflichten gegenüber dem herrschenden Unternehmer auszugehen ist41. Zur Herleitung und Inhaltsbestimmung der gesellschaftlichen Treuepflicht genügt es, auf die nach wie vor grundlegenden Erkenntnisse der Dissertation von Martin Winter zu verweisen42. Selbst wenn indessen Organträger und Organgesellschaft nicht gesellschafterlich verflochten sind, ergibt sich aus der Sonderverbindung durch einen Unternehmensvertrag eine Treu- und Rücksichtnahmeverpflichtung43. Es handelt sich hier um eine Sonderverbindung, die zum einen der Organträgergesellschaft besondere Einflussrechte auf die Organgesellschaft verschafft, die es einzuschränken gilt. Zum anderen wirkt sich das Ergebnis der Organgesellschaft unmittelbar auf das Ergebnis der Organträgergesellschaft aus, so dass

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41 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 302 AktG Rz. 29b; Liebscher, GmbH-Konzernrecht, 2006, Rz. 744 ff. Vgl. auch Krieger, NZG 2005, 787, 789 ff. 42 M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht: Rechtsformspezifische Aspekte eines allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Prinzips, München 1988. 43 Zur „unternehmensvertraglichen Treuepflicht“ vgl. Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern: Die Kontrollaufgaben von Vorstand, Geschäftsführer und Aufsichtsrat, 2003, S. 224; Veil, Unternehmensverträge: Organisationsautonomie und Vermögensschutz im Recht der Aktiengesellschaft, 2003, S. 204 f.

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umgekehrt die Organgesellschaft auf die Belange der Organträgergesellschaft Rücksicht zu nehmen hat. Ebenso wie die gesellschafterliche Treupflicht nach Beendigung des Gesellschaftsverhältnisses fortwirkt, bestehen auch die durch die Sonderverbindung des Unternehmensvertrages geschaffene Treu- und Rücksichtnahmepflichten fort. Denn nachvertragliche Treuepflichten sind keine Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, sondern im allgemeinen Schuldrecht zu verorten44. 2. Reichweite der Pflichtenbindung Die Treuepflicht zwischen Organträger und Organgesellschaft ist kein theoretisches Konstrukt. Aus ihr lassen sich konkrete Pflichten ableiten, die in praktisch relevanten Konfliktfällen ausschlaggebend sein können. Hingewiesen sei auf das Bilanzwahlrecht des herrschenden Unternehmens (dazu a), auf dessen Berechtigung, nach Beendigung des Unternehmensvertrages in die Korrektur von Jahresabschlüssen der (ehemals) abhängigen Gesellschaft einzugreifen (dazu b), und schließlich auf dessen Entscheidungsrechte bei der Auflösung von Rücklagen (dazu c). a) Solange ein Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrag besteht, hat das herrschende Unternehmen die Möglichkeit, auf die Bilanzierung Einfluss zu nehmen. Im Rahmen des rechtlich Zulässigen kann das herrschende Unternehmen über die Bilanzpolitik, insbesondere über die Ausübung von Bewertungswahlrechten, entscheiden. Im Rahmen des rechtlich Zulässigen liegt auch die Entscheidung über eine Korrektur von Bilanzen beim herrschenden Unternehmen, solange der Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrag besteht45. Besonders prononciert hat sich das Oberlandesgericht Frankfurt in einer Entscheidung aus dem Jahre 1999 zu Rücksichtnahmepflichten in Bilanzfragen geäußert. Das Gericht stellte eine Pflichtverletzung der abhängigen Gesellschaft fest, weil diese es unterlassen habe, sich mit der beklagten herrschenden Gesellschaft über die bilanzielle Behandlung von Sanierungsleistungen abzustimmen: „Ein Anspruch der Klägerin auf Verlustübernahme besteht aber deshalb nicht, weil die Klägerin ihre aus dem Gewinnabführungsvertrag folgende Pflicht verletzt hat, sich mit der Beklagten im vorliegenden Fall über die bilanzielle Behandlung ihrer Sanierungsleistungen abzustimmen, bevor sie den Jahresabschluss aufstellte, und ihr Wahlrecht nicht ohne Zustimmung der Beklagten in der geschehenen Weise wahrzunehmen. Dadurch, dass sie dies unterlassen hat, hat sie schuldhaft eine positive Vertragsverletzung begangen, mit der Folge, dass die Beklagte im Wege des Schadensersatzes so zu stellen ist, als wären ihre Leistungen nicht als Kapitalrücklage gebucht worden. Da sie dann erfolgs-

__________ 44 Ernst in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 280 BGB, Rz. 109 ff.; Grüneberg in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 280 BGB Rz. 7. 45 Vgl. BGHZ 135, 374, 378; Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 291 AktG Rz. 65, § 301 AktG Rz. 7, § 302 AktG Rz. 29b; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2010, § 301 AktG Rz. 1, 12–14.; Stephan in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 301 AktG Rz. 4; H. P. Müller in FS Goerdeler, 1987, S. 375, 380 ff.

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Die Treupflicht zwischen Organgesellschaft und Organträger wirksam behandelt worden wären, wäre kein Fehlbetrag entstanden, so dass ein Anspruch der Klägerin auf Verlustausgleich ausscheidet“46.

Daraus ergibt sich, dass die Ausübung von Wahlrechten für Bilanzen während des Bestehens der Sonderverbindung durch das herrschende Unternehmen erfolgt. Unbeschadet dieser Prärogative des herrschenden Unternehmens haben beide Unternehmen auf die steuerlichen Belange des jeweils anderen Unternehmens Rücksicht zu nehmen. b) An den Entscheidungskompetenzen und Rücksichtnahmepflichten ändert sich durch die Beendigung des Unternehmensvertrages nichts, soweit es um Geschäftsjahre geht, in denen der Unternehmensvertrag noch gültig war. Es kann nicht in der alleinigen Kompetenz der abhängigen Gesellschaft liegen, Jahresabschlüsse, die die Zeit des Bestehens der Organschaft betreffen, zu ändern. Das Ermessen, soweit es sich auf die Frage bezieht, ob solche Abschlüsse überhaupt korrigiert werden dürfen, ob eine Rückwärtskorrektur stattfindet oder eine Korrektur in laufender Rechnung, ist vielmehr – im Hinblick auf die Ergebnisauswirkungen – von dem ehemals herrschende Unternehmen auszuüben. Daher ist etwa eine Untergesellschaft, die nach der Beendigung des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages Jahresabschlüsse aus der Zeit des Bestehens des Vertrages rückwirkend zu ändern erwägt, verpflichtet, die Ausübung eines etwaigen Entscheidungsermessens dem ehemals herrschenden Unternehmen zu überlassen. Ferner hat die Untergesellschaft – als Ausfluss ihrer nachvertraglichen Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des ehemals herrschenden Unternehmens – alle Maßnahmen zu unterlassen, die zu einer Gefährdung der steuerlichen Organschaft führen könnten, bzw. alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die steuerliche Organschaft abzusichern. Dies bedeutet, dass – soweit im Falle der Nichtigkeit des Jahresabschlusses nicht ausnahmsweise aus materiellen Gründen eine neue Feststellung geboten ist – sie eine solche Feststellung nicht ohne Not vornehmen darf, wenn zu befürchten steht, dass in dem Fall die Organschaft scheitern könnte. Andererseits ergibt sich aus der Treupflicht die Verpflichtung, an einer Bilanzkorrektur mitzuwirken, falls diese – weil die Finanzverwaltung die Ergebnisabführung in der vorgenommen Form nicht akzeptiert – im Rahmen einer Heilung der Organschaft erforderlich sein sollte. c) Aus der Treu- und Rücksichtnahmepflicht folgen auch die Verpflichtungen des abhängigen Unternehmens, in dem Fall, in dem sich aufgrund der Bilanzkorrekturen eine Ergebnisverschlechterung ergäbe, während der Organschaft gebildete Rücklagen zum Ausgleich von Ergebnisverschlechterungen aufzulösen bzw. die Dotierung von Rücklagen, die in Ansehung besserer Ergebnisse vorgenommen worden waren, in den korrigierten Abschlüssen zu unterlassen. Die Bildung und Auflösung von Rücklagen hat unmittelbaren Einfluss auf die Höhe des abzuführenden Gewinns bzw. des auszugleichenden Verlusts. Die Bildung der anderen Gewinnrücklagen erfolgt zudem aus Gewinnen, die nach

__________ 46 OLG Frankfurt, NZG 2000, 603, 604.

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dem Unternehmensvertrag grundsätzlich dem herrschenden Unternehmen zustehen. Bei der Auflösung von anderen, während der Vertragslaufzeit gebildeten Rücklagen werden Mittel eingesetzt, die aus Gewinnen stammen, die dem herrschenden Unternehmen zustehen. Da etwaig zu korrigierende Jahresabschlüsse von der abhängigen Gesellschaft aufgestellt wurden, wäre es in hohem Maße widersprüchlich, wenn sie nur deswegen, weil sie bei der Aufstellung Fehler gemacht hat, sich durch die Erlangung der Entscheidungshoheit über die Nichtauflösung von Rücklagen oder Bildung neuer Rücklagen besserstellen würde, als wenn die herrschende Gesellschaft in Kenntnis der tatsächlichen Ergebnissituation darüber entschieden hätte. Daher darf die Notwendigkeit nachträglicher Korrekturen nicht zu einer Verschiebung der Entscheidungshoheit führen. Die Entscheidung über die Dotierung bzw. Auflösung von Rücklagen in korrigierten Jahresabschlüssen bleibt vielmehr bei der ursprünglich herrschenden Gesellschaft. Andernfalls würde die abhängige Gesellschaft aus eigenen Bilanzierungsfehlern Vorteile ziehen. Die Untergesellschaft hätte bei Verneinung einer Entscheidungsbefugnis des herrschenden Unternehmens die Möglichkeit, vermeintliche Bilanzierungsfehler, die sich auf das Ergebnis auswirken, erst nach Beendigung des Unternehmensvertrages zu korrigieren, um auf diese Weise zu verhindern, dass andere Gewinnrücklagen aufgelöst werden. Aus diesen Gründen verdichtet sich in solchen Fällen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht zu der Verpflichtung, auf Verlangen des herrschenden Unternehmens während der Organschaft gebildete Gewinnrücklagen zum Verlustausgleich heranzuziehen. Dies gilt umso mehr, wenn aufgrund der vermeintlich fehlerhaften Bilanzierung die steuerliche Anerkennung der Organschaft gefährdet sein sollte47. Dies folgt schon daraus, dass der beherrschende Gewinnabführungsvertrag zumindest auch mit dem Ziel abgeschlossen wird, eine steuerliche Organschaft zu begründen. Eine Verneinung der Pflicht der Organgesellschaft, die steuerliche Anerkennung der Organschaft nicht zu gefährden, würde weite Teile des Vertragszweckes des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages in Frage stellen, was der allgemein anerkannten Pflicht, den Vertragszweck nicht zu gefährden, zuwider liefe48.

V. Resümee Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich thesenartig wie folgt zusammenfassen: 1. Geht es um die Korrektur der Bilanz einer abhängigen Gesellschaft, ist bei der Frage der Wesentlichkeit des Bilanzfehlers dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Gläubigerschutzinteressen bereits durch die Einstandspflicht des herrschenden Unternehmens berücksichtigt werden. Auch Aktionärs-

__________ 47 Allgemein zur Pflicht, die Organschaft zu wahren: Emmerich/Habersack, Aktienund GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 301 AktG Rz. 7. 48 Ruth in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 241 BGB Rz. 67.

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interessen erfordern regelmäßig keine Korrektur der Bilanz, da etwaige Ansprüche auf Rückführung von Gewinnen oder Verlustausgleich unabhängig davon bestünden, ob die Bilanzen korrigiert werden oder nicht. 2. Der Vorstand darf nur dann von der Nichtigkeit eines Jahresabschlusses ausgehen, wenn er bei pflichtgemäßer Prüfung ein hohes Maß an Sicherheit gewonnen hat, dass der Abschluss tatsächlich nichtig ist. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um einen geprüften und testierten Abschluss handelt. Ein bloßer Verdacht des Vorstandes, der Jahresabschluss könne nichtig sein, reicht nicht aus. Auch bei Annahme einer Nichtigkeit besteht nur dann ein Anlass zu einer rückwirkenden Berichtigung, wenn eine solche Korrektur im Interesse des Unternehmens, der Aktionäre oder der Gläubiger liegt, was im Falle des abhängigen Unternehmens nur ausnahmsweise der Fall sein wird. 3. Es bestehen Rücksichtnahmepflichten der Organgesellschaft gegenüber dem Organträger, die sich aus der gesellschafterlichen Treupflicht bzw. der unternehmensvertraglichen Treupflicht ableiten. Sie gelten auch dann, wenn keine Beteiligung (mehr) besteht bzw. der Unternehmensvertrag beendet ist. 4. Die Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber dem ehemals herrschenden Unternehmen gebietet insbesondere, alle Maßnahmen zu unterlassen, die zu einer Gefährdung der steuerlichen Organschaft führen bzw. alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die die steuerliche Organschaft sichern. Solange nicht erwiesen ist, dass die gewählte Bilanzierung nicht „nach einheitlicher Meinung der Fachleute schlechthin unvertretbar“ ist, verstößt eine rückwirkende Berichtigung der Jahresabschlüsse gegen die Rücksichtnahmepflicht, da dadurch ohne Not die Gefahr einer Nichtanerkennung der Organschaft begründet wird. 5. Umgekehrt kann die Rücksichtnahmepflicht auf die Belange des herrschenden Unternehmens eine rückwirkende Berichtigung der Bilanzen gebieten, wenn diese erwiesenermaßen unrichtig waren und der Fehler so schwerwiegend ist, dass die Durchführung der steuerlichen Organschaft fraglich erscheint, soweit sich durch Änderung der Bilanzen eine Heilung der steuerlichen Organschaft herbeiführen lässt. 6. Soweit bei der Frage des Ob und bei der Frage des Wie einer Bilanzkorrektur Ermessen besteht, wirkt die Entscheidungsprärogative des herrschenden Unternehmens auch nach Beendigung des Beherrschungs- und Ergebnisabführungsvertrages nach. 7. Im Rahmen der Beachtung der Treupflicht kommt die Entscheidung darüber, ob während der Organschaft gebildete Rücklagen aufgelöst oder im Rahmen des Unternehmensvertrages zulässige Rücklagen gebildet werden, ebenfalls der herrschenden Gesellschaft zu, die das im korrigierten Jahresabschluss abgebildete Ergebnis zu übernehmen bzw. auszugleichen hat.

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Variable Vorstandsvergütung als unzulässiges Mittel der Einflussnahme des Aufsichtsrats auf die Unternehmensleitung? Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Ausrichtung auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung und ihr Verhältnis zur Unternehmensstrategie 1. Normativer Ausgangspunkt 2. Zur Begründung der These 3. Kritik III. „Boardisierung“ des Aufsichtsrats durch Festlegung von Vergütungszielen? 1. Begründung der These

2. Kritik IV. Vorstandskompetenz zur Festlegung der Vergütungsziele? 1. Begründung der These 2. Stellungnahme V. Fazit und Skizze zur praktischen Konkordanz zwischen Vorstandsund Aufsichtsratskompetenz in Vergütungsfragen

I. Einführung Dem Aktienrecht fühlte sich Martin Winter in seiner Praxis besonders verbunden, und so hat er sich immer wieder auch rechtspolitisch für Vorschläge eingesetzt, die das Anfechtungsrecht gegen Strukturänderungsbeschlüsse für die Unternehmen handhabbar machen sollen. Seine Stellungnahmen sind dabei von auffallender gedanklicher Schärfe und dogmatischer Zuspitzung, die gleichwohl aber das Bedürfnis der Praxis niemals aus dem Auge verlieren1. Gerade auch das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hat ihn beschäftigt2. Der Verfasser möchte deshalb seines ehemaligen Kollegen (oder eher Vorgängers) am Heidelberger Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht und langjährigen Freundes mit einer kleinen aktienrechtlichen Studie aus diesem Themenbereich gedenken. Sie betrifft also das immer schon heikle Spannungsverhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, das, so will es scheinen, durch neuere Gesetzgebungstätigkeit wieder in Bewegung geraten ist. Und in der Tat ist gewiss nicht zu verkennen, dass das Bemühen um eine Professionalisierung des Aufsichtsrats (s. z. B. § 100 Abs. 5 AktG) und dass des-

__________ 1 Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf Winter, Die Anfechtung eintragungsbedürftiger Strukturbeschlüsse de lege lata und de lege ferenda, in FS Ulmer, 2003, S. 699, und Winter, Die Reform des Beschlussanfechtungsrechts – eine Zwischenbilanz, in Liber amicorum Happ, 2006, S. 363. 2 Winter, Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“, in FS Hüffer, 2010, S. 1103 (posthum).

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sen wachsende Verantwortung sowie sein jedenfalls praktisch zunehmendes Haftungsrisiko ebenso zu einem veränderten Verhältnis zum Vorstand beitragen wie sonstige Maßnahmen zur Entflechtung beider Organe – man denke nur an die jüngst geschaffene Karenzzeit beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG) sowie die herabgesetzte Höchstzahl von Aufsichtsratsmandaten (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG). Und nicht nur trägt der Aufsichtsrat ein eigenes Haftungsrisiko, vielmehr muss er Ansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand in der Regel auch durchsetzen. Alles dies trägt dazu bei, das ehedem stark verbreitete Konsensprinzip nach und nach abzulösen. Das erhöht zweifellos auch das Risiko für Kompetenzkonflikte, selbst in gesetzlich im Grunde klar geregelten Bereichen. Vor diesem Hintergrund sind auch im Februar 2010 veröffentlichte Thesen von Dauner-Lieb, Preen und Simon3 zu sehen, die einige Aufmerksamkeit erregt haben und Konsequenzen aus dem kurz zuvor in Kraft getretenen VorstAG4 für das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ziehen. Zusammengefasst lauten sie wie folgt: 1. Die von § 87 Abs. 1 AktG geforderte Ausrichtung der Vorstandsvergütung auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung lässt sich nur anhand der jeweiligen Unternehmensstrategie bewerkstelligen. 2. Die Entwicklung der Unternehmensstrategie ist genuine Vorstandsaufgabe; die Beteiligung des Aufsichtsrats hieran mündet in ein „board-Modell“. 3. Deshalb muss der Vorstand selbst die unternehmerischen Ziele formulieren und hieraus „realistische Gehaltsvorstellungen“ ableiten; der Aufsichtsrat hat diese Vorschläge lediglich auf „Stimmigkeit und Überzeugungskraft“ zu überprüfen und auf ihrer Grundlage die Höhe der Vergütung festzusetzen. Im Folgenden soll zunächst auf diese Thesen eingegangen werden (unter II.–IV.), um anschließend zu skizzieren, wie die Aufgaben bezüglich der Vorstandsvergütung auf der Basis des geltenden Rechts angemessen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat verteilt werden können (unter V.).

II. Die Ausrichtung auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung und ihr Verhältnis zur Unternehmensstrategie 1. Normativer Ausgangspunkt Folgende aktienrechtliche Bestimmungen sind zu berücksichtigen und in ein angemessenes Verhältnis zu setzen: Auf der einen Seite stehen die Kompetenzregelungen für Vorstand und Aufsichtsrat. Nach § 76 Abs. 1 AktG hat der Vorstand die AG eigenverantwortlich zu leiten, und diese Leitungsfunktion umfasst unstreitig auch seine Kompetenz zur Unternehmensplanung und Strate-

__________ 3 Dauner-Lieb/Preen/Simon, DB 2010, 377. 4 Vom 18.6.2009, BGBl. I 2009, 2509.

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gieentwicklung5. Diese Kompetenz wird durch den Kodex etwas vernebelt, wenn es in DCGK Nr. 3.2 heißt, dass der Vorstand die strategische Ausrichtung des Unternehmens mit dem Aufsichtsrat „abstimmt“ und mit ihm in regelmäßigen Abständen den Stand der Strategieumsetzung erörtert. Richtig ist allerdings, dass neben die klassische, sozusagen rückwärtsgewandte Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat (§ 111 Abs. 1 AktG) zugleich eine zukunftsgerichtete Kontrolle tritt und somit eine Beratungsfunktion in Hinblick auf die strategische Unternehmensplanung6. Man kann dies schon daraus ersehen, dass der Vorstand dem Aufsichtsrat nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG regelmäßig über „die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung“ zu berichten hat. Denn sinnvoll sind solche Berichte nur, wenn sie keinem Selbstzweck dienen, sondern eben als Grundlage für eine Beratung durch den Aufsichtsrat. Der Vorstand darf seine Ohren also nicht verschließen; er ist vielmehr verpflichtet, sich durch den Aufsichtsrat beraten zu lassen7. Auf der anderen Seite verlangt § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG seit dem VorStAG vom Aufsichtsrat, dass dieser die Vergütungsstruktur börsennotierter Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausrichtet, weshalb Satz 3 für variable Vergütungsbestandteile eine „mehrjährige Bemessungsgrundlage“ fordert. Richtigerweise ist Satz 2 als Auftrag an den Aufsichtsrat zu verstehen, Ziele und Parameter festzulegen, die einen geeigneten Gradmesser für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung darstellen8. Was „Nachhaltigkeit“ in diesem Kontext genau bedeutet, ist allerdings unklar. Richtig ist im Ausgangspunkt gewiss, dass das Nachhaltigkeitsziel nicht schon deshalb erreicht wird, weil irgendwelche Parameter eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben9. Vielmehr müssen sie ihrem Inhalt nach auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung gerichtet sein. Die einzelnen Parameter müssen sich deshalb dem Ziel einer Sicherung des dauerhaften Bestands und der dauerhaften Rentabilität der Gesellschaft zuordnen lassen, was nicht gleichzusetzen ist mit einer beständigen Zunahme des Unternehmenswerts10. 2. Zur Begründung der These Wie begründen die Autoren ihre These, dass der Aufsichtsrat, wenn er seinem Auftrag aus § 87 Abs. 1 AktG folge, zwingend in die Kompetenz des Vorstands

__________ 5 S. nur Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 76 AktG Rn. 17; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 76 AktG Rn. 4 f.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 76 AktG Rn. 8. 6 Habersack in MünchKomm. AktG (Fn. 5), § 111 AktG Rn. 12; Hüffer, AktG (Fn. 5), § 111 AktG Rn. 5; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, § 3 Rn. 94 f.; Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 111 AktG Rn. 10; Winter in FS Hüffer (Fn. 2), S. 1103, 1109 f.; vgl. auch BGHZ 114, 127, 130. 7 Lutter/Krieger (Fn. 6), § 3 Rn. 95. 8 Prägnant etwa Hohenstatt/Kuhnke, ZIP 2009, 1982. 9 Zutr. insoweit Dauner-Lieb/Preen/Simon, DB 2010, 377, 380; zust. auch Wagner, AG 2010, 774, 776. 10 So eingehend und überzeugend Wagner, AG 2010, 774, 776 ff.

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eingreife, weil sich das Ziel einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung insgesamt nur aus der jeweiligen Unternehmensstrategie ableiten lasse? Sie stützen sich zunächst auf die zunehmende Bedeutung nichtfinanzieller Erfolgsparameter für die Vergütung. Hierunter fielen etwa Integrationserfolge, Fortschritte bei der Führungskultur und Unternehmensentwicklung, Kundenbindung, Mitarbeiterzufriedenheit, Energieeffizienz, Schadstoffausstoß, Corporate Social Responsibility oder allgemeiner: Es gelte Stakeholder-Interessen zu messen und in vergütungsrelevante Parameter zu überführen. Jeglicher Parameter und jegliches Ziel könne aber nur auf der Basis der Unternehmensstrategie des konkreten Unternehmens formuliert werden, nämlich z. B. der Erhaltung der Unabhängigkeit, des Ausbaus des Marktanteils, der Einführung neuer Produkte und der Erschließung neuer Märkte. Bevor Ziele und Parameter sinnvoll formuliert werden könnten, müsse die kurz-, mittel- und langfristige Unternehmensstrategie deshalb feststehen. Ein besonderes Problem zeige sich darin, dass der Vorstand durch überholte Vergütungsziele von einem sinnvollen Strategiewechsel abgehalten werden könne11. 3. Kritik Die – von den Autoren selbst als banal bezeichnete – Erkenntnis, dass Vergütungsziele einen Bezug zur Unternehmensstrategie aufweisen (können), lässt die Brisanz ihrer Aussage für das Kompetenzgefüge der AG noch nicht sogleich erkennen; denn selbst wenn man unterstellt, dass tatsächlich jedes denkbare Erfolgsziel einen Bezug zur Unternehmensstrategie aufweist, wäre ein Konflikt mit der Vorstandskompetenz von vornherein nur dann zu erwarten, wenn der Aufsichtsrat die Ziele nicht aus der ihm vorliegenden Strategieplanung des Unternehmens ableiten, sondern umgekehrt den Vorstand indirekt durch die Formulierung von Erfolgszielen auf eine von diesem nicht gewünschte Strategie festlegen könnte. Weil jedes Unternehmen freilich nicht nur über eine kurzfristige, sondern auch über eine mittel- und langfristige Strategieplanung verfügt, sollte es im Ansatz kein Problem sein, hiermit kompatible Vergütungsziele zu entwickeln. Freilich kann sich ein gewisser Konflikt im Zeitverlauf zeigen: So mag sich der Aufsichtsrat bei mittel- oder langfristigen Vergütungsbestandteilen an einem aus der Unternehmensstrategie hergeleiteten Ziel orientieren, das sich schon als überholt erwiesen hat, bevor es erreicht sein kann. Beispiel: Der Vorstand erhält im Jahr x eine besondere Belohnung dafür, dass er im Jahr x+3 20 % Personal in einem bestimmten Bereich abgebaut hat. Kostenreduktion durch Personalabbau war Teil der mittelfristigen Strategie des Unternehmens. Im Jahr x+2 ändert der Vorstand seine Strategie, weil sich plötzlich eine Chance zur Erschließung eines neuen Marktes mit erheblichem Nachfragepotential ergibt, den es zusätzlich zu bestücken gilt, so dass eher zusätzlicher Personalbedarf entsteht. Soll jetzt der Aufsichtsrat den Vorstand

__________ 11 Dauner-Lieb/Preen/Simon, DB 2010, 377, 380.

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über die Erfolgsparameter dazu „zwingen“ können, auf diesen Markt zu verzichten und die überholte Abbaustrategie fortzusetzen? Bevor aber auf das Sonderproblem eines Strategiewechsels zurückzukommen ist (dazu unter III. 2.), soll hier zunächst die Berechtigung des Ausgangspunkts bezweifelt werden, nämlich die These, dass jedes Vergütungsziel einen Bezug zur Unternehmensstrategie aufweist, und zwar in dem Sinne, dass es dieser Strategie entweder voll entspricht oder ihr widerspricht. Bei näherem Zusehen sind vielmehr eine ganze Reihe von Zielen denkbar, die sich gegenüber der Unternehmensstrategie neutral verhalten, also von vornherein nicht geeignet sind, dem Vorstand eine von ihm nicht gewünschte strategische Entwicklung zu oktroyieren. Vielmehr kommen hierfür nur ganz bestimmte Vergütungsbestandteile in Betracht: (1) Dabei ist im Ausgangspunkt festzuhalten, dass die mit einer klassischen Gewinntantieme verbundene Festvergütung nach wie vor zulässig ist12. Probleme der beschriebenen Art können sich somit von vornherein nur ergeben, soweit sich der Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft für ein Vergütungssystem mit variablen Bestandteilen entschließt, wozu er allerdings durch Nr. 4.2 des DCGK angehalten wird, dem die Praxis ganz überwiegend folgt, obwohl durchaus erhebliche, verhaltensökonomisch begründete Zweifel an der Wirksamkeit einer erfolgsbezogenen Vergütung bestehen13. (2) Soweit die Ziele an der Erreichung bestimmter Finanzkennzahlen ausgerichtet sind, trifft der Strategiebezug ebenfalls häufig nicht zu, sofern diese sich nämlich „strategieneutral“ verhalten und sich darauf beschränken, den finanziellen Erfolg unabhängig von der hierfür eingesetzten Strategie zu belohnen. Monetäre Parameter – wie etwa ein MindestEBT oder eine Mindestrendite14 – messen oftmals nur den Erfolg einer bestimmten Strategie, ohne diese aber selbst vorzugeben. Sie sind in diesem Sinne also strategieneutral. Das gilt auch für alle direkt oder indirekt an eine bestimmte Entwicklung des Aktienkurses geknüpften Vergütungsbestandteile – also nicht nur bei Aktienoptionsprogrammen. Freilich ist durchaus denkbar, dass der Aufsichtsrat im Einzelfall durch die Formulierung finanzieller Ziele die Strategie des Vorstands konterkarieren kann. So etwa, wenn der Aufsichtsrat eine Belohnung für Umsatzsteigerung festsetzt, während die erklärte Strategie des Vorstands auf Gewinnmaximierung zielt. Im Einzelfall mag also eine Finanzkennzahl durchaus Bezug zur Strategie aufweisen; dass dies generell zutrifft, lässt sich jedoch nicht konstatieren. (3) Nicht jeder einzelne variable Vergütungsbestandteil, darüber besteht inzwischen weitgehend Einigkeit, muss überdies eine mehrjährige Bemessungsgrundlage i. S. v. § 87 Abs. 1 Satz 3 AktG haben. Vielmehr reicht es nach

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12 Fleischer, NZG 2009, 801, 803; Wagner, AG 2010, 774, 779. 13 S. Rost/Osterloh, Schmalenbach Business Review 61 (2009), 119; dazu auch Fleischer, NZG 2009, 801, 803. 14 Ausführlich zu den in Betracht kommenden Parametern s. nur Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG (Fn. 5), § 87 AktG Rn. 26.

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ganz h. M., wenn bei den variablen Bestandteilen die langfristigen Elemente insgesamt überwiegen15. Deshalb ist der klassische Jahresbonus bzw. die klassische Gewinntantieme keineswegs obsolet. Auch kurzfristige Anreize zu setzen, ist somit weiterhin zulässig, sofern insgesamt die Langfristorientierung überwiegt, woraus man überwiegend eine 60:40-Gewichtung der lang- über die kurzfristigen Variablen für erforderlich, aber auch ausreichend hält. Hinsichtlich der kurzfristigen Vergütungsbestandteile – namentlich also in Bezug auf den Jahresbonus – hat bislang freilich noch niemand einen Konflikt zur Planungskompetenz des Vorstands postuliert, und das hat vermutlich einen guten Grund. (4) Diese Aussage gilt auch dann noch, wenn die Vergütung an kurzfristig zu erreichende strategisch wichtige Einzelziele geknüpft wird wie etwa den erfolgreichen Abschluss einer Verschmelzung oder eines Unternehmenskaufs oder das Gelingen eines Börsengangs. Entweder sind solche Erfolge von vornherein nicht als Vergütungsziel konkretisiert, sondern werden im Rahmen einer Ermessenstantieme zugesprochen16, oder sie lassen sich ohne weiteres aus der kurzfristigen Strategie des Unternehmens ableiten, sind dieser also gleichsam nachgelagert. Das Risiko eines erforderlichen Strategiewechsels dürfte bei kurzfristigen Variablen eher gering sein. Insgesamt lässt sich deshalb feststellen, dass ein Konflikt mit genuinen Vorstandskompetenzen schon deshalb von untergeordneter Bedeutung ist, weil er von vornherein nur bei bestimmten, vor allem mittel- oder langfristigen Vergütungsbestandteilen virulent werden kann. Bei finanziellen Kennzahlen ist ein Konflikt zudem nur dann denkbar, wenn diese sich im Einzelfall nicht strategieneutral verhalten. Alles in allem ist das spezifische Potential denkbarer Kompetenzkonflikte bei Festlegung der Vergütungsstruktur also eher begrenzt.

III. „Boardisierung“ des Aufsichtsrats durch Festlegung von Vergütungszielen? 1. Begründung der These Zur Begründung ihrer zweiten These (oben I.) vertreten die Autoren die Ansicht, dass die Kompetenz des Aufsichtsrats, die Vergütung festzusetzen (vgl. § 107 Abs. 3 AktG) mit der Planungshoheit des Vorstands konfligiere; denn die Entwicklung der Vergütungsstruktur setze voraus, dass zuvor eine Unternehmensstrategie festgelegt worden sei. Die Verrechtlichung der Vorstandsvergütung bilde daher einen „Fremdkörper“ im Kompetenzgefüge; sie

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15 S. schon Beschlussempfehlung, BT-Drucks. 16/13433, S. 16; Fleischer, NZG 2009, 801, 803; Hohaus/Weber, DB 2009, 1515, 1516; Seibert, WM 2009, 1489, 1490; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beil. zu Heft 26, Rn. 11; Hüffer, AktG (Fn. 5), § 87 AktG Rn. 4c; kritisch allerdings Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG (Fn. 5), § 87 AktG Rn. 24. 16 Zu deren Zulässigkeit s. nur Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG (Fn. 5), § 87 AktG Rn. 29.

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passe besser zum Board-System, weil das Board sowohl für die Strategie als auch für die Vergütungsstruktur zuständig sei. Jede Verlagerung der Aufsichtsratszuständigkeit in Richtung Planung führe zu einer „Boardisierung“ des dualistischen Systems. 2. Kritik Wie eben gesehen, ist ein Konflikt mit der Planungshoheit des Vorstands von vornherein vor allem bei Vergütungsbestandteilen mit einer mittel- oder langfristigen Perspektive denkbar und auch dort zumeist nur hinsichtlich bestimmter, nichtfinanzieller Parameter. Aber auch wenn ein solcher Fall vorliegt, ein Vergütungsziel sich also nicht strategieneutral verhält, ist rechtlich problematisch letztlich nur der Fall, dass das Vergütungssystem in gewissem Umfang zu einer Verfestigung einer einmal eingeschlagenen Strategie führt, die sich als überholt erwiesen hat, ein Strategiewechsel mit anderen Worten erforderlich oder wenigstens sinnvoll erscheint. Demgegenüber kann es nicht zu einem rechtlich problematischen Kompetenzkonflikt kommen, wenn die mittel- bzw. langfristige Strategie des Unternehmens keine Änderung erfordert. Denn in diesem Falle kann der Aufsichtsrat sämtliche strategierelevanten Erfolgsparameter aus der vom Vorstand festgelegten Strategie ableiten. Selbstverständlich ist es auch bei Geltung des neuen § 87 Abs. 1 AktG Sache des Vorstands, die kurz-, mittel- und langfristige Strategie letztverbindlich festzulegen, dies ist Teil seiner Leitungsaufgabe (oben II. 1.). Ebenso selbstverständlich geschieht dies in Hinblick auf die erwähnte Beratungsfunktion des Aufsichtsrats erst nach vorheriger Diskussion mit diesem, so dass der Aufsichtsrat auch jederzeit ausreichend über die Planung informiert ist. Es sollte also ohne weiteres möglich sein, dass der Aufsichtsrat nur solche Vergütungsziele setzt, die entweder der vom Vorstand präferierten Strategie voll entsprechen oder sie zumindest nicht konterkarieren, ihr also neutral gegenüberstehen. Hierzu ist er auch verpflichtet, denn wie im Schrifttum richtig gesagt wird, ist der Vorstand zwar gehalten, sich hinsichtlich der Strategie vom Aufsichtsrat beraten zu lassen. „Beratung“ bedeutet aber nicht, dass der Aufsichtsrat seine eigenen Strategievorstellungen gegenüber dem Vorstand durchsetzen darf17. Wird somit der potentielle Kompetenzkonflikt vom geltenden Recht im Grundsatz eindeutig gelöst, so bleibt als problematisch letztlich der Fall eines erforderlichen oder jedenfalls sinnvollen Strategiewechsels, dem bestimmte durch den Aufsichtsrat bereits festgesetzte Vergütungsziele nun widersprechen. Aber um welchen Konflikt handelt es sich eigentlich? Niemand wird wohl behaupten, dass der Vorstand eine überholte Strategie weiterverfolgen darf, nur weil bestimmte Vergütungsvariablen hierzu anreizen, er dann also ggf. mehr verdienen könnte. Im Falle eines Strategiewechsels muss er eben auf einen Teil seiner variablen Vergütung verzichten, ganz abgesehen davon, dass er ohne

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17 S. die Nachweise oben Fn. 6.

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Strategiewechsel in der Regel riskieren wird, seine übrigen Vergütungsziele zu verfehlen, wodurch der tatsächliche „Versteinerungseffekt“, den Dauner-Lieb, Preen und Simon als problematisch ansehen, in derart zugespitzter Form gar nicht auftreten wird. Der Aufsichtsrat ist sodann zwar in der Tat als verpflichtet anzusehen, die Vergütungsziele anzupassen18; die rückwirkende Anpassung scheidet jedoch a limine aus – sie wäre mit dem Erfordernis einer mehrjährigen Bemessungsgrundlage unvereinbar, weil sich die Zielerreichung demnach eben erst aus einer Durchschnittsbetrachtung über mehrere Jahre ergeben darf. Außerdem fehlt nachträglichen Belohnungen jegliche Steuerungswirkung, weshalb diese per se in die (hier nicht relevante) Kategorie der kurzfristigen Vergütungsbestandteile fallen. Zugleich können und müssen neue Erfolgsparameter selbstverständlich aus der inzwischen verfolgten Strategie abgeleitet werden. Es bleibt damit als rechtlich problematischer Fall letztlich derjenige übrig, dass der Vorstand durch bestimmte Vergütungsziele von einem sinnvollen, aber nicht unbedingt erforderlichen Strategiewechsel abgehalten werden könnte, weil und soweit sich damit der Verzicht auf einen Teil seiner variablen Vergütung verbinden würde. Tatsächlich könnte die Einfrierungswirkung freilich wiederum nur dann eintreten, wenn der sinnvolle Strategiewechsel nicht das Erreichen anderer Vergütungsziele begünstigte. Unabhängig davon wäre das Problem aber auch dann nicht zu lösen, wenn der Vorstand selbst die strategischen Vergütungsziele formulieren würde, wie es Dauner-Lieb, Preen und Simon als Lösung des Problems vorschlagen; denn eine solche Kompetenz würde selbstverständlich nichts daran ändern, dass eine rückwirkende Anpassung variabler Vergütungsbestandteile ausscheiden müsste. Auch der Vorstand wäre nicht davor gefeit, dass von ihm selbst formulierte Vergütungsziele durch die Entwicklung überholt werden können und er daher wegen eines Strategiewechsels vielleicht auf einen Teil seiner variablen Vergütung verzichten muss.

IV. Vorstandskompetenz zur Festlegung der Vergütungsziele? 1. Begründung der These Die dritte und letzte These der Autoren zieht die Konsequenzen aus den beiden vorangegangenen: Weil das VorstAG zu einer Board-Struktur führe, sei dem in der Weise entgegenzuwirken, dass die Kompetenzen des Aufsichtsrats bei der Vergütungsfestlegung zugunsten des Vorstands beschnitten würden. Es sei danach Aufgabe des Vorstands, auf der Grundlage der von ihm entwickelten Unternehmensstrategie dem Aufsichtsrat Vorschläge für die Zusammensetzung und Bemessung seiner Vergütung zu unterbreiten. Der Vorschlag müsse neben der Struktur der einzelnen Vergütungsbestandteile – zugrundeliegende Parameter, Wirkmechanismen und Höchstbeträge – insbesondere auch die Erfolgsziele umfassen. Demgegenüber soll der Aufsichtsrat offenbar im Wesentlichen darauf beschränkt sein, die Höhe der Vergütung bzw. das

__________ 18 Dauner-Lieb/Preen/Simon, DB 2010, 377, 379; vgl. auch Wagner, AG 2010, 774, 779.

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durch die einzelnen Variablen maximal erzielbare Zusatzeinkommen sowie den Cap festzusetzen. 2. Stellungnahme Da schon die Prämissen nur sehr eingeschränkt zutreffen, vermag auch diese auf eine teleologische Reduktion des § 87 Abs. 1 AktG hinauslaufende These nicht zu überzeugen. Ihr gegenüber ist daran festzuhalten, dass die Letztzuständigkeit für Fragen der Vorstandsvergütung – und zwar auch für ihre Struktur, nicht nur für die Höhe – beim Aufsichtsrat liegt19. Dass dieser den Vorstand um Vorschläge für eine Vergütungsstruktur sowie namentlich für die Formulierung von Vergütungszielen bitten kann, erscheint ebenso unproblematisch wie es selbstverständlich sein sollte, dass am Ende – schon mit Rücksicht auf seine in § 116 Satz 3 AktG betonte Haftung – allein der Aufsichtsrat die Vergütung rechtsverbindlich und damit verantwortlich festsetzt. Er muss dabei jederzeit von den Vorschlägen des Vorstands abweichen und auch eigene Vergütungsziele formulieren können. Und er ist namentlich nicht gehalten, die vom Vorstand verfolgte Strategie 1:1 in Vergütungszielen abzubilden. Die auf eine Einschränkung dieser Kompetenz zielende These weist, wie gesehen, eine deutlich überschießende Tendenz auf. Denn ein rechtlich relevanter Kompetenzkonflikt zwischen Aufsichtsrat und Vorstand kommt von vornherein nur in Bezug auf einzelne Parameter der variablen Vergütung in Betracht, und auch insofern nur in den Fällen, in denen diese Parameter nicht nur einen Bezug zur Strategie des Unternehmens aufweisen, sondern vom Aufsichtsrat überdies auch nicht aus der vorhandenen Planung abgeleitet werden können. Das ist vor allem bei einem erforderlichen oder jedenfalls sinnvollen Strategiewechsel der Fall. Ein durch überholte Vergütungsziele möglicherweise eintretender Versteinerungseffekt ist freilich auch durch die vorgeschlagene Kompetenzverlagerung nicht zu verhindern. Ihm kann nur durch Betonung der auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung gerichteten Organpflichten abgeholfen werden, die es dem Vorstand gebieten, notfalls auf einen Teil seiner variablen Vergütung zu verzichten, falls dieser Effekt nicht ohnehin aufgrund anderer Vergütungsziele kompensiert wird, die mit der neuen Strategie sogar besser zu erreichen sind.

V. Fazit und Skizze zur praktischen Konkordanz zwischen Vorstandsund Aufsichtsratskompetenz in Vergütungsfragen Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so lässt sich festhalten: Das VorstAG hat den bei variablen Vergütungsbestandteilen denkbaren Konflikt zwischen Vorstands- und Aufsichtsratskompetenz qualitativ nicht verändert. Selbstverständlich können in der Praxis insofern Konfliktfälle auftreten20; sie lassen sich aber auf der Grundlage des geltenden Aktienrechts zu-

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19 In diesem Sinne deutlich auch Wagner, AG 2010, 774, 778. 20 Dazu auch Martens, Rechtliche Rahmenbedingungen der Vorstandsvergütung, in FS Hüffer, 2010, S. 646, 660 f.

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meist eindeutig bewältigen. Denn ganz überwiegend beruhen sie nicht auf einem rechtlich unauflösbaren Normenkonflikt, sondern schlicht auf unterschiedlichen Strategievorstellungen von Vorstand und Aufsichtsrat sowie einer möglicherweise nicht immer klar ausgeprägten Vorstellung darüber, wem das Letztentscheidungsrecht in Strategiefragen zukommt. So mag etwa die Strategie des Vorstands Wachstum aus eigener Kraft vorsehen, während der Aufsichtsrat eine Verbreiterung der Kundenbasis durch Zukäufe für erforderlich hält. Er verlangt deshalb vom Vorstand, seine Strategie zu ändern oder sein Amt niederzulegen. Solche Konflikte dürften in der Praxis immer wieder einmal auftreten und den auf eine Wiederbestellung sinnenden Vorstand in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Es handelt sich aber nicht um ein Rechtsproblem und mit Mitteln des Rechts wohl auch nicht zu bewältigendes Problem. Allenfalls mag es sein, dass Konfliktfälle quantitativ durch das VorstAG etwas zunehmen, weil bei längerfristigen Vergütungsbestandteilen der beschriebene mögliche Versteinerungseffekt in Bezug auf sinnvolle Strategieänderung häufiger auftreten kann. Diesem Effekt kann aber auf kompetenzieller Ebene ohnehin nicht wirksam begegnet werden. Deshalb sei abschließend der Blick auf die Frage gelenkt, wie die Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat bei Fragen der Vorstandsvergütung auf der Basis des geltenden Aktienrechts möglich und sinnvoll ist: (1) Allein der Aufsichtsrat ist für Vergütungsfragen letztverbindlich zuständig; er muss hierfür die Verantwortung und ggf. auch die Haftung übernehmen. Diese Zuständigkeit betrifft nicht nur die Höhe der Vergütung, sondern auch die Vergütungsstruktur und die einzelnen Zielvorgaben, zumal gerade hierbei die Normbefehle des § 87 Abs. 1 AktG zu berücksichtigen sind. Der Vorstand kann gewiss Vorschläge zur Vergütungsstruktur erarbeiten, doch ist der Aufsichtsrat an solche Vorschläge in keiner Weise gebunden. (2) Soweit der Aufsichtsrat variable Vergütungsbestandteile einführen will, die einen Bezug zur Unternehmensplanung aufweisen, dürfen diese zur Wahrung der Vorstandskompetenz nicht im Widerspruch zur bestehenden Strategie des Unternehmens stehen. Der Aufsichtsrat darf somit nicht seine eigene Strategie gegen diejenige des Vorstands setzen; vielmehr hat er dessen insofern bestehende Kompetenz zu wahren. Ungeachtet seiner Beratungsfunktion hinsichtlich Planung und Strategie, die das Gesetz durch Berichtspflichten in § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG absichert, bleibt die Entscheidung über Planungs- und Strategiefragen allein dem Vorstand vorbehalten. Ziel der Beratungsfunktion ist es allein, die im Aufsichtsrat vorhandene Expertise schon für die Planung nutzbar zu machen und den Vorstand durch eine Argumentations- und Begründungslast zur Selbstkontrolle anzuhalten, nicht dagegen, dem Aufsichtsrat insofern Entscheidungsbefugnisse einzuräumen. § 87 Abs. 1 AktG ändert nichts daran, dass der Vorstand in Leitungsfragen alleinzuständig ist und eine Zustimmung des Aufsichtsrats in Geschäftsführungsfragen im Übrigen nur im Rahmen entsprechender Vorbehalte nach § 111 Abs. 4 AktG erforderlich ist. Der Aufsichtsrat darf zwar auch in Leitungsfragen Gegenvorstellungen äußern, er darf aber nicht auf 566

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dem Umweg über das Überwachungsrecht seine eigenen Zweckmäßigkeitsvorstellungen gegenüber dem Vorstand durchsetzen. (3) Für die Formulierung von Vergütungszielen, auch soweit sie im Rahmen einer Ermessenstantieme vom Aufsichtsrat ex post festgelegt werden, kommt es daher entscheidend darauf an, ob diese Ziele mit der vom Vorstand formulierten Unternehmensstrategie in Einklang stehen. Unmittelbar widersprechende Ziele sind allemal unzulässig. Bei neutralen Zielen, die keine bestimmte Strategie vorgeben bzw. konterkarieren, wird man dem Aufsichtsrat einen gewissen Ermessensspielraum einräumen müssen. Eigenständige Ziele, wie etwa die Stärkung des Überwachungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG und – wohl auch – die Einführung eines Risikomanagementsystems (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG), wird er umso eher formulieren können, als diese auch von Gesetz oder Kodex vorgesehen werden, sofern die Gesellschaft eine Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG abgegeben hat. So darf etwa der Aufsichtsrat das (teilweise) Erreichen einer vom Vorstand gemäß DCGK Nr. 4.1.5 für die Besetzung von Führungspositionen aufgestellten Frauenquote innerhalb einer bestimmten Zeitspanne auch dann belohnen, wenn der Vorstand ihr Erreichen nicht als sein vorrangiges Ziel ansieht. Nicht hingegen darf er als Vergütungsziel das Erreichen einer von ihm, dem Aufsichtsrat, selbst formulierten Quote setzen. Er darf die Einführung bzw. Verbesserung eines „Compliance“-Systems gemäß DCGK Nr. 4.1.321 belohnen, er darf aber nicht den Erwerb zusätzlicher Unternehmen incentivieren, wenn die Strategie des Vorstands Wachstum aus eigener Kraft vorsieht, und er darf nicht Umsatzsteigerungen belohnen, wenn der Vorstand das Ziel verfolgt, den Gewinn zu erhöhen, womit zugleich deutlich wird, dass finanzielle Kennzahlen keinesfalls immer strategieneutral wirken (oben II. 3.). Eine Verbreiterung der Kundenbasis – letztes Beispiel – kann er ebenfalls im Zweifel nur nach vorheriger Abstimmung mit dem Vorstand als Vergütungsziel formulieren; denn auch sie kann der vom Vorstand konkret verfolgten Wachstumsstrategie widersprechen. Endlich ist noch einmal zu betonen, dass der Aufsichtsrat nicht verpflichtet ist, jedes der vom Vorstand für besonders wichtig erachteten Entwicklungsziele in der variablen Vergütung abzubilden; er kann sich gewiss darauf beschränken, mit auf finanzielle Kennzahlen bezogenen Variablen ausschließlich den Erfolg der eingeschlagenen Strategie zu belohnen. (4) Bei einer Änderung der Strategie hat der Aufsichtsrat darauf zu achten, dass hiermit nicht mehr vereinbare Vergütungsziele ersetzt werden; diese Ersetzung kann aber immer nur ex nunc wirken; die rückwirkende Anpassung mehrjähriger Vergütungsziele scheidet naturgemäß aus.

__________ 21 Dazu Winter in FS Hüffer (Fn. 2), S. 1103, 1118 ff.: im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe hat der Aufsichtsrat zu überprüfen, ob ein „Compliance“-System erforderlich ist, was bei größeren Unternehmen regelmäßig der Fall ist.

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Konkurrierende Angebote im Übernahmerecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Begriffsbestimmung III. Rolle der Zielgesellschaft 1. Neutralitätspflicht 2. Due Diligence 3. Investorenvereinbarung IV. Rolle von Politik und Behörden 1. Wertpapieraufsicht 2. Aufsicht nach dem Außenwirtschaftsrecht 3. Kartell- und andere Genehmigungsverfahren 4. Politik

V. Rolle der Aktionäre VI. Ablauf konkurrierender Übernahmen 1. Gesetzliche Spezialregeln 2. Ergänzende allgemeine Grundsätze 3. Maßnahmen der Bieter 4. Weitere Angleichung von Fristen 5. Erweiterung der Rücktrittsrechte 6. Faktische Preiserhöhung über § 31 Abs. 4 WpÜG 7. Zulässigkeit mehrfacher Änderungen der Angebote VII. Zusammenfassung

Ich lernte Martin Winter schon kurz, nachdem wir beide 1986 Anwalt geworden waren, kennen und schätzen und darf deshalb dankbar auf über zwanzig Jahre kollegialer Freundschaft zurückblicken. Auch wenn angesichts seines Tätigkeitsschwerpunkts und seines wissenschaftlichen Werks1 ein „klassisches“ gesellschaftsrechtliches Thema nahe liegen würde, will ich versuchen, seiner mit einem übernahmerechtlichen Beitrag zu gedenken. Unsere intensivste berufliche Zusammenarbeit betraf nämlich die Fusion Daimler/ Chrysler, die zwar auch eine Fülle gesellschaftsrechtlicher Fragen aufwarf, aber als Übernahme der Daimler Benz AG durch die neu gebildete DaimlerChrysler AG strukturiert wurde, die den Aktionären den Tausch ihrer Aktien gegen DaimlerChrysler-Aktien anbot, während die Chrysler-Aktionäre DaimlerChrysler-Aktien als Folge eines „reverse triangular merger“ erhielten. Auch unser letzter beruflicher Berührungspunkt wies übernahmerechtliche Aspekte auf: Martin Winter beriet im Sommer 2008 die MLP AG, als Swiss Life an ihr eine Sperrminorität erwarb und die MLP AG darauf mit einer bei befreundeten Produktpartnern unter Ausschluss des Bezugsrechts platzierten Abwehrkapitalerhöhung antwortete, um Swiss Life zu verwässern und einem möglicherweise drohenden unerwünschten Übernahmeangebot vorzubeugen2.

__________ 1 Dazu Zöllner, Beilage ZIP 39/2010, S. 3 ff. sowie in diesem liber amicorum, S. 1 ff. 2 Ausführliche Untersuchung des Falls durch Mülbert in FS Schwark, 2009, S. 553 ff.

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I. Einleitung Während in anderen Jurisdiktionen der Wettbewerb mehrerer Bieter bei Übernahmetransaktionen weit verbreitet ist, ist er in Deutschland vergleichsweise selten. Erst als das 2002 in Kraft getretene WpÜG bereits mehrere Jahre alt war, führte der M&A-Boom der Jahre 2006/2007 zu den Fällen Schering (Merck und Bayer), Techem (Macquarie und BC Partners), REpower Systems (Areva und Suzlon)3 sowie Germanischer Lloyd (Bureau Veritas und Mayfair), wobei auf den letzten Fall das WpÜG mangels Börsennotierung der Zielgesellschaft nicht anwendbar war. Die sich dabei stellenden Probleme konnten zwar in der Praxis befriedigend gelöst werden, zeigten aber, dass die Regelung in § 22 WpÜG unvollständig ist. Da nach Überwindung der Finanzmarktkrise der Markt für öffentliche Übernahmen sich erholt hat, lohnt ein Blick auf die sich bei einem Bieterwettbewerb stellenden Fragen. Dabei wird es in der Praxis eher selten zu der Situation kommen, dass zwei potentielle Bieter unabhängig voneinander zur gleichen Zeit die Übernahme einer Zielgesellschaft vorbereiten und kurz nacheinander ein Angebot veröffentlichen. Häufiger wird es sich um Situationen handeln, in denen der Vorstand der Zielgesellschaft – wie von § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG ausdrücklich erlaubt – auf ein unerwünschtes Angebot mit der Suche nach einem „white knight“ reagiert, wie er beispielsweise in den Fällen Schering (Bayer), Techem (BC Partners) und Germanischer Lloyd (Mayfair) gefunden wurde. Ferner ist denkbar, dass ein Zweitbieter auf ein – aus der Sicht des Vorstands der Zielgesellschaft „freundliches“ oder „feindliches“ – Angebot reagiert und seinerseits den Aktionären ein erhöhtes Angebot unterbreitet (so Suzlon im Fall REpower). Bei einem solchen „interloper“ wird es sich häufig um einen Wettbewerber handeln, der die Zielgesellschaft seit längerem beobachtet und deshalb schnell reagieren kann, sobald das erste Angebot veröffentlicht wird. Dies zeigt auch der jüngste Fall, in dem die NASDAQ ein konkurrierendes Übernahmeangebot für NYSE Euronext abgegeben hat, nachdem diese mit der Deutsche Börse AG ein Business Combination Agreement über eine Fusion geschlossen hatte.

II. Begriffsbestimmung Bei „konkurrierenden Angeboten“ im Sinne des § 22 WpÜG kann es sich um jede Form von Angeboten im Sinne des § 2 Abs. 1 WpÜG handeln, d. h. neben Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten auch um freiwillige Erwerbsangebote. Nach der Legaldefinition des § 22 Abs. 1 WpÜG sind „konkurrierende Angebote“ aber nur solche, die während der Annahmefrist eines Angebots von einem Dritten abgegeben werden. Damit sind beispielsweise Angebote, die erst während der weiteren Annahmefrist abgegeben werden, nicht mehr erfasst. Dies ist bei der Anwendung des § 22 WpÜG zu beachten. Auch der oben erwähnte Fall Schering war kein „konkurrierendes Angebot“ im Sinne der

__________ 3 Zu Techem und REpower BaFin, Tätigkeitsbericht 2007, S. 191 f.; Strunk/Salomon/ Holst in Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 2009, S. 1, 13 ff.

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Legaldefinition, weil Merck zwar ein Übernahmeangebot nach § 10 WpÜG angekündigt hatte, aber noch keine Angebotsunterlage veröffentlicht hatte, als Bayer ein höheres Angebot ankündigte, und Merck daraufhin sein Vorhaben aufgab4. Deshalb werden im Folgenden auch Wettbewerbssituationen außerhalb der engen Legaldefinition einbezogen. In der Literatur wird ferner problematisiert, ob eine mit dem Bieter im Sinne des § 2 Abs. 5 WpÜG gemeinsam handelnde Person „Dritter“ im Sinne des § 22 Abs. 1 WpÜG sein und damit ein „konkurrierendes Angebot“ mit den Rechtsfolgen des § 22 WpÜG abgeben könne5. Auslöser der Diskussion sind Befürchtungen vor Umgehungsversuchen, die aber angesichts des Erfordernisses und der Kosten einer Finanzierungsbestätigung (§ 13 Abs. 1 WpÜG) eher theoretischer Art sind. Praktisch denkbarer Fall ist das Auseinanderbrechen eines Konsortiums, nach dem mehrere Mitglieder konkurrierende Angebote abgeben. In dem oben erwähnten Fall Techem einigten sich die beiden konkurrierenden Bieter im Verlauf des Verfahrens, beide Angebote scheiterten aber an der Mindestannahmeschwelle, weil Aktionärsgruppen mit größeren Paketen auf ein höheres Angebot spekulierten. Ein späteres verbessertes Angebot, für das Macquarie von der Sperrfrist nach § 26 Abs. 2 WpÜG befreit wurde, war erfolgreich6.

III. Rolle der Zielgesellschaft 1. Neutralitätspflicht Die Organe der Zielgesellschaft, insbesondere der Vorstand wären weitgehend auf eine passive Rolle beschränkt, wenn man einer starken Literaturmeinung folgen würde, die eine Neutralitätspflicht des Vorstands hinsichtlich Veränderungen im Aktionärskreis postuliert7. Daran ist richtig, dass der Vorstand sich nicht von eigenen Interessen leiten lassen darf, um beispielsweise ohne sachlichen Grund ihm persönlich gewogene Großaktionäre zu etablieren8. Eine darüber hinausgehende Neutralitäts- und Passivitätspflicht besteht aber nicht. Dies zeigt bereits § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG, der die Suche nach einem „white knight“ gerade in der Übernahmesituation ausdrücklich gestattet und damit dem Vorstand die Initiierung eines konkurrierenden Angebots erlaubt. Bei

__________ 4 Das Angebot von Merck wurde von der BaFin untersagt. BaFin, Tätigkeitsbericht 2006, S. 183. 5 Verneinend Hasselbach in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 22 WpÜG Rz. 17; a. A. Krause in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, 2005, § 22 WpÜG Rz. 18 ff. jeweils m. w. N. 6 BaFin, Tätigkeitsbericht 2007, S. 192. 7 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 26; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 122; Merkt, ZHR 165 (2001), 224, 236 ff.; Wackerbarth, WM 2001, 1741, 1744 f.; a. A. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 15d; Fuchs in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 22 Rz. 11; Weiss, Der angemessene Handlungsrahmen der Zielverwaltung in der Übernahmesituation, 2009, S. 84 ff.; Wolff, ZIP 2008, 300 ff. Offen gelassen in BGH, AG 2008, 164. 8 BGH, AG 2008, 164, 165.

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seinem Handeln ist der Vorstand auch nicht einseitig auf die Wahrung der Aktionärsinteressen, d. h. eine Optimierung des Angebotspreises verpflichtet. Vielmehr ist er auch in der Übernahmesituation im Rahmen seines von § 76 AktG eingeräumten Leitungsermessens im Sinne einer interessenpluralen Zielkonzeption berechtigt und verpflichtet, auch die Interessen anderer Stakeholder zu berücksichtigen, wie auch die übernahmerechtlichen Normen des § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 WpÜG zeigen. 2. Due Diligence Deshalb ist der Vorstand beispielsweise auch berechtigt, einem potentiellen „white knight“, den er zu einem konkurrierenden Angebot bewegen möchte, eine Dokumenten-Due Diligence und Management-Gespräche zu ermöglichen. Dabei ist er anders als in anderen Jurisdiktionen nach richtiger, aber stark umstrittener Auffassung nicht allgemein verpflichtet, sämtliche Übernahmeinteressenten gleich zu behandeln und ihnen Informationen im gleichen Umfang zu geben9. Allerdings muss der Vorstand bei dieser Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen und nach den Regeln der „Business Judgment Rule“ gemäß § 93 Abs. 1 AktG entscheiden. Dasselbe gilt, wenn der Vorstand zur Vorbereitung eines mit ihm abgestimmten Angebots einem Bieter eine Due Diligence gestattet hat und danach ein weiterer Übernahmeinteressent auf den Plan tritt. In einem solchen Fall kann durchaus gerechtfertigt sein, diesem die Due Diligence zu verweigern, zum Beispiel wenn es sich um einen Wettbewerber handelt, von dem zu erwarten ist, dass er Produktionsstätten schließt und wichtige Aktivitäten in andere Konzernteile verlagert. 3. Investorenvereinbarung In den letzten Jahren ist es üblich geworden, dass der Vorstand der Zielgesellschaft mit einem von ihm unterstützten Bieter eine sogenannte „Investorenvereinbarung“ oder „Business Combination Agreement“ schließt, in der der Ablauf des Angebots, die Unterstützung der Zielgesellschaft und die Zusagen des Bieters für die Zielgesellschaft und die Stakeholder geregelt werden. Dabei kann es sich um kurze Briefwechsel handeln wie beispielsweise in den Fällen Bayer/Schering und Blackstone/Celanese. Der Trend geht jedoch zu längeren und detaillierteren Vereinbarungen (z. B. Schaeffler/Continental). Solche Vereinbarungen liegen in der Kompetenz des Vorstands10. Es liegt auch im Interesse der Gesellschaft und ihrer Stakeholder, eine solche Vereinbarung abzuschließen und dort Bestandsgarantien und sonstige Zugeständnisse des Bieters festzuhalten. Solche Vereinbarungen können auch Klauseln enthalten, die sich mit einem späteren konkurrierenden Angebot beschäftigen. Es ist in der Praxis üblich und auch nicht zu beanstanden, dass der Vorstand sich verpflichtet, die Gegenpartei der Investorenvereinbarung über ein solches konkurrierendes An-

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9 Dazu Schiessl in FS Hopt, 2010, S. 2455 ff. mit Nachweisen zum Streitstand. 10 Hüffer (Fn. 7), § 76 AktG Rz. 15d; Kiem, AG 2009, 301, 304 f.; Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, 195, 199 f.; Schiessl, AG 2009, 385, 391.

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gebot zu unterrichten und dem ersten Bieter die Möglichkeit einzuräumen, auf das konkurrierende Angebot mit einer Änderung des eigenen Angebots zu reagieren, bevor der Vorstand ihm die Unterstützung entzieht und den Aktionären die Annahme des Angebots des konkurrierenden Bieters empfiehlt. Erforderlich ist aber, dass die Organe der Zielgesellschaft frei bleiben, bei veränderten Umständen auf die neue Situation angemessen zu reagieren, und nicht auf die Unterstützung des Angebots des Vertragspartners festgelegt sind. Wenn ein konkurrierendes Angebot vorgelegt oder ein existierendes Angebot geändert wird, müssen die Organe unvoreingenommen prüfen und Stellung nehmen können. Demgegenüber wird der Vorstand sich aber verpflichten dürfen, nicht aktiv nach einem konkurrierenden Angebot zu suchen, solange er frei bleibt, mit ihn aktiv ansprechenden Parteien zu reden11. Mittlerweile werden auch sogenannte „break fee“-Klauseln für zulässig gehalten, jedenfalls soweit sie erforderlich sind, um ein wünschenswertes Angebot zu ermöglichen, und sich in einer gewissen Größenordnung bewegen, zu der in der Literatur aber noch Unsicherheit herrscht12. Im Business Combination Agreement für die Fusion der Deutsche Börse AG mit der NYSE Euronext, das – ähnlich wie bei Daimler/Chrysler – ein Übernahmeangebot einer neu gegründeten holländischen Obergesellschaft an die Deutsche Börse-Aktionäre vorsieht, ist eine solche wechselseitige „break fee“ vereinbart. Im Fall Bayer/Schering bot Bayer in den Verhandlungen alternativ einen um 1 Euro höheren Angebotspreis je Aktie bei Vereinbarung einer von Schering bei einem durch ein höheres Angebot eines Dritten verursachten Scheitern des Bayer-Angebotes zu zahlenden „break fee“, worauf der Vorstand der Schering AG sich jedoch für die Variante mit dem niedrigeren Preis ohne „break fee“ entschied. In Einzelfällen wird auch eine „reverse break fee“ vereinbart, die vom Bieter zu zahlen ist, wenn sein Angebot aus in seiner Sphäre liegenden Gründen scheitert, z. B. weil eine fusionskontrollrechtliche Genehmigung verweigert wird oder die Hauptversammlung des Bieters eine erforderliche Kapitalerhöhung nicht beschließt (z. B. bei der Übernahme der BOC Group durch Linde).

IV. Rolle von Politik und Behörden 1. Wertpapieraufsicht Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übt die Aufsicht bei Angebot nach dem WpÜG aus. Sie hat dabei Missständen entgegenzuwirken, welche die ordnungsmäßige Durchführung des Verfahrens beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für den Wertpapiermarkt bewirken können. Sie kann Anordnungen treffen, die geeignet und erforderlich, diese Missstände zu beseitigen oder zu verhindern (§ 4 Abs. 1 WpÜG). Insbesondere hat sie das Angebot, die Finanzierungsbestätigung und die Angebotsunterlage zu prüfen und kann das Angebot nach § 15 WpÜG untersagen. Der BaFin kommt damit eine

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11 Fleischer, ZHR 172 (2008), 538, 559 ff.; Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, 195, 203. 12 Hierzu Fleischer, AG 2009, 345, 350 f.; Bachmann in Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 2009, S. 109, 122 jeweils m. w. N.

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zentrale Rolle gerade bei der Aufsicht über konkurrierende Übernahmeangebote zu. 2. Aufsicht nach dem Außenwirtschaftsrecht Nach § 53 der Außenwirtschaftsverordnung in der Fassung des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung vom 18. April 2009 kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie den Erwerb eines gebietsansässigen Unternehmens oder einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an einem solchen Unternehmen durch einen Gemeinschaftsfremden innerhalb von drei Monaten seit der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots oder der Veröffentlichung der Kontrollerlangung darauf prüfen, ob der Erwerb die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, und gegebenenfalls die Übernahme untersagen. Angesichts des eingeschränkten Anwendungsbereichs handelt es sich dabei aber nicht um ein Einfallstor für eine allgemeine Überprüfung von Unternehmenserwerben durch gemeinschaftsfremde Bieter. Vielmehr soll nur in Ausnahmefällen eine Untersagung in Betracht kommen. Das Kriterium der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit entspricht den Vorgaben des Artikel 46 Abs. 1 und des Artikels 58 Abs. 1 des EGVertrags. Eine Berufung auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit soll nur möglich sein, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die öffentliche Sicherheit betrifft das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen, d. h. die Sicherung der Existenz eines Mitgliedsstaats gegenüber inneren und äußeren Einwirkungen13. Die bisherige Praxis zeigt, dass mit einer Untersagung nur in Extremfällen zu rechnen sein wird. Insbesondere kommt eine Untersagung nicht in Betracht, wenn bei zwei konkurrierenden Angeboten der eine Erwerber aus anderen als den genannten Gründen den Interessen der Bundesrepublik Deutschland eher zu entsprechen scheint als der andere. 3. Kartell- und andere Genehmigungsverfahren Eine wichtige Rolle können kartellrechtliche und sonstige Genehmigungsverfahren (z. B. Banken- und Versicherungsaufsicht) spielen, insbesondere wenn durch die entsprechenden Bedingungen ein Angebot ein höheres Transaktionsrisiko aufweist. In dieser Situation ist es auch wichtig, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft in ihrer Stellungnahme nach § 27 WpÜG die entsprechenden Probleme erläutern und für die Aktionäre transparent machen. Gegebenenfalls muss auch die BaFin dafür sorgen, dass entsprechende Informationen von den Bietern in die Angebotsunterlage aufgenommen werden. Allerdings müssen die Behörden das Angebot jedes Bieters für sich zu prüfen haben. Prüfungsmaßstab kann also nicht sein, welcher Bieter zum Beispiel aus Sicht des Kartellrechts oder des Bankenaufsichtsrechts als der geeignetere Erwerber

__________ 13 Begründung Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/10730, S. 11.

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erscheint. Entscheidend ist allein, ob hinsichtlich eines bestimmten Bieters Untersagungsgründe vorliegen. Dennoch sollte die Sondersituation in der Vorbereitung der Gespräche mit den Behörden berücksichtigt werden. 4. Politik Auch wenn die Befugnisse des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie nach der Außenwirtschaftsverordnung wie oben gezeigt nicht politischer Natur sind, wird gerade bei großen Übernahmen bedeutender Traditionsunternehmen häufig der Ruf nach einem Eingreifen von der Politik laut. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Zielgesellschaft eine große Zahl von Arbeitnehmern im Inland beschäftigt und eine Verlagerung von Aktivitäten oder ein sonstiger Abbau von Arbeitsplätzen befürchtet wird. In jüngeren Fällen wie Porsche/VW und Schaeffler/Continental waren auch durchaus Politiker maßgeblich in den Prozess involviert, im Fall Porsche/VW schon allein aufgrund der Beteiligung des Landes Niedersachsen an VW. Es ist deshalb jedem potentiellen Bieter, insbesondere auch solchen aus dem Ausland zu empfehlen, die Öffentlichkeit und die Politik ebenso im Auge zu haben wie wichtige Aktionäre und Aktionärsgruppen und vorab eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln. Dies gilt insbesondere bei konkurrierenden Angeboten bzw. bei Transaktionen, bei denen mit einem „interloper“ zu rechnen ist. Insgesamt kann man aber beobachten, dass die politische Einflussnahme auf Übernahmen in Deutschland deutlich geringer ist als in einer Reihe anderer Jurisdiktionen in der Europäischen Gemeinschaft, ganz zu schweigen von anderen Regionen der Welt.

V. Rolle der Aktionäre Ein Bieterwettstreit wird am Ende durch die Aktionäre entschieden. Auch wenn in Einzelfällen andere Faktoren wie Standortgarantien, Abbau von Arbeitsplätzen, Rolle der Zielgesellschaft im Konzern des Bieters und Sicherung wichtiger Schlüsseltechnologien ausnahmsweise einmal eine Rolle spielen mögen, werden die Aktionäre regelmäßig das aus ihrer Individualsicht wirtschaftlich attraktivere Angebot annehmen. Dies gilt umso mehr, als die Ankündigung eines öffentlichen Übernahmeangebots regelmäßig einen grundlegenden Wandel der Zusammensetzung des Aktionariats bewirkt. Während langfristig orientierte institutionelle Aktionäre in einer solchen Situation verkaufsbereit sind, investieren kurzfristig orientierte Investoren wie Hedgefonds und sonstige Arbitrageure in die Aktie, insbesondere dann, wenn sie mit der Möglichkeit einer Erhöhung des Angebotspreises rechnen, was typischerweise bei konkurrierenden Angeboten der Fall ist. Dieser Wandel des Aktionariats macht bei sogenannten „feindlichen“ Übernahmeangeboten die Verteidigung mit dem Ziel der Unabhängigkeit der Zielgesellschaft schwierig, da diese neuen Aktionärsgruppen nicht an einer langfristigen Steigerung des Unternehmenswerts, sondern an einer schnellen Gewinnmaximierung durch Durchführung einer Kontrolltransaktion interessiert sind. Selbst wenn die Verwaltung der 575

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Zielgesellschaft ein überzeugendes Langfristkonzept hat, das möglicherweise einen höheren Wert für die Aktionäre realisieren kann als das Angebot, werden solche Aktionärsgruppen zwar die Verwaltung in ihrer Argumentation dahingehend unterstützen, dass das Angebot zu niedrig sei. Demgegenüber sind sie nicht daran interessiert, die Verwaltung beim Kampf um die Unabhängigkeit zu unterstützen, sondern sind allein an einer Erhöhung des Angebotspreises interessiert. Dies gilt insbesondere für die Aktionäre, die ihre Aktien bereits zu einem aufgrund der Übernahmesituation erhöhten Kurs erworben haben. Der oben unter II. erwähnte Fall Techem zeigt, welche bedeutende Rolle Hedgefonds in Übernahmesituationen spielen können. Die finanzielle Stärke des Bieters mag zwar für die Zielgesellschaft wichtig sein, weil ihr künftiger unternehmerischer Handlungsspielraum davon abhängen kann, für den Aktionär ist sie aber von untergeordneter Rolle, da nach dem „certain funds“-Konzepts des WpÜG vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage die notwendigen Maßnahmen getroffen sein müssen, um die Finanzierung sicherzustellen (§ 13 WpÜG). Demgegenüber kann es aus der Sicht der Aktionäre eine erhebliche Rolle spielen, welche Gegenleistung die Konkurrenten bieten, d. h. ob es sich um ein Barangebot oder um ein Tauschangebot handelt. Werden Aktien des Bieters angeboten, trägt der Aktionär nämlich in gewissem Umfang das Risiko der Kursentwicklung des Bieters, so dass die Angebote nicht in derselben Weise vergleichbar sind wie zwei Barangebote. Hängt die Ausgabe der Aktien noch von der Zustimmung der Hauptversammlung des Bieters oder weiteren juristischen Schritten ab, kann auch hierin ein Transaktionsrisiko liegen.

VI. Ablauf konkurrierender Übernahmen 1. Gesetzliche Spezialregeln Die Dauer der Annahmefrist kann vom Bieter innerhalb der in § 16 Abs. 1 WpÜG genannten Grenzen (mindestens vier Wochen, höchstens zehn Wochen) frei festgesetzt werden. Die Aktionäre der Zielgesellschaft, die ein Übernahmeangebot nicht innerhalb der Annahmefrist angenommen haben, können ein erfolgreiches Angebot noch innerhalb einer weiteren Annahmefrist von zwei Wochen annehmen (§ 16 Abs. 2 WpÜG). Änderungen des Angebots sind bis zu einem Werktag vor Ablauf der Annahmefrist (§ 21 Abs. 1 Satz 1 WpÜG), d. h. wenn die Annahmefrist an einem Werktag endet, bis Mitternacht des Vortags, soweit eine Veröffentlichung auf den zugelassenen Wegen technisch möglich ist. Dies kann insbesondere bei einem Verzicht auf die Mindestannahmeschwelle (§ 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpÜG) problematisch sein, weil institutionelle Anleger häufig erst am letzten Tag einreichen und deshalb am Vortag noch kein klares Bild vorliegt, ob die Schwelle erreicht wird. Im Falle einer Änderung des Angebots verlängert sich die Annahmefrist um zwei Wochen, sofern die Veröffentlichung der Änderung innerhalb der letzten zwei Wochen vor Ablauf der Angebotsfrist erfolgt (§ 21 Abs. 5 Satz 1 WpÜG). 576

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Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Aktionär grundsätzlich zwei Wochen Zeit haben soll, das Angebot zu prüfen und sich zu entscheiden14. Für den Fall konkurrierender Angebote bestimmt § 22 Abs. 2 Satz 1 WPÜG, dass sich der Ablauf der Annahmefrist für das erste Angebot entsprechend verlängert, wenn die Annahmefrist für das konkurrierende Angebot später abläuft. Dadurch sollen gleiche Rahmenbedingungen für beide Angebote geschaffen werden15. Der Gesetzgeber strebt also eine Harmonisierung der Fristen an, um dem Aktionär die optimale Vergleichbarkeit und Entscheidungsfreiheit zu sichern. Diese Harmonisierung ist ferner vorgesehen für den Fall, dass das konkurrierende Angebot geändert wird und sich deshalb gemäß § 21 Abs. 5 Satz 1 WpÜG um zwei Wochen verlängert (§ 22 Abs. 2 Satz 2 WpÜG). Gemäß § 21 Abs. 4 WpÜG können die Aktionäre der Zielgesellschaft, die das Angebot vor Veröffentlichung einer Änderung im Sinne des § 21 Abs. 1 und 2 WpÜG angenommen haben, von dem Vertrag bis zum Ablauf der Annahmefrist zurücktreten. Im Falle konkurrierender Angebote können die Aktionäre, die das erste Angebot bereits vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage des konkurrierenden Angebots angenommen haben, bis zum Ablauf der Annahmefrist vom Vertrag mit dem ersten Bieter zurücktreten (§ 22 Abs. 3 WpÜG). Die Aktionäre sollen die Möglichkeit haben, frei zwischen den Angeboten zu wählen, ohne an einen auf unvollkommener Informationsgrundlage gefassten Entschluss gebunden zu sein. Schließlich bestimmt § 21 Abs. 6 WpÜG, dass bei einer Angebotsänderung in den letzten zwei Wochen der Annahmefrist (mit der Folge der Verlängerung nach § 21 Abs. 5 WpÜG), eine erneute Änderung in der verlängerten Frist nicht mehr möglich ist. Demgegenüber ist eine weitere Änderung in der ursprünglichen Annahmefrist noch möglich und zwar trotz § 21 Abs. 1 Satz 1 WpÜG auch am letzten Tag, da der Sinn des Gesetzes gewahrt ist, dem Aktionär mindestens zwei Wochen Überlegungsfrist zu geben16. 2. Ergänzende allgemeine Grundsätze Bei der Beantwortung der sich bei konkurrierenden Angeboten stellenden Fragen sind neben den spezifischen Regeln der §§ 21, 22 WpÜG auch die in § 3 WpÜG niedergelegten allgemeinen Grundsätze zu berücksichtigen. Insbesondere sollen die Aktionäre der Zielgesellschaft über genügend Zeit und ausreichende Informationen verfügen, um in Kenntnis der Sachlage über ein Angebot entscheiden zu können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). Ferner sieht § 3 Abs. 4 WpÜG ein Beschleunigungsgebot vor. Danach haben der Bieter und die Zielgesellschaft das Verfahren rasch durchzuführen und die Zielgesellschaft darf nicht über einen angemessenen Zeitraum hinaus in ihrer Geschäftstätigkeit behin-

__________ 14 Begründung Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/7034, S. 49. 15 Begründung Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/7034, S. 50. 16 Rothenfusser/Friese-Dormann/Rieger, AG 2007, 137, 140; Wackerbarth in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 21 WpÜG Rz. 40.

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dert werden. Der Gedanke des Gesetzgebers ist, dass Angebotsverfahren häufig eine erhebliche Belastung für die Tätigkeit der Zielgesellschaft darstellen. Deshalb soll der entstehende Schwebezustand und die damit verbundene Unsicherheit im Interesse des Bieters, der Zielgesellschaft, ihrer Aktionäre und im Interesse des gesamten Kapitalmarkts auf einen möglichst kurzen Zeitraum beschränkt werden17. 3. Maßnahmen der Bieter In der Konkurrenzsituation wird jeder Bieter versuchen, sich im Verfahrensablauf taktische Vorteile zu sichern. Er wird daran interessiert sein, möglichst viele Aktionäre auf das eigene Angebot festzulegen und umgekehrt zu verhindern, dass andere Aktionärsgruppen auf das Angebot des Konkurrenten festgelegt sind. Da Bieterwettbewerbe ganz regelmäßig über die Höhe des Angebotspreises entschieden werden, ist es von zentraler Bedeutung, wie lange die Angebote laufen und welcher Zeitraum zur Verfügung steht, um auf einen Schritt des Konkurrenten selbst noch reagieren zu können. Dies gilt insbesondere dann, wenn für eine Erhöhung des Angebots die Zustimmung von Verwaltungsgremien oder gar der Hauptversammlung erforderlich ist oder Zeitbedarf für Finanzierungsmaßnahmen und Verhandlungen mit Banken besteht. Präzedenzfälle haben gezeigt, dass die Bieter tatsächlich mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen „spielen“, um sich Vorteile zu verschaffen, insbesondere mit den Bestimmungen über eine Verlängerung bzw. Harmonisierung der Angebotsfristen und die Eröffnung von Rücktrittsrechten. Für die Erhöhung der Gegenleistung sieht der Gesetzgeber eine Angebotsänderung vor (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 WpÜG). Geht der Bieter so vor, hat dies das Rücktrittsrecht der Aktionäre gemäß § 21 Abs. 4 WpÜG, die Verlängerung der Annahmefrist gemäß § 21 Abs. 5 WpÜG und die Änderungssperre gemäß § 21 Abs. 6 WpÜG zur Folge. In den meisten Fällen (z. B. bei Schering, Techem und REpower Systems) haben die Bieter stattdessen jedoch Aktien der Zielgesellschaft zu einer höheren als der im Angebot gewährten Gegenleistung am Markt erworben mit der Folge, dass sich automatisch die allen Aktionären zu bietende Gegenleistung entsprechend erhöhte (§ 31 Abs. 4 WpÜG)18. Die genannten Vorschriften sind in diesem Fall jedenfalls nicht direkt anwendbar. Der Hauptgrund für dieses Vorgehen liegt darin, dass bei einer „faktischen“ Erhöhung über § 31 Abs. 4 WpÜG keine geänderten Angebotsunterlagen veröffentlicht (vgl. §§ 21 Abs. 2; 14 Abs. 3 und 4 WpÜG) und keine erweiterten Finanzierungsbestätigungen für den Erhöhungsbetrag vorgelegt (vgl. §§ 21 Abs. 3; 13 WpÜG) werden müssen. Außerdem ist eine Erhöhung nach § 31 Abs. 4 WpÜG auch noch zu einem Zeitpunkt möglich, zu dem eine förmliche Änderung des Angebots wegen § 21 Abs. 6 WpÜG ausgeschlossen wäre.

__________ 17 Begründung Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/7034, S. 35. 18 Strunk/Salomon/Holst (Fn. 3), S. 19.

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4. Weitere Angleichung von Fristen Wird das konkurrierende Angebot geändert mit der Folge einer Verlängerung der Annahmefrist um zwei Wochen (§ 21 Abs. 5 WpÜG), wirkt die Verlängerung automatisch auch für das erste Angebot (§ 22 Abs. 2 Satz 2 WpÜG). Demgegenüber ist gesetzlich nicht geregelt, ob eine Änderung des ersten Angebots mit einer Folge der Verlängerung auch zur automatischen Verlängerung des konkurrierenden Angebots führt. Die BaFin hat im Fall Techem zu Recht entschieden, dass § 22 Abs. 2 Satz 2 WpÜG auf diese Konstellation analog anzuwenden ist mit der Folge, dass beide Angebote verlängert werden und am selben Tag auslaufen19. Sie begründet dies mit dem Schutz der Entscheidungsfreiheit der Aktionäre entsprechend dem allgemeinen Grundsatz des § 3 Abs. 2 WpÜG, wonach die Aktionäre über genügend Zeit verfügen sollen, um über das Angebot zu entscheiden. Demgegenüber bleibt es dem konkurrierenden Bieter unbenommen, bei einer langen Annahmefrist des ersten Angebots für sein konkurrierendes Angebot eine kurze Frist vorzusehen, die noch vor der für das Erstangebot Gesetzten abläuft. Zwar sind die Fristen insoweit nicht harmonisiert. Dies ist aber nicht erforderlich, da der Aktionär in dieser Konstellation mindestens vier Wochen zur Entscheidung hat20. 5. Erweiterung der Rücktrittsrechte § 22 Abs. 3 WpÜG räumt den Aktionären, die vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage des konkurrierenden Angebots bereits das Erstangebot angenommen haben, bis zum Ablauf der Annahmefrist ein Rücktrittsrecht ein (§ 22 Abs. 3 WpÜG). Ferner können bei einer Änderung des Angebots die Aktionäre zurücktreten, die es bereits angenommen haben (§ 21 Abs. 4 WpÜG). Damit ist jedoch die Frage noch nicht beantwortet, ob auch Aktionäre, die das konkurrierende Angebot angenommen haben, umgekehrt bei einer Änderung des ersten Angebots, sei es durch eine Erhöhung eines Preises oder auf andere Weise, ein Rücktrittsrecht haben. Auch dies hat die BaFin zum Schutz der Aktionäre im Fall Techem zu Recht bejaht, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Desinvestitionsentscheidung erneut zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern21. Genauso zu beurteilen ist die Situation, wenn der Aktionär das ursprüngliche Angebot vor Veröffentlichung einer Änderung des konkur-

__________ 19 Strunk/Salomon/Holst (Fn. 3), S. 14 ff. mit Nachweisen zum Streitstand in der Literatur. 20 Ebenso Hasselbach (Fn. 5), § 22 WpÜG Rz. 23 f.; Thun in Geibel/Süßmann, 2. Aufl. 2008, § 22 WpÜG Rz. 19; Diekmann in Baums/Thoma, § 22 WpÜG Rz. 34; a. A. Steinhardt in Steinmeyer/Häger, 2. Aufl. 2007, § 22 WpÜG Rz. 8; Oechsler in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, 2003, § 22 WpÜG Rz. 7. 21 Strunk/Salomon/Holst (Fn. 3), S. 18. Ebenso Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 22 WpÜG Rz. 19; Diekmann (Fn. 20), § 22 WpÜG Rz. 61; Thun (Fn. 20), § 22 WpÜG Rz. 51; a. A. Hasselbach (Fn. 5), § 22 WpÜG Rz. 40.

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rierenden Angebots angenommen hat. Auch auf diese Konstellation ist § 22 Abs. 3 analog anzuwenden22. Vereinzelt wird in der Literatur gefordert, auch solchen Aktionären ein Rücktrittsrecht einzuräumen, die sich außerhalb des Angebots gegenüber einem Bieter verbindlich zur Annahme seines Angebots verpflichtet haben („irrevocable commitment to tender“)23. Zwar führt dies dazu, dass auch ein höheres konkurrierendes Angebot jedenfalls dann verhindert werden kann, wenn diese Aktionäre die Mehrheit halten. Es ist aber nicht einzusehen, warum dies nicht zulässig sein soll. Alternativ wäre ja auch ein Kauf möglich. Eine solche Einschränkung der Vertragsfreiheit ist abzulehnen. 6. Faktische Preiserhöhung über § 31 Abs. 4 WpÜG Wie bereits erwähnt, erfolgen Erhöhungen der Gegenleistung regelmäßig nicht durch eine Angebotsänderung gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpÜG, sondern über die Gleichbehandlungsvorschrift des § 31 Abs. 4 WpÜG, d. h. durch den Erwerb von Aktien zu einem höheren Preis außerhalb des Angebots. Das Gesetz sieht hierfür allein eine Veröffentlichungspflicht vor, die zudem die Erlangung der Kontrolle voraussetzt (§ 23 Abs. 2 Satz 1 WpÜG). Letzteres spielt in der Praxis jedoch keine Rolle, da der Bieter ja ein Interesse an der Veröffentlichung seiner Erhöhung hat und diese deshalb vornimmt. In der Literatur wird zum Teil gefordert, die Regeln des § 21 WpÜG für Angebotsänderungen analog auf solche Preiserhöhungen anzuwenden mit der Folge, dass die Annahmefrist sich in diesem Fall um zwei Wochen verlängern würde (analog § 21 Abs. 5 WpÜG) und die Aktionäre ein Rücktrittsrecht hätten (analog § 21 Abs. 4 WpÜG)24. Dieser Auffassung ist die BaFin in Sachen REpower Systems zu Recht nicht gefolgt und hat klargestellt, dass aus ihrer Sicht die Erhöhung der Gegenleistung kraft gesetzlicher Anordnung nicht die Rechtsfolgen des § 21 WpÜG hat und deshalb beispielsweise Aktionäre, die das niedrigere Angebot bereits angenommen haben, an ihre Annahmeerklärung gebunden sind und nicht mehr das höhere Angebot annehmen können25. 7. Zulässigkeit mehrfacher Änderungen der Angebote Wie bereits erwähnt, kann ein Bieter, der sein Angebot ändert mit der Folge einer um zwei Wochen gemäß § 21 Abs. 5 WpÜG verlängerten Annahmefrist innerhalb dieser das Angebot nicht mehr erneut ändern (§ 21 Abs. 6 WpÜG).

__________ 22 Noack/Holzborn (Fn. 21), § 22 WpÜG Rz. 20; Thun (Fn. 20), § 22 WpÜG Rz. 48; a. A. Hasselbach (Fn. 5), § 22 WpÜG Rz. 40. 23 Wackerbarth (Fn. 16), § 22 WpÜG Rz. 26. 24 Rothenfusser/Friese-Dormann/Rieger, AG 2007, 137, 152; a. A. die h. M. Statt aller Hasselbach (Fn. 5), § 21 WpÜG Rz. 23 m. w. N. 25 BaFin, Jahresbericht 2007, S. 192. Vgl. aber auch die Hinweise bei Strunk/Salomon/ Holst (Fn. 3), S. 20, wonach in den bisher aufgetretenen Fällen konkurrierender Übernahmeangebote den Aktionären letzten Endes von den Bietern die Möglichkeit gewährt wurde, das höchste Angebot anzunehmen.

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Nicht gesetzlich geregelt ist, ob diese Sperrwirkung dann auch für das andere Angebot gilt. Die ganz überwiegende Literaturmeinung lehnt eine Erstreckung der Änderungssperre des § 21 Abs. 6 WpÜG auf das jeweils andere Angebot ab und sperrt also nur den Bieter, der die Verlängerung durch seine Angebotsänderung verursacht hat26. Dies hätte zur Konsequenz, dass der jeweils andere Bieter noch einmal ändern kann mit der Folge einer erneuten zweiwöchigen Verlängerung beider Annahmefristen, innerhalb derer dann wieder Änderungen (nur) durch den Bieter, der diese Verlängerung nicht verursacht hat, und so fort. Theoretisch wären damit mehrfache wechselseitige Änderungen mit einer beliebigen Veränderung der Angebotsdauer möglich. Deshalb will eine Auffassung in der Literatur die Änderungssperre des § 21 Abs. 6 WpÜG analog auf das jeweils andere Angebot erstrecken, um dem Grundsatz des § 3 Abs. 4 Satz 2 WpÜG Rechnung zu tragen, wonach die Zielgesellschaft nicht über einen angemessenen Zeitraum hinaus in ihrer Geschäftstätigkeit behindert werden darf27. Auch einzelne Vertreter der geschilderten herrschenden Meinung wollen ohne eine Erstreckung der Änderungssperre auf beide Bieter einer häufigen Möglichkeit der Verlängerung vorbauen28 Die BaFin hat zu dieser Fragestellung noch keine Verwaltungspraxis entwickelt29. Das Thema dürfte aber auch in der Praxis keine zu große Relevanz haben. Zum einen ist das Potenzial möglicher Änderungen im Sinne des § 21 WpÜG beschränkt. Auch Angebotserhöhungen werden – wie gesehen – regelmäßig über § 31 Abs. 4 WpÜG und nicht über eine Angebotsänderung im Sinne des § 21 WpÜG vorgenommen. Sollte dies doch mehrfach der Fall sein, sind die eventuellen nachteiligen Folgen für die Gesellschaft im Interesse der an weiteren Preiserhöhungen interessierten Aktionäre im Ergebnis hinzunehmen.

