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German Pages 258 Year 2015
Daniela Manger Innovation und Kooperation
Band 4
2009-03-06 12-37-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c5204241635656|(S.
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Editorial Moderne Gesellschaften sind nur zu begreifen, wenn Technik und Körper konzeptuell einbezogen werden. Erst in diesen Materialitäten haben Handlungen einen festen Ort, gewinnen soziale Praktiken und Interaktionen an Dauer und Ausdehnung. Techniken und Körper hingegen ohne gesellschaftliche Praktiken zu beschreiben – seien es diejenigen des experimentellen Herstellens, des instrumentellen Handelns oder des spielerischen Umgangs –, bedeutete den Verzicht auf das sozialtheoretische Erbe von Marx bis Plessner und von Mead bis Foucault sowie den Verlust der kritischen Distanz zu Strategien der Kontrolle und Strukturen der Macht. Die biowissenschaftliche Technisierung des Körpers und die Computer-, Nano- und Netzrevolutionen des Technischen führen diese beiden materiellen Dimensionen des Sozialen nunmehr so eng zusammen, dass Körper und Technik als »sozio-organisch-technische« Hybrid-Konstellationen analysierbar werden. Damit gewinnt aber auch die Frage nach der modernen Gesellschaft an Kompliziertheit: die Grenzen des Sozialen ziehen sich quer durch die Trias Mensch – Tier – Maschine und müssen neu vermessen werden. Die Reihe Technik | Körper | Gesellschaft stellt Studien vor, die sich dieser Frage nach den neuen Grenzziehungen und Interaktionsgeflechten des Sozialen annähern. Sie machen dabei den technischen Wandel und die Wirkung hybrider Konstellationen, die Prozesse der Innovation und die Inszenierung der Beziehungen zwischen Technik und Gesellschaft und/oder Körper und Gesellschaft zum Thema und denken soziale Praktiken und die Materialitäten von Techniken und Körpern konsequent zusammen. Die Reihe wird herausgegeben von Gesa Lindemann, Professorin für Soziologie an der Universität Oldenburg, und Werner Rammert, Professor für Soziologie und Sprecher des interdisziplinären Zentrums für Technik und Gesellschaft an der TU Berlin.
Daniela Manger (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Chemnitz. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Innovationsfähigkeit von Organisationen und Netzwerken.
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Daniela Manger
Innovation und Kooperation Zur Organisierung eines regionalen Netzwerks
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Daniela Manger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1078-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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I N H AL T
Die Bedeutung und die Entstehung regionaler Cluster
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1.1 Regionale Cluster und globale Vernetzung 1.2 Eine kurze Phänomenologie der Cluster 1.2.1 Das Problem des Wissenstransfers 1.3 Arten des Wissenstransfers 1.4 Die Entstehung regionaler Cluster 1.4.1 Günstige Kontextbedingungen 1.4.2 Räumliche Nähe und soziale Kontakte 1.4.3 Soziale Netzwerkforschung 1.4.4 Der Aufbau von Kontaktnetzwerken 1.5 Forschungsfragen
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Der Ansatz des Organisierens 2.1 Zirkuläre Zusammenhänge 2.2 Kollektive Strukturen 2.3 Das Modell des Organisierens 2.3.1 Gestaltung und ökologischer Wandel 2.3.2 Selektion 2.3.3 Retention 2.4 Karl E. Weick: eine Würdigung
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Forschungsfragen und Methodik 3.1 Theorie und Forschungsfrage 3.2 Netzwerke und organisationale Felder 3.3 Netzwerke als kollektive Deutungshorizonte 3.4 Methodik 3.4.1 Das Forschungsdesign im Überblick 3.4.2 Das narrative Interview 3.4.3 Textanalyse: Das qualitative Experiment 3.4.4 Theoriegeleitete Beobachtung und Beschreibung
73 73 80 83 88 88 91 94 96
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Die Fallstudie 4.1 Das Netzwerk: ein Überblick 4.1.1 Die Akteure des Netzwerks 4.1.2 Die Grenzen des Netzwerks 4.1.3 Die Aktivitäten des Netzwerks 4.1.4 Die Situation vor der Netzwerkentstehung 4.2 Kontextbedingungen des Netzwerks 4.2.1 Die EUREGIO 4.2.2 Die INTERREG-Programme der EU 4.2.3 Lackbranche und Lacktechnik 4.3 Die Akteure und Unterstützer des Netzwerks 4.3.1 Die Fachhochschulen 4.3.2 Lack- und oberflächenbezogene Verbände 4.3.3 Weitere Akteure 4.4 Entstehungsphasen des Netzwerks 4.5 Der Aufbau der vier empirischen Kapitel
101 101 101 102 103 104 106 106 108 109 113 114 117 119 120 123
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Blockaden regionaler Kooperation 5.1 Sensemaking auf fachlich-professioneller Ebene 5.1.1 Die Bedeutungswelt der Sensortechniker 5.2 Sensemaking auf organisationaler Ebene
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Ökologischer Wandel und Gestaltung 6.1 Die Erzeugung von Mehrdeutigkeit durch Vertrauen 6.1.1 Vertrauen, eine Begriffsklärung 6.1.2 Die Zunahme von Vertrauen 6.1.3 Wie Vertrauen Zukunft erzeugt 6.1.4 Eine Alternative wird sichtbar 6.2 Die Dynamik der Gestaltung 6.2.1 Die Ausgangslage: Spielräume und Hemmnisse 6.2.2 Maschinenbezogene Kooperation 6.2.3 Projektbezogene Kooperation 6.2.4 Rollenkomplementäre Kooperation
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Selektion 7.1 Herkunft und Visionen des Centerkonzepts 7.2 Zwei konträre Interpretationsweisen des Centers 7.3 Mißverstehen: Chance oder Risiko? 7.4 Konstruktives Mißverstehen 7.5 Vom Center zum Netzwerk
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7.6 Die Entstehung des Netzwerks – ein Überblick 7.6.1 Die Akteure des Netzwerks 7.6.2 Das Netzwerk und seine Unterstützer
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Retention 8.1 Netzwerkkultur 8.1.1 Vertrauen: „Wir respektieren uns!“ 8.1.2 Offenheit: „Wir gehen aufeinander zu!“ 8.1.3 Innovativität: „Wir sind verrückt!“ 8.1.4 Aktivität: „Gemeinsam sind wir stark!“ 8.1.5 Identität: „Wir sind komplementär!“ 8.2 Transactive Memory 8.3 Netzwerk contra Organisationen
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Schlußbetrachtung
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Literatur
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Abkürzungsverzeichnis
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D AN K S AG U N G
Unter den vielen Personen, die dazu beigetragen haben, daß diese Arbeit fertiggestellt werden konnte, gilt mein Dank vor allem den folgenden: Werner Rammert, weil er mir nicht nur durch meine Stelle am Lehrstuhl für Techniksoziologie die Gelegenheit zur Promotion gegeben hat, sondern mir vor allem auch die Freiheit und die Unterstützung gab, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Darüber hinaus haben die am Lehrstuhl diskutierten Themen diese Arbeit inspiriert und angeregt. Herzlich danken möchte ich auch Josef Gochermann und allen anderen Personen aus dem Netzwerk ECCS, die mir soviel von ihrer Zeit widmeten, mir geduldig ihre Arbeit erklärten, die Labore zeigten und bereitwillig viele Fragen beantworteten. Prof. Dr. Hans Georg Gemünden danke ich für die Herstellung des Kontakts zu dem in dieser Studie untersuchten Netzwerk und Arnold Windeler danke ich dafür, daß er als Zweitgutachter fungierte. Ein besonderer Dank gilt meiner Familie, meinem Mann Thomas Kurtz und unserer Tocher Amelie, die all die Jahre – und in diesen nicht wenige Wochenenden – eine in Theorien und Büchern vergrabene Partnerin und Mutter hingenommen haben. Berlin, im Dezember 2008 Daniela Manger
1 DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG R E G I O N AL E R C L U S T E R
In dieser Arbeit wird eine Fallstudie präsentiert, in der die Entstehung regionaler Kontakte und Kooperationen in einer deutsch-niederländischen Grenzregion untersucht wurde.1 Ziel der Untersuchung war es herauszufinden, wie Aktivität in einer Region entstehen kann, in der es zuvor praktisch keinen Austausch zwischen den dort angesiedelten Akteuren gab. Das Entfachen regionaler Aktivität und dessen Weiterentwicklung zu sogenannten regionalen Clustern steht weltweit auf allen politischen Agenden, seit angenommen wird, daß von solchen Clustern eine hohe Innovationskraft ausgeht und sie daher die Knotenpunkte der globalen Ökonomie bilden. Als Cluster werden regionale Netzwerke und lose Kontakte zwischen Firmen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen und politischen Akteuren aus einer Branche in einer Region bezeichnet (Porter 1998: 78). Die Entwicklung der Vernetzung zwischen lokalen Akteuren wurde in der untersuchten Fallstudie durch ein Förderprogramm der EU angestoßen, in dem grenzüberschreitende Kontakte in sogenannten Euregiogebieten finanziell unterstützt wurden. Mit Hilfe solcher Fördermittel wurde Ende der 1990er Jahre in zwei benachbarten EUREGIOs im deutsch-niederländischen Grenzgebiet ein Netzwerk zwischen Wissenschaftlern an regionalen Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen ins Leben gerufen, welches im Bereich der Lack- und Oberflächenbeschichtung aktiv ist. Geographisch spannt sich der Wirkungskreis des Netzwerks zwischen Enschede in den Niederlanden als nord-westlichen
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Vgl. zusammenfassend Manger (2006). 11
INNOVATION UND KOOPERATION
Eckpunkt bis hinunter nach Venloo als südwestliche Begrenzung, und die östliche Grenze verläuft von Düsseldorf als südlichen Endpunkt über Krefeld, Osnabrück bis nach Münster als nordöstlichen Eckpunkt. In diesem geographischen Raum hat das Netzwerk neue Ausbildungsgänge initiiert und zahlreiche Kooperationen zwischen ganz verschiedenen Akteuren angestoßen. Im Bereich der Lackbeschichtung ist durch die Entstehung und die Dynamik des Netzwerks salopp formuliert einiges „ins Rollen“ gekommen, und wenn man annimmt, daß am Anfang eines Clusters eine Zunahme des Austausches zwischen regionalen Akteuren steht, dann kann die hier präsentierte Studie Aufschluß darüber geben, durch welche Strategien, aus welchen Motiven und durch welche Mechanismen eine gewisse Dynamik in der Region begann und welche Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen waren. Gleichwohl die Zunahme der Aktivitäten in der untersuchten Region durch ein EU-Förderprogramm angestoßen worden waren, ist damit längst noch nicht alles erklärt, denn die Aktivität aufnehmen müssen die Akteure immer noch selbst. Philip Cooke und Kevin Morgan (1998) haben in ihren Studien herausgearbeitet, daß sich in verschiedenen europäischen Regionen trotz hoher Fördermittel nicht in allen Regionen eine Zunahme regionaler Kooperationen und erst recht keine Dynamik entfaltet hat. Die Tatsache des Scheiterns anderer Förderprojekte auch angesichts hoher Fördermittel zeigt allein schon, daß es neben finanziellen Anreizen weitere Bedingungen für die Entfaltung von Aktivität in einer Region geben muß. Die Mechanismen der Clusterbildung wurden zunächst in ihrer Komplexität unterschätzt, wie Francesco Breschi und Franco Malerba (2001: 832) ausführen: „The emergence of successful clusters is in fact the result of the dynamic interplay of several different variables and dimensions.“ Sie mahnen eine weitere Erforschung der Entstehungsbedingungen von Clustern an, wobei sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt jede Identifikation einzelner Mechanismen schon als großen Schritt in die richtige Richtung bezeichnen: „The identification of single factors indeed does represent a major step forward in the analysis“ (ebd.). Die vorliegende Studie wird einzelne, möglicherweise typische Probleme und Lösungsstrategien aufzeigen, die vielleicht ein oder mehrere Puzzlesteinchen im Rätsel um die Gründungsmechanismen von Clustern beisteuern können, aber selbstverständlich wird eine einzelne Fallstudie nicht das Rezept schlechthin offenbaren, was es angesichts der Komplexität des Sachverhalts ohnehin nicht geben wird. Sie wird die von Breschi und Malerba oben angemahnte Identifikation einzelner Probleme oder Blockaden leisten und die in diesem Fall verfolgte Lösungsstrategie aufzeigen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei wird ein – zumin12
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
dest für die Clusterforschung – ungewöhnlicher Ansatz gewählt, denn beschrieben und interpretiert wird die Fallstudie aus der Perspektive des Ansatzes des Organisierens von Karl E. Weick. Damit wird eine organisationssoziologische Perspektive eingenommen, deren Merkmal das Spiel mit Zirkularitäten ist. Von Weick stammen bekannte zirkuläre Aussagen wie etwa: „wie kann ich wissen, was ich will, bevor ich sehe, was ich sage?“ (Weick 1985: 196). Die Frage nach Ursachen wird nicht unilinear entschieden, sondern durch sich gegenseitig hervorrufende Aktivitäten und wechselseitiges Aufschaukeln und Verfestigen von Strukturen und insofern zirkulär erklärt und läßt damit auch für die Gründung eines Clusters interessante zirkuläre Einsichten erwarten. Im nächsten Teilkapitel (1.1) soll zunächst die Bedeutung regionaler Cluster erläutert werden und daran anschließend werden die typischen Merkmale erfolgreicher Cluster aufgezeigt (1.2). Die Diffusion von Wissen wird häufig als der wichtigste Vorteil von Clustern gewertet, weshalb in Kapitel 1.3 kurz auf die Frage eingegangen wird, wie Wissen überhaupt weitergegeben werden kann. Erst dann werden die bislang vorhandenen Annahmen über die Entstehungsbedingungen von Clustern zusammengetragen und offene Forschungsfragen aufgezeigt (1.4). Erste Indizien und Vermutungen über die Entstehung innovativer Cluster werden alsdann zu einem weiterführenden forschungsleitenden Fragenkomplex verdichtet (1.5), der den Leitfaden für die anschließende Theorieauswahl setzt. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Überblick über den Aufbau dieser Arbeit.
1.1
Regionale Cluster und globale Vernetzung
Mit der fortschreitenden Globalisierung wird eine weltweite Neuverteilung der Topographie technischer Innovationen deutlich. Die Innovationstätigkeit findet zunehmend zwischen zwei interdependenten Polen statt: Einerseits ermöglichen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einen schnellen Wissensaustausch über große Distanzen hinweg, wodurch Forschungs- und Entwicklungskooperationen unabhängig vom Standort der kooperierenden Partner eingegangen werden können. Statistische Daten etwa zeigen, daß internationale Kooperationsbeziehungen zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmen deutlich zugenommen haben.2 Auch multinationale Unter-
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Als Indikator für die Zunahme von Kooperationsbeziehungen zwischen Firmen und Forschungsinstituten gelten Patentanmeldungen. Noch in den 13
INNOVATION UND KOOPERATION
nehmen können mittlerweile an mehreren Punkten der Erde Forschungsund Entwicklungszentren unterhalten und diese miteinander vernetzen. Schließlich sind noch strategisch-hierarchische Forschungsallianzen internationaler Unternehmen zu nennen, wofür die Entwicklung und Produktion des Airbusses ein prominentes Beispiel darstellt (Elzen et al. 1996). Andererseits jedoch haben die weltweite Allokation von Gütern, der zunehmend globale Kapitalmarkt, hervorragende Transportmöglichkeiten und die Informations- und Kommunikationstechnologien gerade nicht zu einer Entkopplung räumlicher Bindungen geführt, sondern diese ganz im Gegenteil sogar verschärft:3 Weltweit etwa läßt sich das Phänomen beobachten, daß sich Akteure aus einer oder aus verwandten Branchen regional konzentrieren. Die Mikroelektronik der USA ist weder gleichmäßig über das Land verteilt noch dort angesiedelt, wo die Produktionskosten günstig sind, sondern befindet sich im sogenannten Silicon Valley, während sich die Biotechnologie entlang der Route 128 bei Boston konzentriert. In Deutschland findet man beispielsweise den Maschinenbau in Baden-Württemberg in und um Stuttgart, Medizinund Biotechnologie in Berlin, optische Technologien um Jena, in Berlin, Potsdam und München sowie Multimediacluster um Köln.4 Statistische Daten belegen diese Präferenz für Regionalisierung, denn Firmen unterhalten in bezug auf ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten deutlich mehr regionale als internationale Kooperationen (Rickne 2001; Verspagen und Schoenmakers 2004). Die räumliche Konzentration von Unternehmen einer oder verwandter Branchen kann darüber hinaus keinesfalls als ein Phänomen sogenannter High-Tech Branchen angesehen werden, denn Clusterbildung findet sich in nahezu allen wertschöpfenden Bereichen: Ob in der Möbelindustrie, der Holzverarbeitung, der Fischerei, dem Weinanbau, der Schmuckherstellung, der Schuhproduktion oder was auch immer – eine Flut an Falldarstellungen und Untersuchungen zu vielen einzelnen Regionen und Ländern zeigt auf, daß Cluster fast überall auf der Welt eine
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1980er Jahren wurden Forschungsarbeiten in Patenten nicht zitiert, während Ende der 1990er Jahre bereits pro Patent durchschnittlich 3 bis 4 Forschungsarbeiten zitiert wurden und dies branchenunabhängig (OECD 2001). Kooperationsbeziehungen sind dabei zugleich auf nationaler wie internationaler Ebene gestiegen (OECD 2000). Gegenteilig die These von Caimcross (1997), der den „Death of Distance“ prognostiziert. Ebenso geht Beck (1998: 9) davon aus, daß in der Weltgesellschaft „geographische Räume zunehmend an Bedeutung verlieren“; vgl. dazu auch Albrow (1998). Natürlich gibt es noch sehr viel mehr Cluster, vgl. dafür die Zusammenstellung des Wissenschaftsministeriums auf www.kompetenznetze.de
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
Sogwirkung zu entfalten scheinen, welche in ihrer Zahl die alten Industriedistrikte5 weit übertrifft.6 Michael Porter (1990) erklärt die neuerliche Clusterbildung mit einer Dynamisierung von Konkurrenz. Während noch wenige Jahre zuvor die Konzentration auf Kostenreduktion ausreichte, um konkurrenzfähig zu bleiben, gehe es zunehmend um das geschickte Ausnutzen von Produktivitätsvorteilen auf allen Ebenen: „To sustain advantage, firms must achieve more sophisticated competitive advantages over time, through providing higher-quality products and services“ (ebd.: 10). Anstelle also einfach nur Kostenvorteile wie billige Arbeitskräfte, günstige Steuern oder optimale Transportbedingungen auszunutzen, werden Wettbewerbsvorteile zunehmend über die hohe Qualität, die Besonderheit des Produkts an sich, durch den besonderen Service und die Kundenbetreu-
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Industriedistrikte werden im Kontext industrieller Massenproduktion verortet. Große Industrieunternehmen bilden oft das Zentrum eines regionalen Industriedistrikts, dem viele kleinere Unternehmen zum Teil exklusiv zuarbeiten. Als typisches Beispiel läßt sich die Fertigung von Autos in Detroit/USA anführen. Die neuen Industriedistrikte funktionieren nicht nach den Regeln der Massenproduktion, sondern nach dem Prinzip der flexiblen Spezialisierung (Piore und Sabel 1985). Viele kleine Firmen entwickeln innovative Produkte, kooperieren je nach Produkt in unterschiedlichen Konstellationen und bedienen Nischenmärkte. Zunächst wurden diese neuen Distrikte als seltene und sonderliche Ausnahmeerscheinungen angesehen, die es überwiegend in Italien gäbe (Becattini 1990). Sie wurden im Rekurs auf die von Alfred Marshall vor gut einem Jahrhundert beschriebenen Industriedistrikte, die ebenfalls kleine und mittlere Betriebe umfaßten, auch als „neo-Marshallian districts“ bezeichnet. Dann hat man festgestellt, daß auch in regionalen Clustern wie Silicon Valley die Prinzipien der Massenproduktion kaum vorhanden sind. Auch für „klassische“ Industrien der Massenproduktion wie dem Automobilbau gilt mittlerweile, daß auch dort zunehmend hochspezialisiertes Wissen benötigt wird, welches aber von außen, von zahlreichen Spezialunternehmen bezogen wird, die aber häufig in verschiedenen, man könnte sagen: wissensspezifischen Clustern angesiedelt sind. Die von Michael Piore und Charles Sabel eingeführte Demarkationslinie Massenproduktion/alte Industriedistrikte versus flexible Spezialisierung/neue Industriedistrikte läßt sich so nicht mehr aufrecht halten, und so ist diese Debatte auch zum Erliegen gekommen. Stattdessen wird aktuell das Neue der Industriedistrikte in der Einbettung in globale Kapitalströme gesehen und dann läßt sich diskutieren, ob diese Industriedistrikte immer noch die lokalen Strukturen aufweisen, die Marshall (1920) herausgearbeitet hatte oder ob die an globales Kapital angeschlossenen Industriedistrikte dadurch eine grundlegend neue Qualität erhalten (Amin und Robins 1991). Siehe hierzu u.a. die Fallstudien aus verschiedensten Regionen der Welt in Braczyk, Fuchs und Wolf (1999); Braczyk, Cooke und Heidenreich (1998); Cooke und Morgan (1998); Camagni (1991a); Castells (2001a); Hilpert (1991); Porter (1998). 15
INNOVATION UND KOOPERATION
ung bei gleichzeitiger Kosteneffizienz erzielt, was bedeutet, daß diese Vorteile kontinuierlich von den Firmen selbst erzeugt werden müssen.7 Um dies zu erreichen sei permanente Innovation erforderlich, sowohl in bezug auf die verwendete Technik als auch in bezug auf Strategien, Werbung und Vertriebswege (ebd.: 37f.).8 Die Ansiedelung in entsprechend ausgerichteten Clustern eröffnet Porter zufolge den Unternehmen Chancen, in diesem dynamisierten Wettbewerb mithalten zu können. Outsourcing an verschiedenste Zulieferer und Kooperationspartner vor Ort reduziere Kosten gegenüber vertikal integrierter Produktion, sei zudem flexibler und darüber hinaus bilden sich durch die verschiedenen wechselnden Kontakte persönliche Beziehungen, in denen Vertrauen entstehen kann, und sich dadurch die Möglichkeit zur schnellen Weitergabe von Informationen und Wissen eröffnet (Porter 1998: 81). Daß Cluster als Katalysatoren für gesteigerte Innovationskraft fungieren, zeigen etwa zahlreiche statistische Analysen für viele verschiedene Technologiebereiche auf, die jeweils nachweisen konnten, daß in Clustern angesiedelte Unternehmen innovativer und leistungsfähiger sind als Unternehmen, die nicht in der Nähe eines Clusters operierten (Jaffe et al. 1993; Almeida und Kogut 1997). Multinationale Unternehmen versuchen, ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in entsprechenden Clustern anzusiedeln. So verlegte beispielsweise Nestlé seine Zentrale für die Sparte Süßwaren von der Schweiz nach York in England, wo es einen sehr aktiven Lebensmittelcluster gibt. Den Hauptsitz für Mineralwasser dagegen verlegte Nestlé nach Frankreich, wo die führenden Unternehmen für diesen Bereich ihren Sitz haben. Und im Californischen Cluster für Computertechnologie liegt der Sitz von Hewlett-Packard für den Bereich Personalcomputer, während die medizintechnologische Sparte des Unternehmens im entsprechenden Cluster in Massachusetts angesiedelt ist (Porter 1998: 87). Bereits diese beiden Beispiele multinationaler Unternehmen zeigen, daß die Ansiedelung in Clustern keinen Abbruch internationaler Kontakte bedeutet. Cluster sind keine selbst genügsamen Inseln, sondern lassen sich besser als Zentren verstehen, die wiederum untereinander in einem weltweiten Austausch vernetzt sind (Bresnahan et al. 2001; Amin und Cohendet 2004; Saxenian und Hsu 2001). Ein solches Modell der Welt7
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Natürliche Rohstoffe wie Kohle, Erz, Gold etc., aber auch geographische Bedingungen wie die Lage an Wasserstraßen und Häfen wirken sich angesichts niedriger Transport-, Energie-, Informations- und Koordinationskosten nicht mehr auf die Standortwahl aus (Altvater und Mahnkopf 1996). Ähnlich argumentiert auch Lundvall (1994), daß Produkte zunehmend wissensbasiert seien und Wissen daher die wichtigste strategische Ressource und Lernen der wichtigste Prozeß sei.
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
wirtschaft propagiert beispielsweise auch Manuel Castells (2001). Er versteht unter der sogenannten Netzwerkgesellschaft keinesfalls eine weltweite Vernetzung aller Akteure mit allen, sondern eine Vernetzung wichtiger regionaler Zentren wie Megacities oder eben Technologiecluster mit anderen wichtigen Zentren.9 Festhalten läßt sich, daß die Topographie technischer Innovationen somit zwischen zwei Polen aufgespannt zu sein scheint: Einerseits fungieren zahlreiche regionale, spezialisierte Cluster als Inkubatoren für Innovationen, die aber andererseits an weltweite Kapital- und Wissensströme angeschlossen sind und mit diesen im Austausch stehen. Nationale Ökonomien betreffend heißt dies, daß ein differenzierterer Blick auf nationale Innovationssysteme geworfen werden muß, da es weniger um nationale als um regionale Förderung geht (Cooke 1993). So argumentieren denn auch einige Wissenschaftler (wie u.a. Castells 2001; Cooke 1993; 2001; Porter 1990; 1998), daß die Teilhabe an der Weltökonomie und damit an Prosperität und Wohlstand auf nationaler Ebene davon abhänge, ob es jeweils gelingt, regionale Cluster auf- und auszubauen, über die nationale Ökonomien in weltweite Kapital- und Wissensströme eingebunden sind. Die Politik müsse daher für die geeigneten, clusterförderlichen Kontextbedingungen sorgen. In vielen Ländern setzte daher Ende der 1980er und vor allem in den 1990er Jahren eine gezielte Clusterförderung ein. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wurden – wie in vielen anderen Ländern auch – zahlreiche Technologiecenter errichtet, auf EU Ebene wurde ein Programm zur Förderung von Clustern aufgelegt und bestimmte europäische Regionen mit hohen Finanzhilfen speziell gefördert.10 Auch in Asien unternahmen viele Regierungen Anstrengungen, Cluster aufzubauen – in Malaysia etwa sollte Silicon Valley repliziert werden. Von vielen dieser Versuche hat man aber nie wieder etwas gehört. Bresnahan et al. (2001) bezeichnen den Versuch in Malaysia als gescheitert und die
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Castells konzentriert sich auf die großen städtischen Ballungsräume, die er als Megacities bezeichnet und in denen er die Wirtschafts- und Finanzzentren verortet. Technologiecluster, die oft in und um mittelgroße Städte angesiedelt sind oder entlang von bestimmten Straßen wie der Boston Route 128 oder in einem Tal wie dem Silicon Valley, stellen für ihn eine Ausnahme dar, die er analog als Technopoles bezeichnet (Castells 2001). Anders als Porter (1990; 1998) beschränkt sich Castells ausschließlich auf hochtechnologische Bereiche, wodurch er Cluster in agrikulturellen Bereichen wie dem Weinanbau oder im handwerklichen Bereich nicht sieht. 10 Das Regional Development Programme der Europäischen Kommission lief zunächst von 1994-1999. Es wurde 2000 neu aufgelegt und endete 2006, vgl. http://ec.europa.eu/regional_ policy/country/prordn/index_en. cfm 17
INNOVATION UND KOOPERATION
Strategie, durch die Einrichtung von Technologieparks eine Clusterbildung anzuregen, scheint ebenfalls nur in wenigen Fällen aufgegangen zu sein (Massey et al. 1992).