VII. Zusammenfassung Konkurrierende Angebote werden im Übernahmerecht weiter wachsende Bedeutung erlangen, zumal die Praxis zeigt, dass häufig die Suche nach einem „weißen Ritter“ eine der erfolgversprechenden Abwehrstrategien ist. Das Gesetz hat die sich bei konkurrierenden Übernahmeangeboten stellenden Fragen in § 22 WpÜG nur teilweise geregelt. Deshalb sind zum Teil Analogien erforderlich, zu deren Begründung auch die allgemeinen Grundsätze des § 3 WpÜG herangezogen werden können. Der BaFin ist es in ihrer bisherigen Verwaltungspraxis gelungen, für sich stellende Zweifelsfragen befriedigende Lösungen zu finden, insbesondere zum Schutz der Entscheidungsfreiheit der Aktionäre.

__________ 26 Krause (Fn. 5), § 22 WpÜG Rz. 39 f.; Hasselbach (Fn. 5), § 22 WpÜG Rz. 28 f.; Diekmann (Fn. 20), § 21 WpÜG Rz. 74; Wackerbarth (Fn. 16), § 22 WpÜG Rz. 29. 27 Rothenfusser/Friese-Dormann/Rieger, AG 2007, 137, 146 ff. 28 Wackerbarth (Fn. 16), § 22 WpÜG Rz. 30; Diekmann (Fn. 20), § 21 WpÜG Rz. 74; s. aber auch § 22 WpÜG Rz. 43 f. 29 Strunk/Solomon/Holst (Fn. 3), S. 21.

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Erhöhung der Barabfindung beim Squeeze out nach Einberufung der Hauptversammlung Inhaltsübersicht I. Einführung und Fragestellung II. Relevante Fragen im Einzelnen und Anlass für ihre Behandlung III. Meinungsstand zur nachträglichen Erhöhung der Barabfindung 1. Rechtsprechung 2. Literatur IV. Stellungnahme 1. „Pflicht“ zur Erhöhung der Barabfindung oder Freiwilligkeit der Erhöhung? a) Problemstellung b) Meinungsstand c) Bedeutung von § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG für die Problemstellung

d) Bedeutung von § 327f Satz 1 AktG für die Problemstellung e) Zwischenergebnis: Freiwilligkeit der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung 2. Berichtspflichten, Prüfung a) Problemstellung b) Regelungsinhalt von § 327c Abs. 2 und Abs. 3 AktG c) Gesetzesbegründung d) Zwischenergebnis: Mündliche Aktualisierung der Berichterstattung in der Hauptversammlung V. Ergebnisse

I. Einführung und Fragestellung Martin Winter bleibt dem Verf. aus vielen Fachgesprächen und Diskussionen nicht nur als herausragender Wissenschaftler, sondern auch als ebensolcher Praktiker in Erinnerung, der Wissenschaft und Praxis glänzend zu kombinieren wusste und für den wissenschaftliche Standpunkte immer auch den Praxistest bestehen mussten. Um eine praxistaugliche Lösung geht es im Folgenden auch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung eines bei mit einem Barabfindungsangebot verbundenen aktienrechtlichen Strukturmaßnahmen auftretenden Problems, das hier anhand des Squeeze out gemäß §§ 327a ff. AktG vor Augen geführt werden soll, und zwar der Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Erhöhung der Barabfindung nach Einberufung der Hauptversammlung („nachträgliche Erhöhung der Barabfindung“)1. Die vom Hauptaktionär festgelegte Barabfindung (§ 327b Abs. 1 Satz 1 AktG) muss gemäß § 327c Abs. 1 Nr. 2 AktG in der Einberufung der Hauptversammlung enthalten sein, spätestens bis zu diesem Zeitpunkt also auch festgelegt

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1 Zur nachträglichen Anpassung des Umtauschverhältnisses bei der Verschmelzung vgl. Marsch-Barner in FS Maier-Reimer, 2010, S. 425 ff.

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sein. Nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG muss die Barabfindung allerdings die Verhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Beschlussfassung der Hauptversammlung zum Squeeze out berücksichtigen. Auf Grund der für die Einberufung der Hauptversammlung einzuhaltenden Fristen fallen daher der Bewertungsstichtag (Tag der Hauptversammlung) und der Tag der Festlegung der Barabfindung im Regelfall um mindestens sechs Wochen auseinander. Hier kann es in der Praxis dazu kommen, dass nach Festlegung der Barabfindung bewertungsrelevante Umstände auftreten, aus denen eine höhere Barabfindung resultiert. Je größer die Abweichung ist, umso mehr stellt sich die Frage nach einer nachträglichen Erhöhung der Barabfindung, um den Wertverhältnissen am Bewertungsstichtag Rechnung zu tragen und – ein nicht zu vernachlässigender Gesichtspunkt – das Risiko von „Turbulenzen“ in der Hauptversammlung zu reduzieren. Ein Festhalten an der ursprünglichen Barabfindung auf Grund der ja möglichen Überprüfung im Spruchverfahren würde aller Voraussicht nach den ohnehin schwierigen Ablauf einer Squeeze out-Hauptversammlung noch schwieriger machen. Eine Absage der Hauptversammlung und ein vollständig neues Durchlaufen des Procedere für die Vorbereitung und Durchführung einer Squeeze out-Hauptversammlung erscheint auf Grund des damit verbundenen Kosten- und Zeitaufwands demgegenüber für die Praxis nicht als eine echte dritte Alternative, zumal bei dieser Vorgehensweise erneute Änderungen der bewertungsrelevanten Verhältnisse erneut die Frage einer Anpassung der (neuen) Barabfindung nach Einberufung einer neuen Hauptversammlung aufwerfen können. Diese Fälle können in erster Linie auftreten, wenn die Barabfindung auf der Grundlage einer nach dem Ertragswertverfahren durchgeführten Unternehmensbewertung festgelegt worden ist und nach Einberufung der Hauptversammlung bei dem zu bewertenden Unternehmen Umstände eingetreten sind, die zu einer günstigeren Ertragsprognose und damit auch höheren Barabfindung führen. Wird die Barabfindung auf der Grundlage des Börsenkurses der Aktiengesellschaft, bei der der Squeeze out durchgeführt wird, festgelegt, so können nach der STOLLWERCK-Entscheidung des Bundesgerichtshofs2 Änderungen des Durchschnitts-Börsenkurses nach Einberufung der Hauptversammlung für die Angemessenheit der Barabfindung grundsätzlich nicht mehr relevant sein. Denn nach der genannten Entscheidung des BGH ist für den relevanten Durchschnittsbörsenkurs im Regelfall ein Referenzzeitraum vor Bekanntgabe der geplanten Squeeze out-Maßnahme maßgeblich3. Die relevante Börsenkursentwicklung muss daher nicht prognostiziert werden, sondern ist definitiv bekannt. Sollte in Ausnahmefällen4 eine Hochrechnung des Börsenkurses nach dem BGH erforderlich sein5, weil zwischen der Bekanntgabe des geplanten Squeeze out und dem Tag der Hauptversammlung ein „längerer

__________ 2 BGH, NZG 2010, 939. 3 BGH, NZG 2010, 939, 941. 4 Vgl. dazu OLG Stuttgart, BeckRS 2011, 01677 (unter B. II. 3.); Goette, DStR 2010, 2579, 2587; Wasmann, ZGR 2011, 83, 94. 5 BGH, NZG 2010, 939, 942 a. E., 943; dazu z. B. Wasmann, ZGR 2011, 83, 96 ff.

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Erhöhung der Barabfindung beim Squeeze out nach Einberufung der Hauptversammlung

Zeitraum“ liegt, kann sich allerdings ebenfalls die Frage einer Anpassung der Barabfindung noch in der Hauptversammlung stellen.

II. Relevante Fragen im Einzelnen und Anlass für ihre Behandlung Es liegt auf der Hand und das soll hier nicht weiter vertieft werden, dass eine nachträgliche Reduzierung der in der Einberufung zur Hauptversammlung bekannt gemachten Barabfindung ausscheiden muss6. Anders gelagert ist aber die Frage, ob eine nachträgliche Erhöhung der Barabfindung zulässig ist. Daran schließt sich die Folgefrage an, ob und in welcher Art und Weise für diese erhöhte Barabfindung eine erläuternde Berichterstattung, eine Prüfung und eine Berichterstattung über die Prüfung zu erfolgen hat. Führt man sich den Meinungsstand in der Literatur zu diesen Fragen vor Augen, so – das sei hier vorweggenommen – kommt man zu dem Befund, dass eine nachträgliche Erhöhung der Barabfindung in rechtlicher Hinsicht unproblematisch sein sollte, spricht sich doch, was im Folgenden noch darzulegen sein wird, die allg. M. für deren Zulässigkeit aus. Das erscheint vom Ergebnis her auch ohne weiteres als überzeugend, denn gegenüber der ursprünglich bekannt gemachten Barabfindung ist die nachträgliche Erhöhung der Barabfindung für die Minderheitsaktionäre vorteilhaft und es bleibt den Minderheitsaktionären unbenommen, auch die höhere Barabfindung im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Näher untersucht worden ist diese Frage für den Squeeze out allerdings noch nicht7 und Rechtsprechung liegt zu ihr nur in geringem Umfang vor. Das ist der eine Anlass für die in diesem Beitrag unternommene Untersuchung. Der andere Anlass liegt darin, dass sich das Kammergericht in einem einen Squeeze out betreffenden Freigabeverfahren in Hinweisen an die Antragstellerin des Freigabeverfahrens sehr deutlich gegen die Zulässigkeit einer Erhöhung der Barabfindung nach Einberufung der Hauptversammlung ausgesprochen hat8.

__________ 6 Allg. M., vgl. nur Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 6; Hasselbach in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 8. A. A. noch Vossius, ZIP 2002, 511, 513 f. 7 Anderes gilt für die Anpassung des Umtauschverhältnisses bei der Verschmelzung, vgl. Marsch-Barner (Fn. 1), S. 425, 433 ff. 8 KG, 23 W 8/07. Der Verf. war Verfahrensbevollmächtigter der Antragstellerin im Freigabeverfahren. Das Verfahren wurde durch Antragsrücknahme beendet, da das Kammergericht definitiv an seiner Auffassung festhielt. Das LG Berlin hatte im Klageverfahren in der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung keinen Anfechtungsgrund gesehen, da der Hauptaktionär die Barabfindung bis zur Beschlussfassung in der Hauptversammlung „jederzeit“ erhöhen könne, um zwischenzeitlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen, und auch eine neue schriftliche Berichterstattung zur erhöhten Barabfindung nicht erforderlich sei (Urteil v. 11.1.2007 – 93 O 31/06, Urteilsumdruck S. 42, 45, unveröffentlicht). Das Berufungsverfahren vor dem KG wurde durch Vergleich beendet.

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Als zentrales Argument hat das Kammergericht dazu wörtlich angeführt9: „Wenn die Hauptaktionärin selbst zu der Erkenntnis gelangt, dass die festgelegte Abfindung wegen wesentlicher Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr angemessen ist, muss sie einen neuen Bericht erstellen, einen neuen Prüfbericht einholen und zu einer neuen Hauptversammlung laden lassen. Den von ihr selbst als unangemessen erkannten Abfindungsbetrag zur Abstimmung zu stellen, wäre gesetzwidrig gewesen.“

Da das gänzliche Absehen vom Squeeze out keine echte Alternative ist, führt die Auffassung des Kammergerichts faktisch dazu, dass für den Hauptaktionär eine rechtliche Pflicht besteht, die Barabfindung zu erhöhen, wenn er nach Einberufung der Hauptversammlung erkennt, dass die ursprünglich festgelegte Barabfindung nicht mehr angemessen ist. Dieser Rechtspflicht zur Anpassung der Barabfindung kann zudem nicht durch deren nachträgliche Erhöhung entsprochen werden. Vielmehr muss der zunächst vorgesehene Hauptversammlungstermin abgesagt werden, das gesamte Verfahren zur Vorbereitung der Hauptversammlung neu durchlaufen werden (Erstellung eines neuen Übertragungsberichts, Festlegung der neuen Barabfindung, Prüfung, Erstellung eines neuen Prüfungsberichts) und schließlich zu einer neuen Hauptversammlung eingeladen werden. Unabhängig von der noch zu behandelnden Frage nach der rechtlichen Überzeugungskraft vermag diese Auffassung des Kammergerichts den Praxistest nur schwerlich zu bestehen und sie gibt der Praxis Steine statt Brot. Denn bei der vom Kammergericht für erforderlich gehaltenen Vorgehensweise ist es ja nicht auszuschließen, dass nach einer erneuten Einberufung mit der erhöhten Barabfindung wiederum eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse eintritt, die erneut die Frage nach einer nochmaligen Anpassung der Barabfindung aufwirft. Und man könnte nicht etwa davon ausgehen, dass sich bei einer erneuten Einberufung einer Hauptversammlung die Frage einer nochmaligen Anpassung der Barabfindung wegen einer erneuten Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr stellen würde. Auch unabhängig davon führt das erneute vollständige Durchlaufen der Vorbereitung und Durchführung einer erneuten Hauptversammlung zu erheblichen Mehrkosten und zu einer erheblichen Verzögerung des Squeeze out; ein weiterer Grund für die Feststellung, dass die Auffassung des Kammergerichts zu unbefriedigenden und nicht praxistauglichen Ergebnissen führt. Schließlich wüsste man im Falle der Vorbereitung und Durchführung einer neuen Hauptversammlung nicht, in welche Richtung eine erneute Änderung der bewertungsrelevanten wirtschaftlichen Verhältnisse gehen würde. Es wäre nicht von vornherein auszuschließen, dass Änderungen zu einer Reduzierung gegenüber der ursprünglich angebotenen Barabfindung führen würden. Sieht man von einer erneuten Hauptversammlung ab und lässt bei einer Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine nachträgliche Erhöhung der Barabfindung zu, so ist diese erhöhte Barabfindung für die Minderheitsaktionäre bereits

__________ 9 Das entsprechende Hinweisschreiben des KG v. 4.9.2007 ist unveröffentlicht.

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gesichert und sie haben die Möglichkeit, auch diese Barabfindung im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Auch aus der Sicht der Minderheitsaktionäre muss die vom Kammergericht für richtig gehaltene Vorgehensweise also keine zusätzliche Schutzfunktion im Hinblick auf die Gewährung einer angemessenen Barabfindung bedeuten.

III. Meinungsstand zur nachträglichen Erhöhung der Barabfindung 1. Rechtsprechung In der veröffentlichten Rechtsprechung ist die Frage der Zulässigkeit einer nachträglichen Erhöhung der Barabfindung bisher nur vereinzelt behandelt worden. Das OLG München hat dazu nahezu apodiktisch und ohne weitere Begründung festgehalten: „Unproblematisch ist eine Erhöhung der Barabfindung nach deren Bekanntmachung bis zur Beschlussfassung der Hauptversammlung“10. Für die Zulässigkeit einer nachträglichen Erhöhung der Barabfindung lässt sich auch eine Entscheidung des OLG Hamburg11 anführen, wenn dort ausgeführt wird, dass eine von der festgelegten Barabfindung „zu Lasten“ der Minderheitsaktionäre abweichende Beschlussfassung den Vorschriften der §§ 327a ff. AktG widerspricht. Und wenn schließlich das OLG Stuttgart12 als Zweck der Erläuterung in der Hauptversammlung die Information der Aktionäre anführt, „insbesondere um den Aktualisierungsbedarf seit der Vorlage des Berichts zu decken“, so muss davon ausgegangen werden, dass das Gericht eine Erhöhung der Barabfindung in der Hauptversammlung zulässt. Denn es wäre sachlich nicht überzeugend und ein ungereimtes Ergebnis, wenn die der ursprünglich festgelegten Barabfindung zugrundeliegenden Wertverhältnisse in der Hauptversammlung aktualisiert werden, im Falle einer daraus resultierenden höheren Barabfindung diese jedoch nicht zur Beschlussfassung gestellt werden dürfte. Mit der Frage, ob die schriftliche Berichterstattung über die ursprüngliche Barabfindung im Falle der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung zu aktualisieren ist, setzt sich eine unveröffentlichte Entscheidung des LG Frankfurt am Main13 auseinander. Das Gericht bejaht diese Frage und lässt eine mündliche Aktualisierung in der Hauptversammlung zu. Da allerdings das OLG München14 und das OLG Hamburg15 eine nachträgliche Erhöhung der Barab-

__________ 10 BB 2007, 1582, 1583. Ähnlich in der Diktion Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 4, der eine nachträgliche Erhöhung der Barabfindung für „gänzlich unproblematisch“ hält. Für Zulässigkeit der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung in der Hauptversammlung auch die unveröffentlichte Entscheidung LG Frankfurt am Main v. 10.10.2006 – 3-5 O 136/06, Entscheidungsumdruck S. 26 sowie LG Berlin (Fn. 8). 11 ZIP 2003, 1344, 1346. 12 ZIP 2003, 2363, 2364. 13 V. 10.10.2006 – 3-5 O 136/06, Entscheidungsumdruck S. 24, 26. S. weiterhin LG Berlin (Fn. 8). 14 Nachw. in Fn. 10. 15 Nachw. in Fn. 11.

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findung noch in der Hauptversammlung zulassen, muss nach Auffassung dieser Gerichte eine mündliche Aktualisierung der Berichterstattung zur ursprünglichen Barabfindung in der Hauptversammlung wohl ausreichend sein. Auf die abweichende Haltung des Kammergerichts16 in einem nicht veröffentlichten Hinweisschreiben ist bereits hingewiesen worden17. Als einen Sonderfall wird man schließlich eine Entscheidung des LG München I ansehen müssen, in der das Gericht für den Fall des Formwechsels eine erhöhende Änderung des Barabfindungsbetrages nicht als bekanntmachungsfreien Antrag i. S. v. § 124 Abs. 4 Satz 2 AktG angesehen und deshalb eine Erhöhung der Barabfindung in der Hauptversammlung für unzulässig gehalten hat18. Zur Begründung verweist das Gericht darauf, dass sich eine Erhöhung der Barabfindung für diejenigen Aktionäre, die auch nach dem Formwechsel in der Gesellschaft verbleiben wollen, gegenüber der ursprünglich festgelegten, niedrigeren Barabfindung nachteilig auswirke, da beim Formwechsel die Barabfindung von der Gesellschaft zu leisten sei. Selbst wenn man dieser Argumentation folgen wollte19, könnte sie auf den Fall des Squeeze out nicht übertragen werden. Schuldner der Barabfindung ist hier der Hauptaktionär, für den sich die Erhöhung zwar nachteilig auswirkt, der aber der Erhöhung zustimmt und sie ggf. als Gegenantrag zum Tagesordnungspunkt mit der ursprünglichen Barabfindung zur Beschlussfassung stellen wird. Da sich die Erhöhung der Barabfindung für die abzufindenden außenstehenden Aktionäre nicht nachteilig, sondern sogar vorteilhaft auswirkt, spricht nichts dagegen, einen solchen Gegenantrag als bekanntmachungsfrei i. S. von § 124 Abs. 4 Satz 2 AktG zu behandeln. 2. Literatur Sehr geschlossen und stark zeigt sich demgegenüber das Meinungsbild in der Literatur, auch wenn die Problematik nicht eingehend untersucht wird. Die allg. M. lässt eine Erhöhung der Barabfindung noch in der Hauptversammlung zu20. Da dann eine Berichterstattung gemäß § 327c Abs. 2 AktG nicht mehr möglich ist, kann sie auch nicht Voraussetzung für die Erhöhung sein. Dabei geht es vor allem um den Fall, dass die Barabfindung auf Grund nach Ein-

__________ 16 17 18 19 20

Nachw. in Fn. 8. Oben unter II. LG München I, AG 2010, 420, 421. Offen gelassen von OLG München, ZIP 2010, 84, 85. Fleischer in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2007, § 327b AktG Rz. 6; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2003, § 327b AktG Rz. 4; Hasselbach in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 8; Grunewald in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 7; Schnorbus in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 2. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 11; Singhof in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 2. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 3; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbHKonzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 4; Austmann in MünchHdb. GesR, Bd. 4, Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 74 Rz. 45; Vossius, ZIP 2002, 511, 513 f. m. weit. Nachw. aus der älteren Literatur. So im Erg. auch Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 327b AktG Rz. 6: Die Barabfindung kann ab Bekanntmachung der Tagesordnung nicht mehr „zum Nachteil“ der Minderheitsaktionäre geändert werden.

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berufung der Hauptversammlung festgestellter Wertveränderungen erhöht wird21. In diesem Fall wird eine mündliche Aktualisierung des Übertragungsberichts in der Hauptversammlung für ausreichend gehalten22.

IV. Stellungnahme 1. „Pflicht“ zur Erhöhung der Barabfindung oder Freiwilligkeit der Erhöhung? a) Problemstellung Hält man es – wie das Kammergericht23 – für gesetzwidrig, die in der Einberufung bekannt gemachte, aber wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft nicht mehr angemessene Barabfindung gleichwohl in der Hauptversammlung zur Abstimmung zu stellen, so stellt sich die Frage, ob – wenn nicht von dem Squeeze out überhaupt abgesehen wird – eine gesetzliche Pflicht zur Anpassung der Barabfindung besteht, die dann ggf. den vom Kammergericht aufgestellten Anforderungen einer neuen Berichterstattung über die Angemessenheit der neuen Barabfindung, einer neuen Prüfung und einer neuen Berichterstattung über die Prüfung sowie schließlich einer neuen Einberufung einer Hauptversammlung unterliegt, oder ob eine nachträgliche Erhöhung der Barabfindung freiwillig erfolgen kann und welchen Regularien diese dann unterliegt. b) Meinungsstand Nach der allg. M. in der Literatur kann der Hauptaktionär die Barabfindung bei nach Einberufung der Hauptversammlung eingetretenen Wertveränderungen erhöhen, muss dies aber nicht tun24. Danach kann der Hauptaktionär auch die ursprüngliche, als nicht mehr angemessen anzusehende Barabfindung zur Abstimmung stellen und die Frage einer Erhöhung der Barabfindung dem Spruchverfahren überlassen. Insoweit wird auch nicht danach differenziert, ob der Hauptaktionär die Unangemessenheit der Barabfindung erkannt hat oder nicht und in welchem Ausmaß sich die ursprünglich angebotene Barabfindung auf Grund der zwischenzeitlichen Wertveränderungen von dem angemessenen Betrag entfernt. Überdies wird in der Kommentarliteratur zum Umtauschverhältnis bei der Verschmelzung – und nichts anderes kann dann für die Barabfindung beim

__________ 21 Vgl. Fleischer (Fn. 20) § 327b AktG Rz. 6; Grunewald (Fn. 20), § 327b AktG Rz. 7; Singhof (Fn. 20), § 327b AktG Rz. 3; Austmann (Fn. 20), § 74 Rz. 45, 60; Habersack (Fn. 20), § 327b AktG Rz. 4. 22 Fleischer (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 9; Koppensteiner (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 6; Austmann (Fn. 20), § 74 Rz. 45. Zum Erfordernis einer auch die erhöhte Barabfindung abdeckenden Bankgewährleistung vgl. z. B. Grunewald (Fn. 20), § 327b AktG Rz. 7. 23 Nachw. in Fn. 8. 24 Vgl. Nachw. in Fn. 20. Näher begründet wird das von der Literatur allerdings nicht. Für die Notwendigkeit einer Anpassung aber Keul, DB 2003, 708, 709.

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Squeeze out gelten – ausdrücklich festgehalten, dass ein Verschmelzungsbeschluss auch dann nicht anfechtbar ist – also an dem Umtauschverhältnis auch dann festgehalten und darüber beschlossen werden kann –, wenn das Umtauschverhältnis offensichtlich zu niedrig oder grob falsch oder gezielt unangemessen festgelegt worden ist25. Auch der bisher vorliegenden Rechtsprechung zur nachträglichen Erhöhung der Barabfindung kann nicht entnommen werden, dass der Hauptaktionär die ursprünglich festgelegte Barabfindung erhöhen müsste, wenn er nach Einberufung der Hauptversammlung erkennt, dass die ursprünglich festgelegte Barabfindung auf Grund veränderter Wertverhältnisse nicht mehr angemessen ist26. Einer gegenteiligen Annahme stünde auch die wiederholte Feststellung des Bundesgerichtshofs entgegen, dass die Angemessenheit der Barabfindung „allein“ oder in anderer Formulierung „ausschließlich“ im Spruchverfahren zu überprüfen ist27. Wie der Hinweis des Bundesgerichtshofs darauf, dass eine Anfechtung des Übertragungsbeschlusses nicht einmal auf eine Verfolgung von Sondervorteilen im Sinne des § 243 Abs. 2 AktG gestützt werden könnte (was ja auch in § 327f Satz 1 AktG ausdrücklich geregelt ist), zeigt28, soll die Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung auch dann allein oder ausschließlich dem Spruchverfahren vorbehalten bleiben, wenn der Hauptaktionär erkannt hat, dass die von ihm festgelegte Barabfindung nicht mehr angemessen ist. c) Bedeutung von § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG für die Problemstellung § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG kann nicht entnommen werden, dass die Hauptversammlung nur über eine Barabfindung beschließen dürfte, die am Tag der Hauptversammlung tatsächlich angemessen ist. Die Vorschrift legt fest, wie die systematische Stellung des zweiten Halbsatzes zeigt, auf welchen Stichtag der Hauptaktionär bei der Festlegung der Barabfindung vor Einberufung der Hauptversammlung abzustellen hat. Die Vorschrift betrifft also die Frage, was

__________ 25 Bork in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 14 UmwG Rz. 13; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 4. Aufl. 2010, § 14 UmwG Rz. 13. 26 Zur Rspr. s. oben unter III. 1. Zur Begründung der STOLLWERCK-Entscheidung führt BGH, NZG 2010, 939, 941 (Rz. 19), auch an, dass bei Unternehmensbewertungen nach dem Ertragswertverfahren „die Werte für den Zeitpunkt der Hauptversammlung aus vergangenen Daten, in der Regel den Werten zum letzten Geschäftsjahreswechsel, auf den Tag der Hauptversammlung durch Aufzinsung hochgerechnet [werden], schon weil bei der Einberufung der Hauptversammlung das Bewertungsgutachten vorliegen und vom sachverständigen Prüfer geprüft sein muss.“ Weiterhin hält der BGH (a. a. O. Rz. 28) fest, dass der Bezugspunkt für die Ermittlung des Anteilswertes nach der Ertragswertmethode und „die Aktualität der zugrunde liegenden Daten“ auseinanderfallen. Das spricht dafür, dass für Zwecke der Beschlussfassung die Barabfindung nicht die Verhältnisse am Tag der Beschlussfassung abbilden muss und damit eine Pflicht zur Erhöhung der Barabfindung nicht besteht, sondern eine etwa erforderliche Erhöhung der Barabfindung dem Spruchverfahren vorbehalten bleibt. 27 BGH, NZG 2006, 905, 908 (Rz. 30); BGH, NZG 2006, 346, 348 f. (Rz. 9, 14). 28 BGH, NZG 2006, 905, 908 (Rz. 30).

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der Hauptaktionär bei der Festlegung der Abfindung zu beachten hat. Zu der davon zu unterscheidenden Frage, ob die Hauptversammlung nur über eine Barabfindung beschließen darf, die die Verhältnisse am Hauptversammlungsstichtag tatsächlich auch berücksichtigt, trifft die Vorschrift demgegenüber keine Regelung. Auch aus den nachfolgenden Gründen kann man daraus, dass das Gesetz dem Hauptaktionär bei Festlegung der Barabfindung die Berücksichtigung der Verhältnisse am Hauptversammlungsstichtag aufgibt, nicht den Schluss ziehen, dass das Gesetz dann auch nur eine Beschlussfassung über eine Barabfindung zulassen will, die die Verhältnisse am Hauptversammlungstag berücksichtigt. Man muss sich vor Augen führen, dass es sich zum Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung naturgemäß nur um eine Prognose darüber handeln kann, wie sich die für die Barabfindung relevanten Verhältnisse am Tag der Hauptversammlung voraussichtlich darstellen werden. Damit ist es aber in der gesetzlichen Regelung, die eine solche Prognose vom Hauptaktionär verlangt, angelegt, dass es zwischen der Festlegung der Barabfindung und dem Tag der Hauptversammlung auf Grund von zwischenzeitlichen Wertveränderungen dazu kommen kann, dass die vom Hauptaktionär festgelegte Barabfindung am Tag der Hauptversammlung nicht mehr angemessen ist. Die Möglichkeit, dass die zum Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung zur Ermittlung der Barabfindung prognostizierten und die am Tag der Hauptversammlung tatsächlichen Verhältnisse auseinanderfallen, ist eine direkte Konsequenz der gesetzlichen Regelung. Daher kann es nicht überzeugen, wenn man eine Beschlussfassung über eine auf Grund zwischenzeitlicher Wertveränderungen als nicht mehr angemessen erkannte Barabfindung verbieten wollte29. Das gilt umso mehr deshalb, weil das Gesetz mit dem Spruchverfahren den Weg für eine Überprüfung und ggf. Erhöhung der beschlossenen Barabfindung eröffnet. d) Bedeutung von § 327f Satz 1 AktG für die Problemstellung Die Annahme, bei einer nach Einberufung der Hauptversammlung gewonnenen Erkenntnis, dass die ursprüngliche Barabfindung wegen zwischenzeitlicher Wertveränderungen nicht mehr angemessen ist, sei eine Beschlussfassung über die ursprüngliche Barabfindung gesetzwidrig, würde sich außerdem in einen Widerspruch zu § 327f Satz 1 AktG setzen. Nach dieser Vorschrift kann eine Klage nicht darauf gestützt werden, dass die durch den Hauptaktionär festgelegte Barabfindung nicht angemessen ist. § 327f Satz 1 AktG differenziert dabei nicht zwischen dem Fall, in dem der Hauptaktionär Kenntnis davon hat, dass die Barabfindung auf Grund zwischenzeitlicher Wertveränderungen nicht mehr angemessen ist, und dem Fall, in dem eine solche Kenntnis nicht gegeben ist. Im Gegenteil und das unter-

__________

29 So auch Singhof (Fn. 20), § 327b AktG Rz. 3; Vossius, ZIP 2002, 511, 514, der zu Unrecht aber auch nachträgliche Herabsetzungen der Barabfindung zulassen will. Zur Bedeutung der STOLLWERCK-Entscheidung des BGH für die Fragestellung vgl. Fn. 26.

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streicht die Geltung des Klageausschlusses auch für den Fall, dass der Hauptaktionär zum Zeitpunkt der Beschlussfassung erkannt hat, dass die Barabfindung nicht mehr angemessen ist: Die Klage ist selbst dann ausgeschlossen, wenn der Hauptaktionär mit der Beschlussfassung einen Sondervorteil i. S. v. § 243 Abs. 2 AktG verfolgt. Das betrifft aber gerade Fälle, in denen der Hauptaktionär Kenntnis davon hat, dass die Barabfindung nicht angemessen ist, wie die Formulierung „Sondervorteile zu erlangen suchte“ in § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG zeigt30. § 327f Satz 1 AktG erlaubt daher nur den Schluss, dass das Gesetz eine Beschlussfassung über eine als nicht mehr angemessen erkannte Barabfindung zulässt. Es wäre auch sinnwidrig und widersprüchlich, dass eine solche Beschlussfassung nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG gesetzwidrig sein sollte, eine Klage nach § 327f Satz 1 AktG gleichwohl ausgeschlossen ist. Zudem würde dieser Klageausschluss im Ergebnis ausgehebelt werden, da der Hauptaktionär bei einer von ihm als nicht mehr angemessenen erkannten Barabfindung faktisch gezwungen wäre, von einer Beschlussfassung über diese Barabfindung Abstand zu nehmen und die ursprüngliche Barabfindung zu erhöhen, obwohl eine Beschlussfassung über die ursprüngliche Barabfindung nach der eindeutigen Regelung des § 327f Satz 1 AktG im Klagewege überhaupt nicht angegriffen werden könnte. Die Annahme einer Gesetzwidrigkeit der Beschlussfassung über eine als nicht mehr angemessen erkannte Barabfindung und die dadurch eröffnete Möglichkeit der Anfechtungsklage gegen einen Hauptversammlungsbeschluss auf der Grundlage der ursprünglichen Barabfindung würde sich auch in Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers setzen. Die Gewährleistung der angemessenen Barabfindung soll durch den spezielleren Rechtsbehelf des Spruchverfahrens sichergestellt werden und nicht durch eine Klage gegen den Beschluss der Hauptversammlung31. Das hat in § 327f Satz 2 AktG, nach dem im Falle einer nicht angemessenen Barabfindung das Gericht im Spruchverfahren die angemessene Barabfindung zu bestimmen hat, seinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden. Damit hat der Gesetzgeber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass Fragen der Angemessenheit der Barabfindung nicht den Weg der Anfechtungsklage eröffnen, sondern ausschließlich im Spruchverfahren zu klären sind32. Die Angemessenheit der Barabfindung soll nach der gesetzlichen Konzeption gerade nicht durch die Möglichkeit der Anfechtungsklage durchgesetzt werden können, weil die Anfechtungsklage nicht dazu führen kann, dass den Minderheitsaktionären eine angemessene Abfindung zugesprochen wird33.

__________ 30 S. dazu bereits die Gesetzesbegründung zum früheren § 352c AktG, BT-Drucks. 9/1065, S. 21, zum Umtauschverhältnis bei der Verschmelzung. Für die Barabfindung beim Squeeze out kann nichts anderes gelten. 31 BT-Drucks. 14/7034, S. 73. 32 Vgl. dazu BGH, NZG 2006, 347, 349 (Rz. 14). 33 So schon die Gesetzesbegründung zum nach § 304 AktG beim Beherrschungsvertrag zu gewährenden Ausgleich, vgl. Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 395. Für die Barabfindung beim Squeeze out kann nichts anderes gelten.

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Erhöhung der Barabfindung beim Squeeze out nach Einberufung der Hauptversammlung

Eine auf eine nicht oder nicht mehr angemessene Barabfindung gestützte Klage kann das Ziel, eine angemessene Barabfindung durchzusetzen, nicht erreichen. Das gilt auch dann, wenn der Hauptaktionär nach Einberufung erkannt hat, dass die Barabfindung auf Grund zwischenzeitlicher Wertänderungen nicht mehr angemessen ist. Denn ein Erfolg der Klage führt nicht zur Festsetzung einer angemessenen Barabfindung, sondern nur zur Unwirksamkeit des Squeeze out-Beschlusses. Mit dieser Unwirksamkeit könnten die Minderheitsaktionäre allenfalls mittelbar und zudem kosten- und zeitintensiv eine Erhöhung der Barabfindung erreichen, wenn der Hauptaktionär ein neues Squeeze out-Verfahren durchführt und die für den neuen Hauptversammlungstag maßgeblichen Wertverhältnisse tatsächlich zu einer höheren Barabfindung führen. Zu Recht hat sich jedoch der Bundesgerichtshof für das Delisting – und diese Feststellung gilt gleichermaßen für den Squeeze out – dagegen ausgesprochen, die Gewährung einer angemessenen Barabfindung durch das Institut der Anfechtungsklage sicherzustellen, denn das kann den Interessen beider Parteien nicht vollständig gerecht werden. Die Aktionäre könnten lediglich eine Kassation des Beschlusses erreichen und dadurch dessen Durchsetzung verhindern. Damit könnte allenfalls mittelbar eine Erhöhung der Abfindung erreicht werden. Zu Recht hat der Bundesgerichtshof auch darauf hingewiesen, dass der Gesellschaft durch das Erfordernis der erneuten Einberufung einer Hauptversammlung unverhältnismäßige Kosten entstehen würden. Daher sei es sinnvoll, den zwischen den Parteien aufgetretenen Konflikt beim Delisting ebenso wie beim Squeeze out nicht auf dem Weg des Anfechtungsverfahrens, sondern des Spruchverfahrens zu lösen34. Außer Frage steht bei allem, dass die Minderheitsaktionäre eine volle wirtschaftliche Entschädigung bezogen auf den Wert ihrer Aktien am Stichtag der Hauptversammlung erhalten sollen und auch müssen. Das wird jedoch durch das Spruchverfahren sichergestellt35. Dem liegt die Zielsetzung des Gesetzes zugrunde, auch zu verhindern, dass Fragen der Angemessenheit der Barabfindung und deren Überprüfung zu einer Verzögerung des Wirksamwerdens von Strukturmaßnahmen – und zu ihnen zählt auch der Squeeze out – führen36. Dieser grundsätzlichen Zielsetzung widerspricht es, wenn der Hauptaktionär im Falle der Erkenntnis, dass die ursprüngliche Barabfindung nicht mehr angemessen ist, das bisherige Squeeze out-Verfahren stoppen und ein neues Verfahren durchführen muss, was zwangsläufig zu ganz erheblichen Verzögerungen für das Wirksamwerden der Strukturmaßnahme führt. e) Zwischenergebnis: Freiwilligkeit der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung Von einer gesetzwidrigen Vorgehensweise des Hauptaktionärs kann nach allem nicht ausgegangen werden, wenn er nach der Einberufung feststellt, dass die

__________ 34 BGH, NJW 2003, 1032, 1035. 35 BGH, NZG 2006, 905 (Rz. 8). 36 Vgl. Hüffer (Fn. 20), § 327f AktG Rz. 1.

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ursprüngliche Barabfindung auf Grund zwischenzeitlicher Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr als angemessen anzusehen ist, er aber gleichwohl die ursprüngliche Barabfindung zur Abstimmung in der Hauptversammlung stellt. Insoweit besteht also keine gesetzliche Pflicht des Hauptaktionärs, die ursprüngliche Barabfindung erhöhend anzupassen. Sieht der Hauptaktionär von einer Erhöhung der Barabfindung ab, so führt dies nicht zur Anfechtbarkeit des Squeeze out-Beschlusses. Damit stellt sich die Frage, ob rechtliche Gründe im Grundsatz gegen eine freiwillige Erhöhung der Barabfindung nach Einberufung der Hauptversammlung oder ggf. noch in dieser selbst sprechen. Vorbehaltlich der noch zu behandelnden Fragen der Berichterstattung und Prüfung sind Rechtsgründe, die gegen eine freiwillige Erhöhung der Barabfindung sprechen könnten, nicht ersichtlich. Die Erhöhung ist für sich gesehen für die abzufindenden außenstehenden Aktionäre nicht nachteilig, sondern allenfalls von Vorteil. Zudem bleibt es den außenstehenden Aktionären unbenommen, auch die erhöhte Barabfindung im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Schließlich spricht auch der folgende Grund dafür, eine freiwillige Erhöhung der Barabfindung selbst noch in der Hauptversammlung zuzulassen: Nach § 327d Satz 2 AktG kann der Vorstand dem Hauptaktionär Gelegenheit geben, die Bemessung der Höhe der Barabfindung zu Beginn der Verhandlung mündlich zu erläutern. Der Formulierung „kann … Gelegenheit geben“ ist nicht etwa dahin zu interpretieren, dass die Erläuterung der Barabfindung in der Hauptversammlung zur Disposition des Vorstands und des Hauptaktionärs steht. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen ist der Vorstand verpflichtet, in der Hauptversammlung seine Vorlagen zu erläutern37. § 327d Satz 2 AktG lässt es allerdings zu, dass der Vorstand die Erläuterung dem Hauptaktionär überlässt. Die Erläuterung muss also entweder durch den Vorstand oder den Hauptaktionär erfolgen oder gemeinsam durch beide. Dabei ist davon auszugehen, dass diese Erläuterungen vollständig sein müssen, also auch ein Aktualisierungsbedarf hinsichtlich der Ermittlung der Höhe der Barabfindung im Hinblick auf zwischenzeitlich eingetretene Wertveränderungen offengelegt werden muss. Da die positive Entscheidung über den Squeeze out auf Grund des für diesen erforderlichen Aktienbesitzes des Hauptaktionärs vorgegeben ist, besteht das Interesse der Minderheitsaktionäre im Wesentlichen darin, über hinreichende Informationen zur Beurteilung der Angemessenheit der Barabfindung zu verfügen. Deshalb muss sich eine ggf. erforderliche Aktualisierung der schriftlichen Berichterstattung vor allem auch auf die Beurteilungsgrundlagen für die Angemessenheit der Barabfindung richten. Diese Aktualisierung und die daraus zu ziehende Schlussfolgerung, dass die ursprüngliche Barabfindung nicht mehr dem Angemessenheitserfordernis entspricht, sondern der Betrag der angemessenen Barabfindung höher ausfällt, blieben allerdings auf halbem Wege stehen, wenn daraus nicht die Konsequenz

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37 So zutr. Hüffer (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 4; Habersack (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 3; a. A. z. B. Schnorbus (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 6; Hasselbach (Fn. 20), § 327d AktG Rz. 8.

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einer freiwilligen Erhöhung der Barabfindung gezogen werden dürfte. Es wäre weder aus der Sicht des Hauptaktionärs noch aus der Sicht der Minderheitsaktionäre sachlich überzeugend, dem Hauptaktionär die Möglichkeit zu verwehren, das Barabfindungsangebot freiwillig zu erhöhen. Auch § 124 Abs. 4 Satz 1 AktG, nach dem über Gegenstände der Tagesordnung, die nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht sind, keine Beschlüsse gefasst werden dürfen, entfaltet gegenüber einer Beschlussfassung über eine nachträglich erhöhte Barabfindung keine Sperrwirkung. Ein Antrag des Hauptaktionärs, über die erhöhte Barabfindung abstimmen zu lassen, ist – jedenfalls weil er den abzufindenden Aktionären mehr gibt als in der Einberufung bekannt gemacht – als ein Antrag zum Gegenstand der Tagesordnung „Beschlussfassung über den Squeeze out“ anzusehen und damit im Sinne von § 124 Abs. 4 Satz 2 AktG bekanntmachungsfrei38. Daran wird auch deutlich, dass die Erhöhung der Barabfindung für sich gesehen kein rechtliches Problem sein kann. Im Kern geht es daher um die Frage, ob eine freiwillige Erhöhung der Barabfindung nach Einberufung der Hauptversammlung daran scheitern muss, dass für diese erhöhte Barabfindung ab dem Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung kein Übertragungsbericht und kein Prüfungsbericht vorliegt, in dem zur Angemessenheit der erhöhten Barabfindung Stellung genommen wird. 2. Berichtspflichten, Prüfung a) Problemstellung Mit der Feststellung über die Zulässigkeit einer nachträglichen Erhöhung der Barabfindung in der Zeit zwischen der Bekanntmachung der Einberufung zur Hauptversammlung und dem Hauptversammlungstag selbst noch nicht beantwortet ist die Frage, ob eine gesetzliche Verpflichtung zu einer schriftlichen Ergänzung der Erläuterung der Barabfindung im Übertragungsbericht und des Prüfungsberichts besteht oder ob es ausreichend ist, den Übertragungsbericht und den Prüfungsbericht in der Hauptversammlung mündlich zu aktualisieren und auf ergänzende Fragen der Aktionäre zu antworten. Wird eine Rechtspflicht zu einer schriftlichen Ergänzung der Berichte verneint, bleibt gleichwohl die Möglichkeit einer freiwilligen schriftlichen Ergänzung der Berichte unberührt. Deren Erläuterungstiefe wird sich dann freilich danach ausrichten müssen, zu welchem Zeitpunkt zwischen dem Tag der Bekanntmachung der Einberufung zur Hauptversammlung und des Hauptversammlungstages selbst sich hinreichende Erkenntnisse für eine Erhöhung der Barabfindung und des Erhöhungsbetrages gewinnen lassen. Je näher dieser Zeitpunkt zum Hauptversammlungstag rückt, umso weniger Zeit verbleibt für

__________ 38 Vgl. schon oben unter III. 1. So auch Austmann (Fn. 20), § 74 Rz. 60. Zur Verschmelzung Marsch-Barner (Fn. 1), S. 425, 441. Der Frage, ob die Verwaltung ihren Beschlussvorschlag rechtlich zulässig abändern und eine Beschlussfassung über eine höhere Barabfindung vorschlagen könnte, soll hier nicht nachgegangen werden.

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die Ausarbeitung schriftlicher Ergänzungen zu den Berichten. Nach diesen Grundsätzen wird man dann auch entscheiden müssen, ob eine freiwillige ergänzende Prüfung der erhöhten Barabfindung zweckmäßig sein kann. Die Frage einer Pflicht zu einer schriftlichen Berichterstattung über die erhöhte Barabfindung und deren Prüfung ist in der Literatur bisher nicht näher untersucht worden und auch in der Rechtsprechung finden sich dazu kaum Feststellungen39. Wenn aber eine Erhöhung der Barabfindung selbst noch in der Hauptversammlung zugelassen wird40, wird man daraus den Schluss ziehen müssen, dass eine mündliche Aktualisierung der Berichterstattung in der Hauptversammlung für ausreichend und eine vorherige schriftliche Ergänzung der Berichterstattung nicht für erforderlich gehalten wird. Entsprechendes wird dann für eine mündliche Ergänzung des Prüfungsberichts in der Hauptversammlung gelten müssen. b) Regelungsinhalt von § 327c Abs. 2 und Abs. 3 AktG Der Übertragungsbericht und der Prüfungsbericht sind von der Einberufung der Hauptversammlung an nach § 327c Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 4 AktG in dem Geschäftsraum der Gesellschaft zur Einsicht der Aktionäre auszulegen. Weiterhin sieht § 327d Satz 1 AktG vor, dass diese, auf die zum Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung festgelegte Barabfindung bezogenen Berichte auch in der Hauptversammlung auszulegen sind. Die Berichterstattungspflicht nach § 327c Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 AktG betrifft daher die zum Zeitpunkt der Einberufung der Hauptversammlung vom Hauptaktionär festgelegte Barabfindung. Auf die „beschlossene“ Abfindung stellen die genannten Vorschriften nicht ab. Sie sehen auch nicht vor, dass die schriftlichen Berichte bis zur Hauptversammlung oder in dieser selbst schriftlich aktualisiert werden müssten, wenn sich nach Einberufung der Hauptversammlung die der Berichterstattung zugrunde liegenden Verhältnisse geändert haben. Das ist auch der eindeutig geäußerte Wille des Gesetzgebers, nach dem die im schriftlichen Bericht enthaltenen Ausführungen ggf. in der Hauptversammlung zu aktualisieren sind41. Im Gesetz selbst ist der Zielkonflikt angelegt, dass die Berichte bereits ab Einberufung der Hauptversammlung ausliegen müssen, nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG aber die Verhältnisse der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Hauptversammlung berücksichtigen müssen. Damit gibt das Gesetz eine Prognose über diese Verhältnisse vor, deren Eintrittswahrscheinlichkeit zwingend mit Unwägbarkeiten verbunden ist. Ein Auseinanderfallen von Prognose und tatsächlichen Verhältnissen am Tag der Hauptversammlung kann nicht ausgeschlossen werden und hierfür kommen vielfältige Gründe in Betracht (tatsächliche Ertragsentwicklung bei der Gesellschaft, Zinsniveauänderungen, rechtliche

__________

39 S. dazu oben unter III. Ausdrücklich gegen eine gesetzliche Pflicht zu einem Nachtragsbericht Austmann (Fn. 20), § 74 Rz. 45. 40 Vgl. die Nachw. oben unter III. 41 BT-Drucks. 14/7034, S. 73.

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Änderungen, unvorhersehbare Ereignisse usw.). Es wäre aber ein Widerspruch in sich, wenn das Gesetz dem Hauptaktionär einerseits diese Prognose auferlegt und damit auch davon ausgehen muss, dass es zu von der Prognose abweichenden Entwicklungen kommt, andererseits aber eine Beschlussfassung der Hauptversammlung auf der Basis des Übertragungsberichts und des Prüfungsberichts zur ursprünglichen Barabfindung mit dessen mündlicher Aktualisierung in der Hauptversammlung nicht mehr zulassen wollte. c) Gesetzesbegründung Auf den Wortlaut von § 327c Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 AktG lässt sich daher das Erfordernis einer ergänzenden schriftlichen Berichterstattung bei einer freiwilligen Erhöhung der Barabfindung nicht stützen. Auch sonst enthalten die §§ 327a ff. AktG keinen Anhaltspunkt für eine solche Rechtsauffassung. Es kann daher nur um die Frage gehen, ob dem Gesetz ein unausgesprochener Grundsatz zugrunde liegt, das über eine höhere als die ursprünglich festgelegte Barabfindung nur dann ein Beschluss der Hauptversammlung gefasst werden darf, wenn für diese höhere Barabfindung eine den Anforderungen des § 327c Abs. 2 AktG genügende oder im Rahmen des Möglichen genügende schriftliche Berichterstattung vorliegt. Auch dafür enthält die Gesetzesbegründung freilich keinen Anhaltspunkt. Wenn die Gesetzesbegründung generell eine mündliche Aktualisierung der Berichterstattung in der Hauptversammlung ausdrücklich zulässt42, spricht das sehr dafür, dass diese Aktualisierung auch als Grundlage für eine Beschlussfassung über eine erhöhte Barabfindung ausreichend ist. Denn zentraler Inhalt der Berichterstattung ist die Erläuterung der Angemessenheit der Barabfindung und deshalb ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch gerade diesen Fall im Auge hatte, wenn er in der Gesetzesbegründung auf die Möglichkeit einer mündlichen Aktualisierung der Berichterstattung in der Hauptversammlung hinweist. Von dieser mündlichen Aktualisierungsmöglichkeit diejenigen Fälle auszunehmen, in denen es um eine Änderung der der Barabfindung zugrunde liegenden Wertverhältnisse geht, die dazu führt, dass eine höhere als die ursprünglich festgelegte Barabfindung gerechtfertigt ist, wäre sachlich nicht überzeugend. Denn gerade die Frage, ob eine höhere Barabfindung gerechtfertigt ist, ist für die Minderheitsaktionäre von besonderem Interesse. d) Zwischenergebnis: Mündliche Aktualisierung der Berichterstattung in der Hauptversammlung Im Falle der nachträglichen Erhöhung der Barabfindung nach Einberufung der Hauptversammlung ist eine schriftliche Aktualisierung des Übertragungsberichts und des Prüfungsberichts gesetzlich nicht vorgeschrieben. Der Übertragungsbericht und der Prüfungsbericht können und müssen in der Hauptversammlung mündlich aktualisiert werden, unter Offenlegung der wertverän-

__________ 42 BT-Drucks. 14/7034, S. 73.

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dernden Umstände und Darlegung der Folgen für die Herleitung der angemessenen Barabfindung. Zweckmäßig, aber in rechtlicher Sicht nicht erforderlich, sind im Regelfall schriftliche Ergänzungen zum Übertragungsbericht und zum Prüfungsbericht, soweit diese im Hinblick auf den Hauptversammlungstermin noch möglich sind. Da es sich aber um freiwillige Maßnahmen handelt, kann in etwaigen Unzulänglichkeiten der ergänzenden schriftlichen Berichterstattung kein Anfechtungsgrund liegen. Unberührt bleibt die Pflicht des Vorstands, in der Hauptversammlung gemäß § 131 AktG Fragen zu beantworten, die die Erhöhung der Barabfindung betreffen.

V. Ergebnisse 1. Führen nach Einberufung der Hauptversammlung bis zum Tag der Hauptversammlung Änderungen von bewertungsrelevanten Umständen der zu bewertenden Gesellschaft für den Hauptaktionär zu der Erkenntnis, dass die von ihm ursprünglich festgelegte und in der Einberufung zur Hauptversammlung bekannt gemachte Barabfindung nicht mehr angemessen ist, bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen eine freiwillige nachträgliche Erhöhung der Barabfindung durch den Hauptaktionär und die Beschlussfassung der Hauptversammlung über diese erhöhte Barabfindung. 2. Im Falle der freiwilligen Erhöhung der Barabfindung ist eine schriftliche Ergänzung des Übertragungsberichts und des Prüfungsberichts rechtlich nicht vorgeschrieben. Eine Aktualisierung der Berichterstattung mündlich in der Hauptversammlung ist ausreichend. Unberührt bleibt eine vorherige freiwillige ergänzende schriftliche Berichterstattung, wenn und soweit sie unter Berücksichtigung der bis zum Hauptversammlungstag noch verbleibenden Zeit möglich ist. 3. Eine Anfechtung des Squeeze out-Beschlusses kann nicht darauf gestützt werden, dass der Hauptaktionär die ursprünglich angebotene Barabfindung zur Beschlussfassung stellt, obwohl er nach Einberufung der Hauptversammlung auf Grund wertverändernder Umstände erkannt hat, dass die Barabfindung nicht mehr angemessen ist. Auch in diesem Fall erfolgt die Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung ausschließlich im Spruchverfahren. 4. Eine Absage der Hauptversammlung und die Vorbereitung und Durchführung einer neuen Hauptversammlung zur Beschlussfassung über eine erhöhte Barabfindung ist daher nicht erforderlich. 5. Eine Anfechtung des Squeeze out-Beschlusses kann aber auch nicht darauf gestützt werden, dass der Hauptaktionär auf Grund nach Einberufung der Hauptversammlung eingetretener wertverändernder Umstände die ursprünglich angebotene Barabfindung freiwillig erhöht und die Gründe für die Erhöhung der Barabfindung und deren Angemessenheit in der Hauptversammlung in Aktualisierung der schriftlichen Berichterstattung mündlich erläutert werden.

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6. Nicht zu folgen ist daher einer vom Kammergericht – in einem unveröffentlichten Hinweisschreiben vom September 2007 in einem Squeeze outFreigabeverfahren – geäußerten Auffassung, nach der eine nach Einberufung der Hauptversammlung als nicht mehr angemessen erkannte Barabfindung in der Hauptversammlung nicht mehr zur Beschlussfassung gestellt werden darf und auch nicht über eine freiwillig erhöhte Barabfindung ein Beschluss gefasst werden darf, sondern eine neue Hauptversammlung einzuberufen ist mit vorheriger Festlegung der neuen Barabfindung, Erstellung eines neuen Übertragungsberichts, Durchführung einer neuen Prüfung und Erstellung eines neuen Prüfungsberichts. Diese Auffassung des Kammergerichts findet in den §§ 327a ff. AktG keine Stütze und ist auch praxisuntauglich.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?* Inhaltsübersicht I. Zueignung II. Entwicklungsgeschichte und System 1. Die Epochen: Rechtsfortbildung – Novelle 1980 – Insolvenzordnung – MoMiG 2. Das MoMiG als gesetzliche Grundlagenentscheidung 3. Verhältnis zu § 64 GmbHG III. Finanzierungsverantwortung und Finanzierungsentscheidung als Wertungsgrundlagen 1. Vorausgegangenes Recht 2. Kontinuitätslehren 3. Diskontinuitätslehren 4. Der eigene Standpunkt 5. Zur „Finanzierungsentscheidung“ IV. Drittzurechnung als Testfall 1. Ersetzt § 138 InsO den § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a.F.?

2. Gesellschaftergleiche Dritte: eine Frage der Finanzierungsverantwortung 3. Zeitliche Limitierung der Drittzurechnung? 4. Zahlungen an nahestehende Dritte V. Nutzungsüberlassung als Sonderproblem 1. Altes Recht und MoMiG 2. Systematik 3. Einfluss auf die Beratung 4. Verhältnis zu § 64 GmbHG VI. Ausblick 1. Insolvenzrecht und Unternehmensfinanzierung 2. Vordringen des positiven Rechts 3. Wettbewerb der Konzepte

I. Zueignung Die nachfolgenden Ausführungen sind hervorgegangen aus dem Vortrag auf dem wissenschaftlichen Symposion zum Gedächtnis von Martin Winter am 23.4.2010 in Mannheim. Das Thema war damals von den Veranstaltern offenkundig in der Absicht ausgewählt, dass nicht über ein durch Martin Winter selbst mehr oder weniger ausgeschriebenes Kapitel des Gesellschaftsrechts, aber doch in seinem Geiste zu sprechen war. Das wird auch für die nachfolgende Druckfassung gelten. Denn zum einen ist sein akademisches Mutterland, die von Peter Ulmer begründete gesellschaftsrechtliche Schule, mit der Thematik auf das Engste verknüpft. Und zum anderen ist die Thematik in ihren

__________ * Aktualisierte und überarbeitete Fassung des Vortrags bei der Gedächtnisveranstaltung für Dr. Martin Winter am 23. April 2010 in Mannheim, die Vortragsfassung erschien gemeinsam mit den Würdigungen durch Jochem Reichert und Wolfgang Zöllner und dem wissenschaftlichen Vortrag von Ulrich Huber in einer Beilage zu ZIP Heft 19/2010; der Verfasser dankt für das Einverständnis der Herausgeber und der ZIPSchriftleitung mit der überarbeiteten Publikation in der Gedächtnisschrift.

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Fragestellungen wie auch in ihrer Entwicklung durch genau das gekennzeichnet, was Martin Winters juristische Leistungen prägte: die Verbindung von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, von Theorie und Praxis, schließlich von Gesetzesrecht und Rechtsfortbildung. In diesem Sinne legt der Beitrag, wie schon der Vortrag, leitsatzartige Thesen vor, die zum Zweck weiterer Diskussion begründet und paraphrasiert werden.

II. Entwicklungsgeschichte und System 1. Die Epochen: Rechtsfortbildung – Novelle 1980 – Insolvenzordnung – MoMiG Leitsatz 1: Das Recht der Gesellschafterdarlehen blickt auf fünf Epochen zurück: (a) das reine Rechtsprechungsrecht vor der GmbH-Novelle von 1980, (b) die positivistisch angelegte GmbH-Novelle, (c) die Verteidigung des Rechtsprechungsrechts seit dem Urteil BGHZ 90, 270, (d) die weitgehende Fortsetzung dieses Zustands unter der Insolvenzordnung sowie schließlich (e) die Rechtslage nach dem MoMiG.

Blickt man auf die Entwicklung des Sonderrechts der Gesellschafterdarlehen, so ist eine allmähliche Auswanderung der Materie aus dem klassischen Gesellschaftsrecht und eine zunehmende Inbesitznahme durch das Insolvenzrecht zu bemerken1. Mit dieser Entwicklung ging eine zunehmende Loslösung vom Boden des Rechtsprechungsrechts und Verankerung im positiven Gesetzesrecht einher. Fünf historische Phasen lassen sich unterscheiden: a) Vor der GmbH-Novelle von 1980 fehlte es an positiven Regeln im Gesetz. Es entstand reines Rechtsprechungsrecht, das von den einen auf insolvenzrechtliche (damals konkursrechtliche)2, häufiger dagegen auf gesellschaftsrechtliche Prinzipien gläubigerschützender Unternehmensfinanzierung zurückgeführt wurde3. Eigenkapitalersatz wurde praeter legem zur Stärkung des Gläubigerschutzes den gesellschaftsrechtlichen Kapitalsicherungsregeln unterstellt4. Oft zitiert – von Claussen zu Unrecht als zitierunwürdiges Produkt der NS-Vergangenheit diskreditiert5 – ist die zugegebenermaßen etwas rüde Formel des Reichsgerichts, es behandle „die angeblichen Darlehen“ einfach „als das …, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich Gesellschaftereinlagen“6. Der Bundesgerichtshof ging feinsinniger an die Sache heran, meinte aber mit

__________ 1 Zu diesem Phänomen allgemein Eidenmüller in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 305 ff. 2 So etwa Georg Winter, Die Haftung der Gesellschafter im Konkurs der unterkapitalisierten GmbH, 1973, S. 126 ff.; Haas, NZI 2000, 1 ff.; Fischer, ZIP 2004, 1477 ff.; Ulmer, NJW 2004, 1201. 3 Angaben bei Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, §§ 32a, 32b Rz. 8; ders., GmbHR 2005, 797, 805. 4 Vgl. nur Bitter, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, S. 299, 308; H.-Fr. Müller, NZG 2003, 414, 417; Zimmer, NJW 2003, 3585; Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 493, 497; ders., GmbHR 2005, 797, 805. 5 Claussen, AG 1985, 174 Fn. 10. 6 RG, JW 1939, 355.

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seinen Hinweisen auf das Verbot widersprüchlichen Verhaltens7 kaum Anderes8. b) Stark insolvenzrechtliche Züge bekam dann zunächst das gesetzliche Eigenkapitalersatzrecht der GmbH-Novelle von 1980. Diese kann nicht als Ruhmesblatt der Bundesgesetzgebung betrachtet werden. Viel mehr als die ziemlich uninteressante Anhebung des Mindeststammkapitals war im Grunde nicht an Neuem herausgekommen. Die Informationsrechte der Gesellschafter (§§ 51a, 51b GmbHG) und die Eigenkapitalersatzregeln waren im Kern längst durch Rechtsprechungsrecht anerkannt9. Was damals im GmbH-Gesetz wirklich fehlte, nämlich eine vereinfachte Kapitalherabsetzung zu Sanierungszwecken nach dem Vorbild der §§ 229 ff. AktG, wurde erst 15 Jahre später durch die Insolvenzrechtsreform eingeführt10. Und wo die GmbH-Reform Farbe bekennen wollte, schüttete sie teils das Kind mit dem Bade aus (Informationsrecht)11 und schuf teils, nämlich im Kapitaleratzrecht, ein unsystematisches Durcheinander12. Die Kapitalersatzregeln waren seither auf GmbH-Gesetz13, HGB14, Konkursordnung15 und Anfechtungsgesetz16 verteilt, während das Aktiengesetz weiterhin schwieg17. Und doch wies die Novelle in einem Punkt in eine noch heute aktuelle Richtung: Hätte sich der Gesetzeswortlaut als „geltendes Recht“ verdrängend vor das auf der zuvor angenommenen Lückenhaftigkeit des Gesetzes basierende Fallrecht geschoben, so wäre das Kapitalersatzrecht schon im Jahr 1980 rein konkursrechtlich geworden. Denn was stand in den damals neuen §§ 32a und 32b GmbHG a. F.? § 32a GmbHG modifizierte die §§ 138 ff. KO dahin, dass Eigenkapitalersatzforderungen in der Insolvenz der Gesellschaft nicht zur Tabelle angemeldet werden durften. Und § 32b GmbHG über die Rückzahlung gesellschafterbesicherter Darlehen war, was lange verkannt wurde, nichts als eine den § 32a KO ergänzende Konkursanfechtungsvorschrift, die sich in das

__________ 7 BGHZ 31, 311, 314; ähnlich BGHZ 67, 171, 175; BGHZ 75, 334, 336; Fleck, LM Nr. 6 und 11 zu § 30 GmbHG. 8 Die Kritik des Verfassers (Scholz [Fn. 3], §§ 32a, 32b Rz. 6) richtet sich nur gegen die Behandlung des Verbots als Wertungsgrundlage; eine solche kann es nicht liefern, ist ihrer vielmehr bedürftig. 9 Vgl. zum Informationsrecht BGHZ 14, 60 = JZ 1955, 47 m. Anm. Schilling; zum Kapitalersatzrecht Fn. 7. 10 Art. 48 Nr. 4 EGInsO v. 5.10.1994, BGBl. I 1994, 2931. 11 Dazu Karsten Schmidt in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 559 ff. 12 Kritik etwa bei Hommelhoff in v. Gerkan/Hommelhoff, Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl. 2002, Rz. 1.2, 1.3. 13 §§ 32a, 32b GmbHG a. F. 14 §§ 125a, 177a HGB a. F. 15 § 32a KO. 16 § 3 AnfG a. F. 17 Zum Recht der eigenkapitalersetzenden Aktionärskredite vgl. BGHZ 90, 381 = JZ 1984, 1031 m. Anm. Schwark = NJW 1984, 1893; BGH, AG 2005, 617 = NZG 2005, 712 = ZIP 2005, 1316; OLG Düsseldorf, AG 1891, 401; OLG Köln, ZIP 2009, 808; Karsten Schmidt in FS Hüffer, 2009, S. 885 ff.; Veil, ZGR 2000, 223 ff.

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GmbH-Gesetz verirrt hatte18 und bis zum MoMiG19 dort ausharren sollte. Insgesamt jedoch machte das Novellengemisch den Eindruck, als sei die Verlagerung des Eigenkapitalersatzrechts in das damalige Konkursrecht doch so ganz ernst nicht gemeint. Die Novellenregeln lasen sich, als sprächen sie nur von den insolvenzrechtlichen Konsequenzen genuin gesellschaftsrechtlicher Sachverhalte. Vor allem aber: Sie schmälerten, wenn man sie ernst nehmen wollte, den vom Bundesgerichtshof längst auf der Basis der §§ 30, 31 GmbHG herausgearbeiteten Gläubigerschutz20. Das wiederum bedeutete: Es fehlte der Novelle nicht nur an systematischer Stringenz, sondern auch an rechtspolitischer Kraft. c) Kein Wunder also, dass der II. Zivilsenat im Jahr 1984 gegen alle von Montesquieu bis Larenz herausgebildeten Schulregeln21 eine Fortgeltung der deutlich stärkeren gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechungsregeln neben diesem insolvenzrechtlichen Mischmasch durchsetzte22. Dies brachte eine weitere Schwächung der Novellenregeln von 1980 mit sich. Durch die fortgesetzte Anwendung des § 31 GmbHG waren vor allem die Konkursanfechtungsregeln mit ihren einschränkenden, den Konkursverwalterzugriff begrenzenden Fristen23 marginalisiert. Es war dies ein Sieg des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes über das kleinteilige positive Insolvenzrecht. Das Resultat war das oft bestaunte und kritisierte Nebeneinander von dominierenden Rechtsprechungsregeln und defizitären Gesetzesregeln. Ernst genommen wurden – auch dies nur teilweise zu Recht! – nicht die Kernregeln des Kapitalersatzrechts, sondern allein die im April 1998 eingeführten, sich bis in das gegenwärtige Recht fortschleppenden Sonderregeln für Kleinbeteiligungen (§ 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG a. F.)24 und für Sanierungsbeteiligungen (§ 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG a. F.)25, die wir heute in § 39 InsO wiederfinden26. Aber dies waren nicht systembildende Elemente des Kapitalersatzrechts, sondern Privilegien zur punktuellen Durchbrechung der Kapitalersatzregeln27. Aus heutiger Sicht ist hieraus erkennbar: Die im MoMiG angelegte positivistische Kleinteiligkeit fing, was gut zu ihr passt, ihrerseits ganz klein an! d) Das Jahrzehnt zwischen dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung und des MoMiG (1999–2008) änderte an diesem Rechtszustand nichts, wenn man von der rein systematischen Umwandlung der bis dahin nicht anmeldungsfähigen

__________ 18 Vgl. BGHZ 123, 289, 293 f. = LM Nr. 7 zu § 32b GmbHG m. Anm. Heidenhain = GmbHR 1994, 50, 51; ausführlich zur insolvenzanfechtungsrechtlichen Natur und den Folgen für die Praxis Karsten Schmidt, DB 1998, 1505 f. 19 Heute § 135 Abs. 2 InsO. 20 Zu den Folgeproblemen Karsten Schmidt, ZGR 1980, 567 ff. 21 Vgl. die Glosse des Verfassers in JZ 1984, 880 f. 22 BGHZ 90, 370 = ZIP 1984, 698. 23 Die Fristen wiesen von der Insolvenzverfahrenseröffnung in doppelte Richtung: rückwärts durch Nicht-Relevanz früher Rückzahlungen (§ 32a KO, § 135 InsO) und vorwärts als Verfristung des Anfechtungsrechts (§ 41 KO, § 147 AnfG). 24 Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz v. 20.4.1998, BGBl. I 1998, 707. 25 KonTraG v. 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786. 26 § 39 Abs. 5 und Abs. 4 Satz 2 InsO. 27 Zur rechtspolitischen Beurteilung vgl. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/ Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 4. Aufl. 2009, Rz. 2.68 ff.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

Forderungen in nachrangige Insolvenzforderungen (§ 32a GmbHG a. F., §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO)28 absieht. Der de-facto-Primat der §§ 30, 31 GmbHG blieb. Und da nachrangige Forderungen erst nach der Vollbefriedigung der Insolvenzgläubiger auf besondere Aufforderung angemeldet werden (§ 174 Abs. 3 InsO), änderte sich auch nichts an der de-facto-Unanmeldbarkeit der Gesellschafterforderungen. e) Erst durch das MoMiG wurde der uns heute beschäftigende Wandel herbeigeführt. Der Vorrang des neuen Gesetzesrechts wird durch die gegen den II. Zivilsenat gerichtete Nichtanwendungsregel des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG zwangsexekutiert. Dieser Vorgang ist und bleibt bemerkenswert29. Der Gesetzgeber sperrt den II. Senat gleichsam wie ein ungezogenes Kind in den Keller: „Die Sache von 1984 passiert nicht noch einmal!“ Er gibt sich aus Sorge vor weiteren Bubenstreichen der Gerichte auch nicht mit einer Klarstellung des Vorrangs des neuen Gesetzesrechts in der Regierungsbegründung zufrieden. Es ist dies nicht die einzige Nichtanwendungsregel in § 30 GmbHG n. F. (vgl. nämlich Abs. 1 Satz 2), und es steht zu hoffen, dass diese Art von Gesetzgebung nicht Schule macht. Gesetze sollten aus sich heraus verständlich sein. Regeln, die nach Jahr und Tag mühsamer Erklärung bedürfen („Ach wissen Sie, es hatte da einmal so eine Rechtsprechung gegeben …“), genügen unseren kodifikatorischen Ansprüchen nicht. Dass darüber hinaus in der Sache viel für die lange Rechtsprechungstradition sprach und der entscheidende Vorteil des neuen Rechts vielleicht nur in seiner kruden Rigidität und Einfachheit besteht, sei hier nicht noch einmal ausgeführt30. Doch soll im Folgenden nur noch vom neuen Recht die Rede sein. 2. Das MoMiG als gesetzliche Grundlagenentscheidung Leitsatz 2: Das Sonderrecht der Gesellschafterdarlehen nach dem MoMiG enthält eine dreifache Grundsatzentscheidung: eine Hinwendung zum Insolvenzrecht, eine Abwendung von rechtsformspezifischen Regeln und eine weitgehende Verdrängung des vormaligen Rechtsprechungsrechts.

a) Der Migrationshintergrund der neuen Gesetzesregeln macht ihre Sozialisation im Recht ebenso schwierig wie unsere Verständigung mit ihnen. Unverkennbar ist die Verlegung der Bestimmungen in die Insolvenzordnung mehr als bloß ein redaktionelles Stühlerücken. Sie will auch mehr bewirken als die schon erwähnte Beendigung einer sich auf §§ 30, 31 GmbHG stützenden Gerichtspraxis, geht also über die soeben kritisierte Nichtanwendungsregelung hinaus. Sie ist ein Bekenntnis zu einem rein insolvenzrechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Konzept und zum Bestreben nach Klarheit und Einfachheit. Auf den ersten Blick ergibt sich hieraus nur:

__________ 28 Zur praktischen Bedeutung der Nachrangigkeit vgl. Runkel, Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, 2005, § 5 Rz. 282. 29 Vgl. Fleischer/Wiedemann, AcP 210 (2010), 597, 618 ff.; Karsten Schmidt, JZ 2009, 10, 17 f. 30 Zusammenfassend Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl., Bd. III 2010, Nachtrag §§ 32a/b a. F. Rz. 9; zuvor etwa ders., ZIP 2006, 1925, 1926.

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– erstens die Beseitigung der auf § 30 gestützten, vor einer Insolvenzverfahrenseröffnung wirksamen Rückzahlungsverbote und – zweitens die strenge Fristgebundenheit von Wiedereinzahlungsklagen aus § 135 InsO bzw. im Bereich der Einzelvollstreckung aus § 6 AnfG im Gegensatz zu § 31 GmbHG. b) Genau diese Fristgebundenheit hatte die § 135 InsO, § 6 AnfG bis 2008 ein Mauerblümchendasein in der durch § 31 GmbHG dominierten Prozesspraxis fristen lassen. Heute verschafft sie dem Rückzahlungsempfänger einen sicheren Hafen, wenn die Gesellschaft nach dem Rückfluss des Darlehens noch ein Jahr lang ohne Insolvenzantrag durchhält. Die Beseitigung des Rechtsprechungsrechts verspricht ein gutes Stück Rechtssicherheit, auf Kosten der bisherigen Höhe des Gläubigerschutzes. c) Blickt man weiter ins Allgemeine, so wurde mehr aufgegeben als ein gesellschaftsrechtliches Waffenarsenal für Insolvenzverwalterprozesse. Denn was sich in der Kapitalersatzpraxis des Bundesgerichtshofs angebahnt hatte, war die Etablierung von ausdifferenzierten Regeln über die Unternehmensfinanzierung unter Einziehung sogenannten Mezzaninkapitals. Die Ausdehnung dieser Regeln praeter legem und gegen die damals herrschende Meinung auf die Aktiengesellschaft durch „BuM / WestLB“ im Jahr 198431 war ein wichtiger, von mir freudig begrüßter Schritt in diese Richtung32. Ich hatte sogar vorgeschlagen, die aus dem Kapitalersatzrecht sprechenden Grundsätze ordentlicher Unternehmensfinanzierung weit über die Kapitalgesellschaften und die Kapitalgesellschaft & Co. KG hinaus auszudehnen, sie z. B. auch in dem berühmten „Rektorfall“33 anzuwenden34. Das MoMiG stellt, wenngleich unabhängig von der Rechtsform, wieder ganz auf die beschränkte Haftung als Anwendungsvoraussetzung der Sonderregeln ab (§ 39 Abs. 4 InsO). Bei persönlich haftenden Gesellschaftern bleibt nur ein Rückgriff auf das ganz andersartige Institut der Finanzplandarlehen, und selbst Kommanditisten bleiben als Kreditgeber von der Anwendung der Sonderregeln verschont, wenn sie, wie der Schulrektor im „Rektorfall“, unter dem Schutz eines vermögenslosen Komplementärs agieren (dazu näher unter III 4a). 3. Verhältnis zu § 64 GmbHG Leitsatz 3: Ein zwingendes Rückzahlungsverbot folgt nicht mehr aus der praeter-legemAnwendung des § 30 GmbHG, wohl allerdings aus dem neu eingeführten und ganz andersartigen § 64 Satz 3 GmbHG (im Fall der GmbH & Co. §§ 130a Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 HGB).

__________ 31 BGHZ 90, 381 = JZ 1984, 1031 m. Anm. Schwark = NJW 1984, 1893 „BuM/WestLB“; zum Standpunkt des Verfassers vgl. Karsten Schmidt, ZHR 147 (1983), 165 ff.; zur Weiterentwicklung vgl. Fn. 17. 32 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 531 ff. 33 BGHZ 45, 204 = NJW 1966, 1309. 34 Karsten Schmidt (Fn. 32), S. 532; ders., ZIP 1991, 1 ff.; zust. Szebrowski, MDR 2004, 365, 370; abl. die h. M.; vgl. z. B. BGHZ 112, 31, 39 = GmbHR 1190, 390, 392; Habersack, ZHR 162 (1998), 214.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

a) Es wäre unrichtig zu sagen, es gebe in Anbetracht der Unanwendbarkeit des § 30 GmbHG bei Gesellschafterdarlehen überhaupt kein Rückzahlungsverbot in der Krise mehr. Neu eingeführt wurde ja das in § 64 Satz 3 GmbHG – im Fall einer Aktiengesellschaft § 92 Abs. 2 Satz 3 AktG, im Fall einer GmbH & Co. KG § 130a Abs. 1 Satz 3 HGB – enthaltene Verbot insolvenzauslösender Zahlungen an Gesellschafter. Der Gesetzgeber sucht sogar erklärtermaßen die Beseitigung des gesellschaftsrechtlichen Rückzahlungsverbots durch diese Geschäftsführerhaftung zu kompensieren35. Für die Beratungspraxis bedeutet dies: – Will der Geschäftsführer wissen, ob er Gewinne ausschütten oder sonstige Transferleistungen causa societatis an die Gesellschafter erbringen darf, so muss dies, wie früher, mit Hilfe eines Unterbilanzstatus geprüft werden (§ 30 GmbHG). – Will der Geschäftsführer wissen, ob er ein zur Rückzahlung fälliges, z. B. gekündigtes, Gesellschafterdarlehen zurückzahlen oder darauf Zinsen zahlen darf36, so entscheidet hierüber nicht mehr die Unterbilanzprüfung, sondern der Solvenztest (§ 64 Satz 3 GmbHG). b) Diese neue Asymmetrie müssen wir wohl oder übel als geltendes Recht akzeptieren, und nichts anderes gilt für die Asymmetrie auf der Sanktionsseite: Verstößt der Geschäftsführer bei einer Ausschüttung gegen § 30 GmbHG, so haftet primär der Empfänger (§ 31 Abs. 1 GmbHG), sekundär haften die Mitgesellschafter (§ 31 Abs. 3 GmbHG) und nur eventuell, nämlich im Wege des Schadensersatzes, ist der Geschäftsführer dran (vgl. § 43 Abs. 3 GmbHG). Bei einer gegen § 64 GmbHG verstoßenden Rückzahlung eines Darlehens ist der Geschäftsführer, wenn er sich nicht entlastet, unmittelbar zur Erstattung verpflichtet, ohne – so der Bundesgerichtshof schon für den bisherigen § 64 Abs. 2 GmbHG a. F.37 – den Insolvenzverwalter auf eine Anfechtungsmöglichkeit gegenüber dem Empfänger verweisen zu können. Mit dieser Asymmetrie auf der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite geht eine Unstimmigkeit im Grundsätzlichen einher. Wenn nämlich der Gesetzgeber sowohl die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) als auch das Recht der Gesellschafterdarlehen (§§ 39, 135, 143 InsO) mit solcher Entschiedenheit dem Insolvenzrecht zuweist, ist die nach wie vor rein gesellschaftsrechtliche Ansiedelung der Zahlungsverbote (§ 64 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG, § 130a Abs. 1 HGB) im Gesellschaftsrecht mindestens redaktionell verwirrend.

__________ 35 Hinweis in BT-Drucks. 16/6140, S. 46. 36 § 64 Satz 3 GmbHG geht mit einem Recht und einer Pflicht zur Zahlungsverweigerung einher; vgl. Gehrlein in Kölner Schrift zur InsO, 3. Aufl. 2009, Kap. 26 Rz. 38; anders vereinzelt OLG München, GmbHR 2010, 816, 817; OLG München, GmbHR 2011, 195, 196; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 64 Rz. 99. 37 BGHZ 131, 325 = GmbHR 1996, 221; dazu Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 64 Rz. 17.

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Karsten Schmidt

III. Finanzierungsverantwortung und Finanzierungsentscheidung als Wertungsgrundlagen Leitsatz 4: Die Wertungsgrundlagen des vormaligen Eigenkapitalersatzrechts beruhten auf dem Gedanken der Finanzierungsverantwortung („Finanzierungsfolgenverantwortung“), auf dem Tatbestand der Krise (§ 32a Abs. 1 GmbHG a. F.) und auf der Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters in der Krise. Die Einschätzung des neuen Rechts reicht von – strikten Kontinuitätslehren (Altmeppen und Bork, modifiziert auch Hirte und Pentz) bis hin zu – strikten Diskontinuitätslehren (repräsentativ Huber und Habersack).

1. Vorausgegangenes Recht Das Rechtsprechungsrecht über den Eigenkapitalersatz hatte seine Wertungsund Zurechnungsgrundlage in der Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter gesehen: Die Finanzierungsverantwortung machte aus der Kreditgewährung eine einlagenähnliche Transaktion und aus dem Kreditgeber einen Quasi-Inferenten. Durch diesen Hintergrund unterschied sich der Gesellschafter von einem außenstehenden Fremdkapitalgeber, das von ihm gegebene Darlehen also von einem ordinären Kredit38. Das entscheidende Schlagwort hieß also – und ich meine: so heißt es noch heute – „Finanzierungsverantwortung“. Allerdings bedarf es bei diesem Wort kurzen Innehaltens. Wer heute noch das Wort „Finanzierungsverantwortung“ in den Mund nimmt, muss sich ja in doppelter Weise gegen den Eindruck des ewig Gestrigen zur Wehr setzen. – Zum einen wird schon seit langem nicht mehr von der „Finanzierungsverantwortung“ gesprochen, sondern brav von der „Finanzierungsfolgenverantwortung“. Das gilt als notwendige Vorkehrung, damit bloß niemand denkt, man halte den Gesellschafter aufgrund dieser Floskel gar für unbeschränkt nachschusspflichtig (so der BGH seit Band 127 seiner Amtlichen Sammlung)39. Ich nehme mir die Freiheit, diese gebräuchliche Form terminologischer „corporate correctness“ nicht mitzumachen40. Da an eine Alimentierungspflicht der Gesellschafter nicht ernsthaft zu denken ist, da es vielmehr nur um die Sonderbehandlung der Gesellschafter als Kreditgeber und um deren Rechtfertigung geht, ist „Finanzierungsverantwortung“ das richtige Wort. Ganz treffend führte der II. Senat noch in der BuM-Entscheidung von 1984 das Kapitalersatzrecht „im Kern auf ein und denselben Gedanken“ zurück:

__________ 38 Vgl. statt vieler Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, Anh. §§ 32a, b Rz. 4; krit. Fastrich in FS Zöllner, Bd. I, 1998, S. 143 ff. 39 BGHZ 127, 336, 344 f.: „… sog. Finanzierungs- oder präziser, weil der Gesellschafter nicht positiv zum Nachschuss von Kapital verpflichtet, sondern nur am Abzug von in der Krise gewährtem oder belassenem Kapital gehindert wird, Finanzierungsfolgenverantwortung.“ 40 Vgl. nur Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 3), §§ 32a, 32b Rz. 4.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert? „Es ist die Verantwortung des Gesellschafters für eine ordnungsmäßige Unternehmensfinanzierung, die ihn in der Krise zwar nicht positiv verpflichtet, fehlendes Kapital aus seinem Vermögen nachzuschießen, der er sich aber nicht in der Weise zum Nachteil der Gläubiger entziehen kann, dass er bei einer tatsächlich beabsichtigten Finanzierungshilfe, anstatt sie durch die objektiv gebotene Einbringung haftenden Kapitals zu leisten, auf eine andere, ihm weniger riskant erscheinende Finanzierungsform ausweicht (Karsten Schmidt, Gutachten zum 54. Dt. Juristentag, 1982, D. 107 und ZHR 1983, 178 ff.; Ulmer, in: Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl. Anh. § 30 Rdnrn. 12, 84.)“

Das war die „Finanzierungsverantwortung“: richtig benannt und richtig beschrieben! Für deren ängstliche Umbenennung in „Finanzierungsfolgenverantwortung“ bestand und besteht kein Bedürfnis. – Klarstellungsbedürftig ist zum anderen, dass das Kriterium der Finanzierungsverantwortung so, wie damals vom Bundesgerichtshof beschrieben, nach dem MoMiG nicht mehr mit unveränderter Bedeutung fortgeschrieben werden kann, nachdem die neuen Gesetzesregeln auf das für den „Eigenkapitalersatz“ charakteristische Merkmal der Krisenfinanzierung verzichtet haben. Die Frage, wie viel das neue Recht noch mit der Finanzierungsverantwortung zu tun hat, ist damit allerdings nicht beantwortet, und hier führt der Beitrag über bloß terminologische Scharmützel hinaus. 2. Kontinuitätslehren a) Bork41 und Altmeppen42 plädieren mit im Detail unterschiedlichen Erwägungen für eine Kontinuität. Nach ihnen handelt das Recht der Gesellschafterdarlehen nach wie vor von der Krisenfinanzierung und verzichtet nur auf die Prüfung dieses in Wahrheit immer noch tonangebenden Zurechnungsmerkmals: Dieses werde unwiderleglich vermutet43. Ähnlich sieht Heribert Hirte in dem neuen Recht „die unwiderlegliche Vermutung des missbräuchlichen Charakters der Darlehensgewährung durch den Gesellschafter“44. Das ist befremdlich. Mit welchem Recht das Gesetz dieses angeblich nach wie vor so entscheidende Zurechnungsmerkmal der Krisenfinanzierung kurzerhand fingieren, warum es gegen kreditgebende Gesellschafter gewissermaßen eine Verdachtsstrafe ohne Exkulpationschance verhängen soll, ist mit bloß affirmativen Floskeln nicht begründbar45. Und von einem „missbräuchlichen Charakter der Darlehensgewährung“ kann entgegen Hirte schon gar nicht die Rede sein. Die gesellschaftsrechtliche Finanzierungsfreiheit ließ und lässt Gesellschafterdarlehen nicht als missbilligenswert, sondern als eine zulässige, wenn

__________ 41 Bork, ZGR 2007, 250 ff. 42 Altmeppen, NJW 2008, 3601 ff. 43 Bork, ZGR 2007, 250, 257; Altmeppen, NJW 2008, 14; zustimmend Dahl in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, Anh. II §§ 32a, 32b a. F. Rz. 6; s. auch J.-S. Schröder in HambKomm. InsO, 3. Aufl. 2009, § 135 Rz. 8a. 44 Hirte, WM 2008, 1429, 1430. 45 Karsten Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1012.

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auch mit Haftungsfolgen versehene Methode der Unternehmensfinanzierung erscheinen46. Das war so und gilt nach dem MoMiG erst recht. b) Nachdenklich macht in diesem Punkt allerdings ein Beitrag von Andreas Pentz in der Hüffer-Festschrift47. Auch Pentz meint, noch im geltenden Recht Züge des vormalig kapitalersetzenden Stehenlassens von Krediten in der Krise zu erkennen48: Die binnen Jahresfrist vor dem Insolvenzantrag an den Gesellschafter zurückgeflossenen Mittel unterfallen nach Pentz deshalb und nur deshalb dem Sonderrecht der Gesellschafterdarlehen, weil die vorausgegangene Leistung des Gesellschafters (!) insolvenznah49, wohl gar unter der Vermutung drohender Zahlungsunfähigkeit50 erfolgt ist. Und vollends beruht nach seinem Verständnis die Nachrangigkeit eines nicht zurückgeflossenen Gesellschafterdarlehens nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO darauf, dass der Gesellschafter das Darlehen nicht abgezogen, sondern im Vorfeld der Insolvenz „stehen gelassen“ hat. Ich habe in diesem Beitrag zunächst eine plausible Nachbesserung der von Bork und Altmeppen angestellten Überlegungen sehen wollen, habe dann aber doch den entscheidenden Bruch ausgemacht, der diesen Rettungsversuch zum Scheitern verurteilt. Niemand wird zwar bestreiten, dass § 39 InsO nicht zur Anwendung kommt, wenn der Kredit niemals gegeben, und dass § 135 InsO nicht zum Zuge kommt, wenn der Kredit mehr als ein Jahr vor dem Insolvenzantrag zurückgezahlt worden ist. Aber das ist Gesetzeswortlaut, nicht ratio legis. Die anfechtungsrechtliche Zurechnung der in § 135 Abs. 1 InsO beschriebenen Rückzahlung kann nicht darin bestehen, dass der Gesellschafter das Darlehen nicht schon in der Krise „rechtzeitig“ abgezogen hat. Die Anfechtbarkeit erfolgter Rückzahlungen rechtfertigt sich nicht mit der ihnen vorausgegangenen Phase des Stehenlassens, sondern mit der zu kurzen nachfolgenden Phase bis zum endgültigen Absturz der Gesellschaft. Die verdächtige Nähe der Rückzahlung zur späteren Insolvenz, konkretisiert durch die gesetzliche Jahresfrist, hat keine andere Funktion als die ähnlichen Fristen bei den anderen Anfechtungstatbeständen (§§ 130–134, 136 InsO). Richtig ist zwar, dass auch diese Fristen als solche die Anfechtungstatbestände niemals rechtfertigen. Immer müssen wir wissen, warum eine Rechtshandlung dieser oder jener Art dem Gesetzgeber schon deshalb suspekt ist, weil sie in einer hier längeren, da kürzeren kritischen Periode vor dem Zusammenbruch stattgefunden hat. Aber das rechtfertigt eben nicht einen Rückgriff auf das vom Gesetzgeber gerade gestrichene Merkmal der Krisenfinanzierung. Wenn schließlich Pentz im Fall einer Rückzahlung während des kritischen Jahres gar den Gegenbeweis zulassen will, die angeblich nur widerleglich vermutete Krise sei erst nach der Dar-

__________

46 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 3), §§ 32a, 32b Rz. 4 gegen Argumente der Missbilligung (BGHZ 105, 168, 185; Götz, Juristische und ök. Analyse des Eigenkapitalersatzrechts, 2001, S. 65 ff.), Gläubigerschädigung (Reiner in FS Boujong, 1996, S. 443) oder Bereicherung der Gesellschafter auf Kosten der Gläubiger (Engert, ZGR 2004, 824 ff.); ähnlich wie hier jetzt Thiessen in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, Anh. § 30 Rz. 7. 47 Pentz in FS Hüffer, 2009, S. 747 ff. 48 Ebd., S. 760 ff., 767. 49 Ebd., S. 763. 50 Ebd., S. 760 ff.