1.2
Eine kurze Phänomenologie der Cluster
Michael Porters (1998: 78) Definition von Clustern bringt deren wesentliche Merkmale auf den Punkt: „Clusters are geographic concentrations of interconnected companies and institutions in a particular field.“ Cluster sind also zunächst einfach nur Ansammlungen vieler Unternehmen der gleichen Branche in einem geographischen Raum, zwischen denen vielfältige nicht näher definierte Kontakte auszumachen sind. Anders als in den klassischen Industriedistrikten, in deren Mittelpunkt große Industrieunternehmen stehen, um die sich ein Heer von größtenteils festen und nicht selten von diesen abhängigen Zulieferunternehmen gruppiert, handelt es sich bei den Kontakten der in Clustern angesiedelten Unternehmen um eher lose Verbindungen, wechselnde Kooperationen oder einfach nur um ein gegenseitiges Beobachten und zur Kenntnis nehmen als Wettbewerber auf dem gleichen Markt. Die Konzentration vieler im gleichen Bereich tätiger Unternehmen führt zur Entstehung von Spezialisierungsvorteilen, von denen alle dort angesiedelten Unternehmen und Organisationen profitieren. Bereits um die Jahrhundertwende hatte Alfred Marshall anhand seiner Studien über die Industriedistrikte in Sheffield und Lancashire auf regionale Spezialisierungseffekte hingewiesen (vgl. etwa Marshall 1920). Diese bestehen erstens in der Entstehung eines spezifischen regionalen Arbeitsmarkts. Fachkräfte stehen in der Region leichter zur Verfügung als anderswo, ein Effekt, der durch die Entstehung entsprechender Ausbildungs- und Schulungsprogramme in der Region zusätzlich verstärkt wird. Darüber hinaus führt zweitens die Agglomeration von Firmen einer spezifischen Richtung zur Ansiedelung von Zulieferern und von Anbietern spezifischer die Ausrichtung des Clusters ergänzender Dienstleistungen. Effekten dieser Art wird von Ökonomen der Status eines öffentlichen Gutes zugebilligt, weil an diesen regionalen Vorteilen alle dort angesiedelten Organisationen partizipieren können, wie sie auch in gleicher Weise von einer guten infrastrukturellen Anbindung profitieren. Der dritte Agglomerationsvorteil, nämlich Wissen, scheint bezüglich der neuerlich zu beobachtenden Clusterbildung von besonderer Bedeutung zu sein. Technisches Innovationswissen läßt sich immer weniger über die klassischen Koordinationsmechanismen Markt und Hierarchie 18
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
beziehen. Der Grund dafür liegt Werner Rammert (1997) zufolge in der Beschleunigung, Verdichtung und Fragmentierung von Innovationsprozessen: Innovationen können nicht mehr von der wissenschaftlichen Entdeckung über die technische Erfindung bis zur ökonomischen Innovation als eine, wenn auch sich in rekursiven Schleifen vollziehende Detaillierung begriffen werden (Rammert 1997). Wissenschaftliches Wissen und technische Innovationen werden enger aufeinander bezogen, bedingen sich wechselseitig und sind in einigen Bereichen wie etwa in der Biotechnologie zum Teil sogar deckungsgleich. Je enger der Zusammenhang zwischen technischen Innovationen und wissenschaftlichem Wissen ist, desto wichtiger ist für innovierende Unternehmen der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen. Forschung findet deshalb häufig auch in den Unternehmen statt, womit wiederum eine Fragmentierung des Wissensfeldes einhergeht.11 Daß aktuelles wissenschaftliches Wissen nicht über den Markt eingekauft werden kann, versteht sich von selbst. Wer auf aktuelles wissenschaftliches Wissen zugreifen möchte, muß Zugang zu den entsprechenden „scientific communities“ haben. Selbst wenn ein Unternehmen eigene Forschung betreibt, müssen die eigenen Wissenschaftler in die wissenschaftliche Gemeinschaft eingebunden sein und sind daher wiederum auf Informationen über Netzwerke angewiesen. Die in der Clusterforschung weitverbreitete Annahme ist nun, daß es in Clustern zu einem „Knowledge Spillover“ kommt, worunter ein schneller Wissenstransfer verstanden wird. Informationen über neue technische Entwicklungen und Möglichkeiten sprechen sich innerhalb der Cluster schnell herum, sie werden durch soziale Kontakte, häufig in Face-to-Face Situationen schnell weitergetragen (vgl. Castells und Hall 1994), wichtige Informationen hängen mit Alfred Marshall gesprochen sozusagen in der Luft: „The secrets of the industry are in the air“ (Marshall 1890). Weil dieses Wissen aber vornehmlich zwischen den lokalen, sich häufig in Face-to-Face Interaktionen treffenden Akteuren zirkuliert, kann es als lokal gebunden angesehen werden (Breschi und Lissoni 2001: 975). Dieser lokalen Zirkulation von Wissen wird in der Fachliteratur ausnahmslos eine hohe Bedeutung zuerkannt, sie wird als entscheidender Wettbewerbsvorteil gegenüber nicht in Clustern angesiedelten 11 Werner Rammert (2003; 2004) weist darauf hin, daß die Folge zunehmender Spezialisierung eine Fragmentierung der Wissensgebiete sei. Für die Herstellung von Technik müssen dann als Folge Fragmente aus zahlreichen Wissensbereichen miteinander amalgamiert werden. Weil er in dieser Fragmentierung des Wissens die zentrale Herausforderung der Gesellschaft sieht, spricht er von der fragmentierten Gesellschaft (ders. 2004), welche an die Stelle der funktional differenzierten Gesellschaft trete. 19
INNOVATION UND KOOPERATION
Unternehmen gewertet (Almeida und Kogut 1997; Feldman und Florida 1994; Kelly und Hagemann 1999; Kogut und Zander 1992). Darüber hinaus wird diesem lokalen Wissen von vielen Autoren ebenfalls die Qualität eines öffentlichen Guts zugeschrieben.12
1.2.1 Das Problem des Wissenstransfers Die Rede vom Transfer von Wissen in regionalen Clustern ist aber genau betrachtet irreführend, denn Wissen ist, wie Werner Rammert betont, „zunächst mal kein Stoff, der wie Erz gewonnen und durch Arbeit veredelt werden kann. Wissen ist ein Aspekt praktischer Tätigkeiten und kann als Kompetenz, praktisch zu handeln, bestimmt werden. Das Wissen gibt es nicht, sondern es zeigt sich jeweils in der Performanz“ (Rammert 2000: 195; vgl. auch Stehr 2000). Und genau aus diesem Grund, weil Wissen in Praxis eingelagert ist, halten die Vertreter der wissenssoziologisch argumentierenden „communities of practice“ Perspektive (Wenger 1998) Wissensaustausch zwischen Angehörigen verschiedener „communities of practice“ für schwierig, wenn nicht sogar für unmöglich. Ausganspunkt für diese Argumentation bildet die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen von Michael Polanyi (1966), wonach Wissen immer aus impliziten und expliziten Komponenten besteht.13 Das implizite Wissen betrifft vor allem den Umgang mit Wissen, es ist in Handlungsstilen und Routinen eingelagert, es flankiert die Praxis des Handelns. Gruppen, die eine gemeinsame Handlungspraxis teilen, teilen damit auch Bestände impliziten Wissens und werden als „communities of practice“ bezeichnet. (Brown und Duguid 1991; 2001; 2002; Lave und Wenger 1991; Wenger 1998). Nur der explizierbare Teil des Wissens kann kommuniziert werden. Um aber tatsächlich verstehen zu können, was mitgeteilt wurde, benötigt der Empfänger einer Botschaft auch die implizite Dimension des mitgeteilten Wissens.14 Diese kann aber nicht kommuniziert werden, sondern 12 Die Diskussion darüber, ob Wissen den Charakter eines öffentlichen Guts annehmen könne, geht bereits zurück auf Nelson (1959) und Arrow (1962) und wird nun wieder verstärkt geführt (Glaeser et al. 1992; Kelly und Hageman 1999). 13 Zur Rolle von implizitem Wissen für Face-to-Face Interaktionen siehe auch Cohen und Levinthal (1989; 1990); Cowan und Foray (1997); Grabher (1993). 14 Gilbert Ryles (1949) Unterscheidung von ‚knowing how und ‚knowing that’ bezeichnet den gleichen Sachverhalt. Während ‚knowing how bedeutet, daß man auf Grund von Erfahrung weiß, wie etwas zu tun ist, bezieht sich ‚knowing that auf das explizierbare Wissen. Um etwas zu 20
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
wird ausschließlich durch die gemeinsame Praxis erworben. Je mehr implizites Wissen zwei Personen teilen, desto besser können sie sich miteinander verständigen. Die gemeinsame Praxis, die bekannten Routinen und Denkmuster ermöglichen dann die Vervollständigung oder die richtige Interpretation des kommunizierten Halbwissens. Anders herum heißt das aber auch, daß je verschiedener die Praxen von Kommunikationspartnern sind, desto schwieriger die Verständigung zwischen den verschiedenen Communities sein wird.15 Zwischen Angehörigen verschiedener Communities of practice helfen dann letzten Endes nur noch Dolmetscher, sogenannte ‚Boundary Spanner’, worunter Personen verstanden werden, die in zwei Communities zugleich einsozialisiert sind. Aus dieser Perspektive stellt sich nun aber der Wissenstransfer, der als Zentralargument für die Vorteile von Clustern gebracht wird, als äußerst voraussetzungsvoll dar. Selbst wenn in einem Cluster viele ähnlich ausgebildete Experten in den zahlreichen regional ansässigen Firmen tätig sind, so läßt sich Wissen dennoch keinesfalls unproblematisch transferieren. Die Angehörigen einer Berufsgruppe bilden per se noch längst keine community of practice, sondern gegenteilig können gleich ausgebildete Personen verschiedenen communities of practice angehören. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer community of practice ist die gemeinschaftliche interaktive Auseinandersetzung mit dem Tätigkeitsfeld. Erst im interaktiven Umgang mit diesem entstehen spezifische Sichtweisen, typische Bewertungsgesichtspunkte, Routinen usw., und bezüglich dieser können eben auch Angehörige einer Berufsgruppe differieren.16 Einen Ausweg aus diesem strukturellen Dilemma des Wissenstransfers sehen Brown und Duguid (2000) in der Entstehung regionaler „networks of practice“. Durch regelmäßigen Kontakt und engen Austausch würden sich auch innerhalb von Regionen relativ enge soziale Bindungen bilden, die zwar lockerer seien als ‚communities of practice’, aber dennoch relativ viel implizites Wissen teilen würden und deshalb die rekönnen, reicht explizites knowing that aber nicht aus, wie Rhyle mit dem Beispiel des Schachspielens illustriert: Die Kenntnis der Regeln allein macht noch niemanden zu einem guten Spieler, dazu braucht man Erfahrung, also Praxiswissen. 15 So hat Harry Collins beispielsweise gezeigt, daß reproduzierbares explizites Wissen nicht ausreichend ist, um Experimente zu replizieren und dies selbst bei Spezialisten der gleichen Fachdisziplin (Collins 1974 und Collins 1975). 16 Natürlich gibt es unter ähnlich ausgebildeten Berufspraktikern gemeinsam geteilte soziale Normen in bezug auf die Arbeitsverrichtung, welche für die Verständigung auf einem allgemeinen Niveau sorgen. Für Ingenieure vgl. dazu Ekardt, Manger u.a. (2000) sowie Manger (1999). 21
INNOVATION UND KOOPERATION
gionalen Infrastrukturen für Informations- und Wissensaustausch bilden könnten. Konstatieren läßt sich abschließend zum Problem des Wissenstransfers, daß in der Tat sich der Transfer von Wissen, welches in hohem Maße auf sehr spezifisches implizites Wissen rekurriert, nicht gerade einfach gestalten mag. Allerdings läßt sich auch einwenden, daß in bezug auf Cluster zahlreiche Wissensarten denkbar sind, deren Weitergabe keinesfalls ein tiefgehendes Teilen gemeinsamer Praktiken voraussetzt. Zu denken wäre beispielsweise an strategische Informationen, sogenanntes Insiderwissen17, Beratungsleistungen, Informationen über Informanten usw. Es ist deshalb eine empirische Frage, welcher Art Wissen in welchen Clustern mitgeteilt wird und ob gerade in besonders innovativen Clustern tatsächlich networks of practice existieren und aus welchen Akteurkonstellationen heraus sie entstehen oder wie sie in weitere Beziehungsstrukturen eingebettet sind. Neuere Forschungen zu Projektorganisationen und virtuellen Gemeinschaften betonen die Vielschichtigkeit von Austausch- und Kooperationskonstellationen, die auch für Cluster stärker abzubilden wären (Grabher 2006; Grabher und Ibert 2006; Grabher und Maintz 2006). Denkbar wäre auch eine Dynamisierung der Art des Wissenstransfers von einfacheren Formen hin zu tieferliegenden Formen des Wissenstransfers, bei denen höhere Anteile impliziten Wissens erforderlich sind. Eine Untersuchung der Entstehungsbedingungen regionaler Kontakte wird in jedem Fall ein besonderes Augenmerk auf die Arten des Wissensaustauschs zu legen haben.
1.3
Ar t e n d e s W i s s e n s t r a n s f e r s
Quantitative Studien präsentieren Indizien für die Annahme, daß enge innovationsbezogene Kooperationen zwischen Unternehmen und Forschungsinstituten und/oder Universitäten erheblich an Bedeutung gewonnen haben (Fritsch und Schwirten 1999; Meyer-Krahmer und Schmoch 1998) und lassen somit indirekt auf die Zirkulation von kontextsensitivem Wissen zwischen diesen Akteuren schließen. Die Präsenz 17 ‚Insiderwissen ist beispiesweise notwendig, weil Innovationsprozesse auf viele verschiedene Akteure verteilt sind, es gleichzeitig aber den Zwang gibt, möglichst schnell und flexibel auf den Markt reagieren zu müssen. Innovierende Unternehmen müssen deshalb möglichst frühzeitig über Weiterentwicklungen anderer technischer Produkte und damit über Abstimmungsnotwendigkeiten und Standards informiert sein, und zwar bevor diese auf dem Markt vorgestellt werden, um eigene Produkte praktisch zeitgleich entsprechend anzupassen. Solches Wissen ist sensibel und wird in entsprechenden Expertengemeinschaften weitergetragen. 22
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
von Forschungsinstituten, die natürlich die gleiche oder eine ähnliche technologische Ausrichtung aufweisen wie der Cluster, in dem sie angesiedelt sind, gilt in der Tat als typisches Merkmal von Clustern. So haben auch Morgan Kelly und Anya Hagemann (1999) in ihrer Analyse von in Patenten zitierten wissenschaftlichen Arbeiten gezeigt, daß Unternehmen signifikant häufiger wissenschaftliche Arbeiten aus Forschungsinstituten zitieren, die in ihrer geographischen Nähe angesiedelt sind als wissenschaftliche Arbeiten, die anderswo auf der Welt verfaßt wurden. Aus diesem Befund schließen die Autoren der Studie, daß es innerhalb der Cluster eine enge forschungsbezogene Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Forschungsinstituten gibt und die Akteure wechselseitig an ihrem je verschiedenen Wissen partizipieren. Kritisch gegenüber Studien dieser Machart wendet Edwin Mansfield (1995) ein, daß es gängige Praxis in Unternehmen sei, Wissenschaftler zu zitieren, deren Arbeiten von der Firma finanziell unterstützt wurden oder die für die Firma Serviceleistungen anderer Art erbracht hatten. In den von Edwin Mansfield untersuchten Firmen handelte es sich demnach nicht um partnerschaftliche Forschungskooperationen zwischen Firmen und universitären Forschungsinstituten, wie sie aber gemeinhin der Kozitierung in Patenten unterstellt wird.18 Stefano Breschi und Francesco Lissoni (2001: 995) vermuten, daß sich die Beziehung zwischen Forschungseinrichtungen und lokalen Firmen weniger auf direkte Forschungskooperationen bezieht, sondern daß die Institute für die Firmen vielmehr wichtige Dienstleistungen wie Weiterbildung und technische Beratung bereitstellen. Mit diesen Vermutungen ist die These eines clusterspezifischen lokalen Transfers kontextsensiblen Wissens natürlich keinesfalls ausgehebelt, denn es gibt ebenfalls qualitative Clusterstudien19, in denen Forschungskooperationen und Wissenstransfer zwischen Forschungseinrichtungen und lokalen Unternehmen beschrieben werden, wodurch man feststellen kann, daß derlei forschungsbezogener Wissenstransfer durchaus vorkommt. In der industriesoziologischen Literatur werden enge Beziehungen zwischen wichtigen Kunden und Zulieferern von Teilkomponenten als bedeutende Informationsquellen für Innovationswissen genannt (vgl. etwa Rosenberg 1975; 1982). In den genannten qualitativen Studien werden jedoch neben kontextsensiblem Wissen auch zahlreiche andere Formen von Wissensaustausch beschrieben, so daß man konsta18 Vgl. beispielsweise die Studien von Almeida und Kogut (1997); Anselin, Varga und Acs (1997); Feldman und Florida 1994; Verspagen und Schoenmakers (2004). 19 Vgl. beispielsweise Hessinger et al. (2000); Rogers und Larson (1984); Saxenian (1994). 23
INNOVATION UND KOOPERATION
tieren muß, daß Wissenstransfer einen zentralen Stellenwert einzunehmen scheint, daß aber eine Systematisierung und Gewichtung verschiedener Wissensformen bislang jedoch noch aussteht.20 Ein ähnliches Argument läßt sich auch für die Ausgründungen oder englisch: „Spin-off“ Firmen anführen, die ebenfalls als typisches Merkmal von Clustern angesehen werden und als Indikator für lokalen Wissenstransfer gelten (Fritsch 2007; OECD 2001). An Universitäten angestellte Wissenschaftler oder ehemalige Wissenschaftler gründen häufig kleine Unternehmen, um von der Kapitalisierung ihres wissenschaftlichen Wissens unmittelbar zu profitieren. Weiterhin wird angenommen, daß ein fortwährender, enger Wissensaustausch zwischen diesen Firmen und den Universitäten bestehe (vgl. etwa Bania, Eberts und Fogarty 1993). Eine Untersuchung von Zucker et al. für den Bereich der Biotechnologie zeigt allerdings, daß weder ein allgemeiner Wissensaustausch zwischen den Biotechnologiefirmen noch zwischen Biotechnologiefirmen und den Universitäten stattfindet. Es scheint jeweils um die unternehmerische Nutzung vorher entwickelten Wissens zu gehen (Zucker et al. 1998; 1998a). Die These eines fortwährenden Wissenstransfers zwischen Universitäten und kleinen Start-up Firmen wäre damit in Frage gestellt. Auch in einer Studie, bei der Spin-offs in Deutschland untersucht wurden, konnten die Autoren keinen direkten Wissenstransfer feststellen: „A striking result of the analysis refers to the knowledge intensity of the spin-off and the relevance of transferring new research results to the market by spinning off. All variables that measure these aspects are insignificant“ (Engeln, Gottschalk und Rammer 2002: 9). In Studien zu Silicon Valley allerdings wird Wissenstransfer durch Spinoffs aus Universitäten beschrieben (Bania, Eberts und Fogarty 1993). Diese konträren Ergebnisse verdeutlichen, daß die Zusammenhänge vermutlich komplexer sind als zuerst angenommen und einen differenzierteren Blick erfordern, um die Vorteile und die Zusammenhänge der verschiedenen Organisationsformen und Akteurkonstellationen herauszufinden. Im Kontrast zur überwiegend vertretenen knowledge spillover These gibt es aber auch Wissenschaftler, die die Vorteile der Cluster gar nicht in erster Linie als Wissensvorteil konzipieren, sondern andere Gründe anführen.
20 Branchenunterschiede sind natürlich zu berücksichtigen. Es gibt Hinweise darauf, daß das Milieu in Biotechnologieclustern anders geartet ist als in der Chipbranche, vgl. dazu etwa die Studien von Zucker et al. 1998 und von Saxenian 1994. 24
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
Johannes Weyer et al. (1997) argumentieren beispielsweise in einer Studie über Start-up Firmen in Silicon Valley, daß das Phänomen der Start-up Unternehmen weniger mit Wissenstransfer zu tun habe, sondern vielmehr auf strukturelle Anforderungen der Produktinnovation zurückzuführen sei. Kleine Start-up Firmen seien organisationsstrukturell geeigneter als große Firmen, um radikale Produktinnovationen voranzutreiben. Während große Unternehmen Neues tendenziell ausschließen, können kleine Firmen kreativ und flexibel sein und seien deshalb geeigneter als große, bürokratisch strukturierte Unternehmen, um radikal neue Produkte zu entwickeln.21 Um dann allerdings diese neuen Produkte zur Serienreife zu bringen und um sie global vermarkten zu können, sei eine Phase inkrementeller Innovationen erforderlich, die durch konsequente Versuchsreihen und schnellen Produktwechsel vorangetrieben wird, was zugleich kosten- und organisationsintensiv ist. In dieser Phase seien die großen, straff organisierten Unternehmen den kleinen Start-up Unternehmen wiederum überlegen, weshalb es entweder zum Aufkaufen kleiner Firmen durch große oder zu engen Kooperationen zwischen diesen käme. Die Vertreter der GREMI Gruppe22 betonen anstelle von Fachwissen die kollektive Reduktion bestimmter Unternehmerrisiken. In einem Cluster bildet sich demzufolge ein Milieu, in dem eine gemeinsame Auffassung darüber, wie die Welt ist, entsteht und geteilt wird: „The local milieu […] spreading the acceptance of a common vision about the state-of-the-world“ (Camagni 1991: 132). Für die Firmen wirkt das Milieu als risikoreduzierender Faktor, denn in den Face-to-Face Kontakten des Milieus werden zahlreiche Unsicherheiten in offene und zu bewältigende Möglichkeiten transformiert, ambivalente Signale werden in Trends und Optionen überführt. 23 Als zentral wird die Entstehung einer innovativen Atmosphäre angesehen, in der sich eine relativ homogene, aber offene technische Kultur entfaltet (Maillat, Quévit und Senn 1993). Für den einzelnen Unternehmer bedeutet dies, daß unspezifische Unsicherheiten in tragbare Risiken transformiert werden und unternehmerisches Handeln möglich wird. Dabei geht es der GREMI Gruppe nicht nur um
21 Kogut, Walker und Kim (1995) zeigen in einer Studie, daß große Firmen kleine spin-offs gezielt einsetzen, um Märkte zu testen, Nischen auszuprobieren oder um Usernetzwerke zu entwickeln, alles also Vorhaben, für die kleinere, informellere Strukturen geeigneter zu sein scheinen, also große, straff organisierte. 22 Groupe de Recherche sur les Milieux Innovateurs. 23 Vgl. Aydalot (1986); Aydalot und Keeble (1988); Maillat und Perrin (1990). 25
INNOVATION UND KOOPERATION
technische Unsicherheiten, sondern vor allem auch um Markt- und Produktunsicherheiten (Camagni 1991: 126). Resümieren läßt sich, daß die Art der Beziehungen der Akteure untereinander inklusive der Frage, ob und wenn ja welcher Art Wissenstransfer lokal stattfindet, noch immer weitgehend eine Black Box ist, deren Inhalt für die Erforschung der Entstehung von Netzwerken aber zu wissen wichtig wäre.
1.4
Die Entstehung regionaler Cluster
Im folgenden werden typische Annahmen darüber referiert, wie erste Kontakte und erste Kooperationen in einer Region entstehen. Das gerade diskutierte Wissensproblem kommt in den spärlichen Annahmen zu ersten Kontaktanbahnungen auf regionaler Ebene erstaunlicherweise nicht vor, wird aber später in dieser Studie wieder aufgenommen.
1.4.1 Günstige Kontextbedingungen Eine weit verbreitete Annahme in bezug auf die Entstehungsbedingungen von Clustern ist die Vorstellung günstiger Ausgangsbedingungen (Arthur 1990; Krugman 1991; Scott 1988). Neben einer Hand voll Unternehmen der gleichen Ausrichtung als Brutstätte eines zukünftigen Clusters gehört zu den häufig genannten Kontextbedingungen ein regionaler Arbeitsmarkt mit qualifizierten Arbeitskräften, die Nähe zu Forschungsuniversitäten, entsprechend spezialisierte Zulieferer und Dienstleister, häufig auch soziale Vereinigungen, die Networking betreiben, Risikokapitalgeber und das Vorhandensein expansiver Kapazitäten auf einem Markt.24 Liegen diese Merkmale vor, so entsteht praktisch autokatalytisch ein Cluster.25 Wenn die Merkmale erfolgreicher Cluster allerdings nicht „von selbst“ durch entsprechende Marktbedingungen hervorgebracht werden, müßten sie mit Hilfe politischer Fördermaßnahmen geschaffen werden, damit sich auf der Basis einer guten Ausgangslage ein innovatives Milieu und letztendlich ein Cluster entwickelt (Cooke 2001).
24 Neuere Forschungen verdeutlichen, daß auch überregionale Verknüpfungen zwischen wichtigen Clustern eine bedeutende Rolle spielen, vgl. dafür beispielsweise Amin und Cohendet (2004); Cooke und Morgan (1998) sowie Saxenian und Hsu (2001). 25 Vgl. beispielsweise den Aufsatz von Mitchell (2007), der genau in diese Richtung argumentiert, um eine Clusterbildung in Illinois anzuregen. 26
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
Der wohl bekannteste und elaborierteste Ansatz dieser Argumentationsrichtung stammt von Michael Porter (1990). Innovative, wettbewerbsfähige Cluster bilden sich Porter zufolge in einem dynamischen Marktumfeld durch vier Bestimmungsfaktoren heraus (ebd.: 84ff.): Diese wären erstens Faktorbedingungen, worunter er Fachkräfte, Kapital und Infrastruktur zählt. Faktorbedingungen müssen durch Investitionen geschaffen werden und erzeugen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bedingungen wie dem Vorkommen von Rohstoffen oder nicht qualifizierten Arbeitskräften, weil diese einfacher erlangt werden könnten. Hohe Nachfrage bewirkt zweitens einen Nachfragesog und führt zu verschärftem Wettbewerb, wodurch Lerneffekte erzielt werden, Erfindungsreichtum freigesetzt und die Innovationsgeschwindigkeit dynamisiert wird. Wettbewerbsvorteile ergeben sich drittens aber auch aus engen Kontakten zu den vor- oder nachgelagerten Wirtschaftszweigen. Räumliche Nähe bewirke nicht nur einen schnellen und effizienten Zugang zu den dem eigenen Produkt vorgelagerten Leistungen und Vertriebswegen, sondern ermögliche vor allem auch einen Austausch von Ideen, wodurch Trends schneller erkannt und neue Technologien schneller entwickelt würden. Schließlich ergeben sich viertens aus der Konstellation der Branchenstruktur und der Art des Wettbewerbs spezifische Managementstrategien, die ebenfalls für die Art der Innovationen entscheidend sind. Wie die genannten Bedingungen aufeinander wirken wird auch durch exogene, nicht vorhersehbare Einflüsse bestimmt. Eine besondere Rolle kommt in Porters Modell dem Staat zu: Der Staat solle ein wettbewerbs- und innovationsförderliches Zusammenwirken der genannten Bedingungen fördern, indem er beispielsweise die Kreation der Faktorbedingungen vorantreibe und/oder durch Stimulation einer Nachfrage nach hochentwickelten Produkten die Entwicklung fördere. Räumliche Nähe wird dabei von Porter als „machtvolle Einflußvariable“ bezeichnet (Porter 2000: 25), weil im Falle des Vorliegens der genannten Ausgangsbedingungen in räumlicher Nähe sich Cluster quasi von selbst entwickeln. Porter führt zahlreiche Beispiele an, die seine Thesen belegen sollen (Porter 1990; 1998: 84f.). So habe sich etwa Israels Cluster für Bewässerungstechnik auf Grund des Wunsches nach Autarkie in bezug auf die Lebensmittelversorgung und dem trockenen Klima entwickelt, da beide Gründe die Nachfrage angekurbelt hätten. Und der niederländische Cluster für Transportwesen sei auf die zentrale geographische Lage der Niederlande in Europa zurückzuführen und ihre lange Geschichte als Seefahrernation, in der die Niederländer ein hohes spezifisches Wissen und entsprechende Institutionen ausgebildet hätten. Anstelle von historischen Ausgangslagen können Cluster aber auch 27
INNOVATION UND KOOPERATION
durch die zufällige Ansiedelung einer Mehrheit von Firmen oder durch besonders innovative Firmen angestoßen werden. Immer geht es darum, daß durch irgendein Ereignis – und das kann auch Zufall sein – ein regionaler Vorteil entsteht, durch den sich eine interdependente Dynamik zwischen den genannten Ausgangsbedingungen Nachfrage, Wettbewerb, Ideen und Innovation sowie entsprechende Unternehmensstrategien entfaltet, wodurch eine Art regionale Sogwirkung entfacht wird, vermittels derer dann ein Cluster entsteht. Wenn man diesen Argumentationsgang von Porter wirklich ernst nehmen würde, dann bleibt eigentlich nur noch die etwas sarkastische Frage, warum denn nicht auch in Venedig ein Transportcluster entstand, wo doch auch die Venezianer ein erfolgreiches Seefahrervolk waren? Günstige Ausgangsbedingungen allein jedenfalls scheinen nicht auszureichen, um tatsächlich einen Cluster zu begründen. Neuere Studien (Bresnahan, Gambardella und Saxenian 2001; Cooke 1993; Cooke und Morgan 1998; Feldman 2001) belegen demgegenüber denn auch, daß sich einige der heute bekanntesten Cluster aus eher ungünstigen Ausgangslagen heraus gebildet hatten. Maryann Feldmann (2001) zeigt beispielsweise auf, daß die Kontextbedingungen des heutigen Telekommunikations- und Biotechnologieclusters in der US Capitol Gegend in den 1970er Jahren nicht diejenigen waren, von denen man heute annimmt, daß sie für die Entstehung eines Clusters vorliegen müßten. Die regionalen Universitäten beispielsweise waren zu dieser Zeit nicht mit Unternehmen der Region vernetzt, sie förderten keine Ausgründungen und investierten auch selbst nicht in eine mögliche Vermarktung akademischen Wissens. Heute bieten die regionalen Universitäten (darunter die bekannte John Hopkins University, Maryland) Studiengänge in Biotechnologie an, veranstalten zahlreiche Weiterbildungen für die Branche und unterhalten spezielle Graduiertenkollegs für Doktoranden, die sehr technikbezogen orientiert sind (Feldman 2001). Zwar gab es in der US Capitol Region viele gut ausgebildete Absolventen, keinesfalls jedoch kann man Maryann Feldmann zufolge sagen, daß die Universitäten die zentralen Impulsgeber für die Clusterbildung gewesen waren. Die Ausrichtung von Weiterbildung, Studiengängen und Graduiertenkollegs auf den Cluster erfolgte erst, nachdem der Cluster bereits Kontur angenommen hatte. Das gleiche läßt sich über Kapitalinvestoren für Risikokapital sagen. Der Risikokapitalmarkt entwickelte sich mit dem Cluster und war nicht als Ausgangsbedingung vorhanden. In den 1970er Jahren gab es in der Region nur sehr wenig Kapital für Unternehmensgründungen. Erst in den 1980er Jahren und vor allem in den 1990er Jahren nahm die Menge an Finanzinvestitionen in neue Unternehmen deutlich zu (Feldman 28
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
2001). Schließlich stellt Maryann Feldman ebenfalls fest, daß auch die heute so wichtigen und aktiven Organisationen, die sich die Verbesserung der Infrastruktur für Unternehmen zur Aufgabe gemacht haben, sowie Vereinigungen, die Personen in bestimmten Positionen miteinander vernetzen und ebenfalls Organisationen, die Unternehmensgründer beraten, sich erst mit dem Cluster herausgebildet haben, aber eben nicht vorab existiert hatten. In den 1970er Jahren habe es so gut wie keine regionalen Kontaktnetzwerke gegeben (ebd: 866). Weil zumindest zentrale als typisch geltende Kontextbedingungen in der US Capitol Region nicht vorgelegen hatten, kommt Maryann Feldman zu dem Schluß, daß die Dynamik, die ein sich entwickelnder Cluster annehmen kann, völlig unterschätzt worden ist: „The findings suggest, that many of the conditions the literature indicates should be in place to promote entrepreneurship appear to lag rather than lead its development and thus question our understanding of the dynamics of regional change and the implied policy prescriptions“ (ebd.: 863). Sie verwirft deshalb grundsätzlich die gängige Vorstellung, daß bestimmte Kontextbedingungen existieren müssten, damit ein Cluster entstehen könne: „Line up the inputs and economic development will follow. Such a view ignores the rich context, diversity of experience, uniqueness and adaptativity of regional systems“ (ebd.: 887). Die Analyse der Merkmale funktionierender und voll ausgeprägter Cluster scheint wenig Aufschluß über deren Entstehungsbedingungen zu geben. Man erfährt dadurch nicht, welches die Anfangsschwierigkeiten gewesen waren und wie sie bewältigt wurden. Die entscheidende Frage scheint zu sein, wie in einer Region eine Dynamik entsteht, deren Ausgangspunkt in einem innovativen Milieu oder in einer unternehmerischen Kultur liegen könnte. Wenn eine innovative Kultur entsteht, dann kann eine solche Kultur eine Dynamik entwickeln, durch die dieses Milieu oder diese Kultur noch fehlende Kontextbedingungen selbst installiert: „entrepreneurs adapt and when they are successful, they build the types of resources that support their activities“ (ebd.: 887). Ab einem bestimmten Punkt wird die Entwicklung zirkulär, so scheint es. Für die US Capitol Gegend sind damit mehr Fragen offen als beantwortet. Zwar waren die Marktbedingungen nicht schlecht, und ebenfalls gab es viele Akademiker, die allerdings bis in die 1970er Jahre fast ausschließlich für die Regierung tätig waren. Aus dieser Beamtenmentalität ging aber dennoch ein unternehmerisches Milieu hervor, und wie dies geschah, wäre Maryann Feldman zufolge die entscheidende Frage, die es zu klären gilt, die aber nach wie vor offen ist. Maryann Feldman fordert daher auf, detailliert die Entstehung von Clustern nachzuzeichnen,
29
INNOVATION UND KOOPERATION
denn nur durch die Würdigung aller Nuancen komme man in dieser Frage weiter.
1.4.2 Räumliche Nähe und soziale Kontakte Räumliche Nähe wird in der Clusterforschung als wichtiger Einflußfaktor angesehen, sie fungiert sozusagen als Katalysator, durch den aus einzelnen unzusammenhängenden Akteuren einer Branche ein innovatives Milieu entstehen kann. Genau genommen handelt es sich bei dieser Vorstellung um ein doppeltes Argument: Durch räumliche Nähe entstehen erstens soziale Kontakte und über diese findet zweitens ein Wissenstransfer statt. Dabei fehlt es, wie Michael Jonas (2005: 276) kritisch anmerkt, an Argumenten, „warum gerade Face-to-Face-Interaktionen für Wissensaustausch so wichtig sind.“ Die Problematik, daß es sich bei der Annahme des Wissenstransfers im wesentlichen um so etwas wie eine Black Box Annahme handelt, wurde weiter oben bereits angesprochen. Im folgenden soll das erste Argument, daß im Falle zueinander passender Partner aus räumlicher Nähe soziale Nähe wird, näher betrachtet werden, da es das entscheidende Gründungsargument ist. Die Differenz von räumlicher und sozialer Nähe ist in der Clusterforschung bekannt (Heidenreich 1997: 503) und daher werden auch ausdrücklich Vorstellungen kommuniziert, wie diese Differenz zu überbrücken sei. Es wird angenommen, daß sich füreinander interessante Akteure, die sich innerhalb eines engeren geographischen Raumes aufhalten, immer wieder treffen, sich irgendwann unterhalten und schließlich Wissen austauschen, so die gängige Schlußfolgerung (ebd.). Auch wird das Problem thematisiert, daß die Kontaktaufnahme aufgrund von Hemmschwellen nicht immer einfach ist. Aber auch dieses Problem wird einem Bumerang gleich wieder mit dem Universalheilmittel „räumliche Nähe“ behoben, denn die Konzentration interessanter Akteure in einem gemeinsamen geographischen Raum erlaubt die Begegnung im Rahmen unterschiedlichster Veranstaltungen, welche niederschwellige Kontaktmöglichkeiten ermöglichen, durch die man sich unverbindlich kennenlernen kann: „In einer Region kann man sich ohne größeren Aufwand und ohne explizite betriebliche Interessen begegnen. Stammkneipen, Volkshochschulkurse, Theater, Empfänge, Jubiläen, Schützenvereine, Rotarier Gremiensitzungen, Galerien, Feuerwehrfeste, Kindergeburtstage – in Regionen gibt es die unterschiedlichsten Anlässe und Möglichkeiten für unverbindliche, informelle Kontakte“ (Heidenreich 2000: 95; vgl. auch Burt 2004: 1ff.).