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lehensrückgewähr eingetreten51, dann widersetzt er sich vollends dem neuen Gesetzeswortlaut und dem Gesetzgeberwillen. Dergleichen wäre nur, wie von Pentz gleichfalls angedeutet52, im Wege einer verfassungskonformen Reduktion des neuen Rechts zulässig. Ein Verstoß gegen Art. 3 oder Art. 14 GG ist aber nicht erkennbar. Die strikten Kontinuitätslehren sind, wie sich damit erweist, auch nach diesem Rechtfertigungsversuch nicht zu retten. 3. Diskontinuitätslehren a) Besondere Autorität unter den Deutern des neuen Rechts wird man seinen Initiatoren zubilligen dürfen, ja: zubilligen müssen: Ulrich Huber und Mathias Habersack53. Sie stehen exemplarisch für die von mir so bezeichneten Diskontinuitätslehren, stehen mit ihrem Standpunkt allerdings nicht allein54. Huber und Habersack sehen die ratio legis in einem neuartigen Versuch des Gesetzgebers, sich einem „Missbrauch der Haftungsbeschränkung“ entgegenzustellen55, wobei der Missbrauchsgedanke naturgemäß institutionell und nicht im Sinne eines individuellen Unwerturteils zu verstehen ist56. Bei Habersack ist von einer regelrechten „Herleitung der Rechtsfolgen des Gesellschafterdarlehens aus dem Prinzip der Haftungsbeschränkung“ die Rede57. Das liest sich so58: „Die rechtspolitische (!) Kernfrage ist entschieden und zwar im Sinne einer – angesichts der beabsichtigten Herabsetzung des Mindestkapitals und der Einführung einer ‚Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)‘ mehr als nachvollziehbaren und zudem auch in Nachbarrechtsordnungen begegnenden – Herleitung der Rechtsfolgen des Gesellschafterdarlehens aus dem Prinzip der Haftungsbeschränkung selbst, dessen missbräuchlicher Ausnutzung durch die Gesellschafter begegnet werden soll. Einer darüber hinausgehenden ‚inhaltlichen Begründung‘59 bedarf es nicht.“

Nichts anderes meint Huber, wenn es bei ihm heißt60: „Nach mehr Dogmatik sollte man nicht verlangen.“ Beide gehen mit diesen Worten zu dem hier vertretenen Standpunkt. Das fordert zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihnen heraus. b) Das gesetzliche Erfordernis der beschränkten Haftung im neuen Recht der Gesellschafterdarlehen (§ 39 Abs. 4 InsO) ist ein Musterbeispiel dafür, wie un-

__________ 51 Ebd., S. 771. 52 Ebd., S. 772. 53 Die folgende Passage ist angelehnt an die Ausführungen aus GmbHR 2009, 1009, 1013. 54 Vgl. Spliedt, ZIP 2009, 145, 153. 55 Huber/Habersack in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370, 393 ff.; Huber in FS Priester, 2007, S. 259, 275 ff.; Habersack, ZIP 2007, 2145, 2147; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2387; zust. OLG Stuttgart, Urt. v. 14.7.2010 – 3 U 50/10, Rz. 24. 56 Vgl. Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 282. 57 Habersack, ZIP 2008, 2385, 2389. 58 Habersack, ZIP 2007, 2145, 2147. 59 Hinweis auf Karsten Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1934; ähnlich Bork, ZGR 2007, 250, 256 f. 60 Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 278.

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terschiedlich selbst noch die einfachsten Tatbestandselemente einer Norm bewertet werden können61. Huber und Habersack ziehen daraus, nachdem es auf das Merkmal der „Krise“ nicht mehr ankommt, direkte Schlüsse auf den Normzweck. Man kann ihre gedankliche Operation wohl unterschiedlich deuten: – als eine Reduktion der ratio legis auf die aus dem Gesetz ablesbaren Merkmale (das wäre eine positivistische Erklärung) oder – als einen Versuch, die Haftungsbeschränkung für Gesellschafter über den hier nicht zum Zuge kommenden gesetzlichen Kapitalschutz hinaus teurer zu machen (ich möchte das als eine ökonomische Erklärung bezeichnen). An beiden Erklärungen ist etwas dran: an der ersten, weil es der Gesetzgeber nun einmal bei den wertarmen Tatbestandsvoraussetzungen „Gesellschaftereigenschaft plus Haftungsbeschränkung plus Kredit“ belassen hat, an der zweiten, weil man ja umgekehrt aus dem, was an gesetzlichen Voraussetzungen bleibt, Rückschlüsse auf den Normzweck ziehen könnte. Das wird auch hier versucht, jedoch mit einem abweichenden Ergebnis. c) Nur kurz nachzutragen, weil dem Missbrauchgedanken von Huber und Habersack nur scheinbar verwandt, ist die jüngst von Markus Gehrlein, Mitglied des für das neue recht zuständigen IX. Zivilsenats, vorgetragene Einschätzung des Normzwecks62. Gehrlein lehnt eine Zurechnung kraft Finanzierungsentscheidung ab und sieht das Ziel in Anlehnung an die GmbH-Novelle von 1980 in einer „Schlechterstellung der über die wirtschaftliche Lage ihres Unternehmens informierten Gesellschafter“63. In der Insolvenz verwandle sich ein Gesellschafterdarlehen „als zunächst nur verdächtige (?) Finanzierungsform … in ein missbräuchliches (?) Finanzierungsinstrument“64. Der Haftungsgrund liege „in der mit einem Gesellschafterdarlehen als verdächtiger, bei Insolvenzeintritt missbräuchlicher Finanzierungsform verbundenen Gefahr der Benachteiligung der anderen Gesellschaftsgläubiger“65. Diese Überlegungen sind, wenn man von dem niemals bezweifelten Gesichtspunkt des „Näher dran“ absieht66, von der hier geführten Diskussion weit entfernt. Das Sonderrecht der Gesellschafterkredite basiert nicht auf Verdacht und auf Unterstellung, sondern auf dem Gedanken der Finanzierungsfreiheit67, und vollends im Insolvenzverfahren ist nicht das Finanzierungsinstrument missbräuchlich, sondern allenfalls die Konkurrenz mit den Insolvenzgläubigern (deshalb § 39 InsO) bzw. der unzeitige Kapitalentzug (deshalb § 135 InsO). Die Frage nach dem Warum ist damit aber nur gestellt, nicht beantwortet.

__________ 61 62 63 64 65 66 67

Wörtlich aus GmbHR 2009, 1009, 1015. Gehrlein, BB 2011, 3, 7 f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), Nachtrag MoMiG §§ 32a, b Rz. 77. Vgl. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), Nachtrag MoMiG §§ 32a, b Rz. 2 ff.

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4. Der eigene Standpunkt Leitsatz Nr. 5: Ein Versuch, das sich in den Vordergrund drängende Merkmal der Diskontinuität mit der Kontinuität der Zurechnungsprobleme in Einklang zu bringen, lässt weiterhin Raum für die Grundgedanken der Finanzierungsverantwortung (sog. Finanzierungsfolgenverantwortung) und der Finanzierungsentscheidung, beide jedoch im Lichte des neuen Rechts (also ohne das Spezifikum der Krisenfinanzierung). Die vormaligen Wertungsgrundlagen und Zurechnungsvoraussetzungen sind durch das MoMiG banalisiert und reduziert, aber nicht ausgewechselt oder ersatzlos beseitigt worden.

Die hier vertretene Ansicht versucht, wie schon an anderer Stelle verdeutlicht68, einerseits das konzeptionell Neue des MoMiG ebenso ernst zu nehmen wie den Gesetzeswortlaut (im Unterschied teils zu Bork und Altmeppen, teils zu Pentz). Aber sie weist auf der anderen Seite die Beschränkung des Sonderrechts der Gesellschafterdarlehen auf Gesellschaften ohne persönliche Haftung (§ 39 Abs. 4 InsO) zurechnungsrechtlich in ihre Schranken. Rechtspolitisch ist § 39 Abs. 4 InsO bindend, ist also eine durch die Rechtsanwendung nicht zu korrigierende (in meinen Augen zu bedauernde) Festlegung (dazu sogleich unter a). Über die Zurechnungsgründe der Sonderbehandlung besagt die Beschränkung der Sonderregeln auf die in § 39 Abs. 4 InsO beschriebenen Rechtsformen dagegen nichts (dazu alsdann unter b)69. a) Dass der Gesetzgeber auf der Voraussetzung einer Gesellschaftsform ohne unbeschränkte Haftung besteht, ist in Anbetracht des Wortlauts von § 39 Abs. 4 InsO nicht zu bestreiten, ebenso wenig wie die Absichtlichkeit dieser Begrenzung. Ein unbestreitbarer Rückschluss hieraus besteht darin, dass der Gesetzgeber – wie ja seit je die herrschende Auffassung70 – den durch Sonderregeln über Gesellschafterdarlehen vermittelten insolvenzrechtlichen Gläubigerschutz nicht für erforderlich hält71, wo es persönliche Haftung gibt, und bestehe diese auch nur – wie in dem legendären „Rektorfall“ von 196672 – in der Haftung eines vermögenslosen Komplementärs. Das Ergebnis ist klar. Bin ich Kommanditist einer gesetzestypischen KG, so gehen mich, meint der Gesetzgeber, die Regeln über Gesellschafterkredite nichts an. Bin ich Kommanditist in einer GmbH & Co., so verhält es sich durchaus anders. Dieser positivrechtliche Zusammenhang mit der Haftungsbeschränkung besteht aber nicht in der die Sonderregel gegenüber dem Gesellschafter rechtfertigenden Wertung, sondern er enthält ausschließlich die Antwort auf die rechtspolitische Opportunitätsfrage, und die lautet: Bei welchen Gesellschaften ist diese Art Gläubigerschutz vonnöten? Diese rechtspolitische Frage ist durch das MoMiG beantwortet. Zu überzeugen vermag dies zwar aus der hier vertretenen Sichtweise nicht, weil persönliche Haftung eines Gesellschafters die Sonderbehandlung der Gesellschafter-Fremdfinanzierung nicht ersetzt (oben unter II. 2.c). Es

__________ 68 69 70 71 72

Karsten Schmidt, GmbHR 2009, 1009 ff. So wohl auch Hölzle, ZIP 2010, 913, 914. Belege zur h. M. bei Fn. 34. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 56 f. BGHZ 45, 204 = NJW 1966, 1309, im „Rektorfall“ hatte der Kommanditist zwischen 1957 und 1960 „mindestens 83 000 DM“, damals viel Geld, zusätzlich zu seiner Kommanditeinlage aufgebracht.

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geht bei dieser Einschätzung aber nur um das Vertrauen des Gesetzgebers in vermeintlich ausreichenden Gläubigerschutz durch persönliche Haftung. Mehr ist dazu nicht zu sagen. b) Das führt uns zu dem de lege lata viel wichtigeren Punkt: dem der rechtfertigenden Zurechnung für die Anwendung der Sonderregeln über Gesellschafterdarlehen. Huber und Habersack haben mit Recht herausgestellt, dass wir hierüber vor allem wegen der Fragen der Drittzurechnung gegenüber QuasiGesellschaftern Klarheit brauchen. Der hier vertretene Standpunkt ist schon bekannt73. Nicht weil sie beschränkt haften – dann hätte ja das Gesetz jeden Kommanditisten einbeziehen müssen – und nicht weil sie besser als andere Gläubiger informiert sind – das müsste ja auch für die Unternehmensleitung und für die Hausbank gelten74 –, sondern weil sie die selbsternannten Investoren sind, müssen sich die Gesellschafter die Sonderbehandlung ihrer Kredite gefallen lassen. Das gilt entgegen allen Beteuerungen noch heute, auch wenn die Tatbestandsanforderungen und Rechtsfolgen der §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO nicht mehr dieselben sind wie im Kapitalersatzrecht von gestern. Die Gesellschaft ist eben, wie es Pentz formuliert, eine „wirtschaftliche Veranstaltung der Gesellschafter“75, und hieran folgt deren Sonderbehandlung. Mit Bezug auf das MoMiG brauchen wir deshalb den Terminus „Finanzierungsverantwortung“ nur von dem Ballast des vormaligen Kapitalersatzrechts zu befreien, dessen ja keineswegs ersatzlose Abschaffung uns eine ganz unbefangene Besinnung auf das erlaubt, was von der „Finanzierungsverantwortung“ noch bleibt: die Finanzierungszuständigkeit. Ulrich Huber formuliert völlig richtig, wenn er nur „das Konzept der ‚Finanzierungsfolgenverantwortung‘ im Sinn der bisherigen Rechtsprechung“ als aufgegeben bezeichnet76. Nicht anschließen möchte ich mich aber seiner Folgerung, man solle nicht mehr von einer „Finanzierungs(folgen)verantwortung“ des Gesellschafters sprechen, denn dies „wäre … geeignet, Verwirrung und Missverständnisse hervorzurufen“, der Terminus habe eben „in der Rechtsprechung des BGH eine spezifische und konkrete Bedeutung“77. Ich sehe im Gegensatz hierzu überhaupt keinen Grund, den Begriff im Lichte des alten Rechts unter Naturschutz zu stellen, um ihn dann mit dem Kapitalersatzrecht aus dem Rechtsvokabular zu verbannen78. Wer sich auf die Banalität des neuen Rechts der Gesellschafterdarlehen einlässt, darf sich damit zufrieden geben, den Begriff „Finanzierungsverantwortung“ nunmehr im einfachen Sinn von „Finanzierungszuständigkeit“ zu verstehen. Das genügt. Wer dies bevorzugt, mag statt von „Finanzierungsverantwortung“ auch von „Risikoübernahmeverantwortung“ sprechen79. Notwendig ist das aber nicht.

__________ 73 74 75 76 77 78 79

Karsten Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1016 (teilweise wörtlich). Dazu auch Krolop, ZIP 2007, 1728, 1741. Pentz in FS Hüffer (Fn. 47), S. 747, 769. Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 283; Hervorhebung vom Verfasser. Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 271. Auch dazu GmbHR 2009, 1009, 1016. So Krolop, GmbHR 2009, 397, 398.

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5. Zur „Finanzierungsentscheidung“ a) Ähnliches gilt für das Kriterium der Finanzierungsentscheidung, das für die Gleichstellung darlehensähnlicher Rechtshandlungen mit Gesellschafterdarlehen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) bedeutsam ist80. Die Eigenkapitalersatzbindung nach dem bis 2008 praktizierten Recht wurde abstrakt durch die „Finanzierungs(folgen)verantwortung“ erklärt, und sie wurde konkret durch eine „Finanzierungsentscheidung“ hergestellt: entweder durch die Kreditausreichung (bzw. Kreditbesicherung) in der Krise oder durch das „Stehenlassen“ des Kredits (bzw. der Sicherheit) in der Krise. Dass es hierzu einer Finanzierungsentscheidung bedurfte, war wohl unstreitig81. Wenn nun gefolgert wird, das Merkmal „Finanzierungsentscheidung“ sei seit dem MoMiG entfallen82, ist dies nur ein neuerliches Beispiel dafür, wie juristisch besetzte Begriffe erstarren und hierdurch einfache Argumente verzerren können. Im Kapitalersatzrecht meinte, wer von einer „Finanzierungsentscheidung“ sprach, ohne weiteres Nachdenken eine „Krisenfinanzierungsentscheidung“83. Lassen wir hiervon den Wortbestandteil „Krise“ weg, so bleibt doch die „Finanzierungsentscheidung“. Und das trifft’s, weil die im Gesetz vorausgesetzte Kreditgewährung (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) bzw. Kreditbesicherung durch den Gesellschafter (§ 44a InsO) oder sonst einem Gesellschafterdarlehen „wirtschaftlich entsprechende“ Leistung (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) eine gesellschaftsbezogene Finanzierungsentscheidung ist, die sich genau hierdurch von anderen Anspruchsbegründungen unterscheidet. Indem der Gesetzgeber dem anfänglichen Vorschlag von Huber und Habersack, wonach alle Gesellschafterforderungen in die §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO einbezogen werden sollten84, nicht gefolgt ist, es vielmehr bei der Beschränkung auf Kredite und kreditähnliche Liquiditätshilfen aus Gesellschafterhand belassen hat85, hat er in genau diesem Sinn hier ein entscheidendes Zeichen gesetzt. b) Das aber bedeutet: Ähnlich wie der Begriff der „Finanzierungsverantwortung“ braucht der Begriff der „Finanzierungsentscheidung“ nur auf die herabgestuften Anforderung des neuen Rechts heruntergefahren zu werden, um in aller Unbefangenheit weiter verwendet werden zu können. Den Nutzen sehen wir nach wie vor bei der Ausdehnung der Sonderregeln auf darlehensähnliche Geschäfte wie Forderungsstundungen, typische stille Beteiligungen usw. (jetzt geregelt in § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO)86. Es ist, wie bisher, die unternehmerische Finanzierungsentscheidung, an der wir die Gleichartigkeit der Finanzierungsleistung mit einem Gesellschafterdarlehen erkennen87.

__________ 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. zum folgenden, z. T. wortgleich, schon GmbHR 2009, 1009, 1016. Vgl. Fn. 38. Vgl. Fn. 77. Vgl. auch Krolop, GmbHR 2009, 397, 398: „bewusste Entscheidung Aug in Aug mit der Krise“. Huber/Habersack, BB 2006, 1, 2 f.; Huber/Habersack in Lutter (Fn. 55), S. 370, 405 f. Ausführlich m. w. N. Karsten Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1016. Für Kontinuität in dieser Hinsicht z. B. auch Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 37), Anh. § 64 Rz. 117; Wicke, GmbHG, 2008, § 30 Rz. 27. Ähnlich jüngst auch Thiessen in Bork/Schäfer (Fn. 46), Anh. § 30 Rz. 7.

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Karsten Schmidt

IV. Drittzurechnung als Testfall 1. Ersetzt § 138 InsO den § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a.F.? Leitsatz 6: Die Gleichstellung dritter Kreditgeber mit Gesellschaftern (Tatbestand des Quasi-Gesellschafters) ist auch in einem insolvenzrechtlich dominierten Recht der Gesellschafterdarlehen nicht dem § 138 InsO zu entnehmen, sondern dem § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, dessen abgekürzte Gleichstellungsformel als Fortschreibung des § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a. F. zu verstehen ist.

Die Behandlung gesellschaftergleicher Dritter steht wohl im Mittelpunkt der gegenwärtigen Normzweckdiskussion. Wenn man den angeblich rein insolvenzrechtlichen Ansatz des neuen Rechts der Gesellschafterdarlehen betrachtet, dann legt dies zunächst eine gleichfalls rein insolvenzrechtliche Behandlung von Quasi-Gesellschaftern nahe. Anders als § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a. F. spricht ja das neue Recht nicht mehr ausdrücklich von diesen Dritten, sondern nur noch von „Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen (also einem Gesellschafterdarlehen) wirtschaftlich entsprechen“ (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO n. F.). Dem Vernehmen nach bekam der II. Zivilsenat schon unter dem alten Recht aus dem IX. Senat zu hören, seine Praxis zum alten § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a. F. sei doch zu eng. Die bessere Richtung weise die anfechtungsrechtliche Regelung über nahestehende Personen in § 138 InsO88. Wollte man nach dem MoMiG in diesem Sinne verfahren – verzichtet sei hier auf die komplette Wiedergabe der Vorschrift –, so wäre jedes Näheverhältnis zu einem Gesellschafter geeignet, einen Dritten zum QuasiGesellschafter zu machen. Indes kann hiervon keine Rede sein. § 138 InsO ist eine Definitionsnorm zur Verwendung für anfechtungsrechtliche Tatbestände89 und Beweislastregeln90, die „nahestehende Personen“ adressieren. Zu diesen Regeln gehört § 135 InsO nicht. Wir werden noch sehen, ob § 138 InsO uns an einer anderen Stelle im Gesellschaftsrecht nützlich sein kann, nämlich auf der Rechtsfolgenseite (dazu unter IV. 4.). Den alten § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG ersetzt die Bestimmung nicht91. Wir müssen uns hier mit der schlechter gefassten Nachfolgeformel in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO begnügen, denn diese neue Regel besagt, wie schon angemerkt, dasselbe wie die alte. 2. Gesellschaftergleiche Dritte: eine Frage der Finanzierungsverantwortung Leitsatz 7: Für die Gleichstellung Dritter als Quasi-Gesellschafter ist auch nach dem MoMiG nicht das Prinzip der Haftungsbeschränkung maßgeblich (so aber Huber und Habersack), sondern nach wie vor der Gedanke der Finanzierungsverantwortung. Dies gilt insbesondere für Treugeber, Konzernmütter und für atypisch stille Gesellschafter.

__________ 88 Die Vorschrift nennt vor allem persönliche und bei juristischen Personen oder rechtsfähigen Personengesellschaften organschaftliche Näheverhältnisse. 89 §§ 133 Abs. 2, 162 Abs. 1 Nr. 1 InsO. 90 §§ 130 Abs. 3, 131 Abs. 2 Satz 2, 132 Abs. 3, § 137 Abs. 2 Satz 2 InsO. 91 So im Anschluss an Habersack, Huber, Hirte und Kleindiek auch OLG Stuttgart, Urt. v. 14.7.2010 – 3 U 50/10, Rz. 26.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

a) Wie schon der in diesem Punkt deutlichere § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a. F. erfasst also § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO stillschweigend auch die Erstreckung auf gesellschaftergleiche Dritte92, und nach wie vor kommt es auf den Wertungszusammenhang mit der Finanzierungsverantwortung und der Finanzierungsentscheidung an. Die Rechtsprechung wird also im Einklang mit der Gesetzesbegründung93 ihre begonnene Konkretisierungsarbeit fortsetzen müssen94. Demgegenüber plädieren Huber und Habersack, der Herleitung auch dieser Zurechnung aus dem Prinzip der Haftungsbeschränkung folgend, für neuartige Zurechnungskriterien95. Außer den unbestreitbaren Fällen der Kreditvergabe für Rechnung des Gesellschafters96 erfasst das Gesetz nach ihnen offenbar nur noch Dritte, die entweder durch Verlustausgleichspflicht (§ 302 AktG) oder Eingliederungshaftung (§ 322 AktG) in einem Vermögensverbund mit dem Gesellschafter stehen97 oder sich sonst „das Prinzip der Haftungsbeschränkung zunutze“ machen98. Der bloß beherrschende Einfluss der Kreditgeberin auf einen Gesellschafter – etwa der Muttergesellschaft im mehrstufigen faktischen Konzern – soll für die Gleichstellung nicht mehr ausreichen99. Erst recht unzureichend sei, wie auch vom BGH am 5.5.2008 entschieden100, die Kreditvergabe statt durch die Gesellschafterin durch ihre Konzernschwester, die mit der Gesellschafterin nur über eine beide beherrschende Muttergesellschaft verbunden ist. Einer solchen Schwestergesellschaft lasse sich nicht entgegenhalten, sie missbrauche das Prinzip der Haftungsbeschränkung101. Für unrichtig hält Habersack102 dagegen eine Entscheidung des OLG Brandenburg103, wonach ein Sparkassendarlehen an eine GmbH, an der ein durch Gewährträgerschaft auch auf die Sparkasse Einfluss nehmender Landkreis mit 20 % beteiligt ist, ein Quasi-Gesellschafterdarlehen ist. Ich halte diese Kritik für ebenso berechtigt wie die Zustimmung zur BGH-Entscheidung, aber doch wohl nur deshalb, weil es auf die unternehmerische Finanzierungsentscheidung eines Quasi-Gesellschafters ankommen muss.

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92 Vgl. für alle Habersack in Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, Rz. 5.23; ders., ZIP 2008, 2385, 2387; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 37), Anh. § 64 Rz. 120; der folgende Text ist angelehnt an die Ausführungen des Verf. in GmbHR 2009, 1009, 1018 f. 93 Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 57. 94 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), Nachtrag MoMiG §§ 32a, b a. F. Rz. 22; so wohl auch AG Hamburg, InsVZ 2010, 421. 95 Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 279 f.; Habersack in Goette/Habersack (Fn. 92), Rz. 5.23; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2389 ff.; zust. OLG Stuttgart, Urt. v. 14.7.2010 – 3 U 50/10. 96 Dazu Habersack, ZIP 2008, 2385, 2389; für die h. M. vgl. etwa BGH, GmbHR 1993, 503, 504 = ZIP 1993, 1072, 1073 = EWiR 1993, 1207 (v. Gerkan); BGH, GmbHR 1997, 125 = ZIP 1997, 115, 116. 97 Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 280; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2391. 98 Vgl. Habersack, ZIP 2008, 2385, 2388. 99 Habersack, ZIP 2008, 2385, 2390. 100 BGH, GmbHR 2008, 758 m. Komm. Blöse = ZIP 2008, 1230. 101 Habersack, ZIP 2008, 2385, 2390. 102 Habersack, ZIP 2008, 2385, 2391, 2392. 103 OLG Brandenburg, ZIP 2006, 184; rechtskräftig nach erfolgloser Nichtzulassungsbeschwerde.

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b) Hier können die schwierigen Konzernprobleme bei der Drittzurechnung von Kreditverhältnissen im Bereich des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nicht ausdiskutiert werden104. Es mag Fälle geben, bei denen sich die Haftungsorientierung des Zurechnungstatbestands scheinbar bestätigt, etwa indem die Kreditvergabe durch ein von der Gesellschafterin beherrschtes Drittunternehmen105 strenger behandelt werden muss als die für eigene Rechnung erfolgende Kreditvergabe durch ein die Gesellschafterin faktisch beherrschendes Unternehmen106. Auch die Zurechnungsprobleme der Kreditvergabe durch Konzernschwestern107 sind zugegebenermaßen kompliziert. Für einzelfallgerechte Lösungen im Annäherungswege taugt aber nicht die Formel vom Missbrauch der Haftungsbeschränkung, sondern die Frage, ob der Kredit in Ausübung der gesellschaftertypischen unternehmerischen Finanzierungszuständigkeit gegeben wurde. c) Dies gilt auch für die Kreditgewährung durch stille Gesellschafter. Der typische stille Gesellschafter wird einem GmbH-Gesellschafter nicht gleichgestellt108. Dies rechtfertigt sich aber nicht mit der Erwägung, dass eine persönliche Haftung des stillen Gesellschafters von vornherein außer Betracht bleibt, so dass kein Missbrauch der Haftungsbeschränkung vorliegt109. Die Sache ist vielmehr die, dass ein typischer stiller Gesellschafter i. S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO in dieser Eigenschaft Kreditgeber ist. Atypische stille Gesellschafter – vor allem in Fällen der „GmbH & Still“110 – können dagegen wie Kommanditisten einer GmbH & Co. KG behandelt werden, dies aber nicht, weil sie Haftungsvorteile missbrauchen111, sondern weil sie, wie ich es nenne, „Innenkommanditisten“ und Mitunternehmer i. S. von § 15 EStG sind112. Die „GmbH & Still“ ist eine virtuelle GmbH & Co. KG, deren Gesellschaftsvermögen nur mangels Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft treuhänderisch von der GmbH gehalten wird. Nicht als GmbH-Gesellschafter oder Quasi-GmbH-Gesellschafter, sondern als (Quasi-)Kommanditisten tragen die stillen Gesellschafter Finanzierungsverantwortung. Darlehen, die die stillen Gesellschafter einer „GmbH & Still“ der GmbH geben, werden ebenso behandelt wie Kommanditistendarlehen in einer GmbH & Co. KG. Damit, dass diese stillen Gesellschafter eigentlich persönlich haften müssten, hat dies nichts zu tun. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass das Unternehmen, nochmals im Sinne von Pentz, „ihre wirtschaftliche Veranstaltung“ ist: eine Veranstaltung der „Innen-KG“.

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104 Dazu umfassend Fleischer in v. Gerkan/Hommelhoff (Fn. 12), Teil 12. 105 BGH, GmbHR 1999, 916 m. Anm. Bähr = ZIP 1999, 1314; BGH, GmbHR 2005, 538 = ZIP 2005, 660; BGH, GmbHR 2008, 758 m. Komm. Blöse = ZIP 2008, 1230. 106 Vgl. zu den Voraussetzungen BGH, GmbHR 2008, 758 m. Komm. Blöse = ZIP 2008, 1230. 107 Bemerkenswert BGH, GmbHR 1999, 916 m. Komm. Bähr = ZIP 1999, 1314; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 37), Anh. § 64 Rz. 124. 108 Zuletzt Mock, DStR 2008, 1645, 1647. 109 So aber Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 280 f. 110 Vgl. zu §§ 30, 31 GmbHG BGH, BGHZ 106, 7 = GmbHR 1989, 152; BGH, GmbHR 2006, 531 m. Komm. Tillmann = ZIP 2006, 703. 111 Ablehnend deshalb Huber in FS Priester (Fn. 55), S. 259, 280 f. 112 Vgl. zur Rechtsfigur der „Innen-KG“ OLG Schleswig, ZIP 2009, 421; Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB, § 230 Rz. 81, § 232 Rz. 39 ff.; § 235 Rz. 62 ff.; § 236 Rz. 37 ff.; ders., NZG 2009, 361; ders., NZG 2011, 361, 364.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

d) Reine Drittgläubiger sind von den §§ 39, 135 InsO nicht betroffen113. Dies gilt auch für Drittgläubiger mit Informationsvorsprung, insbesondere für durch Covenants gesicherte institutionelle Kreditgeber114. Das ist zwar – nicht zuletzt unter dem Eindruck des angloamerikanischen Insolvenzrechts115 – teilweise anders gesehen worden116, dies jedoch schwerlich im Einklang mit dem deutschen Recht117. Auch über die Behandlung von Gläubigern mit typischen oder atypischen Pfandrechten an Gesellschaftsanteilen118 kann man füglich streiten. Der Grund besteht aber nicht darin, dass ihnen kein Missbrauch des Privilegs einer gesellschaftsrechtlichen Haftungsbeschränkung angelastet werden kann119, sondern in einer fehlenden Finanzierungszuständigkeit dieser Dritten. Habersack selbst stellt ergänzend darauf ab, ob der Kreditgeber ein einem Gesellschafter vergleichbares Eigeninteresse an der Finanzierung des Unternehmens hat120. Dieses Merkmal, ergänzt durch den unternehmerischen Einfluss des Kreditgebers auf den Gesellschafter oder des Gesellschafters auf den Kreditgeber, wird nach wie vor den Ausschlag geben. 3. Zeitliche Limitierung der Drittzurechnung? Leitsatz Nr. 8: Eine zeitliche Limitierung der Drittzurechnung durch die Jahresfrist des § 135 InsO in Fällen der Kreditfortführung durch Ex-Gesellschafter oder Zessionare ist zweifelhaft.

Eine interessante Frage ist, ob sich aus der Jahresfrist des § 135 InsO auch eine Limitierung der Drittzurechnung ergibt? Das haben Schlößer und Klüber, zwei Anwälte, in einem Aufsatz vertreten121. Die Frage ist folgende: Liegt die Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens länger als ein Jahr zurück, so ist der Empfänger durch die gesetzliche Zeitgrenze gegen die Insolvenzanfechtung geschützt. Gilt das nun auch, wenn zwar die Rückzahlung in der kritischen Zeit erfolgt ist, aber der die Drittzurechnung begründende Transfer länger zurückliegt? Zwei Beispiele sollen die Frage verdeutlichen: – Der Insolvenzverwalter stellt fest, dass im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag einem vor zwei Jahren durch Kaduzierung ausgeschiedenen GmbHGesellschafter oder einem durch Kündigung ausgeschieden Kommanditisten dessen gestundeter Kredit zurückgezahlt worden ist.

__________ 113 114 115 116 117 118

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Eingehend Krolop, GmbHR 2009, 397, 400 f. Hirte, WM 2008, 1429, 1431; Krolop, GmbHR 2009, 397, 400. 11 U.S.C. § 509, Insolvency Act 1986 Sec. 123, 215(4). Vgl. nur Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 494 ff., 524 ff.; Fleischer, ZIP 1998, 313 ff.; früher auch Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, §§ 32a/b Rz. 55. Ausführlich Habersack, ZGR 2000, 384, 395 ff.; Krolop, GmbHR 2009, 397, 400. BGHZ 119, 191 = GmbHR 1992, 656 = LM Nr. 40 zu § 30 GmbHG m. Anm. Roth = ZIP 1992, 1300; dazu Habersack (Fn. 92), Rz. 5.24; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 37), Anh. § 64 Rz. 126; kritisch Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 38), § 32a a. F. Rz. 179 m. w. N. So Habersack, ZIP 2008, 2385, 2388. Habersack in Goette/Habersack (Fn. 92), Rz. 5.24. Schlößer/Klüber, BB 2009, 1594, 1597.

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– Oder: Der Kreditgeber ist nicht aus der Gesellschaft ausgeschieden, hat aber vor dreizehn Monaten seine Forderung an X abgetreten, der die Summe kurz vor der Insolvenz eingezogen hat. Hier, meinen die Autoren, sei der Ex-Gesellschafter bzw. der Zessionar durch die Frist des § 135 InsO geschützt. Der Gedanke ist einfach. Die begrenzende Frist verhindert eine Endloszurechnung im Sinne der Formel: „Einmal QuasiGesellschafter, immer Quasi-Gesellschafter“. Umgehungsfälle, wenn etwa der Ex-Gesellschafter in Wahrheit noch Treugeber ist oder wenn die Abtretung der Forderung nur Factoring-Effekte hatte, ließen sich auch nach dieser Auffassung immer noch einfangen. Der Verfasser hat den Autoren im „Scholz“ beiläufig „gute Gründe“ attestiert122, hat aber doch Zweifel, ob wir es uns mit der Enthaftung so leicht machen dürfen. Die Jahresfrist in § 135 InsO stellt auf die Rückgewähr ab, und ob sie als Zurechnungsgrenze taugt, ist noch offen und zweifelhaft. 4. Zahlungen an nahestehende Dritte Leitsatz Nr. 9: Neue Rechtsanwendungsprobleme wirft die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen an nahestehende Dritte auf, die nicht Quasi-Gesellschafter sind. Eine Abhilfe kann hier bei dem Gedanken des § 145 Abs. 2 InsO gesucht werden.

Ein ganz anderes Problem als die zurechnungsbedingte Gleichstellung eines dritten Quasi-Gesellschafters mit einem Gesellschafter ist die anfechtungsrechtliche Behandlung der unter § 135 InsO fallenden Rückzahlung, wenn sie an einen Dritten erfolgt. Wir sehen das sehr gut an drei Beispielen: – Hatte, erstens, eine Bank der Gesellschaft ein vom Gesellschafter besichertes Darlehen gewährt und wurde dieses in der kritischen Zeit des § 135 InsO an sie zurückgezahlt, so findet die Anfechtung gegenüber dem Gesellschafter und nicht gegenüber der Bank als einem Dritten statt. Hier wird nicht der Dritte, nämlich die Bank, einem Gesellschafter gleichgestellt. Vielmehr wird die Kreditbesicherung durch den Gesellschafter einem Darlehen gleichgestellt. Wir kennen das aus dem alten § 32b GmbHG a. F. Jetzt steht es in §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO. – Hatte die Ehefrau oder der Sohn eines Gesellschafters den Kredit gegeben – und zwar, wohlgemerkt, für eigene Rechnung – und diesen Kredit in der kritischen Phase zurückerhalten, so kann das Sonderrecht der Gesellschafterdarlehen und damit der Anfechtungstatbestand des § 135 InsO nur zum Zuge kommen, wenn dieser Kredit i. S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entspricht. Wir wissen aus dem – wie bemerkt besser formulierten – alten § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG a. F., dass das bloße Familienverhältnis zwischen Gesellschafter und Kreditgeber diesen letzteren nicht ohne weiteres zum Quasi-Gesellschafter macht123. Dabei hat es zu bleiben.

__________ 122 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), Nachtrag MoMiG §§ 32a/b a. F. Rz. 23. 123 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 3), §§ 32a, 32b Rz. 146.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

– Wie nun aber, drittens, wenn der Gesellschafter selbst oder seine Ehefrau für Rechnung des Gesellschafters den Kredit gegeben hat und die Rückzahlung an den Sohn erfolgt ist? Soll hieraus ein Anfechtungsanspruch gegen den dritten Empfänger resultieren? Wir kennen die Situation aus dem berühmten Urteil BGHZ 81, 365, dessen später mehrfach bestätigter124, dann allerdings eingeschränkter125 Leitsatz folgenden Wortlaut hatte: „Erbringt eine GmbH auf Veranlassung ihres Gesellschafters in Erfüllung einer diesem gegenüber bestehenden, aber gemäß § 30 GmbHG einredebehafteten Darlehensforderung dem minderjährigen Sohn des Gesellschafters eine Leistung, so ist der Sohn in entsprechender Anwendung der §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG, § 31 Abs. 1 GmbHG zur Rückgewähr zumindest dann verpflichtet, wenn er oder sein gesetzlicher Vertreter den Verstoß gegen das Kapitalerhaltungsgebot gekannt hat oder hätte kennen müssen.“

Dieser gesellschaftsrechtlich begründeten Rechtsprechung ist nun wohl endgültig der Boden entzogen. Was das bedeuten kann, erkennt man in der von Hirte verfassten Bearbeitung des Uhlenbruck-Kommentars zur Insolvenzordnung126. Nach Hirte kann aus § 135 InsO eine Verpflichtung des Drittempfängers nicht folgen. Eine Anfechtung gegenüber dem Dritten ist, wie wir lesen, nur unter den Voraussetzungen des § 130 InsO (kongruente Deckung), § 131 InsO (inkongruente Deckung) oder § 135 InsO (vorsätzliche Benachteiligung) möglich. Das würde bedeuten: Von fraudulösem Handeln abgesehen schrumpft das Rückzahlungsrisiko des dritten Empfängers auf eine Dreimonatsfrist zusammen. Ob wir uns damit abfinden müssen, scheint zweifelhaft. Zur Erwägung gestellt sei vielmehr, ob sich die Anfechtungspraxis die gegen einen Einzelrechtsnachfolger gerichtete Anfechtungsregel des § 145 Abs. 2 InsO auf die Zahlung an Dritte zunutze machen kann. Nach dieser Bestimmung kann auch einem Einzelrechtsnachfolger gegenüber die Anfechtung geltend gemacht werden, „1. wenn dem Rechtsnachfolger zur Zeit seines Erwerbs die Umstände bekannt waren, welche die Anfechtbarkeit des Erwerbs seines Rechtsvorgängers begründen; 2. wenn der Rechtsnachfolger zur Zeit seines Erwerbs zu den Personen gehörte, die dem Schuldner nahe stehen (§ 138), es sei denn, dass ihm zu dieser Zeit die Umstände unbekannt waren, welche die Anfechtbarkeit des Erwerbs seines Rechtsvorgängers begründen; 3. wenn dem Rechtsnachfolger das Erlangte unentgeltlich zugewendet worden ist.“

Für einen Rückgriff auf diesen Rechtsgedanken spricht die folgende Überlegung: Hätte der Gesellschafter die unter Anfechtungsbedingungen zurückgeflossene Liquidität an den Empfänger weiter gereicht, so wäre dies ein Anwendungsfall des § 145 InsO. Soll das so ganz anders sein, wenn direkt an den Dritten gezahlt worden ist? Das sollte verneint werden.

__________ 124 BGH, NJW 1984, 1036 = GmbHR 1984, 18; BGH, WM 1986, 113. 125 BGH, NJW-RR 1991, 746; dazu Habersack in Großkomm. GmbHG, § 30 Rz. 70. 126 Hirte in Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl., § 135 Rz. 12.

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Karsten Schmidt

V. Nutzungsüberlassung als Sonderproblem 1. Altes Recht und MoMiG Leitsatz Nr. 10: Ein klarer Fall der Diskontinuität zwischen dem bisherigen Rechtsprechungsrecht und dem neuen Gesetzesrecht ist die Regelung des § 135 Abs. 3 InsO. Die Vorschrift gehört systematisch in den Zusammenhang der §§ 103 ff. InsO, nicht des Anfechtungsrechts.

a) Als einen mit Fortsetzungszusammenhang begangenen Sündenfall der BGHRechtsprechung hat der Verfasser dieses Beitrags die Anwendung der Kapitalersatzregeln auf die Nutzungsüberlassung angesehen127. Wir alle erinnern uns an die berühmten Lagergrundstücksentscheidungen, mit denen diese Rechtsprechung begann128. Halt machte sie erst vor den Interessen der Gesellschaftergläubiger, wenn diese im Wege des Insolvenzverfahrens129 oder der Zwangsverwaltung130 auf das Grundstück bzw. auf die Grundstücksnutzung zugreifen wollten. Diese überwiegend gebilligte Rechtsprechung wurde im Scholz-Kommentar brav und ausführlich kommentiert und begleitet, jedoch nicht ohne hinzuzusetzen, dass es sich in meinen Augen um eine Fehlentwicklung handle131. Doch das ist altes Recht. b) Hier wirkt nun das MoMiG, so ungelenk auch die gesetzliche Regelung daherkommt, wie ein Befreiungsschlag: Nach § 135 Abs. 3 InsO kann der Insolvenzverwalter, wenn ein Gesellschafter der Gesellschaft einen Gegenstand zum Gebrauch überlassen hat, dessen Aussonderungsrecht für höchstens ein Jahr ab Verfahrenseröffnung abwehren, wenn der Gegenstand für die Unternehmensfortführung von erheblicher Bedeutung ist (§ 135 Abs. 3 Satz 1 InsO). Er muss dafür aber aus der Masse132 einen „Ausgleich“ zahlen, der sich nach der im Jahr vor der Verfahrenseröffnung durchschnittlich geleisteten Vergütung richtet (§ 135 Abs. 3 Satz 2 InsO). Rechtssystematisch, aber auch rechtspolitisch hat sich das Blatt damit vollständig gewendet133. Bisher mussten Ge-

__________ 127 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 27), Rz. 2.63 f., 2.73 ff. 128 BGHZ 109, 55 = GmbHR 1990, 118; BGHZ 121, 31, 34 = GmbHR 1993, 87, 88; BGHZ 127, 1 = GmbHR 1994, 612; BGHZ 127, 17 = GmbHR 1994, 691; BGHZ 140, 147 = GmbHR 1999, 175; seither std. Rspr.; Rechtsprechungsbericht bei Goette/ Kleindiek, Eigenkapitalersatzrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2007, Rz. 102 ff., 169 ff.; Haas in Gottwald Insolvenzrechts-Handbuch, § 92 Rz. 405 ff. 129 BGH, DB 2008, 1371 = ZIP 2008, 1176. 130 BGHZ 140, 147 = LM Nr. 60 zu § 30 GmbHG m. Anm. Mülbert; BGH, ZIP 2000, 455; BGH, GmbHR 2005, 534 = ZIP 2005, 484; zust. Habersack, ZGR 1999, 427; Jungmann, ZIP 1999, 601. 131 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 3), §§ 32a, 32b Rz. 135 ff.; Bedenken auch bei Bitter, ZIP 2010, 1, 7. 132 Zum Ausgleichsanspruch als Masseforderung vgl. u. a. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 27), Rz. 2.108; Habersack in Goette/Habersack (Fn. 92), Rz. 5.41; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 37), Anh. § 64 Rz. 139; Hirte, WM 2008, 1429, 1432; Bitter, ZIP 2010, 1, 3; a. M. Hölzle, ZIP 2009, 1939, 1945 f. (nachrangige Insolvenzforderung); dagegen treffend Bitter, ZIP 2010, 1, 11. 133 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), Nachtrag MoMiG §§ 32a/b a. F. Rz. 75; ders., DB 2008, 1358 ff.; a. M. Hölzle, ZIP 2009, 1939, 1944.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

schäftsführer und Gesellschafter das Unternehmen in der Krise schonen, mussten den Gebrauchsgegenstand beim Unternehmen belassen und das Nutzungsentgelt stunden. Taten sie dies nicht, klagte der Insolvenzverwalter auf Rückzahlung. Blieb das Grundstück im Besitz der Gesellschaft, so durfte es der Verwalter unentgeltlich weiter nutzen. Das neue Recht gibt dem Geschäftsführer und dem Gesellschafter dagegen auch in der Krise keine besonderen Lasten auf und erlaubt auch dem Insolvenzverwalter die Weiternutzung nur gegen Nutzungsentgelt. 2. Systematik Dass § 135 Abs. 3 InsO eine insolvenzrechtliche Regel ist, kann nicht bestritten werden. Schwerlich bestreitbar ist aber auch, dass diese Bestimmung mit dem Recht der Gesellschafterdarlehen, mit deren Nachrang (§ 39 InsO) und mit deren anfechtungsrechtlicher Rückforderung (§ 135 InsO) nichts, aber auch gar nichts zu tun hat134, insbesondere nicht auf der Anerkennung der Nutzungsüberlassung als darlehensähnliche Leistung beruht135. Sie hätte ihren richtigen Ort bei den §§ 103 ff., 108 ff. InsO, also bei dem Einfluss der Verfahrenseröffnung auf laufende Rechtsverhältnisse136. Die §§ 103 ff. InsO entscheiden darüber, ob ein Rechtsverhältnis zwischen der Schuldnerin und einem Vertragspartner fortgesetzt wird. § 135 Abs. 3 InsO gibt dem Insolvenzverwalter eine diese Regeln ergänzende Option: Selbst wenn er das vertragliche Nutzungsverhältnis bei einer Mobilie nicht fortsetzt (§ 103 InsO), oder das Nutzungsverhältnis bei einer Immobilie kündigt (§ 108 InsO), kann er die Nutzung für maximal ein Jahr aufgrund eines gesetzlichen Schuldverhältnisses gegen Weiterzahlung des bisherigen Entgelts fortsetzen. Insofern ist die neue Vorschrift Resultat der Zweckförderungspflicht des Gesellschafters, nicht freilich einer Nachschusspflicht137. Es lässt sich denken, dass fast jede der um die neue Bestimmung kreisenden Fragen umstritten ist. Nicht ernsthaft bestreitbar ist aber die Neuartigkeit des Konzepts. 3. Einfluss auf die Beratung Leitsatz Nr. 11: Die Neuregelung des Rechts der Gebrauchsüberlassung wird erheblichen Einfluss auf die Beratungspraxis in der Krise der Gesellschaft haben (Weiterzahlung des Nutzungsentgelts oder Beendigung des Nutzungsverhältnisses).

Wie schon kurz angemerkt wird das neue Recht der Gesellschafter-Nutzungsüberlassung Einfluss auf die Beratungspraxis haben. Bis 2008 stellte die Recht-

__________ 134 135 136 137

A. M. Haas in FS Ganter, 2010, S. 189, 194 ff.; Hölzle, ZIP 2009, 1939, 1945. Vgl. gegen Hölzle zutreffend Bitter, ZIP 2010, 1, 11. Karsten Schmidt, DB 2008, 1727, 1732; s. auch Bitter, ZIP 2010, 1, 13. f. m. w. N. Für ein Verständnis als Nachschusspflicht freilich Bitter, ZIP 2010, 1, 10, wo die Versagung des Aussonderungsanspruchs zu dem vor der Insolvenz gezahlten, evtl. also reduzierten, Entgelt als „spezialgesetzliche Sanktion der materiellen Unterkapitalisierung“ verstanden wird.

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sprechung rechtlich beratene Gesellschafter in der Unternehmenskrise vor die Alternative – entweder das Nutzungsverhältnis frühzeitig zu beenden und damit dem Zugriff der Kapitalersatzregeln noch rechtzeitig zu entgehen – oder die Entgeltzahlungen in der Krise einzustellen, um einen Verstoß gegen den analog anzuwendenden § 30 GmbHG zu vermeiden. Das erste geschah wohl kaum jemals, das zweite auch eher selten, und zwar beides aus nachvollziehbaren, aber unterschiedlichen Gründen. Eine Beendigung des Nutzungsverhältnisses vor der Krise kommt bei betriebsnotwendigen Gegenständen nur in Betracht, wenn die Unternehmenstätigkeit eingestellt oder drastisch verkürzt wird. Sie passt also zu Liquidationsstrategien, kaum aber zu Sanierungsstrategien. Und dem Gesellschafter nützt sie nur, wenn sich alsbald eine neue kostendeckende Nutzungsmöglichkeit bietet. Das ist natürlich nicht undenkbar – es kann sich ja um Teileigentum an Büroräumen handeln –, ist aber doch evident atypisch. Sehen wir also die Weiternutzung als den Normalfall an, so musste bisher die Frage beantwortet werden, von wann an eine Stundung des Gebrauchsentgelts (also des Mietzinses oder Pachtzinses oder der Lizenzgebühr) nicht nur ein willkommener Sanierungsbeitrag, sondern nach § 30 GmbHG sogar gesetzliches Gebot war. Hierfür kam es auf die doppelte Frage an, ob – erstens die Nutzungsüberlassung durch Fortsetzung in der Krise eigenkapitalersetzend geworden war und ob – zweitens die Zahlungen nur noch aus gebundenem Vermögen erfolgen konnten. Die erste Frage war die schwierigere. Ex post – die Lagergrundstücksurteile sprechen für sich – musste diese Frage in Insolvenzverwalterprozessen geklärt werden. Ex ante konnte sie bei harten Sanierungsverhandlungen eine willkommene Frage sein, denn hier konnte das Argument helfen: „Du, Gesellschafter, solltest dich nicht nur auf eine Stundungsabrede einlassen; du darfst die Zahlungen nicht einmal entgegennehmen.“ Das sieht heute, wie angemerkt, ganz und gar anders aus. Alle Strategie spricht jetzt dafür, das Nutzungsentgelt bis zum bitteren Ende fließen zu lassen. Das ist vom Gesetzgeber gewollt und sollte nicht durch halbherzige Auslegungsanstrengungen verwässert werden138. 4. Verhältnis zu § 64 GmbHG Leitsatz Nr. 12: Die Zahlung des Nutzungsentgelts bis hin zur Insolvenzantragstellung ist im Lichte des neuen § 135 Abs. 3 InsO nicht als eine potentiell unerlaubte Zahlung i. S. von § 64 Satz 3 GmbHG (§ 130a Abs. 1 Satz 3 HGB) zu beurteilen (allerdings zweifelhaft).

__________ 138 Solche Verwässerungen finden sich bei Haas in FS Ganter (Fn. 134), S. 189 ff.

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Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht: Was hat sich geändert?

Verschiedentlich ist bemerkt worden, der neue § 135 Abs. 3 InsO stürze den Geschäftsführer in einen vorher nicht gekannten Konflikt, und zwar in Bezug auf § 64 Satz 1 und Satz 3 GmbHG139. Nach diesen Bestimmungen muss der Geschäftsführer ja Zahlungen, die er nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Feststellung der Überschuldung geleistet hat oder die zur Zahlungsunfähigkeit führen mussten, in die Insolvenzmasse erstatten. Es ist leicht zu verstehen, worin dieser Konflikt gesehen wird: Es handelt sich gewissermaßen um eine Verschärfung der schon bei der Rückforderung von Gesellschafterdarlehen erkannten Situation. Pentz meint beispielsweise, dass der Geschäftsführer wegen dieser Haftung die Zahlungen im Vorfeld der Insolvenz eben doch nicht mehr leisten werde, schon gar nicht, wenn bereits der Insolvenzantrag gestellt sei140. Das überzeugt nicht. Zweifelhaft scheint sogar, ob der angenommene Konflikt existiert. Nach § 64 Satz 2 GmbHG, auf den auch der Satz 3 Bezug nimmt, haftet der Geschäftsführer ja nicht für Zahlungen, die auch zu dem kritischen Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind. Dafür genügt nicht, dass die Zahlungen Teil eines vertretbaren Sanierungskonzepts sind141. Aber Zahlungen, die auch unter vorläufiger oder endgültiger Insolvenzverwaltung aus der Masse beglichen werden müssten, sind erlaubte Zahlungen nach Satz 2142, und dieser Erlaubnistatbestand ist auch nicht, wie die Regel des § 135 Abs. 3 InsO, auf die Dauer eines Jahres begrenzt. Zu hoffen ist deshalb, dass der Geschäftsführer durch stimmige Auslegung der beiden Vorschriften aus dieser Klemme befreit werden kann. Dass mit diesem Anreiz zu fortwährender Zahlung der sanierungsfreundliche Ansatz des MoMiG verwässert wird, ist nicht zu bestreiten. Aber die Nichtanwendung des § 64 Satz 3 GmbHG scheint, wie § 135 Abs. 3 InsO zeigt, der Reform inhärent. Ob spezielle Anfechtungstatbestände – etwa aus § 133 InsO143 – gegenüber dem Zahlungsempfänger durchgreifen können, ist eine andere Frage.

VI. Ausblick 1. Insolvenzrecht und Unternehmensfinanzierung Leitsatz Nr. 13: Das Eigenkapitalersatzrecht war seinem Kern nach Recht der Unternehmensfinanzierung, nicht Insolvenzrecht. Notorisch wurden seine Effekte allerdings in Insolvenzfällen. Das neue Recht der Gesellschafterdarlehen kommt als genuines Insolvenzrecht daher. Aber seine Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung sind doch unverkennbar.

__________ 139 Gehrlein in Kölner Schrift (Fn. 36), Kap. 26 Rz. 55 hält die vor der Verfahrenseröffnung gezahlten Nutzungsentgelte auch für anfechtbar, worin „ein gewisser Widerspruch“ liege. 140 Pentz in FS Hüffer (Fn. 47), S. 747, 763. 141 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 30), § 64 Rz. 42. 142 BGH, NJW 2007, 2118. 143 Nicht: § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO; so aber Haas in FS Ganter (Fn. 134), S. 189, 191 ff., 202.

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Diese These soll nur darauf aufmerksam machen, dass die Zuordnung des Sonderrechts der Gesellschafterdarlehen zum Recht der Unternehmensfinanzierung oder zum Insolvenzrecht den unlösbaren Zusammenhang zwischen beiden nicht beseitigen kann. Ein auf die Unternehmensfinanzierung vorwirkendes Insolvenzrecht beweist dies ebenso wie ein präventiv-gläubigerschützendes Recht der Unternehmensfinanzierung. 2. Vordringen des positiven Rechts Leitsatz Nr. 14: Die weitgehende Ablösung von Rechtsprechungsrecht durch Gesetzesrecht ist mit allen hiermit verbundenen Vor- und Nachteilen Kennzeichen einer gegenwärtigen Entwicklung im Kapitalgesellschaftsrecht.

Die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz beginnt sich neu zu sortieren144. Ursache ist teilweise die durch Richtlinien vorangetriebene RechtsIntegration, teilweise auch ein neues Verständnis der nationalen Gesetzgebung. Dies werden Befürworter eines lupenreinen Gesetzespositivismus begrüßen, Befürworter eines rechtsdogmatisch gelenkten Fallrechts eher bedauern145. 3. Wettbewerb der Konzepte Leitsatz Nr. 15: Die Fortgeltung des Kapitalersatzrechts für Altfälle (Art. 103d EGInsO) macht über Jahre hinaus einen vergleichenden Testlauf des neuen und des alten Rechts der Gesellschafterdarlehen möglich, … allerdings: einen Testlauf nach der Reform!

Diese These spricht für sich.

__________ 144 Dazu etwa Fleischer/Wedemann, AcP 209 (2009), 597, 611; Karsten Schmidt, JZ 2009, 10, 19. 145 Zur Einschätzung durch den Verf. vgl. ebd.

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Gestaltungsfragen fakultativer Aufsichtsorgane der KGaA Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Das Phänomen fakultativer Aufsichtsorgane bei der KGaA 2. Untersuchungsgegenstand II. Grundlagen und allgemeine Grenzen für die Einrichtung fakultativer Aufsichtsorgane mit organschaftlichen Befugnissen 1. Gesellschaftsrecht 2. Mitbestimmungsrecht III. Zuweisung von Kompetenzen der Hauptversammlung 1. Grundlagen 2. Kompetenzen nach dem Personengesellschaftsrecht 3. Delegation des Zustimmungsrechts der Hauptversammlung zu Geschäftsführungsmaßnahmen a) Einführung b) Unproblematische Strukturen c) Ausschluss des Zustimmungsrechts bei einer als Publikumsgesellschaft strukturierten Kapitalgesellschaft & Co. KGaA d) Praxishinweise e) Zustimmung zu Grundlagengeschäften als nicht übertragbare Kompetenz aa) Anwendungsbereich bb) Keine weiteren ungeschriebenen Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung bei der KGaA 4. Nicht übertragbare Kompetenzen nach dem Aktienrecht 5. Änderung von Satzungsbestimmungen 6. Zustimmung zur Aufhebung der Vinkulierung von Namensaktien a) Zuständigkeit der Hauptversammlung für Zustimmungen zu Übertragungen durch Aktionäre

b) Zuständigkeit für Zustimmung zu Erwerb und Veräußerung von eigenen Aktien als Geschäftsführungsmaßnahme IV. Zuweisung von Kompetenzen des Aufsichtsrats 1. Grundlagen 2. Kompetenzen 3. Gestaltungsmöglichkeiten a) Überwachungskompetenz b) Ausführungskompetenz c) Vertretungskompetenz d) Praxishinweise V. Beschneidung von Kompetenzen des geschäftsführenden Komplementärs 1. Vertretungsmacht 2. Leitungsmacht a) Geschäftsführungskompetenzen gemäß Aktienrecht b) Geschäftsführungskompetenzen gemäß Personengesellschaftsrecht aa) Grundsatz bb) Grenzen 3. Zustimmungsrechte der Komplementäre a) Gesetzliche Lage b) Mögliche Regelungen in der Satzung 4. Strukturvariante: Nicht-geschäftsführender Komplementär als Aufsichtsorgan a) Ausgestaltung innerhalb der Organisationsverfassung der KGaA b) Ausgestaltung innerhalb der mehrköpfigen Geschäftsführung c) Vergleich zur Kontrolle über fakultatives Aufsichtsorgan VI. Besetzung des fakultativen Aufsichtsorgans mit neutralen Mitgliedern 1. Das Problem: Grundsatz der Verbandssouveränität

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York Schnorbus 2. Diskussion 3. Praxishinweise VII. Gestaltung des Durchgriffs des fakultativen Aufsichtsorgans auf die Geschäftsleiter einer KomplementärGesellschaft 1. Zulässigkeit einer Kapitalgesellschaft & Co. KGaA 2. Das Problem des Abberufungsdurchgriffs 3. Lösung durch die Einheits-KGaA a) Zulässigkeit der Einheits-KGaA b) Folgeprobleme bei der EinheitsKGaA aa) Wechselseitige Beteiligung bb) Willensbildung in der Einheits-GmbH & Co. KGaA c) Beispielhafte Ausgestaltung des Abberufungsdurchgriffs bei der Einheits-KGaA mit AG als Komplementärgesellschaft

VIII.Auswirkungen der unternehmerischen Mitbestimmung auf die Gestaltungsfreiheit der Corporate Governance in der KGaA 1. Einführung einer privatautonomen unternehmerischen Mitbestimmung a) Satzung b) Stimmbindungsvertrag zwischen Gesellschaftern 2. Mitbestimmungsrechtliche Besonderheiten der KGaA a) Beschränkung der Kompetenzen des Aufsichtsrats generell b) Explizite Privilegierungen nach dem MitbestG 3. Kein mitbestimmungsrechtliches Sonderrecht der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA a) Anwendung von § 4 MitbestG? b) Anwendung von § 5 MitbestG? IX. Schluss

I. Einleitung 1. Das Phänomen fakultativer Aufsichtsorgane bei der KGaA Die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) galt lange Zeit als Relikt, für das – mit Ausnahme von Familienunternehmen – kaum Nachfrage bestand. Zunehmend sind in der Praxis jedoch Fälle zu beobachten, in denen auch andere Unternehmertypen sich für eine KGaA entscheiden. So firmieren nicht nur zahlreiche prominente börsennotierte oder private Familienunternehmen als KGaA, sondern ebenso große Industrieunternehmen, Private Equity-Gesellschaften bis hin zu Joint-Venture-Gesellschaften und reine Erwerbs- und Holdinggesellschaften. Die jeweiligen Vorgaben dieser Unternehmer an die optimale Rechtsform sind von Fall zu Fall sicherlich sehr unterschiedlich; im Vordergrund der Strukturüberlegungen steht jedoch oftmals der Wunsch nach größtmöglicher Flexibilität bei der Ausgestaltung der Corporate Governance unter möglichst weitgehender Wahrung bekannter Strukturen einer Kapitalgesellschaft wie der Aktiengesellschaft (AG). Und genau diese beiden – sich an sich ausschließenden – Vorgaben werden durch die KGaA vereint. Bei der KGaA handelt es sich in ihrer rechtlichen Ausgestaltung um eine Mischform aus Aktiengesellschaft und Kommanditgesellschaft mit Schwerpunkt im Aktienrecht: Das Innenverhältnis der beiden Gesellschaftergruppen – persönlich haftende Gesellschafter und Gesamtheit der Kommanditaktionäre – sowie die Führungsstruktur der KGaA richten sich nach dem Recht der Kommanditgesellschaft, die Kapitalstruktur und die Rechte der Kommanditaktionäre richten sich dagegen nach Aktienrecht. Dieses Machtgefüge der beiden 628

Gestaltungsfragen fakultativer Aufsichtsorgane der KGaA

Gesellschaftergruppen innerhalb der KGaA verteilt sich auf drei zwingend vorgesehene Organe: die Hauptversammlung, den Aufsichtsrat und einen oder mehrere persönlich haftende Gesellschafter, die das Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan bilden. Daneben können in der KGaA zusätzliche mit gesellschaftsrechtlichen Kompetenzen ausgestattete Aufsichtsorgane durch die Satzung geschaffen werden (sog. gesellschafterausschussdominierte KGaA). In der Praxis tragen sie verschiedene Bezeichnungen wie z. B. Gesellschafterausschuss, Aktionärsausschuss, Beirat, Verwaltungsausschuss oder Verwaltungsrat. Gemeinsames Merkmal dieser fakultativen Aufsichtsorgane ist, dass sie in ihren Personal-, Überwachungs- und Kontrollkompetenzen weitgehend dem Aufsichtsrat einer AG entsprechen (Bestellung und Abberufung der Geschäftsleiter, Informationsund Zustimmungsrechte nach §§ 90, 111 AktG), während die Vorgaben für Größe und Zusammensetzung (§§ 95 Satz 1, 100 Abs. 1 und 2 Nr. 2 und Abs. 5, 103 Abs. 1 Satz 1 und 2, 105 AktG), Bestellung, Amtszeit, Beendigung (§§ 101–104 AktG) sowie innere Ordnung (§§ 107–109 AktG) abweichend von den aktienrechtlichen Vorgaben durch Satzung und Geschäftsordnung autonom nach den Vorstellungen der Gründer geregelt werden. Ein Bedürfnis1 für die Errichtung eines solchen fakultativen Aufsichtsgremiums besteht bei der KGaA zunächst insofern, als die Komplementäre keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats haben (§ 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG). Weiter kann die Einrichtung eines fakultativen Organs der Sicherung des Einflusses der Gründungsgesellschafter auf das Unternehmen dienen, unabhängig von der Aufrechterhaltung der Mehrheit am Haft- oder Grundkapital. Dem fakultativen Organ können dann die Kompetenz zur Aufnahme neuer Komplementäre übertragen oder Zustimmungsrechte zu Geschäftsführungsmaßnahmen eingeräumt werden. Und schließlich können diese fakultativen Organe Mitwirkungs- und Kontrollrechte bei der Geschäftsführung ausüben, ohne dass sie mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden müssen. Trotz diesem hohen Maß an Gestaltungsfreiheit in Bezug auf die Ausformung der Kompetenzen der Organe untereinander bestehen in der Praxis erhebliche Vorbehalte gegenüber der KGaA. Die KGaA gilt als Gesellschaft mit komplexer und damit auch komplizierter Struktur, was zu einem sicher nicht geringen Teil darauf zurückzuführen ist, dass die gesetzliche Ausgestaltung dieser Rechtsform wegen ihrer bislang geringen Bedeutung (im Gegensatz zur AG) unverhältnismäßig in Erscheinung tritt. Die Komplexität der KGaA wird in ihrer kapitalistischen Ausformung, insbesondere wenn als Komplementärin eine GmbH oder gar eine AG fungieren, noch verstärkt. Verbreitet wird auch die zum Teil noch wenig gesicherte Rechtslage, insbesondere hinsichtlich der Satzungsgestaltung, als Nachteil benannt. Insbesondere stellt sich das Problem der Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Grenze von Satzungsgestaltungen zu-

__________ 1 Vgl. auch zu den Gründen für die Einrichtung fakultativer Aufsichtsorgane Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 146.

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lasten der Kommanditaktionäre. Im Übrigen muss hervorgehoben werden, dass angesichts der rudimentären Rechtsprechung zur KGaA verschiedene Zweifelsfragen für die Praxis noch nicht entschieden sind2. 2. Untersuchungsgegenstand Der vorliegende Beitrag zeigt die grundlegenden Gestaltungsmöglichkeiten bei der Implementierung eines fakultativen Aufsichtsorgans mit organschaftlichen Kompetenzen auf. Dabei ist zu untersuchen, welche Kompetenzen der gesetzlich vorgesehenen Organe kraft Satzung dem fakultativen Aufsichtsgremium (vollumfänglich oder zumindest teilweise) zugewiesen werden können oder inwieweit nicht übertragbare Kompetenzen der gesetzlichen Organe zumindest zugunsten des fakultativen Aufsichtsorgans beschnitten werden können. Nach einem allgemeinen Überblick über die rechtlichen Grenzen für die Einrichtung fakultativer Aufsichtsorgane (II.) sind die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Beschneidung der Kompetenzen von Hauptversammlung (III.), Aufsichtsrat (IV.) und Komplementär (V.) zu prüfen. Anschließend soll entsprechend jüngster Corporate Governance-Diskussionen bei der AG untersucht werden, inwiefern fakultative Aufsichtsorgane mit organschaftlichen Kompetenzen mit neutralen Mitgliedern besetzt werden können (VI.). Der Beitrag schließt mit praktischen Überlegungen zu dem sog. Durchgriff des fakultativen Aufsichtsorgans auf die Geschäftsleiter einer Komplementärgesellschaft (VII.) und spezifischen Auswirkungen der unternehmerischen Mitbestimmung auf die Gestaltung der Corporate Governance in der KGaA (VIII.)3.

__________ 2 Die Wahl der Rechtsform der KGaA wird oftmals unter dem Gesichtspunkt des Börsengangs betrachtet. Die KGaA ist nur dann eine wirkliche Alternative zur AG, wenn sie als Kapitalgesellschaft & Co. KGaA verfasst und vom Publikum als Organisationsform eines börsengehandelten Unternehmens akzeptiert wird. Wegen der Kompliziertheit der Rechtsform und der möglicherweise in den Augen der Anleger damit verbundenen Intransparenz der Stellung eines Aktionärs wird die KGaA vom Kapitalmarkt im Vergleich zur AG als nachteilig erachtet. Demgegenüber gibt es aber durchaus Präzedenzfälle in Deutschland für erfolgreich in den Kapitalmarkt eingeführte KGaA. 3 Einer separaten Untersuchung bleibt die Frage vorbehalten, ob und inwiefern die Inkompatibilitätsregelungen des § 100 Abs. 2 AktG auch auf Mitglieder eines fakultativen Aufsichtsorgans anzuwenden sind, insbesondere wenn die Kontrollbefugnisse des fakultativen Aufsichtsorgans nahezu den Befugnissen eines Aufsichtsrats einer AG entsprechen. Näher dazu und ablehnend Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 150 ff. Weiter fragt es sich, ob in dieser Situation die Mitgliedschaft des Komplementärs im Aufsichtsrat der AG (dessen Vorstand im fakultativen Aufsichtsorgan sitzt) zulässig ist.

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II. Grundlagen und allgemeine Grenzen für die Einrichtung fakultativer Aufsichtsorgane mit organschaftlichen Befugnissen 1. Gesellschaftsrecht Die Einrichtung eines fakultativen Organs mit organschaftlichen Befugnissen ist bei der KGaA im Gegensatz zur AG zulässig4. Der für die AG geltende Grundsatz, dass fakultative Organe nur insoweit gebildet werden können, wie dabei nicht in die zwingende Kompetenzverteilung zwischen Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung eingegriffen wird, gilt bei der KGaA nur eingeschränkt. Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit bilden die zwingenden aktienrechtlichen Regelungen, die nach § 278 Abs. 3 AktG gelten, die Sondervorschriften für die KGaA in §§ 278 ff. AktG und schließlich die zwingenden Prinzipien des Personengesellschaftsrechts wie z. B. die Kernbereichslehre, der Bestimmtheitsgrundsatz und der Grundsatz der Verbandsautonomie. Rechte, die den persönlich haftenden Gesellschaftern, dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung aus dem Aktienrecht zwingend zustehen, können also nicht auf ein fakultatives Organ verlagert werden. Das Rechtsverhältnis zwischen den Komplementären und der Gesamtheit der Kommanditaktionäre richtet sich demgegenüber nach dem Recht der Kommanditgesellschaften, § 278 Abs. 2 AktG. Bei der Ausgestaltung dieses Rechtsverhältnisses gilt somit nicht die aktienrechtliche Satzungsstrenge des § 23 Abs. 5 AktG, sondern nach §§ 163, 161 Abs. 2, 109 HGB der Vorrang der gesellschaftsvertraglichen Regelung. Damit besteht diesbezüglich weitgehende Gestaltungsfreiheit. Insbesondere können diese beiden Gesellschaftergruppen Rechte auf zusätzliche Organe übertragen5. 2. Mitbestimmungsrecht Bei dieser Ausgestaltung fakultativer Aufsichtsorgane bestehen keine Restriktionen durch das Mitbestimmungsrecht6. Das Gesellschaftsrecht wird durch das Mitbestimmungsrecht nur insoweit überlagert, wie dies ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist. Im Übrigen gilt das rechtsform-spezifische Gesellschaftsrecht. Bei der KGaA wird durch das Mitbestimmungsrecht nur sichergestellt, dass die Arbeitnehmer über den Aufsichtsrat an der Kontrolle der geschäftsführenden Gesellschafter beteiligt sind. Wie die Geschäftsführung aber konkret ausgestaltet ist und welche Mitwirkungsrechte anderen Organen wie

__________ 4 Kallmeyer, DStR 1994, 977, 979 f.; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 65a; Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 146 f.; weiterer Überblick bei Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 256 ff.; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 287 Rz. 29; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 87 auch m. w. N. zur überholten Gegenauffassung. 5 Martens, AG 1982, 113, 114 f.; Kallmeyer, DStR 1994, 977, 979; Sethe, AG 1996, 289, 293; Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 258 ff.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 87; Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 559 ff. 6 Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 148.

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dem Gesellschafterausschuss zustehen, richtet sich ausschließlich nach der Satzung, dem AktG und dem HGB7.

III. Zuweisung von Kompetenzen der Hauptversammlung 1. Grundlagen Die Kompetenzen der Hauptversammlung der KGaA gehen über diejenigen der Hauptversammlung der AG hinaus. Es lassen sich drei Arten von Kompetenzen unterscheiden: – Zunächst gibt es die Kompetenzen, die sich aus der aktienrechtlichen Komponente der KGaA ergeben; sie entsprechen den Kompetenzen der Hauptversammlung der AG (§ 278 Abs. 3 i. V. m. §§ 118 ff. AktG). – Daneben ergeben sich einige Kompetenzen aufgrund von spezialgesetzlichen Regelungen für die KGaA aus dem Aktienrecht (vgl. insbesondere § 286 AktG zur Feststellung des Jahresabschlusses). – Schließlich gibt es die Kompetenzen, die sich aus der personengesellschaftsrechtlichen Komponente der KGaA ergeben und das Verhältnis der beiden Gesellschaftergruppen zueinander betreffen (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 114 ff. HGB). Für die Delegation dieser Kompetenzen an das fakultative Aufsichtsorgan gelten folgende Grundsätze8: Die aktienrechtlichen Kompetenzen, einschließlich derer, die sich aus Spezialregelungen für die KGaA ergeben, sind satzungsfest. Änderungen der Beschlussmehrheit sind nur im Rahmen der aktienrechtlichen Vorgaben möglich (§ 23 Abs. 5 AktG). Die Kompetenz der Hauptversammlung ist in denen durch das Personengesellschaftsrecht geregelten Fällen dagegen satzungsdispositiv. Die Entscheidungen können grundsätzlich unter Beachtung der Grenzen der Gestaltungsfreiheit der Hauptversammlung entzogen und anderen Organen übertragen werden. 2. Kompetenzen nach dem Personengesellschaftsrecht Zu den aus dem Personengesellschaftsrecht folgenden (und damit grundsätzlich abdingbaren) Kompetenzen der Hauptversammlung gehören insbesondere folgende Rechte: – Änderungen der Vermögenseinlage der Komplementäre (§ 281 Abs. 2 AktG) – Änderung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 114, 125 HGB) – Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 117, 127 HGB)

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7 Vgl. Martens, AG 1982, 113, 116 f.; Kallmeyer, ZGR 1983, 57, 63 f.; Joost, ZGR 1998, 334, 343 f.; Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 264 f.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 87. 8 Vgl. hierzu Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 390; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 39a.

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– Aufnahme neuer Komplementäre (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 109 HGB) – Ausscheiden und die Ausschließung von Komplementären (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 289 Abs. 5 AktG, §§ 161 Abs. 2, 140, 109 HGB) Die Kompetenz der Hauptversammlung ist in diesen Fällen satzungsdispositiv. Die genannten Entscheidungen können grundsätzlich auf das fakultative Aufsichtsorgan übertragen werden9. So können dem Aufsichtsorgan vergleichbar mit dem Aufsichtsrat kraft Satzung umfassende Personalkompetenzen gegenüber dem Komplementär bzw. der Komplementär-Gesellschaft eingeräumt werden, wozu insbesondere die Rechte zur Entziehung der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnisse10 sowie zur Ausschließung11 des bestehenden Komplementärs und zur Aufnahme12 eines neuen Komplementärs zählen13. Die Aktionäre können der Entscheidung über die Aufnahme neuer Komplementäre indessen widersprechen, wenn in der Person des neu eintretenden Komplementärs Gründe vorliegen, die zu einem Vorgehen nach §§ 133 bzw. 140 HGB berechtigen würden14. 3. Delegation des Zustimmungsrechts der Hauptversammlung zu Geschäftsführungsmaßnahmen a) Einführung Die Vornahme außergewöhnlicher Geschäftsführungsmaßnahmen des persönlich haftenden Gesellschafters bedarf nach der gesetzlichen Regelung (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 HGB) der Zustimmung der Hauptversammlung. Gesellschaften mit fakultativen Aufsichtsorganen weichen hiervon regel-

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9 Generell: Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 41, 67; Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 389 ff., 391. 10 Für den Entzug der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis: Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 198; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 77, 82; nur zum Entzug der Geschäftsführungsbefugnis Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 222. 11 Für das Ausscheiden und die Ausschließung von Komplementären: Wichert, AG 2000, 268, 274; Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 397, 403; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 217. 12 Für die Aufnahme neuer Komplementäre: Born, Die abhängige Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, S. 211 f.; Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 261; Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 148; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 68; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2001, § 278 Rz. 22; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 67; Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/ Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 397; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 135. 13 Beispielsfall: Nach § 26 der Satzung der Henkel AG & Co. KGaA beschließt der Gesellschafterausschuss über Eintritt und Ausscheiden von persönlich haftenden Gesellschaftern und hat Vertretungsmacht sowie Geschäftsführungsbefugnis für die Rechtsverhältnisse zwischen der Gesellschaft und den persönlich haftenden Gesellschaften. 14 Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 261; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 68; vgl. auch Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2001, § 278 Rz. 23 f.

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mäßig ab: Anstelle der Hauptversammlung räumt die Satzung dem fakultativen Organ einen entsprechenden Zustimmungsvorbehalt bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen ein. Dafür sprechen insbesondere folgende praktische Gesichtspunkte: – Die genaue Abgrenzung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen ist in der Praxis problematisch und führt zu erheblicher Rechtsunsicherheit. – Es ist mit erheblichem Aufwand und erheblichen Kosten verbunden, wenn zu einzelnen Geschäftsführungsmaßnahmen jeweils eine Hauptversammlung zur Entscheidung über die Zustimmung einberufen werden müsste. – Gerade in Fällen, in denen schnell über eine außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme entschieden werden muss, wäre die Einholung der Hauptversammlungszustimmung angesichts der zu beachtenden Formalitäten oftmals nicht handhabbar. – Diese Zuständigkeitsbegründung durch die Satzung gewährleistet weiter Vertraulichkeit sowie Planungsgewissheit für das Management. – Schließlich scheidet die Anfechtbarkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse aus, so dass ein nicht unerhebliches Blockaderisiko bei Unternehmenstransaktionen vermieden wird. Die betreffenden Geschäftsführungsmaßnahmen, die somit ausschließlich dem Zustimmungsvorbehalt des Gesellschafterausschusses unterliegen, sind im Einzelnen in der Satzung oder besser in der Geschäftsordnung des fakultativen Aufsichtsorgans festgelegt. Hierzu gehören insbesondere Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens wesentlich verändern. Fraglich ist, ob und inwieweit dieses (elementare) Zustimmungsrecht der Hauptversammlung durch Ausgestaltung der Satzung ausgeschlossen und einem anderen (fakultativen) Organ zugewiesen werden darf. Dabei handelt es sich um eines der umstrittensten Probleme der Zuweisung von Kompetenzen innerhalb der KGaA, wobei die praktische Bedeutung dieses Streits oftmals überschätzt wird. b) Unproblematische Strukturen Folgende Konstellationen sind unproblematisch: – KGaA mit einer natürlichen Person als Komplementär. Bei einer KGaA mit einer natürlichen Person als Komplementär darf dieses Zustimmungsrecht der Hauptversammlung durch die Satzung ausgeschlossen werden15. Der

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15 Grafmüller, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien als geeignete Rechtsform für börsenwillige Familienunternehmen, 1993, S. 123; Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, 1996, S. 151; Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 273, 287; Wichert, AG 2000, 268, 270; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 113; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 230.

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BGH16 bestätigt diese Ansicht implizit, indem er obiter dictum in dem Fall einer GmbH & Co. KGaA davon spricht, dass es zu erwägen sei, bezüglich der möglichen Einschränkung von Rechten der Kommanditaktionäre von „engeren Grenzen […] als bei der gesetzestypischen KGaA“ auszugehen. – Personalistische Kapitalgesellschaft & Co. KGaA. Auch bei einer GmbH & Co. KGaA oder AG & Co. KGaA mit „personalistischen Zügen“, also mit einer Gesellschaftsstruktur, die nicht auf die Aufnahme einer Vielzahl von Gesellschaftern ausgerichtet ist, ist dies nach – soweit ersichtlich – allgemeiner Meinung möglich17. Von dieser Gestaltungsmöglichkeit wird in der Praxis überwiegend Gebrauch gemacht. – Delegation an ein anderes von den Kommanditaktionären zu bestellendes Gremium. Der Ausschluss des Vetorechts der Hauptversammlung ist auch dann möglich, wenn gleichzeitig die Zustimmungsbefugnis auf den Aufsichtsrat oder ein anderes von den Kommanditaktionären zu bestellendes Gremium verlagert wird, an dessen Besetzung sie mitwirken können. Dadurch werden die Rechte der Kommanditaktionäre hinreichend gewährleistet18. c) Ausschluss des Zustimmungsrechts bei einer als Publikumsgesellschaft strukturierten Kapitalgesellschaft & Co. KGaA Streitig ist hingegen allein der Fall, in dem das Zustimmungsrecht der Hauptversammlung bei einer Publikums-KGaA ohne natürliche Person als Vollhafter durch die Satzung ersatzlos ausgeschlossen werden soll. Ausgangspunkt dieser Diskussion ist ein obiter dictum des BGH in seiner Entscheidung vom 24.2.1997 zur Zulässigkeit einer GmbH als alleiniger Komplementärin einer KGaA. Der BGH hat in dieser Entscheidung die Frage aufgeworfen, ohne sie zu beantworten, ob den besonderen Risiken für Kapitalanleger, die sich aus der begrenzten Haftung des Komplementärs ergeben, dadurch Rechnung getragen werden müsse, dass Satzungsgestaltungen zu Lasten der Kommanditaktionäre nur in engeren Grenzen als bei einer gesetzestypischen KGaA mit einer natürlichen Person als persönlich haftendem Gesellschafter zuzulassen seien. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Grundsätze, die für die Gestaltung

__________ 16 BGHZ 134, 392, 399. 17 Kessler, Die rechtlichen Möglichkeiten der Kommanditaktionäre einer GmbH & Co. KGaA zur Einwirkung auf die Geschäftsführung, 2003, S. 211 f.; Overlack in RWSGesellschaftsrecht 1997, S. 237, 258; Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000, Rz. 52; Schaumburg, DStZ 1998, 525, 532; Ihrig/Schlitt, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 33, 64 f. 18 Vgl. OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 782; Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 66; Kessler, Die rechtlichen Möglichkeiten der Kommanditaktionäre einer GmbH & Co. KGaA zur Einwirkung auf die Geschäftsführung, 2003, S. 214; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 115; Ihrig/Schlitt, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 33, 66 ff.; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 38; vgl. auch Hommelhoff, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 9, 16, 18.

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von Gesellschaftsverträgen bei Publikums-Kommanditgesellschaften von der Rechtsprechung herausgearbeitet worden sind19. Vor dem Hintergrund dieser Äußerung des BGH gibt es Stimmen in der Literatur20, die den Ausschluss des Zustimmungsrechts der Hauptversammlung bei einer als Publikumsgesellschaft strukturierten Kapitalgesellschaft & Co. KGaA für unzulässig halten – sofern diese Kompetenz nicht auf ein anderes, von den Kommanditaktionären bestimmtes Organ übertragen wird –, während die herrschende und auch in aktuellen Kommentaren bzw. Handbüchern vertretene Auffassung von der Zulässigkeit einer solchen Gestaltung ausgeht21. Richtigerweise ist eine Kompetenzverlagerung – selbst auf ein anderes als von den Kommanditaktionären bestimmtes Organ – auch bei der Publikums-Kapitalgesellschaft & Co. KGaA zulässig. Dafür sprechen insbesondere folgende Argumente: – Bei der KGaA bestimmt sich das Rechtsverhältnis der Komplementäre gegenüber der Gesamtheit der Kommanditaktionäre sowie gegenüber Dritten, namentlich die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis, nach den Vorschriften des HGB über die Kommanditgesellschaft. – Daher sind die Kompetenzen der einzelnen Organe in dieser Beziehung nicht an den Organkompetenzen der Aktiengesellschaft zu messen, sondern primär an denen der Kommanditgesellschaft. Insofern besteht jedoch Vertrags- und Gestaltungsfreiheit. – Nichts anderes gilt bei einer als Publikumsgesellschaft strukturierten Kapitalgesellschaft & Co. KGaA. Zwingende Gründe für ein Abweichen vom

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19 BGHZ 134, 392, 399 in Anschluss an Priester, ZHR 160 (1996), 250, 262; mit ähnlicher Diktion OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 782 f. Die gesetzliche Regelung gehe, so der BGH, davon aus, dass das Machtverhältnis zwischen Hauptversammlung und Aufsichtsrat einerseits und Komplementär andererseits zugunsten des Komplementärs verändert werden könne, solange der Machtverschiebung zugunsten des Komplementärs ein Korrektiv gegenüberstehe, das geeignet sei, den Komplementär zu disziplinieren. Nach dem gesetzlichen Leitbild sei dies die persönliche Haftung. Würde die persönliche Haftung durch Einschaltung einer Kapitalgesellschaft oder GmbH & Co. KG eingeschränkt, müssten andere Korrektivmechanismen durch den Satzungsgeber geschaffen werden. 20 Gegen die Zulässigkeit einer solchen Satzungsgestaltung: Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 157; Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 65; Kessler, Die rechtlichen Möglichkeiten der Kommanditaktionäre einer GmbH & Co. KGaA zur Einwirkung auf die Geschäftsführung, 2003, S. 212 f.; Ihrig/ Schlitt, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 33, 66; Dirksen/Möhrle, ZIP 1998, 1377, 1385; vgl. auch Ladwig/Motte, DStR 1997, 1539, 1541; zurückhaltend auch Habel/Strieder, MittBayNot 1998, 65, 69. 21 Für eine solche Möglichkeit: Born, Die abhängige Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, S. 49 f.; Herfs in VGR (Gesellschaftsrechtliche Vereinigung), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1998, 1999, S. 23, 45; ders. in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 17; Haase, GmbHR 1997, 917, 920; Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 273, 286 ff.; Heermann, ZGR 2000, 61, 76 ff.; Jaques, NZG 2000, 401, 408; Schaumburg, DStZ 1998, 525, 532; ders./Schulte, Die KGaA, 2000, Rz. 58 f.; Wichert, AG 2000, 268, 270; Overlack in RWS-Gesellschaftsrecht 1997, S. 237, 258 f.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 369; vgl. auch Lorz in VGR (Gesellschaftsrechtliche Vereinigung), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1998, 1999, 57, 72 f.

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Grundsatz der Vertragsfreiheit in Bezug auf die Vertretungsregeln fehlen. Aktionäre werden durch zahlreiche Informations- und Schadensersatzansprüche ausreichend geschützt, so dass für eine Einschränkung der Satzungsautonomie kein Bedürfnis besteht. – Hinzu kommt, dass die Publikumsaktionäre freiwillig in die Gesellschaft eintreten und aufgrund der freien Übertragbarkeit der Kommanditaktien zum Marktwert bzw. Börsenpreis jederzeit wieder austreten können. Der Anlegerschutz wird durch entsprechende Informationen des Anlegers im Emissionsprospekt sowie infolge laufender kapitalmarktrechtlicher Pflichtveröffentlichungen über seine Rechte in der KGaA gewahrt. d) Praxishinweise Soweit ersichtlich existiert kein Fall, bei dem ein Registergericht eine Kapitalgesellschaft & Co. KGaA, deren Satzung den Ausschluss der Mitwirkungsrechte der Kommanditisten enthielt, nicht eingetragen hat. Vielmehr wurde bei verschiedenen Publikumsgesellschaften in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA das Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre ausgeschlossen, wozu z. B. Gesellschaften wie die Merck KGaA22, die CRESCES Technologie GmbH & Co. KGaA23 oder die TIG Themis Industries Group GmbH & Co. KGaA24 zählen. Nur aus Vorsichtsgründen bietet es sich im Falle einer geplanten oder bestehenden Börsennotierung an, das Zustimmungsrecht auf den Aufsichtsrat oder ein sonstiges fakultatives Organ zu delegieren25, dessen Mitglieder mehrheitlich durch die Hauptversammlung bestellt werden. Eine Alternativlösung kann auch sein, dass dem Aufsichtsrat neben dem fakultativen Aufsichtsorgan für bestimmte, nicht überschneidende Fälle ein Vetorecht gegenüber Maßnahmen der Geschäftsführung und/oder des fakultativen Aufsichtsorgans eingeräumt wird. Zwar bestehen wegen der unterschiedlichen Kompetenzverteilung bei Geschäftsführungsfragen zwischen persönlich haftenden Gesellschaftern und Hauptversammlung von Gesetzes wegen keine Mitwirkungsbefugnisse des Aufsichtsrats bei Geschäftsführungsmaßnahmen; gleichwohl kann aufgrund der bestehenden Satzungsfreiheit Widerspruchs-

__________ 22 Merck KGaA: Die Geschäftsleitung bedarf für Geschäfte, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen, nach § 13 Abs. 4 der Satzung der Zustimmung der E. Merck Offene Handelsgesellschaft. § 164 Satz 1 Halbsatz 2 HGB und § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG finden auf die Führung der Geschäfte keine Anwendung. 23 CRESCES Technologie GmbH & Co. KGaA: Nach § 16.2 der Satzung steht den Kommanditaktionären ein Widerspruchsrecht nach § 164 HGB nicht zu. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG ist nicht anwendbar. 24 TIG Themis Industries Group GmbH & Co. KGaA: Nach § 10 Abs. 3 der Satzung ist das Zustimmungsrecht der Kommanditaktionäre bei außergewöhnlichen Geschäften nach § 164 HGB ausgeschlossen. Gemäß § 14 der Satzung wird das Zustimmungsrecht durch den Aufsichtsrat ausgeübt. 25 Vgl. OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 782 f.; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 38.

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oder Zustimmungsbefugnis bezüglich Maßnahmen anderer Organe auch dem Aufsichtsrat zugewiesen werden26. Ein solches Vetorecht würde dem Aufsichtsrat auf statutarischer Grundlage gewährt werden, es betrifft in beiden Fällen Geschäftsführungsmaßnahmen, die einmal vom fakultativen Organ und einmal von dem Komplementär (ggf. unter Zustimmung des fakultativen) Organs vorgenommen werden. Eine solche Regelung auf satzungsmäßiger Basis ist aufgrund der bereits aufgezeigten Gestaltungsautonomie im Rahmen der Kompetenzen der einzelnen Organe innerhalb der KGaA zulässig. e) Zustimmung zu Grundlagengeschäften als nicht übertragbare Kompetenz aa) Anwendungsbereich Nicht satzungsdispositiv ist hingegen die Zustimmung zu sog. Grundlagengeschäften, weil solche Geschäfte den Kernbereich der Mitgliedschaft berühren, dessen Schutz im Personengesellschaftsrecht nicht disponibel ist. Daher muss die Zustimmung zu Grundlagengeschäften, soweit in der Satzung unter Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Kernbereichslehre nichts Gegenteiliges bestimmt ist, einstimmig erteilt werden. Zu den Grundlagengeschäften zählen alle strukturverändernden Maßnahmen, die eine Änderung des Gesellschaftsvertrags erfordern oder ohne die Notwendigkeit einer formellen Änderung wesentliche gesellschaftsvertragliche Rechte berühren, also Auswirkungen auf die Tätigkeit, die Organisationsverfassung, die Struktur oder die Zusammensetzung der Gesellschaft haben27. Unter solche Grundlagengeschäfte können auch Geschäftsführungsmaßnahmen fallen, wenn dabei die Satzung verändert wird. Dies ist insbesondere bei Unter- oder Überschreitung des Unternehmensgegenstands der Fall28. Der Begriff des Grundlagengeschäfts deckt sich – als „Daumenregel“ – mit den Maßnahmen, die nach neuerer Auffassung des BGH in der AG der Mitwirkung der Hauptversammlung bedürfen. Danach kommt bei Geschäftsführungsmaßnahmen nach den „Gelatine“-Grundsätzen eine Mitwirkung der Hauptversammlung dann in Betracht, wenn die Maßnahmen die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Gesellschaft zu bestimmen, be-

__________ 26 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 111, 113, 147; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 61 ff., insb. Rz. 63; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 40a, 51; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 278 Rz. 13; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 88; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 38 a. E.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 234 ff. 27 OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 783; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 123; Heermann, ZGR 2000, 61, 66; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 41. 28 OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 782 ff.; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 41.