30
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
Wie oft haben Sie bei einem Opern- oder Konzertbesuch einen für die Zukunft relevanten Geschäftspartner kennengelernt? Wie oft unterhalten Sie sich spontan in einem Café mit für sie bis dahin unbekannten Personen über Inhalte ihrer beruflichen Arbeit? Für den Technologiecluster in Silicon Valley gibt es in der Tat Geschichten dieser Art. Eine Bar namens „Wagon Wheel“ diente in den 1960er Jahren als Treffpunkt für die Ingenieure aus der Halbleiterbranche, in die sie nach der Arbeit einkehrten und Informationen austauschten. Auch der Mitte der 1970er Jahre gegründete „Homebrew Computer Club“ galt als eine wichtige Institution in der Region, in der sich computerbegeisterte Bastler austauschten und kennenlernten (Saxenian 1994; 1995; Segaller 1998). Der entscheidende Punkt ist aber, daß die Leute gezielt in dieses Café gingen, weil es ein Treffpunkt für Informatiker, Ingenieure etc. war und weil es sich als Umschlagplatz für Informationen etabliert hatte. Solche Treffpunkte bilden sich mit einem entsprechenden Milieu heraus und sie sind Teil einer bestimmten Sozialkultur. In gleicher Weise ist anzunehmen, daß man nicht zufällig beim Golfen merkt, daß der Golfpartner ein wichtiger Know-how Träger ist, sondern man geht bewußt an bestimmte Orte, um dort wichtige Partner oder Kontaktpersonen auch in Freizeitkontexten zu treffen, um Kontakte zu pflegen und in entspannter Atmosphäre Wichtiges zu besprechen. In einer bestimmten Community spielen sich sozusagen die Treffpunkte ein. In einer spanischen Kleinstadt etwa wurden wichtige Geschäfte im Theater besprochen und wollte man dort Geschäfte tätigen, so war es angebracht an diesen Ort zu gehen, weil sich diese Kultur eben dort in dieser Weise etabliert hatte (Held 1998). Die Beobachtung, daß wichtige Gespräche überall stattfinden, wo sich Akteure aus dem Cluster treffen, scheint die Folge, nicht die Ursache eines innovativen Milieus zu sein. Grenzt es nicht an Absurdität anzunehmen, daß ein Firmenchef beim Auftauchen eines technologischen Problems einfach bei der Firma nebenan anklopft, um sich dort Rat zu holen? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß er eine Person seines Vertrauens anruft, die aber vielleicht 1000 Kilometer entfernt wohnt? Auch Steiner (1998: 9) betont, daß soziale Nähe für Kommunikation bedeutend ist: „People are more likely to communicate with those who have close ties to them than with those who are geographically close.“ Wie es zur Entstehung sozialer Nähe in einem geographischen Raum kommt, muß deshalb als erklärungsbedürftig eingestuft werden. Verbandliche Tätigkeiten, regionale Tagungen und andere Treffen im beruflichen Kontext, die ebenfalls als niederschwellige Kontakte genannt werden (Heidenreich 2000; Saxenian 1994), bilden durchaus einen guten Ausgangspunkt für die Entstehung einer lokalen Kultur, eines in31
INNOVATION UND KOOPERATION
novativen Milieus (Aydalot 1986) oder von „club like interactions“ (Steinle und Schiele 2002), aber der Übergang von geographischer zu sozialer Nähe müßte dementsprechend auch als erklärungswürdig problematisiert werden. Wie aus einem Kontakt ein Kontaktnetzwerk wird, ist mit dem Verweis auf Kontaktmöglichkeiten nicht erklärt. Die schnelle Schließung der Lücke zwischen räumlicher und sozialer Nähe durch den Verweis auf niederschwellige Kontakte wirkt wie ein Kitt, der die Lücke notdürftig verklebt, um dann schnell zu anderem überzugehen, nämlich zur Annahme von Wissenstransfer. Räumliche Nähe bewirkt soziale Nähe und diese führt zu lokalem Wissensaustausch, so lautet die leider zumeist nicht näher hinterfragte Annahme. In praktisch allen quantitativ-statistischen Clusteranalysen, in denen ein Vorteil der Clusterlage nachgewiesen wird, wird dieser Vorteil mit Wissenstransfer im Cluster oder englisch: mit „knowledge spillover“ erklärt. Der gerade erwähnte Zusammenhang von räumlicher Nähe, sozialer Nähe und Wissenstransfer wird dabei so selbstverständlich angenommen, daß er gar nicht erst thematisiert wird. Von der Menge an Patentanmeldungen und der Zitierpraxis in Patenten wird auf lokalen Wissenstransfer und stillschweigend auf soziale Nähe geschlossen. Diese vorschnellen Rückschlüsse sind in der quantitativen Clusterforschung üblich und suggerieren, daß räumliche Nähe automatisch Wissenstransfer nach sich zöge, aber damit verdecken diese Studien eher die Sicht auf eine zentrale Schlüsselfrage des Forschungsfeldes.26 Der leichte, völlig unproblematisch gedachte Übergang von räumlicher Nähe über soziale Nähe zu Wissenstransfer läßt sich auch in qualitativen Clusterstudien aufzeigen. In einer Studie zur Entstehung des Clusters in Taipeh-Hsinchu schließen AnnaLee Saxenian und Jinn-Yuh Hsu (2001) beispielsweise aus der räumlichen Nähe zwischen einem wichtigen Technologieverband und der staatlichen Technologieförderung, daß dort Wissenstransfer stattfindet und Programme koordiniert werden: „While officials [der Taiwanesischen Regierung] claim that there is no financial connection between Monte Jade [ein Technologieverband] and the Taiwanese government, the informal connections are clear. Monte Jade`s main offices are in the same offices suite as the Science Division and the local representatives of the Hsinchu Sccience-based Industrial Park. Proximity supports close and ongoing interactions“ (ebd.: 906). Anstelle die Existenz und Ausformung sozialer Netzwerke in Clustern zu erforschen, bilden sie wie auch Gernot Grabher (2006) kriti-
26 Vgl. beispielsweise die Studien von Almeida und Kogut (1997); Anselin, Varga und Acs (1997); Feldman und Florida (1994); Verspagen und Schoenmakers (2004). 32
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
siert, eine implizite und nicht näher hinterfragte Grundannahme dieser Forschungsrichtung. Die Erwartung eines kausalen Entstehungszusammenhangs von geographischer Nähe über soziale Nähe zu Wissenstransfer fand auch Eingang in politische Technologieförderprogramme und führte zur Errichtung zahlreicher Technologieparks. Die Konzentration vieler Akteure der gleichen Branche im selben Gebäude sollte Kontaktschwellen niedrig halten. Als Mieter des gleichen Technologiecenters läuft man sich häufig über den Weg, begegnet sich in der Cafeteria oder in vom Technologiezentrum organisierten Veranstaltungen. Darüber hinaus wird darauf geachtet, daß die Mieter eines Technologiecenters in der gleichen oder zumindest in verwandten Branchen aktiv sind, womit die Hoffnung verknüpft ist, daß ein erhöhtes Interesse an der gegenseitigen Kontaktaufnahme besteht.27 Viele dieser Technologieparks haben aber nicht zur erhofften Clusterbildung geführt (Massey et al. 1992). Ein Beispiel dafür präsentieren Philip Cooke und Kevin Morgan (1998) in ihrer Analyse eines staatlichen Clusterförderprogramms im Baskenland. Die Regierung investierte in den 1980er Jahren viel Geld in die Gründung mehrerer Technologiecenter, jedoch konnten diese nicht gut in die regionale Wirtschaft integriert werden, es bildeten sich kaum netzwerkartige Verknüpfungen zwischen Firmen und den Technologiezentren. Cooke und Morgan, welche die Anstrengungen der baskischen Regierung, verschiedene Cluster zu gründen, im Rahmen ihrer Fallstudie untersucht hatten, kommen daher zu folgendem ernüchternden Ergebnis: „In most of the sectors targeted by the regional government`s cluster strategy, the results to date have been disappointing to say the least, proof perhaps that clusters cannot be created by political injunctions or through mere physical proximity (Cooke und Morgan 1998: 191). Ein Grund, der Firmen von Kooperationen abhalten könnte, könnte Konkurrenz sein, denn die Cluster bestehen aus einer Vielzahl Unternehmen mit ähnlicher Ausrichtung, und das heißt natürlich auch, daß in den Clustern eine hohe Konkurrenzsituation herrscht, ein Punkt auf den Michael Porter aufmerksam gemacht hat (Porter 1990). Konkurrenz und im engeren Sinne Rivalität28 wird in der Clusterforschung als wichtiger 27 Über die Herstellung eines optimalen Umfelds für die soziale Kontaktaufnahme hinaus werden in den Technologieparks spezifische Dienstleistungen angeboten, die Existenzgründern den Geschäftsaufbau erleichtern, wie patentrechtliche Beratungen, Weiterbildung, zentrale Übernahme von Seminar- und Tagungsorganisation und von Sekretariatsaufgaben sowie Beratung in bezug auf Technologiefördermittel. 28 Michael Jonas (2005) schlägt vor, die Begriffe Konkurrenz und Rivalität differenziert zu gebrauchen und sich dafür an Luhmanns Unterscheidung von Konflikt und Konkurrenz (1988: 102) zu orientieren. Konkurrenz de33
INNOVATION UND KOOPERATION
Dynamisierungsfaktor angesehen. Gerade aus diesem Grund kann man aber nicht davon ausgehen, daß die Leute, die sich innerhalb eines Clusters treffen, sofort beginnen, ihr Wissen auszutauschen. Die folgende Anekdote über ein Technologiecenter verdeutlicht dieses Problem: In einem Ende der 1990er Jahre in Deutschland gegründeten Technologiezentrum, welches allen Anforderungen an optimalen Kontextbedingungen für die Entstehung von Clustern entspricht, waren die Räumlichkeiten architektonisch so gestaltet worden, daß die Büroräume benachbarter Unternehmen leicht einsehbar und die Eingangsbereiche offengehalten waren. Dieses Gebäude wurde durch zahlreiche Unternehmen aus der Biotechnologie bezogen, deren erste Handlung die Ausführung baulicher Veränderungen war, um sich vollkommen von ihren Nachbarn abzuschotten, weil man sie als gefährliche Konkurrenten ansah und fürchtete, wichtiges Wissen könne auf diese Weise zu den Nachbarn rüberschwappen.29 Wie also Rivalität und Kooperation ausgelotet werden, ist eine wichtige Frage, wenn man unter der Bedingung hoher Rivalität davon ausgeht, daß räumliche Nähe zu sozialer Nähe und dann zu Wissenstransfer führe. Auch einer weiteren Annahme dieses (Nicht-)erklärungskonstruktes ist mit Skepsis zu begegnen: Akteure, die füreinander interessant sind, merken dieses von selbst. Selbst wenn man annimmt, daß es zwischen Vertretern professioneller Gruppen wie Informatikern, Ingenieuren, Mikrobiologen etc. keinerlei Kommunikationsbarrieren gibt, so sind die Tätigkeitsbereiche in der Regel derart spezialisiert, daß man keinesfalls davon ausgehen kann, daß jeder Mikrobiologe gleich der passende Gesprächs- oder Kooperationspartner für die eigenen Spezialthemen wäre. Es wäre deshalb durchaus der Frage nachzugehen, wie Gesprächspartner wechselseitig herausfinden, ob es sich für sie lohnt, weiterhin als Gesprächspartner in Kontakt zu bleiben. Es gibt allerdings zwei Bedingungen, unter denen die Entwicklung von sozialer Nähe aus räumlicher Nähe in der Tat auf der Hand zu liegen scheint: Dies wäre zum einen vertikale Desintegration. Durch Outsourcing ganzer Abteilungen aus einem Großunternehmen bleiben zahlreiche soziale Kontakte bestehen und können die Infrastruktur für Austausch bilden. Dies ist allerdings eine Ausnahme, die auf die wenigsten
finiert Luhmann als interaktionsfrei und funktioniere friedlich, auf anonymen Märkten beispielsweise. Konflikte dagegen treten in direkten interaktiven Konfrontationen auf. Rivalität in regionalen Clustern ist in diesem Sinne ein Pendant zu Konflikt (vgl. dazu auch Bader 1991). 29 Der Informant und das Technologiezentrum sind der Autorin bekannt. 34
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
Cluster zutrifft.30 Ebenfalls als Ausnahme einzustufen ist eine hohe regionale Mobilität von Arbeitnehmern einer Branche. Die Kontakte zu ehemaligen Arbeitgebern stünden weiterhin als Ressource für Informationsfluß zur Verfügung. Abgesehen davon, daß das weitere Bestehen von Kontakten mit ehemaligen Kollegen nachzuweisen wäre, ist eine hohe Mobilität von Arbeitnehmern für Silicon Valley legendär, gilt aber weniger für andere Cluster wie der US Capitol Region (Feldman 2001).31 In all den Fällen, in denen lokale Akteure die Bildung eines lokalen Clusters oder sagen wir etwas bescheidener: eine regionale Vernetzung vorantreiben wollen, liegt räumliche Nähe, aber eben keine soziale Nähe vor und wie diese entsteht, welche Schwierigkeiten und welche Lösungsmöglichkeiten möglich sind, ist nach wie vor eine offene Frage.