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rühren29. Allerdings ist es möglich, die Zustimmung der Kommanditaktionäre zu Grundlagengeschäften in der Satzung zu antizipieren und dadurch die Befassung der Hauptversammlung zu vermeiden. Hierzu bedarf es aufgrund des Bestimmtheitsgrundsatzes einer konkreten Satzungsregelung30. bb) Keine weiteren ungeschriebenen Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung bei der KGaA Weitere ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung, insbesondere nach den in der AG geltenden „Holzmüller“- bzw. „Gelatine“Grundsätzen, gibt es bei der KGaA nicht. Für diese in „offener Rechtsfortbildung“ entwickelte Mitwirkungsbefugnis ist bei der KGaA kein Raum, weil es aufgrund des personengesellschaftsrechtlichen Charakters der Geschäftsführungsregelung schon die Kategorie des Grundlagengeschäfts gibt, das grundsätzlich eine Mitwirkung der Kommanditaktionäre sichert, die auch durch die Satzung nicht ausgeschlossen werden kann31. Die Beteiligung der Kommanditaktionäre bei Geschäftsführungsmaßnahmen ist vom Prinzip her anders als bei der AG. Grundsätzlich bedürfen alle außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen der Zustimmung der Hauptversammlung (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 HGB). Diese Regelung ist bis auf die Zustimmung zu Grundlagengeschäften satzungsdispositiv. Für „ungeschriebene“ Kompetenzen ist kein Raum. Im Ergebnis dürfte es aber nach der Modifizierung der „Holzmüller“-Rechtsprechung durch die „Gelatine“-

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29 Nach der zu konzerninternen Umstrukturierungen in der AG ergangenen Leitentscheidung Gelatine (BGHZ 159, 30 ff.) kommt eine Mitwirkung der Hauptversammlung über die gesetzliche oder statutarische Kompetenzzuweisung hinaus nur in Ausnahmefällen in Betracht, nämlich dann, wenn die Geschäftsführung eine Umstrukturierung beschließt, die die Kernkompetenz der Aktionäre tangiert, über die Verfassung zu entscheiden, und die in ihren Auswirkungen einem Zustand nahe kommt, der allein durch eine Satzungsänderung der Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Eine solche Grenze ist z. B. bei Ausgliederungen oder Umhängen von Vermögen einer Tochtergesellschaft auf eine Enkelgesellschaft nach der oben zitierten Gelatine-Entscheidung erst dann erreicht, wenn die Strukturmaßnahme vom Umfang her etwa 80 % des Gesellschaftsvermögens repräsentiert (näher zu den nunmehr maßgeblichen Schwellenwerten Liebscher, ZGR 2005, 1, 15 f.; anders aber (Schwellenwert 50 % des Vermögens) trotz der klaren Urteilsgründe Fuhrmann, AG 2004, 339, 340). Bloße Beteiligungsveräußerungen führen dagegen nicht zu einer Zustimmungspflicht (BGH, ZIP 2007, 24 ff. (AG) mit Anm. von Falkenhausen), ebenso wenig der Beteiligungserwerb (OLG Frankfurt, ZIP 2011, 75 ff.). 30 OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 783; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 124; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 278 Rz. 34; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 41. 31 Das OLG Stuttgart prüft in seiner Entscheidung vom 14.5.2003 (OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 783 ff.) ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung nicht, sondern leitet die Mitwirkungsbefugnis aus dem Konzept des Grundlagengeschäfts ab. Vgl. ferner aus der Literatur Kessler, NZG 2005, 145, 148; Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 91 f.; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 123; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 43; a. A. Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 180 a. E.; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 39.

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Entscheidung keinen großen Unterschied mehr zur Rechtslage bei der AG geben32. 4. Nicht übertragbare Kompetenzen nach dem Aktienrecht Nach § 278 Abs. 3 AktG hat die Hauptversammlung der KGaA die gleichen Kompetenzen wie die Hauptversammlung der AG nach § 119 Abs. 1 AktG, wobei im Fall des § 119 Abs. 1 Nr. 3 AktG an die Stelle der Entlastung des Vorstands die Entlastung der persönlich haftenden Gesellschafter tritt. Auch in den übrigen Fällen, in denen bei der AG ein Hauptversammlungsbeschluss nach den gesetzlichen Vorschriften erforderlich ist, gilt dies auch für die KGaA. Zu den Rechten der Kommanditaktionäre, die diesen als Gesamtheit zustehen und die in der Hauptversammlung ausgeübt werden, zählen insbesondere: – Recht zur Feststellung des Jahresabschlusses (§ 286 Abs. 1 Satz 1 AktG) – Beschlussfassung über die Verwendung des auf die Kommanditaktionäre entfallenden Gewinns – Bestellung und Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner – Entlastung der geschäftsführenden Komplementärin – Bestellung der Abschluss- und Sonderprüfer, §§ 278 Abs. 3, 119 Abs. 1 AktG – Ausgabe von neuen Aktien (§§ 278 Abs. 3, 182 ff. AktG) – Ermächtigung zur Ausgabe von Wandel- und Optionsschuldverschreibungen (§§ 278 Abs. 3, 221 AktG) – Ermächtigung zum Erwerb und zur Veräußerung eigener Aktien – Zustimmung zu Unternehmensverträgen (§§ 278 Abs. 3, 291 ff. AktG) und Umwandlungen nach dem UmwG – Auflösung der Gesellschaft (§ 289 AktG) Diese Kompetenzen sind generell nicht auf ein fakultatives Aufsichtsgremium übertragbar. 5. Änderung von Satzungsbestimmungen Die Hauptversammlung ist grundsätzlich auch für Veränderungen der Satzung zuständig (§§ 278 Abs. 3, 119 Abs. 1 Nr. 5, 179 Abs. 1 Satz 1 AktG). Streitig ist aber, ob jede Satzungsänderung in der KGaA unabhängig von ihrer inhaltlichen Qualifizierung unter § 179 Abs. 1 AktG fällt, oder ob zwischen aktienrechtlichen und personengesellschaftsrechtlichen Bestandteilen der Satzung zu differenzieren ist. Eine undifferenzierte Anwendung von § 179 Abs. 1 AktG auch auf Bestimmungen, die personengesellschaftsrechtlichen Charakter haben, hätte zur Folge, dass das Mehrheitserfordernis in § 179 Abs. 2 AktG beachtet werden müsste und auch in formeller Hinsicht alle Vorschriften, insbesondere die der notariellen Beurkundung und der Eintragung ins Handelsregister als

__________ 32 Zutreffend Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 43.

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Wirksamkeitsvoraussetzung der Satzungsänderung nach § 181 Abs. 3 AktG, eingehalten werden müssten. Die Problematik wird insbesondere deutlich bei Aufnahme und Ausscheiden von Komplementären. Derartige Maßnahmen stellen (auch) eine Satzungsänderung dar, fallen aber in den hier interessierenden Fällen kraft Satzungszuweisung oftmals in die (ausschließliche) Personalkompetenz des fakultativen Aufsichtsorgans (vgl. oben unter III. 2.). Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die Aufnahme eines weiteren Komplementärs mit der Entscheidung des entsprechenden Organs wirksam wird oder ob es hierzu einer formellen Satzungsänderung – durch Beschluss der Hauptversammlung – gemäß § 179 AktG bedarf. Richtigerweise dürfen dort, wo die materielle Änderungskompetenz auf andere Organe verlagert werden kann, d. h. für die Regelungen der Satzung, die auf Personengesellschaftsrecht beruhen, auch die formellen Änderungsvorschriften nicht gelten. Andernfalls würde durch die zwingende Anwendung des § 179 AktG die an sich eröffnete Gestaltungsfreiheit wieder unterlaufen werden33. Für die personengesellschaftsrechtlichen Bestandteile der Satzung gelten grundsätzlich gemäß § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 119 Abs. 1 HGB die Regelungen über die Änderungen eines KG-Gesellschaftsvertrags, d. h. es bedarf des einstimmigen Beschlusses aller Gesellschafter, Komplementäre sowie Kommanditisten. In den Grenzen des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Kernbereichslehre kann aber von dieser Regelung abgewichen werden. Ein Beschluss der Hauptversammlung ist daher nicht zwingend erforderlich. Wird etwa die Aufnahme neuer Komplementäre auf das fakultative Organ übertragen, so wird die Aufnahme mit dessen Entscheidung wirksam. Da gemäß § 282 AktG alle Komplementäre in der Satzung namentlich benannt sein müssen, ist die Fassung zu ändern. Dies kann bei entsprechender Ermächtigung durch den Aufsichtsrat gemäß § 179 Abs. 1 Satz 2 AktG erfolgen34. 6. Zustimmung zur Aufhebung der Vinkulierung von Namensaktien a) Zuständigkeit der Hauptversammlung für Zustimmungen zu Übertragungen durch Aktionäre Anders als bei Inhaberaktien kann die Satzung die Übertragung von Namensaktien von der Zustimmung der Gesellschaft abhängig machen (§ 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 1 AktG). Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Zustimmung zur Übertragung der Aktien liegt in der KGaA grundsätzlich

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33 Born, Die abhängige Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, S. 211 f.; Wichert, AG 1999, 362, 366; Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 3 Rz. 35 ff.; Förl/ Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 278 Rz. 18; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 281 Rz. 9; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 282 Rz. 63; a. A. Cahn, AG 2001, 579, 582 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 281 Rz. 5 f., der allerdings die antizipierte Zustimmung der Hauptversammlung zu Satzungsänderungen in der Satzung für zulässig hält. 34 Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 3 Rz. 37; vgl. ferner Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 281 Rz. 63.

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bei den persönlich haftenden Gesellschaftern (§ 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG). Die Entscheidung über die Zustimmung kann aber auch einem anderen Organ zugewiesen werden (§ 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG). Die Erklärung der Zustimmung im Außenverhältnis erfolgt aber stets durch die persönlich haftenden Gesellschafter35. Ob für die Zustimmung zur Übertragung in der KGaA neben Hauptversammlung und Aufsichtsrat (§ 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG) auch ein fakultatives Organ zuständig sein kann, ist fraglich. Zwar wird dies in der Literatur teilweise implizit angenommen, dagegen spricht jedoch, dass es sich bei § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG um eine aktienrechtliche Regelung handelt, die dem Prinzip der Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 AktG unterliegt36. Da § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG abschließend Aufsichtsrat und Hauptversammlung als zuständige Organe vorsieht, sollte aus Gründen der rechtlichen Vorsicht diese Kompetenz nicht einem fakultativen Aufsichtsorgan eingeräumt werden. Insofern sehen die relevanten Satzungen in der Praxis auch vor, dass die Hauptversammlung (und nicht fakultative Organe) über die Erteilung der Zustimmung beschließt. b) Zuständigkeit für Zustimmung zu Erwerb und Veräußerung von eigenen Aktien als Geschäftsführungsmaßnahme Von der satzungsgemäßen Vinkulierung können der Erwerb und die Übertragung von eigenen Aktien an der Gesellschaft ausgenommenen werden. Da rechtlich unklar ist, ob sich eine Vinkulierung nach § 68 Abs. 2 AktG auch auf den Erwerb und die Veräußerung eigener Aktien bezieht37, können diese Maßnahmen in der Satzung (klarstellend) von der Vinkulierung ausgenommen werden. Als Geschäftsführungsmaßnahme der Komplementär-Gesellschaft können sie aber der Zustimmung durch das fakultative Aufsichtsorgan gemäß Satzung oder dessen Geschäftsordnung unterliegen. Eine solche Regelung in Satzung oder Geschäftsordnung verstößt nicht gegen § 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG, wonach nur alternativ, aber nicht

__________ 35 Vgl. Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 68 Rz. 15; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 112. 36 Kessler, Die rechtlichen Möglichkeiten der Kommanditaktionäre einer GmbH & Co. KGaA zur Einwirkung auf die Geschäftsführung, 2003, S. 19; ders., NZG 2005, 145, 147; wohl auch Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 267 (Verweis auf §§ 53a bis 75 AktG); a. A. wohl Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 112. 37 Durch die Vinkulierung wird der Grundsatz der freien Übertragbarkeit von Aktien zu Gunsten eines Schutzes der Gesellschaft vor Überfremdung oder der Aufrechterhaltung der bestehenden Beteiligungsverhältnisse eingeschränkt (Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 68 Rz. 10 m. w. N.). Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass sowohl der Erwerb als auch die Veräußerung eigener Aktien unter den Tatbestand des § 68 Abs. 2 AktG fallen. Stellungnahmen in der Literatur gehen jedoch ohne nähere Begründung davon aus, dass lediglich die Veräußerung, nicht aber der Erwerb eigener Aktien von der Vinkulierung erfasst sei (Wiesner in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 14 Rz. 20).

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kumulativ Zuständigkeiten für die Zustimmung im Rahmen der Vinkulierung geschaffen werden können. Zum einen betrifft die Kompetenz des fakultativen Aufsichtsorgans hier lediglich die Überwachung einer Geschäftsführungsmaßnahme (Veräußerung eigener Aktien), die als solche gerade nicht der Vinkulierung unterliegt; zum anderen ist es selbst bei der Delegation von Kompetenzen im Rahmen des § 278 Abs. 3 i. V. m. § 68 Abs. 2 Satz 3 AktG zulässig, dass die Satzung für unterschiedliche Konstellationen unterschiedliche Zuständigkeiten begründet38.

IV. Zuweisung von Kompetenzen des Aufsichtsrats 1. Grundlagen Die KGaA hat kraft zwingenden Rechts einen Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat der KGaA hat allerdings eine andere Stellung als der Aufsichtsrat in der AG. Insbesondere die Kompetenzverteilung innerhalb der KGaA unterscheidet sich von der bei der AG. Bei der KGaA sind – anders als bei der AG – bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen die Kommanditaktionäre zu beteiligen. Den Kommanditaktionären oder einem anderen von ihnen bestimmten Organ können durch die Satzung weitergehende Geschäftsführungskompetenzen eingeräumt werden. Eine Mitwirkung des Aufsichtsrats an Unternehmensentscheidungen ist daher nicht erforderlich, um ein Gegengewicht zu der Geschäftsführungskompetenz der persönlich haftenden Gesellschafter zu schaffen. Der Aufsichtsrat in der KGaA ist somit nach dem gesetzlichen Leitbild ein reines Kontrollorgan, während die Unternehmenspolitik in unmittelbarer Abstimmung unter den Komplementären und Kommanditaktionären entschieden werden soll. 2. Kompetenzen Der Aufsichtsrat der KGaA verfügt im Wesentlichen über folgende Kompetenzen – Überwachungskompetenz. Der Aufsichtsrat der KGaA hat nach dem Gesetz mehrere Kompetenzen. Er hat zunächst die Geschäftsführung zu überwachen. Diese Kompetenz deckt sich mit der des Aufsichtsrats einer AG. – Ausführungs- und Vertretungskompetenz. Daneben hat er gemäß § 287 Abs. 1 AktG die Beschlüsse der Kommanditaktionäre auszuführen und sie in Rechtsstreitigkeiten mit persönlich haftenden Gesellschaftern zu vertreten. Zusätzlich vertritt der Aufsichtsrat die KGaA nach § 287 Abs. 2 AktG bei Vereinbarungen mit den Komplementären. Im Vergleich zum Aufsichtsrat der AG fehlen dem Aufsichtsrat der KGaA jedoch folgende wesentliche Kompetenzen:

__________ 38 Wiesner in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2207, § 14 Rz. 24; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 68 Rz. 65.

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– Keine Personalkompetenz. Da die persönlich haftenden Gesellschafter geborene Geschäftsführungsorgane sind, hat der Aufsichtsrat keine Personalkompetenz39. Ohne Regelung in der Satzung kann der Aufsichtsrat Komplementäre weder aufnehmen, abberufen noch deren Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis entziehen. Dies gilt auch für den mitbestimmten Aufsichtsrat. – Keine Zustimmungskompetenz. Wegen der dargestellten unterschiedlichen Kompetenzverteilung bei Geschäftsführungsfragen zwischen persönlich haftenden Gesellschaftern und Hauptversammlung und der daraus resultierenden beschränkten Funktion des Aufsichtsrats bleibt für die Mitwirkungsbefugnisse des Aufsichtsrats bei Geschäftsführungsmaßnahmen kein Raum. § 111 Abs. 4 AktG ist daher auf den Aufsichtsrat der KGaA nicht anwendbar. Dies gilt auch dann, wenn die Rechte der Kommanditaktionäre aus § 164 Satz 1 HGB abbedungen worden sind (vgl. unter III. 3.). – Keine Kompetenz zum Erlass einer Geschäftsordnung für die Geschäftsführung. Dem Aufsichtsrat der KGaA fehlt weiterhin die Kompetenz zum Erlass einer Geschäftsordnung für die Geschäftsführung der Komplementärin. §§ 77 Abs. 2 Satz 1, 82 Abs. 2 AktG gelten nicht. – Keine Kompetenz zur Feststellung des Jahresabschlusses. Schließlich ist der Aufsichtsrat der KGaA nicht an der Feststellung des Jahresabschlusses beteiligt. Hierfür ist die Hauptversammlung zuständig (§ 286 Abs. 1 AktG). 3. Gestaltungsmöglichkeiten a) Überwachungskompetenz Der Aufsichtsrat hat in erster Linie die Geschäftsführung der geschäftsführenden Komplementäre zu überwachen. Bei der Überwachungskompetenz des Aufsichtsrats handelt es sich ohne Frage um eine nicht entziehbare aktienrechtliche Kompetenz des Aufsichtsrats, die keinem anderen Organ an seiner Stelle zugewiesen werden kann40. Die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats bezieht sich allerdings allein auf die Überwachung der zur Geschäftsführung befugten persönlich haftenden Gesellschafter. Dies gilt selbst dann, wenn der Hauptversammlung oder einem anderen satzungsmäßig berufenen Organ Geschäftsführungskompetenzen oder Mitwirkungsrechte bei der Geschäftsführung übertragen worden sind41. Der Aufsichtsrat hat jedoch keine ausschließliche Überwachungskompetenz, das heißt, es gibt kein gesellschaftsinternes Monopol in Bezug auf die Kontrolle der Geschäftsführung. Diese Überwachungskompetenzen können paral-

__________

39 Vgl. aber die in der Praxis wenig bekannte Regelung des § 288 Abs. 3 Satz 2 AktG für die Herabsetzung der Tätigkeitsvergütung der Komplementäre, wofür entsprechend § 87 Abs. 2 AktG der Aufsichtsrat zuständig ist. 40 Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 147. 41 Martens, AG 1982, 113, 117; Kallmeyer, ZGR 1983, 57, 70 Fn. 55; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 53; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 48.

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lel auch dem fakultativen Aufsichtsorgan kraft Satzung eingeräumt werden42, so dass insgesamt zwei Organe die Geschäftsführung kontrollieren, jedoch ggf. mit unterschiedlichen Kontrollmitteln. Im Rahmen der Einrichtung dieser parallelen Überwachungskompetenz durch ein weiteres Organ muss jedoch darauf geachtet werden, dass die Überwachungsrechte des Aufsichtsrats in dem bei der gesetzestypischen KGaA vorgesehenen Umfang nicht beeinträchtigt werden43. Unzulässig ist insbesondere eine faktische Verdrängung des Aufsichtsrats. b) Ausführungskompetenz Nach § 287 Abs. 1 AktG führt der Aufsichtsrat die Beschlüsse der Hauptversammlung aus, die das Verhältnis der Komplementäre zu den Kommanditaktionären betreffen. Gemeint sind damit ausschließlich (1) diejenigen Beschlüsse, die nach §§ 285 Abs. 2 Satz 1, 286 Abs. 1 AktG des Zusammenwirkens der Komplementäre und der Gesamtheit der Kommanditaktionäre bedürfen, und (2) Beschlüsse, die die Gesamtheit der Kommanditaktionäre in eigenen Angelegenheiten trifft (z. B. im Hinblick auf Prozesse gegen die Komplementäre oder in Bezug auf die kraft Satzung zugewiesenen Kompetenzen)44. Die Ausführungskompetenz nach § 287 Abs. 1 AktG in Bezug auf die o. g. Beschlüsse entstammt der personengesellschaftsrechtlichen Seite der KGaA. Diese Kompetenz unterliegt damit im vollen Umfang der Satzungsautonomie, so dass dieses Recht auch einem anderen Organ (außer dem Komplementär oder der Komplementärgesellschaft) oder einer bestimmten Person kraft Satzung zugewiesen werden kann45. Davon wird bei Strukturen mit fakultativen Aufsichtsgremien rege Gebrauch gemacht. Diese Gestaltung liegt auf der Hand, da wichtige andere Rechte der Gesamtheit der Kommanditaktionäre an den Gesellschafterausschuss delegiert wurden. Alle sonstigen Beschlüsse, die von der Hauptversammlung aufgrund ihrer durch allgemeines Aktienrecht gegebenen Zuständigkeit gefasst werden, sind durch diese Sonderregelung des KGaA-Rechts nicht erfasst. Sie können nicht vom Aufsichtsrat ausgeführt werden, weil dem Aufsichtsrat insoweit die Vertretungsmacht fehlt. Gegenüber Dritten wird die Gesellschaft vielmehr allein von den Komplementären vertreten. Nach § 283 Nr. 1 AktG gelten für die Komplementäre sinngemäß die für den Vorstand der Aktiengesellschaft geltenden Vorschriften über Anmeldungen, Einreichungen, Erklärungen und Nach-

__________ 42 Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 148; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 90. 43 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 244. 44 So Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 49; ferner Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 58 f.; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 176. 45 Vgl. nur Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 55 ff.; Förl/ Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 287 Rz. 6; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 58; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 177.

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weise zum Handelsregister (etwa §§ 181, 184, 294 Abs. 1, 319 Abs. 4 AktG)46. Insofern können dem fakultativen Aufsichtsorgan auch keine Kompetenzen übertragen werden. c) Vertretungskompetenz Nach § 287 Abs. 2 AktG vertritt der Aufsichtsrat die Gesamtheit der Kommanditaktionäre in Rechtsstreitigkeiten mit den Komplementären, wenn die Hauptversammlung keine besonderen Vertreter gewählt hat. Darüber hinaus steht dem Aufsichtsrat gemäß § 278 Abs. 3 i. V. m. § 112 AktG auch die Kompetenz zu, die Gesellschaft bei Rechtsgeschäften mit den Komplementären zu vertreten47. Durch die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats wird eine von Interessenkollisionen freie Vertretung der Gesellschaft ermöglicht. Aus praktischer Sicht würde es sich in der Tat anbieten, die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats gegenüber dem Komplementär- bzw. der Komplementär-Gesellschaft an das fakultative Aufsichtsorgan zu delegieren – jedenfalls dann, wenn das Organ über Personal- und/oder Überwachungskompetenzen verfügt. Die Begründung einer Komplementärstellung sowie ihre Änderung und Beendigung unterliegt dem Personengesellschaftsrecht und kann durch Satzung ausgestaltet und einem fakultativen Organ zugewiesen werden. Daher spricht aus Sicht der Praxis viel dafür, auch die – an sich dem Aufsichtsrat zustehende – Vertretungskompetenz an das fakultative Aufsichtsorgan zu delegieren. Vorteile wären eine klare Abgrenzung und Zuordnung der Kompetenzen in der Gesellschaft. Dasselbe Organ, das über die Aufnahme eines Komplementärs entscheidet, würde dann auch die Gesellschaft beim Abschluss von Vereinbarungen mit Komplementären vertreten. Es ist jedoch unklar, ob diese Vertretungskompetenz zwingend ist oder ob die Satzung die Zuständigkeit abweichend regeln kann. Die wohl herrschende Meinung in der Literatur sieht die Kompetenz des Aufsichtsrats zur gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung als ausschließlich und zwingend an48. Der BGH (NZG 2005, 276 ff.) hat sich mit der Frage der satzungsgemäßen Gestaltung der Vertretungsbefugnis nicht explizit auseinandergesetzt, die Rechtsgrundlage hierfür jedoch aus § 112 AktG hergeleitet. Diese Vorschrift ist im Aktienrecht zwingend. Es gibt aber auch durchaus abweichende Stim-

__________ 46 Vgl. Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 49; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 59; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 176. 47 Vgl. BGH, NZG 2005, 276 ff.; Sethe, AG 1996, 289, 299; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 278 Rz. 16; Förl/Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 287 Rz. 4. 48 So Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 128 f.; Sethe, AG 1996, 289, 298 f.; Ihrig/Schlitt, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 33, 54 ff.; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 179; Wichert, AG 2000, 268, 273 f.; Assmann/ Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 68 ff.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 278 Rz. 16; wohl auch Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 68.

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men wie das OLG München, die eine Delegation an ein anderes Organ erlauben49. Die herrschende Meinung in der Literatur begründet ihre Sicht vor allem mit der Entstehungsgeschichte sowie der aktienrechtlichen zwingenden Grundlage des § 112 AktG. Dabei wird nach der herrschenden Meinung, wenngleich die Diskussion sich überwiegend auf die Delegation an einen nicht geschäftsführungsbefugten Komplementär bezieht, nicht danach differenziert, auf welches Organ die Vertretungskompetenz übertragen wird. Vielmehr wird pauschal konstatiert, dass eine Satzungsbestimmung, die die Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Komplementär einem anderen Organ oder einer anderen Person als dem Aufsichtsrat zuweist, als nichtig anzusehen sei. Es gibt gute Gründe dafür, dass die herrschende Lehre nicht zutreffend ist. Ausgangspunkt der herrschenden Lehre ist die oben zitierte Entscheidung des OLG München. Dieser Entscheidung lag die Delegation der Vertretungskompetenz an einen ansonsten nicht zur Geschäftsführung und Vertretung berechtigten Komplementär zugrunde, und nicht die Delegation an einen von Aktionären besetzten Ausschuss. Insofern ist die Diskussion vor dem Hintergrund des Interessenskonfliktes zu sehen, der bei einer solchen Gestaltung in der Tat latent gegeben ist. Gerade in solchen Fällen, in denen die Vertretungskompetenz durch unabhängige, sachverständige Dritte erfolgt, scheidet ein derartiger Interessenkonflikt aus. Im Übrigen unterfällt das Verhältnis zwischen Komplementären und KGaA grundsätzlich gemäß § 278 Abs. 2 AktG dem Personengesellschaftsrecht, ist also durch Satzung gestaltbar. d) Praxishinweise Angesichts der o. g. Entscheidung des BGH (NZG 2005, 276 ff.), der die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats der KGaA aus dem bei der Aktiengesellschaft zwingend geltenden § 112 AktG herleitet, sowie der drohenden Rechtsrisiken (Teil- oder Gesamtnichtigkeit der Satzung, Unwirksamkeit der Vertretungsgeschäfte)50 sollte von einer Delegation der Vertretungskompetenz auf

__________ 49 OLG München, AG 1996, 86, 86 f.; Herfs, AG 2005, 589, 592 f.; ders. in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 56; Förl/Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 287 Rz. 4; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 287 Rz. 20 (allerdings ohne Berücksichtigung der h. L.); ebenso abweichend, allerdings mit anderem Ansatz – Kompetenz liegt kraft Gesetzes bei den Komplementären, kann aber auf anderes Organ delegiert werden – Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 497 ff. 50 Ob die Zuweisung des Vertretungsrechts in § 112 AktG gemäß § 134 BGB ein gesetzliches Verbot der entgegen dieser Zuweisung abgeschlossenen Rechtsgeschäfte darstellt oder ob es sich dabei allein um eine Vertretungsregelung handelt mit der Folge, dass ein dagegen verstoßendes Handeln nach § 177 BGB von dem Aufsichtsrat genehmigt werden kann, ist in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und im Schrifttum umstritten (zum Meinungsstand s. Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 112 Rz. 7 und Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 112 Rz. 31 ff.). Die wohl herrschende Meinung geht von der Geltung der §§ 177 ff. BGB aus. Der BGH hat die Frage bislang offen gelassen (BGH, NJW-RR 1993, 1250; BGH, NZG 2005, 276, 277).

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den Personalausschuss gleichwohl in der Praxis abgesehen werden, solange keine einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Der Anwendungsbereich der Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats gegenüber dem Komplementär bzw. der Komplementärgesellschaft wird in der Praxis auch eher gering sein, da zwischen ihnen und der KGaA im gewöhnlichen Geschäftsverlauf keine Rechtsgeschäfte geschlossen werden. Ferner sollte es bei dem Modell der Einheits-KGaA (dazu näher unter VII. 3.) keinen Anlass zu Rechtsstreitigkeiten mit der Komplementärgesellschaft geben. Die Vertretungskompetenz gegenüber den Geschäftsführern/Vorständen der Komplementärgesellschaft liegt dann nämlich bei dem fakultativen Aufsichtsorgan51.

V. Beschneidung von Kompetenzen des geschäftsführenden Komplementärs Der Komplementär ist kraft Gesetzes ohne zeitliche Begrenzung zur Leitung und Vertretung der Gesellschaft berufen. Anders als der Vorstand der AG erlangt er seine Leitungs- und Vertretungsfunktionen nicht durch die Bestellung durch den Aufsichtsrat, sondern zeitlich unbegrenzt allein aufgrund seiner Gesellschafterstellung. Er ist daher geborenes Organ der KGaA. 1. Vertretungsmacht Für die Vertretung der KGaA gilt nach § 278 Abs. 2 AktG das Recht der Kommanditgesellschaft52. Da dies mit Ausnahme der Regelung des § 170 HGB, wonach Kommanditisten von der Vertretung der KG ausgeschlossen sind, keine spezielleren Bestimmungen enthält, gilt über § 161 Abs. 2 HGB das Recht der OHG, insbesondere die §§ 125, 126, 127 HGB. Danach liegt die organschaftliche Vertretung ausschließlich bei den Komplementären, dieses Prinzip wird nur in wenigen Fällen durch spezialgesetzliche Anordnungen des AktG durchbrochen53. Weiter sind – wie der Vorstand einer AG – auch die geschäftsführenden Komplementäre in Einzelfällen bei der Vertretung an die Mitwirkung anderer Organe gebunden54.

__________ 51 Nach einer Stimme in der Literatur (Wichert, AG 2000, 268, 273 f.) soll sich bei der GmbH & Co. KGaA die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats der KGaA auch auf die Geschäftsführer der Komplementär-Gesellschaft erstrecken. Diese Auffassung steht nicht im Einklang mit dem gesellschaftsrechtlichen Organisationsgefüge der KGaA und ist daher abzulehnen. 52 Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 161; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 245. 53 So vertritt in wenigen spezialgesetzlich geregelten Fällen der Aufsichtsrat die Gesellschaft. Hierzu gehören gemäß § 287 Abs. 2 AktG Rechtsstreitigkeiten zwischen Komplementären und der Gesamtheit der Kommanditaktionäre und gemäß § 278 BGB i. V. m. § 112 AktG Vereinbarungen zwischen der KGaA und den Komplementären (vgl. oben unter IV. 2. und 3.). 54 So ist die Mitwirkung des Aufsichtsrats erforderlich bei Anfechtungsklagen (§ 283 Nr. 13 i. V. m. § 246 Abs. 2 AktG) und bei der Kreditgewährung an persönlich haftende Gesellschafter (§ 283 Nr. 5 i. V. m. § 89 AktG). Die Zustimmung der Hauptver-

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Diese organschaftliche Vertretungsmacht der Komplementäre ist nicht auf Dritte übertragbar, auch nicht auf andere Organe der KGaA55. Eine solche Übertragung würde den Grundsatz der Selbstorganschaft verletzen (§ 125 HGB). Die Übertragung der (ausschließlichen) Vertretungsmacht würde sich auch deswegen verbieten, weil dann die in § 283 AktG ausdrücklich aufgeführten vorstandsähnlichen Funktionen nicht mehr von einem Gesellschafter der KGaA wahrgenommen werden können, sondern von einem außenstehenden Dritten befolgt werden müssen56. 2. Leitungsmacht Die Geschäftsführungsbefugnis des Komplementärs erstreckt sich auf alle Handlungen, die der gewöhnliche Geschäftsbetrieb mit sich bringt (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 116 Abs. 1 HGB). Bei der Frage der Delegation bzw. Beschränkung dieser Kompetenz sind wiederum aktienrechtliche Spezialbestimmungen sowie personengesellschaftsrechtliche Grundsätze auseinander zu halten. a) Geschäftsführungskompetenzen gemäß Aktienrecht Die Schranke für die Übertragung von Kompetenzen auf ein fakultatives Aufsichtsorgan ist die organschaftliche Verantwortlichkeit der Komplementäre aus § 283 AktG, der die durch § 278 Abs. 2 AktG in Bezug genommenen Vorschriften des HGB verdrängt und als Bestandteil des Aktienrechts zwingend ist (§ 23 Abs. 5 AktG)57. Die Komplementäre müssen danach zwingend über diejenigen Geschäftsführungsbefugnisse verfügen, die notwendig sind, um die ihnen durch § 283 AktG übertragenen Pflichten zu erfüllen58. Hierzu gehören u. a.: – Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung und zur Errichtung eines Risikomanagements (§§ 283 Nr. 3, 91 AktG) – die Berichtspflichten gegenüber dem Aufsichtsrat (§ 283 Nr. 4 AktG)

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56 57 58

sammlung ist z. B. erforderlich bei Verzicht auf Ersatzansprüche gegen einen anderen Komplementär (§ 283 Nr. 8 i. V. m. § 93 Abs. 4 AktG) und beim Abschluss von Unternehmens- oder Umwandlungsverträgen (§§ 293, 295 AktG, §§ 78, 13, 65 UmwG). Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 248; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 159; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 25; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 72; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 80. So zutreffend Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 248. K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 2; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 283 Rz. 5; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 283 Rz. 4. Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 576; vgl. auch Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 89 (in Bezug auf den Aufsichtsrat); Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 77 (in Bezug auf den Aufsichtsrat).

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– die Pflicht, den Jahresabschluss und den Lagebericht aufzustellen und den Vorschlag über die Verwendung des Bilanzgewinns auszuarbeiten (§ 283 Nr. 9 AktG) – die Pflichten bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung, insbesondere der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§§ 283 Nr. 14, 92 Abs. 2 AktG) – das Recht zur Einberufung der Hauptversammlung (§ 283 Nr. 6 AktG) – das Recht zur Kontrolle von Hauptversammlungsbeschlüssen durch Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen (§§ 283 Nr. 13, 245 Nr. 4, 249 AktG). b) Geschäftsführungskompetenzen gemäß Personengesellschaftsrecht aa) Grundsatz Für die Regelung der Geschäftsführungsbefugnisse in der KGaA gilt im Übrigen gemäß § 278 Abs. 2 AktG Personengesellschaftsrecht und damit Satzungsautonomie. Infolgedessen können Geschäftsführungsbefugnisse grundsätzlich auf ein fakultatives Aufsichtsorgan übertragen werden. So können einem fakultativen Aufsichtsorgan auf Basis der Satzung weitgehende Zustimmungsoder Weisungsrechte gegenüber den geschäftsführungsbefugten Komplementären eingeräumt werden59. Das Weisungsrecht kann sich sowohl auf gewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen als auch auf die Grundsätze der Geschäftspolitik und damit auf die langfristige Planung beziehen60. bb) Grenzen Die zulässige Grenze für solche Satzungsregelungen liegt dort, wo beispielsweise ein persönlich haftender Gesellschafter von der Geschäftsführung ausgeschlossen und ein nicht persönlich haftender Geschäftsführer bestellt würde, durch Verlagerung der geschäftsführenden Befugnisse eine organschaftliche Verantwortlichkeit beseitigt oder das auch für die Kommanditgesellschaft auf Aktien zwingende Organisationsprinzip der Zuordnung von Geschäftsführung und Kontrolle zu zwei verschiedenen Organen aufgehoben würde61. Das Prin-

__________ 59 OLG Köln, AG 1978, 17, 18 – „Herrstatt-Fall“; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 151; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 58; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 19 (anders in Bezug auf den Aufsichtsrat allerdings Herfs a. a. O. in Rz. 57, allerdings mit m. E. nicht zutreffender Wiedergabe des Meinungsstandes); Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 580 (allerdings nur für das fakultative Organ, das ausschließlich mit Gesellschaftern besetzt ist); Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 88 (für den Aufsichtsrat); Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 234 ff. (für den Aufsichtsrat). 60 Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 580 (allerdings nur für das fakultative Organ, das ausschließlich mit Gesellschaftern besetzt ist); Assmann/ Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 77 (für den Aufsichtsrat); Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, 1996, S. 150. 61 OLG Köln, AG 1978, 17, 18 – „Herrstatt-Fall“.

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zip der Trennung von Geschäftsführung und Kontrolle spielt insbesondere bei Zuweisung von gesetzlich nicht vorgesehenen Zustimmungs- oder Weisungsrechten an den Aufsichtsrat der KGaA eine Rolle. Hier geht die herrschende Meinung zu Recht davon aus, dass dieses Prinzip jedenfalls in seinem Kern erhalten bleiben muss62. Dieser Grundsatz ist richtigerweise auch auf fakultative Organe mit organschaftlichen Kompetenzen zu übertragen63. Unbedenklich erscheint vor diesem Hintergrund die Einräumung von Weisungsbefugnissen insoweit, als bei der AG Zustimmungserfordernisse eingeräumt werden dürfen; das Gebot der Eigenverantwortlichkeit der Geschäftsführung gilt bei der KGaA nicht64. Nicht zulässig ist hingegen, die Komplementäre in allen Fragen, auch des Tagesgeschäfts, den Weisungen eines anderes Organs zu unterwerfen65. Das fakultative Aufsichtsorgan darf nicht zum allumfassend zuständigen Geschäftsherren bei gleichzeitiger Abwertung der Komplementäre zu bloßen Statisten degradiert werden. Bei einer solchen Gestaltung kann das fakultative Aufsichtsorgan seiner satzungsgemäßen Überwachungsaufgabe nicht mehr nachkommen. 3. Zustimmungsrechte der Komplementäre a) Gesetzliche Lage Abweichend von den aktienrechtlichen Regelungen bedürfen Beschlüsse der Hauptversammlung der KGaA der Zustimmung der persönlich haftenden Gesellschafter, soweit sie Angelegenheiten betreffen, für die bei der Kommanditgesellschaft das Einverständnis des persönlich haftenden Gesellschafters und der Kommanditisten erforderlich ist (§ 285 Abs. 2 Satz 1 AktG)66. Demnach bedürfen Satzungsänderungen, Grundlagengeschäfte und außergewöhnliche Geschäfte des Zusammenwirkens aller Komplementäre und der Kommanditaktionäre (wie z. B. die Zustimmung zu Unternehmensverträgen, die Auflösung der Gesellschaft, die Verschmelzung und der Formwechsel) und somit bei der KGaA der Zustimmung durch den oder die Komplementäre67.

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62 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 236; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 151, 154; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 88, 89; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 58. 63 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 151; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 58. 64 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 237 (zum Aufsichtsrat). 65 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 151; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 237 (zum Aufsichtsrat). 66 Das Zustimmungsrecht des Komplementärs in Bezug auf Geschäftsführungsmaßnahmen ist nur dann relevant, wenn die Hauptversammlung die Initiative zu außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen ergreifen sollte. Soweit, wie im Regelfall, die Initiative zu solchen außergewöhnlichen Geschäften von dem Komplementär selbst ausgeht, bedarf es keiner Zustimmung seitens des Komplementärs zu dem Hauptversammlungsbeschluss. Ein weiterer Zustimmungsbeschluss wäre nur dann notwendig, wenn es mehrere Komplementäre geben sollte. 67 Vgl. hierzu Hartel, DB 1992, 2329, 2330; Priester, ZHR 160 (1996), 250, 253; Haase, GmbHR 1997, 917, 920.

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b) Mögliche Regelungen in der Satzung Die Satzung kann das Zustimmungserfordernis der Komplementäre erweitern68. So können auch Beschlüsse zustimmungspflichtig werden, die nach dem Gesetz in die alleinige Zuständigkeit der Kommanditaktionäre fallen, wie z. B. die Gewinnverwendung. Das Zustimmungsrecht kann allerdings nicht auf solche Beschlüsse erweitert werden, für die nach § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG das Stimmrecht der persönlich haftenden Gesellschafter ausgeschlossen ist. Die Befugnisse der persönlich haftenden Gesellschafterin können grundsätzlich auch durch die Satzung eingeschränkt69, also z. B. das Zustimmungserfordernis der Komplementärin zu Beschlüssen der Hauptversammlung aufgehoben oder modifiziert werden. Unter Berücksichtigung der durch die Kernbereichslehre und den Bestimmtheitsgrundsatz gezogenen Grenzen gilt dies auch für satzungsändernde Beschlüsse und für Entscheidungen über andere Grundlagenmaßnahmen. 4. Strukturvariante: Nicht-geschäftsführender Komplementär als Aufsichtsorgan Je nach den unternehmerischen Vorgaben der Gründer ist auch eine Struktur denkbar, in der auf das fakultative Aufsichtsorgan verzichtet wird, die Kontrolle der Geschäftsführung über Mitwirkungs-, Entscheidungs-, Zustimmungs- und Vetorechte jedoch nicht durch die – dann von Gesetzes wegen an sich zuständige – Hauptversammlung, sondern kraft Satzungsregelung durch einen weiteren Komplementär übernommen wird70. Dieser zweite Komplementär hätte keine Vertretungsmacht oder Geschäftsführungsbefugnis für die KGaA, sondern wäre in seiner Funktion auf die Kontrolle der Geschäfte der Gesellschaft durch Ausübung der soeben erwähnten Rechte beschränkt. Die Rechte der Hauptversammlung wären genauso beschnitten wie oben unter III. 3. im Falle der Überwachung durch ein fakultatives Organ diskutiert.

__________ 68 Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 275, 285 f.; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 285 Rz. 80; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 285 Rz. 45 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 285 Rz. 38 f.; a. A. Schaumburg, DStZ 1998, 525, 532; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 213 (jedenfalls bei Publikums-KGaA). 69 Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 285 Rz. 69 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 285 Rz. 43 f.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 225. 70 Praxisbeispiel: Die Stellung als persönlich haftender Gesellschafter mit Kapitalanteil verleiht der E. Merck OHG gemäß Satzung der Merck KGaA weitreichende Mitwirkungs-, Entscheidungs-, Zustimmungs- und Vetorechte in Bezug auf die Geschicke der Merck KGaA. Unter anderem entscheidet die E. Merck OHG über die Bestellung und Abberufung der geschäftsführenden Komplementäre, überwacht die Geschäftsleitung der Merck KGaA, erteilt die Zustimmung zu außergewöhnlichen Geschäften, insbesondere Großinvestitionen.

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a) Ausgestaltung innerhalb der Organisationsverfassung der KGaA Die Kontrollfunktion kann durch eine oder mehrere natürliche Personen ausgeübt werden, was zur Vermeidung einer persönlichen Haftung in der Praxis aber oftmals ausscheidet. Bei der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA würde neben der „Management-GmbH“ noch eine „Kontroll-GmbH“ eingerichtet werden. Geschäftsführer dieser Kontroll-GmbH wären die Personen, die ansonsten in das fakultative Aufsichtsorgan einziehen würden. Sämtliche Anteile an dieser Kontroll-GmbH könnten, sofern keine externen natürlichen oder juristischen Personen als Rechtsträger verfügbar sind, nach dem Beispiel der EinheitsKGaA (vgl. dazu unter VII. 3.) von der KGaA selbst gehalten werden, wobei die Ausübung der Rechte aus den GmbH-Anteilen der Hauptversammlung zugewiesen werden würde. Die Hauptversammlung übt dann für die Kommanditaktionäre die Personalgewalt über die Geschäftsführer der Kontroll-GmbH aus. b) Ausgestaltung innerhalb der mehrköpfigen Geschäftsführung Das Verhältnis der Komplementäre untereinander entspricht in der KGaA im Allgemeinen dem Personengesellschaftsrecht und ist somit weitgehend frei gestaltbar71. Die im Binnenverhältnis anwendbaren § 161 Abs. 2 i. V. m. §§ 114–118 HGB sind weitestgehend einer abweichenden Gestaltung durch die Satzung zugänglich, so dass im Ergebnis einem nicht-geschäftsführungsbefugten Komplementär über seine gesetzlichen Rechte hinaus und unter Abbedingung der entsprechenden Rechte des geschäftsführenden Komplementärs Mitwirkungs-, Entscheidungs-, Zustimmungs- und Vetorechte eingeräumt werden können wie sie in der Beirat-Struktur einem fakultativen Aufsichtsorgan mit organschaftlichen Kompetenzen eingeräumt werden können. Dazu zählt insbesondere die Bestellung und Abberufung der geschäftsführenden Komplementäre und die Zustimmung zu bestimmten Geschäften. Bei einer Einheits-KGaA (vgl. unter VII. 3.) würde die Ausübung der Rechte aus den Anteilen der Komplementär-Gesellschaft mit Geschäftsführungsbefugnis dem kontrollierenden nicht-geschäftsführenden Komplementär zugewiesen werden. c) Vergleich zur Kontrolle über fakultatives Aufsichtsorgan Der Vorteil der Kontrolle über einen nicht-geschäftsführenden Komplementär ist, dass in dieser Struktur die Kontrollkompetenzen noch umfassender ausgestaltet werden können. Innerhalb des Binnenverhältnisses der geschäftsführenden Gesellschafter kann die Willensbildung frei gestaltet und können Hierarchien jeder Art gebildet werden. So kann einem einzigen Gesellschafter sogar das Recht eingeräumt werden, Meinungsverschiedenheiten gegen die

__________ 71 Allerdings kann wegen § 283 Nr. 3 AktG niemandem nur das Recht zur Geschäftsführung gegeben, auf die Pflicht dazu aber verzichtet werden (vgl. Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 226; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 105; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 4; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 83).

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Mehrheit der übrigen Komplementäre zu entscheiden. § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG, wonach bei einer AG nicht angeordnet werden kann, dass ein oder mehrere Vorstandsmitglieder Meinungsverschiedenheiten im Vorstand gegen die Mehrheit der Mitglieder entscheiden, gilt für das Binnenverhältnis der Komplementäre nicht72. Dem kontrollierenden Komplementär kann somit eine Rechtsmacht eingeräumt werden, die bei der AG dem Weisungsrecht kraft Beherrschungsvertrag gleichkommt73. Im Übrigen kann dem kontrollierenden Komplementär generell oder für bestimmte Fälle organschaftliche Vertretungsmacht eingeräumt werden.

VI. Besetzung des fakultativen Aufsichtsorgans mit neutralen Mitgliedern 1. Das Problem: Grundsatz der Verbandssouveränität In einen Beirat bzw. Gesellschafterausschuss werden in der Praxis oftmals nicht Gesellschafter entsandt, sondern entweder den Gesellschaftern nahe stehende Personen oder Personen, deren besonderer Sachverstand für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden soll. Oftmals besteht in der Praxis auch der Wunsch, Arbeitnehmer zu beteiligen und die jeweiligen Arbeitnehmervertreter mit gleichwertigen organschaftlichen Befugnissen, ähnlich denen eines Aufsichtsrats, auszustatten. Schließlich besteht entsprechend aktueller aktienrechtlicher Corporate Governance Diskussionen und gesetzlicher Vorgaben der Wunsch, das Organ mit sachverständigen und unabhängigen Mitgliedern (entsprechend § 100 Abs. 5 AktG) zu besetzen.

__________ 72 Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 226; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 83; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 132; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 6; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 57. 73 Die Schaffung eines „Chief Executive Officer (CEO)“-Modells ist von daher auch bei einer börsennotierten deutschen Kapitalgesellschaft in Form einer KGaA mit natürlichen Personen als Komplementäre ohne weiteres möglich. Gleiches gilt für die Struktur einer GmbH & Co. KGaA. In dieser Struktur erfolgt die Führung der KGaA über eine Komplementär-GmbH, welche wiederum mit verschiedenen Geschäftsführern besetzt ist. Einer dieser Geschäftsführer übernimmt die Position des starken CEO, bei dem sich sämtliche Befugnisse vereinen und der gegenüber den anderen Geschäftsführern weisungsbefugt ist. Hierfür besteht bei der GmbH, anders als bei der AG, umfassende Satzungsautonomie (vgl. z. B. Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 37 Rz. 29; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 37 Rz. 39). Aufgrund der fehlenden Weisungsbefugnis des Aufsichtsrats der KGaA können hier mit beiden Strukturvarianten Machtkompetenzen wie bei einem typischen One-Tier-Board-Modell mit einem starken CEO etabliert werden. Dagegen wurde bei der geplanten Fusion der Deutsche Börse AG mit der New York Stock Exchange explizit eine holländische Konzernspitze gewählt mit der Begründung, das deutsche Gesellschaftsrecht würde „die Schaffung eines One-Tier-Board-Modells mit einem starken Chairman nicht erlauben“ (vgl. Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutsche Börse AG Reto Francioni zur Fusion mit der New York Stock Exchange in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11.3.2011, Nr. 10, S. 35).

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Allerdings wird namentlich in der Literatur zur KGaA vertreten, dass bei einem mit gesellschaftsfremden Mitgliedern besetzten fakultativen Organ (Beirat, Gesellschafterausschuss etc.) der Grundsatz der Verbandssouveränität74 verletzt sei. Wesentliche den Gesellschaftern ausschließlich vorbehaltene Entscheidungen der Gesellschaft dürfen nach dieser Auffassung einem solchen fakultativen Organ nicht übertragen werden. Unklar ist in der Literatur insofern jedoch, ob der Grundsatz der Verbandsouveränität verlangt, dass das fakultative Organ überwiegend75 oder vollständig76 mit Gesellschaftern zu besetzen ist77. Um welche Maßnahmen es sich dabei im Einzelnen handelt, wird ebenfalls nicht einheitlich beurteilt. Die zitierten Meinungen in der Literatur nennen insbesondere Grundlagen- und Strukturentscheidungen sowie Zustimmungsrechte in Bezug auf Geschäftsführungsmaßnahmen der Komplementäre. Uneinheitlich wird in diesem Zusammenhang die Frage beantwortet, ob der Grundsatz der Verbandssouveränität auch Entscheidungen über die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises in der KGaA, also insbesondere die Aufnahme neuer Komplementäre, erfasst. Während die Auffassung, die generell den Grundsatz der Verbandssouveränität bei der Delegation von wesentlichen Entscheidungen an mit Dritten besetzten Beiräten nicht als verletzt erachtet78, folgerichtig auch hier keine Einschränkungen sieht, wird diese Frage bei der entgegengesetzten Meinung verschieden beurteilt79.

__________ 74 So Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 261; dies. in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 97; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 287 Rz. 29 f.; Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 574, 582 ff.; a. A. Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 70; wohl auch in Bezug auf die Übertragung von Geschäftsführungsmaßnahmen Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, 1996, S. 146; ferner wohl auch Pühler in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, S. 205. 75 Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 261; dies. in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 287 Rz. 97; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 31; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 287 Rz. 92. 76 So wohl Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 580, 585. 77 Nicht mehr vertreten wird heute wohl die These, ein Beirat dürfte nur aus Gesellschaftern bestehen, Dritte seien von der Wahl ausgeschlossen (vgl. Fitting/Wlotzke/ Wissmann, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 1999, § 25 Rz. 64; Hommelhoff, ZGR 1978, 119, 153 mit Fn. 108). Begründet wurde diese Behauptung mit einer andernfalls drohenden Umgehung des MitbestG. Da dieses jedoch an die gesellschaftsrechtlich zulässigen Gestaltungen anknüpft und der Gesellschafterausschuss bei der KGaA nicht der Mitbestimmung unterliegt, bleibt die Gestaltungsfreiheit insoweit erhalten. 78 Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 6; vgl. auch Pühler in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, S. 205 (allerdings ohne Problematisierung). 79 Während Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 287 Rz. 30, sowie Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 261, auch hier den Grundsatz der Verbandssouveränität verletzt sehen, vertreten Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 47 genau das Gegenteil; so auch schon in der Vorlauflage Barz in Großkomm. AktG, 3. Aufl., § 278 Rz. 9.

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Besondere Praxisrelevanz kommt dieser Fragestellung im Recht der GmbH80 und der Personengesellschaften81 zu. Hier ist es in Abweichung zu dem Meinungsbild für die KGaA herrschende Meinung, dass auch Dritten – unter der Voraussetzung der Rückholbarkeit der Kompetenz – Personalkompetenz eingeräumt werden kann, insbesondere zur Bestellung und Abberufung von Vertretungsorganen. 2. Diskussion Vor dem Hintergrund dieses Meinungsbilds in der Literatur ist zu prüfen, ob die Gestaltung des Gesellschafterausschusses gegen den Grundsatz der Verbandssouveränität verstößt. Der Grundsatz der Verbandssouveränität, der im Personengesellschaftsrecht ebenso wie im Kapitalgesellschaftsrecht gilt, verbietet den Gesellschaftern, das Schicksal der Gesellschaft Dritten zu überlassen. Sie sollen vor Selbstentmündigung durch Einräumung zentraler Mitspracherechte an Dritte geschützt werden. Die Gesellschafter sind berechtigt und verpflichtet, die Grundlagen der Gesellschaft selbst zu bestimmen82. Im Falle der KGaA sollte die Gestaltung eines fakultativen Aufsichtsorgans insofern unproblematisch sein, solange hier den Gesellschaftern nahe stehende Personen in der Mehrzahl sind. Anders liegen die Dinge dagegen oft in der Praxis bei Organen (Personalausschuss), die unabhängig von Gesellschaftern/ Gesellschafterstämmen die Personalkompetenz über den Komplementär (insbesondere in Bezug auf Aufnahme und Ausschließung sowie Geschäftsfüh-

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80 Für die GmbH: Grundlegend KG, JW 1926, 598, 598 f.; Chr. Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, 2000, 205 ff., 302 ff.; Herfs, Einwirkung Dritter auf den Willensbildungsprozess der GmbH, 1994, S. 117 ff.; Hopt, ZGR 1979, 1, 7 f.; Flume in FS Coing II, 1982, S. 97, 99 f. (e.V.); Priester in FS Werner, 1984, S. 657, 665; Großfeld/Brondics, AG 1987, 293, 299; Fleck, ZGR 1988, 104, 121 f.; Beuthien/Gätsch, ZHR 157 (1993), 483, 492 ff.; Hammen, WM 1994, 765 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 6 Rz. 53; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 46 Rz. 25; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 46 Rz. 12; Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 6 Rz. 25, 28; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 45 Rz. 10 ff.; Raiser in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., § 52 Rz. 318; ders./Heermann in Ulmer, Großkomm. GmbHG, 2008, § 52 Rz. 329; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 6 Rz. 30; Heyder in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 6 Rz. 60; a. A. Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 191 f., 196; Ulmer in FS Werner, 1984, S. 911, 919 ff.; Hüffer in Ulmer, Großkomm. GmbHG, 2008, § 46 Rz. 77; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006/2007, § 6 Rz. 49 ff., § 38 Rz. 24 f., § 52 Rz. 136; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 46 Rz. 72; Zöllner in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 46 Rz. 34a, 97; Ulmer in Großkomm. GmbHG, 2008, § 3 Rz. 39 ff. 81 Für die OHG/KG: BGH, BB 1968, 145, 145; Reuter in FS Steindorff, 1990, S. 229, 230 ff.; Hennerkes/May, NJW 1988, 2761, 2762; Haack, BB 1993, 1607, 1609; Horn in Heymann, HGB, 2. Aufl., § 161 Rz. 66; a. A. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, S. 332 f., 371; ders. in FS Schilling, 1973, S. 105 ff.; Martens in Schlegelberger/ Geßler, HGB, 5. Aufl., § 161 Rz. 115 ff. 82 Näher Wiedemann in FS Schilling, 1973, S. 105, 111 ff.; Teubner, ZGR 1986, 565, 567 ff.; Ulmer in Großkomm. HGB, 4. Aufl. 2005, § 109 Rz. 31.

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rungs- und Vertretungsbefugnisse) ausüben soll. Ist das Organ überwiegend mit unabhängigen Mitgliedern besetzt und entscheidet es aufgrund seiner Personalkompetenz über zentrale Fragen der Gesellschaft, so scheint der Grundsatz der Verbandssouveränität berührt. Meines Erachtens ist die Thematik wie folgt zu sehen: – Gestaltung als Ausfluss einer unternehmerischen Entscheidung. Die Gestaltung des fakultativen Aufsichtsorgans mit umfassenden organschaftlichen Kompetenzen führt nicht zu einer Selbstentmündigung durch Einräumung zentraler Mitspracherechte an Dritte, sondern ermöglicht vielmehr den Gesellschaftern, ihre unternehmerischen Vorstellungen in eine gesellschaftsrechtliche Struktur umzusetzen. Dabei handelt es sich um eine Strukturentscheidung, die von allen Aktionären bewusst und gewollt getragen wird und durchaus auch dem Unternehmensinteresse entsprechen kann. – Bindung an das Unternehmensinteresse. Das fakultative Aufsichtsorgan ist ein echtes Organ der Gesellschaft, so dass auch die unabhängigen Mitglieder dem Unternehmensinteresse verpflichtet sind und Sorgfaltspflichten entsprechend §§ 116, 93 AktG unterliegen (vergleichbar mit Mitgliedern eines Aufsichtsrats)83. Ein Personalausschuss darf daher z. B. keine Personen bestellen, die für die Gesellschaft nicht akzeptabel sind. Erfolgt dies gleichwohl, können die Aktionäre bzw. ihre Vertreter im Gesellschafterausschuss diese Entscheidung gerichtlich angreifen, Schadensersatzansprüche gegen die unabhängigen Mitglieder geltend machen und sie gegebenenfalls abhängig von der jeweiligen Satzungsgestaltung abberufen lassen (siehe sogleich). Vor diesem Hintergrund ist kein von den Aktionären nicht kontrollierbarer Missbrauch der Personalkompetenz zu befürchten. – Aufheb- und Rückholbarkeit der Kompetenzen. Im Übrigen können die Aktionäre übertragene Zuständigkeiten durch Änderung der Satzung für die Zukunft wieder an sich ziehen. Eine solche Satzungsänderung ist bei gegebenen Mehrheiten jederzeit möglich. Dabei steht den unabhängigen Mitgliedern kein Sonderrecht zu; die Satzung kann ohne ihre Zustimmung geändert werden. Die Selbstbestimmung der Gesellschafter bleibt durch diese „Rückholkompetenz“ gewahrt, die letztlich so weit gehen kann, dass das fakultative Organ des Personalausschusses wieder beseitigt wird.

__________ 83 Die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsorgans haften bei Pflichtverletzungen nach §§ 283 Nr. 3, 93, 116 AktG. Die Haftung der Mitglieder des Gesellschafterausschusses ist dementsprechend vergleichbar mit der Haftung der Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft (vgl. Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 71; H. Huber, Der Beirat, 2004, Rz. 347; vgl. aber auch K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 287 Rz. 24; die Einzelheiten zu den Anspruchsgrundlagen sind noch ungeklärt, vgl. Assmann/Sethe in FS Lutter, 2000, S. 251, 272 ff.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsorgans nur von einer Gesellschaftergruppe bestellt worden sind oder von mehreren. In beiden Fällen ist der Gesellschafterausschuss Organ und unterliegt deshalb den Grundsätzen der Organhaftung. Lediglich der Sorgfaltsmaßstab modifiziert sich entsprechend den jeweils zugewiesenen Aufgaben (vgl. Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 71).

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– Weitere Ausgestaltung des Mandats. Empfehlenswert ist im Übrigen, das Mandat der unabhängigen Mitglieder nach der Satzung in Anlehnung an die aktienrechtlichen Vorgaben für Aufsichtsratsmitglieder auszugestalten. Daraus folgt einerseits, dass die unabhängigen Mitglieder nur für eine beschränkte Amtszeit bestellt werden, andererseits, dass das berufene Gremium (z. B. Großaktionäre oder Aufsichtsrat der KGaA) die unabhängigen Mitglieder aus wichtigem Grund wieder abberufen können. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass durch die Übertragung der Personalkompetenz oder anderer wesentlicher Kompetenzen an unabhängige Dritte die Gesellschafter ihre Verbandssouveränität nicht aufgegeben, sondern im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Erfordernisse privatautonom gestaltet haben. Von Entmündigung kann nicht die Rede sein, da die Kompetenz des Aufsichtsorgans rückholbar ist. Die Tatsache, dass diese Maßnahmen möglicherweise im Einzelfall zu kurz greifen, weil das fakultative Organ die Maßnahmen bereits umgesetzt hat und damit ein irreversibler Schaden der Gesellschaft entstehen könnte, ändert daran nichts. Zum einen ist bei vielen Maßnahmen ein irreversibler Schaden für die Gesellschaft eher unwahrscheinlich (weil jederzeit umkehrbar); zum anderen kann die Gesellschaft sich vor sorgfaltswidrigem Verhalten Dritter nie für alle Fälle schützen, ohne dass dadurch die Verbandssouveränität verletzt wäre. Auch die Einräumung der Personalkompetenz an unabhängige Dritte ist mit korporationsrechtlichen Grundsätzen vereinbar und führt keineswegs zu einer unzulässigen Fremdsteuerung der Gesellschaft. Das zeigt ein Strukturvergleich zur Rechtsform der AG. Bei dieser werden die Vorstandsmitglieder vom Aufsichtsrat bestellt und abberufen (§ 84 Abs. 1 und 3 AktG). Das Gesetz verlangt nicht, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats Aktionäre sind; vielmehr darf dieses für die Besetzung der Geschäftsleitung zuständige Organ mit Nichtgesellschaftern besetzt sein. Insofern ist kein Grund ersichtlich, dass für fakultative Organe der KGaA etwas anderes gelten soll. 3. Praxishinweise Aus Gründen der rechtlichen Vorsicht kann sich im Einzelfall anbieten, die unabhängigen Mitglieder des fakultativen Organs für ihre Amtszeit jeweils mit Kommanditaktien der Gesellschaft auszustatten und somit zu Aktionären aufsteigen zu lassen. Der dabei nahe liegende Gedanke der Umgehung ist nicht gerechtfertigt, da selbst bei der Aktiengesellschaft Aktionären mit nur einer Aktie ein Entsenderecht in den Aufsichtsrat kraft Satzung eingeräumt werden kann (§ 101 Abs. 2 AktG). Ebenso besteht bei der GmbH die Möglichkeit, Gesellschaftern in der Satzung ein Sonderrecht zur Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer einzuräumen. Ein derartiges Sonderrecht kann auch einem Gesellschafter mit einer ganz geringen Beteiligung eingeräumt werden84.

__________ 84 Bürgers in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 214.

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Schließlich sollten sich das Thema der Verbandssouveränität auch nicht bei dem oben diskutierten Modell der Überwachung durch einen nicht geschäftsführenden Komplementär anstatt durch ein fakultatives Aufsichtsorgan mit organschaftlichen Kompetenzen stellen (vgl. unter V. 4.). Denn unabhängig davon, ob der Kontroll-Komplementär mit oder ohne vermögensmäßiger Beteiligung (Vermögenseinlage/Aktien) ausgestattet wird, ist er gleichwertiger Gesellschafter, dem entsprechend der personengesellschaftsrechtlichen Gestaltungsfreiheit Kompetenzen anderer Organe eingeräumt werden können.

VII. Gestaltung des Durchgriffs des fakultativen Aufsichtsorgans auf die Geschäftsleiter einer Komplementär-Gesellschaft 1. Zulässigkeit einer Kapitalgesellschaft & Co. KGaA Ebenso wie bei der GmbH & Co. KG gibt es auch für die KGaA ein erhebliches praktisches Bedürfnis, der Person des Vollhafters einer Kapitalgesellschaft zuzuweisen (regelmäßig eine GmbH oder AG). Die Kapitalgesellschaft & Co. KGaA, d. h. eine Kommanditgesellschaft auf Aktien ohne natürliche Person als persönlich haftendem Gesellschafter, wurde durch den Beschluss des BGH im Jahr 1997 für zulässig erklärt85. Vor der Entscheidung des BGH war streitig, ob die KGaA mit einer GmbH als einziger Komplementärin (GmbH & Co. KGaA) gegründet werden kann, so wie dies für die GmbH & Co. KG bereits selbstverständlich war86. Die Zulässigkeit der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA wurde vom Gesetzgeber inzwischen bestätigt. Dieser hat sich die Auffassung des BGH im Zuge der Reform des Handelsgesetzbuches 1998 dadurch zu eigen gemacht, dass er in § 279 Abs. 2 AktG ausdrücklich den auch vom Bundesgerichtshof geforderten Firmenzusatz verlangt, wenn in der Gesellschaft keine natürliche Person unbeschränkt haftet. 2. Das Problem des Abberufungsdurchgriffs Bei einer KGaA mit fakultativen Aufsichtsorgan, das ähnlich einem Aufsichtsrat bei der AG umfassende Personalkompetenz über die Geschäftsführung hat, umfasst diese Kompetenz üblicherweise die Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis der Komplementärgesellschaft oder gar ihren Ausschluss als Komplementärin im Falle von Pflichtverletzungen ihrer Geschäftsführungs- und Vertretungsorganmitglieder. Solche Maßnahmen gegenüber der Komplementär-Gesellschaft als solcher sind in der Regel nicht sachgerecht, da das Problem in den handelnden Personen und nicht in der Kapitalgesellschaft liegt. Die Komplementärgesellschaft (mit ihren natürlichen Organ-

__________ 85 BGHZ 134, 392 ff. (Beschluss des 2. Zivilsenats v. 24.2.1997 aufgrund Vorlagebeschluss des OLG Karlsruhe, NJW-RR 1996, 1254); ebenso Priester, ZHR 160 (1996), 250 ff.; a. A. zuletzt namentlich K. Schmidt, ZHR 160 (1996), 265 ff. 86 In der Praxis bestanden jedoch bereits vor dem Beschluss Gesellschaften dieser Ausprägung, wie z. B. die Eurokai GmbH & Co. KGaA und eff-eff Fritz Fuss GmbH & Co. KGaA.

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mitgliedern) auszutauschen, ist zwar als ultima ratio denkbar und möglich, entspricht regelmäßig aber nicht dem Interesse der Kommanditaktionäre und ist in der Regel nicht angemessen. Vor dem Hintergrund der Struktur der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA wird in der Literatur teilweise eine direkte Abberufung der Geschäftsführer/Vorstandsmitglieder der Komplementärgesellschaft durch die Kommanditaktionäre (bzw. ein satzungsmäßig gebildetes fakultatives Organ) mittels eines sog. „Abberufungsdurchgriffs“ für möglich gehalten87. Gegen die Zulässigkeit eines solchen Abberufungsdurchgriffs spricht mit der herrschenden Lehre88 jedoch insbesondere die Eigenständigkeit der Komplementärgesellschaft auf der einen Seite und der KGaA auf der anderen Seite. Die Kommanditaktionäre würden mit der Abberufung der Vertretungsorgane der Komplementärgesellschaft direkt in die Willensbildung der Gesellschafter der Komplementärgesellschaft eingreifen und sich zusätzlich an die Stelle des Aufsichtsrats (bei der AG) oder der Gesellschafterversammlung (bei der GmbH) setzen, welche originär und ausschließlich für Personalmaßnahmen (insbesondere zur Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer) zuständig sind. Der Abberufungsdurchgriff verstößt demnach gegen die gesetzlich zwingende Kompetenzzuweisung für die Organbestellung in der Komplementär-Gesellschaft. An der Zuständigkeit des Aufsichtsrats bzw. der Gesellschafterversammlung der Komplementärgesellschaft scheitert auch ein Abberufungsdurchgriff auf Grundlage entsprechender Satzungsklauseln in den Satzungen der KGaA und der Komplementärgesellschaft. Die Einräumung einer entsprechenden Befugnis in den Satzungen von GmbH und KGaA würde letztlich zu einer unzulässigen Abspaltung des mitgliedschaftlichen Stimmrechts auf gesellschaftsfremde Dritte führen; solche Satzungsklauseln sind daher unwirksam. Bei der GmbH gibt es allenfalls Lösungen, wonach der KGaA bei der GmbH aufgrund einer kleinen Beteiligung ein Sonderrecht zur Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer eingeräumt wird und die Ausübung dieses Rechts dann kraft Satzung der KGaA dem fakultativen Aufsichtsorgan zugewiesen wird89; bei einer AG als Komplementärgesellschaft scheidet jedoch die Einräumung eines solchen Sonderrechts aufgrund der zwingenden Kompetenzordnung aus.

__________ 87 So Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, 1996, S. 170; Overlack in RWS-Gesellschaftsrecht 1997, S. 237, 255; Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000, Rz. 64; Schaumburg, DStZ 1998, 525, 531 f.; K. Schmidt in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 3 (jedenfalls auf Basis der Satzung bei EinheitsKGaA); wohl auch Hennerkes/Lorz, DB 1997, 1388, 1391. 88 Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 85 f.; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 381; Assmann/Sethe in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 278 Rz. 172; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 9; Dirksen/Möhrle, ZIP 1998, 1377, 1384; Habel/Strieder, MittBayNot 1998, 65, 69; Ihrig/Schlitt, ZHR Beiheft 67 (1998), S. 33, 53 f.; Wichert, AG 2000, 268, 275; Schütz/Reger in Schütz/ Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 209 ff.; vgl. auch Hommelhoff, ZHR-Beiheft 67 (1998), S. 9, 22 f. 89 Instruktiv Schütz/Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 214.

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3. Lösung durch die Einheits-KGaA Die Gestaltungspraxis löst das Problem des sog. Abberufungsdurchgriffs dadurch, dass sämtliche Anteile an der Komplementärgesellschaft von der KGaA gehalten werden („Einheits-KGaA“)90. a) Zulässigkeit der Einheits-KGaA Bei der Einheits-KGaA ist die KGaA Inhaberin aller Anteile ihrer Komplementärgesellschaft, die ihrerseits keinen Kapitalanteil an der KGaA hält. Diese Struktur der „Einheits-KGaA“ trägt auch den Interessen der Kommanditaktionäre Rechnung, da eine Minderheitenherrschaft der Gesellschafter der Komplementärgesellschaft vermieden wird. Die Gestaltung einer Einheits-KGaA ist nach heutiger Auffassung zulässig91 und in der Praxis92 oft vertreten. b) Folgeprobleme bei der Einheits-KGaA Die Verzahnung der Rechtsverhältnisse in der Komplementär-Kapitalgesellschaft und in der AG/GmbH & Co. KGaA führt allerdings zu bestimmten Folgeproblemen, insbesondere zur Problematik der wechselseitigen Beteiligung (aa) sowie der Steuerung der Willensbildung in der Gesellschaft (bb). aa) Wechselseitige Beteiligung Um die KGaA zu gründen, muss die Komplementärgesellschaft bereits existent sein (§ 280 Abs. 2 Satz 1 AktG). Bei der Gründung müssen deshalb zunächst die Gründungsgesellschafter eine Komplementärgesellschaft errichten, die zusammen mit den Gründungsgesellschaftern die KGaA gründet. Anschließend erwirbt die KGaA von den Gründungsgesellschaftern die Anteile an der Komplementärgesellschaft im Rahmen eines reinen Veräußerungsgeschäfts (z. B. als Einbringung in die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB); die Aktien an der Komplementärgesellschaft werden nicht im Rahmen einer Sachgründung eingebracht. Soweit die Komplementärgesellschaft vermögensmäßig nicht an der KGaA beteiligt ist, ergeben sich bei diesem Vorgehen keine Schwierigkeiten93:

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90 Näher zur Erzielung eines Abberufungsdurchgriffs durch die Einheits-KGaA Schütz/ Reger in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 216 ff.; Gonnella/Mikic, AG 1998, 508, 509. 91 Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 30 ff.; K. Schmidt, ZHR 160 (1996), 265, 285; ders. in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 13; Gonnella/Mikic, AG 1998, 508 ff.; Schrick, NZG 2000, 675 ff.; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 71 Rz. 11a; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 123; Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000, Rz. 46. 92 So ist z. B. die Henkel AG & Co. KGaA als Einheitsgesellschaft konstruiert. Vgl. Satzung in der Fassung vom 14.4.2008, wonach die Gesellschaft sämtliche Anteile an der Komplementär-Gesellschaft, der Henkel Management AG, hält. 93 Näher zur Thematik – auch im Hinblick auf Kapitalmaßnahmen – Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 31 ff.; Gonnella/Mikic, AG 1998, 508, 510; Schrick, NZG 2000, 675, 676.

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– Gemäß § 56 Abs. 2 AktG darf ein abhängiges oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen keine Aktien der herrschenden Gesellschaft als Gründer oder Zeichner übernehmen. Leistet die Komplementär-Gesellschaft eine sonstige Vermögenslage oder übernimmt sie Kommanditaktien an der KGaA, bevor die KGaA alle oder mehrheitlich Anteile an der Komplementär-Gesellschaft übernommen hat, so zeichnet sie keine Aktien der herrschenden Gesellschaft. Die Übernahme von Aktien bei der Gründung durch die Komplementärgesellschaft und/oder die Leistung einer sonstigen Vermögenseinlage, die nicht auf das Grundkapital der KGaA gezahlt wird, verstößt damit nicht gegen § 56 Abs. 2 AktG. – Erwirbt die KGaA nun alle oder die Mehrheitsanteile an der KomplementärGesellschaft, die ihrerseits Kommanditaktien der KGaA halten würde, so würde die KGaA mittelbar Inhaberin eigener Aktien werden. Die Komplementärgesellschaft darf jedoch wegen §§ 71, 71d Satz 2 AktG keine Aktien an der KGaA übernehmen. In der Praxis ist dies regelmäßig nicht der Fall, da die Komplementärgesellschaft weder Aktien noch eine sonstige Vermögensbeteiligung an der KGaA übernimmt. Oftmals ist dies auch explizit durch die Satzung so vorgesehen (ähnlich der Situation bei der GmbH & Co. KG)94. bb) Willensbildung in der Einheits-GmbH & Co. KGaA Aus dem Umstand, dass (1) die KGaA Inhaberin der Anteile an der Komplementärgesellschaft wird und (2) die Komplementärgesellschaft gemäß § 278 Abs. 2 AktG allein zur Geschäftsführung und Vertretung der KGaA berufen ist, folgt, dass die Komplementärgesellschaft die sich aus den der KGaA gehörenden Geschäftsanteilen ergebenden Rechte und Pflichten, insbesondere die Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung/Gesellschafterversammlung der Komplementär-Gesellschafter, wahrnehmen müsste. Die Komplementär-Gesellschaft wäre demnach zuständig, in ihrer Hauptversammlung/Gesellschafterversammlung über sich selbst abzustimmen. In dieser Konstellation würde es unauflösbare Probleme bei der Willensbildung, insbesondere bei der Bestellung und Abberufung der Mitglieder der Ver-

__________ 94 In der KGaA kann Eigenkapital nicht nur durch die Ausgabe von Kommanditaktien aufgebracht werden, sondern auch durch Vermögenseinlagen der persönlich haftenden Gesellschafter, die nicht auf das Grundkapital geleistet werden (§ 281 Abs. 2 AktG). Das Gesamtkapital der Gesellschaft besteht dann aus dem von den Kommanditaktionären aufgebrachten, in Aktien eingeteilten Grundkapital sowie dem Komplementärkapital. Persönlich haftende Gesellschafter können demgemäß in zweierlei Weise am Kapital der Gesellschaft beteiligt sein: zum einen durch den Besitz von Aktien und zum anderen durch besondere Vermögenseinlagen, die nicht zum Grundkapital gehören. Es besteht allerdings keine Pflicht für persönlich haftende Gesellschafter, eine Vermögenseinlage zu erbringen. Die KGaA kann also auch persönlich haftende Gesellschafter haben, die weder über Vermögenseinlagen noch über Aktien am Gesamtkapital der KGaA beteiligt sind (vgl. Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 42; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 125).

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waltungsorgane, geben. Weil die KGaA selbst einzige Gesellschafterin der Komplementärgesellschaft ist, würden deren Vorstandsmitglieder/Geschäftsführer (indirekt über den Aufsichtsrat oder direkt über die Gesellschafterversammlung) über ihre eigene Bestellung und Abberufung entscheiden. Erforderlich ist daher, dass die Kompetenz zur Bestellung und Abberufung der Mitglieder des Leitungsorgans dem Aufsichtsrat oder einem fakultativen Organ der KGaA, dessen Mitglieder von den Kommanditaktionären bestimmt werden, zuzuweisen ist95. c) Beispielhafte Ausgestaltung des Abberufungsdurchgriffs bei der EinheitsKGaA mit AG als Komplementärgesellschaft Am Beispiel einer AG als Komplementärgesellschaft („Management AG“) lässt sich der Abberufungsdurchgriff wie folgt lösen: – Sämtliche Aktien der Management AG werden von der KGaA gehalten. Die Ausübung der Rechte aus den Aktien an der Management AG obliegt nach der Satzung der KGaA dem fakultativen Aufsichtsorgan der KGaA, das damit auch die Hauptversammlung durchführt. – Infolgedessen bestellt er auch im Rahmen der Hauptversammlung die Mitglieder des Aufsichtsrats der Management AG und ist so eingebunden in die Bestellung der Mitglieder des Vorstands. Die Mitglieder des Aufsichtsrats der Management AG sind ganz oder teilweise personenidentisch mit den Mitgliedern des fakultativen Aufsichtsorgans. – Zur Ausübung der Gesellschafterrechte aus den Aktien an der Management AG ist nach der Satzung der KGaA – im Außenverhältnis – der Vorsitzende des fakultativen Aufsichtsorgans bzw. jedes andere Mitglied dieses Organs zuständig. Im Innenverhältnis ist der Vorsitzende an die (rechtmäßigen) Beschlüsse des fakultativen Aufsichtsorgans gebunden. – Da die Aktien an der Management AG alle von einem Aktionär gehalten werden, kann die Hauptversammlung jederzeit als Vollversammlung (§ 121 Abs. 6 AktG) unter Verzicht auf alle Form- und Fristvorgaben der §§ 121 bis 128 AktG durchgeführt werden96.

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95 Näher zu den Problemen Schrick, NZG 2000, 675, 678; Gonnella/Mikic, AG 1998, 508, 511; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 77 Rz. 11a; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 13; ferner Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 34 f. 96 Nicht erforderlich für eine solche Vollversammlung ist die Zustimmung der Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrats. Sie haben nach § 118 Abs. 3 AktG zwar ein Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung. Die Bestimmungen über die Einberufung und Ankündigung sind jedoch im Interesse der Aktionäre, nicht im Interesse der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder geschaffen worden. Wohl aber darf ihr Anwesenheitsrecht nicht verletzt werden; es muss ihnen daher so rechtzeitig von dem Zeitpunkt, Ort, und Gegenstand der Verhandlung Kenntnis gegeben werden, dass sie noch an der Versammlung teilnehmen können. Vgl. Werner in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 121 Rz. 67; Kubis in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 121 Rz. 66. Insofern unterliegen fehlerhafte Beschlüsse auch der Anfechtung (vgl. § 245 Nr. 4 u. Nr. 5 AktG).

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– Nach der Geschäftsordnung des fakultativen Aufsichtsorgans soll die Hauptversammlung der Management AG, sofern Bedarf zur Beschlussfassung besteht, möglichst im Anschluss an die Sitzungen des Aufsichtsorgans stattfinden. Im Übrigen kann der Vorsitzende des Aufsichtsorgans einem Mitarbeiter der KGaA Vollmacht zur Durchführung der Hauptversammlung der Management AG erteilen.

VIII. Auswirkungen der unternehmerischen Mitbestimmung auf die Gestaltungsfreiheit der Corporate Governance in der KGaA Die Rechtsform der KGaA wird grundsätzlich von den mitbestimmungsrechtlichen Regelungen des DrittelbG und des MitbestG erfasst. Dagegen unterfällt die KGaA nicht den Montanmitbestimmungsgesetzen und dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz. Bei Gesellschaften, die in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen, muss der Aufsichtsrat zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer bestehen (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 DrittelbG). In Gesellschaften mit mehr als 2000 Arbeitnehmern (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG) ist der Aufsichtsrat paritätisch mit Vertretern der Anteilseigner und Arbeitnehmer zu besetzen. Die unternehmerische Mitbestimmung lässt die besondere Struktur der KGaA ansonsten unberührt, so dass die Gestaltungsfreiheit bezüglich der Unternehmensverfassung der KGaA nicht eingeschränkt wird97. 1. Einführung einer privatautonomen unternehmerischen Mitbestimmung In vielen Strukturen stellt sich die Frage, ob Arbeitnehmer auch entsprechend den mitbestimmungsrechtlichen Regeln in die Überwachung der KGaA über den Aufsichtsrat involviert werden können, wenn der Anwendungsbereich des DrittelbG und des MitbestG mangels erforderlicher Anzahl von Mitarbeitern nicht eröffnet ist. Denkbar ist die privatautonome Einführung eines mitbestimmten Aufsichtsrats durch a) entsprechende Satzungsgestaltung und b) Stimmbindungsverträge zugunsten der Arbeitnehmer. a) Satzung Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer AG ist zwingend in § 96 AktG i. V. m. den dort genannten Mitbestimmungsregelungen (insbesondere DrittelbG und MitbestG) vorgeschrieben. Abweichungen sind weder in der Satzung der AG (§ 23 Abs. 5 AktG) noch durch Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern oder Gewerkschaften möglich. Ausgeschlossen sind demnach zunächst Satzungsklauseln, die die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer ausschließen oder beschränken. Die Mitbestimmung nach DrittelbG und MitbestG ist darüber hinaus nach herrschender Meinung aber auch „nach oben“ zwingend, es können also keine Ab-

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97 S. oben unter II. 2.

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weichungen zugunsten der Mitarbeiter eingeführt werden. Eine nicht vom DrittelbG oder MitbestG erfasste AG kann sich daher keinen drittelparitätisch zusammengesetzten, von Anteilseignern und Arbeitnehmern gewählten Aufsichtsrat geben98. Diese Grundsätze gelten wegen der Verweisung auf das insofern zwingende Aktienrecht in § 278 Abs. 3 AktG meines Erachtens auch für den Aufsichtsrat einer KGaA. Abweichungen vom gesetzlichen Mitbestimmungsregime sind weder in der Satzung der KGaA (§§ 23 Abs. 5, 278 Abs. 3 AktG) noch durch Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern oder Gewerkschaften möglich99. b) Stimmbindungsvertrag zwischen Gesellschaftern In einem Konsortialvertrag können die Gesellschafter eine privatautonome Mitbestimmungsvereinbarung treffen für den Fall, dass der Aufsichtsrat der KGaA nicht dem DrittelbG oder MitbestG unterfällt. Danach verpflichten sich die jeweiligen Parteien, sofern die Vertreter der Arbeitnehmer nicht direkt durch die Arbeitnehmer bestimmt werden, die seitens der Arbeitnehmer benannten Personen der Hauptversammlung als Mitglieder des Aufsichtsrats vorzuschlagen und entsprechend ihr Stimmrecht in der Hauptversammlung auszuüben100. In der Literatur101 wird indessen die Auffassung vertreten, dass derartige Stimmbindungsverträge, durch die sich einzelne Aktionäre verpflichten, ihre Stimme

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98 So die h. M.: OLG Bremen, AG 1977, 257, 258 (obiter dictum); Hommelhoff, ZHR 148 (1984) 118, 133 ff.; Ihrig/Schlitt, NZG 1999, 333, 334; Wahlers, ZIP 2008, 1897, 1899 f.; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 20 und § 1 DrittelbG Rz. 8; Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 28 Rz. 49; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 96 Rz. 3; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 96 Rz. 14; Gach in MünchKomm. AktG, Anh. § 1 MitbestG Rz. 40; Oetker in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, MitbestG, Vorb. Rz. 101, a. A. für Möglichkeit der Aufstockung der Mitbestimmung nach dem BetrVG 1952, vgl. Fabricius in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 155, 158 ff. 99 Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 20; a. A. allerdings Seibt, AG 2005, 413, 415. 100 Solche Stimmbindungsvereinbarungen bestehen in der Praxis durchaus, insbesondere im Bereich kommunaler Versorgungsunternehmen; vgl. Seibt, AG 2005, 413 ff.; Wahlers, ZIP 2008, 1897 ff. Siehe z. B. MVV Energie AG, Verkaufsprospekt/Börsenzulassungsprospekt vom 1. März 1999, S. 25 f. unter „Organe der Gesellschaft/Aufsichtsrat“: Schuldrechtliche Vereinbarung zwischen der Stadt Mannheim und dem Betriebsrat der MVV Energie AG, durch die sich die Stadt Mannheim verpflichtete, Sorge dafür zu tragen, dass die MVV GmbH (als Mehrheitsaktionärin) ihr Stimmrecht in der Hauptversammlung der MVV Energie AG in der Weise ausübt, dass für den 18-köpfigen Aufsichtsrat zusätzlich zu den sechs von den Arbeitnehmern zu wählenden Vertretern zwei weitere Vertreter der Arbeitnehmer zu Aufsichtsratsmitgliedern bestellt werden. 101 So Hommelhoff, ZHR 148 (1984), 118, 140 f.; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 96 Rz. 16; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 21; so wohl auch Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 96 Rz. 3. Für die Zulässigkeit solcher Vereinbarungen: Raiser, ZGR 1976,

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im Sinne eines Vorschlags der Arbeitnehmer-Seite oder der Gewerkschaften auszuüben, unzulässig und damit nicht bindend seien. Obwohl derartige Stimmbindungsvereinbarungen die Auswahlentscheidung den Anteilseignern überließen, liefen sie doch auf die Einführung einer auf Dauer angelegten, nur durch (unzulässige) Satzungsänderung zu gestaltende Mitbestimmung der Arbeitnehmer hinaus. Der BGH hat diese Frage bislang ausdrücklich offengelassen102. Meines Erachtens ist die die Zulässigkeit solcher Stimmbindungsverträge ablehnende Auffassung aus den folgenden Gründen nicht überzeugend: – Zunächst verkennt sie, dass die absolute Wirkung des § 96 AktG i. V. m. den dort genannten Mitbestimmungsregelungen (insbesondere DrittelbG und MitbestG) nur im Verhältnis zur Gesellschaft, also auf Gesellschaftsebene gilt. Die AG oder KGaA kann weder durch Satzung noch Vertrag autonome Mitbestimmungsregeln schaffen. – Davon nicht betroffen ist das Verhältnis zwischen den Aktionären der AG und Gesellschaftern der KGaA, also die Gesellschafterebene. Hier sind die Inhaber untereinander frei zu entscheiden und sich gegenseitig zu verpflichten, wer in den Aufsichtsrat einziehen soll. – Die von den Gesellschaftern in Umsetzung des Stimmbindungsvertrags gewählten Arbeitnehmervertreter bleiben Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner und stellen im rechtlichen Sinne keine „Vertreter der Arbeitnehmer“ im Sinne des DrittelbG oder MitbestG dar. – Die von den Aktionären in Umsetzung des Stimmbindungsvertrags gewählten Arbeitnehmervertreter können deshalb auch jederzeit mit der in § 103 Abs. 1 AktG vorgesehenen Mehrheit auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes von den Anteilseignern abberufen werden. – Dabei ist weiter zu beachten, dass in der Regel ausschließlich Vereinbarungen zwischen den Gesellschaftern getroffen werden, ohne dass Arbeitnehmer oder Arbeitnehmervertretungen unmittelbar oder mittelbar hieraus Rechte herleiten können. – Im Übrigen sind bei der AG und KGaA Vereinbarungen gängig und zulässig, durch die eine durch Satzungsregelung umzusetzende Ausgestaltung der Befugnisse, der Zuständigkeiten und der Binnenorganisation des Aufsichtsrats vorbestimmt werden. Für privatautonome Mitbestimmungsvereinbarungen kann nichts anderes gelten. 2. Mitbestimmungsrechtliche Besonderheiten der KGaA a) Beschränkung der Kompetenzen des Aufsichtsrats generell Da dem Aufsichtsrat der KGaA im Vergleich zur AG weniger Kompetenzen zustehen, wirkt sich die Mitbestimmung auf die Entscheidungsfindung im

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105, 108; Fabricius in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 155, 157; Konzen, AG 1983, 289, 299 f.; Beuthien, ZHR 148 (1984), 95, 105; Ihrig/Schlitt, NZG 1999, 333, 335; Seibt, AG 2005, 413, 415; Wahlers, ZIP 2008, 1897, 1902 ff. 102 BGH NJW 1975, 1657, 1658.

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Unternehmen wesentlich geringer aus als bei der AG. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass dem Aufsichtsrat der KGaA die Personalkompetenz in Bezug auf die Geschäftsführung sowie die Zustimmungskompetenz im Hinblick auf wesentliche Maßnahmen der Geschäftsführung fehlen103. b) Explizite Privilegierungen nach dem MitbestG Nach § 31 Abs. 1 Satz 2 MitbestG ist der Aufsichtsrat der KGaA nicht für die Bestellung der Mitglieder des zur Vertretung der Gesellschaft berufenen Organs zuständig. Dies ergibt sich ohnehin aus der personengesellschaftsrechtlichen Position des Komplementärs und gilt auch für die Bestellung von „vorstandsähnlichen“ Komplementären ohne Geschäftsanteil. Auch bei einer nach DrittelbG mitbestimmten Gesellschaft hat der Aufsichtsrat keine Personalkompetenz104. Nach § 33 Abs. 1 Satz 2 MitbestG entfällt schließlich auch die Pflicht zur Bestellung eines Arbeitsdirektors, eine nicht zu vernachlässigende Erleichterung für bestimmte Unternehmensstrukturen. Der Gesetzgeber trägt damit dem Grundsatz der Selbstorganschaft bei der KGaA Rechnung. Der Grund für die mitbestimmungsrechtliche Privilegierung der KGaA ist das Prinzip der Unvereinbarkeit von persönlicher Haftung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Die Übernahme der unbeschränkten Haftung muss der Möglichkeit der weitgehenden Einflussnahme auf die Geschicke des Unternehmens entsprechen105. 3. Kein mitbestimmungsrechtliches Sonderrecht der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA Aus der soeben erwähnten ratio legis der mitbestimmungsrechtlichen Privilegierung ist der Schluss gezogen worden, dass diese Privilegierung dann nicht mehr gelten könnte, wenn keine natürliche Person die persönliche Haftung übernimmt. Im Falle der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA läge eine „verdeckte Lücke“ im MitbestG vor106. Diese Diskussion ist insbesondere – wie sich gleich zeigen wird – für die sog. Einheits-KGaA relevant, die genutzt wird, um den Zugriff des fakultativen Aufsichtsgremiums auf die Geschäftsführung sicherzustellen107. Zur Lückenfüllung werden zwei Lösungen über § 4 MitbestG und § 5 MitbestG diskutiert, die aber beide in der Sache nicht überzeugen:

__________ 103 Näher zu den Kompetenzen des Aufsichtsrats der KGaA auch im Vergleich zur AG oben unter IV. 2. 104 Hennerkes/May, DB 1988, 537, 539; Haase, GmbHR 1997, 917, 921; Assmann/Sethe, in: Großkomm-AktG, 4. Aufl., § 287 Rz. 22. 105 Vgl. Fischer, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien nach dem Mitbestimmungsgesetz, 1982, S. 95; Kallmeyer, ZGR 1983, 57, 65; ders., DStR 1994, 977, 981; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63; a. A. Joost, ZGR 1998, 334, 340. 106 Fischer, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien nach dem Mitbestimmungsgesetz, 1982, S. 134; Steindorff in FS Ballerstedt, 1975, S. 127, 134. 107 S. oben unter VII. 3.

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a) Anwendung von § 4 MitbestG? § 4 MitbestG gilt seinem Gesetzeswortlaut nach für eine Kommanditgesellschaft, bei der die Position des Komplementärs durch eine Kapitalgesellschaft eingenommen wird. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung soll jedoch § 4 MitbestG analog auch auf eine Kapitalgesellschaft & Co. KGaA anwendbar sein. Bei einer analogen Anwendung der Vorschrift würden – auch bei der Einheits-KGaA – unter bestimmten Voraussetzungen die Arbeitnehmer der KGaA der Komplementärgesellschaft für Zwecke der unternehmerischen Mitbestimmung zugerechnet werden108. Die analoge Anwendung von § 4 MitbestG hätte bei der KGaA zur Folge, dass – soweit ein Konzern mit mehr als 2000 Arbeitnehmern vorliegt – der Aufsichtsrat der Komplementär-Gesellschaft der KGaA der paritätischen Mitbestimmung unterliegen würde, der neben den mit nur wenigen Kompetenzen ausgestatteten Aufsichtsrat der KGaA träte. Diese Auffassung überzeugt jedoch aus folgenden Gründen nicht109: – Zwar ist in der Tat die Situation in der KG, die eine Kapitalgesellschaft als Komplementärin hat, vergleichbar mit der Situation, in der eine KGaA eine Kapitalgesellschaft als Komplementärin hat. Jedoch ist zum einen die Einbeziehung einer Personengesellschaft in den Rahmen des MitbestG eine Ausnahmeregelung, die den Rahmen der erfassten Gesellschaftstypen in § 1 Abs. 1 MitbestG sprengt. – Zum zweiten ist klar, dass die KGaA zu den grundsätzlich erfassten Unternehmen im MitbestG zählt. Von einer gesetzgeberischen Lücke kann daher nicht ausgegangen werden. Folglich wäre die in § 4 MitbestG normierte Ausnahmeregelung nicht analog auf die KGaA übertragbar. – Es ist daher alleinige Sache des Gesetzgebers, ob er die Regel für die kapitalistisch geführte KGaA abändern wird, wie dies für die GmbH & Co. KG in § 4 MitbestG geschehen ist. Gegen eine entsprechende Anwendung von § 4

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108 Für eine Anwendung des § 4 MitbestG: Fischer, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien nach dem Mitbestimmungsgesetz, 1982, S. 136 ff.; Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 114 ff.; Binz/Sorg, BB 1988, 2041, 2045, 2050; Sethe, ZIP 1996, 2053, 2057; Joost, ZGR 1998, 334, 343 ff.; Oetker, ZGR 2000, 19, 40; K. Schmidt, ZHR 160 (1996), 265, 285; Semler/Perlitt in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 278 Rz. 302 ff. (anders nun die 3. Aufl.); Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/ Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 Rz. 40 f. Alternativ ist vorgeschlagen worden, dass bei der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA die Befugnisse des KGaA-Aufsichtsrats insbesondere um die Kompetenz zu erweitern ist, die Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft zu bestellen und abzuberufen; vgl. Steindorff in FS Ballerstedt, 1975, S. 127, 139. 109 Ebenso wie hier Graf, Die Kapitalgesellschaft & Co. KG auf Aktien, 1993, S. 205 ff.; Reuter ZHR 140 (1976), 494, 517; Hennerkes/Lorz, DB 1997, 1388, 1392; Halasz/ Kloster, GmbHR 2002, 77, 86; Kessler, NZG 2005, 145, 149 f.; HoffmannBecking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 275, 279; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63; Hecht in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 529 ff.; Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000, Rz. 83; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 85; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 302 ff. (anders noch die 2. Aufl.).

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MitbestG spricht auch, dass die Befürworter nicht einheitlich erklären können, welche Folgen die analoge Anwendung von § 4 MitbestG haben soll110. Gleichermaßen hat der Bundesgerichtshof in seiner Leitentscheidung zur Zulässigkeit der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA solche Überlegungen zur analogen Anwendung des § 4 MitbestG abgelehnt. Es könne nicht Aufgabe der Gerichte sein, den auf politischem Wege gefundenen Mitbestimmungskompromiss durch eine Rechtsfortbildung zu korrigieren. Es sei allein Sache des Gesetzgebers, das MitbestG zu ändern, wenn er die KGaA ohne natürliche Person als Komplementär der Mitbestimmung im gleichen Umfang wie eine AG oder GmbH (vgl. § 25 MitbestG) unterwerfen wolle111. b) Anwendung von § 5 MitbestG? Der zweite Ansatz zur Begründung eines mitbestimmten Aufsichtsrats bei der Komplementärgesellschaft stützt sich auf § 5 MitbestG: Ist ein in § 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG bezeichnetes Unternehmen herrschendes Unternehmen eines Konzerns (§ 18 Abs. 1 AktG), so gelten für die Anwendung des MitbestG auf das herrschende Unternehmen die Arbeitnehmer der Konzernunternehmen als Arbeitnehmer des herrschenden Unternehmens. Diese Überlegung setzt allerdings voraus, dass § 5 MitbestG nicht den konzernrechtlichen Unternehmensbegriff, sondern einen eigenständigen mitbestimmungsrechtlichen Unternehmensbegriff verwendet, für den es nicht auf eine anderweitige unternehmerische Betätigung der Komplementärgesellschaft ankommt, sondern allein auf die Verschiebung von Zuständigkeiten auf die herrschende Gesellschaft. Demnach würde allein die Beteiligung als Komplementärin an einer GmbH & Co. KG oder KGaA die Komplementärgesellschaft zu einem herrschenden Unternehmen machen112. Komplementärgesellschaft und KGaA bilden aber eine wirtschaftliche Einheit, da die Komplementärin zwingendes Organ der KGaA ist. Sie sind daher nicht als zwei Unternehmen im wirtschaftlichen Sinn anzusehen. Dies bedeutet, dass § 5 MitbestG auf die Komplementärgesellschaft einer KGaA nicht anzuwenden ist – auch deshalb, weil diese Bestimmung wie bei der KG durch die speziellere – aber nicht anwendbare – Regelung des § 4 MitbestG verdrängt wird113.

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110 Ausführlich zu der Uneinheitlichkeit dieser Literaturmeinung, die damit weiter an Überzeugungskraft verliert Hecht in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 529 ff. 111 BGHZ 134, 392, 400; dazu Kessler, NZG 2005, 145, 149 f.; Hennerkes/Lorz, DB 1997, 1388, 1392. 112 Vgl. OLG Stuttgart, BB 1989, 1005, 1006; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/ Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 5 MitbestG Rz. 9. 113 OLG Celle, DB 1979, 2502, 2503; OLG Bremen, DB 1980, 1332, 1335; Graf, Die Kapitalgesellschaft & Co. KG auf Aktien, 1993, S. 205 ff.; Born, Die abhängige Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, S. 32 f.; Hennerkes/Lorz, DB 1997, 1388, 1392; Joost, ZGR 1998, 334, 347; Jaques, NZG 2000, 401, 404; Kessler, NZG 2005,

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Wichtig: Dies gilt allerdings nur, soweit die Komplementärgesellschaft keine anderweitigen wirtschaftlichen Interessen außer ihrer Beteiligungen an der KGaA verfolgt (Geschäftsführung und Übernahme der persönlichen Haftung)114 und deshalb ausnahmsweise die Voraussetzungen des § 18 AktG nicht erfüllt sind.

IX. Schluss Die Einführung eines fakultativen Aufsichtsorgans mit organschaftlichen Kompetenzen ist anders als bei der AG zulässig. Die Rechtsverhältnisse zwischen den einzelnen Organen richten sich überwiegend nach Personengesellschaftsrecht und sind demnach weitestgehend gestaltbar. So können sich die Gründer auch bei einer kapitalmarktfähigen Kapitalgesellschaft umfassend ihre eigene Corporate Governance schaffen. Fakultative Aufsichtsorgane bei einer KGaA können mit Kompetenzen ähnlich denen eines Aufsichtsrats einer AG ausgestattet werden. Dazu gehören insbesondere umfassende Personal-, Zustimmungs-, und Überwachungsrechte, während die innere Ordnung oftmals autonom nach den Vorstellungen der Gründer geregelt wird. Insbesondere kann dem fakultativen Aufsichtsorgan die Kompetenz zur Aufnahme neuer Komplementäre übertragen oder Zustimmungsrechte zu Geschäftsführungsmaßnahmen eingeräumt werden. Grenzen bei der Ausgestaltung der Rechte der Organe untereinander ergeben sich vor allem dann, wenn Regelungen des AktG oder Spezialregelungen der KGaA betroffen sind. Weiter gelten die Grundprinzipien des Personengesellschaftsrechts, deren praktische Bedeutung jedoch für die KGaA oftmals überschätzt werden, entweder weil die dogmatischen Folgerungen nicht überzeugen oder die Kautelarpraxis entsprechende Auffanglösungen entwickelt hat. Bei der Ausgestaltung der Corporate Governance innerhalb der KGaA bestehen keine Restriktionen durch das Mitbestimmungsrecht. Im Gegenteil erlaubt die KGaA hier weitere Erleichterungen gegenüber dem Mitbestimmungsregime bei der AG und der GmbH. Auf der anderen Seite ist das Mitbestimmungsregime nach DrittelbG und MitbestG auch „nach oben“ zwingend, es können also keine Abweichungen zugunsten der Mitarbeiter eingeführt werden. Die Praxis hilf sich hier mit effektiven Ersatzlösungen, wie z. B. Stimmbindungsverträgen zwischen den Gesellschaftern.

__________ 145, 150; Perlitt in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 278 Rz. 302 ff.; Hecht in Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004, § 5 Rz. 538; Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 275, 279; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63a; Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 278 Rz. 87; a. A. Ulmer/ Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 Rz. 40 (Kapitalgesellschaft & Co. KGaA) i. V. m. § 4 Rz. 5 MitbestG, § 5 Rz. 9 MitbestG m. w. N. (zur GmbH & Co. KG). 114 Arnold, Die GmbH & Co. KGaA, 2001, S. 122; Hoffmann-Becking/Herfs in FS Siegle, 2000, S. 273, 279; Jaques, NZG 2000, 401, 404; Herfs in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 63a.

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Zum Nachschieben von Anfechtungsgründen im Beschlussmängelstreit Inhaltsübersicht I. Der Streitgegenstand im Beschlussmängelstreit 1. Streitstand bis 2002 2. Die Entscheidung des BGH vom 22.7.2002 und ihre Folgen II. Streitgegenstandsbegriff und Rechtsnatur der Klagefrist 1. Dogmatische Einordnung 2. Praktische Relevanz III. Herkömmliche Abgrenzungsformeln 1. Abgrenzungsprobleme 2. Einheitlicher Lebenssachverhalt 3. Tatsachenkern

4. Die „geltend gemachten Beschlussmängelgründe“ IV. Einzelne Abgrenzungskriterien 1. Abgrenzung nach dem Rechtsgrund 2. Erstreckung auf neue, den Rechtsverstoß tragende Sachverhalte 3. Sachverhaltsklammern a) Zeitlicher, sachlicher und rechtlicher Zusammenhang b) Zusammenspiel von Klage und Erwiderung c) Schilderung des Hintergrunds V. Zusammenfassung

Martin Winter hat seine außerordentliche Begabung auch in den Dienst der justiziellen Rechtspflege gestellt. Er gehörte – zum Vorteil der Justiz – zu den auch forensisch tätigen Anwälten und wird deshalb unweigerlich mit der Problematik des Streitgegenstands – im Zivilprozess „von größter Bedeutung“1 – befasst gewesen sein. Diesem weiten Feld kann sich dieser Beitrag nicht widmen. Er begnügt sich mit dem Versuch, den Stand der Diskussion des Streitgegenstands der Beschlussmängelklage darzustellen und Grenzen für das Nachschieben von Anfechtungsgründen aufzuzeigen.

I. Der Streitgegenstand im Beschlussmängelstreit 1. Streitstand bis 2002 Der Streit um den Streitgegenstand bewegt die zivilprozessuale Theorie und Praxis immer wieder, weil er in unterschiedlichen prozessrechtlichen Zusammenhängen relevant wird und die Vielfalt der prozessualen Konstellationen unerschöpflich erscheint. Für die Praxis war es hilfreich, dass sich die Rechtsprechung in Einklang mit der herrschenden Lehre zu einem klaren Verständnis des Begriffs bekannt hatte2. Danach wird als Streitgegenstand der geltend

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1 So Vollkommer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, Einl. Rz. 61; näher Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 14 ff. 2 Vgl. BGHZ 117, 1 (insbesondere juris Rz. 16 f.) m. w. N.; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 18 ff. m. w. N.

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gemachte prozessuale Anspruch verstanden, der bestimmt wird durch den Klageantrag und den dazu vorgebrachten Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge ableitet. Mit der aktienrechtlichen Beschlussmängelklage beschäftigte sich die zivilprozessuale Theorie aber eher am Rande3. Dabei handelt es sich hier durchaus um eine interessante Sondersituation. Es geht nicht nur um die zivilprozessuale Besonderheit der Gestaltungsklage, sondern auch um das Nebeneinander von befristeter Anfechtungs- und unbefristeter Nichtigkeitsklage; dazu kommt vor allem, dass sich das einheitliche Klageziel der Beschlussnichtigkeit regelmäßig auf zahlreiche unterschiedliche Rechtsgründe (Beschlussmängel) stützt. Dennoch war der allgemeine zivilprozessuale Streitgegenstandsbegriff auch für gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelklagen weithin anerkannt4. Allerdings stellte Zöllner5 im Zusammenhang mit der Reichweite der Rechtskraft eines klagabweisenden Urteils alleine auf das Rechtsschutzziel, also die Vernichtung oder die Feststellung der Nichtigkeit des angegriffenen Beschlusses, ab, unabhängig davon, auf welche Mängel das Begehren gestützt wird und mit Hilfe welchen Lebenssachverhalts sie begründet werden; er folgert daraus, das Nachschieben von Anfechtungsgründen stelle keine Klageänderung dar6, und zudem ausdrücklich, die Anfechtungsfrist habe keine Bedeutung für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen; sei die Klage fristgerecht erhoben, könnten weitere Anfechtungsgründe jederzeit nachgeschoben werden7. Nach Auffassung von Zöllner macht es die herrschende Meinung dem Anfechtungskläger über Gebühr schwer; er sei wegen der Kürze der Frist womöglich gezwungen, Anfechtungsgründe mit erratenen Tatsachen zu substantiieren. Diese eher rechtspolitische Argumentation war schon deshalb zweifelhaft, weil es nicht darum gehen kann, einem Aktionär, der keinen Beschlussmangel erkennt, eine fristwahrende Anfechtungsklage zu ermöglichen. Sie hatte deshalb kaum Gefolgschaft gefunden und war zunächst in der Rechtsprechung nicht aufgegriffen worden8.

__________ 3 Vgl. z. B. Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 13, 64. 4 Hüffer, ZGR 2001, 833, 854 m. w. N.; aktueller Stand zur AG bei Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246 Rz. 18 ff.; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 1 ff., je m. w. N.; für die GmbH K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 Rz. 152; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, Anh. § 45 Rz. 472 je m. w. N. 5 Zöllner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl., § 246 Rz. 47 ff.; ebenso Zöllner in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, Anh. § 47 Rz. 156 f.; 166 f. 6 Zöllner (Fn. 5), Rz. 56. 7 Zöllner (Fn. 5), Rz. 17 ff. 8 Zustimmend allein Heidel in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 246 AktG Rz. 21, 31; rechtspolitisch auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, § 8 IV 2b, S. 467 („rechtsstaatlich bedenklicher Verlust an Gerichtsschutz“).

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2. Die Entscheidung des BGH vom 22.7.2002 und ihre Folgen a) Überraschend hatte sich indessen der II. Zivilsenat des BGH im Jahr 2002 ausdrücklich der Mindermeinung von Zöllner angeschlossen9. Das Bekenntnis zur Mindermeinung wurde zwar vorsorglich durch die Worte „im Grundsatz“ eingeschränkt10, auch wenn von dieser Einschränkung in der weiteren Begründung der Entscheidung nichts mehr zu lesen ist und keine möglichen Ausnahmen vom Grundsatz benannt werden. Möglicherweise hatte sich der Senat dabei vor allem von der Erwägung tragen lassen, ein weit gezogener Streitgegenstand verhindere, dass die Gesellschaft mit immer neuen Nichtigkeitsklagen überzogen werde11. Dabei löste die Entscheidung den Streitgegenstand nicht völlig vom Lebenssachverhalt, sondern fasst diesen lediglich (sehr) weit: Dazu gehörten alle Vorgänge, die für den Ablauf des zur Beschlussfassung führenden Verfahrens maßgebend seien12. Ob sich daraus eine Konsequenz für das Nachschieben von Anfechtungsgründen ergibt, wird in der Entscheidung nicht erwähnt13. Bei prozessrechtlichem Verständnis der Frist wäre dies naheliegend und die Auffassung des BGH würde zum Einfallstor für nachgeschobene Anfechtungsgründe14. Wer dagegen in § 246 Abs. 1 AktG ausschließlich eine materiell-rechtliche Präklusionsvorschrift sieht, müsste eine solche Konsequenz nicht zwingend ziehen15. Allerdings zeigt die Entscheidung auch wieder einmal, dass Urteile in der Regel nicht wie dogmatische Lehrmeinungen gelesen werden können, sondern auf der Basis des zugrundeliegenden Sachverhalts interpretiert werden müssen. In dem Fall, der dem BGH vorlag, ging es um eine Anfechtung wegen Einberufungsmängeln sowie wegen unzulässiger Angaben zu Hinterlegungsformalitäten. Dass der Senat darin einen einheitlichen Lebenssachverhalt erkannte, musste noch nicht bedeuten, dass er künftig nach unterschiedlichen Sachverhalten gar nicht mehr differenzieren würde. b) Der BGH hatte alsbald Gelegenheit gesucht, von dieser Entscheidung – jedenfalls in deren möglicher Konsequenz für das Nachschieben von Anfechtungsgründen – wieder abzurücken. In seinem Urteil vom 14.3.200516 ging es zwar um eine GmbH-rechtliche Anfechtungsklage. Die nachgeschobenen Anfechtungsgründe waren auch nicht schlüssig vorgetragen, die Präklusionsfrage stellte sich also eigentlich nicht. Dennoch nahm der Senat den Fall zum Anlass, um an seine frühere „gefestigte“ Rechtsprechung zum Streitgegenstands-

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9 BGH, Urt. v. 22.7.2002 – II ZR 286/01, BGHZ 152, 1; vgl. hierzu Bork, NZG 2002, 1094; Sosnitza, BGHReport 2002, 944; Bub, AG 2002, 679; Wagner, DStR 2003, 468; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426. 10 Juris Rz. 12. 11 So bei juris Rz. 15. 12 Juris Rz. 14. 13 Aber eingehend von Zöllner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl., § 246, dort in den Rz. 17 ff. und 56, die der BGH nicht zitiert. 14 Dazu im Einzelnen Bork, NZG 2002, 1094. 15 Würthwein in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 241 Rz. 89 ff.; Wagner, DStR 2003, 468; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426. 16 BGH v. 14.3.2005 – II ZR 153/03, AG 2005, 395 = ZIP 2005, 706.

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begriff zu erinnern und klarzustellen, dass es bei seiner Entscheidung vom 22.7.2002 „allein um den Umfang der Darlegung der Berufungsgründe“ gegangen sei. Es bleibe dabei, dass der Anfechtungskläger nicht jederzeit neue Anfechtungsgründe in den Rechtsstreit einführen könne, sondern binnen der Anfechtungsfrist „den einen Teil des Klagegrundes dieser Klage bildenden maßgeblichen Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die Anfechtbarkeit des Beschlusses herleiten will“ vortragen müsse. Diese Auffassung bekräftigte der Senat in kurzer Frist wiederholt auch im Fall aktienrechtlicher Anfechtungsklagen17. Sie ist demnach heute in der Rechtsprechung nicht mehr zweifelhaft18, und sie hat auch in der Literatur – jedenfalls im Ergebnis – ganz überwiegend Zustimmung gefunden19. Eine nähere Betrachtung verdienen dennoch die dogmatische Einordnung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (II.) und unabhängig davon die Frage nach praktisch greifbaren Grenzen für nachgeschobene Anfechtungsgründe (III. und IV.).

II. Streitgegenstandsbegriff und Rechtsnatur der Klagefrist 1. Dogmatische Einordnung a) Mit dem Begriff des Streitgegenstands hatte sich der BGH explizit lediglich in der Entscheidung vom 22.7.2002 befasst. Dabei ordnete er die von ihm damals abgelehnte herrschende Meinung der Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff zu und hielt ihr vor, den „Komplex des Lebenssachverhaltes tatbestandlich außerordentlich eng“ zu fassen20. Andererseits stellte auch diese Entscheidung im Anschluss an Zöllner auf den einheitlichen Lebenssachverhalt ab21; dazu gehörten alle Umstände, die Beschlussgegenstand, -inhalt und -verfahren betreffen22. Im Grunde lässt sich deshalb auch ein so definierter Streitgegenstand als zweigliedrig verstehen23. Allerdings wird dabei das zweite Glied des Begriffs, der einheitliche Lebenssachverhalt, außerordentlich weit gefasst. Darauf wird in Abschnitt III zurück zu kommen sein. Zu der Frage, ob die Klagefrist des § 246 AktG prozessual oder materiellrechtlich zu verstehen ist, hatte sich der BGH dagegen nicht geäußert. Für die Entscheidung vom 22.7.2002 kam es darauf nicht an. Auch soweit die Folge-

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17 AG 2005, 613 = NZG 2005, 722; AG 2006, 158 = NZG 2006, 191; BGHZ 167, 204 = AG 2006, 501 = NZG 2006, 505; AG 2009, 285 = NZG 2009, 342; AG 2010, 452 = NZG 2010, 618; AG 2010, 748 = ZIP 2010, 1898. 18 Zuletzt OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 411); in der gegenteiligen Entscheidung OLG München, AG 2010, 170 = ZIP 2010, 84 (dort juris Rz. 23) wurde die neuere Entwicklung wohl nicht gesehen. 19 Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246 Rz. 45 f.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 246 Rz. 26; Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 20; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 11, je m. w. N. 20 Bei juris Rz. 10. 21 Juris Rz. 14. 22 Juris Rz. 13. 23 Anders Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 13, 64.

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entscheidungen (oben Fn. 17) unmittelbar die Klagefrist des § 246 Abs. 1 AktG betrafen, hat sich der BGH nicht erklärt. Seine Behauptung allerdings, nach § 246 Abs. 1 AktG sei nicht nur die nachträgliche Erhebung der Anfechtungsklage, sondern auch das Nachschieben von neuen Anfechtungsgründen ausgeschlossen, passt eher zu einem materiell-rechtlichen Verständnisses der Frist, wie es ohnedies der ganz herrschenden, zutreffenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur entspricht24. Daran hält der BGH auch in neueren Entscheidungen fest, in denen er sich prozessrechtlich argumentierend mit dem Streitgegenstand befasst. So beschreibt er in dem Hinweisbeschluss vom 7.12.200925 Anfechtungsgründe als abtrennbaren Teil des Streitstoffs, sieht den Streitgegenstand durch die „jeweils geltend gemachten Beschlussmängelgründe als Teil des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts bestimmt“, folgert daraus aber nicht, das Nachschieben von Anfechtungsgründen sein unzulässig; vielmehr seien nachgeschobene Anfechtungsgründe (materiell-rechtlich) nicht mehr zu berücksichtigen. Dies ist indessen keine „Klarstellung“26 gegenüber der Entscheidung vom 22.7.2002 mehr, sondern die vollständige Abkehr von dem Streitgegenstandsverständnis, dem sich der BGH damals angeschlossen hatte. b) Begrifflich betritt der BGH in den neueren Entscheidungen unsicheres Terrain. An die Stelle der „klassischen“ Formel von der Bestimmung des (zweigliedrigen) Streitgegenstands durch Antrag und Lebenssachverhalt27 tritt die Begrenzung durch die „jeweils geltend gemachten Beschlussmängelgründe als Teil des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts“. Die Entscheidungen vom 7.12.200928 und vom 31.5.201029 berufen sich dafür auf das Urteil vom 14.3.200530. Dort verlangt der BGH allerdings den Vortrag des „den einen Teil des Klagegrunds dieser Klage bildende(n) maßgebliche(n) Lebenssachverhalt(s), aus dem der Kläger die Anfechtbarkeit des Beschlusses herleiten will“31. Solche verschlungenen und die Begrifflichkeiten auswechselnden Ausführungen machen die Sache nicht klarer32. 2. Praktische Relevanz Die Relevanz der bisher erörterten Problematik beschränkt sich aber nicht auf die Unterscheidung, ob das Nachschieben verspätet vorgetragener Anfechtungs-

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24 Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246 Rz. 45 f. m. w. N.; Dörr in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 12, 21 m. w. N.; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426, 428; OLG Schleswig, GWR 2009, 396; a. A. Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 4. 25 AG 2010, 452 (juris Rz. 3). 26 So schon BGH, AG 2005, 395 (juris Rz. 17). 27 Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 13; Musielak, ZPO, 6. Aufl., Einl. Rz. 69; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 Rz. 152. 28 AG 2010, 452 (juris Rz. 3). 29 AG 2010, 748 (juris Rz. 4). 30 AG 2005, 395 (juris Rz. 17); zum unergiebigen weiteren Zitat s. Fn. 48. 31 So auch die Formulierung in BGH, AG 2006, 501 (juris Rz. 18). 32 Hierzu unten III. 4.

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gründe im Beschlussmängelstreit unzulässig oder unbegründet ist. Praktisch weit bedeutender ist die vorgelagerte Frage, welches tatsächliche Vorbringen im Prozess überhaupt als verfristet anzusehen ist. Diese Frage stellt sich ganz unabhängig davon, ob § 246 Abs. 1 AktG als prozessrechtliche Klagefrist oder als materiell-rechtliche Ausschlussfrist verstanden wird33. Aus dem Wortlaut von § 246 Abs. 1 AktG folgt weder unmittelbar noch über §§ 260, 263 ZPO ein Verbot für das Nachschieben von Anfechtungsgründen nach Fristablauf. Die Vorschrift setzt nach ihrem Wortlaut nur für die Klageerhebung eine Frist. Diese erfordert zwar nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auch die Angabe von Gründen. Dem genügt aber jeder konkrete, zur Individualisierung geeignete Vortrag; nicht gefordert ist prozessrechtlich die Angabe aller möglichen Gründe, auf die der Antrag darüber hinaus auch noch gestützt werden könnte. Werden solche Gründe später eingeführt und folgt aus ihnen ein anderer Streitgegenstand, liegt eine nach den Regeln der Klageänderung zu beurteilende nachträgliche objektive Klagenhäufung vor. Die Entscheidung darüber bewegt sich auf der Ebene der Zulässigkeit und ist nach § 263 ZPO von der Einwilligung der beklagten Seite oder der Beurteilung des Gerichts abhängig. Die Auslegung von § 246 AktG ergibt dennoch, dass dessen Abs. 1 nicht nur die verspätete Erhebung einer Klage betrifft, sondern auch nach Fristablauf nachgeschobene Anspruchsgründe präkludiert. Bei einem prozessrechtlichen Verständnis wäre die Begründung einfach: die nachträgliche objektive Klagenhäufung ist der Sache nach eine weitere Klageerhebung in anderer Form; auch für sie muss aber die Einhaltung der Klagefrist geprüft werden, ehe die weiteren Zulässigkeitsbedingungen von § 263 ZPO in Frage stehen. Handelt es sich dagegen um eine nur materiell – rechtlich wirkende Präklusionsfrist, wäre die Einbeziehung eines weiteren Streitgegenstands in das Verfahren unter den Voraussetzung von § 263 ZPO zulässig, die Klage mit diesem Streitgegenstand aber, falls die neuen Gründe präkludiert sind, unbegründet. Auch vor diesem Hintergrund folgt indessen aus Sinn und Zweck des Gesetzes, dass § 246 Abs. 1 AktG nicht nur neue Klagen, sondern auch neue Klagegründe präkludiert34. Welche Klagegründe präkludiert sein sollen, lässt sich demzufolge nicht unmittelbar aus der Abgrenzung des Streitgegenstands ableiten. Dafür bedürfte es an sich einer eigenständigen, auf § 246 Abs. 1 AktG bezogenen Begründung, die auch vergleichbare Bestimmungen in anderen Gesetzen35 heranziehen sollte. Es lässt sich indessen durchaus vertreten, einstweilen die umfangreiche Literatur und Rechtsprechung zum Streitgegenstand auch für die Abgrenzung der rechtzeitigen von den verspätet vorgebrachten Anfechtungsgründen ent-

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33 In diesem Sinne und zum Nachfolgenden auch Wagner, DStR 2003, 468, 471; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426, 428 f. 34 K. Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 246 Rz. 24; Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246 Rz. 44 ff.; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426, 428 f. 35 Beispiel unter III. 3.

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sprechend heranzuziehen. Denn es liegt nahe, die Abtrennbarkeit der Klagegründe nach den Kriterien zu untersuchen, die prozessual etwa für die Klageänderung, für die Reichweite der Rechtskraft oder für die Teilanfechtung durch Rechtsmittel gelten.

III. Herkömmliche Abgrenzungsformeln 1. Abgrenzungsprobleme Abgrenzungsprobleme scheinen sich auf der Grundlage der Mindermeinung von Zöllner im Ausgangspunkt – aber auch nur soweit – kaum zu stellen. Danach gehören alle Gründe, die zu einer Anfechtung berechtigen können, zu einem einheitlichen Lebenssachverhalt und können deshalb auch nach Ablauf der Anfechtungsfrist noch geltend gemacht werden. Abgesehen davon, dass auch dabei der Sprung vom Streitgegenstand (Lebenssachverhalt) zur materiellen Anfechtungsfrist nicht gefällt, bleibt auf dieser Grundlage das Problem, diejenigen Grenzen für verspäteten Vortrag zu bestimmen, die sich materiell aus der Treupflicht und prozessual aus den Präklusionsvorschriften der ZPO ergeben. Die forensische Praxis wird sich indessen auf diese Meinung nach der Kehrtwendung des BGH nicht mehr stützen36. Sie muss vielmehr ausloten, welcher neue Vortrag noch von den Tatsachenkomplexen mit umfasst ist, die rechtzeitig zur Begründung der Klage in den Prozess eingeführt wurden. Die Instanzgerichte orientieren sich dabei häufig an dem Begriff des einheitlichen Lebenssachverhalts (unten 2.) oder des Tatsachenkerns (unten 3.), werden aber künftig nicht umhin kommen, entsprechend der neuen Formulierung des BGH zu prüfen, ob neuer Vortrag von den fristgerecht „geltend gemachten Beschlussmängelgründe(n) als Teil des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts“ mit umfasst ist (unten 4.). 2. Einheitlicher Lebenssachverhalt Der von Rechtsprechung und Literatur herkömmlich verwendete Begriff des einheitlichen Lebenssachverhalts vermittelt dabei wenig Erkenntnisgewinn. Im prozessrechtlichen Sprachgebrauch kann man einen Sachverhalt als die Gesamtheit der vom Kläger vorgetragenen, für die Tatbestandsseite einer Rechtsnorm relevanten tatsächlichen Umstände (Antragsgrund) verstehen, aus denen der Kläger die von ihm begehrte Rechtsfolge ableitet (Rechtsfolgenbehauptung). Damit sind zugleich die beiden Teile des sog. zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs umrissen. Die Bezeichnung eines solchen Sachverhalts als Lebenssachverhalt ist zwar gebräuchlich, erhellt aber nicht weiter. Erst recht führt es nicht weiter, wenn dem das Attribut „einheitlich“ hinzugefügt wird. Gemeint ist mit dem Begriff wohl ein zusammengehöriges tatsäch-

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36 So aber noch – wohl versehentlich – OLG München, AG 2010, 170 = ZIP 2010, 84 (juris Rz. 23).

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liches Geschehen. Was aber gehört zusammen? Die Rechtsprechung verweist im Rahmen der Bestimmung des Streitgegenstands dafür auf eine natürliche Betrachtungsweise (vom Standpunkt der Parteien aus) bzw. auf die Verkehrsauffassung37. Das ist kaum besser als die Unterscheidung nach dem „Wesen“ des Sachverhalts38. Mit solchen Formeln lässt sich begründen, was begründet werden soll. Sie haben keinen hermeneutischen Gehalt, verhelfen nicht zu Abgrenzungskriterien, sondern nur zu Scheinbegründungen39. Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Berufung auf den einheitlichen Lebenssachverhalt in den Kontext des prozessualen Streitgegenstandsbegriffs gehört. Wird die Klagefrist des § 246 Abs. 1 AktG zutreffend als materiell-rechtliche Ausschlussfrist verstanden, ergibt sich unmittelbar daraus erst recht keine überzeugende Abgrenzung. 3. Tatsachenkern Rechtsprechung und Schrifttum greifen daneben häufig auf den Begriff des Tatsachenkerns zurück. Es sei zu prüfen, ob neue Behauptungen zum selben Tatsachenkern gehörten wie der rechtzeitig vorgetragene Sachverhalt40. Die Anfechtungsgründe müssten innerhalb der Klagefrist in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern vorgetragen werden41. Der Kläger dürfe nach Fristablauf den wesentlichen Tatsachenkern seines Vortrags nicht ändern42. Das Bild des Tatsachenkerns wird im juristischen Schrifttum in erster Linie verwendet, wenn es um die Abgrenzung einer Tatsachenbehauptung von einem Werturteil oder einer Meinungsäußerung geht. Dabei kommt es darauf an, ob sich hinter wertenden Äußerungen – gewissermaßen in ihrem Kern – auch tatsächliche Behauptungen verbergen. Solche Fragen stellen sich etwa im Strafrecht43 und im Wettbewerbsrecht44 oder bei der Frage nach der Gewährung rechtlichen Gehörs durch Gerichte45. Sie können selbst im Zusammenhang mit § 531 Abs. 2 ZPO46 relevant werden, wenn es darum geht, ob ein in erster Instanz verwendeter Rechtsbegriff einen Tatsachenkern enthält, dem dann nicht erst in zweiter Instanz entgegen getreten werden könne47.

__________ 37 Vgl. z. B. BGH, NJW 1995, 967, 968; BGH, NJW 1999, 3126, 3127; BGHZ 174, 314; OLG München, ZfIR 2008, 33. 38 So z. B. BGH, NJW 1990, 1795, 1796; BGH, NJW-RR 1996, 1276. 39 Treffend Musielak, NJW 2000, 3593. 40 Raiser in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, Anhang zu § 47 Rz. 206; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426, 428. 41 Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246 Rz. 41; Schwab in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246 Rz. 11; OLG Jena, GmbHR 2002, 115 (juris Rz. 9); OLG München, NZG 2001, 616 (juris Rz. 50); BGH, AG 2006, 501 (juris Rz. 18). 42 OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 409 f., 480 f.); OLG München, NZG 2001, 616. 43 Vgl. z. B. Hefendehl in MünchKomm. StGB, 1. Aufl. 2006, § 263 Rz. 65; Lackner/ Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 187 Rz. 1. 44 Vgl. z. B. Bornkamm in Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Aufl. 2010, § 5 Rz. 161. 45 Vgl. z. B. BVerfGE 86, 133, 145 f. 46 Üblich ist dort auch sonst der Topos des einheitlichen Lebenssachverhalts, vgl. z. B. OLG München, ZfIR 2008, 33; OLG Stuttgart, OLGR 2006, 556. 47 OLG Hamm, OLGR 2004, 58.

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So geeignet die Begrifflichkeit in diesen Zusammenhängen erscheint, so wenig haben die dort angestellten Überlegungen mit dem hier zu behandelnden Problem gemein. Näher kommt ihm die im Mietrecht für die notwendige Begründung einer Kündigung gebräuchliche Unterscheidung zwischen Kerntatsachen und Ergänzungstatsachen. Die Rechtsprechung lässt es dort genügen, wenn im Kündigungsschreiben ein konkreter, unterscheidbarer Sachverhalt, auf den sich die Kündigung stützt („Kerntatsache“), angegeben wird; ergänzende oder ausfüllende Einzelheiten können auch noch später vorgebracht werden48. Das trifft annähernd auch den „Kern“ der Problemlage im Beschlussmängelstreit. Doch zeigt die umfangreiche Rechtsprechung dazu, dass daraus keine fassbaren Leitlinien für die Rechtsanwendung werden, sondern letztlich auf die Verhältnisse des Einzelfalls rekurriert wird. 4. Die „geltend gemachten Beschlussmängelgründe“ Will man ergründen, wie die Erwähnung der Beschlussmängelgründe in der neuen Formulierung des BGH49 zu verstehen ist, liegt es nahe, auf die Entscheidungen zurück zu greifen, auf die sich der BGH dafür bezieht (s. oben II. 3. b). Während sich die Entscheidung Schiedsfähigkeit II50 nur knapp und nicht einschlägig mit der Thematik beschäftigt, ist in der anderen zitierten Entscheidung51 zwar nicht vom Beschlussmängel-, wohl aber vom Klagegrund die Rede. Nach der dort verwendeten Definition soll der Lebenssachverhalt einen Teil des Klagegrunds bilden, während neuerdings umgekehrt die Beschlussmängelgründe Teil des Lebenssachverhalts sein sollen52. Schon der Begriff des Klagegrunds ist indes nicht eindeutig. Während er überwiegend mit dem Begriff des Sachverhalts gleichgesetzt wird53, verwenden ihn andere Autoren, um den Rechtsgrund des prozessualen Antrags zu kennzeichnen54. Nahe liegt, in dem Begriff ein Synonym für den Grund des erhobenen Anspruchs im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu sehen55. Damit würde die zitierte Definition des BGH aber perplex. Weicht man deshalb mit den neueren Entscheidungen des BGH auf den Begriff der Beschlussmängelgründe aus, würde es nur dann besser, wenn man damit

__________ 48 Blank in Blank/Börstinghaus, Miete, 3. Aufl. 2008, § 573 Rz. 175 f.; Gramlich, Mietrecht, 11. Aufl. 2010, § 573 Nr. 7, je m. w. N. 49 AG 2010, 452 = NZG 2010, 618; AG 2010, 748 = ZIP 2010, 1898. 50 AG 2009, 496 = BGHZ 180, 221 (juris Rz. 32). Sie stellt lediglich klar, dass Beschlussmängelstreitigkeiten nicht stets denselben Streitgegenstand betreffen, weil der zur Begründung vorgetragene Lebenssachverhalt differieren könne. 51 AG 2006, 501 (juris Rz. 18). 52 Begriffslogisch ergäbe sich daraus „Klagegrund“ als übergeordneter Begriff, „Lebenssachverhalt“ als dessen Teil und „Beschlussmängelgrund“ als wiederum diesem nachgeordnet. 53 Vgl. nur Vollkommer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, Einl. Rz. 83; OLG München, NZG 2001, 616, 618. 54 Musielak, NJW 2000, 3593, 3597. 55 So Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 67. Aufl. 2009, § 253 Rz. 32; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 253 Rz. 10.

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die rechtliche Qualifizierung der Beschlussmängel ansprechen, also darauf abstellen wollte, welcher rechtliche Beschlussmangel geltend gemacht wird56. Das hat der BGH aber kaum im Auge gehabt, sondern eher den allgemeinen Begriff des Klagegrunds auf den Beschlussmängelstreit übertragen wollen. Als Beschlussmängelgrund wäre danach der zur Begründung der geltend gemachten rechtlichen Beschlussmängel dienende Sachverhalt zu verstehen. Soll dieser nur „Teil des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts“ sein, muss jener notwendig weiter gefasst werden. Das ließe sich allenfalls so zusammenreimen, dass mit dem zugrunde liegenden Lebenssachverhalt die oft weit greifende lebensnahe Schilderung der Parteien, mit den Beschlussmängelgründen aber nur der daraus für die Subsumtion unmittelbar erforderliche Teil gemeint ist. Damit würde zwar der Begriff des Lebenssachverhalts wieder mindestens so konturenlos weit definiert, wie in der überholten Entscheidung vom 22.7.2002; er würde aber gleichzeitig obsolet, weil es darauf rechtlich nicht mehr ankäme. Rechtlich entscheidend wären nur noch die für den geltend gemachten Beschlussmangel relevanten Tatsachen.

IV. Einzelne Abgrenzungskriterien Die Versuche, den formelhaften Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung nachvollziehbare, konkrete Abgrenzungskriterien abzugewinnen, führen danach zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es seien deshalb einige weiterführende Überlegungen gestattet. 1. Abgrenzung nach dem Rechtsgrund57 Ein Beschlussmängelrechtsstreit hat grundsätzlich die Nichtigkeit des angegriffenen Beschlusses zum Ziel58. Für diese Rechtsfolge kann sich der Kläger auf zahlreiche Rechtsgründe berufen. Während Nichtigkeitsgründe in § 241 AktG enumerativ aufgeführt sind, führt nach § 243 Abs. 1 AktG jede (relevante) Verletzung von Gesetz oder Satzung zur Anfechtbarkeit. Schon dies zeigt, dass die Orientierung am Rechtsgrund allenfalls für eine erste – noch grobe – Abgrenzung sorgt. Immerhin sollte klar sein: Wer sich innerhalb der Klagefrist auf einen bestimmten Gesetzes- oder Satzungsverstoß berufen und die dazu erforderlichen Tatsachen vorgetragen hat, ist nach Fristablauf mit der Berufung auf andere Verstöße ausgeschlossen (genauer: das Gericht kann sich bei der Prüfung der Begründetheit der Klage mit ihnen nicht befassen). Das trägt indessen schon deshalb nicht weit, weil selbstverständlich der durchaus denkbare Fall auszunehmen ist, dass die vorgetragenen Tatsachen

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56 Für ein solches Verständnis der Entscheidung AG 2010, 748 könnten die Ausführungen bei juris Rz. 5 zur Trennung zwischen den geltend gemachten Beschlussanfechtungs- und Nichtigkeitsgründen sprechen. 57 Vgl. dazu allgemein Musielak, NJW 2000, 3593, 3595; im Ergebnis für die Beschlussmängelklage wohl auch Wagner, DStR 2003, 468, 471 am Ende. 58 Jedenfalls seit der BGH Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage als einheitliches Rechtsinstitut wertet, BGHZ 134, 164; BGHZ 135, 260.

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auch einen anderen Rechtsverstoß belegen. Denn diesen muss der Kläger nicht selbst benennen, sondern das Gericht anhand des vorgetragenen Sachverhalts feststellen59. Danach ist nicht nur klar, dass etwa in der Klage geltend gemachte Verfahrensmängel es nicht rechtfertigen können, nach Fristablauf vorgebrachte Inhaltsmängel zu berücksichtigen60. Auch die einzelnen Kategorien der Verfahrensmängel, also Einberufungs-, Durchführungs-, Informations- oder Feststellungsmängel, stehen nach ihren rechtlichen Grundlagen und dem relevanten Sachverhalt je für sich. Dies gilt grundsätzlich selbst für die verschiedenen denkbaren Varianten solcher Mängel. Wer etwa zum Gegenstand seiner Klage die Behauptung gemacht hat, das falsche Organ habe die Hauptversammlung einberufen, kann nicht mit der nach Fristablauf nachgeschobenen Behauptung gehört werden, die Einberufung sei an den falschen Ort oder zur Unzeit erfolgt, nur weil beides unter den Oberbegriff des Einberufungsmangels fällt. 2. Erstreckung auf neue, den Rechtsverstoß tragende Sachverhalte Einer weiteren Einschränkung bedarf es, wenn Rechts- oder Satzungsverstöße in Rede stehen, die typischerweise auf eine Vielzahl von Sachverhalten gestützt werden können. Dann kann sich nicht aus dem Vortrag eines konkreten, zur Begründung des Beschlussmangels hinreichenden Sachverhalts die Möglichkeit ergeben, die Begründung der Klage später auf andere Sachverhalte zu stützen, aus denen sich ein Verstoß gegen dieselbe Bestimmung ableiten ließe. Denn hier bestimmt und konkretisiert erst der Sachverhalt den Rechtsverstoß. Ein solcher Fall ist die – häufig und oft umfangreich – behauptete Verletzung des Auskunftsrechts nach § 131 AktG. Wenn in der Klage einzelne Fragen als nicht oder unzutreffend beantwortet gerügt worden sind, kann die Verletzung des Auskunftsrechts später nicht mit der angeblich unzureichenden Beantwortung anderer Fragen begründet werden61. Ebenso wenig kann die pauschale Behauptung, zahlreiche Fragen seien nicht oder nicht richtig beantwortet worden, nach Fristablauf mit schlüssigem Vortrag untermauert werden; in diesem Fall fehlt es schon an einer rechtzeitig vorgebrachten substantiierten Klagebegründung62. Schließlich kann auch nicht von der Rüge der Nichtbeantwortung einer Frage auf die Rüge des damit zu eruierenden Sachverhalts übergegangen werden63.

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59 BGHZ 32, 318, 323. 60 Anders aber wohl Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, Anh. zu § 47 Rz. 166 f. 61 BGH, AG 2009, 285 = NZG 2009, 342 (Kirch) (juris Rz. 34); OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 632). 62 BGH, AG 2009, 285 = NZG 2009, 342 (Kirch) (juris Rz. 34). 63 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 479). So war es auch in einem – ohne Entscheidung erledigten – Fall der Entlastungsanfechtung vom 20. Zivilsenat des OLG Stuttgart für unzulässig gehalten worden, von der Rüge der Nichtbeantwortung einer Frage nach Überwachungsmaßnahmen für Mitarbeiter nach Ablauf der Anfechtungsfrist auf die Rüge unzulässigen Verhaltens des Vorstands wegen der Überwachung überzugehen.

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Entsprechendes gilt für Entlastungsbeschlüsse nach § 120 AktG. Die Entlastungsentscheidung als Kundgabe der Billigung des Verwaltungshandels oder auch als Vertrauenszeichen steht naturgemäß im Ermessen der Hauptversammlung; sie ist als solche einer gerichtlichen Nachprüfung nicht zugänglich64. Die Mehrheit unterliegt allerdings auch bei diesem Beschluss einer Treubindung; sie darf deshalb von ihrem Ermessen dann nicht im Sinne einer Billigung des Verwaltungshandelns Gebrauch machen, wenn die Minderheit schwerwiegende und eindeutige Rechtsverstöße des zu Entlastenden vorbringen kann65. Abgesehen davon, dass die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses sich deshalb grundsätzlich auf jeden Verwaltungsvorgang beziehen kann, können dafür auch sämtliche relevanten Verfahrens- und Informationsmängel herangezogen werden. Würde man in solchen Fällen nur nach dem Rechtsgrund der Anfechtung differenzieren wollen, wären unterschiedlichste Sachverhaltskomplexe vom Streitgegenstand des Verfahrens umfasst. 3. Sachverhaltsklammern a) Zeitlicher, sachlicher und rechtlicher Zusammenhang Der Fall der immer häufiger erfolgenden Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen macht exemplarisch deutlich, dass nicht die herrschende Meinung den „einheitlichen Lebenssachverhalt“ außerordentlich eng fasst, sondern es überdehnt umgekehrt völlig, wer die Menge des dafür potentiell relevanten tatsächlichen Geschehens als einheitlichen, nicht trennbaren „Lebens“-Sachverhalt verstehen möchte. In einer Anfechtungsklage vor dem OLG Stuttgart etwa wurde die Entlastung von Verwaltungsmitgliedern u. a. auf überhöhte Bezüge, auf operative Fehlentscheidungen und auf die Nicht- oder Falschbeantwortung von Fragen in der Hauptversammlung zu einer Vielzahl unterschiedlicher Tatsachenkomplexe gestützt66. Damit wurden Verstöße gegen unterschiedliche Rechtsnormen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen rechtlichen Zusammenhängen (Dienstvertrag, operatives Verhalten als Vorstand, Leitung einer Hauptversammlung) angesprochen. Was zeitlich, sachlich und rechtlich so disparat ist, kann nicht als einheitlich verstanden werden67. Damit sind aber zugleich Kriterien genannt, die umgekehrt verschiedene tatsächliche Vorgänge zu einem einheitlichen Tatsachenkomplex verknüpfen können. Allein der zeitliche Aspekt genügt dafür sicher nicht68. Sonst würde

__________ 64 Überblick zum Meinungsstand bei Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 120 Rz. 11 ff.; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 120 Rz. 24 ff. 65 BGH, NJW 2003, 1032, 1033 (Macrotron); OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 365 ff.). 66 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 266 ff., 272, 274 ff.). 67 Vgl. OLG München, NZG 2001, 616 (juris Rz. 5). 68 Umgekehrt spricht eine Zeitdivergenz aber dafür, dass getrennte Sachverhalte vorliegen, vgl. OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 410); OLG München, NZG 2001, 616, 618.

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es ausreichen, einen einzelnen Aspekt aus einer Hauptversammlung in der Klage anzusprechen, um später beliebige weitere Vorgänge aus derselben Hauptversammlung nachlegen zu können. Das spricht auch gegen eine ausschließliche Orientierung an der verletzten Rechtsnorm (s. schon oben III.1.). In Betracht kommt aber eine zusätzliche Orientierung an der rechtlichen Einheitlichkeit des fraglichen Geschehens69. Wer beispielsweise mit einer Frage nach der Höhe der Abfindung eines ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds die Abfindungsvereinbarung rechtzeitig im Anfechtungsprozess thematisiert hat, sollte später auch die unzureichende Antwort auf Detailfragen dazu geltend machen können; er kann aber nicht nach Fristablauf die Antwort auf eine Frage zu der auf anderer Rechtsgrundlage beruhenden Bezügevereinbarung nachschieben. Wird vorrangig auf die rechtliche Einheitlichkeit abgestellt, ergibt sich auch eine Begründung für die oben bei Fn. 63 dargestellte Auffassung, wonach mit der Geltendmachung einer Informationspflichtverletzung (§ 131 AktG) nicht auch das nach ganz anderen Normen zu beurteilende hinterfragte Geschehen selbst thematisiert ist. b) Zusammenspiel von Klage und Erwiderung Kann es der Anfechtungsklage zum Erfolg verhelfen, wenn in der Erwiderung Umstände benannt werden, in denen der Kläger sodann Anfechtungsgründe sieht, die er aufgreift? Dies kann im Prozessgeschehen dann relevant werden, wenn die beklagte Seite zur Widerlegung eines behaupteten Anfechtungsgrunds weit ausholt und ein bis dahin noch nicht thematisiert gewesenes Verhalten der Verwaltung in den Prozess einführt. Nach den dargestellten Maßstäben würde das indessen der Klage in aller Regel nicht zu einem neuen Anfechtungsgrund verhelfen können. Befasst sich die Erwiderung lediglich mit weiteren Details des eingeführten rechtlichen Verhältnisses, bleibt es ohnedies dabei, dass sich daraus kein neuer Anfechtungsgrund ergibt. Erläutert sie aber ein anderes rechtliches Geschehen, kann die Klage nicht nachträglich auf dieses gestützt werden. Um im Beispiel der Höhe der Bezüge zu bleiben: nimmt die Beklagte zur Rechtfertigung gewährter Boni auf Gewinne aus einem bisher nicht in das Verfahren eingeführten unternehmerischen Geschehen Bezug, hat sich das Verfahren selbstverständlich damit zu befassen, ob dieses für die Bemessung der Bezüge relevant ist. Nicht dagegen kann der Kläger nachgeschoben einen Anfechtungsgrund aus diesem Geschehen selbst ableiten. c) Schilderung des Hintergrunds70 In komplexeren gesellschaftsrechtlichen Fällen neigen die Parteien oft dazu, eingangs den sogenannten Hintergrund des Falles zu schildern. Diese durchaus

__________ 69 Vgl. Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Vor § 253 Rz. 12 m. w. N. 70 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 481).

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nicht immer unzweckmäßige Vorgehensweise kann zu erzählerischer Darstellung ganzer Firmenchroniken verleiten. Stellt sich später im Verfahren die Frage nach den Konturen des Streitgegenstandes, kann in dieser Darstellung zu nahezu jedem Anfechtungsgrund ein wenigstens ansatzweiser Sachverhaltsvortrag gefunden werden. Dennoch hat dies schon keine Relevanz für den Streitgegenstand. Denn dieser konkretisiert sich nicht allein aus der Sachverhaltsdarstellung und ebenso wenig einseitig aus der Rechtsfolgenbehauptung, sondern erst aus der Verknüpfung des Sachvortrags mit dem begehrten Rechtsfolgenziel71. Entsprechend genügt es auch nicht, innerhalb der Frist möglichst viel tatsächliches Geschehen vorzubringen, um daran anknüpfend möglichst viele Anfechtungsgründe nachschieben zu können. Denn schon nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss der Kläger konkrete, individualisierende Umstände oder Verhaltensweisen darlegen, aus denen nach seiner Auffassung die behaupteten Rechtsoder Satzungsverstöße folgen sollen. Es genügt also beispielsweise nicht der Vortrag, es sei ein Vorstandsvertrag mit sittenwidriger Vergütung geschlossen worden, sondern es sind die Umstände darzulegen, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergeben soll, und weiter, welcher Beschluss deshalb angefochten werden soll72. Wer die Klage auf eine falsche Ergebnisfeststellung stützen will, kann sich nicht mit dem Vortrag begnügen, einzelne Stimmen seien zu Unrecht mitgezählt worden, sondern muss bestimmte Tatsachen vortragen, aus den sich der Ausschluss des Stimmrechts ergeben soll73.

V. Zusammenfassung 1. Das Verständnis der Klagefrist in § 246 Abs. 1 AktG und ihr Verhältnis zum Streitgegenstand im Beschlussmängelstreit scheinen noch nicht befriedigend dogmatisch durchdrungen zu sein. 2. Die herkömmlichen Abgrenzungsformeln, die sich an den Begriffen des „einheitlichen Lebenssachverhalts“ und des „Tatsachenkerns“ orientieren, führen in der praktischen Rechtsanwendung nur zu Scheinbegründungen. Auch die in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung eingeführten Formeln führen nicht weiter. 3. Wegen des eigenständigen (materiell-rechtlichen) Charakters der Klagefrist ergeben sich aus einer Definition des Streitgegenstands nicht unmittelbar Grenzen für das Nachschieben von Anfechtungsgründen. Die zur Bestimmung des Streitgegenstands entwickelten Kriterien können aber in der Regel entsprechend herangezogen werden. 4. Eine erste grobe Abschichtung präkludierten Vortrags ermöglicht die Differenzierung nach dem Rechtsgrund der Anfechtung. Dabei ist auf die kon-

__________ 71 OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 407, 490). 72 OLG Stuttgart, AG 2011, 93 (juris Rz. 408). 73 OLG Jena, GmbHR 2002, 115 (juris Rz. 9).

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kret verletzte Rechtsnorm abzustellen und nicht auf zusammenfassende Verletzungskategorien wie z. B. „Einberufungsmängel“. Die Weite mancher Anfechtungstatbestände kann zusätzliche Einschränkungen erfordern; dazu gehört insbesondere die Rüge der Verletzung des Auskunftsrechts. In solchen Fällen ist nach der zeitlichen, sachlichen und rechtlichen Zusammengehörigkeit des Vortrags zu fragen. Zudem ist Sachverhalt nur insoweit relevant in ein Verfahren eingeführt, als ersichtlich ist, dass er kausal mit der Rechtsfolgenbehauptung verknüpft sein soll.

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Schuldrechtliche Gesellschafterabrede zugunsten der GmbH Geeignetes Ersatzgeschäft für formnichtige Satzungsdurchbrechung?

Inhaltsübersicht I. Das Problem II. Rechtsgeschäftliche Alternativen einer formnichtigen Satzungsdurchbrechung 1. Gesellschafterbeschluss und schuldrechtliche Nebenabrede a) Unterschiedliche Rechtsnatur b) Wirksame Satzungsdurchbrechung mittels Nebenabrede? c) Die Anforderungen an die Auslegung eines formnichtigen Gesellschafterbeschlusses als wirksame Nebenabrede oder an die Umdeutung in eine solche 2. Nebenabrede und Vertrag zugunsten Dritter (der GmbH) a) Die Einbeziehung der GmbH in die Nebenabrede über § 328 BGB

b) Kürzung der Abfindungsansprüche als Recht zugunsten der GmbH? 3. Zwischenbilanz III. Gesellschafterabreden zugunsten der GmbH – inhaltliche Anforderungen und Schranken 1. Einseitige Begünstigung der GmbH als notwendiger Beschlussinhalt a) Anforderungen des § 328 BGB b) Typischer Anwendungsbereich dritt-(GmbH-)begünstigender Abreden der Gesellschafter c) Zwischenbilanz 2. Zwingende Schranken des GmbHRechts IV. Resümee

I. Das Problem Der Gesellschaftsrechtssenat des BGH hatte kürzlich über eine interessante Konstellation formnichtiger Satzungsdurchbrechung und deren Aufrechterhaltung als schuldrechtliche Gesellschafterabrede zu entscheiden1. Die Gesellschafter einer Manager-GmbH, offenbar durchweg als Geschäftsführer im Unternehmen der GmbH tätig, hatten im Jahr 2002 einstimmig eine drastische Beschränkung der Abfindungsansprüche beim Ausscheiden aus der GmbH infolge Beendigung ihrer aktiven Tätigkeit beschlossen. Die Neuregelung sollte den jeweils nachfolgenden Managern einen entsprechend günstigen Eintritt in die GmbH ermöglichen. Auf eine formelle Änderung der GmbH-Satzung unter entsprechender Absenkung der dort festgelegten Abfindungshöhe hatten die Gesellschafter verzichtet.

__________ 1 BGH, NJW 2010, 3718 ff. (Beschluss vom 15.3.2010). Dazu Goette, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 1, 14 f.; Noack, NZG 2010, 1017; Podewils, GmbHR 2010, 982.

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Als wenige Jahre später ein an der Beschlussfassung maßgeblich beteiligter Gesellschafter ausschied, fühlte er sich an diesen Beschluss wegen dessen Rechtsnatur als formnichtige Satzungsdurchbrechung nicht gebunden, sondern klagte auf Abfindung nach Maßgabe der Satzung. Das OLG Brandenburg gab ihm Recht, da es sich nicht um einen Fall punktueller, ausnahmsweise wirksamer Satzungsdurchbrechung handele2. Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück zur Prüfung, ob der fragliche Gesellschafterbeschluss im Wege der Auslegung oder Umdeutung als wirksame schuldrechtliche Gesellschafterabrede zugunsten der GmbH zu beurteilen sei, da er ihr ein dauerhaftes Leistungsverweigerungsrecht gegen satzungskonforme Abfindungsansprüche ausscheidender Gesellschafter gewähre. Der Fall erinnert an die durch zwei BGH-Urteile von 1983 und 19873 angestoßene, lebhafte Auseinandersetzung über die Relevanz schuldrechtlicher Gesellschaftervereinbarungen für die Rechtsbeziehungen innerhalb einer GmbH. Die seinerzeit auf Gründe der Prozessökonomie gestützte Ansicht des BGH, Verstöße gegen derartige Vereinbarungen machten die Gesellschafterbeschlüsse jedenfalls dann anfechtbar, wenn und solange an der fraglichen Vereinbarung sämtliche Gesellschafter beteiligt seien, stieß in der Literatur bekanntlich ganz überwiegend auf Widerspruch4. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung kam hierauf seither nicht zurück5. Einer der maßgebenden Kritiker der BGH-Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Gesellschafterbeschlüssen wegen Verstoßes gegen eine schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarung war Martin Winter. In einem grundlegenden ZHRBeitrag von 1990 arbeitete er die wesentlichen Unterschiede zwischen Organisationsrecht und „satzungsergänzendem“ Schuldrecht bei Kapitalgesellschaften heraus, darunter insbesondere die vom GmbH-Recht abweichenden Anforderungen an Begründung, Änderung, Auslegung und Bindungswirkung der schuldrechtlichen Abreden6. Zugleich betonte er die nicht nur dogmatischen, son-

__________ 2 OLG Brandenburg, BeckRS 2008, 25846 (unter II 1 c). 3 BGH, NJW 1983, 1910; BGH, NJW 1987, 1890. 4 Sog. Trennungstheorie, vgl. nur Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 3 Rz. 58; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2010, § 3 Rz. 73, § 47 Rz. 20 und Anh. § 47 Rz. 44; Ulmer in Großkomm. GmbHG, 2005, § 3 Rz. 121 ff., 125; Hüffer in Großkomm. GmbHG, 2006, § 47 Rz. 84; Raiser in Großkomm. GmbHG, 2006, Anh. § 47 Rz. 154; Koppensteiner in Rowedder/SchmidtLeithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 47 Rz. 118; Römermann in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 47 Rz. 536; Ulmer, NJW 1987, 1849 ff.; Goette, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 1995, 1996, S. 113, 119 ff.; M. Winter, ZHR 154 (1990), 259, 268 ff.; a. A. mit unterschiedlicher Begründung Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 47 Rz. 118; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 Rz. 116 und § 47 Rz. 53; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, insbes. S. 113 ff., 156 ff.; Zöllner, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 1995, 1996, S. 89, 95 ff. (zur Auseinandersetzung mit diesen Ansichten vgl. Ulmer in FS Röhricht, 2005, S. 633, 635 ff.). 5 Distanzierend wohl schon BGHZ 123, 15, 20; abweich. auch OLG Celle, WM 1992, 1703, 1706; OLG Stuttgart, NZG 2001, 416 (LS 6). Vgl. auch die Kritik von Goette, a. a. O. (Fn. 4). 6 Martin Winter, ZHR 154 (1990), 259, 263 ff.

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dern auch rechtspraktischen Schwächen der auf die Prozessökonomie gestützten BGH-Rechtsprechung7. Mit diesen nach wie vor richtungsweisenden Thesen im Anschluss an seine bekannte Dissertation zur Treupflicht in der GmbH8 hat der Autor dafür gesorgt, dass sein GmbH-rechtliches Werk trotz seines viel zu frühen Todes noch lange in Erinnerung bleibt. Zugleich gibt die ZHR-Publikation Anlass zu der Frage, wie Martin Winter die neue BGH-Rechtsprechung betreffend die Ausstrahlung schuldrechtlicher Abreden auf das Mitgliedschaftsverhältnis in der GmbH beurteilen würde und ob die Rechtsfigur des Vertrags zugunsten Dritter sich als Bindeglied zur Satzung dazu eignet, satzungsdurchbrechenden, nicht auf Einzelfälle beschränkten formlosen Gesellschafterbeschlüssen trotz unveränderter Satzungsfassung Wirksamkeit im Verhältnis zwischen GmbH und Gesellschaftern zu verleihen. Für die folgende Untersuchung der Frage, ob bei formnichtiger Satzungsdurchbrechung im Wege der Auslegung oder Umdeutung auf eine vom Gesellschafterbeschluss gedeckte schuldrechtliche Gesellschafterabrede als Ersatzgeschäft zurückgegriffen werden kann, sollen zunächst die Unterschiede zwischen einstimmigem Gesellschafterbeschluss und schuldrechtlicher Nebenabrede in Erinnerung gerufen und die Möglichkeiten der Interpretation des formnichtigen Beschlusses als schuldrechtliche Nebenabrede geprüft werden (unter II. 1.). Anschließend ist zu untersuchen, ob und inwieweit die Rechtsfigur des Vertrages zugunsten Dritter sich dazu eignet, als rechtliches Bindeglied zwischen den Gesellschaftern als Partner der Nebenabrede und der GmbH zu fungieren (unter II. 2.). Der rechtlichen Tragweite eines Vorgehens der Gesellschafter über § 328 BGB und dem hierfür in Betracht kommenden sachlichen Anwendungsbereich im Verhältnis zwischen den Gesellschaftern und ihrer GmbH ist der letzte Teil der Abhandlung gewidmet (unter III.).

II. Rechtsgeschäftliche Alternativen einer formnichtigen Satzungsdurchbrechung 1. Gesellschafterbeschluss und schuldrechtliche Nebenabrede a) Unterschiedliche Rechtsnatur Gesellschafterbeschlüsse sind das zentrale Instrument zur internen Willensbildung in der GmbH. Entsprechend der weitgehenden Mitspracherechte der Gesellschafterversammlung als oberstes GmbH-Organ (§§ 45, 46 GmbHG) können sie in allen nicht zwingend den Geschäftsführern vorbehaltenen internen Angelegenheiten der Gesellschaft gefasst werden9. Für ihr wirksames Zustandekommen bedarf es im Regelfall der Einhaltung des für Gesellschafterversammlungen geltenden Verfahrens sowie der einfachen Stimmenmehrheit

__________ 7 Martin Winter (Fn. 6), S. 273 ff. 8 Martin Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht, 1988; vgl. dazu die eindrucksvolle Würdigung durch Zöllner, ZIP-Beilage 2010 Nr. 2 S. 3, 5, auch hier abgedruckt S. 1 ff. 9 Vgl. nur Zöllner in Baumbach/Hueck (Fn. 4), § 45 Rz. 6 ff.; § 46 Rz. 1 ff.

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der Gesellschafter (§§ 47, 48 GmbHG). An die Beschlüsse sind nicht nur die überstimmten Gesellschafter und die Geschäftsführer gebunden, sondern ebenso auch nachfolgende Anteilserwerber. Ihre Auslegung unterliegt grundsätzlich – als Teil des Binnenrechts der GmbH – objektiven Maßstäben10. In allen diesen Punkten weisen schuldrechtliche Nebenabreden signifikante Unterschiede auf, auch wenn ihnen sämtliche Gesellschafter zugestimmt haben11. Sie können von den Beteiligten jederzeit gefasst werden, also unabhängig von den Anforderungen an eine Gesellschafterversammlung, und sind nicht Teil der GmbH-internen Willensbildung, sondern begründen ein vom GmbH-Recht zu unterscheidendes, wenn auch regelmäßig inhaltlich auf die GmbH bezogenes Rechtsverhältnis der Beteiligten untereinander, meist in Gestalt einer (Innen-)GbR. Sie binden ohne besondere Absprache nur die Beteiligten selbst und deren Gesamtrechtsnachfolger, nicht aber künftige Anteilserwerber, und sie unterliegen den allgemein für Schuldverhältnisse geltenden Auslegungsgrundsätzen (§§ 133, 157 BGB). Ihre Rechtswirkung kann nicht durch Mehrheitsbeschluss, sondern nur entweder durch einstimmige Aufhebung bzw. Änderung oder durch Kündigung nach Maßgabe des § 723 BGB beseitigt werden. Der GmbH kann der Inhalt schuldrechtlicher Nebenabreden nicht entgegengesetzt werden. Auch die GmbH selbst kann sich hierauf – vorbehaltlich § 328 BGB (vgl. unter 2.) – nicht berufen. b) Wirksame Satzungsdurchbrechung mittels Nebenabrede? Bezogen auf den Inhalt der GmbH-Satzung folgt aus den vorstehend aufgezeigten Unterschieden, dass dessen Änderung nur durch Gesellschafterbeschluss unter Beachtung der dafür nach §§ 53, 54 GmbHG geltenden Voraussetzungen möglich ist: Sie bedarf der satzungsändernden (regelmäßig Dreiviertel-)Mehrheit der Stimmen, der Einhaltung der notariellen Form sowie der Eintragung im Handelsregister. Fehlt es für den Beschluss an zumindest einem dieser Erfordernisse, so spricht man von einer „Satzungsdurchbrechung“, die außerhalb der Satzung nach ganz h. M.12 nur ausnahmsweise, bei Änderung nur für einen Einzelfall unter unveränderter Fortgeltung des Satzungsinhalts im Übrigen, möglich ist. Den Rechtsgrund für das ausnahmsweise Wirksamwerden der punktuellen, einen Einzelfall betreffenden Regelung bildet freilich nicht eine dem Beschluss möglicherweise innewohnende schuldrechtliche Nebenabrede, sondern die teleologische Reduktion des § 54 GmbHG13. Daher bleibt es zwar einerseits beim Erfordernis der satzungsändernden Mehrheit unter Verzicht auf die Einstimmigkeit. Andererseits soll der Eintragungsmangel des Beschlus-

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10 Ulmer (Fn. 4), § 2 Rz. 138 ff., 143 ff. m. w. N. 11 Dazu statt aller Martin Winter, ZHR 154 (1990), 259, 263 f. 12 Grundlegend Priester, ZHR 151 (1987), 40, 51 ff. Zum Diskussionsstand vgl. näher Ulmer (Fn. 4), § 53 Rz. 34 ff., 39 f. und Zöllner in FS Priester, 2007, S. 879, 880 ff. (mit abweich. Grundkonzept). Für die von Priester betonte Differenzierung tendenziell auch BGHZ 123, 15, 19 f. 13 Sie beruht auf der bei punktueller, auf einen Einzelfall beschränkter Satzungsdurchbrechung auf der durch die Handelsregisterpublizität bezweckten, hier jedoch fehlenden Schutzwürdigkeit Dritter (potentieller Anteilserwerber und Gläubiger).

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ses seiner Wirksamkeit mit Rücksicht auf den Einzelfallbezug nicht entgegenstehen14. Scheitert die Wirksamkeit eines nicht auf den Einzelfall beschränkten Satzungsänderungsbeschlusses am Fehlen der notariellen Form (§ 53 Abs. 2 GmbHG i. V. m. § 125 Satz 1 BGB), so fragt sich, ob der Beschluss gleichwohl, sei es durch Auslegung als schuldrechtliche Nebenabrede oder durch Umdeutung in eine solche, aufrechterhalten werden kann. Beides hielt der BGH in dem die Beschränkung der Abfindungsansprüche betreffenden Ausgangsfall für möglich15; wie schon erwähnt (unter I.), verwies er die Sache zur Prüfung dieser Frage zurück. Sieht man von dem insoweit relevanten Aspekt des § 328 BGB ab (vgl. dazu sogleich unter 2.), so stellt sich die Frage, ob die methodischen Schritte der Auslegung oder Umdeutung des formnichtigen Beschlusses geeignet sind, das von den Beteiligten verfolgte Ziel der Abfindungsbeschränkung ohne wesentliche Abweichungen zu erreichen. c) Die Anforderungen an die Auslegung eines formnichtigen Gesellschafterbeschlusses als wirksame Nebenabrede oder an die Umdeutung in eine solche Um im Wege der Auslegung zu einer wirksamen Nebenabrede der Gesellschafter zu kommen, bedarf es als erstes eines einstimmigen Gesellschafterbeschlusses, da ohne ihn für die Bejahung eines Vertragsschlusses aller Beteiligten von vornherein kein Raum ist. Liegt Einstimmigkeit vor, so fragt sich weiter, ob die Gesellschafter mit ihrer Stimmabgabe nur eine Änderung des GmbH-Innenrechts herbeiführen oder ob sie sich rechtsgeschäftlich auch untereinander binden wollten. Als Indiz für die Annahme eines solchen wechselseitigen Bindungswillens lässt sich anführen, dass die Beteiligten sich bei der Stimmabgabe des Mangels der notariellen Form bewusst waren oder doch mit ihm rechneten, dass sie den Beschluss aber gleichwohl fassen und sich hieran gebunden wissen wollten. Auslegungsprobleme bereitet auch der Umstand, dass die Bindungswirkung der Nebenabrede sich, wie erwähnt, auf die an ihr aktuell Beteiligten beschränkt, ohne auch spätere Anteilserwerber zu erfassen. Ließe sich der Beschlussfassung nicht eine – zumindest konkludente – Zusatzabrede des Inhalts entnehmen, dass die Beteiligten sich mit Blick auf eine Veräußerung ihres Anteils verpflichten, vom Erwerber den Beitritt zur Zusatzabrede zu verlangen, so würde die Interpretation des Beschlusses als allseits bindende Nebenabrede jedenfalls hieran scheitern; es bliebe die Frage der Umdeutung. Die Umdeutung eines nicht im Auslegungswege Wirksamkeit erlangenden, formnichtigen Rechtsgeschäfts setzt nach § 140 BGB voraus, dass das Geschäft sich in anderer rechtlicher Einkleidung aufrecht erhalten lässt und dass die

__________ 14 So im Ergebnis auch Zöllner (Fn. 12), S. 891. Ob bei punktueller Satzungsdurchbrechung am Erfordernis der notariellen Form festzuhalten ist, ist streitig (dafür Priester, ZHR 151 [1987], 50 f.; a. A. BGH, WM 1981, 1218, 1219; offen lassend BGHZ 123, 15, 19). 15 BGH, NJW 2010, 3718 Tz. 6 ff.

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Beteiligten diese Gestaltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt hätten16. Anders als die Auslegung kommt die Umdeutung also von vornherein nur in Betracht, wenn die Beteiligten keine Kenntnis von der Formnichtigkeit des von ihnen gewollten Rechtsgeschäfts haben17. Im Hinblick auf einstimmige, satzungsdurchbrechende Beschlüsse der GmbH-Gesellschafter und deren Umdeutung in eine schuldrechtliche Nebenabrede stellt sich freilich auch insoweit die Frage, ob ihr – ähnlich wie mit Blick auf die Auslegung – nicht ebenfalls die fehlende Bindung künftiger Gesellschafter an die Nebenabrede entgegensteht. Bedenkt man die Abfindungsbeschränkung aller Beteiligten als beabsichtigter Inhalt des durch Umdeutung aufrecht zu erhaltenden Geschäfts, so ist anzunehmen, dass sie eine wechselseitige Bindung ohne entsprechende Erstreckung auf künftige Gesellschafter nicht gewollt hätten. Denn dann würde es an der für die Umdeutung erforderlichen Kongruenz von nichtigem Geschäft und Ersatzgeschäft fehlen; anstelle der generellen, mit einer Satzungsänderung angestrebten Kürzung der Abfindungsansprüche ausscheidender Gesellschafter würde eine solche unmittelbar nur zu Lasten der selbst am Beschluss Beteiligten eintreten, nicht aber zu Lasten neuer Gesellschafter, solange diese nicht auch der Nebenabrede beigetreten wären. Indessen steht nichts entgegen, das im Wege der Umdeutung zu gestaltende Rechtsgeschäft entsprechend dem hypothetischen Parteiwillen dahin zu erweitern, dass die Beteiligten zur Erstreckung der vertraglichen Bindung auch auf potentielle Anteilserwerber verpflichtet sind; mit diesem Inhalt dürfte – von der noch zu prüfenden Einbeziehung der GmbH in das Ersatzgeschäft abgesehen – die Kongruenz des Inhalts des Ersatzgeschäfts mit demjenigen der formnichtigen Satzungsänderung hergestellt sein. Nach allem erscheint der Weg, eine formnichtige Satzungsdurchbrechung entweder durch Auslegung als schuldrechtliche Nebenabrede oder – bei Unkenntnis vom Formmangel – durch Umdeutung in eine Nebenabrede aufrechtzuerhalten, jedenfalls dann gangbar, wenn die Erstreckung des Beschlussinhalts auf spätere Anteilserwerber zu den von den Beteiligten mit der Beschlussfassung gewollten oder durch deren Umdeutung zu erreichenden Bindungen gehört. 2. Nebenabrede und Vertrag zugunsten Dritter (der GmbH) a) Die Einbeziehung der GmbH in die Nebenabrede über § 328 BGB Lässt sich nach den vorstehenden Feststellungen das Vorliegen einer Nebenabrede im Wege der Auslegung oder Umdeutung des formnichtigen Gesellschafterbeschlusses bejahen, so bedarf es für die von den Beteiligten gewollte Einbeziehung der GmbH in die Abrede weiter der Prüfung, ob sich hierzu der (echte) Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 Abs. 1 BGB) eignet. Die Erstreckung der durch Auslegung oder Umdeutung gewonnenen Nebenabrede auf die Begründung von Drittrechten ist unproblematisch, wenn die am Beschluss beteiligten Ge-

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16 Vgl. nur Busche in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 140 Rz. 7 ff., 15 ff. 17 Busche in MünchKomm. BGB (Fn. 16), § 140 Rz. 18.

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sellschafter es so vereinbart haben oder wenn entweder die Auslegung oder die Umdeutung zu diesem Ergebnis führt. Auch steht außer Zweifel, dass zu den nach § 328 BGB berechtigten Personen grundsätzlich jeder an der Nebenabrede nicht selbst beteiligte Dritte gehören kann; das gilt auch für die GmbH als Dritte in Bezug auf solche Abreden, die zu ihren Gunsten zwischen den Gesellschaftern getroffen werden. In Übereinstimmung damit ist denn auch allgemein anerkannt, dass die Leistung finanzieller Beiträge zur Stärkung der Finanzausstattung der GmbH nicht nur durch gesellschaftsinterne Beschlüsse über eine Kapitalerhöhung oder über gesellschaftsrechtliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 2 GmbHG) herbeigeführt werden kann, sondern auch durch einen Vertrag zwischen den Gesellschaftern zugunsten der GmbH18: Man denke nur an eine Abrede der Gesellschafter, ihrer GmbH finanzielle Leistungen in Gestalt von Gesellschafterdarlehen zuzuwenden und ihr hierauf einen Rechtsanspruch zu gewähren19. b) Kürzung der Abfindungsansprüche als Recht zugunsten der GmbH? Geht es – wie im hier zugrundeliegenden Fall – nicht um ein Recht der GmbH auf zusätzliche Leistungen zu ihren Gunsten, sondern um eine Verkürzung mitgliedschaftlicher Ansprüche der Gesellschafter gegen die GmbH, so fehlt es zwar an der in § 328 Abs. 1 BGB vorausgesetzten vertraglichen Begründung eines Rechts zugunsten der GmbH, vom Versprechenden „eine Leistung zu fordern“. In Frage steht vielmehr die Schaffung eines Leistungsverweigerungsrechts der GmbH gegenüber mitgliedschaftlich begründeten, aufgrund unveränderter Satzung fortbestehenden Ansprüchen der Gesellschafter. Indessen liegt darin, wie der BGH zu Recht angenommen hat, kein Hindernis für das Eingreifen des § 328 BGB. Vielmehr ist anerkannt, dass den Gegenstand von Rechten Dritter i. S. dieser Vorschrift auch die Begründung von Abwehrrechten des Dritten bilden kann20. Bedeutung hat diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 328 BGB nicht zuletzt vor dem Hintergrund des § 397 BGB, wonach der Erlass einer Verbindlichkeit oder der Verzicht auf einen Anspruch nicht einseitig durch den Versprechenden als Gläubiger möglich ist, sondern nur durch Vertrag zwischen Gläubiger und Schuldner. Daher kann durch einen Vertrag zugunsten Dritter auch nicht das Forderungsrecht des Versprechenden als solches beseitigt oder verkürzt werden, wenn der Dritte als Schuldner nicht selbst Partei des Vertrages ist. Wohl aber verschafft ein solcher Vertrag dem Dritten ein Leistungsverweigerungsrecht, auf das dieser sich i. S. eines pactum de non petendo dem Gläubiger gegenüber berufen kann21. Mit Blick auf die hier in Frage stehende Verkürzung der Abfindungsansprüche ausscheidender Gesellschafter bleibt zu prüfen, ob dem die mitgliedschaftliche Natur der fraglichen Ansprüche entgegensteht. Man könnte etwa an einen

__________ 18 19 20 21

Vgl. nur Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 118. So BGHZ 142, 116, 124 und schon RGZ 112, 273, 277 f. Statt aller Hadding in Soergel, BGB, 13. Aufl. 2010, § 328 Rz. 37, 109, 116. Vgl. etwa RGZ 127, 126, 129; RGZ 148, 257, 263; BGH, JZ 1956, 119; BGH, ZIP 1993, 492; dazu auch Gottwald in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 328 Rz. 22.

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Einwand des Inhalts denken, dass mitgliedschaftliche Beziehungen zwischen GmbH und Gesellschaftern einen besonderen, im Interesse von Gläubigern und Anteilserwerbern der Handelsregisterpublizität unterliegenden Rechtskreis bilden, der schuldrechtlichen Modifikationen oder Einwänden nicht zugänglich ist. Indessen ist – vorbehaltlich entgegenstehender Rechte oder Interessen Dritter – eine derartige Abschottung zwischen mitgliedschaftlicher und schuldrechtlicher Sphäre dem geltenden Recht unbekannt. Wie allein schon die Rechtsfigur der „Drittgeschäfte“ zwischen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern22 zeigt, ist die Gesellschaft nicht gehindert, in über die Mitgliedschaft hinausreichende oder neben sie tretende schuldrechtliche Beziehungen mit ihren Gesellschaftern zu treten. Ebenso ist es ihr grundsätzlich auch nicht verwehrt, sich gegen mitgliedschaftliche Forderungen mit schuldrechtlichen Gegenansprüchen zu wehren; dem steht weder ein Aufrechnungsverbot noch eine sonstige rechtliche Schranke entgegen. Rechte außenstehender Dritter, wie insbesondere der GmbH-Gläubiger, die die Handelsregisterpublizität erforderlich machen könnten, werden durch die hier in Frage stehende Abrede nicht betroffen. Im Gegenteil ist die von den Beteiligten angestrebte Verkürzung der Abfindungsansprüche geeignet, die finanzielle Basis der GmbH auch im Interesse Dritter zu stärken23. Und für die Rechtsstellung von auf den Registerinhalt vertrauenden Anteilserwerbern ist die Einräumung eines schuldrechtlichen Leistungsverweigerungsrechts der GmbH zunächst ohne Belang. Denn dieses kann ihnen nicht entgegengesetzt werden, solange sie nicht selbst Partei der Nebenabrede geworden sind. 3. Zwischenbilanz Nach allem steht nichts entgegen, dass die GmbH sich als begünstigte Dritte ausscheidenden Gesellschaftern gegenüber auf die als Nebenabrede vereinbarte Abfindungsbeschränkung beruft und dadurch dem Regelungsplan der Gesellschafter Rechnung trägt, wenn diese untereinander eine derartige Beschränkung vereinbart haben. Ob die in der GmbH verbleibenden Gesellschafter einen eigenen Anspruch gegen die GmbH als begünstigte Dritte haben, das Leistungsverweigerungsrecht aus der Gesellschafterabrede dem Ausscheidenden gegenüber geltend zu machen, ist im Zweifel zu verneinen, da Verträge zugunsten eines Dritten nicht soweit reichen, auch Belastungen des Dritten zu begründen. Indessen kommt es auf diese Frage schon deshalb nicht an, weil die Gesellschafter kraft ihres Weisungsrechts berechtigt sind, den Geschäftsführern entsprechende Weisungen zu erteilen, und weil die Pflicht der Vertrags-

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22 Sie findet vor allem im Personengesellschaftsrecht Erwähnung (Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 Rz. 202 f.), ist der Sache nach aber auch im GmbHRecht anzutreffen und rechtlich unproblematisch. 23 Es gilt Entsprechendes wie bei der Erbringung zusätzlicher, nicht in der Satzung vorgesehener Leistungen der Gesellschafter an die GmbH. Wegen der damit verbundenen finanziellen Stärkung der GmbH werden sie im Regelfall zu Recht nicht als unentgeltlich nach Maßgabe der §§ 516, 518 BGB, sondern als Leistung causa societatis qualifiziert (vgl. BGH, ZIP 2006, 1199, 1200; BGH, ZIP 2008, 453, 454; so auch OLG Schleswig, ZIP 2011, 516, 519 f.; a. A. OLG Hamburg, ZIP 2011, 430, 432).

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partner zur Mitwirkung an einer solchen Weisung, sollte sie erforderlich sein, unschwer als Nebenpflicht aus der Abrede über die Kürzung der Abfindungsansprüche entnommen werden kann.

III. Gesellschafterabreden zugunsten der GmbH – inhaltliche Anforderungen und Schranken Zu prüfen bleibt die rechtliche Tragweite des vom BGH aufgezeigten Weges, die Rechtswirkungen einer von den Beteiligten gewollten, wegen Formnichtigkeit der beschlossenen Satzungsdurchbrechung aber nicht direkt erreichbaren Gestaltung durch Auslegung oder Umdeutung des Beschlusses als schuldrechtliche Nebenabrede herbeizuführen. Zwei Schranken sind insoweit zu bedenken: Einerseits die fehlende Eignung des Beschlussinhalts, um daraus für die GmbH ein sie einseitig begünstigendes Recht abzuleiten (vgl. unter 1.), sowie andererseits die Existenz zwingender Vorschriften des GmbH-Gesetzes, wonach bestimmte Rechtsgestaltungen im Verhältnis zwischen GmbH und Gesellschaftern wirksam nur durch Satzungsregelung vereinbart werden können (vgl. unter 2.). 1. Einseitige Begünstigung der GmbH als notwendiger Beschlussinhalt a) Anforderungen des § 328 BGB Die Drittwirkung des § 328 BGB erfordert das Vorliegen einer Abrede zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger, die den Dritten einseitig begünstigt, d. h. ihm i. V. mit der Rechtsbegründung weder eine Gegenleistung noch eine sonstige Belastung auferlegt. Deshalb scheiden als möglicher Inhalt eines drittbegünstigenden Vertrags alle Gestaltungen aus, die entweder auf gegenseitige Rechtsbeziehungen zwischen GmbH und Gesellschafter gerichtet sind oder sogar umgekehrt Rechte der Gesellschafter gegen die GmbH begründen, d. h. die GmbH einseitig belasten sollen. Das gilt für Abreden über den Abschluss entgeltlicher Verträge zwischen GmbH und Gesellschaftern ebenso wie für die Begründung oder Erweiterung von Ansprüchen zugunsten der Gesellschafter gegen die GmbH, auch soweit ihnen keine Erfüllungsschranken nach Art der §§ 30, 31 GmbHG entgegenstehen. Sondervorteile oder Vorzugsrechte für die Gesellschafter könnten daher selbst dann, wenn sie nicht zwingend in der Satzung festzusetzen wären24, nicht wirksam durch Nebenabreden der Gesellschafter zu Lasten der GmbH begründet werden. Ein Wettbewerbsverbot der GmbH oder eine Änderung ihres Unternehmensgegenstands lassen sich schuldrechtlich im Wege des § 328 BGB nur dann vereinbaren, wenn sich das Wettbewerbsverbot – in den Grenzen der §§ 138 BGB, 1 GWB – darauf beschränken soll, die GmbH vor Wettbewerbshandlungen ihrer Gesellschafter zu

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24 Das beruht bei Sondervorteilen einzelner Gesellschafter auf der insoweit gebotenen Analogie zu § 26 Abs. 1 AktG, bei entsprechenden Vorzugsrechten auf ihrer mitgliedschaftlichen, an den Geschäftsanteil geknüpften Rechtsnatur, vgl. nur Ulmer (Fn. 4), § 5 Rz. 188 f., 209.

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schützen, ohne ihr selbst Fesseln in ihrem Marktverhalten aufzuerlegen, oder wenn die Änderung des Unternehmensgegenstands sich auf dessen Erweiterung mit einem entsprechend größeren Handlungsspielraum der GmbH ohne damit verbundene Handlungspflichten bezieht25. Geht es um Modifikationen der gesetzlichen Rechtsstellung eines Gesellschafters als Geschäftsführer, so scheitern sie auch abgesehen von der für Abberufungserschwerungen zwingend erforderlichen Satzungsregelung (§ 38 Abs. 2 GmbHG) jedenfalls dann, wenn sie die Handlungsfreiheit der GmbH im Verhältnis zum Geschäftsführer beschränken sollen26. b) Typischer Anwendungsbereich dritt-(GmbH-)begünstigender Abreden der Gesellschafter Trotz dieser Schranken bleibt im Rahmen des § 328 BGB genügend Gestaltungsfreiheit für Nebenabreden, die dazu bestimmt sind, die Rechtsstellung der GmbH im Verhältnis zu den vertragschließenden Gesellschaftern zu stärken. Zu denken ist in erster Linie an die Begründung von Ansprüchen der GmbH auf Geld- oder Sachleistungen der Gesellschafter, soweit dem nicht die zwingenden Vorschriften der §§ 5 Abs. 4, 26 GmbHG betreffend die satzungsgebundene Vereinbarung von Sacheinlagen oder Nachschusspflichten entgegenstehen (vgl. unter 2.). Insbesondere bietet der Anwendungsbereich der Nebenleistungen i. S. von § 3 Abs. 2 GmbHG genügend Anschauungsmaterial für die Möglichkeit, alternativ und ohne Satzungsregelung entsprechende Forderungen zugunsten der GmbH kraft schuldrechtlicher Abreden der Gesellschafter zu begründen27. Man denke an Verlustdeckungs- oder Verlustübernahmeansprüche der GmbH28, an das Recht der GmbH auf Darlehensgewährung zur Stärkung ihrer Finanzausstattung29 oder an Andienungspflichten der Gesellschafter in Bezug auf Gegenstände, die für die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft von Interesse sind30. Dass die Ausübung dieser Rechte je nach deren Inhalt den Abschluss entgeltlicher Verträge (Darlehens-, Kauf-, Mietverträge u. a.) mit den betroffenen Gesellschaftern zur Folge haben kann31, steht der Begründung solcher Rechte mittels § 328 BGB nicht entgegen, wenn und solange die GmbH in ihrer Entscheidung darüber frei ist, ob sie von den jeweiligen Rechten Gebrauch machen will oder nicht. Schließlich lässt sich in diesen Kontext auch die Begründung eines Leistungsverweigerungsrechts der GmbH in Bezug auf Mitgliedschaftsrechte von Gesellschaftern einbeziehen,

__________ 25 Daran fehlt es bei Einschränkung des Unternehmensgegenstands durch Gesellschaftervereinbarung außerhalb der Satzung, vgl. etwa BGH, NJW 1983, 1910 (Kerbnägel). 26 So im Fall BGH, NJW 1987, 1890. 27 Übersicht bei Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 118. 28 RGZ 83, 216, 218 f.; BGH, DB 1986, 1512; BGH, ZIP 1993, 432, 433; BGH, ZIP 2006, 1199, 1200. 29 RGZ 112, 273, 277 f.; BGHZ 142, 116, 124. 30 RGZ 79, 332, 336; BGH, WM 1965, 1076, 1078; BGH, BB 1969, 1410, 1411. Vgl. auch BGH, WM 2007, 1217, 1218 (Recht auf Erwerb eines Geschäftsanteils). 31 Zu derartigen Ausführungsverträgen als Folge der Rechtsausübung durch die GmbH vgl. Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 66.