1.4.3 Soziale Netzwerkforschung Die Entstehung sozialer Kontakte ist auch ein Thema der sozialen Netzwerkforschung, weshalb man gerade auch in diesem Forschungsbereich nach Antworten zur gestellten Frage suchen kann, wie allererste Kontaktanbahnungen zwischen regionalen Akteuren beginnen. Als Netzwerk werden reziproke und kooperative Beziehungen zwischen mehreren, aber mindestens drei rechtlich autonomen Akteuren angesehen, die von relativer Dauer sind (Sydow 1992: 79ff.; Windeler 2001).32 In der sozialwissenschaftlichen Diskussion werden Netzwerke als alternativer Koordinationsmechanismus zwischen Markt und Hierarchie konzipiert, weil dadurch Austauschprozesse vorgenommen werden, für die weder Markt noch Hierarchie eine Alternative wären (Powell 1990).33 Dies 30 In Jena war es aber beispielsweise genau so, vgl. dazu Hessinger et al. (2000). 31 Almeida und Kogut (1999) haben die Mobilität von Patenthaltern in verschiedenen Clustern untersucht und können einen Zusammenhang von Mobilität und Innovation nur für Silicon Valley finden. 32 Es gibt an sich eine Vielzahl von Definitionen für Netzwerke, die von dem hier präsentierten engeren Netzwerkbegriff bis hin zur Bezeichnung von jeglicher Art aktivierbarer Kontakte reicht. Für einen Überblick vgl. Windeler (2001). 33 Die ökonomische Diskussion über Netzwerke wird vom Transaktionskostenansatz geprägt. Dort werden Netzwerke als Hybridform der alternativen Koordinationsformen Markt und Hierarchie begriffen, zwischen denen sich Unternehmen entscheiden können (Williamson 1990). Dienstleistungen oder Vorprodukte können sie entweder selbst bereitstellen bzw. herstellen oder über den Markt beziehen. Für welche Variante sich ein Unternehmen im Idealfall entscheidet, hängt von der Bewertung der jeweils zu erwartenden Transaktionskosten ab. Die Transaktion, also ein Gütertausch 35
INNOVATION UND KOOPERATION
trifft wie oben gezeigt insbesondere für die Organisation technischer Innovationsprozesse zu, da innovationsrelevantes Wissen weder über den Markt gekauft und eben oft auch innerhalb der Hierarchie der eigenen Organisation nicht einfach produziert werden kann. Für die Frage der Entstehung sozialer Netzwerke ist die Unterscheidung von strategischen und regionalen Netzwerken von besonderer Bedeutung. Denn strategische Netzwerke zeichnen sich gerade dadurch aus, daß Anreize für das Eingehen einer Kooperation bereits vor der ersten Kontaktaufnahme mit den potentiellen Partnerorganisationen antizipiert werden. Bei regionalen Netzwerken hingegen läßt sich vermuten, daß der Entschluß zu kooperieren eher dezentral gefällt wird und häufig der Kooperation gar kein formaler Kooperationsvertrag zu Grunde liegt, vielmehr wird Wissen informell und ad hoc ausgetauscht. Dies legen Studien zu regionalen Agglomeration wie Silicon Valley beispielsweise nahe (Saxenian 1994). Gespräche und informelle Kontakte gehen der Kooperationsbeziehung voraus und nicht selten merkt man erst durch immer wiederkehrende Anlässe für Austausch, daß man schon kooperiert. Anders als bei strategischen Netzwerken entsteht in den hier untersuchten regionalen Netzwerken der Anreiz für Kooperation nicht im vorhinein, sondern durch lockere Kontakte und in unverbindlichen Gesprächssituationen. Während strategische Netzwerke eingegangen werden, weil man einen spezifischen Nutzen von dieser Kooperation antizipiert, nehmen sich ähnlich ausgerichtete Firmen nicht als strategische Partner wahr, weil ihre Produkte weder eine gemeinsam zu vermarktende Produktpalette bilden, noch agieren sie auf verschiedenen Stufen
etwa, ist immer mit spezifischen Kosten verbunden, die sich je nach Markt oder Hierarchie unterscheiden. So ist der Zeithorizont ein jeweils anderer, da am Markt punktuelle Transaktionen stattfinden, in der Organisation aber Mitarbeiter längerfristig eingestellt, Räume zur Verfügung stehen müssen etc. Auch die Folgekosten bei schlechter Qualität sind jeweils andere, im Falle des Marktes fallen dann Gerichtskosten an, im anderen Falle ist die Frage, ob über Anweisungen und Prozeßverbesserung langfristig die Qualität gesteigert werden kann. Aus dieser Perspektive stellen Netzwerke einen Sonderfall dar, wenn nämlich der Markt nicht mehr anonym ist, sondern so klein, daß die anonyme Marktbeziehung zu einer Tauschbeziehung wird, bei der die Partner auch Vertrauen entwickeln können. Unter den Bedingungen begrenzter Markt, begrenzte Rationalität und Opportunismus entsteht dann das Netzwerk als Hybridform beider Koordinationsmechanismen (Williamson 1990: 53ff.). Damit wird allerdings unterstellt, daß die Art der Beschaffung des notwendigen Innovationswissens entweder von Effizienzerwägungen oder von der Marktgröße abhänge. Aus der sozialwissenschaftlichen Netzwerk- und Innovationsforschung geht aber hervor, daß Innovationswissen nicht alternativ über den Markt eingekauft oder vermittels der eigenen Hierarchie hergestellt werden kann. 36
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
einer Wertschöpfungskette. Bei Unternehmen, die lediglich auf ähnliche Wissensressourcen zurückgreifen, liegt erst einmal kein offensichtlicher Anreiz vor, der eine Kooperation nahelegen würde. Betrachtet man anhand dieser Unterscheidung nochmals die Arbeiten aus der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, so fällt auf, daß diese sich praktisch ausnahmslos mit der Entstehung von Netzwerken befaßt, wenn eine Mehrheit potentieller Partner eine Kooperation einzugehen bereit ist. Denn auch das Vorhandensein eines Motivs, eines Kooperationsanreizes allein reicht nicht aus, um auch tatsächlich eine Kooperation längerfristig aufrechtzuerhalten. Die sozialwissenschatliche Netzwerkforschung setzt erst ein, wenn es bereits Interessen und Motive gibt, wenn Zusammenarbeit sozusagen begonnen hat und behandelt dann die ebenfalls wichtige, hier aber nicht thematisierte Frage, wie Zusammenarbeit aufrechterhalten werden kann, wie sie sich entwickeln und entfalten kann und zeigt die dafür wichtigen Einflußgrößen und Bedingungen auf, wie beispielsweise die Einbettung in einen Kontext34, die Akteur- und Machtkonstellationen35, politische Rahmenbedingungen36, das Problem von zeitversetzten Tauschprozessen, welches durch Vertrauen gelöst wird37, die Bedeutung von Ressourcen für die Ausprägung und Performanz des Netzwerks etc. Zur Frage der Kreation von Motiven für Austausch sagt die Netzwerkforschung allerdings nichts aus. Selbst in Studien, die sich explizit mit der Entstehung regionaler Netzwerke befassen, handelt es sich immer um diejenigen Ausnahmen, in denen auf regionaler Ebene strategische Netzwerke gezielt geknüpft werden oder um den Ausnahmefall, daß durch Outsourcing wirtschaftlich unabhängige Akteure entstehen, bei denen sich die Frage der Motivkreation nicht stellt.38 Der Umstand, daß die soziale Netzwerkforschung einen Kooperationsanreiz, also ein Motiv für das Eingehen einer Kooperation grundsätzlich voraussetzt, erstaunt, liegt aber vermutlich daran, daß Motive in weiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Forschung als außersoziales Moment, also dem sozialen vorausgehend betrachtet werden. Erst langsam beginnt sich die
34 35 36 37 38
Vgl. hierfür beispielsweise Grabher 1993a und Uzzi 1996. Vgl. beispielsweise Freeman 1978/79. Vgl. dafür beispielsweise Windhoff-Héritier 1993. Für einen Überblick vgl. Lewicki und Bunker 1995. Hessinger et al. (2000) haben beispielsweise drei Fälle der Entstehung regionaler Netzwerke untersucht, bei denen es sich in zwei Fällen um Outsourcing handelte und in einem weiteren Fall um die Ansiedelung von Subunternehmern zu einem in der Region neu gegründeten Großunternehmen. 37
INNOVATION UND KOOPERATION
schon seit langem vertretene Auffassung, daß Motive ebenfalls Ergebnis nicht Voraussetzung sozialer Prozesse sind, durchzusetzen.39 In dieser Fallstudie soll es nun aber gerade um dieses Thema gehen, wie Kooperation beginnt, wenn man zwar thematisch im gleichen Bereich, der gleichen Branche etwa tätig ist, aber kein präziser Anreiz, kein klares Ziel für das Eingehen der Kooperation vorhanden ist. Die Kreation von Kooperationsanreizen ist – so läßt sich vermuten – für die Entstehung regionaler Netzwerke von besonderer Bedeutung. In Berlin etwa wurde vor einigen Jahren durch eine staatliche Agentur versucht, ein regionales Netzwerk auf dem Gebiet der Optoelektronik zu initiieren. Es gab viele auch sehr kleine Firmen, die auf diesem Feld tätig waren und es zeigte sich, daß den meisten Unternehmen die Hoffnung, daß sich ein gegenseitiger Wissensaustausch eventuell lohnen könne, zu vage war, um dafür Zeit und Energie zu investieren.40
1.4.4 Der Aufbau von Kontaktnetzwerken Wie also entstehen erste regionale Kontaktanbahnungen? Diese Frage wird erstaunlich selten gestellt. Zwar wird in der Diskussion um Cluster die Bedeutung sozialer Kontaktnetzwerke immer wieder betont, jedoch wird in der Regel angenommen, daß soziale Kontakte gleichzeitig mit einem Cluster entstehen. Sie werden, wie im Kapitel 1.3.2 gezeigt, als Bestandteil eines sich entwickelnden Clusters aufgefaßt. Nur wenige Clusterforscher vertreten die Ansicht, daß soziale Kontakte der Motor sein könnten, der wesentlich für die regionale Dynamik verantwortlich ist. Zentrale Vertreterin dieser Sichtweise ist AnnaLee Saxenian, die immer wieder auf die Bedeutung sozialer Kontakte hinweist: „Planners and policymakers typically adopt some variant of the ‘high tech recipe’, believing that if they combine a research university, a science park, skilled labor and supplies of venture capital in a nice environment they
39 Motive werden etwa von Niklas Luhmann als soziale Zuschreibungen behandelt. Sie seien kein Erfordernis des Handelns, aber der Beobachtung von Handeln als solches (1975: 20; 2000: 94ff.). Welche Motive in welcher Situation vorzeigbar sind, wird sozial gelernt (2000a: 156). Als frühe Quelle dieser Argumentationsrichtung vgl. Mills (1940). Gegenteilig wird aus phänomenologischer Perspektive Sinn und damit auch die Motivkonstitution als außersoziales Phänomen gefaßt, denn die Konstitution subjektiven Sinns entsteht diesem Ansatz zufolge im Bewußtsein durch die reflexive Verarbeitung vergangener Erfahrungen des Einzelnen und geht als außersoziale Größe in die Konstitution des Sozialen ein (vgl. Schütz 1974/1932: 69). 40 Die Informationen entstammen einem Interview mit dem Leiter der Agentur in 2001. Vgl. dazu auch die Magisterarbeit von Geisler (2003). 38
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
can ‚grow the next Silicon Valley’. What they fail to recognize is, that the relationships […] created in the region are as essential to Silicon Valley’s continued dynamism as the presence of educational institutions or supplies of skill and capital“ (Saxenian 1995: 1). Sowohl für die Entstehung von Silicon Valley als auch für den erst in den 1990er Jahren entstandenen und sehr erfolgreichen Cluster in Taipeh-Hsinchu zeichnet AnnaLee Saxenian die Entstehung von Kontaktnetzwerken nach und verknüpft damit die These, daß diese Kontaktstrukturen zu zentralen Informationskanälen wurden und dadurch die Wissensvorteile entstehen, die diesen Clustern zugeschrieben werden. Neben den hohen staatlichen Investitionen in Bildung in Taiwan, attraktiven Anreizen, welche die Rückkehr ausgewanderter Taiwanesen motivierte sowie weiteren staatlichen Anreizen ist die Clusterentstehung in Taipeh-Hsinchu auch auf Kontakt- und Kooperationsnetzwerke zurückzuführen, die bereits vorher in Silicon Valley entstanden waren, so Saxenians und Hsus Argument (Saxenian und Hsu 2001). Von zentraler Bedeutung war u.a. eine Vereinigung, die chinesischstämmigen Einwanderern dabei behilflich war, im Santa Clara County Fuß zu fassen. Viele dieser Einwanderer hatten in Stanford studiert und gründeten dann mit der Hilfe dieser Vereinigung Unternehmen im Silicon Valley oder arbeiteten in den dort ansässigen Firmen. Die Vereinigung vermittelte chinesisch-stämmigen Unternehmern Kontakte zu Wissensträgern, die ihnen bei der Unternehmensgründung behilflich sein könnten und organisierte Veranstaltungen für diese Community. Diese bereits bestehenden Kontaktnetzwerke nutzten Rückkehrer nach Taiwan später, um enge Kooperationsbeziehungen zwischen Unternehmen in Silicon Valley und Taiwan aufzubauen, die ihnen eine enge Abstimmung in der Chipfertigung ermöglichte, wobei die Ingenieurkompetenzen in Silicon Valley liegen und die Herstellung in Taiwan organisiert wird (ebd.). Die Studie zeigt, daß enge Kontakte und Kooperationen aufgebaut wurden, wofür die räumliche Nähe in Silicon Valley hilfreich war, die dann aber auch über die Entfernung nach Taipeh Bestand hatten, wobei man anmerken muß, daß ein reger Reiseverkehr zwischen Akteuren beider Cluster herrscht, weil Face-to-Face Abstimmung aufgrund der nicht standardisierbaren technischen Abläufe unabdingbar seien (ebd.: 912).41 Durch das Nachvollziehen von Kontaktanbahnungen zeigt die Studie sehr deutlich, daß Kontakte geknüpft, gehalten und Abstimmungspro-
41 Saxenian und Hsu bezeichnen die Kontaktpersonen zwischen Unternehmen in Silicon Valley und Taiwan deshalb als „Astronauten“ (Saxenian und Hsu 2001). 39
INNOVATION UND KOOPERATION
zesse von Akteuren hervorgebracht werden, also Zeit und Energie in Anspruch nehmen, und nicht einfach selbstverständlich oder wie von selbst da sind und daß es Bedingungen gibt, die diese Bestrebungen begünstigen, wie eine gemeinsame Ethnizität in einem fremden Land. Auch für Silicon Valley hat AnnaLee Saxenian (1995) die Entstehungsgeschichte der ersten Kontaktnetzwerke nachvollzogen. Dabei kamen angesichts des anhaltenden großen Erfolgs dieser Region längst in Vergessenheit geratene Bemühungen zum Vorschein, eine Kultur des Ratgebens und der Kooperation trotz Konkurrenz zu initiieren: Die Akteure fingen nicht einfach so von selbst an, sich auszutauschen und sich gegenseitig mit der Gründung ihrer Firmen zu unterstützen, sondern es gab eine Person namens Frederick Terman, ein Angestellter der Stanford University, der sich unermüdlich und sehr erfolgreich für eine Kultur der Kooperation einsetzte. Saxenian (1995) zufolge wurde Terman 1927 Mitglied der Fakultät für Ingenieurwesen der Stanford University und 1930 ermutigte er zwei seiner Studenten, nämlich William Hewlett und David Packard, eine Firma zu gründen. Er half seinen Studenten bei der technischen Produktentwicklung, borgte ihnen Geld, vermittelte ihnen schließlich einen Kredit, um produzieren zu können, und half ihnen dabei, Patente zu verkaufen.42 Anschließend forderte Terman seine ehemaligen Studenten auf, auch anderen Studenten bei der Gründung ihrer Unternehmen behilflich zu sein. So entstand in den 1930er Jahren ein kleiner Technologiecluster um HP herum, dessen Entstehung AnnaLee Saxenian zu einem großen Anteil Termans unermüdlichen Bemühungen zuschreibt (ebd.). Weiterhin arrangierte Terman für seine Studenten Besichtigungen nahe gelegener Unternehmen der Elektronikbranche und forderte Unternehmer auf, enger mit der Stanford University zusammenzuarbeiten. In den 1950er Jahren initiierte er das „Honors Cooperative Program“, ein Weiterbildungsprogramm der Stanford University, welches sich an Berufspraktiker wendete (ebd.). Die Seminare fanden in den Firmenräumen der teilnehmenden Unternehmen statt, wodurch weitere Kontakte zwischen den Firmen und der Universität hervorgingen. Terman war es schließlich auch, der maßgeblich die Gründung des „Stanford Industrial Parks“ vorangetrieben hatte (ebd.). David Packard überzeugte dann auf den Wunsch Termans hin viele Unternehmer davon, daß die Ansiedelung eines Unternehmens in Universitätsnähe sinnvoll sei. Zwischen dem Technologiepark und der Universität entstanden so zahlreiche enge forschungsbezogene Kooperationen, Studenten arbeiteten 42 Der Rest ist bekannt. Die Gründung von HP ist mittlerweile Legende geworden. 40
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
dort in Projekten mit und viele fanden nach ihrem Studium dort Arbeit. 1977 gab es in diesem Technologiezentrum bereits 75 Firmen mit 19.000 Mitarbeitern. Diese Aktivitäten der Stanford University werden von vielen Autoren als Ausgangspunkt des Silicon Valley Clusters genannt (vgl. Leslie und Kargon 1996). Damit zeigt AnnaLee Saxenian (1995) auf, daß räumliche Nähe allein gerade nicht der Auslöser war, durch den sich automatisch soziale Beziehungen bildeten. Es waren vielmehr Anstrengungen notwendig, ein Aufeinanderzugehen und die bewußte Suche und Vermittlung von Kooperationspartnern. Anscheinend bedurfte es nicht selten der unermüdlichen Überzeugungskraft von Terman, um Kooperationen anzukurbeln. Allem Anschein nach waren die Vorteile der Zusammenarbeit nicht in jedem Fall offensichtlich. Aber warum? Nachdem die Kooperationen begonnen hatten, war ihr Nutzen allen Beteiligten einsichtig, aber was hatte lokale Unternehmer davon abgehalten, von selbst, also ohne die Überzeugungsarbeit Termans, Kooperationen und die Nähe zur universitären Forschung zu suchen? Welche Hürden waren es genau, die dabei überwunden werden mußten? Auch in der weiter oben angeführten Fallstudie, bei der die Bemühungen der baskischen Regierung, regionale Cluster zu entfalten, untersucht worden waren, führen die Wissenschaftler die schlechten Resultate darauf zurück, daß den regionalen Firmen Anreize zur Kooperation zu fehlen schienen: „The fact that firms have not seen sufficient advantage in the cluster concept is the main reason why the strategy has yielded such poor results“ (Cooke und Morgan 1998: 191). Wie kommt es dazu, daß Organisationen Vorteile der Zusammenarbeit antizipieren können? Wie entsteht ein Motiv für Zusammenarbeit? Welche Risiken halten lokale Firmen von Kooperation ab? Gibt es vielleicht benennbare soziale Mechanismen, die das Eingehen von Kooperationsbeziehungen erschweren, die auch anderswo zum Tragen kommen könnten? AnnaLee Saxenian jedenfalls liefert sehr gut recherchierte Darstellungen mit interessanten Thesen, die in genau die Richtung weisen, in der zentrale Antworten auf bisher ungelöste Fragen zu erwarten sind, wie beispielsweise das Nachzeichnen der Entstehung von Kooperationsund Kontaktnetzwerken. Da allerdings Widerstände, Hindernisse und Lösungsmöglichkeiten nicht unpersönlich aufgedeckt werden, bleibt die Gründung der Kontaktnetzwerke ein Stück weit ein Mysterium, welches mit der Person Frederick Termans zusammenfällt. So wundert es nicht, wenn man in einem Zeitungsartikel liest, daß man eben einen Fred Terman brauche, um ähnliches zustande zu bringen: „Want to develop a world center of innovative technology? Its simple. Get yourself a Fred 41
INNOVATION UND KOOPERATION
Terman“ (Blakeslee 1977). Von einer Forschung, die retrospektiv 50 bis 70 Jahre zurück geht, kann man allerdings nicht erwarten, soziale Mechanismen zu finden. Rückblickend wird die Geschichte leicht verklärt wiedergegeben und Widerstände angesichts von Erfolg leicht vergessen. Es wäre daher an der aktuellen Forschung die Herausbildung regionaler sozialer Kontakte näher zu untersuchen.