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wie sie dem eingangs referierten BGH-Beschluss32 betreffend die Verkürzung der satzungsrechtlichen Abfindungsansprüche zugrunde lag. Was die Motivation der Gesellschafter zur Wahl schuldrechtlicher Nebenabreden angeht, so mögen sie den Weg über § 328 BGB anstelle einer Satzungsänderung einerseits wegen der größeren ihnen in diesen Rahmen verbleibenden Änderungsfreiheit33, andererseits aber auch deshalb vorziehen, weil die von ihnen auf diesem Wege der GmbH eingeräumten Rechte anders als bei Satzungsrechten nicht der Handelsregisterpublizität unterliegen. Einen weiteren Anwendungsbereich für schuldrechtliche Nebenabreden der Gesellschafter zugunsten der GmbH eröffnet die vielgestaltige Fallgruppe von Rechten der GmbH, von allen oder bestimmten Gesellschaftern ein Handeln oder Unterlassen zu verlangen. Für die Handlungspflichten der Gesellschafter kommen in erster Linie die Pflicht zur Geschäftsführung auf Anforderung der GmbH oder zur Erbringung sonstiger Dienstleistungen im GmbH-Interesse in Betracht34. Die Entgeltlichkeit dieser Leistungen steht nach dem zu den Geldoder Sachleistungen Gesagten nicht entgegen, solange die GmbH im Rahmen von § 328 BGB frei darüber entscheiden kann, ob sie von ihrem Recht Gebrauch macht, d. h. eine entgeltliche Leistungsbeziehung begründet. Und für die Unterlassungspflichten bietet sich als typisches Beispiel die Übernahme eines Wettbewerbsverbots der Gesellschafter zugunsten der GmbH in den durch allgemeine Wirksamkeitsschranken (§§ 138 BGB, 1 GWB) gesetzten Grenzen an35. c) Zwischenbilanz Der Überblick zeigt, dass die Vorschrift des § 328 BGB den Gesellschaftern einen relativ weiten Handlungsspielraum eröffnet, im Wege schuldrechtlicher Nebenabreden Rechte der GmbH gegenüber den Beteiligten zu begründen und diese Rechte je nach ihrer Ausgestaltung und nach dem Bedarf oder Interesse der Vertragspartner für die Zukunft aufzuheben oder zu ändern, ohne dazu den beschwerlichen Weg einer Satzungsänderung gehen zu müssen. Dass mit der Wahl einer schuldrechtlichen Nebenabrede gewisse Unsicherheiten für die Beteiligten verbunden sind, wie sich vor allem mit Blick auf neu eintretende, nicht automatisch gebundene Gesellschafter und in Bezug auf Auslegungsprobleme infolge des Eingreifens der §§ 133, 157 BGB, aber auch wegen des Einstimmigkeitserfordernisses für Zustandekommen und Änderung der Nebenabreden zeigt, ist zwar unverkennbar. Je nach personeller Struktur der Ge-

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32 BGH, NJW 2010, 3718. 33 Sie folgt aus der den Beteiligten nach § 328 Abs. 2 BGB auch bei echten Verträgen zugunsten Dritter eingeräumten Gestaltungsfreiheit, vgl. Hadding in Soergel (Fn. 20), § 328 Rz. 72 f. Dazu auch BGH, WM 2007, 1217, 1218 (Aufhebungsvorbehalt erforderlich); BGHZ 142, 116, 123 ff. (Aufhebung einer Darlehenszusage nur bis zum Eintritt der Krise). 34 Zu den entspr. Nebenleistungspflichten nach § 3 Abs. 2 GmbHG vgl. nur Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 72 f. 35 RGZ 102, 127. Zur Übernahme eines Wettbewerbsverbots als Nebenleistungspflicht der Gesellschafter vgl. auch Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 73.

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sellschaft und Zusammensetzung des Gesellschafterkreises kann es sich aber gleichwohl anbieten, auf dem Weg über § 328 BGB einer formnichtig beschlossenen Satzungsdurchbrechung durch Auslegung oder Umdeutung des Beschlusses in eine schuldrechtliche Gesellschafterabrede zur Wirksamkeit zu verhelfen. 2. Zwingende Schranken des GmbH-Rechts Ein abschließender Blick gilt den – wenigen – zwingenden Normen des GmbHRechts, die je nach dem Inhalt der schuldrechtlichen Gesellschafterabreden zugunsten der GmbH zu beachten sind und die Wahlfreiheit der Gesellschafter zwischen Satzungsrecht und Nebenabreden beschränken können. Die beiden wichtigsten dieser Schranken wurden schon genannt: Sie finden sich einerseits in § 5 Abs. 4 GmbHG betreffend die Notwendigkeit, Vereinbarungen über das Erbringen von Sachleistungen anstelle von Bareinlagen in die Satzung selbst aufzunehmen36, andererseits im zwingenden Satzungserfordernis für Nachschusspflichten i. S. des § 26 Abs. 1 GmbHG. Bei diesem Rechtsinstitut geht es bekanntlich um die (heute nur noch selten anzutreffende) satzungsrechtliche Pflicht der Gesellschafter, aufgrund eines entsprechenden, im Regelfall mit einfacher Mehrheit zu fassenden Gesellschafterbeschlusses37 über die Einlageleistung hinaus weitere Einzahlungen (Nachschüsse) zu erbringen. Da die Nachschüsse zur nachträglichen Erhöhung der Leistungspflicht der Gesellschafter gegenüber der GmbH führen, ohne dass es auf die Zustimmung der überstimmten Gesellschafterminderheit ankommt, hat der Gesetzgeber sich durch das Satzungserfordernis des § 26 Abs. 1 GmbHG und die Rahmenbestimmungen der §§ 27, 28 GmbHG um einen adäquaten, zwingend geltenden Minderheitsschutz bemüht. Damit nicht zu verwechseln sind etwaige, höhenmäßig von Anfang an festgelegte Nebenleistungspflichten der Gesellschafter, die wahlweise in der Satzung selbst (§ 3 Abs. 2 GmbHG) oder durch schuldrechtliche Nebenabreden zwischen allen oder auch nur einzelnen Gesellschaftern begründet werden können38. Wie vorstehend (unter III. 1.b) aufgezeigt, bilden sie einen Hauptanwendungsfall möglicher Verträge der Gesellschafter zugunsten der GmbH. Neben den Vorschriften der §§ 5 Abs. 4, 26 bis 28 GmbHG gibt es zwar eine Reihe weiterer, für das Innenverhältnis zwischen GmbH und Gesellschaftern maßgebender Vorschriften mit zwingender, eine Satzungsregelung erfordernder Geltung. Sie betreffen allerdings durchweg Konstellationen, bei denen es nicht um die Begründung einseitiger Rechte der GmbH gegenüber allen oder

__________ 36 Zu den aus § 5 Abs. 4 GmbHG folgenden Anforderungen an den Satzungsinhalt betr. Sacheinlageabreden vgl. Ulmer (Fn. 4), § 5 Rz. 126 ff.; zu ihrer Relativierung durch § 19 Abs. 4 n. F. GmbHG siehe Casper in Großkomm., GmbHG, Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 19 Rz. 25 ff., 58 ff. 37 Vgl. nur Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 4), § 26 Rz. 8. 38 Zur Unterscheidung zwischen Nachschuss- und Nebenleistungspflichten vgl. auch Ulmer (Fn. 4), § 3 Rz. 60 und W. Müller in Großkomm. GmbHG, 2005, § 26 Rz. 21 ff., 26 f.

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einzelnen Gesellschaftern geht, sondern umgekehrt um die sonstige Ausgestaltung des Innenverhältnisses der GmbH einschließlich der Begründung von Rechten der Gesellschafter gegen die GmbH. Schon deshalb sind sie im vorliegenden Zusammenhang ohne Interesse. So setzt § 15 Abs. 5 GmbHG für die Anteilsvinkulierung eine entsprechende Satzungsregelung voraus und § 34 GmbHG macht die Anteilseinziehung von einer Satzungsermächtigung hierzu abhängig. Nach §§ 45 Abs. 2, 47 Abs. 2 GmbHG kann das gesetzliche, den Kapitalanteilen entsprechende Stimmrecht nur durch Satzungsregelung geändert werden, und in § 60 Abs. 2 GmbHG ist die Möglichkeit eröffnet, über § 60 Abs. 1 GmbHG hinaus weitere Auflösungsgründe in der Satzung festzusetzen. Nach §§ 29 Abs. 3 Satz 2, 72 Satz 2 GmbHG kann die Verteilung des Jahresergebnisses und des Liquidationsüberschusses durch Satzungsregelung nach einem von der Kapitalbeteiligung abweichenden Schlüssel festgelegt werden. Schließlich stellt die analoge Anwendung der Vorschriften des § 26 Abs. 1 und 2 AktG sicher, dass einzelnen Gesellschaftern Sondervorteile nur kraft entsprechender Satzungsregelung eingeräumt werden können39 und dass Entsprechendes für die Übernahme des Gründungsaufwands der Gesellschafter durch die Gesellschaft gilt40. Alle diese Vorschriften verkürzen wegen ihres zwingenden Satzungsvorbehalts die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter und schließen ein Ausweichen auf schuldrechtliche Gesellschafterabreden aus. Für die Diskussion über die Anwendungsmöglichkeiten schuldrechtlicher Nebenabreden zugunsten der GmbH (§ 328 BGB) sind sie aber schon deshalb ohne Interesse, weil es insoweit jeweils an Konstellationen fehlt, in denen die vertragliche Begründung einseitiger Rechte der GmbH gegenüber ihren Mitgliedern in Frage steht. Die Möglichkeit einer wirksamen Nebenabrede im Rahmen von § 328 BGB scheidet in diesen Fällen daher von vornherein aus.

IV. Resümee Die Untersuchung hat bestätigt, dass den Gesellschaftern einer GmbH mit der Rechtsfigur des Vertrages zugunsten Dritter ein geeignetes Instrument zur Verfügung steht, um Rechte der GmbH ihnen gegenüber ohne förmliche Satzungsänderung zu begründen; der BGH verdient also Zustimmung zu seinem Rückverweisungsbeschluss an das OLG Brandenburg. Ein solches Vorgehen kommt für die Gesellschafter zwar nur dann in Betracht, wenn und soweit die Begründung von Rechten (einschl. Leistungsverweigerungsrechten) der GmbH ihnen gegenüber als Versprechende und Versprechensempfänger in Frage steht; das reduziert den typischen Anwendungsbereich derartiger Abreden auf Ansprüche der GmbH, von ihren Gesellschaftern bestimmte Sach- oder Geldleistungen bzw. ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Auch ist die Sperrwirkung zwingenden GmbH-Rechts nach Art der §§ 5 Abs. 4, 26 Abs. 1 GmbHG zu beachten; sie macht die wirksame Begründung bestimmter Arten von Gesellschafterpflichten von einer Satzungsregelung abhängig. Schließlich besteht

__________ 39 Einh. M., vgl. Ulmer (Fn. 4), § 5 Rz. 209 f. 40 Heute ganz h. M., vgl. Ulmer (Fn. 4), § 5 Rz. 216 f.

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ein unvermeidbarer Nachteil schuldrechtlicher Nebenabreden im Vergleich zu Satzungsregelungen auch darin, dass sie nur die selbst daran beteiligten Gesellschafter binden, nicht aber deren rechtsgeschäftliche Nachfolger; für deren Einbeziehung bedarf es vielmehr ihres Beitritts zur Nebenabrede im Zusammenhang mit dem Anteilserwerb. Sieht man von diesen Einschränkungen ab, so erweist sich der Vertrag zugunsten Dritter für bestimmte Konstellationen als interessantes Instrument einvernehmlich handelnder Gesellschafter, um dadurch die Rechtsverhältnisse innerhalb der GmbH ohne förmliche Satzungsänderung auszugestalten. Das hätte Martin Winter, der posthume Adressat dieses liber amicorum, vermutlich nicht anders gesehen.

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Zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten Inhaltsübersicht I. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Allgemeinen 1. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit Compliance 2. Die eigene Compliance des Aufsichtsrats als Voraussetzung zur Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe II. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich der eigenen Organisation 1. Die ordnungsgemäße Zusammensetzung und Besetzung des Aufsichtsrats a) Die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Aufsichtsrats b) Der Aufsichtsratsvorsitzende und sein Stellvertreter aa) Wahl von Aufsichtsratsvorsitzendem und Stellvertreter bb) Gerichtliche Ersatzbestellung analog § 104 Abs. 2 AktG c) Die Sicherung der Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats aa) Vorzeitiges Ausscheiden von Aufsichtsratsmitgliedern bb) Anfechtung der Aufsichtsratswahl der Hauptversammlung d) Besetzung des Vermittlungsausschusses nach § 27 Abs. 3 MitbestG e) Der unabhängige Finanzexperte nach § 100 Abs. 5 AktG aa) Die Nominierung des unabhängigen Finanzexperten bb) Der Wegfall des unabhängigen Finanzexperten 2. Die Arbeit von Aufsichtsratsausschüssen a) Die Einrichtung von Aufsichtsratsausschüssen

b) Die Besetzung von Aufsichtsratsausschüssen c) Die Überwachung von Aufsichtsratsausschüssen 3. Die interne Überwachung a) Sicherung der Ordnungsmäßigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse b) Überwachung der Ordnungsmäßigkeit der Aufsichtsratsarbeit c) Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern gemäß §§ 114 und 115 AktG d) Der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung III. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Hinblick auf § 161 AktG 1. Die Compliance-Verantwortung hinsichtlich der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG a) Die Abgabe der jährlichen Entsprechenserklärung b) Die Pflicht zur Aktualisierung der Entsprechenserklärung 2. Die Compliance-Verantwortung hinsichtlich der Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex zum Aufsichtsrat a) Einsetzung von Aufsichtsratsausschüssen b) Wahlvorschläge an die Hauptversammlung c) Interessenkonflikte d) Evaluation der Aufsichtsratsarbeit IV. Die Aufsichtsratsberichterstattung an die Hauptversammlung und die Einflüsse des Deutschen Corporate Governance Kodex 1. Gesetzliche Anforderungen an den Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG

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Eberhard Vetter 2. Anforderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex an den Aufsichtsratsbericht a) Ziffer 5.4.7 Deutscher Corporate Governance Kodex b) Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex 3. Die jüngste Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Aufsichts-

ratsbericht und Kodex- Empfehlungen 4. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Bezug auf Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex V. Fazit

Vorbemerkung In seinem letzten wissenschaftlichen Beitrag, dessen Erscheinen er nicht mehr erleben konnte, hat Martin Winter zur Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“ profund und kenntnisreich Stellung genommen1. Die von ihm behandelte Thematik hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen, wie die Presseberichterstattung über verschiedene spektakuläre Fälle – vor allem in Großunternehmen – belegt. Es liegt nahe in einem Liber Amicorum, das dem ehrenden Gedenken von Martin Winter gewidmet ist, das Thema Compliance des Aufsichtsrats in börsennotierten Gesellschaften aufzugreifen und unter dem speziellen Blickwinkel der Anforderungen an eine good Corporate Governance zu beleuchten. Die nähere Befassung mit dieser Thematik ist auch aus Sicht der Unternehmenspraxis, die Martin Winter als gefragtem Anwalt der Wirtschaft bestens vertraut war und ihm besonders am Herzen lag, von erheblicher Bedeutung, nachdem sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren wiederholt mit einzelnen Fragen der Corporate Compliance aus der Perspektive des Aufsichtsrats zu befassen hatte.

I. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Allgemeinen 1. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit Compliance Nach § 111 Abs. 1 AktG ist dem Aufsichtsrat die Überwachung der Geschäftsführung zugewiesen. Diese Aufgabe erstreckt sich nach h. M. auf die Führungsund Leitungsmaßnahmen des Vorstands2 und schließt damit die Prüfung ein, ob der Vorstand seiner Leitungs- und Organisationsverantwortung für das

__________ 1 M. Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103 ff. 2 S. dazu im Einzelnen z. B. Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 Rz. 19; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 Rz. 161; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 111 Rz. 3; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 111 Rz. 8; weitergehend allerdings BGH v. 12.7.1979 – III ZR 154/77, BGHZ 75, 120, 133 (Herstatt Bank); s. auch Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 64.

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Unternehmen nachgekommen ist und auch in Zukunft nachkommen wird3. Die Überwachung erstreckt sich dabei unter anderem auch auf die Ordnungsmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der Maßnahmen der Geschäftsleitung4. Sie schließt damit zwangsläufig die Compliance-Verantwortung des Vorstands ein, die Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex dahin umschreibt, dass der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinzuwirken hat. Die Befassung mit der Compliance-Verantwortung des Vorstands soll nach der Empfehlung in Ziffer 5.3.2 Deutscher Corporate Governance Kodex zu den typischen Schwerpunkten der Aufgabe des Prüfungsausschusses zählen. Soweit die Verantwortung des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit der Überwachung der Compliance-Pflichten des Vorstands in Rede steht, hat sich Martin Winter in seiner letzten Publikation, die aus konkreten Erfahrungen seiner Beratungspraxis entstanden ist, eingehend geäußert5. 2. Die eigene Compliance des Aufsichtsrats als Voraussetzung zur Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe Zur Erfüllung der in § 111 Abs. 1 AktG angesprochenen Aufgabe zur Überwachung der Geschäftsleitung hat der Aufsichtsrat seine Arbeitsfähigkeit herzustellen und organintern dafür zu sorgen, dass er seine Arbeit ordnungsgemäß erledigt und sich seine Mitglieder dabei rechtstreu verhalten. Der Aufsichtsrat ist deshalb aufgefordert auch die eigene Compliance zu wahren und zu überwachen6. Dies bedeutet generell, dass der Aufsichtsrat sicherzustellen hat, dass nicht nur die eigene Organisation den rechtlichen Anforderungen entspricht, sondern auch dass seine Arbeit gemäß den Anforderungen des AktG und den sonstigen maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen wie auch der Satzung und den Regelungen der Geschäftsordnung ausgeführt wird. Dies ist keine

__________ 3 Vgl. Habersack (Fn. 2), § 111 Rz. 20; Hopt/Roth (Fn. 2), § 111 Rz. 246; Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 645, 647. 4 BGH v. 12.7.1979 – III ZR 154/77, BGHZ 75, 120, 133 (Herstadt Bank); BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 (Deutscher Herold); LG Stuttgart v. 29.10.1999 – 4 KfH O 80/98, AG 2000, 237, 238 (Altenburger und Stralsunder Spielkarten Fabrik); Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123, 128; Henze, BB 2001, 54, 59; Hoffmann-Becking in MünchHdb. Gesellschaftsrecht, AG, 3. Aufl. 2007, § 26 Rz. 26; Spindler (Fn. 2), § 111 Rz. 14; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 26 Rz. 9. 5 M. Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103 ff.; s. z. B. auch Kort in FS Hopt, 2010, S. 983 ff.; Lutter in FS Hüffer, 2010, S. 617 ff.; E. Vetter in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 719, 732. 6 Bachmann in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 65, 93; Bürkle, BB 2007, 1797, 1800; Hopt/Roth (Fn. 2), § 111 Rz. 144; Kort in FS Hopt, 2010, S. 983, 998; s. z. B. auch Edenfeld/Neufang, AG 1999, 49, 50; Habersack (Fn. 2), § 111 Rz. 16; E. Vetter (Fn. 4), § 29 Rz. 65; andeutungsweise bereits BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 248 (ARAG/Garmenbeck).

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neue Erkenntnis sondern in Anlehnung an Uwe. H. Schneider eine Binsenwahrheit7. Es steht außer Frage, dass Corporate Compliance im Unternehmen, wie auch Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance Kodex nachdrücklich unterstreicht, eine zentrale Verantwortung des Vorstands ist. Auch wenn die dabei zu beobachtenden Vorgänge und die zu beherrschenden verschiedenen Aufgaben zumeist in der Primärverantwortung des Vorstands liegen, der sich dabei typischerweise weiterer interner Unterstützung aus dem Unternehmen, z. B. durch den Compliance-Beauftragten, oftmals aber auch die internen Revision und der Rechtsabteilung bedient, darf sich der Aufsichtsrat nicht einfach darauf verlassen und die insoweit bestehende eigene Verantwortung vernachlässigen. Die Wahrnehmung der eigenen Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats ist kein Selbstzweck. Sie bildet die Grundlage für die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, indem sie eine wesentliche Voraussetzung dafür schafft, dass er die Überwachung der Geschäftsleitung kompetent und effizient durchführen kann. Die Sicherung und Kontrolle der auf den Aufsichtsrat und seine Mitglieder bezogenen Corporate Compliance reicht deutlich über die bloße Effizienzprüfung hinaus, wie sie z. B. Ziffer 5.6 Deutscher Corporate Governance Kodex im Blick hat8. Sie beruht auf der Treue- und Fürsorgepflicht der Aufsichtsratsmitglieder, die sie verpflichtet die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats sicherzustellen und darauf zu achten, dass er seine Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt9. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats ist deshalb eine Aufgabe, die jedes Aufsichtsratsmitglied im Blick behalten und zu ihrer ordnungsgemäßen Wahrnehmung beitragen muss10. Dabei lastet auf dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats, auch wenn ihm keine Disziplinarbefugnisse gegenüber den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern zustehen11, ohne Zweifel insoweit eine herausragende Verantwortung12. Der Themenkreis der Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten soll nachfolgend näher beleuchtet werden.

__________ 7 Uwe H. Schneider, ZIP 2003, 646, 647. 8 S. dazu z. B. Semler in FS Raiser, 2005, S. 399 ff.; Seibt, DB 2003, 2107 ff.; v. Werder/ Grundei in Hommelhoff/Hopt/v. Werder/, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 629, 642. 9 Vgl. z. B. Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 116 Rz. 6; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 116 Rz. 3; Habersack (Fn. 2), § 116 Rz. 30; Hopt/Roth (Fn. 2), § 111 Rz. 144; Spindler (Fn. 2), § 104 Rz. 17; Steinbeck, Überwachungspflicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats der AG, 1992, S. 25. 10 Hopt/Roth (Fn. 2), § 116 Rz. 125; Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 654; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 116 Rz. 11; Semler in FS Peltzer, 2001, S. 489, 506. 11 Hopt/Roth (Fn. 2), § 107 Rz. 109; Mertens (Fn. 10), § 107 Rz. 45. 12 Hopt/Roth (Fn. 2), § 111 Rz. 141; Spindler (Fn. 2), § 111 Rz. 43; E. Vetter in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 719, 736.

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II. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich der eigenen Organisation 1. Die ordnungsgemäße Zusammensetzung und Besetzung des Aufsichtsrats a) Die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Aufsichtsrats Ist der Aufsichtsrat nicht nach den maßgeblichen Vorschriften zusammengesetzt, eröffnet das sog. Statusverfahren den Weg, die für seine Zusammensetzung anzuwendenden Vorschriften verbindlich festzulegen. Nach § 97 Abs. 1 AktG ist der Vorstand verpflichtet, das Statusverfahren einzuleiten. Für den Aufsichtsrat sieht das AktG keine entsprechende Einleitungspflicht vor. Dies lässt sich mit der Organisationsstruktur der AG erklären, da es sich hierbei um eine Geschäftsleitungsmaßnahme handelt, für die der Vorstand verantwortlich ist13. Kommt es nicht zur Einleitung eines Statusverfahrens durch den Vorstand, eröffnet § 98 Abs. 1 AktG die Möglichkeit beim zuständigen Landgericht die gerichtliche Bestimmung der maßgeblichen Vorschriften für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu beantragen. Dazu ist nach § 98 Abs. 2 AktG nicht nur der Vorstand sondern unter anderem auch jedes Aufsichtsratsmitglied berechtigt. Dies wirft die Frage auf, ob nicht auch das einzelne Aufsichtsratsmitglied zur Stellung des Antrags nach § 98 Abs. 1 AktG verpflichtet ist, wenn der Vorstand seiner Verpflichtung zur ordentlichen Geschäftsführung nicht nachkommt. Während einige Autoren aus dem Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung schließen, dass eine Antragspflicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds nicht besteht14, bejaht die Gegenansicht die Pflicht jedes Aufsichtsratsmitglieds das Verfahren bei Untätigkeit des primärverantwortlichen Vorstands zu beantragen15. Festzuhalten ist, dass der Aufsichtsrat als Organ nicht antragsberechtigt ist und somit für ihn auch keine Antragspflicht in Betracht kommt. Bei den Aufsichtsratsmitgliedern ist zu berücksichtigen, dass jedes Mitglied dafür zu sorgen hat, dass sich die Organe der AG rechtstreu verhalten. Diese Verpflichtung besteht erst recht, wenn es um die Übereinstimmung der Zusammensetzung des eigenen Organs mit der objektiven Rechtslage geht. Aus der Tatsache dass eine ausdrückliche Antragspflicht in § 97 Abs. 1 AktG nur für den Vorstand angeordnet ist, lassen sich keine entgegenstehenden Schlüsse ziehen, da es insoweit nur um die Regelung der Primärverantwortung geht. Erst recht vermag der Gesichtspunkt eines drohenden Interessenkonflikts die Antragspflicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds nicht zu verhindern. Bei der Stellung des Antrags nach § 98 Abs. 1 AktG geht es nicht um eine freie Entscheidung sondern um die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht

__________ 13 Drygala (Fn. 9), § 97 Rz. 9; Habersack (Fn. 2), § 97 Rz. 17. 14 Drygala (Fn. 9), § 98 Rz. 7; Habersack (Fn. 2), § 98 Rz. 14; Mertens (Fn. 10), §§ 97–99 Rz. 31. 15 Von Godin/Wilhelmi, AktG, 4. Aufl. 1971, § 98 Anm. 2; Hopt/Peddinghaus in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 98 Rz. 39; Spindler (Fn. 2), § 98 Rz. 10.

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ohne Ermessensspielraum. Als Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied verpflichtet ist, den Antrag nach § 98 Abs. 1 AktG zu stellen, wenn der Vorstand seiner Verpflichtung zur ordentlichen Geschäftsführung nicht nachkommt und das Statusverfahren nach § 97 Abs. 1 AktG einleitet. b) Der Aufsichtsratsvorsitzende und sein Stellvertreter aa) Wahl von Aufsichtsratsvorsitzendem und Stellvertreter Nach § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter zu wählen. Diese Aufgabe obliegt allen Aufsichtsratsmitgliedern in ihrer Gesamtheit16. Üblicherweise erfolgt die Wahl in der konstituierenden Aufsichtsratssitzung, die unmittelbar im Anschluss an die Hauptversammlung stattfindet, in der die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner gewählt worden sind. Scheidet der Aufsichtsratsvorsitzende vor Ende der Amtszeit aus dem Aufsichtsrat aus oder legt er das Amt als Vorsitzender nieder, haben die Aufsichtsratsmitglieder unverzüglich einen neuen Vorsitzenden zu wählen, damit der Aufsichtsrat wieder uneingeschränkt handlungsfähig ist17. Entsprechendes gilt im Grundsatz auch bei vorzeitigem Wegfall des stellvertretenden Vorsitzenden. Insofern sind alle Aufsichtsratsmitglieder aufgefordert, für die ordnungsgemäße Besetzung der Leitungsfunktionen innerhalb des Aufsichtsrats zu sorgen. § 110 Abs. 2 AktG eröffnet jedem Aufsichtsratsmitglied die Möglichkeit notfalls selbst eine Sitzung des Aufsichtsrats einzuberufen. bb) Gerichtliche Ersatzbestellung analog § 104 Abs. 2 AktG Findet eine Wahl von Aufsichtsratsvorsitzenden und Stellvertreter nicht statt oder führt eine Wahl dauerhaft nicht zu einem positiven Wahlergebnis, so widerspricht dies sowohl § 107 Abs. 1 AktG als auch den Grundsätzen guter Corporate Governance. Mangels Zuständigkeit kann die Hauptversammlung nicht an Stelle des Aufsichtsrats einen Aufsichtsratsvorsitzenden und seinen Stellvertreter wählen. Da das Gesetz dem Aufsichtsratsvorsitzenden wichtige Aufgaben zuweist, droht der Gesellschaft bei fortdauernder Vakanz die Handlungsunfähigkeit. Nach herrschender Ansicht besteht deshalb in diesem Fall die Möglichkeit die gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsratsvorsitzenden und Stellvertreters in analoger Anwendung von § 104 Abs. 1 Satz 2 AktG zu beantragen18. Die Primärverantwortung zur Stellung eines solchen Antrags liegt zweifelsfrei beim Vorstand. Bleibt er wider Erwarten untätig, trifft jedes Aufsichtsratsmitglied auf Grund seiner Treue- und Fürsorgepflicht die Verpflichtung, die gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsratsvorsitzenden sowie

__________

16 Habersack (Fn. 2), § 107 Rz. 16; Semler in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 1 Rz. 35. 17 Bürgers/Israel (Fn. 9), § 116 Rz. 6; Hopt/Roth (Fn. 2), § 107 Rz. 16. 18 Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 13; Habersack (Fn. 2), § 107 Rz. 25; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 31 Rz. 8; Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 656; Spindler (Fn. 2), § 107 Rz. 27; E. Vetter (Fn. 4), § 27 Rz. 21; a. A. Niewiarra/Servatius in FS Semler, 1993, S. 217, 226.

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des Stellvertreters zu beantragen, und zwar unabhängig davon, ob in der AG aktuell konkrete Schritte anstehen, für die die Mitwirkung des Aufsichtsratsvorsitzenden erforderlich ist. Zweifelsfrei wird dadurch in den ureigensten Aufgabenbereich des Aufsichtsrats eingegriffen. Dies stellt allerdings kein Hindernis dar, wie z. B. ein Seitenblick auf das Notbestellungsrecht nach § 85 Abs. 1 AktG erhellt. Es geht darum in Notfällen für Abhilfe zu sorgen19. Das Recht des Aufsichtsrats zur Organisation der eigenen Angelegenheiten wird dadurch nicht beeinträchtigt, denn der gerichtlich bestellte Aufsichtsratsvorsitzende ist Vorsitzender auf Abruf. Sein Amt endet analog § 104 Abs. 5 AktG, sobald der Aufsichtsrat einen Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt hat. c) Die Sicherung der Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats aa) Vorzeitiges Ausscheiden von Aufsichtsratsmitgliedern Scheiden während einer Amtsperiode Aufsichtsratsmitglieder aus dem Aufsichtsrat aus und sind keine Ersatzmitglieder im Sinne von § 101 Abs. 3 Satz 2 AktG gewählt worden, besteht bei Beschlussunfähigkeit im Regelfall Handlungsbedarf. Die Primärverantwortung zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrats durch Beseitigung der Vakanz ist dem Vorstand als Geschäftsführungsorgan zugewiesen, indem dieser gemäß § 104 Abs. 1 Satz 2 AktG verpflichtet ist, unverzüglich die gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats zu beantragen, sofern nicht die rechtzeitige Ergänzung vor der nächsten Aufsichtsratssitzung zu erwarten ist. Die Verantwortung des Aufsichtsrats kann jedoch nicht völlig ausgeblendet werden, wie sich § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG entnehmen lässt, der unter anderem auch jedem Aufsichtsratsmitglied die Befugnis zur Stellung des Antrags einräumt. Dass das Gesetz ausdrücklich nur die Handlungspflicht des Vorstands statuiert, darf nicht zu dem Schluss verleiten, der Gesetzgeber habe das einzelne Aufsichtsratsmitglied von der Antragspflicht ausnehmen wollen. Vielmehr ergibt sich aus der Treue- und Fürsorgepflicht für jedes Aufsichtsratsmitglied die Verpflichtung, für die gerichtlichen Ergänzung des beschlussunfähigen Aufsichtsrats zu sorgen, wenn der Vorstand untätig bleibt20. Schuldhafte Versäumnisse der Aufsichtsratsmitglieder können die persönliche Haftung nach §§ 116, 93 AktG auslösen21. Berührt die Vakanz im Aufsichtsrat nicht dessen Beschlussfähigkeit, begründet das Gesetz für den Vorstand keine Antragspflicht22. Daraus ist zu schließen, dass auch für die Aufsichtsratsmitglieder keine Handlungspflicht besteht. Sie können die Ergänzung des Aufsichtsrats vielmehr der Hauptversammlung und der Belegschaft als den jeweiligen Bestellorganen überlassen23.

__________ 19 Ebenso Spindler (Fn. 2), § 107 Rz. 27. 20 Hopt/Roth (Fn. 2), § 104 Rz. 33; Mertens (Fn. 10), § 104 Rz. 9; Spindler (Fn. 2), § 104 Rz. 17. 21 Hopt/Roth (Fn. 2), § 104 Rz. 33; Spindler (Fn. 2), § 104 Rz. 17; E. Vetter, DB 2004, 2623. 22 Drygala (Fn. 9), § 104 Rz. 14. 23 S. auch BayObLG v. 29.3.2000 – 3Z BR 11/2000, AG 2001, 50, 51.

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bb) Anfechtung der Aufsichtsratswahl der Hauptversammlung Ist der Hauptversammlungsbeschluss über die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern angefochten und wird der Klage stattgegeben, ist die Bestellung des oder der von der Anfechtungsklage betroffenen Aufsichtsratsmitglieder ex tunc nichtig. Die rechtlichen Konsequenzen einer erfolgreichen Anfechtung auf die Wirksamkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen sind umstritten. Die bisher herrschende Meinung im Schrifttum hält sie rückwirkend für nichtig, wenn die Stimme des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds ausschlaggebend war24, während eine neuere Ansicht im Schrifttum nach der Lehre vom fehlerhaften Organ grundsätzlich von der Wirksamkeit der Beschlüsse ausgeht, die bis zur rechtkräftigen Feststellung der Nichtigkeit der Aufsichtsratswahl ergangen sind25. Diesem Risiko kann nach allerdings umstrittener Ansicht dadurch begegnet werden, dass die gewählten Aufsichtsratsmitglieder vorsorglich im Wege der gerichtlichen Bestellung analog § 104 AktG aufschiebend bedingt zu Aufsichtsratsmitgliedern bestellt werden, für den Fall, dass ihre Wahl durch die Hauptversammlung für nichtig erklärt wird26. Angesichts des nicht unerheblichen Risikos für die Bestandskraft der während der Dauer des Rechtsstreits erfolgten Aufsichtsratsbeschlüsse muss sich sowohl der Vorstand als auch der Aufsichtsrat mit der Frage befassen, ob nicht vorsorglich ein entsprechender Antrag nach § 104 AktG gestellt werden soll. Im Zweifel ist er verpflichtet den Antrag zu stellen, um diesem Risiko zu begegnen. d) Besetzung des Vermittlungsausschusses nach § 27 Abs. 3 MitbestG Untersteht die Gesellschaft dem MitbestG, hat der Aufsichtsrat unmittelbar im Anschluss an die Wahl von Aufsichtsratsvorsitzendem und Stellvertreter den sog. Vermittlungsausschuss zu bilden, dem der Aufsichtsratsvorsitzende und der Stellvertreter kraft Gesetzes angehören und in den noch je ein weiteres Mitglied von den Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zu wählen ist. Die Bildung dieses Ausschusses ist zwingend27.

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24 Göz in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 252 Rz. 5; Hopt/Roth (Fn. 2), § 101 Rz. 222; Mertens (Fn. 10), § 101 Rz. 96; Karsten Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 250 Rz. 31; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 252 Rz. 3; E. Vetter (Fn. 4), § 25 Rz. 78; E. Vetter/van Laak, ZIP 2008, 1806, 1808; Zöllner in KölnKomm. AktG, 1975, § 252 Rz. 10. 25 Drygala (Fn. 9), § 101 Rz. 7; Habersack (Fn. 2), § 101 Rz. 70; Happ in FS Hüffer, 2010, S. 293, 304; Hüffer (Fn. 2), § 101 Rz. 18; Schürnbrand, NZG 2008, 609, 610; Spindler (Fn. 2), § 101 Rz. 112. 26 OLG München v. 18.1.2006 – 7 U 3729/05, abrufbar bei Juris (HypoVereinsbank); LG München I v. 9.6.2005 – 5HK O 10154/04, DB 2005, 1617 = AG 2006, 762, 766 (HypoVereinsbank); Fett/Theusinger, AG 2010, 425, 430; E. Vetter/van Laak, ZIP 2008, 1806, 1810; a. A. AG Bonn v. 21.12.2010 – HRB 4148, AG 2011, 99, 100 (IVG Immobilien AG); Marsch-Barner in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1109, 1121. 27 Oetker in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 27 MitbestG Rz. 23; Raiser/Veil, MitbestG und DrittelbG, 5. Aufl. 2009, § 27 MitbestG Rz. 35; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 27 MitbestG Rz. 21.

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Jedes Aufsichtsratsmitglied ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Bildung des Ausschusses zustande kommt, damit der Aufsichtsrat für den Fall einer eventuell notwendigen Konfliktschlichtung handlungsfähig ist. Da die Wahl getrennt nach den beiden Gruppen durchzuführen ist, kann jedes Aufsichtsratsmitglied allerdings nur die Wahl in seiner Gruppe direkt initiieren. Bei der jeweils anderen Gruppe bleibt ihm nur, auf deren Mitglieder einzuwirken, damit diese die Wahl vornehmen. Die gleichen Grundsätze sind auch zu befolgen, wenn während der Amtszeit des Aufsichtsrats eines der beiden zusätzlich gewählten Mitglieder des Vermittlungsausschusses aus dem Ausschuss ausgeschieden ist. Kommt die Wahl der beiden weiteren Ausschussmitglieder nicht zustande, soll nach überwiegender Ansicht im Schrifttum der Sitz unbesetzt bleiben, ohne dass insoweit eine gerichtliche Bestellung in entsprechender Anwendung von § 104 AktG möglich ist28. Auch wenn die Bedeutung des Vermittlungsausschusses in der Praxis äußerst gering ist, lässt sich seine institutionelle Rolle zur Konfliktschlichtung nicht leugnen. Dass ihm nach § 31 Abs. 3 MitbestG nur ein Vorschlagsrecht gegenüber dem Aufsichtsrat eingeräumt ist, steht dem nicht entgegen. Wegen der besonderen Funktion des Ausschusses ist deshalb die Möglichkeit der gerichtlichen Bestellung in entsprechender Anwendung von § 104 Abs. 2 AktG anzuerkennen, da die Vakanz im Vermittlungsausschuss als dringender Fall zu betrachten ist29. Wird der Vorstand als Primärverantwortlicher nicht tätig, um die Ergänzung des Ausschusses zu beantragen, ist jedes Aufsichtsratsmitglied auf Grund seiner Treue- und Fürsorgepflicht verpflichtet, die gerichtliche Ergänzung des Vermittlungsausschusses in entsprechender Anwendung von § 104 Abs. 2 AktG zu beantragen. e) Der unabhängige Finanzexperte nach § 100 Abs. 5 AktG aa) Die Nominierung des unabhängigen Finanzexperten Nach § 100 Abs. 5 AktG, der durch das BilMoG30 in das AktG eingefügt worden ist, muss dem Aufsichtsrat einer kapitalmarktorientierten AG i. S. von § 264d HGB ein independent Financial Expert angehören. Das heißt, ein Mitglied muss unabhängig sein sowie zudem über Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung oder der Abschlussprüfung verfügen31. Für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder hat der Aufsichtsrat der Hauptversammlung nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG Wahlvorschläge vorzulegen. Dies gilt zwangsläufig auch für den unabhängigen Finanzexperten, wobei er als solcher in der Tages-

__________ 28 Oetker (Fn. 27), § 27 Rz. 25; Raiser/Veil (Fn. 27), § 27 Rz. 35; Ulmer/Habersack (Fn. 27), § 27 Rz. 22. 29 Im Ergebnis ebenso Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 378; Rittner in FS Fischer, 1979, S. 627, 633. 30 Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz vom 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1109. 31 S. dazu z. B. Maushake, Audit Committees, 2009, S. 269 ff.; Staake, ZIP 2010, 1013, 1019; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 780 ff.

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ordnung nicht namentlich bezeichnet werden muss32. Der Aufsichtsrat muss bei seinem Wahlvorschlag, wenn eine komplette Neuwahl des Aufsichtsrats ansteht aber auch, wenn eine Ergänzungswahl allein für den aus dem Aufsichtsrat ausgeschiedenen bisherigen unabhängigen Finanzexperten ansteht und kein anderes Aufsichtsratsmitglied über diese Qualifikation verfügt, darauf achten, dass der Wahlvorschlag den Anforderungen von § 100 Abs. 5 AktG genügt, da andernfalls der Wahlbeschluss der Hauptversammlung anfechtbar ist33. Die sorgfältige Auswahl der als unabhängiger Finanzexperte vorgesehen Person, hat auch haftungsrechtliche Relevanz. Verfügt es nicht über die erforderliche Qualifikation, können für die Aufsichtsratsmitglieder aus ihrem Vorschlag an die Hauptversammlung zur Wahl des Aufsichtsratsmitglieds gegebenenfalls Haftungsfolgen aus dem Gesichtspunkt des Auswahlverschuldens resultieren34. bb) Der Wegfall des unabhängigen Finanzexperten Verliert das Aufsichtsratsmitglied i. S. von § 100 Abs. 5 AktG seine Qualifikation als unabhängiger Finanzexperte, weil es z. B. infolge der Veränderung seiner Beziehung zur Gesellschaft aus geschäftlichen oder persönlichen Gründen nicht mehr als unabhängig angesehen werden kann, stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Aufsichtsrat hierauf zu reagieren hat. Die Problematik ergibt sich daraus, dass der Entfall der Qualifikation als unabhängiger Finanzexperte nicht das Aufsichtsratsmandat automatisch zum Erlöschen bringt35, so dass der Aufsichtsrat, wenn kein anderes Aufsichtsratsmitglied über diese Qualifikation verfügt, nicht ordnungsgemäß besetzt ist. Die Compliance Verantwortung des Aufsichtsrats führt dazu, dass er diese Situation grundsätzlich nicht tatenlos hinnehmen darf, vielmehr sind seine Mitglieder zur Abhilfe aufgerufen36. Ist das Aufsichtsratsmitglied – wie nicht selten – in bewusster Kenntnis seiner Qualifikation als unabhängiger Finanzexperte i. S. von § 100 Abs. 5 AktG von der Hauptversammlung zum Aufsichtsratsmitglied gewählt worden und ist es nicht zur freiwilligen Niederlegung seines Mandats bereit, werden es die übrigen Mitglieder, sofern keine anderweitige Vakanz im Aufsichtsrat besteht,

__________ 32 Bröcker/Mosel, GWR 2009, 132, 134; von Falkenhausen/Kocher, ZIP 2009, 1601; Lüer in FS Maier-Reimer, 2010, S. 385, 397, E. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S. 795, 808. 33 Ehlers/Nohlen in GS Gruson, 2009, S. 107, 118; Habersack, AG 2008, 98, 106; E. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S. 795, 810; Widmann, BB 2009, 2602, 2603; differenzierend Kropff in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1023, 1034; a. A. Hüffer (Fn. 2), § 100 Rz. 15; Lüer in FS Maier-Reimer, 2010, S. 385, 401; Sünner in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1301, 1308. 34 Altmeppen, ZGR 2004, 390, 412; Kropff in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1023, 1035; Lieder, NZG 2005, 569, 574; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 779; E. Vetter in FS MaierReimer, 2010, S. 795, 810. 35 Drygala (Fn. 9), § 104 Rz. 60; Gruber, NZG 2008, 12, 14; Staake, ZIP 2010, 1013, 1019; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 788. 36 Ebenso Jasper, AG 2009, 607, 614; a. A. Bröcker/Mosel, GWR 2009, 132, 134.

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zum Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat bewegen müssen, damit die Gesellschaft wieder in die Lage versetzt wird, die gesetzlichen Anforderungen für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach § 100 Abs. 5 AktG zu erfüllen37. Die Abberufung nach § 103 Abs. 3 AktG durch gerichtliche Entscheidung auf Antrag des Aufsichtsrats38 scheidet hingegen aus, da der Wegfall der nach § 100 Abs. 5 AktG erforderlichen Qualifikation nicht als wichtiger Grund § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG angesehen werden kann39. Als ultima ratio kommt damit nur der Vorschlag des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung in Betracht das Aufsichtsratsmitglied durch Beschluss nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG abzuberufen40. Einer besonderen sachlichen Rechtfertigung für den Hauptversammlungsbeschluss bedarf es nicht41. Ist das Aufsichtsratsmitglied nicht mit Blick auf die besondere Qualifikation als unabhängiger Finanzexperte zum Aufsichtsratsmitglied gewählt worden, sei es, weil seine Wahl vor In-Kraft-Treten von § 100 Abs. 5 AktG stattgefunden hat oder weil es die Funktion des unabhängigen Finanzexperte übernommen hatte, nachdem der ursprünglich als unabhängiger Finanzexperte gewählte zwischenzeitlich aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden war, besteht keine Pflicht des Aufsichtsrats die Abberufung durch die Hauptversammlung nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG vorzuschlagen42. Die nicht gesetzeskonforme Zusammensetzung des Aufsichtsrats ist vielmehr hinzunehmen. 2. Die Arbeit von Aufsichtsratsausschüssen a) Die Einrichtung von Aufsichtsratsausschüssen Aufsichtsratsausschüsse sind gerade in börsennotierten Gesellschaften eine weit verbreitete Einrichtung. Die in § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG ausdrücklich eröffnete Möglichkeit zur Arbeitsteilung im Aufsichtsrat soll zur Steigerung der Effizienz der Aufsichtsratsarbeit beitragen, indem sich die gewählten Ausschussmitglieder den spezifischen Fragen und Themenkomplexen intensiver widmen können, als dies im Aufsichtsratsplenum möglich ist. Denn der Ausschuss ist auf Grund der geringeren Mitgliederzahl nicht nur flexibler, sondern kann die ihm übertragenen Aufgaben meist auch zügiger, intensiver und professioneller als das Plenum erledigen, dem in Großunternehmen bis zu 20 oder gar 21 Mit-

__________ 37 S. auch Huwer, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats, 2008, S. 382. 38 Entgegen von Falkenhausen/Kocher, ZIP 2009, 1601, 1602 steht dem Vorstand kein Antragsrecht zu. 39 Drygala (Fn. 9), § 104 Rz. 61; von Falkenhausen/Kocher, ZIP 2009, 1601, 1602; Spindler (Fn. 2), § 104 Rz. 45; Staake, ZIP 2010, 1013, 1019; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 789; a. A. Jasper, AG 2009, 607, 614; Lüer in FS Maier-Reimer, 2010, S. 385, 397; Widmann, BB 2009, 2602, 2605; zurückhaltend auch Gruber, NZG 2008, 12, 14. 40 Drygala (Fn. 9), § 104 Rz. 61; Kropff in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1023, 1034; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 789; a. A. Hönsch, Der Konzern 2009, 553, 558. 41 Hopt/Roth (Fn. 2), § 103 Rz. 13; Hüffer (Fn. 2), § 103 Rz. 3; Uwe H. Schneider/ Nietsch in FS Westermann, 2008, S. 1447, 1451; E. Vetter (Fn. 4), § 25 Rz. 55. 42 Kropff in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1023, 1034; Spindler (Fn. 2), § 104 Rz. 45; Widmann, BB 2009, 2602, 2605.

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glieder angehören können43. Mit der Bildung von Aufsichtsratsausschüssen wird nicht nur der Gefahr der oftmals kritisierten Ineffizienz des Aufsichtsratsplenums entgegengewirkt; hieraus kann regelmäßig auch die persönliche Identifikation der meist nur drei und selten mehr als fünf Ausschussmitglieder mit der ihnen zugewiesenen Aufgabenstellung gestärkt und dadurch die Intensität und Qualität der Aufsichtsratsarbeit gefördert werden44. Sieht man vom sogenannten Vermittlungsausschuss nach § 27 Abs. 3 MitbestG im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat ab, so bestehen keine gesetzliche Vorschriften, die die Bildung eines Aufsichtsratsausschusses vorschreiben. Die Einsetzung von Ausschüssen und die Festlegung ihrer Aufgaben steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats45; die Satzung darf insoweit keine Vorgaben machen46. Dies gilt auch für die Frage, ob der Ausschuss die Beratungen des Aufsichtsratsplenums nur vorbereiten oder an dessen Stelle auch entscheiden soll. Auch für den Prüfungsausschuss in der kapitalmarktorientierten AG, den § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG ausdrücklich erwähnt, besteht keine Einrichtungspflicht47. Maßgebliche Gesichtspunkte für die Organisationsentscheidung des Aufsichtsrats zur Einsetzung eines Ausschusses, für die alle Aufsichtsratsmitglieder Verantwortung tragen, sind die Effizienz der Arbeitsbewältigung im Hinblick auf die Größe des Aufsichtsrats und die Komplexität der typischerweise anstehenden Aufgaben. Im Regelfall wird man bei einem mitbestimmten Aufsichtsrat, der bei Großunternehmen gar als „Fehlkonstruktion“ bezeichnet worden ist48, dann nicht mehr von einem fehlerfreien Ermessensgebrauch sprechen können, wenn der Aufsichtsrat ab einer Größe von 9 oder 12 Mitgliedern von der Bildung von Ausschüssen zur Effizienzsteigerung absieht49. Ein derartiges Organisationsdefizit kann im Schadensfall zur Haftung der Aufsichtsratsmitglieder nach § 116 i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG führen50.

__________ 43 Deckert, ZIP 1996, 985, 987; Hoffmann-Becking in FS Havermann, 1995, S. 229, 236; Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 262; Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 751; Lutter, AG 1994, 176, 177; Ranzinger/Blies, AG 2001, 455, 460; kritisch demgegenüber z. B. Claussen/Bröcker, AG 2000, 481, 491; Sünner, AG 2000, 492, 496; zu den Vor- und Nachteilen insgesamt z. B. Huwer (Fn. 37), S. 68; Schwark in Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, 2002, S. 75, 110. 44 Vgl. auch Lutter, ZGR 2001, 224, 229; E. Vetter (Fn. 4), § 28 Rz. 1. 45 Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 33; Rellermeyer, Aufsichtsratsausschüsse, 1986, S. 14. 46 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81, BGHZ 83, 106, 115 (Siemens); BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 355 (Hamburg-Mannheimer Versicherung); Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 41; Rellermeyer (Fn. 45), S. 68; Semler, AG 1988, 60, 62; E. Vetter (Fn. 4), § 28 Rz. 7. 47 Huwer (Fn. 37), S. 379; Maushake (Fn. 31), S. 204; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 758. 48 Lutter, AG 1994, 176, 177; zustimmend Leyens (Fn. 43), S. 263. 49 Ebenso Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 33; Hopt/Roth (Fn. 2), § 107 Rz. 262; Hüffer, NZG 2007, 47, 52; Krieger, ZGR 1985, 338, 361; zustimmend Leyens (Fn. 43), S. 242; Rellermeyer (Fn. 45), S. 14. 50 Hopt/Roth (Fn. 2), § 107 Rz. 262 und § 116 Rz. 121; Möller, ZIP 1995, 337, 347.

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b) Die Besetzung von Aufsichtsratsausschüssen Über die personelle Besetzung von Ausschüssen entscheidet der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Organisationsautonomie durch Beschluss, ohne dass die Satzung dazu Vorgaben aufstellen kann. Die Auswahl der Ausschussmitglieder ist eine Personalentscheidung, die im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats steht, das sich am Eignungsprinzip auszurichten hat51. Vorrangiges Kriterium muss die Qualifikation der zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder, also ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten sein. Darüber hinaus muss der Aufsichtsrat die mitbestimmungsrechtlichen Grenzen seiner Organisationsautonomie beachten. Zwar besteht weder im Anwendungsbereich des DrittelbG noch des MitbestG ein Gebot der proportionalen Ausschussbesetzung. In einem nach dem MitbestG zusammengesetzten Aufsichtsrat ist aber das Diskriminierungsverbot zu beachten, das sachfremde Differenzierungen verbietet und regelmäßig dazu führt, dass zumindest dem Personalausschuss Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören müssen52. Im Übrigen bestehen hinsichtlich der personellen Besetzung von Ausschüssen nur wenige gesetzliche Vorgaben. Sofern in einer kapitalmarktorientierten AG i. S. von § 264d HGB ein Prüfungsausschuss besteht, muss diesem nach § 107 Abs. 4 AktG zwingend mindestens ein unabhängiger Finanzexperte i. S. von § 100 Abs. 5 AktG angehören, der über Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung oder der Abschlussprüfung verfügt. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, dass auch die anderen Ausschussmitglieder fachlich qualifiziert sein sollten53, denn ein einziges sachkundiges Ausschussmitglied genügt nicht, um die komplexen Aufgaben des Prüfungsausschusses, die § 107 Abs. 3 AktG beispielhaft nennt, kompetent und effizient zu erfüllen und dem Abschlussprüfer auf Augenhöhe zu begegnen. Besetzt der Aufsichtsrat den Prüfungsausschuss ausschließlich mit Mitgliedern, die nicht über die besondere Qualifikation als unabhängiger Finanzexperte i. S. von § 100 Abs. 5 AktG verfügen, ist die Wahl aller Ausschussmitglieder unwirksam54. Bei der Entscheidung des Aufsichtsrats über die personelle Besetzung eines Aufsichtsratsausschusses ist die Frage der Qualifikation der Ausschussmitglieder auch aus Haftungsgründen von besonderem Belang. Verfügt ein Ausschussmitglied nicht über die erforderliche Qualifikation, die für eine kompetente und verantwortungsvolle Arbeit in dem entsprechenden Ausschuss not-

__________ 51 Buck in Abeltshauser/Buck, Corporate Governance, 2004, S. 55, 69; HoffmannBecking (Fn. 4), § 32 Rz. 17; Mertens (Fn. 10), § 107 Rz. 90; E. Vetter (Fn. 4), § 28 Rz. 17. 52 S. BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 358 (Hamburg Mannheimer Versicherung); OLG München v. 27.1.1995 – 23 U 4282/94, AG 1995, 466, 467 (Vogt electronic AG); Altmeppen in FS Brandner, 1996, S. 3, 9; Hüffer (Fn. 2), § 107 Rz. 21; Ulmer/Habersack (Fn. 27), § 25 Rz. 127; E. Vetter (Fn. 4), § 28 Rz. 18. 53 Altmeppen, ZGR 2004, 390, 399; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 890; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 779. 54 Habersack, AG 2008, 98, 108; Hönsch, Der Konzern 2009, 553, 558; Strunk, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats der börsennotierten AG, 2009, S. 270; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 779.

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wendig ist, setzen sich die übrigen Aufsichtsratsmitglieder unter dem Gesichtspunkt des Auswahlverschuldens dem persönlichen Haftungsrisiko nach §§ 116, 93 AktG aus55. c) Die Überwachung von Aufsichtsratsausschüssen Aufsichtsratsausschüsse haben das Aufsichtsratsplenum regelmäßig über ihre Arbeit zu unterrichten, um die Gefahr der Informationsasymmetrie zwischen Ausschuss und Plenum zu minimieren56. Dies stellt § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG klar. Hierbei handelt es sich um eine „Bringschuld“, die typischerweise durch den jeweiligen Ausschussvorsitzenden in der folgenden Aufsichtsratssitzung eingelöst wird57. Aus besonderen Gründen kann ausnahmsweise auch eine frühere Information der übrigen Aufsichtsratsmitglieder erforderlich werden. Im Regelfall ist eine mündliche Berichterstattung ausreichend. Den Aufsichtsratsmitgliedern im Plenum obliegt es wiederum darauf zu achten, dass die Berichtspflicht auch erfüllt wird, da ihre Überwachungsverantwortung nach § 111 Abs. 1 AktG hinsichtlich der „ausgelagerten“ Themen durch die Ausschusseinsetzung nicht beseitigt worden ist, sondern nur modifiziert wird58. Andernfalls haben sie dies beim Aufsichtsratsvorsitzenden zu monieren. Kommen die Ausschussmitglieder ihren Berichtspflichten gegenüber dem Aufsichtsratsplenum wider Erwarten trotz Aufforderung nicht ordnungsgemäß nach, wird sich der Aufsichtsrat mit der Frage befassen müssen, ob die Delegation rückgängig gemacht und die betreffenden Aufgaben an das Plenum zurück übertragen werden sollen, um die ausreichende Information aller Aufsichtsratsmitglieder sicherzustellen, damit sie ihre gesetzliche Überwachungsaufgabe ohne Einschränkungen wahrnehmen können59. 3. Die interne Überwachung a) Sicherung der Ordnungsmäßigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse Alle Aufsichtsratsmitglieder sind verpflichtet dafür zu sorgen, dass der Aufsichtsrat keine formell oder materiell fehlerhaften Beschlüsse oder sonst nachteiligen Entscheidungen trifft. Jedes Aufsichtsratsmitglied muss deshalb alles

__________ 55 Altmeppen, ZGR 2004, 390, 412; Bürgers/Israel (Fn. 9), § 116 Rz. 7; Kropff in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1023, 1035; Lieder, NZG 2005, 569, 574; E. Vetter, BB 2005, 1689, 1690. 56 Dazu frühzeitig bereits Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 299. 57 Vgl. Habersack (Fn. 2), § 107 Rz. 155; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 32 Rz. 23a; Maushake (Fn. 31), S. 546; Steinbeck (Fn. 9), S. 33; Strunk (Fn. 54), S. 294; Theisen, Information und Berichterstattung des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2007, S. 48; M. Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1125. 58 OLG Hamburg v. 29.9.1995 – 11 U 20/95, AG 1996, 84, 85; Dörner in FS Röhricht, 2005, S. 809, 818; Habersack (Fn. 2), § 107 Rz. 159; Huwer (Fn. 43), S. 299; Rellermeyer (Fn. 45), S. 33; eingehend Maushake (Fn. 31), S. 545 ff. 59 OLG Hamburg v. 29.9.1995 – 11 U 20/95, AG 1996, 84, 85; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 32 Rz. 3; Spindler (Fn. 2), § 107 Rz. 90; M. Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1125.

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Zumutbare unternehmen, um z. B. gesetz-, satzungswidrige oder sonst schädigende Aufsichtsratsbeschlüsse zu verhindern. Keinesfalls reicht es aus, wenn sich das Mitglied bei der Abstimmung in Anbetracht der dominierenden Mehrheitsmeinung im Aufsichtsrat nur der Stimme enthält. Seiner gesetzlichen Verantwortung zur Verfolgung des Unternehmensinteresses wird das Aufsichtsratsmitglied nur dann gerecht, wenn es seine Bedenken gegen den Beschlussantrag im Aufsichtsrat unmissverständlich vorträgt und seine Stimme gegen den Beschluss abgibt60. Zur Verhinderung eines fehlerhaften oder schädlichen Beschlusses durch Herbeiführung der Beschlussfähigkeit des z. B. nur aus 3 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrats ist es hingegen nicht verpflichtet61. Weitere Schritte können von einem Aufsichtsratsmitglied entgegen vereinzelten Stimmen im Schrifttum62 grundsätzlich nicht erwartet werden; insbesondere ist es nicht zur Niederlegung seines Aufsichtsratsmandats verpflichtet, falls der Aufsichtsrat den beantragten Beschluss ungeachtet der geäußerten Bedenken verabschiedet63. Nur ausnahmsweise bei schwerwiegenden Gesetzesverstößen oder wenn der Gesellschaft durch den fehlerhaften Aufsichtsratsbeschluss ein erheblicher Schaden droht64, besteht für das einzelne (überstimmte) Aufsichtsratsmitglied die Pflicht weitergehende Schritte und Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist etwa zu bejahen, wenn der Aufsichtsratsbeschluss oder seine Ausführung nach Ansicht des Aufsichtsratsmitglieds zu einer Verletzung von Strafgesetzen führt65; in diesem Fall ist es verpflichtet, umgehend den Aufsichtsratsvorsitzenden zur Veranlassung einer gesonderten rechtlicher Prüfung aufzufordern oder aber Klage gegen den Aufsichtsratsbeschluss zu erheben66. b) Überwachung der Ordnungsmäßigkeit der Aufsichtsratsarbeit Die Mitglieder des Aufsichtsrats trifft – vergleichbar der Situation beim Vorstand – eine wechselseitige Überwachungspflicht67. Jedes Aufsichtsratsmit-

__________

60 OLG Düsseldorf v. 22.6.1995 – 6 U 104/94, AG 1995, 416, 417 (ARAG/Garmenbeck); Edenfeld/Neufang, AG 1999, 49, 50; Habersack/Ulmer (Fn. 27), § 25 Rz. 119; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 33 Rz. 68; Hoffmann/Lehmann/Weinmann, MitbestG, 1978, § 25 Rz. 136; Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 994; Mertens (Fn. 10), § 116 Rz. 58; Spindler (Fn. 2), § 116 Rz. 34; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2625; a. A. LG Berlin v. 8.10.2003 – 101 O 80/02, ZIP 2004, 73, 76 (IBG – Bankgesellschaft Berlin). 61 Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 994; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2626. 62 Vgl. z. B. Zemplin, AcP 155 (1956), 209, 215. 63 Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 997; Mertens (Fn. 10), § 116 Rz. 12; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2627. 64 So im Hinblick auf fehlerhaftes Vorstandsverhalten z. B. Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 72; Raiser, ZGR 1989, 44, 65; Stodolkowitz, ZHR 154 (1990), 1, 17. 65 Ebenso Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2003, Rz. 520; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2626; vgl. z. B. auch schon RG v. 7.6.1939 – II 199/38, RGZ 161, 129, 139 (zur GmbH). 66 Habersack (Fn. 2), § 116 Rz. 38; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 33 Rz. 68; Mertens (Fn. 10), § 116 Rz. 58; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2626; unklar z. B. BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 248 (ARAG/Garmenbeck). 67 Bürgers/Israel (Fn. 9), § 116 Rz. 6; Habersack (Fn. 2), § 116 Rz. 34; Hopt/Roth (Fn. 2), § 116 Rz. 118.

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glied ist verpflichtet pflichtwidriges Verhalten von anderen Aufsichtsratsmitgliedern zu verhindern. Dazu hat es bei Kenntnis eines Fehlverhaltens oder entsprechenden ernst zu nehmenden Hinweisen in erster Linie den Aufsichtsratsvorsitzenden zu informieren. Als mitteilungspflichtige Vorgänge kommen z. B. die Verletzung der Pflicht zur Verschwiegenheit nach § 116 Abs. 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG68 oder Verstöße gegen die Treuepflicht des Aufsichtsratsmitglieds und die Pflicht zur Beachtung des Unternehmensinteresses und zur vertrauensvollen Zusammenarbeit in Betracht69. Bei pflichtwidrigem Verhalten eines Aufsichtsratsmitglieds muss ein Aufsichtsratsmitglied, das davon Kenntnis erlangt, als ultima ratio auch selbst aktiv werden und z. B. einen Beschluss des Aufsichtsrats zur Abberufung des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds gemäß § 103 Abs. 1 oder 3 AktG initiieren, falls der Aufsichtsratsvorsitzende keine Schritte unternimmt70. c) Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern gemäß §§ 114 und 115 AktG Verträge zwischen der Gesellschaft und den Mitgliedern ihres Aufsichtsrats über Dienst- und Werkleistungen sind nicht generell untersagt, sondern stehen, soweit der Vertragsgegenstand außerhalb der organschaftlichen Pflichtaufgaben des Aufsichtsrats liegt, nach § 114 Abs. 1 AktG unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Aufsichtsrats71. Entsprechendes gilt nach § 115 Abs. 1 AktG für Kredite, die die AG ihren Aufsichtsratsmitgliedern gewährt; sie bedürfen der Einwilligung des Aufsichtsrats. Beide Vorschriften wollen latenten Interessenkonflikten des Aufsichtsratsmitglieds und möglichen Gefahren für die Effizienz der Aufsichtsratskontrolle durch mangelnde Unabhängigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder begegnen72. Fraglich ist, ob der Aufsichtsrat insoweit zu proaktiven Maßnahmen z. B. zu regelmäßigen systematischen Anfragen bei allen Aufsichtsratsmitgliedern verpflichtet ist, ob entsprechende Verträge bestehen. Dies würde die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats deutlich überdehnen. Derartige Schritte hat der Aufsichtsrat ohne konkrete Anhaltspunkte keinesfalls einzuleiten. Zu berücksichtigen ist, dass an derartigen Verträgen zwangsläufig der Vorstand als Vertreter der AG beteiligt ist, so dass in einem Fehlverhalten eines Aufsichtsratsmitglieds zugleich auch ein Verstoß des Vorstands liegt. Der Aufsichtsrat muss davon ausgehen dürfen,

__________ 68 S. dazu z. B. OLG Stuttgart v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218, 219; Uwe H. Schneider/Nietsch in FS Westermann, 2008, S. 1447, 1465; zurückhaltend aber Hopt/Roth (Fn. 2), § 103 Rz. 67. 69 OLG Zweibrücken v. 28.5.1990 – 3 W 93/90, AG 1991, 70 (REWE-Südwest Handels AG); OLG Hamburg v. 23.1.1990 – 11 W 92/89, AG 1990, 218, 220 (HEW/Jansen); LG Frankfurt v. 14.10.1986 – 3/11 T 29/85, AG 1987, 160, 161; Uwe H. Schneider/ Nietsch in FS Westermann, 2008, S. 1447, 1466. 70 Habersack (Fn. 2), § 116 Rz. 35; Hopt/Roth (Fn. 2), § 116 Rz. 125; Mertens (Fn. 10), § 116 Rz. 11. 71 Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 33; Spindler (Fn. 2), § 114 Rz. 16; E. Vetter, ZIP 2008, 1, 7. 72 S. BGH v. 3.7.2006 – II ZR 151/04, BGHZ 168, 188, 192 (IFA); BGH v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056; Bürgers/Israel (Fn. 9), § 114 Rz. 1, § 115 Rz. 1; Hopt/ Roth (Fn. 2), § 115 Rz. 2; E. Vetter (Fn. 4), § 30 Rz. 1 und 19.

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dass der Vorstand die aktienrechtliche Kompetenzordnung beachten73 und dem gesetzlichen Mitwirkungsrecht des Aufsichtsrats nach §§ 114 und 115 AktG Rechnung tragen wird, indem er grundsätzlich vor Abschluss eines solchen Vertrages die Zustimmung des Aufsichtsrats beantragen wird. Im Übrigen sind derartige Vorgänge auch Gegenstand der Überprüfungen des Abschlussprüfers, der Revision oder des Compliance-Beauftragen. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss deshalb der Aufsichtsrat keine vorsorglichen Überprüfungsmaßnahmen ergreifen, ob relevante Verträge i. S. von §§ 114, 115 AktG vorliegen. Nach den Grundsätzen guter Corporate Governance wird man erwarten müssen, dass der Vertrag i. S. von § 114 AktG zwischen der Gesellschaft und dem Aufsichtsratsmitglied dem Aufsichtsrat bereits vor dem Vertragsabschluss zur Zustimmung vorgelegt wird, in jedem Fall aber innerhalb angemessener Frist74. Dem steht grundsätzlich nicht entgegen, dass die Zustimmung des Aufsichtsrats nach dem klaren Wortlaut von § 114 Abs. 2 Satz 1 AktG auch nachträglich erteilt werden kann. Dies darf jedoch nicht der Normalfall sein, vielmehr wird man in einer derartigen Situation für die erst nach Durchführung des Vertrags erfolgende Einschaltung des Aufsichtsrats eine besondere Sachlage oder Begründung verlangen müssen. Liegt z. B. kein Eilfall vor und handelt es sich auch nicht um die Genehmigung der Beauftragung bei regelmäßig wiederkehrenden Standardvorgängen, ist in der Regel kein Grund ersichtlich, die Entscheidung des Aufsichtsrats nach § 114 Abs. 1 AktG über die Beauftragung aufzuschieben und damit die Aufsichtsratsmitglieder bei der späteren Entscheidung über die Erteilung oder Versagung der Genehmigung einem gewissen „Loyalitätsdruck“ auszusetzen75. Im Übrigen spricht nichts dagegen, den Aufsichtsrat zumindest aber den Aufsichtsratsvorsitzenden im Sinne guter Corporate Governance umgehend über die Beauftragung zu informieren, so dass dieser in den Stand versetzt wird, gegebenenfalls eine frühzeitige Entscheidung des Aufsichtsrats herbeizuführen, um für alle Beteiligten endgültig Klarheit zu schaffen. d) Der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung Stehen in der Hauptversammlung Aufsichtsratswahlen an, hat der Aufsichtsrat nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG einen Wahlvorschlag vorzulegen, über den gemäß § 124 Abs. 3 Satz 4 AktG allein die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner Beschluss fassen. Bei den Vorschlägen ist nicht nur darauf zu achten, dass die zur Wahl vorgeschlagenen Personen die persönliche und fachliche Qualifikation erfüllen, über die sie für die verantwortliche Wahrnehmung des

__________ 73 S. bereits M. Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1121. 74 Habersack (Fn. 2), § 114 Rz. 27; Mertens (Fn. 10), § 114 Rz. 14; E. Vetter, ZIP 2008, 1, 8; großzügiger Happ in FS Priester, 2007, S. 175, 193; Müller, NZG 2002, 797, 801. 75 S. dazu im Einzelnen OLG Frankfurt v. 21.9.2005 – 1 U 14/05, AG 2005, 925, 927; OLG Frankfurt v. 15.2.2011 – 5 U 30/10, AG 2011, 256, 258 (Fresenius); vgl. zur Möglichkeit der nachträglichen Zustimmung z. B. E. Vetter, AG 2006, 173, 178; ders., ZIP 2008, 1, 8; kritisch Happ in FS Priester, 2007, S. 175, 191; Spindler (Fn. 2), § 114 Rz. 21.

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Aufsichtsratsamtes verfügen müssen76. Der Aufsichtsrat hat weiterhin bei den Personalvorschlägen die gesetzlichen Anforderungen für die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat (§ 100 Abs. 1, 2 und 5 AktG) einzuhalten. Die Befolgung dieser zwingenden gesetzlichen Vorgaben ist von ganz erheblicher Bedeutung, denn bei Missachtung dieser Vorgaben droht nach §§ 250, 251 AktG die Anfechtbarkeit oder die Nichtigkeit des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung.

III. Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Hinblick auf § 161 AktG 1. Die Compliance-Verantwortung hinsichtlich der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG a) Die Abgabe der jährlichen Entsprechenserklärung Zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats einer börsennotierten AG zählt unter anderem die Entsprechenserklärung, die nach § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG jährlich zu den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex abzugeben ist und die der Aufsichtsrat in der Praxis im Regelfall mit dem Vorstand als gemeinsame Erklärung abgibt77. In dieser Erklärung ist anzugeben, ob den Empfehlungen der Regierungskommission Corporate Governance Kodex entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewandt wurden und werden und gegebenenfalls warum nicht (Comply and Explain). Die Entsprechenserklärung enthält damit sowohl eine vergangenheitsbezogene Wissenserklärung als auch eine zukunftsgerichtete Absichtserklärung78. Für die inhaltliche Richtigkeit der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG sind, wie der BGH im Jahre 2009 klargestellt hat, unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit für die Befolgung der einzelnen Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex grundsätzlich beide Organe verantwortlich79. Der Aufsichtsrat hat demgemäß zum einen zu prüfen, ob die Entsprechenserklärung bezüglich der vom Vorstand anerkannten Kodex-Empfehlungen korrekt ist. Zum anderen hat er sich, soweit die eigene Compliance in Rede steht, zu vergewissern, dass die Erklärung zu den den Aufsichtsrat bzw. seine Mitglieder betreffenden und anerkannten Empfehlungen inhaltlich den

__________ 76 S. z. B. Dreher in FS Boujong, 1996, S. 71 ff.; Schwark (Fn. 43), S. 75, 103. 77 Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 4. Aufl. 2010, Rz. 1529; Seibt, AG 2002, 249, 253; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 161 Rz. 19; E. Vetter, DNotZ 2003, 748, 755. 78 Berg/Stöcker, WM 2002, 1569, 1573; Hanfland, Haftungsrisiken im Zusammenhang mit § 161 AktG und dem Deutschen Corporate Governance Kodex 2007, S. 111; Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 366; Peltzer, NZG 2002, 593, 594; E. Vetter, DNotZ 2003, 748, 755. 79 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9, 24 (Leo Kirch/Deutsche Bank); s. dazu z. B. Mutter, ZGR 2009, 788; E. Vetter, NZG 2009, 561; Goslar/von der Linden, DB 2009, 1691.

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Tatsachen entspricht und keine falschen Angaben enthält80. In Erfüllung dieser Aufgabe hat der Aufsichtsrat zu entscheiden, welchen der für seinen Verantwortungsbereich geltenden Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex Folge geleistet werden soll und welchen nicht. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die Kodex-Empfehlungen in der Vergangenheit wie in der aktuellen Entsprechenserklärung angegeben auch tatsächlich beachtet wurden. Jedes Aufsichtsratsmitglied ist verpflichtet mitzuteilen, wenn ihm bekannt ist, dass Kodex-Empfehlungen in der Vergangenheit nicht beachtet wurden, damit die Abgabe einer falschen Erklärung vermieden wird81. Zur aktiven Nachforschung über die Einhaltung der vom Aufsichtsrat anerkannten Empfehlungen ist es jedoch nicht verpflichtet82. Die Entscheidung über die Abgabe der Entsprechenserklärung liegt nach der Natur der Sache allein beim Aufsichtsratsplenum, auch wenn sich dies nicht aus dem Wortlaut von § 161 AktG ableiten lässt; eine Delegation an einen Ausschuss kommt nicht in Betracht83. b) Die Pflicht zur Aktualisierung der Entsprechenserklärung Die ursprünglich umstrittene Frage, ob nach Abgabe der jährlichen Entsprechenserklärung eine unterjährige Aktualisierungspflicht bei Abweichungen gegenüber dem erklärten Verhalten besteht, ist seit dem Jahre 2009 höchstrichterlich geklärt84. Entschließt sich der Aufsichtsrat eine anerkannte KodexEmpfehlung nicht länger einzuhalten, so ist er nach § 161 AktG verpflichtet für die unverzügliche Änderung der Entsprechenserklärung und deren Bekanntmachung zu sorgen85. Sollte ein Aufsichtsratsmitglied davon erfahren, dass die abgegebene Entsprechenserklärung von Anfang an falsch war, hat es auf eine Korrektur der Entsprechenserklärung zu drängen. Aber auch wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Missachtung von in der Entsprechenserklärung anerkannten Kodex-Empfehlungen vorliegen, darf das betreffende Mitglied nicht untätig bleiben und die Erkenntnisse einfach für sich behalten86. Es muss vielmehr auf Klärung drängen oder den Vorsitzenden des Aufsichtsrats unterrichten, damit dieser aktiv werden kann87.

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80 Ihrig/Wagner, BB 2002, 2509, 2511; Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 370; Bertrams, Die Haftung im Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex und § 161 AktG, 2004, S. 137; a. A. Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1272. 81 Hüffer (Fn. 2), § 161 Rz. 14; Sester in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 161 Rz. 14; Spindler (Fn. 77), § 161 Rz. 28. 82 Spindler (Fn. 77), § 161 Rz. 28; E. Vetter, NZG 2009, 561, 563; ebenso wohl Krieger, FS Ulmer, 2003, S. 365, 372; Hanfland (Fn. 78), S. 194. 83 Hüffer (Fn. 2), § 161 Rz. 13; Sester (Fn. 81), § 161 Rz. 18; E. Vetter in Henssler/ Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 161 AktG Rz. 15; a. A. Ihrig/Wagner, BB 2002, 2509, 2513. 84 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9, 24 (Leo Kirch/Deutsche Bank); BGH v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, AG 2009, 824 (Umschreibungsstop). 85 Sester (Fn. 81), § 161 Rz. 50; Spindler (Fn. 77), § 161 Rz. 43; E. Vetter (Fn. 83), § 161 Rz. 18. 86 Weitergehend zu den Verhaltenspflichten des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds LG Bielefeld v. 16.11.1999 – 15 O 91/98, ZIP 2000, 20, 23 (Balsam AG); mit zustimmender Anmerkung Westermann, ZIP 2000, 27, 26. 87 E. Vetter, NZG 2009, 561, 563.

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2. Die Compliance-Verantwortung hinsichtlich der Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex zum Aufsichtsrat Ein ausdrücklicher Schwerpunkt der Kodex-Empfehlungen liegt auf dem Aufsichtsrat. Seine innere Ordnung und seine Tätigkeit sind Gegenstand einer Vielzahl von Empfehlungen. Ob der Aufsichtsrat den einzelnen Empfehlungen Folge leisten will oder nicht, hat er in eigener Verantwortung zu entscheiden. Soweit in der Entsprechenserklärung die Beachtung von Kodex-Empfehlungen bekannt gemacht worden ist, hat der Aufsichtsrat dafür zu sorgen, dass diese Empfehlungen beachtet werden oder andernfalls unverzüglich die Abweichung von der betreffendes Empfehlung verlautbart wird. Das Interesse des Aufsichtsrats hat sich dabei vor allem auf diejenigen Empfehlungen zu konzentrieren, bei denen im Verlauf des Geschäftsjahres Veränderungen eintreten können oder die laufend besondere Aufmerksamkeit oder sogar ein Tätigwerden des Aufsichtsrats verlangen. Der Fokus liegt damit auf folgenden Empfehlungen: a) Einsetzung von Aufsichtsratsausschüssen Ziffer 5.3.1 Deutscher Corporate Governance Kodex empfiehlt in Abhängigkeit von der Größe des Aufsichtsrats und in Abhängigkeit von den spezifischen Gegebenheiten des Unternehmens die Bildung von fachlich qualifizierten Ausschüssen. Nach Ziffer 5.3.2 Deutscher Corporate Governance Kodex soll z. B. ein Prüfungsausschuss eingesetzt werden, der sich mit Fragen der Rechnungslegung, des Risikomanagements und der Compliance, der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags und der Honorarfestlegung sowie der Festlegung der Prüfungsschwerpunkte befasst. Ziffer 5.3.3 Deutscher Corporate Governance Kodex empfiehlt darüber hinaus die Einrichtung eines Nominierungsausschusses zur Vorbereitung der Entscheidung des Aufsichtsratsplenums88 über die Beschlussvorschläge des Aufsichtsrats gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG für die von der Hauptversammlung vorzunehmende Wahl der Aufsichtsratsmitglieder89. Hat der Aufsichtsrat gemäß dieser Kodex-Empfehlung entsprechende Ausschüsse gebildet, hat er dafür zu sorgen, dass ihnen Mitglieder mit der jeweils erforderlichen Qualifikation sowie in der notwendigen Anzahl angehören. Andernfalls hat der Aufsichtsrat die unverzügliche Änderung der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG zu veranlassen. b) Wahlvorschläge an die Hauptversammlung Gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Hauptversammlung einen Wahlvorschlag vorzulegen, der in der Bekanntmachung der Tagesordnung anzugeben ist. Versäumt der

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88 Im mitbestimmten Aufsichtsrat sind nur die Mitglieder der Anteilseigner zur Entscheidung aufgerufen, § 124 Abs. 3 Satz 5 AktG. 89 Vgl. Meder, ZIP 2007, 1538 ff.; E. Vetter (Fn. 4), § 28 Rz. 37.

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Aufsichtsrat die Unterbreitung eines Wahlvorschlags, ist die Bekanntmachung der Tagesordnung fehlerhaft, mit der Folge, dass ein von der Hauptversammlung gleichwohl gefasster Beschluss nach herrschender Ansicht nicht nichtig, aber anfechtbar ist90. Dies zeigt, dass der ordnungsgemäßen Bekanntmachung des Wahlvorschlags des Aufsichtsrats als wichtige Informationsgrundlage der Hauptversammlung wesentliche Bedeutung zukommt. Der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG beruht auf einem entsprechenden Beschluss, der nach § 124 Abs. 3 Satz 4 AktG allein von den Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner getroffen wird. Für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder durch die Hauptversammlung enthält der Kodex eine ganze Reihe von Empfehlungen inhaltlicher und förmlicher Art (Ziffern 5.3.3, 5.4.1, 5.4.2, 5.4.3, 5.4.4 und 5.4.5)91. Hat der Aufsichtsrat deren Befolgung in der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG bekanntgegeben, haben alle Aufsichtsratsmitglieder – wegen ihrer Verantwortung für die Corporate Compliance auch die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer – darauf zu achten, dass der Wahlvorschlag den anerkannten Kodex-Empfehlungen entspricht. Andernfalls haben sie dafür zu sorgen, dass die Entsprechenserklärung unverzüglich korrigiert wird92. Im mitbestimmten Aufsichtsrat sind die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach § 124 Abs. 3 Satz 5 AktG nicht am Beschluss über den Wahlvorschlag an die Hauptversammlung beteiligt. Dies ändert jedoch nichts an ihrer Verantwortung für die Beachtung der Anforderungen des § 161 AktG hinsichtlich der anerkannten Kodex-Empfehlungen. c) Interessenkonflikte Der Umgang mit Interessenkonflikten ist ein wichtiges Anliegen des Kodex, wie sich schon daraus ablesen lässt, dass diesem Thema sowohl bei der Regelung des Vorstands wie auch des Aufsichtsrats jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die Empfehlung in Ziffer 5.5.2 Deutscher Corporate Governance Kodex sieht vor, dass jedes Aufsichtsratsmitglied Interessenkonflikte, insbesondere solche, die auf Grund einer Beratung oder Organfunktion bei Kunden, Lieferanten, Kreditgebern oder sonstigen Geschäftspartnern entstehen können, dem Aufsichtsrat gegenüber offenlegen soll. Es handelt sich dabei um eine beispielhafte

__________ 90 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 49/01, BGHZ 153, 32, 37; BGH v. 12.12.2005 – II ZR 253/03, NZG 2006, 191, 193; auch Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 30 Rz. 15; Werner in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1993, § 124 Rz. 100; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 124 Rz. 71. 91 S. dazu im Einzelnen E. Vetter in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1345, 1349. 92 Die Rechtsfolgen eines Hauptversammlungsbeschlusses, der auf Wahlvorschlägen beruht, die in Widerspruch zur Entsprechenserklärung stehen, sind umstritten, vgl. einerseits E. Vetter in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1345, 1357 ff.; andererseits Hüffer in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 63, 68 ff., jeweils m. w. N.; s. auch die Andeutungen von Goette in FS Hüffer, 2010, S. 225, 231, 234; ders., GWR 2009, 459, 451.

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Aufzählung, so dass jeder einzelfallbezogene wie auch jeder dauerhafte Interessenkonflikt erfasst wird93. Die Empfehlung beruht auf dem Gedanken der Prävention durch Transparenz. Deshalb sind offenkundige institutionelle Interessenkonflikte eines Aufsichtsratsmitglieds, wie z. B. die des (gesetzlichen) Vertreters des herrschenden Unternehmens nicht separat anzugeben, denn dessen Rolle ist im Aufsichtsrat zwangsläufig allseits bekannt. Zu weit geht jedoch die Annahme, die Offenlegungspflicht entfalle generell, sofern der Interessenkonflikt bereits nach gesetzlichen Vorschriften offengelegt oder im Aufsichtsrat bekannt ist. Nicht jede Angabe über anderweitige Mandate eines Aufsichtsratsmitglieds, die gemäß § 285 Nr. 10 HGB anzugeben sind, können als präsentes Wissen des Aufsichtsrats bezeichnet werden94. Dies lässt sich auch dem Wortlaut von Ziffer 5.5.2 Deutscher Corporate Governance Kodex nicht entnehmen. Der Handlungsbedarf bestimmt sich nach dem konkreten Einzelfall; im Zweifel ist er zu bejahen. Eine (explizite) Offenlegung ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn das Aufsichtsratsmitglied z. B. gesetzlicher Vertreter eines Geschäftspartners (z. B. der Hausbank oder des Hauptzulieferers) ist und der Aufsichtsrat über Geschäfte gerade mit diesen Parteien entscheiden soll95. Die Rechtspflicht des Aufsichtsratsmitglieds zur Offenlegung von Interessenkonflikten ist im Übrigen unabhängig von der Kodex-Empfehlung zu bejahen; sie ergibt sich bereits aus der Treuepflicht des Aufsichtsratsmitglieds96. Das von einem Interessenkonflikt betroffene Aufsichtsratsmitglied hat den Konflikt gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden offenzulegen, wenn erkennbar ist, dass er Auswirkungen auf die Beratungen und Beschlüsse des Aufsichtsrats haben könnte, denn der Aufsichtsrat muss frühzeitig in den Stand versetzt werden, das Konfliktpotential zu beurteilen, um rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen für eine unbefangene Beratung und Beschlussfassung des Aufsichtsrats treffen zu können97. Es liegt dann in den Händen des Aufsichtsratsvorsitzenden zu prüfen, ob das Aufsichtsratsmitglied einem Teilnahme- und/oder Stimmverbot unterliegt oder ob ihm unter dem Gesichtspunkt der Besorgnis der Befangenheit die Stimmenthaltung empfohlen werden soll und ob weitere Maßnahmen wie z. B. der punktuelle Ausschluss vom aufsichtsratsbezogenen Informationsfluss geboten sind. Dabei ist nicht nur zu beachten, dass das AktG einen generellen Stimmrechtsausschluss für Aufsichtsratsmitglieder im Falle eines Interessenkonflikts nicht kennt98, sondern darüber hinaus grundsätzlich auch von einer Rechtspflicht des Aufsichtsratsmit-

__________ 93 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 4. Aufl. 2010, Rz. 1122; E. Vetter (Fn. 4), § 27 Rz. 67. 94 A. A. Kremer (Fn. 93), Rz. 1126. 95 Ebenso Lutter in FS Canaris, 2007, S. 245, 253. 96 Habersack (Fn. 2), § 100 Rz. 69; Leyens (Fn. 43), S. 246; Lutter in FS Priester, 2007, S. 417, 420; Seibt in FS Hopt, 2010, S. 1363, 1370; E. Vetter (Fn. 4), § 29 Rz. 27. 97 Kort, ZIP 2008, 717, 724; Theisen (Fn. 57), S. 63; s. auch Deckert, DZWir 1996, 406, 409 ff.; Seibt in FS Hopt, 2010, S. 1363, 1372 ff. 98 OLG München v. 13.10.2005 – 23 U 1949/05, AG 2006, 337, 338; Drygala (Fn. 9), § 108 Rz. 14; Habersack (Fn. 2), § 108 Rz. 29; Spindler (Fn. 2), § 108 Rz. 26.

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glieds zur Teilnahme an der Aufsichtsratssitzung, zur Mitarbeit und zur Stimmabgabe ausgeht99. Gegebenenfalls kann dem Interessenkonflikt durch Einsetzung eines Aufsichtsratsausschusses begegnet werden, dem das betreffende Aufsichtsratsmitglied nicht angehört100. Dies ist etwa der Fall, wenn die Gesellschaft Ziel eines Übernahmeangebots ist und ihrem Aufsichtsrat Vertreter des Bieters angehören, die bei der Beratung über eventuelle Abwehrmaßnahmen und die Beschlussfassung über die Stellungnahme gemäß § 27 WpÜG einem Stimmverbot unterliegen101. Eine vergleichbare Situation ist gegeben, wenn es um Zustimmungsbeschlüsse des Aufsichtsrats zur Kreditvergabe an ein Aufsichtsratsmitglied nach § 115 AktG oder zu einem Beratungsvertrag nach § 114 AktG geht. In der Praxis wird derartigen Interessenkonflikten typischerweise dadurch begegnet, dass diese Aufgaben einem Ausschuss (Präsidium oder Personalausschuss) zugewiesen werden. In der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats kann darüber hinaus Vorsorge für den Fall getroffen werden, dass ein Ausschussmitglied selbst betroffen ist, indem an seine Stelle ein anderes Aufsichtsratsmitglied in den Ausschuss einrückt102. Die Neutralisierung des von Interessenkonflikten betroffenen Aufsichtsratsmitglieds bei Entscheidungen des Aufsichtsrats ist von erheblichem Gewicht. Sie trägt in aller Regel zur besseren generellen Akzeptanz der Entscheidung des Aufsichtsrats bei. Bei unternehmerischen Entscheidungen ist umstritten, ob die Beteiligung eines befangenen Aufsichtsratsmitglieds an der Beschlussfassung verhindert, dass sich die übrigen Aufsichtsratsmitglieder, falls sich der Beschluss als Fehlentscheidung erweisen sollte, bei Fragen ihrer persönlichen Haftung nach §§ 116, 93 Abs. 2 AktG auf die Privilegierung nach den Grundsätzen der Business Judgement Rule gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen können103. Deshalb ist auch aus diesem Grund die Neutralisierung des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds geboten. Ist der Interessenkonflikt eines Aufsichtsratsmitglieds nicht nur von vorübergehender Art sondern dauerhafter Natur, sieht Ziffer 5.5.3 Satz 2 Deutscher Corporate Governance Kodex vor, dass das Aufsichtsratsmitglied aus dem Auf-

__________ 99 Habersack (Fn. 2), § 116 Rz. 31; Hopt/Roth (Fn. 2), § 108 Rz. 50; Mülbert in Feddersen/Hommelhoff/Uwe H. Schneider, Corporate Governance, 2002, S. 99, 119; Steinbeck (Fn. 9), S. 62; E. Vetter, DB 2004, 2623, 2625. 100 Kort, ZIP 2008, 717, 724; Kremer (Fn. 93), Rz. 1130. 101 Hopt/Roth (Fn. 2), § 100 Rz. 178; E. Vetter in FS Hopt, 2010, S. 2657, 2673; ebenso wohl Möllers, ZIP 2006, 1615, 1618; a. A. Drinkuth in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 60 Rz. 154; Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 27 WpÜG Rz. 13; kritisch gegenüber Ausschussbildung aber z. B. Leyens (Fn. 43), S. 422. 102 Marsch-Barner in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 12 Rz. 179; Matthießen, Stimmrecht und Interessenkollision im Aufsichtsrat, 1989, S. 363. 103 Für generellen Verlust der Privilegierung aller Aufsichtsratsmitglieder z. B. Lutter in FS Canaris, 2007, S. 245, 254; Marsch-Barner (Fn. 102), § 12 Rz. 178; a. A. Blasche, AG 2010, 692, 698; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 29 jeweils zum Vorstand.

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sichtsrat ausscheidet. Allerdings bedarf es dazu eines Konflikts mit „breitflächiger Auswirkung auf weite Teile der Organtätigkeit“104. Einem isolierten Konflikt mit beschränkten Auswirkungen kann und muss mit milderen Mitteln begegnet werden105. Sofern es nicht zum freiwilligen Rückzug bereit ist, ist der Aufsichtsrat im Unternehmensinteresse verpflichtet, den Ausschluss des Aufsichtsratsmitglieds durch einen Antrag an das Gericht gemäß § 103 Abs. 3 AktG zu betreiben106. Aus Anlass des Falles Continental/Schaeffler ist in diesem Zusammenhang jedoch klarzustellen, dass auch der denkbare grundsätzliche Interessenkonflikt eines Vertreters der Muttergesellschaft im Aufsichtsrat der Tochtergesellschaft von dieser Kodex-Empfehlung nicht erfasst wird107. d) Evaluation der Aufsichtsratsarbeit Nach Ziffer 5.6 Deutscher Corporate Governance Kodex soll der Aufsichtsrat regelmäßig seine Tätigkeit einer Effizienzprüfung unterziehen. Hat der Aufsichtsrat die Beachtung dieser Kodex-Empfehlung anerkannt, muss er dafür sorgen, dass von Zeit zu Zeit eine Überprüfung der Aufsichtsratstätigkeit stattfindet. Zu Häufigkeit und Form dieser Überprüfung fehlt es an allgemein anerkannten Grundsätzen, deshalb steht dem Aufsichtsrat ein weiter Spielraum offen, wie er dieser Empfehlung nachkommt108. Alle Aufsichtsratsmitglieder sind jedoch verantwortlich dafür, dass diese Aufgabe innerhalb einer Amtszeit mindestens zwei- oder dreimal stattfindet. Soweit der Aufsichtsratsvorsitzende keine Anstrengungen unternimmt, ist jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, auf die Erfüllung von Ziffer 5.6 Deutscher Corporate Governance Kodex zu drängen. Andernfalls ist eine Änderung der Entsprechenserklärung erforderlich.

IV. Die Aufsichtsratsberichterstattung an die Hauptversammlung und die Einflüsse des Deutschen Corporate Governance Kodex Der Aufsichtsrat hat der Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 AktG über die von ihm im abgelaufenen Geschäftsjahr wahrgenommene Überwachung der Geschäftsführung und die Prüfung des Jahresabschlusses und, soweit es sich bei der Gesellschaft um die Spitze eines Konzerns handelt, auch über die Prü-

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104 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9, 23 (Leo Kirch/Deutsche Bank); Lutter/ Krieger (Fn. 2), Rz. 927. 105 E. Vetter, NZG 2009, 561, 566. 106 S. dazu Deckert, DZWir 1996, 406, 410; Habersack (Fn. 2), § 103 Rz. 42; Lutter/ Krieger (Fn. 2), Rz. 900; Uwe H. Schneider/Nietsch in FS Westermann, 2008, S. 1447, 1463. 107 S. dazu Bürgers/Schilha, AG 2010, 221, 225; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1982; gegen LG Hannover v. 12.3.2009 – 21 T 2/09, AG 2009, 341 (Continental/Schaeffler); LG Hannover v. 17.3.2010 – 23 O 124/09, ZIP 2010, 833, 837. 108 S. z. B. E. Vetter (Fn. 4), § 27 Rz. 84; Theisen (Fn. 57), S. 65; v. Werder in Ringleb/ Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 4. Aufl. 2010, Rz. 1153.

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fung des Konzernabschlusses zu berichten109. Der Bericht ist schriftlich zu erstatten und hat nach § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG sowohl die Art als auch den Umfang der Überwachung mitzuteilen. Der Bericht muss gemäß § 171 Abs. 2 Satz 3 AktG ausdrücklich auf das Ergebnis der Prüfung durch den Abschlussprüfer eingehen. 1. Gesetzliche Anforderungen an den Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG Der Bericht des Aufsichtsrats soll die Aktionäre über die Wahrnehmung der Aufsichts- und Kontrollfunktion des Aufsichtsrats im Allgemeinen und speziell im Hinblick auch auf die für die Entscheidung der Hauptversammlung wesentlichen Gesichtspunkte (Jahresabschluss und Lagebericht, gegebenenfalls Konzernabschluss und Konzernlagebericht sowie Gewinnverwendungsvorschlag) unterrichten. Ihm kommt, wie der II. Senat des BGH erst jüngst zu Recht ausgeführt hat110, doppelte Funktion zu. Er informiert die Aktionäre nicht nur über das Ergebnis der Prüfung des Aufsichtsrats hinsichtlich der vom Vorstand beschlossenen Verträge und vorgelegten Berichte, sondern er bildet auch den Rechenschaftsbericht des Aufsichtsrats über seine im Berichtsjahr gegenüber dem Vorstand ausgeübte Überwachungstätigkeit111. Demgemäß muss der Bericht den Aktionären ein realistisches und nachvollziehbares Bild über die vom Aufsichtsrat durchgeführten Überwachungsaktivitäten vermitteln112. Für börsennotierte Gesellschaften schreibt § 171 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AktG zusätzliche Pflichtangaben im Aufsichtsratsbericht vor. Der Aufsichtsrat hat danach nicht nur die von ihm eingesetzten Aufsichtsratsausschüsse zu nennen, sondern jeweils auch die Zahl der Sitzungen des Aufsichtsratsplenums sowie seiner Ausschüsse anzugeben. 2. Anforderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex an den Aufsichtsratsbericht Über die gesetzlichen Anforderungen hinaus enthält der Deutsche Corporate Governance Kodex für den Aufsichtsratsbericht weitergehende Vorgaben. a) Ziffer 5.4.7 Deutscher Corporate Governance Kodex Nach der Empfehlung in Ziffer 5.4.7 Deutscher Corporate Governance Kodex soll im Bericht des Aufsichtsrates angegeben werden, wenn ein Aufsichtsrats-

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109 S. dazu z. B. Liese/Theusinger, BB 2007, 2528; Lutter, AG 2008, 1; Sünner, AG 2008, 411; E. Vetter, ZIP 2006, 257, 258. 110 BGH v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, AG 2010, 632, 634; OLG Stuttgart v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, AG 2006, 2006, 379 (RTV); OLG Hamburg v. 12.1.2001 – 11 U 162/00, AG 2001, 359, 362 (Spar Handels-AG); LG München I v. 10.3.2005 – 5HK 0 18110/04, AG 2005, 408 (Para). 111 Ebenso bereits Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 Rz. 146; E. Vetter, ZIP 2006, 257, 258; Lutter, AG 2008, 1. 112 BGH v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, AG 2010, 632, 634; Lutter, AG 2008, 1, 5; Theisen (Fn. 57), S. 249 ff.; E. Vetter, ZIP 2006, 257, 258.

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mitglied an weniger als der Hälfte der Sitzungen des Aufsichtsrates persönlich teilgenommen hat. Die Regelung hat im Wesentlichen präventiven verhaltenssteuernden Charakter113. Ihr kommt aber in der Hauptversammlung auch für die Frage der Entlastung und erst recht im Fall der Neuwahl des Aufsichtsrats Bedeutung zu. b) Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex Besondere Aufmerksamkeit hat jüngst Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex erfahren. Danach soll in dem Aufsichtsratsbericht nach § 171 Abs. 2 AktG gegenüber der Hauptversammlung auch über im Aufsichtsrat aufgetretene Interessenkonflikte und deren Behandlung informiert werden. Hat der Aufsichtsrat in der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG angegeben die Empfehlung von Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex zu beachten, hat er die zusätzlichen Angaben in den Aufsichtsratsbericht aufzunehmen, sofern im Berichtszeitraum entsprechende Interessenkonflikte aufgetreten sind. Die zusätzlichen Berichtsangaben sind nicht nur für die Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung relevant, sondern können auch bei Aufsichtsratswahlen besondere Bedeutung erlangen114. Die Empfehlung von Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex steht im Spannungsfeld mit dem Gebot der Vertraulichkeit, das für die Vorgänge im Aufsichtsrat, insbesondere für die Beratungen und Abstimmungen gilt und das § 116 Satz 2 AktG ausdrücklich betont115. Dies kann bei der Anwendung von Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex nicht unbeachtet bleiben. 3. Die jüngste Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Aufsichtsratsbericht und Kodex- Empfehlungen Während beim Umgang mit der Empfehlung von Ziffer 5.4.7 Deutscher Corporate Governance Kodex keine praktischen Probleme bekannt sind, lässt sich dies bei der Empfehlung von Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex nicht in gleicher Weise feststellen. Sie weist in der Unternehmenspraxis einen relativ hohen Akzeptanzgrad auf116. Dies konnte gleichwohl nicht verhindern, dass die Kodex-Regelung im Jahre 2009 in zwei Fällen Gegenstand von Entscheidungen des BGH gewesen ist. Sowohl im Fall Leo Kirch ./. Deutsche Bank AG als auch im Fall der Axel Springer AG hatte der Aufsichtsrat versäumt, im nach § 171 Abs. 2 AktG der Hauptversammlung vorzulegenden Bericht gemäß der Empfehlung von Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Gover-

__________ 113 Vgl. Kremer (Fn. 93), Rz. 1088. 114 Vgl. Kremer (Fn. 93), Rz. 1138; kritisch Peltzer in FS Priester, 2007, S. 573, 588; s. auch E. Vetter (Fn. 4), § 26 Rz. 58. 115 Drygala (Fn. 9), § 171 Rz. 15; Hoffmann-Becking (Fn. 4), § 33 Rz. 51; Hüffer (Fn. 2), § 116 Rz. 6. 116 S. v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853, 857.

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nance Kodex über im Aufsichtsrat entstandene Interessenkonflikte und ihre Behandlung zu berichten. Der BGH hat dieses Defizit der Entsprechenserklärung als Versäumnis in einem nicht unwesentlichen Punkt qualifiziert und deshalb der Anfechtungsklage jeweils stattgegeben und die Entlastungsbeschlüsse der Hauptversammlung der Mitglieder des Aufsichtsrats wegen Verstoßes gegen § 161 AktG für nichtig erklärt117. 4. Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats im Bezug auf Ziffer 5.5.3 Deutscher Corporate Governance Kodex Hat der Aufsichtsrat die Beachtung von Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex anerkannt, so ist er zur Bekanntgabe von im Aufsichtsrat aufgetretenen Interessenkonflikten verpflichtet und hat auch anzugeben, wie das betroffene Aufsichtsratsmitglied bzw. der Aufsichtsrat mit dem Konflikt umgegangen ist. Die denkbaren Reaktionen sind vielfältig und reichen von der Stimmenthaltung oder dem Fernbleiben von den Beratungen und der Abstimmung über das Stimmverbot bis zur Amtsniederlegung oder dem Ausschluss des Aufsichtsratsmitglieds. Anzugeben sind z. B. Geschäfte mit Aufsichtsratsmitgliedern i. S. von §§ 114, 115 AktG oder die Entsendung eines Aufsichtsratsmitglieds in den Vorstand gemäß § 105 Abs. 2 AktG. Typische Interessenkonflikte, über die zu berichten ist, sind weiterhin Geschäfte, die die börsennotierte AG – oder eine der Konzerngesellschaften – mit einem Unternehmen abgeschlossen hat, an dem ein Aufsichtsratsmitglied persönlich beteiligt ist oder bei dem es Organfunktionen wahrnimmt. Ebenfalls angabepflichtig sind Themen der AG, über die der Aufsichtsrat beraten hat, z. B. Vorgänge, die Regressansprüche der AG gegen ein Aufsichtsratsmitglied auslösen können118, Rechtsstreite der AG mit einem Unternehmen, dessen Vertreter dem Aufsichtsrat der AG angehört sowie Prozesse, die die Zusammensetzung des Aufsichtsrats betreffen119. Zweifelsfrei von der Angabepflicht nach Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex erfasst ist auch der Fall eines Übernahmeangebots an die Aktionäre der AG, bei dem ein Aufsichtsratsmitglied Organfunktionen beim Bieter innehat120. Fraglich ist, welche Angabepflichten bestehen, falls die AG ein abhängiges Unternehmen ist und ihrem Aufsichtsrat ein Vertreter des herrschenden Unternehmens angehört. Der Schutz der abhängigen AG wie auch der außenstehenden Aktionäre wird im Fall des faktischen Konzerns vorrangig durch die

__________ 117 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9, 24 (Leo Kirch/Deutsche Bank); BGH v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, AG 2009, 824 (Umschreibungsstop); OLG Frankfurt v. 20.10.2010 – 23 U 121/08, AG 36, 45 (Leo Kirch/Deutsche Bank); ebenso zuvor bereits E. Vetter, ZIP 2006, 257, 264. 118 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, BGHZ 180, 9, 24 (Leo Kirch/Deutsche Bank); Lutter/Krieger (Fn. 2), Rz. 593. 119 LG München I v. 22.12.2005 – 5HK O 9885/05, ZIP 2006, 952 (HypoVereinsbank); Lutter, AG 2008, 1, 9; E. Vetter, ZIP 2006, 952, 953. 120 S. dazu z. B. Hopt, ZGR 2002, 333, 371; E. Vetter in FS Hopt, 2010, S. 2657 ff.

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§§ 311 ff. AktG geleistet. Dabei bilden der Abhängigkeitsbericht, seine Prüfung durch den Aufsichtsrat und Abschlussprüfer sowie die besonderen Berichtspflichten, die nach § 314 Abs. 2 und 3 AktG für den Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung zu beachten sind121, die maßgeblichen Schutzelemente. Der Gesetzgeber hat den unterschiedlichen Interessen der beteiligten Unternehmen einerseits und den (außenstehenden) Aktionären andererseits Rechnung getragen und bestimmt, dass der Abhängigkeitsbericht nicht insgesamt offengelegt wird122. Im Hinblick darauf wie auch auf das generelle Gebot der Vertraulichkeit, das hinsichtlich der Vorgänge im Aufsichtsrat zu beachten ist, lässt sich nicht erkennen, dass die Kodex-Empfehlung über die gesetzlichen Transparenzvorgaben hinausgehen will. Unter Berücksichtigung der bestehenden konzernrechtlichen Schutzprinzipien wird man deshalb Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex einschränkend auszulegen haben, so dass für im Aufsichtsrat aufgetretene spezielle konzernbedingte Interessenkonflikte in der Person des Vertreters des herrschenden Unternehmens keine Angabepflicht ausgelöst wird123. Für rein persönliche Interessenkonflikte des Vertreters des herrschenden Unternehmens (z. B. §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 114, 115 AktG) gelten jedoch keine Besonderheiten. Im Parallelfall des Vertragskonzerns wird man gleichfalls vom Entfall der Angabepflicht konzernbedingter Interessenkonflikte in der Person des Vertreters des herrschenden Unternehmens auszugehen haben. Die Schutzfunktion zugunsten der abhängigen AG und der außenstehenden Aktionäre wird im Vertragskonzern durch die §§ 304 und 305 AktG wahrgenommen, so dass es angesichts der im Weisungsrecht nach § 308 Abs. 2 und Abs. 3 AktG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Justierung der jeweiligen widerstreitenden Interessen besonderer Angaben über konzernbedingte Interessenkonflikte des Vertreters des herrschenden Unternehmens, wie sie Ziffer 5.5.3 Satz 1 Deutscher Corporate Governance Kodex vorsieht, nicht bedarf. Ausgehend vom Regelungsziel dieser Kodex-Empfehlung wird man deshalb auch hier eine einschränkende Auslegung vornehmen müssen.

V. Fazit Corporate Compliance ist eine zentrale Aufgabe und Verantwortung des Vorstands. In vielen Unternehmen ist die Überwachung der Corporate Compliance typischerweise dem vom Aufsichtsrat nach § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG gebildeten Prüfungsausschuss als institutionelle Aufgabe zugewiesen124. Dies ent-

__________ 121 E. Vetter, ZIP 2006, 257, 259; siehe darüber hinaus die Angabepflicht im Lagebericht nach § 312 Abs. 3 Satz 3 AktG hinsichtlich der Schlusserklärung des Vorstands. 122 S. z. B. Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 312 Rz. 10; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 312 Rz. 4. 123 E. Vetter, NZG 2009, 561, 565. 124 S. E. Vetter, ZGR 2010, 751, 777; Kremer (Fn. 93), Rz. 992a; Drygala (Fn. 9), § 107 Rz. 58.

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spricht auch der Empfehlung von Ziffer 5.3.2 Deutscher Corporate Governance Kodex. Die vielfältigen Fragen der organinternen Compliance des Aufsichtsrats sind in dieser Kodex-Empfehlung allerdings nicht angesprochen. Sie können ohnehin nicht dem Prüfungsausschuss zur Erledigung zugewiesen werden. Die Compliance des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten ist vielmehr eine Aufgabe, die in der Verantwortung aller Aufsichtsratsmitglieder liegt; ganz besonders ist dabei aber der Aufsichtsratsvorsitzende gefordert125.

__________ 125 Manuskriptabschluss 8. März 2011.

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Freigabeverfahren, Holzmüller und Änderung des Unternehmensgegenstands* Inhaltsübersicht I. Die Relativierung der Rechtsfolgen von Beschlussmängeln durch das Freigabeverfahren 1. Überblick 2. Die Relativierung der Rechtsfolgen durch das Freigabeverfahren a) Überblick b) Speziell zur Interessenabwägungsklausel c) Die Differenzierung der Rechtsfolgen II. Relevanz des Freigabeverfahrens für sonstige Beschlüsse 1. Überblick 2. Relevanz des § 246a Abs. 2 AktG für angefochtene HolzmüllerBeschlüsse a) Überblick

b) Offensichtlich unzulässige oder unbegründete Anfechtungsklage c) Offene Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage d) Erhebliche Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage e) Fehlen eines Quorums gemäß § 246 Abs. 2 Nr. 2 AktG f) Rechtsbeständigkeit des Vollzugs nach erfolgreicher Anfechtungsklage 3. Relevanz des § 246a Abs. 2 AktG für die Zulässigkeit einer temporären Satzungsüber-/-unterschreitung a) Überblick b) Ansätze zur Lösung des Dilemmas III. Zusammenfassung

I. Die Relativierung der Rechtsfolgen von Beschlussmängeln durch das Freigabeverfahren 1. Überblick Das Beschlussmängelrecht ist ein Bereich, den Martin Winter als Rechtsberater wie kaum ein anderer in seinen ganzen praktischen Verästelungen beherrschte und den er wissenschaftlich wegweisend vorangetrieben hat1. Nachdem Martin Winter mit der ihm eigenen Scharfsinnigkeit, Abgewogenheit und Unabhängigkeit das Grundgerüst eines deutschen Beschlussmängelrechts de

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* Der Verfasser dankt Herrn Assessor Georg Seitz für seine wertvolle Unterstützung und kritische Diskussionen. 1 Hinzuweisen ist neben seinen beiden Festschriftbeiträgen „Die Anfechtung eintragungsbedürftiger Strukturbeschlüsse de lege lata und de lege ferenda“ in der FS Ulmer, 2003, S. 699 ff. und „Die Reform des Beschlussmängelrechts – eine Zwischenbilanz“, in liber amicorum Happ, 2006, S. 363 ff. sowie dem Vortrag „Der Rechtsschutz des Aktionärs – de lege lata und de lege ferenda“ auf dem RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, S. 457, 476 ff. auf seine aktive Rolle innerhalb des Handelsrechtsausschusses des DAV bei der Formulierung der verschiedenen Stellungnahmen und Vorschläge, die sich mit dem Beschlussmängelrecht befassen.

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lege ferenda vorgezeichnet hatte und der Gesetzgeber ihm in weiten Teilen gefolgt ist, sollen die nachfolgenden ihm gewidmeten Überlegungen den erreichten status quo skizzieren und Auswirkungen auf zwei Problembereiche beleuchten, die bisher nicht im Zentrum der Überlegungen zur Reform des Beschlussmängelrechts standen. Die knappe Nachzeichnung der Rechtsentwicklung der letzten Jahre wird dabei Zweierlei deutlich machen: Zum einen stimmt es für die Zukunft hoffnungsvoll, zu sehen, welchen Einfluss unabhängig denkende, dogmatisch und wirtschaftlich scharfsinnig analysierende und prägnant formulierende Juristen auch heute noch auf den Gesetzgeber haben können. Zum anderen lässt sich die Lücke erahnen, die der viel zu frühe Tod von Martin Winter auch in der Rechtswissenschaft hinterlässt. Das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht ist durch drei verschiedene Verfahren geprägt: Die Anfechtungsklage, die jeder einzelne Aktionär mit nur einer Aktie erheben kann und die aktienrechtliche Strukturmaßnahmen auf Jahre blockieren würde, wenn es das nachfolgend beschriebene dritte Verfahren nicht gäbe. Diese Blockadewirkung folgt bei eintragungsbedürftigen Strukturbeschlüssen entweder aus der gesetzlich vorgesehenen Registersperre einer Anfechtungsklage, wie dies im Umwandlungsrecht vorgesehen ist, oder jedenfalls aufgrund der tatsächlichen Zurückhaltung der Registergerichte, Strukturmaßnahmen trotz erhobener Widersprüche und anhängiger Anfechtungsklagen einzutragen2. Um diese Misere zu beheben, hat der Gesetzgeber zwei Spezialverfahren geschaffen. Zum einen das Spruchverfahren, das die für die Praxis besonders wichtigen und für die Gerichte besonders unangenehmen Bewertungsrügen und darauf bezogene Informationsrügen dem Anwendungsbereich der Anfechtungsklage entzieht. Diese Mängel sollen die Durchführung der Maßnahme nicht blockieren oder verhindern; bei Begründetheit führen sie vielmehr zu einem finanziellen Ausgleich der einer Aktionärsgruppe zugefügten wirtschaftlichen Benachteiligung. Da für den Bereich der Anfechtungsklage jedenfalls nach der Praxis der Gerichte trotzdem eine Vielzahl potentieller Rechtsmängel übrig bleibt, hat das zweite Spezialverfahren, das Freigabeverfahren, eine ganz erhebliche praktische Bedeutung: Es führt zu einer Relativierung der Rechtsfolgen einer gegen eine Strukturmaßnahme erhobenen Anfechtungsklage3. Die grundsätzliche Kassationswirkung der Anfechtungsklage wird bei bestimmten Strukturbeschlüssen (Umwandlungsbeschlüssen, Kapitalmaßnahmen, Unternehmensverträgen, Eingliederung und Squeeze-out) derart modifiziert, dass sich die praktischen Rechtsfolgen einer erfolgreichen Anfechtungsklage auf Schadensersatz für den Anfechtungskläger beschränken, sofern ein Freigabeverfahren zugunsten der Gesellschaft ausgegangen ist4.

__________ 2 Hierzu etwa Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699 und 701 und in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 367. 3 Hierzu deutlich Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 716 f.; RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, S. 457, 491 f. und in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 370. 4 Zur daneben nach wie vor erfolgenden Nichtigerklärung des Hauptversammlungsbeschlusses im der Anfechtungsklage stattgebenden Urteil zu Recht kritisch Martin Winter in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 370 f.

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Das Freigabeverfahren ist durch die grundlegenden Aktienrechtsreformen des UMAG5 in 2005 und des ARUG6 in 2009 in ganz erheblichem Umfang weiterentwickelt worden. Daran hat Martin Winter einen in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzenden Anteil gehabt. Wichtige von ihm geforderte und überzeugend begründete Modifikationen sind heute geltendes Recht. Zu nennen ist hier insbesondere die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auch auf Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge7 (vgl. den durch das UMAG geschaffenen § 246a AktG) und die Bestandskraft der Handelsregistereintragung nach erfolgreichem Freigabeverfahren8 (vgl. den durch das UMAG eingeführten § 246a Abs. 4 AktG und den für Eingliederung und Squeeze-out maßgeblichen, erst durch das ARUG angepassten § 319 Abs. 6 Satz 11 AktG). Das ARUG brachte in formeller Hinsicht insbesondere die bereits vom Handelsrechtsausschuss geforderte9 Beschränkung des Verfahrens auf das OLG als einzige Instanz, was eine deutliche Beschleunigung und Professionalisierung der Entscheidungsfindung zur Folge hat, und ein Mindestquorum10. Daneben wurde der Wortlaut der Interessensabwägungsklausel in §§ 246 Abs. 2 Nr. 3, 319 Abs. 6 Satz 2 Nr. 3 AktG und § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG deutlich verändert. Ein Teil der Vorschläge Martin Winters ist nach wie vor in der Diskussion: Die praktisch wichtige Begrenzung der Anfechtungsfrist für Nichtigkeitsklagen11 dürfte in der laufenden kleinen Novelle des AktG im Kern in Gestalt einer relativen Befristung der Nichtigkeitsklage nach Erhebung einer Anfechtungsklage aufgegriffen werden12. Die von Martin Winter als Preis für die Relativierung der Anfechtungsgründe durch das Freigabeverfahren angesehene Ausdehnung des Spruchverfahrens auf die Kapitalerhöhung und die Gesellschafter des übernehmenden Rechtsträgers bei der Verschmelzung13 ist noch nicht geltendes Recht, aber nach wie vor in der Diskussion.

__________ 5 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Aktienrechts vom 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 6 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) vom 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479. 7 Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 712 ff.; in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 367; ebenso der Handelsrechtsausschuss des DAV, ZIP 2005, 774, 779 f. 8 Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 712 ff. und in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 371 f. 9 NZG 2009, 96, 98. 10 Hierzu kritisch Martin Winter, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, S. 457, 279; in FS Ulmer, 2003, S. 699, 707. 11 Martin Winter in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 372. 12 § 249 Abs. 2 Satz 3 RefE AktG-E vom 2.11.2010. 13 Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 717 ff.; RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, S. 457, 481 ff.; in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 372 ff.; vgl. dazu auch den unter maßgeblicher Mitwirkung von Martin Winter erarbeiteten Entwurf des Handelsrechtsausschusses des DAV, abgedruckt in NZG 2007, 497.

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2. Die Relativierung der Rechtsfolgen durch das Freigabeverfahren a) Überblick Die Relativierung der Anfechtungsgründe (Schadensersatz statt Kassation) durch das Freigabeverfahren tritt gemäß §§ 246a Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 3 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 3 UmwG i. d. F. des ARUG ein, wenn eine der nachfolgenden Voraussetzungen gegeben ist: – Die Anfechtungsklage ist unzulässig. – Die Anfechtungsklage ist offensichtlich unbegründet. Offensichtlichkeit bedeutet dabei nicht, dass die Unbegründetheit schon bei kursorischer Prüfung auf der Hand liegt. Maßgeblich ist nicht der Zeitaufwand bei der Prüfung, sondern das Maß an Sicherheit, welches das Gericht bei seiner Prognose gewinnt, auch wenn dies eine zeitaufwendige Prüfung erfordern sollte14. – Der Kläger hat nicht fristgerecht nachgewiesen, dass er seit Bekanntmachung der Einberufung einen anteiligen Betrag von mindestens 1000 Euro hält. Nach wie vor kann jeder einzelne Aktionär mit nur einer einzigen Aktie, die er seit Bekanntmachung der Tagesordnung hält, Anfechtungsklage erheben. Eine Kassationswirkung der erfolgreichen Anfechtungsklage kommt jedoch nur der Klage eines Klägers zu, der das Mindestquorum auf sich vereint. Das Verfehlen des Mindestbesitzes führt zum Erfolg des Freigabeantrags unabhängig von jeglicher Interessenabwägung oder der besonderen Schwere des geltend gemachten Rechtsverstoßes. Nach h. M. muss jeder einzelne Kläger den anteiligen Betrag von 1000 Euro erreichen15. Die vorgebrachten Bedenken gegen die Vereinbarkeit dieses Quorums mit Art. 14 GG überzeugen nicht16. Der Hauptvorteil des Quorums dürfte in der Praxis seltener darin liegen, dass die Freigabeverfahren im Hinblick auf alle Kläger nach § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG entschieden werden können, sondern darin, dass die Zahl der Verfahrensbeteiligten auf eine überschaubare Zahl begrenzt wird, was zu einer nicht zu unterschätzenden Beschleunigung des Freigabeverfahrens führen dürfte17. – Die beiden Voraussetzungen der Interessenabwägungsklausel liegen kumulativ vor: Der Freigabebeschluss hat zu ergehen, wenn „das alsbaldige Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses vorrangig erscheint, weil die vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre nach freier Überzeugung des Gerichts die Nach-

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14 S. Begr. des RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 64 f.; Martin Winter in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 370. 15 OLG Hamburg, AG 2010, 214 f.; OLG Hamburg, AG 2010, 215; OLG München, AG 2010, 170; OLG Stuttgart, ZIP 2009, 2337, 2338; Kläsener/Wasse, AG 2010, 202, 203. 16 OLG Hamburg, AG 2010, 214 f.; OLG Hamburg, AG 2010, 215; OLG Stuttgart, AG 2010, 89, 90; Grunewald, NZG, 2009, 967, 970; Kläsener/Wasse, AG 2010, 202, 204 ff.; Nikoleyczik/Butenschön, NZG 2010, 218; J. Vetter, AG 2008, 177, 186 f.; a. A. Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 7 f. 17 In der Praxis kamen Klage- und Freigabeverfahren mit teilweise mehr als 100 Klägern und Nebenintervenienten vor, deren organisatorische Bewältigung die Geschäftsstellen der Gerichte verständlicherweise vor ganz erhebliche Probleme stellte.

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teile für den Antragsgegner überwiegen, es sei denn, es liegt eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vor“18. b) Speziell zur Interessenabwägungsklausel Zum einen muss das Gericht nach freier Überzeugung zu dem Ergebnis kommen, dass die vom Antragsteller, also der Gesellschaft, dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre die Nachteile für den Antragsgegner überwiegen. Maßgeblich sind allein wirtschaftliche Interessen; die Schwere des Rechtsverstoßes und die Erfolgsaussichten sind dabei nicht zu berücksichtigen19. Abzuwägen sind die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft und der nicht klagenden Aktionärsmehrheit mit denen des klagenden Aktionärs20. Diese Interessenabwägung wird in aller Regel eindeutig zugunsten der Gesellschaft ausfallen: Typischerweise sind mit Strukturmaßnahmen wie Umwandlungen, Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträgen jedenfalls aus ex ante Sicht beträchtliche strategische Vorteile, Synergien oder jedenfalls Kosteneinsparungen verbunden; ansonsten würde der Aufwand der Maßnahme nicht betrieben. Auf der Gegenseite sind allein die wirtschaftlichen Interessen des am Freigabeverfahren beteiligten Anfechtungsklägers zu berücksichtigen. Wenn der Kläger – wie in der Praxis in aller Regel – insgesamt nur mit einem im Vergleich zum Grundkapital minimalen Anteil beteiligt ist, dürfte sich schon aus diesem Grund die Waagschale zugunsten der Gesellschaft neigen21. Zum anderen darf keine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vorliegen. Maßgeblich sollen die Bedeutung der verletzten Norm und das Ausmaß der Rechtsverletzung sein. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses präzisieren: „Keineswegs genügt schon jeder Fall der Beschlussnichtigkeit, es geht nur um Fälle, in denen es für die Rechtsordnung ‚unerträglich‘ wäre, den Beschluss ohne vertiefte Prüfung im Hauptsacheverfahren eintragen und umsetzen zu lassen. Dies kommt etwa in Betracht bei einer Verletzung elementarer Aktionärsrechte, die durch Schadensersatz nicht angemessen zu kompensieren wäre. … Um einen besonders schweren Rechtsverstoß festzustellen, müssen in jedem Fall die Bedeutung der Norm sowie Art und Umfang des Verstoßes im konkreten Einzelfall bewertet werden. Es kann sich um gezielte und

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18 Hervorhebung durch den Verfasser. 19 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13098, S. 60 f. 20 Die Berücksichtigung allein der Interessen des Anfechtungsklägers und nicht aller in gleicher Weise von dem geltend gemachten Rechtsmangel betroffenen Aktionäre wollte der UMAG-Gesetzgeber bereits dem bisherigen Wortlaut der Interessenabwägungklausel entnehmen, s. Begründung des RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 60 f. zu § 246a Abs. 2 AktG. 21 So auch Koch/Wackerbeck, ZIP 2009, 1603, 1607; J. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S. 819, 827; ders. in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1371, 1378 f.; Verse, NZG 2009, 1127, 1130; im Befund ebenso, in der Bewertung allerdings ablehnend Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 210 f.; Martens/Martens in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1129, 1144; rechtspolitisch kritisch auch Martin Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 715 zur alten Fassung der Interessenabwägungsklausel.

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Jochen Vetter besonders grobe Verstöße handeln (vgl. § 148 Abs. 1 Nr. 3 AktG). Insbesondere formale Fehler, die möglicherweise von professionellen Klägern provoziert worden sind, können keinesfalls einen schweren Rechtsverstoß im Sinne der Vorschrift darstellen“22.

c) Die Differenzierung der Rechtsfolgen Bei Strukturbeschlüssen, bei denen das Freigabeverfahren eröffnet ist, führt das gesetzliche Konzept in der Ausprägung des ARUG zu der folgenden Flexibilisierung der Rechtsfolgen: Zur Verfügung stehen einerseits die klassische Kassation der Maßnahme aufgrund der Nichtigerklärung des Beschlusses und zum anderen der Bestand der Maßnahme trotz Nichterklärung des Beschlusses und ein Schutz des Anfechtungsklägers allein durch Schadensersatz. Die Differenzierung sieht wie folgt aus: – Aktionäre mit einem Aktienbestand unterhalb der Bagatellgrenze können die beschlossene Maßnahmen nie verhindern, sondern lediglich Schadensersatz verlangen. – Im Übrigen führt eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes stets zur Kassation der Maßnahme. – Bei weniger schwerwiegenden Mängeln hängt die Frage Kassation oder Schadensersatz von der Abwägung der wirtschaftlichen Interessen ab. Diese Differenzierung mag dem Aktienrechtsdogmatiker auf den ersten Blick ungewöhnlich oder gar unbillig erscheinen: Großaktionäre werden gegenüber Kleinaktionären bevorzugt. Die maßgebliche Konsequenz einer Rechtsfrage hängt nicht von rechtlichen Erwägungen, sondern von einer wirtschaftlichen Interessenabwägung ab. Eine Freigabe kann selbst dann erfolgen, wenn ein (nicht als schwerwiegend zu qualifizierender) Rechtsmangel offensichtlich vorliegt23. Letztlich wird im Ergebnis die deutsche Besonderheit, dass jeder Aktionär jeden Rechtsmangel (und in der Praxis auch jeden vermeintlichen Rechtsmangel) geltend machen und damit die Maßnahme verhindern kann, durch die im internationalen Umfeld und auch im übrigen Zivilrecht üblichen Sanktionen des Schadensersatzes und einer bloßen Feststellung der Rechtswidrigkeit ersetzt. Das dogmatische Konzept ist allerdings im Vergleich zu Konzepten, bei denen entweder gar kein Hauptversammlungsbeschluss erforderlich ist oder der einzelne Aktionär jedenfalls keine Anfechtungsbefugnis hat, dogmatisch deutlich komplizierter. Die fehlende Differenzierung der Rechtsfolgen von Anfechtungsklagen ist ein Strukturfehler des Aktienrechts,

__________ 22 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13098, S. 61, ausführlicher zur besonderen Schwere des Rechtsverstoßes Florstedt, AG 2009, 465, 469 f.; Verse, NZG 2009, 1127, 1130; J. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S. 819, 829 ff.; Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 28; wesentlich weitergehend, aber nicht überzeugend Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 14. 23 Kritisch insbesondere Zöllner, AG 2000, 145 und in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1631 ff.; außerdem etwa Martens/Martens in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1129, 1139 ff.; Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 210 ff.; Schall//Habbe/Wiegand, NJW 2010, 1789, 1790 ff.

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der teilweise behoben wird. Andere Vorschläge gehen deutlich weiter24. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Lösung des § 246a Abs. 2 AktG und der Parallelnormen in § 319 Abs. 6 AktG und § 16 Abs. 3 UmwG bestehen nicht. Wer das Freigabeverfahren zu einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes degradiert, um dann zu bemängeln, dass im Freigabeverfahren und im Hauptsacheverfahren unterschiedliche, sogar widersprüchliche Entscheidungsdirektiven maßgeblich seien25, übersieht den materiellrechtlichen, ihm vom Gesetzgeber ganz bewusst beigemessenen Gehalt des Freigabeverfahrens. Dass die im Aktienrecht vorgenommene Differenzierung der Rechtsfolgen von Rechtsverstößen weder elegant noch leicht verständlich ist, ist ohne Weiteres zu konstatieren26. Die Entwicklung ist als Folge des einmal eingeschlagenen deutschen Pfads der auf Kassation gerichteten Klage jedes einzelnen Aktionärs, die sich als rechtspolitisch suboptimal und volkswirtschaftlich schädlich27 erwiesen hat, zu erklären. Auch bleiben gewisse Widersprüche, möglicherweise auch Gerechtigkeitsdefizite, die in Zukunft angegangen werden sollten, die aber die Überlegenheit des erreichten Stands gegenüber dem status quo ante nicht in Zweifel ziehen. Zu nennen sind hier: – Die unterschiedlichen Schutzkonzepte bei bewertungsbezogenen Rechtsmängeln: So können Aktionäre des übertragenden Rechtsträgers bei der Verschmelzung Bewertungsrügen und darauf bezogene Informationsmängel in der Hauptversammlung im Wege des kostengünstigen Spruchverfahrens geltend machen, bei dem der Amtsermittlungsgrundsatz gilt und bei dem aufgrund der Inter-omnes-Wirkung des § 13 SpruchG die Entscheidung allen Aktionären, auch denen, die kein Verfahren eingeleitet haben, zu Gute kommt. Demgegenüber können Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft diese Mängel nur im Wege der Anfechtungsklage geltend machen, was zur Folge hat, dass ein finanzieller Ausgleich nur im Wege des im ordentlichen Zivilverfahren einzuklagenden Schadensersatzes an den klagenden Aktionär zu leisten ist. Gerade Martin Winter hat auf dieses Gerechtigkeitsdefizit deutlich hingewiesen28. Ohne vertiefte Auseinandersetzung sei an dieser Stelle lediglich der Hinweis gegeben, dass das Gerechtigkeitsdefizit in der Ungleichbehandlung liegt; ob diese insbesondere außerhalb von Konzernsachverhalten nur durch eine Ausweitung des Spruchverfahrens mit seiner Inter-omnes-Wirkung behoben werden kann oder ob nicht ein Schadensersatzkonzept vorzugswürdig ist, ist noch nicht entschieden29.

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24 Vgl. hierzu insbesondere den Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht, abgedruckt in AG 2008, 617; einen deutlich weniger weit gehenden, auf die Korrektur aus seiner Sicht unzulänglicher Elemente des § 246a AktG beschränkten Vorschlag macht Hirte in FS Meilicke 2010, S. 201, 212 ff.; s. auch Schall/Habbe/ Wiegand, NJW 2010, 1789, 1792. 25 So Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 7. 26 Entsprechend ist erneut für die Vorschläge des Arbeitskreises Beschlussmängelrechts (s. Fn. 24) zu werben. 27 Hierzu J. Vetter, AG 2008, 177, 179 ff. 28 Martin Winter in liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 374. 29 Kritisch insb. zur Inter-omnes-Wirkung des Spruchverfahrens J. Vetter in FS MaierReimer, 2010, S. 819, 834 ff. m. w. N.

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– Die Differenzierung der Rechtsfolgen beschränkt sich auf die besonders wichtigen Strukturbeschlüsse, während es bei sonstigen, wirtschaftlich häufig weniger wichtigen Hauptversammlungsbeschlüssen bei der Kassationswirkung der Anfechtungsklage als einziger Rechtsfolge bleibt (hierzu ausführlich und nachfolgend unter II. 1.).

II. Relevanz des Freigabeverfahrens für sonstige Beschlüsse 1. Überblick Freigabeverfahren stehen nur in den gesetzlich angeordneten Fällen zur Verfügung. Der Wortlaut der §§ 246a, 319 Abs. 6 AktG und § 16 Abs. 3 UmwG ist eindeutig. Auch eine analoge Anwendung des Freigabeverfahrens scheidet nach bis dato einhelliger Auffassung30 schon mangels planwidriger Regelungslücke31 aus. Rechtspolitischen Vorschlägen zu einer Ausdehnung des Freigabeverfahrens32 ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Insbesondere ist ein Freigabeverfahren nicht bei Satzungsänderungen vorgesehen, auch wenn es bei diesen rechtstechnisch ohne Weiteres eingesetzt werden könnte. Auch bei Satzungsänderungen bildet ein Hauptversammlungsbeschluss die Grundlage für eine Änderung der Gesellschaftsstruktur, die allerdings erst mit Eintragung in das Handelsregister wirksam wird. Bei anderen Beschlüssen, bei denen keine Handelsregistereintragung zu ihrer Umsetzung erforderlich ist, kommt das Freigabeverfahren schon rechtstechnisch nicht in Betracht. Dies gilt etwa für Aufsichtsratswahlen, bei denen eine längere Unsicherheit über den Ausgang einer Anfechtungsklage für die Gesellschaft sehr misslich sein kann, daneben aber auch für die sogenannten Holzmüller-Beschlüsse, bei denen gewichtige Unternehmensteile dem unmittelbaren Einfluss der Gesellschaft und ihrer Aktionäre entzogen werden und deren Erfordernis gerade in Anlehnung an Maßnahmen, bei denen ein Freigabeverfahren eröffnet ist, begründet wird. Obwohl ein Holzmüller-Beschluss zu seiner Wirksamkeit keiner Handelsregistereintragung bedarf, stellt sich die Frage, wie der Vorstand mit einer Anfechtung des Beschlusses umzugehen hat. Darf er die Maßnahme umsetzen oder muss er das Ergebnis der Anfechtungsklage abwarten? Vergleichbare Fragen stellen sich in dem Fall, dass eine ohne Hauptversammlungsbeschluss zulässige Geschäftsführungsmaßnahme wie der Erwerb oder die Veräußerung von Unternehmensteilen ausnahmsweise deshalb einen vorherigen Hauptversamm-

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30 S. nur Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 1; Göz/ Holzborn, WM 2006, 157, 161; Veil, AG 2005, 567, 575. 31 Vgl. dazu eingehend LG München I, WM 2008, 77. 32 Für eine Erstreckung des Freigabeverfahrens jedenfalls auf Beschlüsse nach § 179a AktG und Holzmüller/Gelatine-Beschlüsse Paschos/Johannsen-Roth, NZG 2006, 327, 333; Veil, AG 2005, 567, 575 (zurückhaltend allerdings im Hinblick auf Satzungsänderungen); für eine Erstreckung insb. auf alle eintragungsbedürftigen Beschlüsse Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 212; Poelzig/Meixner, AG 2008, 196, 199; J. Vetter, AG 2008, 177, 191; Waclawik, DStR 2006, 2177, 2184; s. auch die Stellungnahme des DNotV zum Ref-E UMAG, zugänglich über www.dnotv.de; gegen eine Erstreckung Baums/Drinhausen, ZIP 2008, 145, 154.

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lungsbeschluss erfordert, weil in Folge der Maßnahme der satzungsmäßige Unternehmensgegenstand unter- oder überschritten wird. Auch hier hat der Vorstand zu entscheiden, ob er die Transaktion durchführt, nachdem die Hauptversammlung mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit einen Beschluss zur Änderung des Unternehmensgegenstands gefasst hat, dieser jedoch von einem Aktionär angefochten worden ist. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit bei der Beantwortung dieser Fragen, Wertungen des Freigabeverfahrens mit berücksichtigt werden können. 2. Relevanz des § 246a Abs. 2 AktG für angefochtene Holzmüller-Beschlüsse a) Überblick Die Frage nach den ungeschriebenen Zuständigkeiten der Hauptversammlung für grundlegende Strukturentscheidungen mit schwerwiegenden Auswirkungen auf den Gehalt der Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre ist seit nunmehr fast 30 Jahren ein Dauerbrenner des Aktienrechts33. Die Gelatine-Entscheidungen34 des BGH brachten zwar eine einschränkende Konkretisierung und eine dogmatische Annäherung an die herrschende Lehre35, gleichwohl hat das Thema nach wie vor Relevanz, wie die verschiedenen Versuche von Minderheitsaktionären auch in jüngster Zeit zeigen, sich durch Berufen auf diese Rechtsprechung Mitwirkung an Entscheidungen der Gesellschaft zu erkämpfen36. Im Mittelpunkt der Diskussion standen und stehen zwar primär die Abgrenzung des Tatbestands und die Frage, welche Konsequenzen das Unterlassen einer erforderlichen Beschlussfassung der Hauptversammlung hat37. Im Schatten dieser Fragen, denen hier nicht nachgegangen werden soll, stehen die Handlungsmöglichkeiten für den Vorstand in dem Fall, dass die Hauptversammlung der Maßnahme zwar mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hat, dieser Beschluss jedoch von Minderheitsaktionären angefochten worden ist. Dem soll nachfolgend nachgegangen werden. Bei dieser Frage geht es – anders als bei den meisten anderen Strukturbeschlüssen – nicht um die Frage des rechtlichen Könnens, sondern ausschließlich die des rechtlichen Dürfens. Der Hauptversammlungsbeschluss bedarf zu seiner Wirksamkeit keiner Handelsregistereintragung; entsprechend entfaltet die Anfechtungsklage keine Blockadewirkung. Es bleibt vielmehr bei dem allgemeinen Grundsatz, dass die Anfechtungsklage eine kassatorische Gestaltungsklage ist und die Wirksamkeit des Beschlusses erst mit rechtskräftiger Ent-

__________ 33 Grundlegend die Holzmüller-Entscheidung des BGH v. 25.2.1982, BGHZ 83, 122. 34 BGH v. 26.4.2004, BGHZ 159, 30. 35 Gestützt wird die Hauptversammlungskompetenz nicht mehr auf eine Ermessensreduzierung i.R.d. § 119 Abs. 2 AktG, sondern eine offene Rechtsfortbildung; dazu und zu einem Überblick über die Literatur Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 40; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 119 AktG Rz. 16 ff. 36 Vgl. zuletzt beispielsweise OLG Frankfurt, WM 2011, 116; OLG Frankfurt, AG 2010, 39; OLG Köln, AG 2009, 416. 37 S. dazu nur Seiler/Singhof, Der Konzern 2003, 313 und Liebscher, ZGR 2005, 1.

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scheidung zu berühren vermag (dann aber mit ex tunc-Wirkung). Hinzu kommt, dass die gesamte Holzmüller-Doktrin nur das Innenverhältnis zwischen den Organen der Gesellschaft betrifft und die im Außenverhältnis umfassende Vertretungsmacht des Vorstands gemäß § 82 AktG – abgesehen vom Ausnahmefall eines evidenten Missbrauchs der Vertretungsmacht38 – unberührt lässt39. Wenn dies selbst in dem Fall gilt, dass der Vorstand eine Beteiligung der Hauptversammlung vollständig unterlässt, dann kann bei Vorliegen eines angefochtenen Hauptversammlungsbeschlusses nichts anderes gelten. Aus der Sicht des als Anfechtungskläger auftretenden Aktionärs lässt sich eine rechtliche Blockade nur über den Weg einer einstweiligen Verfügung herbeiführen40. Aufgrund der Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO stellt dies für ihn aber eine mit erheblichen Risiken verbundene Option dar, die weitaus seltener ergriffen wird als die insoweit gefahrlose Anfechtungsklage. Als gesetzliche Ausgangspunkte für die Beantwortung der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten des Vorstands könnten §§ 83 Abs. 2 und 93 Abs. 4 Satz 1 AktG herangezogen werden. So ist der Vorstand grundsätzlich zur Ausführung der von der Hauptversammlung beschlossenen Maßnahmen verpflichtet, und zwar ohne schuldhaftes Zögern. Dies gilt indes nach ganz herrschender Ansicht nur für gesetzmäßige Beschlüsse, weil insofern ein Gleichlauf der Ausführungspflicht mit der Haftungsfreistellung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG anzunehmen ist41. Ausgangspunkt für das weitere Verhalten des Vorstands muss damit eine eingehende Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Beschlusses sein, zu der die Frage, ob sich die Gesellschaft gegen die Anfechtungsklage verteidigen soll, ja ohnehin Anlass gibt. Insofern sollen nachfolgend die folgenden drei bei schematischer Betrachtung denkbaren Fallgruppen unterschieden werden: (1) Die Klage ist offensichtlich unzulässig oder unbegründet. (2) Die Erfolgsaussichten sind offen. (3) Die Anfechtungsklage ist offensichtlich begründet; der Rechtsverstoß ist jedoch nicht besonders schwer. b) Offensichtlich unzulässige oder unbegründete Anfechtungsklage Einfach liegt zunächst der Fall, in dem der Vorstand zu dem Schluss kommt, dass die Klage offensichtlich erfolglos bleiben wird. Hier wird der Vorstand zur unverzüglichen Durchführung der Maßnahme verpflichtet sein. Dies liegt auch im Interesse der Gesellschaft. Diese Beurteilung wird durch die Wertung des § 246a Abs. 2 Nr. 1 AktG gestützt. Mehr theoretischer Natur ist in solch

__________ 38 Hierzu Adolff/Adolff in FS Mailänder, 2006, S 289, 297 ff. 39 BGHZ 83, 122, 132; s. außerdem nur Habersack in Emmerich/Habersack, Aktienund GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 40, 53; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 119 AktG Rz. 16 ff. 40 Vgl. hierzu eingehend Markwardt, WM 2004, 211. 41 S. etwa Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 83 AktG Rz. 8 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 83 AktG Rz. 17 ff.

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einem Fall der Hinweis darauf, dass das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Rechtmäßigkeit in § 83 Abs. 2 AktG nach h. M. rein objektiv zu verstehen ist und es auf die Erkennbarkeit der Gesetzmäßigkeit oder vor allem -widrigkeit nicht ankommt42, während eine Fehleinschätzung der Rechtslage bei § 93 Abs. 2 AktG immerhin zum Entfall des Verschuldens führen kann43. c) Offene Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage Ungleich spannender stellt sich die Lage dar, wenn die Erfolgsaussichten als offen anzusehen sind. Für diese Situation haben sich noch keine klaren Verhaltensmaßstäbe herausgebildet44, und die in der Literatur zu findenden Stellungnahmen erscheinen wenig griffig. So sollen im Rahmen einer Abwägung als konkret eingestufte Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit zu einem Abwarten des Urteils Anlass geben45. In einer Situation, in der die Struktur der Gesellschaft einer lange vorbereiteten und sicher nicht ohne gute Gründe in Angriff genommenen grundlegenden Veränderung unterzogen werden soll, erscheinen diese Maßstäbe als unbefriedigend. Die der Gesetzgebungsentwicklung im Bereich des Freigabeverfahrens gemäß § 246a AktG zu Grunde liegenden Wertungen erscheinen als geeigneter Ansatzpunkt, um einen neuen Weg aus dem beschriebenen Dilemma auch in den Holzmüller-Fällen zu suchen. In seiner Gelatine-Entscheidung hat der BGH die zur Begründung der Holzmüller-Doktrin in der Literatur weit verbreitete Auffassung46 einer Gesetzesanalogie zu den geregelten Fällen der Hauptversammlungszuständigkeit insofern rezipiert und gebilligt, als er im Rahmen der von ihm favorisierten Konstruktion als Ergebnis einer offenen Rechtsfortbildung eine „Orientierung der in Betracht kommenden Fallgestaltungen an den gesetzlich festgelegten Mitwirkungsbefugnissen“47 für angebracht sieht. Was seinerzeit auf die Tatbestandsseite bezogen war, lässt sich möglicherweise auch für die Rechtsfolgenseite nach erhobener Anfechtungsklage fruchtbar machen. Klargestellt sei in diesem Zusammenhang, dass es bei der vorliegenden Überlegung nicht um eine Gesetzesanalogie im rechtstechnischen Sinne geht, so dass die oben unter II. 1. getroffene Feststellung, wonach das Freigabeverfahren als rechtsförmiges Verfahren nicht analogiefähig ist, nicht berührt oder gar in Frage gestellt wird. Hier geht es vielmehr darum, die teleologischen Wertungen des § 246a AktG auf einen allgemeingültigen Kern zurückzuführen und sie

__________

42 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 83 AktG Rz. 11. 43 Fleischer, BB 2005, 2025, 2026; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 83 AktG Rz. 12; Haertlein, ZHR 168 (2004), 437, 447. 44 Vgl. Fleischer, BB 2005, 2025, 2026, wonach diese Fragen „noch einer gründlicheren Aufarbeitung harren“. 45 Richter in Semler/Peltzer, Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2005, § 4 Rz. 279; Liebscher in Müller/Rödder, Beck’sches Handbuch der AG, 2009, § 6 Rz. 102. 46 S. nur Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl., Stand 1999, § 119 AktG Rz. 21 ff. m. w. N.; umfangreiche weitere Nachweise bei Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 39. 47 BGHZ 159, 30, 43.

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damit auch für die Situation des Vorstands in Anbetracht einer Anfechtungsklage, die nicht in den Anwendungsbereich des § 246a AktG fällt, nutzbar zu machen. Konkret geht es um die Wertung des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG (vgl. generell dazu bereits oben I. 2. b). Charakteristisch für diese Interessenabwägungsklausel ist, dass sie nicht auf die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage, sondern auf deren ökonomische Folgen abstellt. Maßgeblich sind allein die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft und der nicht klagenden Aktionärsmehrheit am Vollzug der Maßnahme im Vergleich zu den wirtschaftlichen Interessen des Klägers an deren Aufschub. Die Erfolgsaussichten der Klage haben nur insoweit Bedeutung, als ein Vollzug der Maßnahme dann unabhängig von der Abwägung der wirtschaftlichen Interessen ausscheidet, wenn eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vorliegt. Von einem solchen Vorliegen eines besonderen Rechtsverstoßes wird bei dieser Fallgruppe annahmegemäß nicht ausgegangen (hierzu nachf. d). Dafür, den Rechtsgedanken des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG auf die hier diskutierte Situation zu übertragen, spricht entscheidend folgende Überlegung: Wenn der Gesetzgeber schon den Gerichten in so eindeutiger Form aufgibt, zum Schutz der Gesellschaft vor missbräuchlichen Klagen und einer überlangen Blockade von Strukturmaßnahmen über juristische Bedenken aus wirtschaftlichen Interessen im Sinne des Wohls der Gesellschaft hinweg zu gehen, so erscheint diese Wertung erst recht auch für den Vorstand selbst maßgeblich, dessen primäre Aufgabe ja gerade die Wahrung des Wohls der Gesellschaft darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, eine unverzügliche Umsetzung angefochtener Holzmüller-Beschlüsse im Falle offener Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage, aber eindeutiger und überwiegender wirtschaftlicher Nachteile des Zuwartens als pflichtgemäßes Verhalten des Vorstands anzusehen. Jede andere Lösung würde das teleologische Bedürfnis, aus dem heraus § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG geschaffen wurde, verkennen und zu dem wenig überzeugenden Ergebnis führen, dass die Interessen der Gesellschaft im Falle einer eintragungspflichtigen Maßnahme besser geschützt würden und leichter durchsetzbar wären als bei einer eintragungsfreien und damit vom Recht als weniger wichtig erachteten Maßnahme. Die Interessenabwägung wird auch in diesen Fällen typischerweise zu Gunsten des Vollzugs der Maßnahme ausfallen. Die Gesellschaft wird den Aufwand der Maßnahme nur dann betreiben, wenn sie für sie von einiger wirtschaftlicher Bedeutung ist. Auf Seiten des Anfechtungsklägers sind nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nur ökonomische Nachteile relevant, nicht dagegen die rein rechtliche Betroffenheit aufgrund der drohenden Rechtsverletzung48. Ökonomisch greifbare Nachteile der im Rahmen von HolzmüllerMaßnahmen eintretenden Mediatisierung des Einflusses der Aktionäre werden aber gerade im Fall von Minderheitsaktionären, die auch bisher keinen mess-

__________ 48 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13098, S. 42; hierzu schon oben unter I. 2. b).

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baren Einfluss auf die Beschlussfassung in der Hauptversammlung hatten, kaum feststellbar sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch bei offenen Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage gegen einen Holzmüller-Beschluss in der Regel die pflichtgemäße Verhaltensweise des Vorstands in der sofortigen Umsetzung liegen wird. Denn zumeist wurde die Strukturmaßnahme in Angriff genommen, weil sie erhebliche Vorteile für die Gesellschaft bringt. Dieser haben deshalb auch die Aktionäre mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit zugestimmt. Die Verzögerung dieser Maßnahme zu verhindern, ist in dieser Situation in Übereinstimmung mit der Wertung des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG die Aufgabe des Vorstands. d) Erhebliche Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage Innerhalb dieser Fallgruppe können zunächst diejenigen Fälle abgeschichtet werden, bei denen der Vorstand selbst davon ausgeht, dass ein besonders schwerer Rechtsverstoß tatsächlich oder jedenfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit49 vorliegt. Hier scheidet eine Umsetzung der Maßnahme aus. Was eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes begründet, soll an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden. Maßgeblich sind die zu § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG geltenden Grundsätze50. Wie sieht es nun bei Rechtsverstößen aus, die unterhalb der Schwelle einer besonderen Schwere liegen? Man denke nur an Fallgestaltungen, in denen ein mit großer Mehrheit gefasster und inhaltlich unumstrittener Beschluss wegen eines formellen Fauxpas im Verlauf der Hauptverhandlung anfechtbar ist. Ist es dem Vorstand in einer solchen Situation rechtmäßigerweise möglich, den als im Hinblick auf den großen Nutzen der Maßnahme für die Gesellschaft für wünschenswert gehaltenen Weg des Vollzugs zu wählen? Auf den ersten Blick scheint es auf der Hand zu liegen, dass diese Frage zu verneinen ist. Die Kassation des Beschlusses ist absehbar, so dass für den Vorstand klar ist, dass die Wirksamkeit der Zustimmung der Hauptversammlung mit Ex-tunc-Wirkung entfallen wird und die erforderliche Zustimmung damit schlussendlich doch fehlt. Man könnte argumentieren, dass das aus der Holzmüller-Doktrin folgende Zustimmungserfordernis mit der Pflicht korrespondiert, die Maßnahme zu unterlassen, bis die Zustimmung wirksam vorliegt (§ 82 Abs. 2 AktG). In diesem Zusammenhang hilft auch die Erwägung, dass die Hauptversammlung beim nächsten Mal der Maßnahme gewiss erneut und diesmal ohne Beschlussmängel zustimmen wird, nicht weiter. Es ist allgemein anerkannt, dass der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens für Kompetenzfragen zwischen Gesellschaftsorganen nicht anwendbar ist, weil der

__________ 49 Zum Erfordernis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines schweren Rechtsverstoßes i.R.d. § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG etwa Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 29. 50 Dazu bereits oben unter oben unter I. 2. b).

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Schutz der Kompetenzen gerade von der prozeduralen Absicherung lebt und andernfalls problemlos ausgehöhlt werden könnte51. Allerdings erscheint diese Situation nicht völlig ohne Verknüpfung zum Regelungsziel des § 246a Abs. 2 AktG. Denn dessen Nr. 3 ist gerade auf Situationen zugeschnitten, in denen zwar leichtere Beschlussmängel unterlaufen sind, das Interesse, wesentliche Nachteile von der Gesellschaft abzuwenden, aber gleichwohl den Vollzug der Maßnahme rechtfertigt. In den vom Anwendungsbereich des § 246a Abs. 1 AktG erfassten Fällen ist der Vorstand insofern in einer komfortablen Situation, weil das prozessuale Instrument des Freigabebeschlusses ihm einen Ausweg aus der strengen Bindung an das Legalitätsprinzip eröffnet und es ihm ohne Pflichtverletzung ermöglicht, die Maßnahme zum Wohle der Gesellschaft durchzuführen. Wenn aber der Gesetzgeber schon die Gerichte dafür in Stellung bringt, im Einzelfall die wirtschaftliche Opportunität über die pure Legalität zu stellen, stellt sich die Frage, ob es sein kann, dass das gleiche Verhalten dem Vorstand in Fällen, in denen ihm der Weg des förmlichen Freigabeverfahrens nicht eröffnet ist, weil die von ihm zu respektierende Hauptversammlungskompetenz überhaupt nur richterrechtlich geschaffen wurde, als rechtswidrige Pflichtverletzung anzulasten ist. Den Vorstand strenger an den Buchstaben des Gesetzes zu binden als den Richter erscheint als nicht wertungsgerecht. Kohärenter wäre es vor diesem Hintergrund, eine Entscheidung des Vorstands für den Vollzug der Maßnahme unter den Voraussetzungen des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG zumindest als gerechtfertigt zu behandeln. Die dogmatische Brücke zu dieser Lösung ist in der Figur der Pflichtenkollision zu sehen. Grundgedanke des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG ist, dass gerade nicht jeder Rechtsverstoß das Scheitern der Strukturmaßnahme zur Folge haben soll. Die Durchführung der Maßnahme ist zulässig und der Vorstand handelt dabei legal, wenn die Hauptversammlung befragt worden ist, mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit zugestimmt hat, der Beschluss nicht an einem besonders schweren Rechtsmangel leidet und die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft und der nicht klagenden Aktionäre am Vollzug diejenigen des Klägers am Aufschub der Maßnahme überwiegen. Dem Recht wird in diesem Fall ausreichend zur Geltung verholfen, wenn das Gericht den Beschluss als rechtswidrig brandmarkt und dem Kläger der ihm entstandene Schaden ersetzt wird. Ein Scheitern der Maßnahme wird in diesem Fall dagegen gerade nicht als angemessene Sanktion des Rechts auf diesen Mangel angesehen. Diese Relativierung der Rechtsfolgen der Anfechtungsklage rechtfertigt eine Relativierung der Legalitätspflicht, da die Schadensabwendungspflicht in diesem Fall eine besondere Bedeutung hat. An dieser Stelle kann es hilfreich sein, kurz darauf zu blicken, welcher Umgang mit lähmenden Anfechtungsklagen dem Vorstand vor der Einführung von § 246a AktG offen stand und empfohlen wurde. Unter dem Stichwort der

__________ 51 S. nur Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 51.

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„nützlichen Pflichtverletzung“52 wurde diskutiert und von der herrschenden Meinung bejaht, dass es dem Vorstand in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Wahrung der Vermögensinteressen der Gesellschaft, namentlich der Schadensabwendungspflicht, möglich sein muss, sich die Bestandskraft eines angefochtenen Hauptversammlungsbeschlusses durch eine Abfindungszahlung (oder üppig bemessene Kostenerstattungen) an die klagenden Aktionäre zu erkaufen, obwohl darin an sich ein Verstoß gegen das Verbot der Sonderzahlung an einzelne Aktionäre (§§ 57, 53a AktG) liegt53. Betrachtet man diesen Ansatz, wonach der Vorstand sogar dazu berechtigt ist, Anfechtungsklagen durch Zahlungen an Aktionäre den Boden zu entziehen, so erschiene es widersinnig, ihm in den Holzmüller-Konstellationen den wesentlich einfacheren Weg, die Maßnahme schlicht zu vollziehen, zu versperren. Vorzugswürdig ist es demgegenüber, die im Fall des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG den sofortigen Vollzug rechtfertigenden Wertungen unter dem Blickwinkel der Schadensabwendungspflicht auf den Vorstand zu übertragen. Dies bedeutet konkret, dem Vorstand, der anhand der Kriterien des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG zu dem Schluss kommt, dass ein überwiegendes Vollzugsinteresse der Gesellschaft besteht, zuzubilligen, dass er sich in einer Kollision zwischen der allgemeinen Legalitätspflicht und der Pflicht, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, befindet und ihn daher als gerechtfertigt anzusehen, wenn er sich in diesem Dilemma dafür entscheidet, die Maßnahme umzusetzen. Daraus folgt allerdings nicht, dass dies die einzig richtige Verhaltensweise darstellt. Wie es dem Wesen der Pflichtenkollision entspricht, ist es dem Vorstand vielmehr ebenso gestattet, sich an die Legalitätspflicht zu halten und zunächst eine ordnungsgemäße Beschlussfassung nachzuholen. e) Fehlen eines Quorums gemäß § 246 Abs. 2 Nr. 2 AktG Zu überlegen ist, ob der Vorstand die Maßnahme nicht generell unabhängig von jeglicher Interessenabwägung und einer etwaigen Schwere des Rechtsverstoßes dann umsetzen darf, wenn der Anfechtungskläger das Quorum des § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG in Höhe eines anteiligen Grundkapitals von 1000 Euro nicht erreicht. Dafür könnte sprechen, dass der Gesetzgeber als angemessene rechtliche Sanktion auf Anfechtungsklagen von Kleinstaktionären, die nicht einmal 1000 Euro Grundkapital auf sich vereinen, nicht das Scheitern der Maßnahme, sondern die Nichtigerklärung des Beschlusses und Schadensersatz sieht. Der dieser Fallgruppe zu Grunde liegende Gedanke, Kleinstaktionären eine missbräuchliche Nutzung der Anfechtungsklage zu erschweren54, könnte auch bei Holzmüller-Beschlüssen Relevanz haben. Trotzdem sprechen letztlich die besseren Gründe dafür, diesen Gedanken nicht zur Konkretisierung der Vorstandspflichten bei angefochtenen Holzmüller-Beschlüssen heranzuziehen:

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52 Fleischer, ZIP 2005, 141 (konkret zu diesem Fall S. 150). 53 Poelzig/Thole, ZGR 2010, 836, 847 f.; Poelzig, WM 2008, 1009, 1011; Martens, AG 1988, 118, 120. 54 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13098, S. 41.

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– Bedeutung hätte diese Fallgruppe nur in den Fällen eines schweren Rechtsverstoßes oder ausnahmsweise fehlender überwiegender wirtschaftlicher Interessen der Gesellschaft am Vollzug; in den übrigen Fallgruppen führt ja bereits der Gedanke des § 246 Abs. 2 Satz 3 AktG zu einem Recht des Vorstands zum Vollzug. In beiden Fällen erscheint ein Vollzug der Maßnahme aber rechtspolitisch zumindest zweifelhaft. – Dogmatisch lässt sich das Verfehlen des Mindestquorums kaum zur Konkretisierung der Legalitätspflicht und der Schadensabwendungspflicht des Vorstands heranziehen. Methodisch würden damit prozessuale bzw. prozessökonomische Wertungen zur Konkretisierung gesetzlicher Pflichten und der Lösung einer Pflichtenkollision herangezogen. – Methodisch ginge es damit nicht mehr um eine Auslegung des Gesetzes, sondern um eine Analogie. Deren Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor (s. bereits oben unter II. 1.). Die Entscheidung über eine generelle Relativierung der Rechtsfolgen von Anfechtungsklagen nur gering beteiligter Aktionäre und deren Reichweite sollte daher dem Gesetzgeber überlassen bleiben. f) Rechtsbeständigkeit des Vollzugs nach erfolgreicher Anfechtungsklage Die bisher angestellten Erwägungen zur Möglichkeit eines Vollzugs des angefochtenen Holzmüller-Beschlusses vor Entscheidung über die Anfechtungsklage machen nur dann Sinn, wenn sich in einem zweiten Schritt auch ein Mechanismus findet, der sicherstellt, dass ein späteres Unterliegen der Gesellschaft im Anfechtungsprozess die Rechtsbeständigkeit der vollzogenen Maßnahme nicht mehr tangieren kann. Für die unter das Freigabeverfahren fallenden Fälle löst das Gesetz diese Aufgabe durch ein Abrücken von der Kassationswirkung der Anfechtungsklage (vgl. eingehend bereits I. 2. c). In den Holzmüller-Fällen ist das Problem auf den ersten Blick ohne Bedeutung, weil ein der Anfechtungsklage stattgebendes Urteil nur den Beschluss kassiert, nicht aber die im Urteilsverfahren gar nicht streitgegenständlichen Vollziehungsmaßnahmen des Vorstands. Die Unwirksamkeit des Beschlusses schlägt auch nicht auf die Wirksamkeit der vom Vorstand vorgenommenen Ausführungshandlungen durch, da wie oben bereits dargelegt die gesamte HolzmüllerDoktrin nur das Innenverhältnis der Gesellschaft betrifft. Allerdings fragt sich auf der Sekundärebene, ob dem erfolgreichen Anfechtungskläger keine Ansprüche auf Rückabwicklung der Maßnahme zustehen. Für diese auf der schuldrechtlichen Ebene von Gesellschaftern und Gesellschaft angesiedelte Frage lässt sich die Wertung des § 246a Abs. 4 AktG fruchtbar machen. Der BGH hat in der Holzmüller-Entscheidung anerkannt55, dass dem in seinem Mitgliedschaftsrecht verletzten Aktionär grundsätzlich aus diesem heraus ein Beseitigungsanspruch gegen die Gesellschaft zusteht. Dieser Anspruch ist als deckungsgleich zum quasi-negatorischen Schutz auf

__________ 55 BGHZ 83, 122, 134 f.; kritisch zur Reichweite dieses Anspruchs: J. Adolff, ZHR 169 (2005), 310.

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der Grundlage der § 1004 i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB, der dem Mitgliedschaftsrecht ebenfalls zukommt, zu betrachten56. Er ist damit nicht grenzenlos gewährt. Ein Beseitigungsanspruch besteht gemäß § 1004 Abs. 2 BGB nicht, wenn der Beeinträchtigte einer Duldungspflicht unterworfen ist. Von seinem materiell-rechtlichen Kerngehalt her hat § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG gerade auch eine schuldrechtliche Duldungspflicht für die mit der Anfechtungsklage obsiegenden Aktionäre zur Folge, wie vor allem der gegen schuldrechtliche Ansprüche gerichtete zweite Halbsatz deutlich macht. Bejaht man die Übertragbarkeit der Rechtsgedanken des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG auf HolzmüllerFälle während der laufenden Anfechtungsklage, so erscheint es als folgerichtig, dies auch für die Phase nach der Hauptsacheentscheidung zu tun und eine schuldrechtliche Duldungspflicht der Aktionäre hinsichtlich der vollzogenen Maßnahme bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG anzunehmen. Diese erstreckt sich dann in gleicher Weise wie auf den Beseitigungsanspruch auch auf etwaige Schadenersatzansprüche. Umgekehrt muss zugunsten des erfolgreichen Anfechtungsklägers § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG Anwendung finden, wonach die Gesellschaft dem Anfechtungskläger bei Begründetheit der Klage den ihm aus dem Vollzug der Maßnahmen entstandenen Schäden zu ersetzen hat. 3. Relevanz des § 246a Abs. 2 AktG für die Zulässigkeit einer temporären Satzungsüber-/-unterschreitung a) Überblick Nach heute h. M. ist der Vorstand im Innenverhältnis verpflichtet, den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand zu beachten. Während die Begrenzungsfunktion der Satzung früher überwiegend nur als Obergrenze verstanden wurde, entspricht es heute herrschender Meinung, dass auch Satzungsunterschreitungen unzulässig sind57. Bei einem eng formulierten Unternehmensgegenstand können sich bei Unternehmenserwerben und -verkäufen Probleme im Hinblick auf eine Überschreitung bzw. Unterschreitung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstands ergeben. Der primären, in diesen Fällen häufig wichtigsten Frage, wie die Satzung auszulegen ist und welchen Spielraum sie dem Vorstand lässt, soll hier nicht nachgegangen werden. Vielmehr wird unter-

__________ 56 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 54. 57 S. nur OLG Köln, AG 2009, 416, 417; LG Köln, AG 2008, 327, 331; Holzborn in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 179 AktG Rz. 62 ff.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 21, § 179 AktG Rz. 9a; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 82 AktG Rz. 23 ff.; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 38 f., § 179 AktG Rz. 16 ff.; Carstens/Gisewski, CCZ 2009, 73 f.; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451, 457 f.; speziell zur Satzungsunterschreitung OLG Stuttgart, DB 2001, 854, 856; OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, 783 f.; OLG Stuttgart, AG 2005, 693, 695 f.; Wollburg/Gehling in FS Lieberknecht, 1997, S. 133, 136 ff.; Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225, 228; Tieves, Der Unternehmensgegenstand, 1998, S. 300 ff.

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stellt, dass die beabsichtigte Maßnahme vom satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand nicht mehr gedeckt wäre. Die Fälle, in denen eine Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands (z. B. der Erwerb oder die Veräußerung einer Beteiligung) zu einer Über- oder Unterschreitung des satzungsgemäßen Unternehmensgegenstands führt und daher nur im Gefolge einer Anpassung der Satzung zulässig sind, gleichen strukturell den vorstehend erörterten Holzmüller-Beschlüssen, weil auch der Unternehmensgegenstand nur die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands begrenzt, nicht aber seine Vertretungsmacht im Außenverhältnis. Eine Erschwerung für die Praxis folgt jedoch daraus, dass der Vorstand für die von ihm beabsichtigte Maßnahme nicht lediglich der Zustimmung der Hauptversammlung bedarf, sondern dass der Hauptversammlungsbeschluss über die Änderung des Unternehmensgegenstands erst mit Eintragung in das Handelsregister wirksam wird. Ein Freigabeverfahren ist nicht vorgesehen. Erhebt ein Aktionär Anfechtungsklage gegen den Beschluss zur Satzungsänderung und trägt das Registergericht die Satzungsänderung deshalb nicht ein, „hängt“ die Maßnahme bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anfechtungsklage, also möglicherweise mehrere Jahre58. Der Vorstand befindet sich damit in einem Dilemma: Er hat sich eine Akquisitions- oder Desinvestitionsmöglichkeit erarbeitet, die er aus Sicht der Gesellschaft für äußerst attraktiv hält, die allerdings nur für eine sehr begrenzte Zeitdauer eröffnet ist. Die Einholung der im internen Verhältnis zu den Gesellschaftern erforderlichen Ermächtigung, die Möglichkeit auszunutzen, dauert aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung des Beschlussmängelrechts aber so lange, dass sie zur Nutzung der Geschäftschance viel zu spät kommt. b) Ansätze zur Lösung des Dilemmas aa) Das Dilemma wäre gelöst, wenn es ausreichen würde, die Änderung des Unternehmensgegenstands der Hauptversammlung erst im Anschluss an die Maßnahme, die zur Unter- oder Überschreitung des Unternehmensgegenstands geführt hat, vorzulegen, beispielsweise in der nächsten ordentlichen Hauptversammlung. Dafür könnte das Fehlen eines Freigabeverfahrens sprechen: Wenn man unterstellt, dass der Gesetzgeber wichtige Transaktionen nicht durch unbegründete Anfechtungsklagen eines einzigen Aktionärs mit nur einer Aktie über Jahre blockieren lassen will, gleichzeitig aber kein Freigabeverfahren zur Erreichung der Eintragung der Satzungsänderung trotz anhängiger Anfechtungsklage zur Verfügung stellt, zeigt dies, dass er die Blockademöglichkeit nicht sah. Dies deutet darauf hin, dass er eine nachträgliche Zustimmung der Hauptversammlung für ausreichend hielt. Diese Argumentation unterstellt allerdings eine Systematik und inhaltliche Konsistenz des deutschen Beschlussmängelrechts, die zwar wünschenswert, aber nicht realistisch ist. Gegen ein generelles Recht, die Hauptversammlung erst nach-

__________ 58 Gerade für diesen Fall ist daher eine Ausdehnung des Freigabeverfahrens rechtspolitisch dringend geboten, hierzu bereits oben unter II. 1.

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träglich zu befragen, spricht, dass dadurch die Hauptversammlung letztlich entmündigt würde. Die Durchführung der Maßnahme wäre gerade nicht vom Ergebnis der Entscheidung der Hauptversammlung abhängig. Insbesondere dann, wenn unklar ist, ob die Hauptversammlung der Satzungsänderung mit der erforderlichen Mehrheit zustimmt, wäre ein solches Vorgehen mit der aktienrechtlichen Kompetenzverteilung nicht vereinbar. Dementsprechend verlangt die herrschende Meinung, dass ein erforderlicher Hauptversammlungsbeschluss jedenfalls im Grundsatz vor Durchführung der Maßnahme eingeholt werden muss59. bb) Gerade in der jüngeren Rechtsprechung und Literatur wird allerdings grundsätzlich die Figur der temporären Satzungsunterschreitung anerkannt, wonach unter bestimmten Voraussetzungen ein Vertauschen der Reihenfolge von Durchführung der Maßnahme und Beschlussfassung der Hauptversammlung ausnahmsweise möglich sein soll60. Die aktuellste und konkreteste Stellungnahme zur Frage der Zulässigkeit einer solchen temporären Satzungsunterschreitung stammt vom OLG Köln, das dafür drei Voraussetzungen aufstellt61: (i)

Eine vorherige Entscheidung der Hauptversammlung ist nicht möglich.

(ii) Es besteht eine besondere Notwendigkeit, den Verkauf vor Einholung der Zustimmung der Hauptversammlung vorzunehmen. (iii) Die spätere Zustimmung der Hauptversammlung erscheint als sicher. Dem Grundansatz, eine solche temporäre Satzungsunterschreitung unter bestimmten Voraussetzungen zuzulassen, ist zuzustimmen. Auch hier kann als dogmatische Grundlage der Gedanke der Pflichtenkollision herangezogen werden62. Diskutiert werden diese Fälle ganz überwiegend für die Satzungsunter-

__________ 59 S. nur OLG Köln, AG 2009, 416, 418; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 38 f., § 179 AktG Rz. 18; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451, 458 f.; wohl auch Feldhaus, BB 2009, 562, 565; etwas zurückhaltender Carstens/Gisewski, CCZ 2009, 73, 74 f.; gegen eine zwingende vorherige Satzungsänderung wohl OLG Stuttgart, AG 2005, 693, 696; s. auch Wollburg/Gehling in FS Lieberknecht, 1997, S. 133, 140 ff. 60 Vgl. etwa Feldhaus, BB 2009, 562, 563; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 38a § 179 AktG Rz. 18; unklar Stein in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 179 AktG Rz. 105; a. A. Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225, 228; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 82 AktG Rz. 35 f. Abzugrenzen ist diese Fallgruppe von der temporären Unterschreitung des Satzungsgegenstands aufgrund nur vorübergehender Aufgabe bestimmter geschäftlicher Aktivitäten; hier ist schon gar keine Satzungsänderung erforderlich, vgl. etwa Carstens/Gisewski, CCZ 2009, 73, 75; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451, 458; Holzborn in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2007, § 179 AktG Rz. 70. 61 OLG Köln, AG 2009, 416, 418, das eine vorübergehende Satzungsunterschreitung bei Vorliegen dieser Voraussetzungen jedenfalls erwägt; für die Zulässigkeit einer temporären Satzungsunterschreitung bei Vorliegen dieser Voraussetzungen Carstens/ Gisewski, CCZ 2009, 73, 75; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451, 459; Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 38a, § 179 AktG Rz. 18; für geringere Anforderungen und gegen ein Erfordernis des kumulierten Vorliegens aller drei Voraussetzungen Feldhaus, BB 2009, 562, 565 f. 62 So ausdrücklich Feldhaus, BB 2009, 562, 565 f.

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schreitung; es spricht jedoch viel dafür, den Grundgedanken auch auf eine temporäre Überschreitung anzuwenden. Praktisch wichtig und schwierig ist hier die Konkretisierung der zweiten Voraussetzung. Die Anforderungen an eine „besondere Notwendigkeit“ im Sinne dieser Voraussetzung erscheinen noch als weitgehend ungeklärt63. Das OLG Köln selbst gibt der Praxis wenig Hilfestellung, wenn es ausführt, im konkreten Fall sei der Verkauf weder dringend noch notwendig gewesen. Einigkeit wird man schnell darüber erreichen, dass Maßnahmen, die zu einer Sanierung der in der Krise befindlichen Gesellschaft erforderlich sind, darunter fallen64. Unklar ist dagegen, ob dies auch für Transaktionen gilt, die für die prosperierende Gesellschaft „lediglich“ sehr sinnvoll und strategisch weiterführend sind. Schwierigkeiten können sich auch im Hinblick auf die dritte Voraussetzung, der sicher erscheinenden späteren Zustimmung der Hauptversammlung, ergeben, wenn die Gesellschaft keinen Mehrheitsgesellschafter hat und der Vorstand sich lediglich auf allgemeine Erfahrungen derart stützen kann, dass die Hauptversammlung sinnvollen Maßnahmen schon zustimmen wird und im Übrigen auch in der Vergangenheit stets den Vorschlägen der Verwaltung gefolgt ist. cc) Überlegt werden soll, ob sich nicht eine rechtlich verlässlichere, auf gesetzliche Wertungen gestützte und von daher für den Vorstand sicherere Vorgehensweise in Anlehnung an § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG entwickeln lässt. Häufig ist es praktisch möglich und für beide Parteien der Transaktion zumutbar, das Votum der Hauptversammlung rechtzeitig vor Durchführung der Maßnahme einzuholen. Lediglich der Zeitpunkt der Eintragung der Satzungsänderung ist ungewiss, so dass eine Abhängigkeit des Vollzugs der Maßnahme von der Handelsregistereintragung für die Gesellschaft und erst recht die Gegenpartei unzumutbar wäre. Hat die Hauptversammlung der Satzungsänderung zugestimmt, fehlt aber noch die Eintragung in das Handelsregister, drängt sich ein Erst-recht-Schluss dahingehend auf, dass eine temporäre Satzungsunterschreitung auch möglich sein muss, wenn ein Hauptversammlungsbeschluss bereits gefasst worden ist, dessen Wirksamwerden sich aber aufgrund einer Anfechtungsklage verzögert. Das Bedürfnis danach, der Gesellschaft ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit zu sichern, ist offensichtlich: Der Vorstand hat alles getan, was er zur Beachtung des Unternehmensgegenstands tun konnte. Das Gesetz stellt ihm keine Möglichkeit einer rechtzeitigen gerichtlichen Klärung zur Verfügung. Würde man in diesem Fall die Eintragung der Satzungsänderung verlangen, hieße dies, jedem einzelnen Aktionär die Möglichkeit zu geben, auch mit einer letztlich unbegründeten Anfechtungsklage die Maßnahme auf unbestimmte Zeit und in der Praxis damit häufig endgültig zu verhindern.

__________ 63 So Feldhaus, FD-MA 2009, 275933. 64 So auch Feldhaus, BB 2009, 562, 566; ders., FD-MA 2009, 275933; Kiesewetter/ Spengler, Der Konzern 2009, 451, 459.

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Legt man die recht strengen Anforderungen des OLG Köln zugrunde, stellt sich die Situation für den Vorstand deutlich komfortabler als bei Fehlen eines Hauptversammlungsbeschlusses dar: Das gilt vor allem für die erste und die dritte Voraussetzung für eine temporäre Satzungsunterschreitung. Die Zustimmung der Hauptversammlung ist bereits eingeholt worden. Sie hat mit der erforderlichen Mehrheit zugestimmt. Das Wirksamwerden der Satzungsänderung durch Eintragung in das Handelsregister kann aufgrund möglicher Anfechtungsklagen aber noch Jahre dauern. Die Dauer des Anfechtungsprozesses hat die Gesellschaft nicht in der Hand und die (falls erforderlich neuerliche) Zustimmung der Hauptversammlung kann als sicher gelten, weil der Beschluss ja schon einmal mit der erforderlichen Mehrheit gefasst worden ist. Fraglich ist, wie die zweite vom OLG Köln aufgestellte Voraussetzung, die „besondere Notwendigkeit“ einer Durchführung der Maßnahme vor der Zustimmung der Hauptversammlung oder genauer dem Wirksamwerden dieser Zustimmung zu verstehen ist. Es erscheint teleologisch sinnvoll, den unbestimmten Rechtsbegriff der „besonderen Notwendigkeit“ in den Fällen, in denen ein Hauptversammlungsbeschluss vorliegt aber angefochten wurde, auf der Grundlage der Wertungen des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG auszufüllen. Dort hat der Gesetzgeber eine Wertentscheidung zu der Frage getroffen, wann er den sofortigen Vollzug einer von der Hauptversammlung mit der erforderlichen Mehrheit beschlossenen Maßnahme als dringend und notwendig erachtet. Diese Wertentscheidung passt auch im Kontext der temporären Satzungsunterschreitung. Hinsichtlich der Modalitäten der dem Vorstand damit eröffneten Abwägungsmöglichkeit wirkt sich dann wiederum die bereits bei den Holzmüller-Beschlüssen erläuterte, von § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG vorgegebene Struktur der in die Abwägung einzubeziehenden Interessen aus. Die Besonderheit der Situation nach gefasstem und angefochtenem Beschluss im Vergleich zur Situation ganz ohne Hauptversammlungsbeteiligung besteht dem Regelungssystem des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG entsprechend darin, dass auf Seiten der Aktionäre nicht deren Mitgliedschaftsrechte in ihrer Gesamtheit einzustellen sind, sondern lediglich die Nachteile für die konkreten Anfechtungskläger. Dies erscheint auch interessengerecht, weil materiell die übrigen Anteilseigner ja mehrheitlich zugestimmt und jedenfalls auf eine fristgerechte Anfechtung verzichtet haben und es damit keinen Grund gibt, deren Rechte gegen ihren eigenen Willen zu schützen. Als Konsequenz dieses Ansatzes ergibt sich, dass es zur Bejahung einer besonderen Notwendigkeit für die temporäre Satzungsunterschreitung in den hier diskutierten Fällen ausreicht, wenn bloße „überwiegende wirtschaftliche Nachteile“ für die Gesellschaft zu erwarten sind, soweit keine besondere Schwere des Rechtsverstoßes gegeben ist. Dieses Überwiegen der wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft (und der Aktionärsmehrheit) am Vollzug der Maßnahme gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Klägers an deren Aufschub dürfte typischerweise gegeben sein. Abgesehen vom Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes kommt man damit zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Wertung des § 246a AktG die Anfechtung einer Satzungsänderung wegen Satzungsunterschreitung (oder Sat751

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zungsüberschreitung) in der Regel kein Potential mehr hat, die Durchführung der Maßnahme zu blockieren65.

III. Zusammenfassung 1. Die maßgeblich von Martin Winter mit vorangetriebene Reform des Beschlussmängelrechts hat, nicht zuletzt aufgrund seiner Vorarbeiten, einen veritablen und für die Praxis brauchbaren Zwischenstand erreicht. Mag die Relativierung der Rechtsfolgen der Anfechtungsklage, die durch das Freigabeverfahren erreicht wird, zwar dogmatisch komplex und ohne Kenntnis des deutschen Pfads der Behandlung von Beschlussmängelklagen kaum verständlich sein, ist damit doch für die Praxis eine taugliche Grundlage geschaffen worden, die Gesellschaft gegen das Scheitern von Strukturmaßnahmen zu schützen, das ansonsten aufgrund unbegründeter oder auf lediglich leichte Rechtsmängel gestützter Anfechtungsklagen drohen würde. 2. Allerdings steht ein Freigabeverfahren nach wie vor nur für eine begrenzte Zahl an Hauptversammlungsbeschlüssen zur Verfügung, und eine Analogie scheidet aus methodischen Gründen aus. Trotz des erreichten Stands macht es Sinn, über eine Erstreckung des Freigabeverfahrens auf weitere Beschlüsse oder eine grundlegende Vereinfachung des Beschlussmängelrechts mit einer angemessenen Relativierung der Rechtsfolgen nachzudenken. 3. Trotz fehlender Voraussetzungen für eine Analogie gehen die Wirkungen des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG (und der Parallelvorschriften in § 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 3 AktG und § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG) über diejenigen Beschlüsse, für die das Freigabeverfahren ausdrücklich vorgesehen ist, hinaus, indem die Interessenabwägungsklausel des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG hilfreiche Auslegungshilfen auch bei Strukturbeschlüssen liefert, bei denen ein Freigabeverfahren nicht eröffnet ist. 4. Für Holzmüller-Beschlüsse lässt sich aus den der Interessenabwägungsklausel des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG zugrunde liegenden Wertungen das Recht des Vorstands ableiten, die Maßnahme selbst dann umzusetzen, wenn die Anfechtungsklage aus Sicht des Vorstands zwar begründet ist, der geltend gemachte Rechtsmangel aber keine besondere Schwere aufweist und die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft und der nicht klagenden Aktionärsmehrheit am Vollzug der Maßnahme die wirtschaftlichen Interessen des Klägers an deren Aufschub überwiegen. 5. Für den Fall der Satzungsunter- und -überschreitung lässt sich § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG zur Konkretisierung der Grundsätze zur temporären Satzungs-

__________ 65 Im Ergebnis, nicht in der Begründung, kommt die hier vertretene Auffassung derjenigen von Wollburg/Gehling in FS Lieberknecht, 1997, S. 133, 140 ff. nahe, wonach das Wirksamwerden der Satzungsänderung jedenfalls dann nicht Voraussetzung der satzungsunter- oder -überschreitenden Maßnahme ist, wenn die Hauptversammlung dieser zuvor nach Holzmüller-Grundsätzen zugestimmt hat; dagegen Stein in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 179 AktG Rz. 103, 105.

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Freigabeverfahren, Holzmüller und Änderung des Unternehmensgegenstands

durchbrechung heranziehen. Nach der jüngsten Rechtsprechung ist eine solche temporäre Satzungsdurchbrechung ausnahmsweise dann denkbar, wenn (i) eine vorherige Entscheidung der Hauptversammlung nicht möglich ist; (ii) eine besondere Notwendigkeit besteht, die Transaktion vor Einholung der Zustimmung der Hauptversammlung vorzunehmen und (iii) die spätere Zustimmung der Hauptversammlung als sicher erscheint. Fehlt ein Hauptversammlungsbeschluss völlig, kann die Konkretisierung dieser Voraussetzungen schwierig sein. Liegt ein Hauptversammlungsbeschluss vor und ist lediglich dessen Wirksamwerden durch Eintragung in das Handelsregister aufgrund von Anfechtungsklagen unklar, sollte die Bejahung dieser Voraussetzungen im Regelfall leicht fallen: Insbesondere die recht vagen Anforderungen an die zweite Voraussetzung, die besondere Notwendigkeit zur Durchführung der Maßnahme vor Wirksamwerden der Zustimmung der Hauptversammlung, können durch Rückgriff auf die Interessenabwägungsklausel des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG konkretisiert werden.

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Die Klagbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten Inhaltsübersicht I. Einführung II. Problemstellung 1. Die Klagbarkeit der Stimmpflicht der Gesellschafter 2. Die Klagbarkeit des Wettbewerbsverbots von Geschäftsleitern in der Kapitalgesellschaft & Co. KG a) Die Gruner + Jahr-Entscheidung des BGH b) BGH: Drittschutz nicht auf Primärebene (Unterlassung), sondern nur auf Sekundärebene (Schadensersatz) 3. Befund: Keine stringente Klagbarkeitsdogmatik bei gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten III. These 1. Rekurs auf die allgemeine Klagbarkeitsdogmatik von Rücksichtspflichten 2. Begründung IV. Normative Verankerung der Treuepflichtdogmatik in §§ 241, 242 BGB 1. Schuldrechtliche Treuepflicht 2. Mitgliedschaftliche Treuepflicht

3. Organschaftliche Treuepflicht 4. Zwischenbilanz V. Die Klagbarkeit von Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) 1. Die Einzelelemente eines Schuldverhältnisses 2. Die Klagbarkeit als Eigenschaft von Leistungspflichten 3. Die Klagbarkeit als Eigenschaft von Rücksichtspflichten? a) Entwicklung und Meinungsstand aa) Die Doktrin Lehmanns und Sibers bb) Position der Rechtsprechung cc) Literatur: Bejahung der Klagbarkeit unter besonderen Voraussetzungen b) Voraussetzungen der Klagbarkeit aa) Konkretisierbarkeit des Pflichtinhalts bb) Überwiegendes schutzwürdiges Interesse VI. Lösung der Eingangsbeispiele VII. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Die Treuepflichten sind von Rechtsprechung und Wissenschaft zu einem der wesentlichen Institute des Gesellschaftsrechts ausgebaut worden1. Sie haben sich zu einem „zentralen Rechtssatz“2 in Form einer „Generalklausel“3 entwickelt. Martin Winter hatte daran mit seiner wegweisenden Monographie zu

__________ 1 Vgl. aus jüngerer Zeit z. B. Merkt in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 13 Rz. 88 ff.; Verse, Treuepflichten und Gleichbehandlungsgrundsatz, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 579 ff.; Weller in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 13 Rz. 7 ff. 2 Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 Rz. 221. 3 Wiedemann, WM 2009, 1 ff.

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den „Mitgliedschaftlichen Treuebindungen im GmbH-Recht“ (1988)4 einen entscheidenden Anteil. Martin Winter war dem Verfasser, der von 2002 – 2005 als Anwalt im Mannheimer Büro der internationalen Sozietät Shearman & Sterling tätig gewesen ist, ein großes Vorbild, insbesondere darin, anwaltliche und wissenschaftliche Exzellenz zu vereinen. Auch seine freundschaftliche Art und seine emotionale Seite bleiben unvergessen. Die folgenden Zeilen seien ihm gewidmet. Innerhalb der gesellschaftsrechtlichen Treuebindungen ist zwischen den organschaftlichen Treuepflichten der Geschäftsleiter und den mitgliedschaftlichen Treuepflichten der Gesellschafter zu unterscheiden5. Diese Unterscheidung betrifft die Rechtsnatur der Treuepflichten. Sie geht auf die allgemeine Vertragsrechtsdogmatik zurück. Im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten von Rumpf6, Beyerle7 und Würdinger8 werden Verträge heutzutage je nach der ihnen zugrunde liegenden Interessenstruktur in Verträge des Interessengegensatzes, der Interessengemeinschaft und der Fremdinteressenwahrung eingeordnet9. Diese Einordnung hat nicht nur dogmatischen Wert, sondern geht auch mit unterschiedlichen Rechtsfolgen einher. So ist die organschaftliche Treuepflicht der Geschäftsleiter aufgrund ihrer ausschließlichen Fremdinteressenfokussierung intensiver als die mitgliedschaftliche Treuepflicht der Gesellschafter10. Dies zeigt sich an gewissen Ausprägungen der Treuepflicht, etwa an der Vermögensbetreuungspflicht im strafrechtlichen Untreuetatbestand (§ 266 StGB), welche nur die Geschäftsleiter, nicht aber die Gesellschafter trifft11, sowie am Wettbewerbsverbot. Dieses ist für Geschäftsleiter deutlich strenger als für Gesellschafter12. Während ein Gesellschafter einer personalistisch strukturierten

__________ 4 Zur gewichtigen, weit über eine „normale“ Dissertation hinausreichenden Bedeutung dieser Schrift Zöllner, ZIP-Sonderbeilage zu Heft 39/2010, S. 3 f., auch hier abgedruckt S. 1 ff. 5 Fleischer, WM 2003, 1045, 1046 f.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 84 Rz. 9; Wiedemann, WM 2009, 1 ff. Näher infra unter IV.2. und IV.3. 6 Rumpf, AcP 119 (1921), 1, 53 ff., systematisiert die Schuldverträge erstmals nach Parteiinteressen. 7 Beyerle, Die Treuhand im Grundriss des deutschen Privatrechts, 1932, S. 46, differenziert zwischen den drei Grundtatbeständen Synallagma, Gesamthand und Treuhand. 8 Würdinger, Gesellschaften, Bd. I, 1937, S. 9 ff., unterscheidet nach Verträgen des Interessengegensatzes (mea res agitur), der Interessengemeinschaft (nostra res agitur) und der Interessenwahrung (tua res agitur). 9 Martinek in Staudinger, BGB, 2006, Vorbem. zu §§ 662 ff. Rz. 24 ff.; Rittner, Ausschließlichkeitsbindungen, 1957, S. 112 ff., 141 ff., 160 ff.; Ulmer, Der Vertragshändler, 1969, S. 265 ff.; Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, Vor § 705 Rz. 104 ff.; Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 9 ff., 26 ff., 29; Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 197 ff. 10 Fleischer, WM 2003, 1045, 1047; Hellgardt, ZIP 2007, 2248, 2250; Weller, ZHR 175 (2011), 110, 127 f. 11 Schönke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 266, Rn. 25 f.; MünchKommStGB/ Dierlamm, 2006, § 266, Rn. 83, 84. 12 Ausführlich Weller, ZHR 175 (2011), 110, 127 f.

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Gesellschaft im selben Geschäftszweig keine Konkurrenz machen darf (exemplarisch: § 112 Abs. 1 HGB), reicht das Wettbewerbsverbot der Geschäftsleiter weiter. Letztere sind nicht nur verpflichtet, der Gesellschaft keine Konkurrenz im selben Geschäftszweig zu machen, sondern dürfen überhaupt nicht anderweitig tätig werden (beispielhaft: § 88 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. und Satz 2 AktG). Denn aufgrund des Fremdinteressenwahrungscharakters des Geschäftsleiteranstellungsvertrages sind sie gehalten, ihre Arbeitskraft der Gesellschaft ungeschmälert zukommen zu lassen13.

II. Problemstellung Auch wenn die gesellschaftsrechtliche Treuepflichtdogmatik bereits eine beachtliche Durchdringung erfahren hat, so gibt es gleichwohl noch Forschungsbedarf, unter anderem im Hinblick auf die Rechtsfolgen von Treuepflichten auf Primär- und Sekundärebene14. Nicht hinreichend geklärt ist insbesondere die Frage, ob Treuepflichten auf Primärebene stets als solche in Natur durchgesetzt werden können, wie es etwa bei Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) grundsätzlich der Fall ist15, oder ob sie lediglich auf Sekundärebene Rechtsfolgen in Form von Schadensersatz im Verletzungsfall zeitigen. Die Unschärfe der Treuepflichtdogmatik auf Rechtsfolgenebene sei an zwei Beispielen erhellt: 1. Die Klagbarkeit der Stimmpflicht der Gesellschafter Anerkannt ist, dass ein Gesellschafter aufgrund der mitgliedschaftlichen Treuepflicht gehalten sein kann, das Stimmrecht in einer bestimmten Art und Weise auszuüben16. Die Verpflichtung kann soweit gehen, einer konkreten Beschlussvorlage zuzustimmen17, etwa in dringenden Sanierungsfällen18. Zustimmungspflichten wurden ferner bejaht für das Ausscheiden eines in persönliche Zahlungsschwierigkeiten geratenen Gesellschafters19, zum Zweck der

__________ 13 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 88 Rz. 2; ders., WM 2003, 1045, 1050 f. 14 Vgl. zu den verschiedenen Rechtsfolgen der Treuepflicht Merkt in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 13 Rz. 186 ff. 15 Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 232 ff., 264, 381 ff. 16 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 13 Rz. 29. 17 BGH, Urt. v. 25.9.1986 – II ZR 262/85, BGHZ 98, 276, 278 ff.; BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 244/86, BB 1987, 1200; OLG Hamm, Urt. v. 9.12.1991 – 8 U 78/91, GmbHR 1992, 612. 18 BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08 („Sanieren oder Ausscheiden“), BGHZ 183, 1 ff. = DStR 2009, 2495 f., s. dazu K. Schmidt, JZ 2010, 125; Weber, DStR 2010, 702. 19 BGH, Urt. v. 26.1.1961 – II ZR 240/59, NJW 1961, 724, 2. Leitsatz: „Ist ein Gesellschafter wegen persönlicher Zahlungsschwierigkeiten bereit, im Interesse der Gesellschaft sofort auszuscheiden, und sind die anderen Gesellschafter damit einverstanden, so kann sich für einen minderjährigen Gesellschafter daraus die Rechtspflicht ergeben, dem Ausscheiden zuzustimmen, wenn er kein schutzwertes Interesse an dem Verbleiben gerade dieses Gesellschafters hat.“

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Ausschließungsklage gegen einen Gesellschafter20 sowie zur Änderung von statutarischen Nachfolgeklauseln nach der Scheidung der Ehe der einer Kommanditgesellschaft angehörenden Eheleute21. Die positive oder negative Stimmpflicht ist eine Primärfolge der Treuepflicht, die auf diese Weise in Natur durchgesetzt wird22. Sie wird von der Rechtsprechung jedoch nicht stets und vorbehaltlos bejaht, sondern nur unter gewissen Voraussetzungen. Insbesondere müsse, so der BGH, der Beschluss im Gesellschaftsinteresse dringend geboten und dem betroffenen Gesellschafter zumutbar sein23. 2. Die Klagbarkeit des Wettbewerbsverbots von Geschäftsleitern in der Kapitalgesellschaft & Co. KG Das zweite Beispiel betrifft das aus der organschaftlichen Treuepflicht folgende Wettbewerbsverbot von Geschäftsleitern24. Dessen Inhalt ist insbesondere in Dreieckskonstellationen, wie sie in der Kapitalgesellschaft & Co. KG vorkommen, nicht unumstritten25. Die h. M. nimmt an, dass die Treuepflichten, denen die Geschäftsleiter der Komplementärgesellschaft unterliegen, nicht nur (unmittelbar) gegenüber der Komplementärgesellschaft wirken, sondern auch (mittelbar) Drittwirkung zugunsten der Kommanditgesellschaft entfalten, zu der die Geschäftsleiter keine organschaftlichen oder schuldrechtlichen Bezie-

__________ 20 BGH, Urt. v. 28.4.1975 – II ZR 16/73, BGHZ 64, 253, 2. Leitsatz: „Bei Vorliegen eines Ausschließungsgrundes in der Person eines Gesellschafters kann der einzelne Gesellschafter auch ohne besondere gesellschaftsvertragliche Regelung verpflichtet sein, zu einer Ausschließungsklage seine Zustimmung zu geben.“ Hierzu Ulmer, JZ 1976, 97 f. 21 BGH, Urt. v. 18.3.1974 – II ZR 80/72, WM 1974, 831, 833. 22 Zum Grundsatz der Naturalerfüllung als einem beherrschenden Grundsatz des deutschen Privatrechts Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 42 ff., 316 ff., 371 ff. 23 BGH, Urt. v. 25.9.1986 – II ZR 262/85, BGHZ 98, 276, 280: „Die Treuepflicht kann einem Gesellschafter vielmehr gebieten, einer Anpassung des Gesellschaftsvertrages an veränderte Verhältnisse zuzustimmen, die mit Rücksicht auf das Gesellschaftsverhältnis, insbesondere zur Erhaltung des Geschaffenen, dringend geboten und den Gesellschaftern unter Berücksichtigung ihrer eigenen schutzwerten Belange zumutbar ist.“ Vgl. zu den Einschränkungen einer Stimmpflicht auch Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 13 Rz. 29. 24 Zum Wettbewerbsverbot von GmbH-Geschäftsführern: BGH, Urt. v. 9.11.1967 – II ZR 64/67, BGHZ 49, 30, 31 (obiter dictum); OLG Oldenburg, Urt. v. 17.2.2000 – 1 U 155/99, NZG 2000, 1038, 1039; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 6 Rz. 78, 83 sowie § 43 Rz. 26, 29; Klöhn in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 43 Rz. 38; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 Rz. 41; Riegger, BB 1983, 90. Zum Wettbewerbsverbot des Vorstands in der AG Fleischer, AG 2005, 336 ff.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 88 Rz. 1 sowie § 84 Rz. 9; vgl. ferner Ziff. 4.3.1 DCGK. 25 Ausführlich Weller, ZHR 175 (2011), 110, 133 ff.

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hungen haben26. Begründet wird diese Drittwirkung nach überzeugender Auffassung mit der Figur des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter27. Problematisch ist allerdings, mit welchen Rechtsfolgen diese drittschützenden Treuepflichten einhergehen. Eröffnen sie der Kommanditgesellschaft auf Primärebene einen klagbaren Anspruch auf Unterlassung von Wettbewerb oder gewähren sie ihr lediglich einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn das Wettbewerbsverbot durch den Geschäftsleiter verletzt wird? a) Die Gruner + Jahr-Entscheidung des BGH Der BGH hat zu dieser Frage in der Gruner + Jahr-Entscheidung in einem obiter dictum Stellung genommen28. Zur Problemerhellung sei der Sachverhalt (vereinfacht) skizziert: Wesentlicher Unternehmensträger des europaweit größten Druck- und Verlagsunternehmens Gruner + Jahr ist die Gruner + Jahr AG & Co. KG. Diese hat drei Gesellschafter: zwei Kommanditisten und eine Komplementär-AG: Als Mehrheitskommanditistin die Bertelsmann AG (beteiligt mit ca. 74 %), als Minderheitskommanditist den Constanze Verlag (mit einer Beteiligung von ca. 24 %) und schließlich als Komplementärin die Gruner + Jahr AG (2 %). An der Gruner + Jahr AG sind wiederum Bertelsmann (74,6 %) und der Constanze Verlag beteiligt (25,1 %). Es handelt sich also um eine „klassisch“ strukturierte Kapitalgesellschaft & Co. KG, bei der die Kommanditisten und AG-Gesellschafter personenidentisch sind und in der KG bzw. AG über den gleichen Einfluss verfügen. Bekanntlich werden die Geschäfte in einer KG von der Komplementärin geführt, hier also von der Gruner + Jahr AG. Da diese AG durch ihre Organe handelt, leitet praktisch der Vorstand der AG die Geschäfte der Kommanditgesellschaft. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Vorstandsmitglieder der Komplementär-AG nicht nur der AG gegenüber, sondern auch unmittelbar gegenüber der KG einem Wettbewerbsverbot unterliegen. Diese Frage wurde virulent, als der Vorstandsvorsitzende X der Komplementär-AG zusätzlich in der Bertelsmann AG zum Vorstandsmitglied bestellt wurde. Es wurde also ein sog. Vorstandsdoppelmandat begründet, bei dem die Konkurrenzproblematik auf der Hand liegt: X sollte nicht nur als Organ der Komple-

__________ 26 Grundlegend BGH, Urt. v. 12.11.1979 – II ZR 174/77, BGHZ 75, 321, 322 f. (für Publikums-KGs); erweitert durch BGH, Urt. v. 24.3.1980 – II ZR 213/77, BGHZ 76, 326, 327, 337 f. (allgemein für GmbH & Co. KGs); bestätigt durch BGH, Urt. v. 17.3.1987 – VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190, 193; Grunewald in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2007, § 161 Rz. 82 sowie § 165 Rz. 14; Riegger, BB 1983, 90, 91. 27 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 88 Rz. 4; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 88 Rz. 47; Werner, GmbHR 2007, 988, 989. 28 BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, NZG 2009, 744; hierzu Grigoleit, ZGR 2010, 662; Klöhn/Schaper, LMK 2009, 287721; s. auch die Entscheidung der Vorinstanz: OLG Hamburg, Urt. v. 29.6.2007 – 11 U 141/06, ZIP 2007, 1370; hierzu Altmeppen, ZIP 2008, 437; Cahn, Der Konzern 2007, 716; Hellgardt, ZIP 2007, 2248; Werner, GmbHR 2007, 988.

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mentär-AG die Geschäfte von Gruner + Jahr führen, sondern fortan zugleich auch die Geschäfte des Konkurrenzunternehmens Bertelsmann. Diese Konkurrenzproblematik rief denn auch den Minderheitskommanditisten Constanze Verlag auf den Plan. Er begehrte mit seiner Klage die Feststellung, dass X aufgrund seiner organschaftlichen Treuepflicht auch gegenüber der Gruner + Jahr AG & Co. KG einem Wettbewerbsverbot unterliege. X dürfe das zweite Vorstandsmandat in der Bertelsmann AG daher nur mit vorheriger Zustimmung der KG ausüben; anders gewendet: die KG habe ein Vetorecht im Hinblick auf die Begründung des Vorstandsdoppelmandates. b) BGH: Drittschutz nicht auf Primärebene (Unterlassung), sondern nur auf Sekundärebene (Schadensersatz) Der BGH weist dieses Klagebegehren zurück. Er lässt „dahinstehen, ob bei der AG & Co. KG die Norm des § 88 Abs. 1 Satz 2 AktG oder das Organ- und Anstellungsverhältnis des Vorstands zur Komplementär-AG tatsächlich drittschützende Wirkung zugunsten der KG entfalte[t], wie dies für den Geschäftsführer der GmbH & Co. KG angenommen wird“29. Der BGH kann diese Frage deshalb offenlassen, weil er der zum Wettbewerbsverbot verdichteten organschaftlichen Treuepflicht auf Primärebene die Klagbarkeit abspricht; er beschränkt die Rechtsfolgen der Treuepflicht auf die Sekundärebene in Form von Schadensersatz: „Denn Drittschutz bedeutet in diesem Zusammenhang nur, dass der KG eigene Ansprüche zustehen könnten, soweit der Geschäftsleiter (Treu-)Pflichten aus dem den Drittschutz begründenden, bereits bestehenden Anstellungs- und Organverhältnis zur Komplementärin verletzt“30. Dagegen sei ein Recht der KG-Gesellschafter „auf maßgebliche Mitwirkung (faktisches ‚Vetorecht‘) bei dem – zeitlich vorgehenden – ‚primären‘ Akt der Bestellung von Vorstandsmitgliedern zu Doppelmandatsträgern“ mit dem Drittschutzkonzept nicht verbunden31. Nach Auffassung des BGH soll das Wettbewerbsverbot für den Begünstigten also nur ex post, nicht auch ex ante wirken: Es soll keine Primäransprüche (Unterlassung), sondern nur Sekundäransprüche im Verletzungsfall hervorbringen, was auf ein „dulde und liquidiere“ hinausläuft32. Eine dogmatisch stringente Begründung für seine Position liefert der BGH freilich nicht. 3. Befund: Keine stringente Klagbarkeitsdogmatik bei gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten Die Beispiele zur treuepflichtbasierten Stimmpflicht einerseits und zum treuepflichtbasierten Wettbewerbsverbot andererseits lassen bisher kein stimmiges System im Hinblick auf die Klagbarkeit von Treuepflichten im Gesellschafts-

__________ 29 30 31 32

BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, NZG 2009, 744, Tz. 21. BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, NZG 2009, 744, Tz. 21. BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, NZG 2009, 744, Tz. 22. Ähnliche Interpretation von Klöhn/Schaper, LMK 2009, 287721.

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recht erkennen. Unstreitig ist zwar, dass eine Treuepflichtverletzung auf Sekundärebene Schadensersatz auslösen kann; ob die Treuepflicht aber auch schon auf der vorgelagerten Primärebene in Natur durchgesetzt werden kann, wird momentan nur disparat und ohne erkennbares System von Fall zu Fall angenommen.

III. These 1. Rekurs auf die allgemeine Klagbarkeitsdogmatik von Rücksichtspflichten Eine systemstimmige Lösung würde sich ergeben, wenn man im Hinblick auf die Frage nach der Klagbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten auf die allgemeine Klagbarkeitsdogmatik von Rücksichtspflichten rekurrierte. Rücksichtspflichten haben ihre normative Grundlage in § 241 Abs. 2 BGB. Werden sie verletzt, hat der Schuldner nach § 280 Abs. 1 BGB Schadensersatz zu leisten. Im Unterschied zu den in § 241 Abs. 1 BGB verankerten Leistungspflichten sind Rücksichtspflichten auf Primärebene nicht stets, sondern nur unter zwei Voraussetzungen in Natur durchsetzbar33: (1.) Ihr Pflichtinhalt muss sich hinreichend konkretisieren lassen. (2.) Ferner muss ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse desjenigen bestehen, der die Beachtung der Rücksichtspflicht einfordert. 2. Begründung Die These, auf die allgemeine schuldrechtliche Klagbarkeitsdogmatik zurückzugreifen, um die Rechtsfolgenproblematik der Treuepflichten im Gesellschaftsrecht nach einheitlichen Voraussetzungen zu lösen, lässt sich in mehrfacher Hinsicht begründen. Zum einen ist die Systemstimmigkeit einer Lösung ein rechtlicher Wert an sich, der nicht zuletzt im Hinblick auf die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit rechtlicher Entscheidungen wesentlich ist. Zum anderen würde nach dem hier zur Diskussion gestellten Vorschlag die gesellschaftsrechtliche Treuepflichtdogmatik mit der allgemeinen schuldrechtlichen Dogmatik subjektiver Rechte und Pflichten auch auf Rechtsfolgenebene verzahnt – eine Verzahnung, welche die h. M. im Zusammenhang mit der Rechtsnatur von Treuepflichten und der darauf basierenden Unterscheidung zwischen mitgliedschaftlichen und organschaftlichen Treuepflichten bereits vornimmt, wenn sie sich diesbezüglich auf die allgemeine Lehre von der Interessenstruktur von Verträgen stützt34. Schließlich harmonierte dieser Ansatz in normativer Hinsicht mit der Verwurzelung der Treuepflichtdogmatik in den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB. Die Treuepflichten gelten nämlich als ein Unterfall der Rücksichtspflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB. Demnach

__________ 33 Ausführlich zur Klagbarkeit von Leistungs- und Rücksichtspflichten Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 232 ff., 264 ff. 34 Hierzu infra unter IV.2. und 3.

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wäre es nur konsequent, wenn man sich hinsichtlich der Klagbarkeit der Treuepflichten an der im schuldrechtlichen Schrifttum elaborierten Klagbarkeitsdogmatik der Rücksichtspflichten orientierte. Im Folgenden soll zunächst dargelegt werden, dass sich auch die gesellschaftsrechtliche Treuepflichtdogmatik normativ auf die §§ 241 Abs. 2, 242 BGB zurückführen lässt (unter IV.). Darauf aufbauend wird die allgemeine Klagbarkeitsdogmatik von Rücksichtspflichten erörtert (unter V.), bevor auf ihrer Grundlage die beiden Eingangsbeispiele zur Klagbarkeit der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht (Stimmpflicht, Wettbewerbsverbot) gelöst werden (unter VI.).

IV. Normative Verankerung der Treuepflichtdogmatik in §§ 241, 242 BGB 1. Schuldrechtliche Treuepflicht Die allgemeine schuldrechtliche Treuepflichtdogmatik beruht auf der Erkenntnis, dass jedes Vertragsverhältnis in Verbindung mit § 242 BGB Treuepflichten begründet35. So hebt der BGH hervor, mit jedem Vertrag sei „die aus dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) folgende vertragliche Nebenpflicht verbunden, sich leistungstreu zu verhalten, also alles zu unterlassen, was den Vertragszweck gefährden oder vereiteln könnte, und alles Notwendige zu tun, um die Erfüllung der vertraglich übernommenen Verpflichtung sicherzustellen“36. In ihrer negativen Wirkrichtung verpflichtet die Treuepflicht den Adressaten mithin zu einem Unterlassen von Handlungen, die den Vertragszweck konkret beeinträchtigen37. In ihrer positiven Wirkrichtung erlegt sie den Parteien auf, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich und zumutbar sind, um den Vertragszweck vorzubereiten, herbeizuführen und zu sichern38. Die Treuepflichten treten als vertraglich nicht ausdrücklich geregelte, jedoch aus § 242 BGB ableitbare Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB)39 neben die vereinbarten Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) und sollen die Verwirklichung des Vertragszwecks in Natur (Naturalerfüllung) flan-

__________

35 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20 IV 1; Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 302 ff., 309 ff.; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbHRecht, 1988, S. 10 ff. 36 BGH, Urt. v. 30.3.1995 – IX ZR 182/94, NJW 1995, 1954, 1955. 37 Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, S. 21 f.; Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 447 ff.; Wiedemann in Soergel, BGB, 1990, Vor § 275 Rz. 373. Die Treuepflichten halten die Parteien insbesondere dazu an, „den Vertragspartner nicht daran zu hindern, die von ihm mit dem Vertragsabschluss angestrebten Vorteile zu erlangen oder seine Ziele zu verwirklichen“, Otto in Staudinger, BGB, 2004, § 282 Rz. 35. 38 Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, S. 22; Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 447 ff.; Roth in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 242 Rz. 146. 39 Rechtsdogmatisch ist die Treuepflicht den Rücksichtspflichten zuzuordnen, die ihre normative Grundlage seit der Schuldrechtsreform 2001 in den §§ 242, 241 Abs. 2 BGB haben, Roth/Weller, Handels- und Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2010, Rz. 288.

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kierend sichern. Dabei ist das inhaltlich aus der Treuepflicht folgende Pflichtenprogramm vertrags- und situationsabhängig: Es orientiert sich am Vertragszweck und den jeweils für die Vertragserfüllung relevanten Umständen40. 2. Mitgliedschaftliche Treuepflicht Die Treuepflicht des Gesellschafters (mitgliedschaftliche Treuepflicht) besteht sowohl im Verhältnis zur Gesellschaft als auch im Verhältnis zu den Mitgesellschaftern41. Sie hat ihre Wurzel nach überzeugender Auffassung kumulativ im Gesellschaftsvertrag42 (mit seiner Doppelnatur als Schuld- und Organisationsvertrag) und in § 242 BGB43. Der Bezug zum Gesellschaftsvertrag liegt darin, dass die Treuepflicht die darin übernommene Förderpflicht des Gesellschafters flankierend sichert44. Letztere erschöpft sich nicht nur in der Leistung der unmittelbar versprochenen Beiträge (§ 706 BGB), sondern beinhaltet darüber hinausgehend eine fortwährende Verpflichtung des Gesellschafters, sein Handeln am gemeinsamen Vertragszweck auszurichten, zu dessen Verwirklichung beizutragen und sich für das gemeinsame Ziel einzusetzen45. Die Treuepflicht verlangt diesbezüglich, dass die Art und Weise dieses Handelns „gesellschaftstreu“ erfolgt und alles unterlassen wird, was die Erreichung des Gesellschaftszwecks hindern oder gefährden könnte46. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Gesellschaftsverträgen „typischerweise um langfristige, ‚nach vorne offene‘ und deshalb notwendig unvollständige Verträge“47 handelt. Bei diesen bedürfen die vertraglich ausdrücklich vereinbarten Pflichten notwendigerweise einer situationsabhängigen Ergänzung durch ungeschriebene, hinreichend flexible Pflichten, mit denen sich gesellschaftsvertraglich nicht geregelte Konfliktlagen lösen lassen48. Da sich diese letzteren Pflichten, die Treuepflichten, aufgrund ihrer erst nachträglichen, situationsgebun-

__________ 40 BGH, Urt. v. 30.3.1995 – IX ZR 182/94, NJW 1995, 1954, 1955; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 14 f. 41 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20 IV 1 c); Weller in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 13 Rz. 7. 42 Eindrücklich zur gesellschaftsvertraglichen Grundlage BGH, Urt. v. 6.12.1962 – KZR 4/62, BGHZ 38, 306, 309, 311, 316 (für das Wettbewerbsverbot als Ausprägung der Treuepflicht). Die mitgliedschaftliche Treuepflicht gilt unabhängig davon, ob der Gesellschafter bei der Gründung mitgewirkt hat oder erst später durch Beitritt oder Anteilsübertragung an den Gesellschaftsvertrag gebunden wurde, Wiedemann, WM 2009, 1, 4. 43 M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 12 ff.; vgl. zu weiteren Ansätzen Weller in Bork/Schäfer, GmbHG, 2010, § 13 Rz. 7. 44 Goette in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 112 Rz. 1; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 14 f. 45 BGH, Urt. v. 21.2.1978 – KZR 6/77, BGHZ 70, 331, 335; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 14. 46 BGH, Urt. v. 6.12.1962 – KZR 4/62, BGHZ 38, 306, 312; Armbrüster, ZIP 1997, 261, 266; Goette in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 112 Rz. 1. 47 Verse, Treuepflichten und Gleichbehandlungsgrundsatz, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 579, 582. 48 Verse, Treuepflichten und Gleichbehandlungsgrundsatz, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 579, 582.

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denen Konkretisierung jedoch regelmäßig nicht auf den tatsächlich bei Vertragsschluss geäußerten Willen der Vertragsschließenden zurückführen und sich damit nicht allein aus dem Gesellschaftsvertrag ableiten lassen, bedarf es für ihre Begründung zusätzlich des Rückgriffs auf § 242 BGB49. 3. Organschaftliche Treuepflicht Von der mitgliedschaftlichen Treuepflicht der Gesellschafter ist die sog. organschaftliche Treuepflicht der Geschäftsleiter zu unterscheiden50. Jene fungiert nach der auf Zöllner51 zurückgehenden Lehre von der Einwirkungsmacht als Korrelat der weitreichenden Befugnisse der Geschäftsleiter im Hinblick auf die Verwaltung des ihnen anvertrauten Vermögens sowie ihres Informationsvorsprungs im Hinblick auf Geschäftsinterna52. Als dogmatische Grundlage kommen zwei Rechtsverhältnisse in Betracht, die zwischen dem Geschäftsleiter und der Komplementär-Kapitalgesellschaft bestehen: das durch Bestellung begründete organschaftliche Verhältnis einerseits und der schuldrechtliche Anstellungsvertrag andererseits53, jeweils in Kombination mit § 242 BGB54. Ob die Treuepflicht aus dem Anstellungsvertrag55, aus dem Organverhältnis56 oder aber aus beiden Rechtsverhältnissen57 folgt, ist für die vorliegenden Zwecke unerheblich, da die Treuepflicht aus dem Anstellungsvertrag mit derjenigen aus dem Organverhältnis inhaltlich kongruent geht58. 4. Zwischenbilanz Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die gesellschaftsrechtlichen (d. h. die mitgliedschaftlichen und die organschaftlichen) Treuepflichten ebenso wie die schuldrechtlichen Treuepflichten auf die jeweilige vertragliche Sonderbeziehung in Kombination mit dem Grundsatz von Treu und Glauben

__________ 49 M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 15. 50 Fleischer, WM 2003, 1045, 1046 f.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 84 Rz. 9; Wiedemann, WM 2009, 1 ff. 51 Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 342 f. 52 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 Rz. 39; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, § 43 Rz. 26. 53 Fleischer, WM 2003, 1045, 1046; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 Rz. 12 ff., 16 und 163 ff. 54 Vgl. auch Altmeppen, ZIP 2008, 437, 440: „Dogmatische Grundlage i. S. d. Rechtsquelle ist letztlich § 242 BGB.“ 55 OLG Köln, Urt. v. 10.1.2008 – 18 U 1/07, NZG 2009, 306, 307; Goette, Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 8 Rz. 142 ff. (für das Wettbewerbsverbot); Grunewald in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2007, § 161 Rz. 82. 56 OLG Oldenburg, Urt. v. 17.2.2000 – 1 U 155/99, NZG 2000, 1038, 1039; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 84 Rz. 9; vgl. auch OLG Hamburg, Urt. v. 29.6.2007 – 11 U 141/06, ZIP 2007, 1370, 1372. 57 Altmeppen, ZIP 2008, 437, 440; Grunewald in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2007, § 165 Rz. 14. 58 Fleischer, WM 2003, 1045, 1046; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 Rz. 39.

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gestützt werden. Ihr Pflichteninhalt ist auf den flankierenden Schutz des Vertragszwecks gerichtet (Verwirklichung des Gesellschaftszwecks bzw. des Zwecks sorgfältiger Geschäftsführung). Da es sich bei den Treuepflichten im Unterschied zu den Beitrags- und Geschäftsführungspflichten nicht um Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) handelt, sind sie den Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) zuzuordnen. Denn nach vorzugswürdiger Meinung kennt das deutsche Privatrecht über Leistungsund Rücksichtspflichten hinaus keine dritte Pflichtenkategorie, jedenfalls nicht seit der Neufassung des § 241 BGB im Zuge der Schuldrechtsreform (2001)59. Normative Grundlage der gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten sind mithin die §§ 241 Abs. 2, 242 BGB.

V. Die Klagbarkeit von Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) Wenn aber die gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten ihre normative Grundlage in den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB haben, erscheint es konsequent, auf jene die zu diesen Bestimmungen entwickelte allgemeine Klagbarkeitsdogmatik zu übertragen. Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend zunächst der Meinungsstand zur Klagbarkeit von Rücksichtspflichten skizziert werden. 1. Die Einzelelemente eines Schuldverhältnisses Ein Schuldverhältnis besteht in funktionaler Hinsicht nach moderner Doktrin aus mehreren Einzelelementen. Diese stellen sich aus der Sicht des Gläubigers als Einzelbefugnisse und aus Sicht des Schuldners als Einzelgebote dar. Nach Jürgen Schmidt sind insbesondere folgende Einzelbefugnisse eines Forderungsrechtes zu unterscheiden60: Die Einziehungsbefugnis, die Klagebefugnis, die Vollstreckungsbefugnis, die Aufrechnungsbefugnis, die Verfügungsbefugnis und die Befugnis zum Behaltendürfen, die den bereicherungsrechtlichen Rechtsgrund bildet. 2. Die Klagbarkeit als Eigenschaft von Leistungspflichten Von der Eigenschaft der Klagebefugnis hängt ab, ob ein subjektives Recht (in Rechtssystemen mit staatlichem Gewaltmonopol) gerichtlich als solches durchgesetzt werden kann. Die Klagebefugnis wird seit Bernhard Windscheids

__________ 59 Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 242 ff., 252 ff. (str.). 60 J. Schmidt in Staudinger, BGB, 1995, Einl. zu §§ 241 ff. Rz. 118 ff.; vgl. ferner die Anspruchsanalyse bei Schulze, Die Naturalobligation – Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute – zugleich Grundlegung einer zivilrechtlichen Forderungslehre, 2008, S. 461 ff., sowie Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten – Zur Durchsetzung sogenannter vertraglicher Nebenpflichten, 1989, S. 19 ff.; in der älteren Literatur ist diesbezüglich insbesondere hervorzuheben Siber, Der Rechtszwang im Schuldverhältnis nach deutschem Reichsrecht, 1903, S. 17 ff., 68 ff.

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bahnbrechenden Arbeiten zur actio61 im deutschen Recht als materiellrechtliche Eigenschaft von Forderungsrechten angesehen; sie ist diesen grundsätzlich immanent62. Dementsprechend sind auch die den Forderungsrechten korrespondierenden63 Leistungspflichten klagbar, d. h., sie können in Natur vor Gericht geltend gemacht und im Vollstreckungswege durchgesetzt werden64. Der Gesetzgeber des BGB hat sich die Sichtweise von der Klagbarkeit von Forderungsrechten und Leistungspflichten zu Eigen gemacht und sie in § 241 Abs. 1 BGB normativ verankert65. 3. Die Klagbarkeit als Eigenschaft von Rücksichtspflichten? Im Unterschied zu den Leistungspflichten besteht für die Rücksichtspflichten keine entsprechende normative Verankerung, wurden sie doch erst nach Inkrafttreten des BGB „entdeckt“. Ihre Kodifizierung in § 241 Abs. 2 BGB im Zuge der Schuldrechtsreform 2001 hat die Frage nach ihrer Klagbarkeit unberührt gelassen. Dementsprechend kontrovers wird beurteilt, ob sie selbständig, d. h. unabhängig von der Geltendmachung einer Leistungspflicht, in Natur klagbar sind66. a) Entwicklung und Meinungsstand Die Problematik der Klagbarkeit von Treuepflichten dreht sich darum, ob jene nur verletzbar sind und sich insofern in Schadensersatzansprüchen (§ 280 Abs. 1 BGB) erschöpfen67, oder ob und inwiefern der Begünstigte bei drohender oder tatsächlicher Missachtung der Treuepflicht deren Einhaltung auch selbständig vor Gericht einklagen und im Vollstreckungswege durchsetzen kann68.

__________ 61 Windscheid, Die Actio des römischen Zivilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, 1856; ders., Die Actio – Abwehr gegen Dr. Theodor Muther, 1857. 62 Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 232 ff. 63 Zur Korrespondenztheorie Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 223 ff. 64 Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 264. 65 Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 381 ff. 66 Vgl. zum Streitstand Neumann (Fn. 60), S. 14 ff.; J. Schmidt in Staudinger, BGB, 1995, Einl. zu §§ 241 ff. Rz. 322 ff.; Kramer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 241 Rz. 12; Roth in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 242 Rz. 42 ff., 64, 113; Olzen in Staudinger, BGB, 2009, § 241 Rz. 544 ff.; Heinrichs in Palandt, BGB, 69. Aufl. 2009, § 242 Rz. 25; Grigoleit in FS Canaris, 2007, Bd. I, S. 275, 291 f.; Köhler, AcP 190 (1990), 496, 503 ff. 67 So für die schuldrechtlichen Treuepflichten RG, Beschl. der Vereinigten Zivilsenate v. 24.1.1910 – I 188/08, RGZ 72, 393, 394: „(…) unser Recht kennt bei den auf ein Tun gerichteten Schuldverbindlichkeiten keinen klagbaren und … vollstreckbaren Anspruch auf ein Unterlassen des mit der Verpflichtung zum Tun Unvereinbaren.“ Der Prinzipal habe aber u. a. einen Anspruch auf Schadensersatz. Vgl. ferner Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 547 ff. 68 Motzer, JZ 1983, 884, 886 f.; J. Schmidt in Staudinger, BGB, 1995, Einl. zu §§ 241 ff. Rz. 322.

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aa) Die Doktrin Lehmanns und Sibers Die Klagbarkeit der heute sog. Rücksichtspflichten wurde lange Zeit im Kontext der Arbeiten von Lehmann und Siber gesehen. In seiner Habilitationsschrift „Die Unterlassungspflicht im Bürgerlichen Recht“ aus dem Jahr 1906 unterscheidet Lehmann zwischen primären und sekundären Unterlassungspflichten. Die primären Unterlassungspflichten seien selbstständiger Gegenstand einer Leistungspflicht, die sekundären Unterlassungspflichten demgegenüber lediglich die Kehrseite positiver Verbindlichkeiten69. Lehmann legt hier die Grundlage für die später von Heinrich Stoll vorgenommene Unterscheidung zwischen Leistungspflichten und Schutzpflichten (letztere gehören heute zu den Rücksichtspflichten nach § 241 Abs. 2 BGB)70. Die von Lehmann so genannten primären Unterlassungspflichten sind in § 241 Abs. 1 Satz 2 BGB erwähnt; demgegenüber sind die sekundären Unterlassungspflichten nach moderner Dogmatik ungeschriebener Teil der Rücksichtspflichten: Soweit es um den Integritätsschutz geht, erlegen die Rücksichtspflichten in ihrer Ausprägung als Schutzpflichten den Parteien die Pflicht auf, alles zu unterlassen, was die Rechtsgüter des Vertragspartners verletzen könnte. Soweit es um Äquivalenzschutz geht, erlegen die Rücksichtspflichten in Form der Treuepflichten beiden Vertragspartnern die Pflicht auf, alles zu unterlassen, was die Erreichung des Vertragszwecks gefährden oder vereiteln könnte. Lehmann knüpfte an die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Unterlassungspflichten unterschiedliche Rechtsfolgen: Während primäre Unterlassungspflichten selbständig eingeklagt werden könnten, seien sekundäre Unterlassungspflichten als solche nicht klagbar. Sie könnten nur entweder indirekt über die positive Leistungspflicht durchgesetzt oder im Verletzungsfall über die Geltendmachung von Schadensersatz liquidiert werden. Der BGH folgt in der Gruner + Jahr-Entscheidung71 unausgesprochen der Lehmannschen Doktrin und lehnt die selbständige Klagbarkeit im Hinblick auf die Unterlassung von Wettbewerb durch den Vorstand ab. Bedeutung für die Klagbarkeitsproblematik hatte ferner die Lehre Sibers72. Ihm zufolge wird der Schuldner im Regelfall nur am Leistungserfolg gemessen, nicht aber an der Art und Weise, wie er diesen Leistungserfolg erreicht: „Die Verpflichtung zur konkreten Leistung (…) geht (…) auf weit mehr, als eine Pflicht zum sorgfältigen Versuch; sie geht auch auf die Herstellung eines Erfolges, für den die Anwendung der zu vertretenden Sorgfalt nicht ausreicht“73.

__________ 69 Lehmann, Die Unterlassungspflicht, 1906, 11 f., 166 ff.: „Die Pflicht zur Unterlassung der Zuwiderhandlung gegen den Zweck des Leistungsgebots ist nichts anderes wie der nach der negativen Seite hin ausgedachte Inhalt des Leistungsgebotes.“ 70 Hierzu Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 237 ff. 71 S. supra II.2. 72 Siber (Fn. 60), S. 175 ff.; Siber in Planck, BGB, 1914, Vorbem. vor § 241, III B.2.: „Die Schuld ist daher nicht erfüllt, wenn der Erfolg nicht eingetreten ist, mag auch der Schuldner alles von seiner Seite Erforderliche getan haben. (…) Die Schuld kann umgekehrt erfüllt sein, ohne dass der Schuldner das mindeste dazu getan hat, z. B. durch Leistung eines Dritten (§ 267).“ 73 Siber (Fn. 60), S. 176 f.

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Weil der Schuldner hiernach keine Kraftanstrengung74 schuldet, soll ein bestimmtes Leistungsverwirklichungsverhalten auch nicht unmittelbar (selbständig), sondern nur mittelbar (unselbständig) über die Geltendmachung des geschuldeten Leistungserfolges eingefordert werden können75. bb) Position der Rechtsprechung Soweit (nicht vertraglich vereinbarte) leistungsbezogene Rücksichtspflichten in Frage stehen, die auf ein Unterlassen gerichtet sind, lehnt die Rechtsprechung – der Auffassung Lehmanns folgend – eine selbständige Klagbarkeit ab76. Auf ein Unterlassen zielende (schuldrechtliche) Treuepflichten seien das bloße Kehrbild einer positiven Leistungspflicht und daher notwendig in dieser mitenthalten. Beispielsweise soll laut OLG Frankfurt der Lieferant von Gas gegenüber seinem Abnehmer, der sich verpflichtet hat, seinen gesamten Gasbedarf bei ihm zu decken, keinen aus der Leistungstreuepflicht folgenden klagbaren Anspruch auf Unterlassung anderweitigen Gasbezuges haben77. cc) Literatur: Bejahung der Klagbarkeit unter besonderen Voraussetzungen Die heute herrschende Literatur bejaht die selbständige Klagbarkeit von Rücksichtspflichten – sofern gewisse Voraussetzungen vorliegen (dazu sogleich) – unabhängig davon, ob diese auf ein Tun oder ein Unterlassen gerichtet sind78. Dem Klagbarkeits-Ansatz der Literatur ist zu folgen. Er wird bestätigt durch die Existenz einiger gesetzlich normierter Rücksichtspflichten, deren Klagbarkeit unstreitig ist, so etwa der Pflichten in §§ 535 Abs. 1 Satz 2, 469, 541, 666 BGB und § 60 HGB79. Darüber hinaus blickt die heutige Dogmatik in einer

__________ 74 Nach der früher vertretenen Kraftanstrengungslehre ist kein Erfolg, sondern nur „die Tätigkeit, die den Erfolg herbeizuführen geeignet ist“, geschuldet. Diese Lehre konnte sich jedoch nicht durchsetzen, vgl. Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, 1969, S. 214 ff. 75 Vgl. RG, Beschl. der Vereinigten Zivilsenate v. 24.1.1910 – I 188/08, RGZ 72, 393 f. (s. auch die RG-Zitate in Fn. 67 und 76); vgl. auch Köhler, AcP 190 (1990), 496, 501, 503 ff.; Lenzen, NJW 1967, 1260 f. 76 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 26.4.1984 – 8 U 15/84, JZ 1985, 337; RG, Urt. v. 22.5.1931 – II 402/30, RGZ 133, 51, 62; RG, Beschl. der Vereinigten Zivilsenate v. 24.1.1910 – I 188/08, RGZ 72, 393, 394: „(…) jede Verpflichtung zu einem positiven Tun [trägt] die selbstverständliche Verbindlichkeit in sich, alles mit diesem positiven Tun Unvereinbare zu unterlassen. Aber diese negative Seite der Verpflichtung zum positiven Tun ist nicht der Inhalt der Leistung i. S. d. § 241 [Abs. 1] BGB.“; vgl. auch Köhler, AcP 190 (1990), 496, 501, 503 ff.; Lenzen, NJW 1967, 1260 f. 77 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 26.4.1984 – 8 U 15/84, JZ 1985, 337. 78 Neumann (Fn. 60), S. 15 ff.; Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht AT, 6. Aufl. 2005, Rz. 468; Mansel in Jauernig, BGB, 13. Aufl. 2009, § 241 Rz. 10; Olzen in Staudinger, BGB, 2005, § 241 Rz. 546 ff.; J. Schmidt in Staudinger, BGB, 1995, Einl. zu §§ 241 ff. Rz. 324 f.; Grigoleit in FS Canaris, 2007, S. 275, 279, 290, 292; Lenzen, NJW 1967, 1260, 1261; Motzer, JZ 1983, 884, 886 f.; Stürner, JZ 1976, 384 f., 388 ff.; vgl. zur Sicherung von „Unterlassungsnebenansprüchen“ durch einstweilige Verfügung nach § 938 ZPO Jauernig, ZZP 79 (1966), 321, 328 ff. 79 Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht AT, 6. Aufl. 2005, Rz. 468.

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maßgeblich von Wieacker80 angestoßenen Fortentwicklung der Auffassung Sibers nicht mehr ausschließlich auf den Leistungserfolg als das geschuldete Ergebnis eines Vertrages, sondern auch auf die Pflichtgemäßheit des dahin führenden Leistungsverhaltens des Schuldners81: „Leistung ist nicht nur Leistungsverhalten des Schuldners, aber auch nicht nur Eintritt des Leistungserfolges, sondern Eintritt des Leistungserfolges durch ein Leistungsverhalten des Schuldners“82.

Das korrekte Leistungsverhalten gilt nunmehr als echte Pflicht, nicht mehr nur als negative Tatbestandsvoraussetzung eines Schadensersatzanspruchs83. Schließlich strahlt die Grundentscheidung der Rechtsordnung hinsichtlich des Vorrangs der Natural- vor der Pekuniarerfüllung84 auch positiv auf die Durchsetzbarkeit leistungsbezogener Rücksichtspflichten aus. Rolf Stürner formuliert hierzu treffend: „Die Verweigerung des Anspruchs auf Erfüllung von Nebenpflichten wäre im Ergebnis nichts anderes als das Festhalten am Prinzip der Geldkondemnation für einen bestimmten Pflichtenkreis“85.

b) Voraussetzungen der Klagbarkeit Über die Voraussetzungen, unter denen die Klagbarkeit leistungsbezogener Rücksichtspflichten bejaht werden kann, besteht in der Literatur – wenn auch nicht im Detail, so doch im Wesentlichen – Einigkeit: aa) Konkretisierbarkeit des Pflichtinhalts Die Klagbarkeit setzt zunächst voraus, dass die leistungsbezogene Rücksichtspflicht im Moment der Geltendmachung konkretisierbar ist; das eingeforderte Verhalten muss ex ante fassbar sein, und nicht erst ex post, wie es im Rahmen einer Schadensersatzwürdigung geschieht86. Denn die Bestimmtheit des Pflichtgegenstandes ist nicht nur von prozessualer Bedeutung für die Formulierung des Klageantrags (§ 253 ZPO), der titulier- und vollstreckbar sein muss87, sondern auch eine ungeschriebene Voraussetzung der materiellrechtlichen Klagebefugnis88. An der Konkretisierbarkeit kann es beispielsweise fehlen, wenn noch nicht klar ist, welche von mehreren in Betracht kommenden Handlungsalternativen geeignet ist, die Vertragszweckrealisierung zu ermöglichen89.

__________ 80 81 82 83 84 85 86

Wieacker in FS Nipperdey, 1965, S. 783 ff., 798 ff. Neumann (Fn. 60), S. 71; Stürner, JZ 1976, 384, 390. Wieacker in FS Nipperdey, 1965, S. 783, 812. Stürner, JZ 1976, 384, 390. Ausführlich hierzu Weller, Die Vertragstreue, 2009, S. 316 ff. Stürner, JZ 1976, 384, 389. Grigoleit in FS Canaris, 2007, Bd. I, S. 275, 289 ff.; Motzer, JZ 1983, 884, 886; Stürner, JZ 1976, 384, 385; Olzen in Staudinger, BGB, 2005, § 241 Rz. 547. 87 Stürner, JZ 1976, 384, 388. 88 Neumann (Fn. 60), S. 109 ff.; vgl. ferner Köhler, AcP 190 (1990), 496, 503, 509 f. 89 Vgl. auch Stürner, JZ 1976, 384, 386, 388.

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Neumann hat eine überzeugende Methode zur Konkretisierung leistungsbezogener Rücksichtspflichten herausgearbeitet90. Als Richtschnur kann u. a. auf die verkehrserforderliche Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 Satz 2 BGB)91 sowie auf die Prinzipien der objektiven Eignung und des subjektiven Könnens eines Verhaltens zur Erreichung des Leistungserfolges92 rekurriert werden. Kommen verschiedene Handlungen bzw. Unterlassungen in Frage, gibt die Verkehrsüblichkeit Maß93. bb) Überwiegendes schutzwürdiges Interesse Die Durchsetzung leistungsbezogener Rücksichtspflichten kommt entgegen Motzer94 auch bei Konkretisierbarkeit des Pflichtinhalts nicht uneingeschränkt, sondern nur bei Vorliegen eines überwiegenden schutzwürdigen Interesses in Betracht95, weil sie die Handlungsfreiheit der involvierten Vertragsparteien, die in der Wahl der für die Vertragserfüllung erforderlichen Mittel eigentlich frei sein sollen, beschneidet96. Allerdings dürfen die Anforderungen an dieses Interesse nicht überspannt werden. Abzulehnen ist daher die Voraussetzung eines „besonderen Präventionsinteresses“, welches nur dann vorliegen soll, wenn existenzgefährdende Schäden oder die Verletzung von Rechtsgütern i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB drohen97. Das besondere Präventionsinteresse mag für die Klagbarkeit der klassischen Schutzpflichten sinnvoll sein; für die Klagbarkeit von Treuepflichten ist es jedoch nicht geeignet, weil diese den Schutz absoluter Rechtsgüter überhaupt nicht bezwecken. Ausreichend für das Überspringen der ultima-ratio-Hürde ist – nach einer Einzelfallabwägung der widerstreitenden Parteiinteressen, wobei in die Abwägung nicht nur bestimmte Rechtsgüter, sondern alle schutzwürdigen Interessen der Beteiligten einzufließen haben – ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse desjenigen, der die Beachtung der Rücksichtspflicht reklamiert98. Bei der Interessenabwägung kann man als Kontrollüberlegung mit Stürner berücksichtigen, ob die Verletzung der Rücksichtspflicht ohne Annahme einer Klagebefugnis durch anderweitige Rechtsfolgen (z. B. Schadensersatz) vollständig kompensiert werden kann, der Begünstigte also ohne Klagebefugnis nicht schlech-

__________ 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten, S. 109 ff. Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten, S. 116. Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten, S. 121 ff., 131. Stürner, JZ 1976, 384, 388. Motzer, JZ 1983, 884, 886 f., der die Klagbarkeit von Schutzpflichten allein von ihrer Konkretisierbarkeit abhängig macht. Köhler, AcP 190 (1990), 496, 508. Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 547 f. So Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 549 ff.; Olzen in Staudinger, BGB, 2005, § 241 Rz. 547; Grigoleit in FS Canaris, 2007, Bd. I, S. 275, 290 f. Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten, S. 132 f.; Stürner, JZ 1976, 384, 389 ff.; vgl. auch Köhler, AcP 190 (1990), 496, 506 ff. für auf Unterlassung gerichtete Leistungstreuepflichten.

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ter stünde als mit ihr99. Dies läuft auf die Faustformel hinaus, die Klagebefugnis bei solchen Interessen zu versagen, die im Verletzungsfall vollständig in Geld ausgeglichen werden können. Umgekehrt spricht viel für ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse an der Klagbarkeit einer Rücksichtspflicht, wenn ihre Verletzung nur unzulänglich in Geld kompensiert werden könnte, etwa wenn immaterielle Interessen im Spiel sind oder der Schaden praktisch nur schwer nachweisbar ist. Schließlich ist bei Rücksichtspflichten, die auf ein Unterlassen gerichtet sind, die Bejahung der Klagbarkeit entsprechend der allgemeinen Unterlassungspflichtdogmatik an das Vorliegen einer Verletzungs- oder Begehungsgefahr geknüpft, wobei eine Erstbegehungsgefahr ausreicht100.

VI. Lösung der Eingangsbeispiele Überträgt man nach der hier vertretenen These die allgemein für Rücksichtspflichten geltende Klagbarkeitsdogmatik auf gesellschaftsrechtliche Treuepflichten, so setzt eine aus der Treuepflicht abgeleitete positive Stimmpflicht (1.) eine konkrete Beschlussvorlage (Bestimmbarkeit) und (2.) ein überwiegendes Interesse desjenigen voraus, der die Erfüllung der Treuepflicht in Natur einfordert. Dabei sind im Abwägungsprozess auch die Interessen des Schuldners der Treuepflicht zu berücksichtigen. Die Interessen des Gläubigers (bzw. der Gläubiger) werden typischerweise nur überwiegen, wenn diese eine Naturalerfüllung der Treuepflicht notwendig machen, wenn sie also im Verletzungsfall nicht vollständig in Geld ausgeglichen werden können. Bei Lichte besehen sind diese Anforderungen weitgehend deckungsgleich mit den Voraussetzungen, welche die Rechtsprechung für eine positive Stimmpflicht aufstellt: Denn um zu ermitteln, ob die Stimmpflicht dringend geboten und dem betroffenen Gesellschafter zumutbar ist101, wird regelmäßig eine umfassende Interessenabwägung nötig sein. Mustert man die eingangs erwähnten Beispiele durch102, wird man auf Basis der hier vertretenen These ebenso wie der BGH zu einer Bejahung der Klagbarkeit in den geschilderten Sanierungsfällen gelangen, gleichfalls in den Fällen der Ausschließungsklage, des Ausscheidens und der Änderung der Nachfolgeklausel. Entgegen der Gruner + Jahr-Entscheidung des BGH103 wird man aber auch dem treuepflichtbasierten Wettbewerbsverbot des Geschäftsleiters einer Komplementär-Kapitalgesellschaft gegenüber der drittgeschützten Kommanditgesellschaft eine klagbare Unterlassungspflicht entnehmen können. Wie die Normierung des Eintrittsrechts in den § 88 AktG, § 112 HGB typisierend zeigt, ist

__________ 99 100 101 102 103

Stürner, JZ 1976, 384, 389 ff.; ähnlich Köhler, AcP 190 (1990), 496, 506 f. Köhler, AcP 190 (1990), 496, 508. So BGH, Urt. v. 25.9.1986 – II ZR 262/85, BGHZ 98, 276, 280. S. supra unter II.1. S. supra unter II.2.

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eine Schadensersatzsanktion bei Wettbewerbsverstößen nämlich häufig ungenügend. Es kommt mithin gerade auf die Naturalerfüllung des Wettbewerbsverbotes an. Wenn die KG aber aufgrund der drittwirkenden organschaftlichen Treuepflicht einen eigenen Unterlassungsanspruch hat, kann ohne ihre Zustimmung kein wirksamer Dispens vom Wettbewerbsverbot erteilt werden. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, dass die Komplementär-Kapitalgesellschaft als primäre Gläubigerin der organschaftlichen Treuebindung einen Dispens vom Wettbewerbsverbot erteilt; vielmehr ist auch die KG als drittgeschützte Gläubigerin des Wettbewerbsverbots an der Dispensentscheidung zu beteiligen104.

VII. Zusammenfassung in Thesen 1. Im Hinblick auf die Klagbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten gibt es noch keine stringente Dogmatik. Unstreitig ist zwar, dass eine Treuepflichtverletzung auf Sekundärebene Schadensersatz auslösen kann (§ 280 Abs. 1 BGB). Ob die Treuepflicht aber auch schon auf der vorgelagerten Primärebene in Natur eingeklagt und durchgesetzt werden kann, wird von der herrschendem Meinung nur disparat von Fall zu Fall entschieden. Dies erhellen die Beispiele hinsichtlich der treuepflichtbasierten Stimmpflicht (etwa in Sanierungsfällen) und des treuepflichtbasierten Wettbewerbsverbots in Dreieckskonstellationen (etwa in einer Kapitalgesellschaft & Co. KG zwischen dem Geschäftsleiter und der Kommanditgesellschaft). 2. Die gesellschaftsrechtlichen (= mitgliedschaftlichen / organschaftlichen) Treuepflichten sind ein Unterfall der Rücksichtspflichten und haben daher ebenso wie diese ihre normative Grundlage in den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB. Vor diesem Hintergrund scheint es konsequent, die Klagbarkeitsdogmatik, welche die Literatur für die schuldrechtlichen Rücksichtspflichten nach § 241 Abs. 2 BGB entwickelt hat, auch auf die gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten zu übertragen. 3. Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) sind nach herrschender Lehre auf Primärebene im Unterschied zu Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) nicht stets und vorbehaltlos, sondern nur unter zwei Voraussetzungen in Natur klagbar: (1.) Ihr Pflichtinhalt muss hinreichend bestimmbar sein. (2.) Ferner muss nach einer umfassenden Interessenabwägung ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse desjenigen bestehen, der die Beachtung der Rücksichtspflicht in Natur einfordert. Ein überwiegendes Interesse ist regelmäßig anzunehmen, wenn es im Verletzungsfall nicht vollständig in Geld kompensiert werden kann, etwa weil der Schaden schwierig nachweisbar ist. 4. Überträgt man die für die schuldrechtlichen Rücksichtspflichten vertretene Klagbarkeitsdogmatik auf die gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten, so ergeben sich im praktischen Ergebnis für die Fälle der positiven Stimm-

__________ 104 Ähnlich Cahn, Der Konzern 2007, 716, 725; M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 256; näher Weller, ZHR 175 (2011), 110, 140 f.

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Die Klagbarkeit gesellschaftsrechtlicher Treuepflichten

pflicht keine nennenswerten Abweichungen gegenüber der bisher vertretenen Linie des BGH. Denn der BGH leitet aus der Treuepflicht nur dann eine positive Stimmpflicht ab, wenn diese dringend geboten und dem betroffenen Gesellschafter zumutbar ist. Anders verhält es sich jedoch für das Wettbewerbsverbot der Geschäftsleiter in der Kapitalgesellschaft & Co. KG. Die Geschäftsleiter unterliegen bei Übertragung der allgemein für Rücksichtspflichten geltenden Klagbarkeitsdogmatik auf gesellschaftsrechtliche Treuepflichten nicht nur gegenüber der Komplementärgesellschaft, sondern über die drittwirkenden organschaftlichen Treuepflichten auch gegenüber der Kommanditgesellschaft einem Wettbewerbsverbot. Dieses kann von der Kommanditgesellschaft entgegen der Auffassung des BGH auch auf Primärebene in Natur in Form eines Unterlassungsanspruchs durchgesetzt werden.

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Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarungen im faktischen Konzern – OLG München, Urteil vom 22.12.2010, Az. 7 U 1584/10, n. rkr. –* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das Urteil des OLG München vom 22.12.2010 1. Sachverhalt a) Veräußerung der Beteiligung an der Bank Austria b) Prozessuale Situation 2. Argumentation des OLG München a) Vorbringen der Kläger b) Kein Nachteil im Sinne des § 311 AktG 3. Stellungnahme a) Stand der Diskussion aa) Grundsätzlich konkrete Nachteilsausgleichsvereinbarung

bb) Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung bei noch nicht quantifizierbaren Nachteilen b) Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung bei der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung aa) Unsicherheiten der Unternehmensbewertung bb) Kein Ausweg über §§ 317 ff. AktG cc) Argument fehlender Planungssicherheit greift nicht dd) Vergleich mit § 317 AktG ee) Ergebnis

I. Einleitung Der faktische Konzern ist die verbreitete Organisationsform der deutschen Wirtschaft. Trotz der großen Verbreitung gibt es nur verhältnismäßig wenig Rechtsprechung zu den wichtigsten Rechtsfragen des faktischen Konzerns. Das Konzernrecht stellt in den §§ 311 ff. AktG besondere Schutzvorschriften für die abhängige Gesellschaft, ihre Gläubiger und außenstehenden Aktionäre auf, indem es sie vor einer nachteiligen Einflussnahme des herrschenden Unternehmens schützt. Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft unterliegt im Hinblick auf nachteilige Einflussnahmen des herrschenden Unternehmens besonderen Verhaltenspflichten. Sie können ihn vor schwer lösbare Probleme stellen: Wie kann er die abhängige Gesellschaft (und nicht zuletzt sich selbst) schützen, wenn er bei einer bestimmten Maßnahme davon überzeugt ist, dass sie nicht nachteilig ist, er gleichwohl aber Sicherungsvorkehrungen für den

__________ * Der Verfasser vertritt die Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG (jetzt firmierend als: UniCredit Bank AG) in dem besprochenen Verfahren. Er dankt Herrn Rechtsanwalt Thomas Wenninger für der Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags. Das OLG München hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen haben mehrere Kläger Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, über die der BGH noch nicht entschieden hat.

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Fall treffen will, dass ein Gericht im Nachhinein eine gegenteilige Position einnimmt? Das OLG München hat in dem hier darzustellenden Fall die „unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung“ als taugliches Mittel anerkannt. Im faktischen Konzern ist es dem herrschenden Unternehmen gemäß § 311 AktG untersagt, die beherrschte Gesellschaft zu einer nachteiligen Maßnahme zu veranlassen, es sei denn, dass die Nachteile ausgeglichen werden. Wenn der Nachteilsausgleich nicht während des laufenden Geschäftsjahrs tatsächlich erfolgt, muss spätestens am Ende des Geschäftsjahrs bestimmt werden, wann und durch welche Vorteile der Nachteil ausgeglichen werden soll (§ 311 Abs. 2 AktG). Hierzu müssen das herrschende Unternehmen und die abhängige Gesellschaft eine vertragliche Nachteilsausgleichsvereinbarung treffen, in der der abhängigen Gesellschaft ein Rechtsanspruch auf die Vorteile eingeräumt wird, die als Ausgleich für den erlittenen Nachteil dienen sollen1. Das OLG München hatte nun die Frage zu entscheiden, ob eine Nachteilsausgleichsvereinbarung den Anforderungen des § 311 Abs. 2 AktG auch dann genügt, wenn die Bestimmung der Höhe eines baren Ausgleichsanspruchs einer gerichtlichen Entscheidung überlassen wird2. Im Folgenden soll die Rechtslage dargestellt und gewürdigt werden. Dem OLG München ist beizupflichten, dass eine Nachteilsausgleichsvereinbarung, in der die Bezifferung des Ausgleichsanspruchs einer gerichtlichen Entscheidung überlassen wird, die Maßgaben des § 311 Abs. 2 AktG erfüllen kann.

II. Das Urteil des OLG München vom 22.12.2010 1. Sachverhalt Das Urteil des OLG München vom 22.12.2010 betrifft eine Beteiligungsveräußerung der damaligen Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG (im Folgenden: HVB) innerhalb der UniCredit-Gruppe. Der Entscheidung liegt folgender (vereinfachter) Sachverhalt zugrunde: a) Veräußerung der Beteiligung an der Bank Austria Die italienische UniCredito Italiano S.p.A. (jetzt UniCredit S.p.A., im Folgenden: UniCredit) erwarb im Jahre 2005 im Zuge eines Übernahmeangebots die Mehrheit an der HVB. Der Abschluss eines Beherrschungsvertrags kam aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht, so dass zwischen beiden Banken ein faktisches Konzernverhältnis mit der UniCredit als herrschendem und der HVB als abhängigem Unternehmen entstand. Mit Vertrag vom 12.9.2006 ver-

__________ 1 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 46; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 357; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 72; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 57; a. A. (einseitiges Schuldversprechen des herrschenden Unternehmens genügt) J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 84. 2 OLG München v. 22.12.2010 – 7 U 1584/10, nicht veröffentlicht.

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kaufte die HVB – neben weiteren Unternehmen – ihre Beteiligung von 77,53 % der Inhaberaktien an der Bank Austria Creditanstalt AG (im Folgenden: Bank Austria) vorbehaltlich der Zustimmung ihrer Hauptversammlung an ihre Mehrheitsaktionärin, die UniCredit. Als Gegenleistung wurde eine Barzahlung in Höhe von 12,5 Mrd. Euro vereinbart, was einem Kaufpreis von 109,81 Euro je Aktie der Bank Austria entsprach. Die außerordentliche Hauptversammlung der HVB vom 25.10.2006 stimmte dem Kaufvertrag mit großer Mehrheit zu. Der Kaufpreis entsprach dem anteiligen Unternehmenswert der Bank Austria, der von einer anerkannten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in einem ausführlichen Bewertungsgutachten ermittelt worden war. Die Angemessenheit des von den Wirtschaftsprüfern ermittelten Unternehmenswerts wurde außerdem von einer führenden internationalen Investmentbank in einer „Fairness Opinion“3 überprüft und vom Vorstand der HVB kritisch analysiert. Der Vorstand der HVB kam zum Ergebnis, dass das Bewertungsgutachten plausibel und der ermittelte Unternehmenswert der Bank Austria angemessen sei. Die HVB und die UniCredit waren danach überzeugt, dass der im Kaufvertrag vereinbarte Kaufpreis eine angemessene Gegenleistung für die Beteiligung an der Bank Austria vorsah. Der Kaufpreis lag 12 % über dem Kurswert der Bank Austria-Aktie am Tag der Bekanntgabe der geplanten Veräußerung. Im Hinblick auf den Kurswert der Bank Austria-Aktie am Tag der Zustimmung der außerordentlichen Hauptversammlung der HVB enthielt der Kaufpreis immer noch eine Prämie von 6 %. Verschiedene Minderheitsaktionäre erhoben Anfechtungsklage gegen den Zustimmungsbeschluss der außerordentlichen Hauptversammlung unter anderem mit der Begründung, der vereinbarte Kaufpreis für die Beteiligung an der Bank Austria halte einem Drittvergleich nicht stand und sei daher nachteilig für die HVB. Am 8.1.2007 gab UniCredit eine schriftliche Erklärung ab, in der UniCredit bestätigte, dass der Abschluss und der Vollzug des Kaufvertrags als von UniCredit im Sinne der §§ 311 ff. AktG „veranlasst“ anzusehen sei. Außerdem verpflichtete sich UniCredit für den Fall, dass die Veräußerung der Beteiligung der HVB an der Bank Austria in einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung mit vertraglicher oder gesetzlicher Wirkung gegenüber UniCredit als für die HVB nachteilig bezeichnet werden sollte, der HVB alle mit der Transaktion verbundenen direkten oder indirekten Nachteile innerhalb von zehn Werktagen in bar auszugleichen. Daraufhin beschloss der Vorstand der HVB am 9.1.2007 den Vollzug des Kaufvertrags, der kurze Zeit später auch durchgeführt wurde. Am 21.12.2007 schlossen die HVB und UniCredit eine schriftliche Vereinbarung ab, in der UniCredit die Verpflichtungen aus dem Schreiben vom 8.1.2007 wiederholte und bekräftigte. Die maßgebliche Formulierung lautet in deutscher Übersetzung sinngemäß: Sollte in einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung mit gesetzlicher oder vertraglicher Wirkung gegenüber UniCredit ausgesprochen werden, dass der Abschluss oder der Voll-

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3 Zu Fairness Opinions Fleischer, ZIP 2011, 201 ff. m. w. N.

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Gerhard Wirth zug des Kaufvertrags über die Beteiligung an der Bank Austria für die HVB nachteilig im Sinne von §§ 311 ff. AktG war, insbesondere, dass der Abschluss oder der Vollzug des Kaufvertrags einem Drittvergleich nicht standhält oder unangemessen war, hat UniCredit die Nachteile innerhalb von zehn Werktagen nach der Zustellung der betreffenden Gerichtsentscheidung an UniCredit in bar auszugleichen.

Ein etwaiger Anspruch auf Nachteilsausgleich sollte als am 31.12.2007 entstanden und fällig gelten und entsprechend verzinst werden. b) Prozessuale Situation Auf die Anfechtungsklagen der Minderheitsaktionäre hin erklärte das LG München I den Zustimmungsbeschluss der außerordentlichen Hauptversammlung vom 25.10.2006 mit Zwischen- und Schlussurteil vom 31.1.2008 aus formalen Gründen für nichtig4. Zu der Frage, ob das den Gegenstand des Zustimmungsbeschlusses bildende Geschäft (Verkauf der Bank Austria-Beteiligung) für die HVB nachteilig sei, musste das LG München I keine Stellung nehmen. Hiergegen legte die HVB Berufung zum OLG München ein. Über die Berufung ist noch nicht entschieden; das Verfahren ist ausgesetzt. Die 131. ordentliche Hauptversammlung der HVB vom 29./30.7.2008 bestätigte vorsorglich den Zustimmungsbeschluss der außerordentlichen Hauptversammlung vom 25.10.2006 gemäß § 244 Abs. 1 AktG wiederum mit großer Mehrheit. Auch gegen den Bestätigungsbeschluss wurde von einigen Minderheitsaktionären Anfechtungsklage erhoben. Das LG München I wies diese Anfechtungsklagen mit Zwischen- und Schlussurteil vom 10.12.2009 ab, soweit sie nicht bereits für erledigt erklärt worden waren5. Mehrere Kläger legten gegen die Entscheidung Berufung ein. Das hierauf ergangene Endurteil des OLG München vom 21.12.2010 ist Gegenstand dieses Beitrags. 2. Argumentation des OLG München a) Vorbringen der Kläger Die Kläger machten unter anderem geltend, die Veräußerung der Beteiligung der HVB an der Bank Austria stelle eine unzulässige Einlagenrückgewähr dar, denn der Kaufpreis sei nicht angemessen; er wiege den Vermögensverlust der HVB nicht auf. Insofern verstoße der Zustimmungsbeschluss der außerordentlichen Hauptversammlung vom 25.10.2006 gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG a. F. und sei nichtig. Die Nichtigkeit erfasse auch den Bestätigungsbeschluss der 131. ordentlichen Hauptversammlung vom 29./30.7.2008, denn ein nichtiger Beschluss sei einer Bestätigung nach § 244 AktG nicht zugänglich. b) Kein Nachteil im Sinne des § 311 AktG Das OLG München wies die Berufungen zurück. Die Veräußerung der Beteiligung an der Bank Austria stelle keine unzulässige Einlagenrückgewähr im

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4 LG München I, ZIP 2008, 555 ff. 5 LG München I, AG 2010, 173 ff.

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Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG a. F. dar. Insofern verstoße weder der Zustimmungsbeschluss der außerordentlichen Hauptversammlung vom 25.10. 2006 gegen zwingendes Aktienrecht noch bestehe Anlass, die Nichtigkeit des Bestätigungsbeschlusses der 131. ordentlichen Hauptversammlung vom 29./30.7.2008 anzunehmen. Im Einzelnen führt das OLG München unter Hinweis auf das MPS-Urteil des BGH6 zunächst aus, dass § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG a. F. im faktischen Konzern von den Regeln des Nachteilsausgleichs der §§ 311 ff. AktG verdrängt werde. Die Nachteilsausgleichsvereinbarung vom 21.12.2007 entspreche den Anforderungen des § 311 Abs. 2 AktG, denn die HVB habe einen durchsetzbaren Rechtsanspruch gegen UniCredit erhalten. Dass die Nachteilsausgleichsvereinbarung nicht beziffert sei und das Bestehen eines Ausgleichsanspruchs von einer gerichtlichen Entscheidung abhängig gemacht werde, sei den besonderen Umständen des Einzelfalls geschuldet und insoweit unschädlich. Das herrschende Unternehmen (UniCredit) und die abhängige Gesellschaft (HVB) gingen auf Grund externen Expertenrats und eigenen Überprüfungen davon aus, dass die Veräußerung der Beteiligung an der Bank Austria zu einem angemessenen Kaufpreis erfolgte und damit kein nachteiliges Rechtsgeschäft im Sinne des § 311 Abs. 1 AktG darstellte. In einem solchen Fall gilt nach Auffassung des OLG München Folgendes: „Wird die Angemessenheit der Gegenleistung, wie hier, von anderen Aktionären angezweifelt, etwa weil die Ertragsprognose nicht zutreffend oder verschiedene werterhöhende Gesichtspunkte nicht berücksichtigt seien, kommen das beherrschende Unternehmen und die Gesellschaft, wenn beide davon ausgehen, dass ein nachteiliges Rechtsgeschäft im Sinne des § 311 Abs. 1 AktG nicht vorliegt, in die Situation, entweder die Meinung der anderen Aktionäre zu übergehen, dann aber im Falle eines Rechtsstreits, in dem ein Nachteil festgestellt wird, zu unterliegen und nach § 317 Abs. 1 AktG umfassend ersatzpflichtig zu werden oder erneut eine umfangreiche Bewertung durch ein anderes Wirtschaftsprüfungsunternehmen mit entsprechenden Kosten für die Gesellschaft vornehmen zu lassen. In diesem Fall, in dem ein Rechtsstreit absehbar ist oder wie hier bereits anhängig war, dürfen die Gesellschaft und das beherrschende Unternehmen eine Vereinbarung über einen Nachteilsausgleich schließen, der bedingt ist durch eine den Nachteil feststellende Gerichtsentscheidung, welche die Zweifel ausräumt. Dies entspricht letztlich den Interessen der Gesellschaft und geht auch nicht zu Lasten ihrer Aktionäre, zumal hier der Nachteilsausgleichsanspruch als zum 31. Dezember 2007 entstanden, fällig und verzinslich gestellt wurde.“

3. Stellungnahme a) Stand der Diskussion aa) Grundsätzlich konkrete Nachteilsausgleichsvereinbarung Nach der herrschenden Auffassung in der Literatur genügt eine Nachteilsausgleichsvereinbarung den Anforderungen des § 311 Abs. 2 AktG grundsätzlich

__________ 6 BGHZ 179, 71 ff. – MPS. Hierzu etwa Kropff, NJW 2009, 814 ff.; Habersack, ZGR 2009, 347 ff.; Altmeppen, ZIP 2009, 49 ff.; Wilhelmi, WM 2009, 1917 ff.

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nur dann, wenn die zu gewährenden Vorteile konkret bezeichnet werden7. Die Auffassung, dass ein Nachteilsausgleichsvertrag die Anforderungen des § 311 Abs. 2 AktG auch dann erfüllt, wenn er ohne nähere Eingrenzung eine allgemeine Ausgleichspflicht für etwaige Nachteile vorsieht, ist vereinzelt geblieben8. Außerdem wird vertreten, dass eine Nachteilsausgleichsvereinbarung, die die Bestimmung der Ausgleichsleistung einem Dritten (etwa dem Abschlussprüfer) überlässt, ohne sie konkret festzulegen, der abhängigen Gesellschaft keine hinreichende Planungssicherheit verschaffe und die Einflussnahme durch das herrschende Unternehmen deshalb nicht rechtfertigen könne9. Es gelte zu verhindern, dass der Ausgleich „auf die lange Bank“ geschoben wird. Die Parteien dürften zur Festsetzung des Ausgleichs nicht den Abhängigkeitsbericht gemäß § 312 AktG abwarten oder es gar darauf ankommen lassen, ob die nachteilige Veranlassung bei Prüfungen des Abschlussprüfers oder des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft gemäß §§ 313, 314 AktG entdeckt wird10. bb) Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung bei noch nicht quantifizierbaren Nachteilen „Konkrete Bezeichnung der zu gewährenden Vorteile“ wird im Regelfall bedeuten, dass die Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens beziffert wird. Eine Ausnahme hiervon ist für die Konstellation anerkannt, dass ein auf eine konkrete Maßnahme zurückgehender Nachteil ex ante (noch) nicht quantifizierbar ist. Zwar darf die abhängige Gesellschaft zu einer Maßnahme, deren nachteilige Rechtsfolgen für die abhängige Gesellschaft nicht absehbar und deshalb einem Einzelausgleich nicht zugänglich sind, bereits nicht veranlasst werden11. Die Abgrenzung kann aber schwierig sein. Nach richtiger Auffassung liegt hinreichende Quantifizierbarkeit vor, wenn geschäftlichen Risiken bei vernünftiger, sorgfältiger Überprüfung ein Wert zugemessen werden kann, der weder willkürlich noch unwahrscheinlich ist und – soweit vorhanden – nachprüfbaren Erfahrungswerten entspricht12. Wenn die abhängige Gesellschaft

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7 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 365; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 74; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 60; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 100. 8 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1997, § 311 AktG Rz. 71. 9 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 74; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 60. 10 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 364 f.; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 99. 11 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 43; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 40; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 197 f.; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 80, 87; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 89; Lutter in FS Peltzer, 2001, S. 241, 251. 12 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 198.

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Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarungen im faktischen Konzern

auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens eine Bürgschaft übernimmt oder eine Garantieerklärung abgibt, bei der der Eintritt des Sicherungsfalls nicht eindeutig vorhergesagt werden kann, kann das herrschende Unternehmen den Nachteil durch die (unbezifferte) Zusage der Verlustübernahme durch einen Schuldner bester Bonität ausgleichen13. Außerdem ist ein bezifferter Nachteilsausgleich entbehrlich, wenn ein nicht quantifizierbarer Nachteil durch einen ebenfalls nicht quantifizierbaren Vorteil ausgeglichen wird, den der Vorstand der abhängigen Gesellschaft bei pflichtgemäßer Ermessensausübung als jedenfalls gleichwertig ansieht. So liegt es etwa, wenn die abhängige Gesellschaft eine Geschäftschance gegen eine andere Geschäftschance eintauscht14. Soweit der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Grenzen seines Geschäftsleiterermessens beachtet, fehlt es allerdings bereits an einem Nachteil im Sinne des § 311 Abs. 1 AktG15.

b) Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung bei der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung aa) Unsicherheiten der Unternehmensbewertung Bei der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung stellt sich ebenfalls das Problem, dass die Vor- oder Nachteiligkeit der Maßnahme ex ante nicht mit absoluter Sicherheit quantifiziert werden kann. Wer die Praxis großer Spruchverfahren kennt, weiß, dass die Ermittlung eines Unternehmenswerts von zahlreichen Faktoren bestimmt ist. Schon zur Methodik der Ermittlung eines Unternehmenswerts gibt es unterschiedliche Auffassungen, die teilweise erheblich divergieren. Zwar hat sich weitgehend die Ertragswertmethode durchgesetzt, die gegebenenfalls einer Korrektur anhand des Börsenkurses bedarf16. Bei der Ertragswertmethode werden die zukünftigen Erträge der Gesellschaft

__________ 13 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 221, 346; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 135; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 87; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 87, 100; mit der Maßgabe, dass es in einem solchen Fall bereits an einem Nachteil fehlt, auch Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 66; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 52. 14 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 64; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 52; Lutter in FS Peltzer, 2001, S. 241, 254. 15 BGHZ 141, 79, 88 f.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 53, 64; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 27; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 48; Lutter in FS Peltzer, 2001, S. 241, 245 f., 254 f. 16 BVerfGE 100, 287, 308 – DAT/Altana; BGH, AG 2003, 627, 628 f.; OLG Düsseldorf, NZG 2003, 588, 592; BayObLG, NZG 1998, 946, 947; BayObLG, NZG 2006, 156; OLG Frankfurt a. M., WM 2010, 1841, 1843; OLG Stuttgart, AG 2007, 701, 702; Paulsen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 80; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 19 ff.; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 12 UmwG Rz. 4; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 74.

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geschätzt und mittels eines Kapitalisierungszinssatzes auf den maßgeblichen Stichtag diskontiert. Das nicht betriebsnotwendige Gesellschaftsvermögen wird mit dem Liquidationswert angesetzt. Gleichwohl ist die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in wesentlichen Fragen uneinheitlich. Während etwa die Oberlandesgerichte Stuttgart17, Düsseldorf18 und Celle19 den für die Berechnung des Kapitalisierungszinssatzes festzulegenden Risikozuschlag nach dem Capital Asset Pricing Modell (CAPM oder Tax-CAPM)20 ermitteln, hält das OLG München eine empirische Schätzung für vorzugswürdig21. Dies führt dazu, dass das Ergebnis eines Rechtstreits über den „richtigen“ Unternehmenswert erst nach vielen Jahren feststeht und kaum vorhersehbar ist. Selbst wenn die UniCredit und die HVB noch weitere Bewertungsgutachten eingeholt hätten, hätte voraussichtlich keine größere Sicherheit über den „richtigen“ Wert der Beteiligung an der Bank Austria erzielt werden können. Es stellt sich daher in der Praxis die Frage, wie der Vorstand der abhängigen Gesellschaft sein Unternehmen davor schützen kann, dass ein vereinbarter Kaufpreis für eine Unternehmensbeteiligung im Konzern nach Jahren – also ex post – im Rechtsstreit als „unangemessen“ und damit „nachteilig“ für das abhängige Unternehmen qualifiziert wird. Da bei Vorliegen einer einheitlichen Konzernleitung vermutet wird, dass nachteilige Geschäftsführungsmaßnahmen vom herrschenden Unternehmen veranlasst sind22, befindet sich der Vorstand der abhängigen Gesellschaft beim Verkauf einer Unternehmensbeteiligung an das herrschende Unternehmen in einem Dilemma. Das führt der eingangs dargestellte Sachverhalt eindrücklich vor Augen.

bb) Kein Ausweg über §§ 317 ff. AktG Die abhängige Gesellschaft auf §§ 317 ff. AktG zu verweisen, stellt keinen tauglichen Ausweg dar. Die §§ 317 ff. AktG statuieren Schadensersatzansprüche für den Fall eines Verstoßes gegen die Vorgaben des § 311 AktG. Beim Ausgleich gemäß § 311 Abs. 2 AktG handelt es sich nach herrschender Auffassung um eine Ausgleichsverpflichtung sui generis, die eine Veranlassung der abhängigen Gesellschaft zu einer nachteiligen Maßnahme oder einem nachteiligen

__________ 17 OLG Stuttgart, AG 2004, 271 ff.; OLG Stuttgart, NZG 2007, 112, 116 f.; OLG Stuttgart, NZG 2008, 791. 18 OLG Düsseldorf, NZG 2003, 588, 594 f. – SNI; OLG Düsseldorf, NZG 2006, 911, 913. 19 OLG Celle, ZIP 2007, 2025, 2027. 20 Hierzu Paulsen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 117, 120 ff.; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 87, 90 ff. 21 OLG München, AG 2007, 411, 412 f.; OLG München, AG 2008, 28, 30 f.; OLG München, WM 2009, 1848, 1850 f.; s. auch BayObLG, NZG 2006, 156, 157 f. 22 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 91; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 21; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 76; a. A. (prima facie-Beweis) Habersack in Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 33; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 30; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 25.

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Unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarungen im faktischen Konzern

Rechtsgeschäft rechtfertigt23. Es ist dem Vorstand einer abhängigen Gesellschaft nicht zumutbar, einen Verstoß gegen die §§ 311 ff. AktG in Kauf zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass die abhängige Gesellschaft nach den §§ 317 ff. AktG Schadensersatz vom herrschenden Unternehmen erhält, wenn sich ein Geschäft zwischen beiden Gesellschaften im Nachhinein als nachteilig erweisen sollte. Hinzu kommt, dass sich die Vorstandsmitglieder der abhängigen Gesellschaft möglicherweise einer persönlichen Schadensersatzhaftung aussetzen würden. Auch für die Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung an das herrschende Unternehmen muss deshalb eine Lösung innerhalb des § 311 Abs. 2 AktG gefunden werden. Davon abgesehen sind die §§ 317 ff. AktG nicht geeignet, den Parteien eines faktischen Konzerns einen Ausweg aus der misslichen Lage bei der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen an das herrschende Unternehmen zu verschaffen. Die §§ 317 ff. AktG enthalten keinen bloßen Kompensationsanspruch für erlittene Nachteile, sondern ein in sich geschlossenes Regime zum Umgang mit nachteiligen Einflussnahmen des herrschenden Unternehmens auf die abhängige Gesellschaft, bei denen der Nachteil nicht pflichtgemäß ausgeglichen wird. Das wird bereits daran deutlich, dass § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG den Ausgleich nicht auf den Nachteil beschränkt, sondern der abhängigen Gesellschaft einen Schadensersatzanspruch einräumt, dessen Umfang sich nach den §§ 249 ff. BGB bestimmt24. Der auszugleichende Schaden bemisst sich – anders als der Nachteil in § 311 AktG – ex post25. Erfasst werden etwa auch die Kosten der Rechtsverfolgung. Der Umfang des Nachteils gemäß § 311 Abs. 2 AktG richtet sich dagegen nach der zum Zeitpunkt der Vornahme der Maßnahme – also ex ante – abzusehenden Beeinträchtigung der abhängigen Gesellschaft. Nachträgliche negative Entwicklungen, die bei pflichtgemäßer Sorgfalt nicht vorauszusehen waren, bleiben außer Betracht26. Im Einzelfall kann der gemäß § 317 AktG ersatzfähige Schaden größer, aber auch kleiner sein als der nach § 311 AktG festzustellende Nachteil27. Bleibt der Schaden hinter dem Nachteil zurück, ist der Nachteil als „Mindestschaden“

__________ 23 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 37; Habersack in Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 5, 61; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 48; a. A. Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 316 ff.: culpa-Haftung für pflichtwidrige Geschäftsführung des Geschäftsleiters des herrschenden Unternehmens. 24 Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 28; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 28; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 8. 25 OLG Köln, ZIP 2006, 997, 998; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 45; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 317 AktG Rz. 15. 26 BGHZ 175, 365, 368 – UMTS; BGHZ 179, 71, 78 – MPS; OLG Köln, ZIP 2006, 997, 998; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 79; Habersack in Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 45, § 317 AktG Rz. 17; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 28. 27 Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 317 AktG Rz. 15; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 8; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 10.

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Gerhard Wirth

zu ersetzen. Eine Verrechnung von Vorteilen aus einer zufällig günstigen Entwicklung mit dem Nachteil findet nach wohl herrschender Auffassung nicht statt28. Außerdem statuiert § 317 Abs. 1 Satz 2 AktG einen eigenen Schadensersatzanspruch der Aktionäre der abhängigen Gesellschaft. Gemäß § 317 Abs. 3 AktG haften die gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens persönlich, wenn sie die abhängige Gesellschaft zu der nachteiligen Maßnahme veranlasst haben. Die Haftung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der abhängigen Gesellschaft gemäß § 318 AktG, die Tatbestandsausschlüsse nach §§ 317 Abs. 2, 318 Abs. 3 AktG und der in § 317 Abs. 4, § 318 Abs. 4 AktG enthaltene Verweis auf § 309 Abs. 3 bis 5 AktG unterstreichen, dass es sich bei den §§ 317 f. AktG um ein eigenständiges Haftungsregime handelt. cc) Argument fehlender Planungssicherheit greift nicht Außerdem muss man für den Fall der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung der These widersprechen, eine unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung könne die Veranlassung der abhängigen Gesellschaft zu einer nachteiligen Maßnahme nicht rechtfertigen, da sie der abhängigen Gesellschaft keine Planungssicherheit verschaffe. Im Allgemeinen trifft es zwar zu, dass die abhängige Gesellschaft in höherem Maße Planungssicherheit erhält, wenn ein konkreter Ausgleich erfolgt oder ein bezifferter Ausgleichsanspruch eingeräumt wird. Bei der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung an das herrschende Unternehmen wird die abhängige Gesellschaft aber ausreichend abgesichert, wenn ihr ein Nachteilsausgleichsanspruch eingeräumt wird, dessen Bezifferung einer gerichtlichen Entscheidung überlassen wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Vorstand der abhängigen Gesellschaft unabhängig von der Nachteilsausgleichsvereinbarung nach pflichtgemäßer Prüfung davon überzeugt ist, dass mit der Veräußerung der Unternehmensbeteiligung keine Nachteile für die abhängige Gesellschaft verbunden sind. In einem solchen Fall schließt die unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung die Lücke, die sich aus den oben beschriebenen Unsicherheiten jeder Unternehmensbewertung ergibt. dd) Vergleich mit § 317 AktG Unter den genannten Voraussetzungen erhält die abhängige Gesellschaft durch die unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung ein Schutzniveau, das unter Umständen sogar über dasjenige des § 317 AktG hinausgeht. Gemäß § 317 Abs. 2 AktG ist eine Schadensersatzhaftung des herrschenden Unternehmens ausgeschlossen, wenn auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäfts-

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28 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 17; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 7; Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 10; a. A. Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 40; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 8.

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leiter einer unabhängigen Gesellschaft das Rechtsgeschäft vorgenommen oder die Maßnahme unterlassen hätte. Damit ist die Haftung insoweit ausgeschlossen, als sich das Rechtsgeschäft oder die Maßnahme in den Grenzen des unternehmerischen Ermessens des Vorstands hält29. Ein etwaiger Nachteil der abhängigen Gesellschaft ist dann nicht Folge der Abhängigkeit30. Wenn der angemessen informierte Vorstand der abhängigen Gesellschaft der Ansicht ist, dass mit der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung verbundene Vermögensabflüsse durch den Kaufpreis vollständig kompensiert werden und die Transaktion dem Wohl der Gesellschaft entspricht, sind die Grenzen des unternehmerischen Ermessens regelmäßig gewahrt. Der Vorstand handelt dann mit pflichtgemäßer Sorgfalt, auch wenn Restunsicherheiten über die Angemessenheit der Gegenleistung bestehen. Es spricht viel dafür, dass es dem herrschenden Unternehmen in einer solchen Situation gelingen würde, den gemäß § 317 Abs. 2 AktG möglichen Entlastungsbeweis (auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unanhängigen Gesellschaft hätte das Rechtsgeschäft vorgenommen) zu führen. ee) Ergebnis Durch eine unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung lassen sich die „Unschärfen“ jeder Unternehmensbewertung bei Beteiligungsveräußerungen im Konzern ausgleichen. Die vorliegende Entscheidung des OLG München gibt Anlass, die Zulässigkeit von unbezifferten Nachteilsausgleichsvereinbarungen umfassender zu formulieren. Der Grundsatz sollte lauten: Es gibt Rechtsgeschäfte, bei denen sich der Vorstand der abhängigen Gesellschaft wegen der Art des Geschäfts (z. B. Unternehmens- und Beteiligungsveräußerung) auch bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt ex ante kaum vollständige Gewissheit über die quantitative Vor- oder Nachteilhaftigkeit des Geschäfts verschaffen kann. Kommen der Vorstand der abhängigen Gesellschaft und des herrschenden Unternehmens in einem solchen Fall zur Überzeugung, dass ein Rechtsgeschäft nicht nachteilig ist, dann dürfen sie vorsorglich eine Vereinbarung über einen (unbezifferten) Nachteilsausgleich schließen, der bedingt ist durch eine den Nachteil feststellende spätere Gerichtsentscheidung. Eine solche bedingte unbezifferte Nachteilsausgleichsvereinbarung genügt den Anforderungen von § 311 Abs. 2 AktG.

__________ 29 BGHZ 141, 79, 88; BGHZ 175, 365, 368 f. – UMTS; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 11; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 44, § 317 AktG Rz. 14; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 14; Fleischer, NZG 2008, 371, 373; Balthasar, WM 2010, 589, 590. 30 BGHZ 175, 365, 368 – UMTS; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 11; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 38; a. A. (kein Nachteil im Sinne des § 311 Abs. 1 AktG) Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 5; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbHKonzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 317 AktG Rz. 7.

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