1.5
Forschungsfragen
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Herstellung regional günstiger Kontextbedingungen zu einem gewissen Grad eine Voraussetzung für die Entstehung eines Clusters darstellt. Dies zeigt das genannte Beispiel Taiwans. Dort wurden zunächst generelle gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen, wie beispielsweise eine erhebliche Verbesserung des Bildungssystems, steuerliche Attraktivität, Verbesserungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur sowie das Rückkehrerprogramm für ausgewanderte Taiwanesen. Bis zu einem gewissen Grad müssen selbstverständlich gewisse gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen als grundlegende Voraussetzung für die Bildung eines Cluster existieren. Für die tatsächliche Entstehung von Clustern sind dann aber letztlich Netzwerke und persönliche Kontakte die zentralen Impulsgeber für die Ausbildung regionaler Aktivitäten und Kooperationen. Ihnen dürfte es zuzuschreiben sein, wenn ab einem gewissen Punkt ein Cluster selbst Bedingungen zu schaffen vermag, die eine weitere Verbesserung des Kontextes erlauben. Als Indiz dafür kann man auf die Gründung oder Neuausrichtung von Verbänden, auf den Zuzug von Unternehmen in eine Region, die Neuausrichtung von Bildungseinrichtungen in der Region etc. verweisen. Zu der Frage, wie eine lokale Kultur des Austauschs in ihren ersten Anfängen entsteht, wie erste Kontakte zu Kooperation führen, gibt es bislang nur einzelne verstreute Hinweise, aber keine systematische Forschung. Es verwundert, daß die Initiierung von Kooperation mühevoll ist, obgleich die hohen Erträge bei funktionierender Netzwerkkooperation bekannt sind. Offensichtlich ist aber der mögliche Ertrag aus einer solchen Kooperation nicht im vorhinein wirklich abschätzbar. Auch die angesprochenen Schwierigkeiten beim Transfer von Wissen könnten hierbei eine Rolle spielen. Wieso mußten die ähnlich ausgerichteten Akteure im Technologiepark der Stanford University immer wieder von Herrn Terman zur Zusammenarbeit und zum Austausch überzeugt werden? Welche Art von Schwierigkeiten blockieren die Wahrnehmung von Vorteilen am Anfang einer solchen Kooperation, und was ist es genau, 42
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
was diese Blockaden abbaut? Kann man die Überzeugungskraft eines Fred Terman in angebbare soziale Mechanismen überführen? Welche Handlungs- und Sichtweisen werden durch das Engagement und die Überzeugungskraft einer Schlüsselfigur verändert, und was ist es genau, was verändert wird? Diesen Fragen soll in der folgenden Studie nachgegangen werden, die aufgrund der Offenheit der Fragestellung einen explorativen Charakter hat. Ziel ist es, zumindest einige Mechanismen und Hemmnisse der Entstehung erster Kooperation exemplarisch darstellen zu können. Die methodische Vorentscheidung die ersten Anfänge regionaler Aktivität untersuchen zu wollen, führt zu dem grundsätzlichen Problem, daß man bei einem ausgereiften Cluster an die ersten Anfänge nicht mehr in der Tiefe herankommen kann, wie es für eine qualitative Untersuchung notwendig wäre. Eine rückblickende Untersuchung eines bestehenden Clusters wird immer ungenau sein und birgt das Risiko, daß genau die Details, die für die Überwindung erster Kooperationshürden wichtig waren, nicht mehr erinnert werden. Aus diesem Grund wurde hier der Weg einer zeitnahen Untersuchung der Entstehung erster regionaler Aktivitäten gewählt, womit man sich allerdings umgekehrt das Problem einhandelt, daß der untersuchte Fall sich eventuell nie zu einem Cluster entwickelt. Die Kontaktanbahnung muß allerdings immer geleistet werden, unabhängig davon, was im weiteren Verlauf daraus wird, ob es bei regional begrenzter Aktivität bleibt oder ob sich daraus tatsächlich ein Cluster entwickelt. Bei der Auswahl des Falls wurde darauf geachtet, daß die regionalen Aktivitäten soweit entwickelt waren, daß der Beginn einer regionalen Dynamik bereits sichtbar ist, d.h. daß die entstandenen Kontakte regionale Auswirkungen wie eine Veränderung der regionalen Kooperationskultur über die unmittelbar koopierierenden Akteure hinaus, die Zusammenarbeit mit regioanlen Politikvertretern zur Einflußnahme auf die regionalen Rahmenbedingungen, die Gründung regionaler Unterstützerorganisationen wie Verbände, Vereine etc. sichtbar ist. Ein solcher Entwicklungsstand als Vorbedingung für die zu untersuchende Fallstudie ist deshalb sinnvoll, weil nicht irgendwelche Kontaktanbahnungen untersucht werden sollen, denn es gibt zahlreiche Geschäftskontakte auch auf regionaler Ebene, aus denen sich aber nie eine regionale Dynamik entwickelt. Vielleicht sind gerade die Kooperationen, die eine Dynamik in Gang setzen können, besonders schwer zu initiieren. Ob dies der Fall ist, muß hier nicht entschieden werden, da in dem untersuchten Fall die Dynamik bereits hinreichend sichtbar war. Wie bereits weiter oben beschrieben wurde, handelt es sich bei der untersuchten Fallstudie um die Entstehung einer offeneren Innovations43
INNOVATION UND KOOPERATION
kultur in einer bestimmten Region. Damit ist gemeint, daß Personen, die sich zum Teil schon lange gekannt hatten, auf einmal anfingen, sich inhaltlich über ihre Tätigkeit auszutauschen, diese zu verknüpfen und zu kooperieren. Darüber hinaus wurden viele weitere Kooperationen zwischen vorhandenen Akteuren in der Region angestoßen und Initiativen zur Verbesserung der Kontextbedingungen für die Lack- und Oberflächentechnik in der Region gestartet, ein neuer Ausbildungsgang initiiert und eine Unterstützerorganisation gegründet. Erst drei bis vier Jahre vor der Untersuchung war durch ein politisches Förderprogramm auf EU Ebene die Gründung eines formalen Kooperationszusammenhangs ins Leben gerufen worden, weshalb die Entwicklung von diesem formalen Konstrukt zu einem funktionierenden, lebendigen, eigenmotivierten Netzwerk und darüber hinausgehender regionaler Aktivitäten noch so frisch war, daß zu hoffen war, tatsächliche Einblicke in die Zusammenhänge und Entstehungsbedingungen zu erhalten. Besonders interessant an diesem Fall ist, daß das Netzwerk als formaler Zusammenhang einer Mehrheit von Akteuren beinahe lediglich auf dem Papier und im Rahmen offizieller Treffen verblieben wäre, da es nach der ersten Gründungseuphorie beinahe eingeschlafen wäre, wenn nicht, ja wenn es dann nicht begonnen hätte. Und die Untersuchung, welche Veränderungen dieses beinahe Einschlafen in ein Erblühen verkehrt haben, stellte in Aussicht, nicht nur die Entstehung, sondern auch Blockademechanismen erforschen zu können. Da es in der Literatur zur Entstehung von Clustern immer wieder Hinweise auf Zirkularitäten in der Entwicklung von Clustern gibt, wurde für eine theoretische Ausarbeitung der Forschungsfragen ein zirkuläres Theoriedesign gewählt. Davon gibt es allerdings nur wenige. Die Luhmannsche Systemtheorie als Hauptvertreterin unter den (kaum vorhandenen) zirkulären Theorien ist überwiegend als Gesellschaftstheorie ausformuliert, die historisch weitläufige Zeiträume betrachtet. Die anderen in der Theorie behandelten Ebenen, nämlich Interaktion und Organisation, lassen sich nicht umstandslos, ohne sich erhebliche theoretische Probleme einzuhandeln, auf Netzwerke übertragen. Der interpretative Ansatz von Karl E. Weick demgegenüber bezieht sich auf Gruppen von Personen und Organisationen und läßt sich problemlos auch auf Netzwerke übertragen. Es handelt sich dabei nicht um eine voll ausgearbeitete Theorie, sondern um einen Denkansatz, der an einer Vielzahl empirischer Studien erprobt und gerade, was die Zirkularität sich selbst beeinflussender und behindernder Mechanismen angeht, bislang an zahlreichen empirischen Fallstudien äußerst erfolgreich eingesetzt worden ist. Darüber hinaus ist ein weiterer Vorteil dieses Ansatzes seine wissenssoziologische Orientierung, denn Weick fragt grundsätzlich nach subjekti44
DIE BEDEUTUNG UND DIE ENTSTEHUNG REGIONALER CLUSTER
ven Wissensstrukturen, wodurch der gewählte Ansatz verspricht, auch ein besonderes Augenmerk auf das angesprochene Problem des Wissenstransfers legen zu können. Im folgenden Theoriekapitel (2) wird es zunächst darum gehen, die grundsätzliche Denkweise des Ansatzes des Organisierens von Karl Weick zu erläutern und wichtige Annahmen und Grundkonzepte darzustellen, von denen das Modell des Organisierens wohl das wichtigste Konzept ist. Erst im Anschluß daran wird in Kapitel 3 „Forschungsfragen und methodische Vorgehensweise“ die vorher erläuterte theoretische Denkweise mit dem in dieser Arbeit zu untersuchenden Phänomen, also der Entstehung regionaler Kontakte, in Verbindung gebracht. Karl Weicks Modell des Organisierens wird dabei als Phasenmodell der Entstehung eines Netzwerks interpretiert, woraus sich vier Entwicklungsstadien des Netzwerks ergeben. Zu jedem dieser vier Stadien werden Fragen an die Empirie formuliert. Im Anschluß daran wird im zweiten Teil von Kapitel 3 das methodische Vorgehen erläutert. In Kapitel 4 wird dann die Fallstudie vorgestellt, indem die Netzwerkakteure und ihre Aktivitäten sowie einige Rahmenbedingungen präsentiert werden. In den Kapiteln 5 bis 8 werden die Untersuchungsergebnisse zu den Phasen chronologisch dargestellt und abschließend nochmals in bezug auf den Forschungsstand reflektiert (9).
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2 D E R A N S AT Z
DES
O R G AN I S I E R E N S
„Wie kann ich wissen, was ich will, bevor ich sehe, was ich sage?“ (Weick 1985: 196). Dieser ineinandergedrehte Satz ist nicht nur typisch für Karl Weicks zirkuläre Denkweise, er steht zugleich als eine Art Akronym für Weicks Ansatz. Wissen, Wollen, Sehen und Sagen sind keine voneinander unabhängigen Größen, sondern was man weiß, hängt davon ab, was man tut und das wiederum hängt von etwas ab, was aber in der zeitlichen Folge erst später eintritt, nämlich von Sehen, welches aber wiederum mit Sagen verknüpft ist. Um uns ein Bild davon machen zu können, ob man mit Zirkularitäten überhaupt etwas erklären kann, müssen wir näher wissen, was sie genau besagen. Deshalb soll im folgenden (2.1) zunächst auf Zirkularitäten im allgemeinen und auf zirkuläre Annahmen in Weicks Konzeption im besonderen eingegangen werden. Für Weick sind es nicht Einzelpersonen, sondern Kollektivitäten wie Gruppen, Teams, Organisationen, aber eben auch Netzwerke, die interaktiv ihre Umwelt in Abhängigkeit von ihrem Vorwissen strukturieren. Deshalb soll alsdann Weicks Vorstellung zur Entstehung kollektiver Strukturen dargestellt werden (2.2). Um diese kollektiven Prozesse des Sensemakings genau analysieren zu können, hat Weick ein mehrstufiges evolutionäres Modell entwickelt, welches zunächst allgemein vorgestellt wird (2.3), anschließend sollen dann die vier Bestandteile des Modells jeweils näher betrachtet werden, weil sie das zentrale Analyseraster für die Untersuchung der Entstehung eines Netzwerks bilden: Gestaltung und ökologischer Wandel (2.3.1), Sensemaking (2.3.2) und Retention (2.3.3). Die Implikationen des Weickschen Ansatzes für die Untersuchung der Entstehung eines regionalen Netzwerks werden im Anschluß an die hier dargebotene Darstellung des Ansatzes in Kapitel drei heraus-
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INNOVATION UND KOOPERATION
gearbeitet und forschungsleitende Fragestellungen entwickelt. Abschließend erfolgt eine kurze Würdigung des Ansatzes (2.4).
2.1
Zirkuläre Zusammenhänge
Zirkularität heißt kurz gesagt, daß man, indem man etwas tut, etwas beispielsweise beobachtet, dasjenige was man tut oder beobachtet, beeinflußt. Ein bekanntes Beispiel hat Paul Watzlawick (1983) in seinem Bestseller „Anleitung zum Unglücklichsein“ gegeben. Der Unglückliche sieht die Welt negativ und erfährt eine negative Welt, die er selbst produziert hat, von der er aber meint, sie existiere unabhängig von ihm selbst und widerfahre ihm. Zirkularitäten haben häufig die Form sogenannter selffulfilling prophecies – ein Phänomen, auf das Robert K. Merton (1995/1948) bereits in den 1940er Jahren aufmerksam gemacht und seine Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Forschung ins Blickfeld gerückt hat. Anhand mehrerer Studien zeigt er auf, wie die Vorannahmen einer Forschung deren Ergebnisse beeinflußt haben. Merton weist auf die Problematik einer zirkulären Verknüpfung von dem, was die – in diesem Fall sozialwissenschaftlichen – Forscher beobachten, und dem, was sie als Ergebnis herausfinden, hin, um in der Disziplin ein Bewußtsein sowie Regeln dafür zu entwickeln, durch welche solche Fehler zukünftig vermieden werden können.1 Ganz anders stellen für Karl E. Weick Zirkularitäten nicht zu vermeidende Ausnahmeerscheinungen dar, sie sind statt dessen eine ubiquitäre Begleiterscheinung aller Aktivitäten.2 Organisationen zeichnen sich nämlich dadurch aus, daß sie ihre Umwelt aktiv über Etikettierungsprozesse gestalten. Weick erläutert diesen Zusammenhang von Organisationen zu ihrer Umwelt folgendermaßen: „Allgemein formuliert beeinflußt die Umwelt Organisationen durch unerwartete Ereignisse und alles, was sich in der Umwelt ändert. Schaut man aber genauer hin, merkt man, daß die überraschenden Umweltereignisse und Veränderungen aufgrund 1
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Darauf wird im Methodenteil nochmals eingegangen. Auch wenn in dieser Arbeit eine grundsätzliche Zirkularität von Theoriedesign und Forschungsergebnissen angenommen wird, heißt dies dennoch nicht, daß jede Annahme bestätigt werden kann. Und er befindet sich mit dieser Ansicht in guter Gesellschaft, denn die Auffassung findet sich mittlerweile immer häufiger, vgl. dazu beispielsweise in der Kunst die Bilder von René Magritte; in der Musik die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach; Egon Friedell (1976/1927-31) mit seiner Sicht der Kulturgeschichte; Paul Watzlawick (1976) in der Psychologie; die Zahlentheorie des Mathematikers Gödel, um nur einige wenige zu nennen. Zu Gödel, Escher und Bach vgl. auch Hofstadter (1987).
DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
von Etikettierungen, die ihr von den Organisationen angeheftet werden, überhaupt erst ausgemacht werden. Wenn eine Organisation die Umwelt als feindlich oder bösartig betrachtet und sich entsprechend verhält, wird die Umwelt auch diese Eigenschaften haben“ (Weick 2001a: 133). Dieser Zusammenhang von Annahmen über die Umwelt und dem dadurch selbst erzeugten Erscheinungsbild der Umwelt veranschaulicht folgendes Experiment aus Weicks frühen Arbeiten (Weick, Gilfillan und Keith 1973): Zwei größere Jazzorchester mit 17 bis 21 Musikern wurden jeweils gebeten, neue Musikkompositionen einzustudieren. Die Erwartung seitens der Forscher war die Vermutung, daß die Bereitschaft der Musiker, einem Stück Logik zu unterstellen, mit dem Wissen über die Seriosität der Komponisten korrelieren würde. Die gleichen Musikstükke wurden deshalb zwei vergleichbaren Jazzorchestern gegeben mit der Bitte, diese einzustudieren, wobei in bezug auf die Seriosität der Komponisten jeweils entgegengesetzte Angaben gemacht wurden. Da alle Stücke tatsächlich von anerkannten Jazzkomponisten stammten, führte dies bei den Musikern zu einem direkten Erkennen der Brauchbarkeit der Musik. Dennoch konnten die Forscher feststellen, daß die Stücke, die angeblich von seriösen Komponisten stammten, signifikant besser erinnert wurden als die Stücke der als unseriös ausgegebenen Komponisten. Weick (1985: 202) schließt daraus, daß die Musiker den „besseren“ Stücken eine höhere Aufmerksamkeit widmeten und größere Anstrengungen unternahmen, diese gut zu spielen. Die Umwelt ist deshalb nicht die Komposition, „sondern das, was sie [die Musiker] mit dieser Komposition machen, wenn sie sie zum erstenmal durchspielen. Die Musiker reagieren nicht auf eine Umwelt, sie gestalten eine Umwelt“ (Weick 1985: 203; Hervorh. i. Original). Diese Beziehung zwischen der Umwelt und einer Gruppe hat Weick in einem Interview folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Umwelt beeinflußt Organisationen durch die Art, wie sie wahrgenommen wird!“ (Weick 2001a: 133). In diesem Satz wird die zirkuläre Verknüpfung und damit die Aufhebung der linearen Subjekt-Objekt Beziehung offensichtlich, da die Umwelt nicht passiv vorgefunden, nicht lediglich entdeckt wird, sondern aktiv hervorgebracht wird. Es handelt sich bei Subjekten und ihren Umwelten also nicht um getrennte Entitäten, sondern um eine zirkulär verknüpfte Einheit, bei der man je nach Beobachterperspektive den Subjekt- und Objektbegriff vertauschen kann. Gerade in dieser engen Verknüpfung von wahrgenommener Umwelt und systeminternen Prozessen der Organisation erkennt Thorsten Groth (2004: 89) eine Nähe zwischen Weick und den radikalen Konstruktivisten. Und auch für die hier anvisierte Untersuchung der vermuteten zirkulären Prozesse bei der Entstehung von Netzwerken und letztendlich Clustern 49
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bildete die Weicks Arbeiten augenfällig durchziehende Zirkularität den zentralen Gesichtspunkt für die Auswahl dieses Ansatzes. Gleichwohl jedoch muß man ebenfalls konzedieren, daß Weick selbst sich weder als radikaler Konstruktivist positioniert hat noch in seiner Begriffswahl eindeutig ist. Es gibt daher zahlreiche Textstellen und empirische Beispiele, in denen Weick hinter der ihm hier attestierten Radikalität selbst zurückbleibt. Dies mag daran liegen, daß Weick seiner eigenen Arbeit keinesfalls eine Theorie voranstellen wollte und schon gar nicht intendierte, je eine eigene Theorie schreiben zu wollen3 (Groth 2004). „Für mein eigenes Arbeiten ziehe ich es vor, mich nicht auf eine Definition festzulegen“ (Weick 2001a: 123), sagt er von sich selbst, weil er nicht in Versuchung kommen möchte, die Empirie in Einklang mit den vorher gesetzten Definitionen zu bringen (Groth 2004). Weil in dieser Arbeit jedoch auf die begrifflich saubere Verwendung zirkulärer Zusammenhänge Wert gelegt wird, soll im folgenden das Zirkuläre am Zirkulären nochmals klarer gefaßt werden, indem es von Wechselwirkung unterschieden wird: Eine Wechselwirkung stellt einen Wirkungszusammenhang zweier voneinander unabhängiger Operateure dar, bei dem die Operateure sich gegenseitig aber in zeitlich versetzter Reihenfolge beeinflussen. Erst beeinflußt also Operateur A Operateur B und anschließend beeinflußt Operateur B Operateur A. An verschiedenen Stellen spricht Weick von solcherart „wechselseitiger Beeinflussung“ (Weick 1985: 239) oder verwendet in der Darstellung empirischer Beispiele zeitliche Modi der Strukturierung wie „organizations create the environments that subsequently constrain their actions“ (Weick 1977: 179; Hervorh. durch Verfasserin). Diese Formulierungen suggerieren ein lineares Verhältnis, bei dem die Akteure erst ihre Umwelt konstruieren und anschließend auf diese bezogen handeln und sie verändern. Die veränderte Umwelt kann dann ihrerseits rekursiv auf die Akteure zurückwirken. Wechselseitige Beeinflussungen dieser Machart gehen aber immer davon aus, daß Organisationen Informationen in der 3
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In dieser Ablehnung folgt Karl Weick seinem Lehrer Harold Garfinkel (1967), der den ethnomethodologischen Ansatz begründet hat, der sich gerade dadurch auszeichnet, daß der Forscher sich unvoreingenommen und in diesem Sinne theorielos der Empirie zu nähern habe, da die Forscher andernfalls ihre theoretischen Kategorisierungen in die Welt hineintragen, die sie beobachten wollen. Als Lösung schlägt Harold Garfinkel intensive, deskriptive Beschreibungen vor, weil man in dichte Beschreibungen nicht jede Sichtweise hineintragen könne. Allerdings zeigen gerade zirkuläre Ansätze, daß es keine Unvoreingenommenheit gibt, man kann auch durch noch so dichte Beschreibungen der Zirkularität zwischen den Ansichten des Forschers und dem Forschungsresultat nicht entgehen, sondern muß damit umgehen. Ich komme darauf im Methodenteil zurück.
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Umwelt vorfinden, wobei sie freilich den Restriktionen ihrer „bounded rationality“ (Simon 1945) unterworfen sind. Die Konstruktivisten lehnen aber die Vorstellung einer unabhängig von einem Beobachter existierenden Umwelt grundsätzlich ab. Informationen werden in der Umwelt deshalb weder entdeckt, gesammelt noch vorgefunden. Gregory Bateson (1987/1979: 252) sprach provokant vom Erfinden und Heinz von Förster (1993/1974: 50ff.) vom Errechnen einer Welt. Der Begriff Erfinden weist auf die Eigenleistung eines Erfinders hin und Errechnen löst die Unmittelbarkeit der Welterfahrung in das Ziehen von Schlüssen aus Daten auf. Deshalb spricht Bateson (1996/1972: 73) davon, daß die Schwerkraft ein Erklärungsprinzip ist, welches Newton erfunden hat, um das Fallen eines Apfels verständlich zu machen und v. Foerster spricht darüber, daß man, um Objekte mit ihren spezifischen Eigenschaften erkennen zu können, vorher über einen Begriff dieser Eigenschaften verfügen muß (v. Foerster 1993/1972: 119). In eben dieser grundlegenden Unentrinnbarkeit der gleichzeitigen Hervorbringung der Welt durch ihren Betrachter ist die obige Aussage Weicks zu verstehen, daß eine Umwelt eben als feindlich erscheint, wenn sie als feindlich etikettiert wird. Und ebenfalls treffen Jazzorchester nicht auf neutrale Noten, sondern eine durch ihre Vorannahmen und Einstellungen gestaltete Umwelt. Wie die Welt wahrgenommen wird, hängt deshalb von den Wahrnehmungsprozessen einer Gruppe oder Organisation ab und nicht von der genauen Beschaffenheit dieser Welt. Weil es keinen Durchgriff auf die Welt als objektiver Größe gibt, kann man auch nicht von einer Wechselwirkung zwischen beobachteter Welt und ihrem Beobachter ausgehen. Dies schließt nicht aus, daß die Umwelt zu einem späteren Zeitpunkt anders erscheint als zu einem früheren Zeitpunkt, jedoch gilt zu jedem Zeitpunkt das konstruktivistische Postulat der grundlegenden Einheit von Beobachter und Beobachtetem. Konsequent ist Weick deshalb der Auffassung, daß eine Organisation, um Änderungen in der Welt beobachten zu können, sich selbst ändern muß: „Wenn die Leute ihre Umgebung ändern wollen, müssen sie sich selbst und ihr Handeln ändern – nicht jemanden anderen“ (Weick 1985: 219). Eine schlichte Adaption an die Umwelt ist damit nicht möglich, denn im Prinzip reagiert man mit der Adaption auf eigene vorherige Handlungen. Das folgende Zitat zeigt deutlich die Selbstproduziertheit der eigenen Umwelt: „Die Leute setzen aktiv Dinge in die Welt, die sie dann wahrnehmen“ (Weick 1985: 238; Hervorh. im Original; vgl. auch ders. 1977). Dennis Gioia (2006: 1715) verwendet den Begriff des Autors, um die Selbstproduziertheit des Geschehens zu pointieren: „we are the authors of our contexts and our fates.“ Der Kartoonist Walt Kelly bringt 51
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denselben Sachverhalt mit folgendem Witz auf den Punkt: „We have met the enemy, and he is us!“ (zitiert nach Gioia 2006).
2.2
Kollektive Strukturen
Ebenso wie Gregory Bateson und Heinz von Foerster betont auch Karl Weick die Beteiligung eines Beobachters, einer Gruppe oder einer Organisation an der Entstehung der Umwelt. Diese aktive Etikettierung der Umwelt als etwas bestimmtes, die Wahrnehmung von Schemata in der Umwelt, die man aber zuvor selbst ausgebildet hatte, all dies sind aktive Gestaltungen der Umwelt und um diese Aktivität zu betonen, spricht Weick – und das ist programmatisch gemeint – nicht vermittels Substantiva, sondern bevorzugt die Gemachtheit der Umwelt durch die Verwendung von Verben zu unterstreichen: „Im Interesse besseren organisatorischen Verständnisses sollten wir die Leute drängen, Substantive einzustampfen“ (Weick 1985: 67; vgl. auch Weick et al. 2005: 410). In der substantivbezogenen Sprache wirkt alles statisch und die Aktivität, die Beteiligung der Beobachter wird ausgeblendet. Eine starre, bürokratisch strukturierte Organisation erscheint über lange Zeiträume gleich und unbeweglich zu sein, wie ein großer Felsklotz. Aber auch diese Unbeweglichkeit wird Tag für Tag durch Anwendung der immer gleichen, engen Schemata produziert. Durch bestimmte Haltungen, Vorgehensweisen, durch das Hochhalten der eingefahrenen Routinen wird eine Kultur der Starrheit tagtäglich aufs Neue erzeugt.4 Weil mit dem Substantiv Organisation eine feste, eher starre Entität assoziiert wird, lehnt Weick den Organisationsbegriff ab und spricht statt dessen lieber vom Organisieren. Ihm fehlt damit natürlich die begriffliche Präzision, um das Verhältnis von Teams zu Organisationen zu bestimmen oder Organisationen von Gruppen oder Netzwerken zu differenzieren – alles Differenzierungen, die Weick selbst jedoch gar nicht interessieren. Für ihn steht die Frage im Vordergrund, wie es eine Mehrheit von Personen schafft, eine schwierige Aufgabe im Zusammenspiel 4
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Daß Aktivitäten nicht von Entitäten vorgenommen werden, sondern die Entitäten selbst Resultat von Aktivität sind, war Ende der 1960er Jahre, als Karl Weick (1969) diese Ideen veröffentlichte, geradezu revolutionär, wie Tore Bakken und Tor Hernes (2006) bemerken. Löst man aber alles in Aktivitäten auf, dann fehlt ein Begriff, um immer wieder gleichbleibende Aktivität wie Routinen von sich ändernden Aktivitäten zu unterscheiden. Bakken und Hernes verweisen auf Luhmann (1984: 73ff.), der zwar einerseits alles auf Kommunikation als Grundstoff zurückführt, andererseits aber mit den Begriffen Prozeß und Struktur Veränderungen und zeitstabile Kommunikationen begrifflich fassen kann.
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aller ihrer Einheiten gekonnt zu lösen, und dabei kann es sich um eine Gruppe Feuerwehrmänner, um eine Sportmannschaft, eine ganze Organisation oder nur eine ihrer Abteilungen oder gar eine Mehrheit verschiedener Organisationen handeln. Ungeachtet aller begrifflichen Leichtigkeit jedoch hat Weick die zirkuläre Verknüpfung von dem, wie Akteure ineinandergreifend handeln, und dem, was sie als ihre Umwelt wahrnehmen, aus einigen fundamentalen Überlegungen zur Entstehung kollektiver Strukturen logisch hergeleitet. Diese überaus präzise geführten Überlegungen, die Weick bereits 1969 in der ersten Fassung seines Hauptwerkes „The Social Psychology of Organizing“ veröffentlicht hat, krempeln bis dahin gehaltene Annahmen in bezug auf den soziologischen Handlungsbegriff um und können durchaus heute noch, also fast 40 Jahre später, als Avantgarde bezeichnet werden. Kollektive Strukturen bestehen für Weick aus ineinandergreifenden Handlungen (Weick 1985: 131f.), deren „stabile Untereinheiten“ durch „doppelte Interakte“ gebildet werden (ebd.: 161). Eine Handlungseinheit besteht für ihn also nicht aus einem intentionalen Handlungsakt einer Person, sondern immer aus zwei wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungsakten, die deshalb doppelte Interakte heißen. Eine Handlungseinheit besteht mindestens aus zwei Interakten, und zwar deshalb, weil dies die kleinste Einheit ist, in der eine wechselseitige Interpretation stattfinden kann, denn auf diese Weise kann der zweite Interakt den ersten Interakt interpretieren und ihn dadurch spezifizieren, ihm eine Richtung geben und ihm einen Kontext verleihen. Die Frage „wie geht es Ihnen?“ kann je nachdem, wie die Antwort lautet, nur eine höfliche Floskel sein oder auch als ernsthaftes Interesse daran ausgelegt werden, wie es einer Person geht, insofern als die Antwort eine Interpretation in diese Richtung zuläßt, indem der Antwortende beispielsweise sagt „oh ich bin heute der glücklichste Mensch der Welt!“, wodurch natürlich Nachfragen nach dem Grund des Glücks geradezu evoziert werden. Dennoch ist es im dritten Interakt möglich, die Konversation zu einer eher formalen, höflich-distanzierten Weise zurückzuführen, je nachdem wie die erste Person auf dieses Gesprächsangebot reagiert. Das besondere an diesen doppelten Interakten ist nun, daß sie, indem sie stattfinden, Mehrdeutigkeit zunehmend in Eindeutigkeit transformieren (ebd.: 167ff.). Aus dem ersten Interakt, der noch mehrdeutig ist und nicht selten eine Vielzahl sinnhafter Interpretationen zuläßt, wird schlicht und ergreifend durch das Anschließen weiterer Interakte ein klarerer Sinn selektiert. „Jeder Zyklus [doppelter Interakte] ist auf die Reduktion von Mehrdeutigkeit ausgerichtet“ (Weick 1985: 169). Es geht also um Verhaltensketten, bei denen A etwas sagt und B auf das Gesagte reagiert, indem er es bestätigt, abweist oder modifiziert. A reagiert in ähnlicher 53
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Weise auf die Reaktion und dann wiederum B. Jede Reaktion korrigiert und konkretisiert das vorab Gesagte.5 Der zentrale Unterschied dieser Konzeption sozialen Handelns gegenüber voluntaristischen Handlungskonzepten (vgl. Parsons 1968/ 1937) liegt in der unterschiedlichen Bedeutung, die der Intention eines Handelnden zugeschrieben wird. Für Weick läßt sich der Sinn eines Interaktes nicht auf die Intention eines Handelnden zurückverfolgen. Denn auch eine intentionale Handlung muß durch andere interpretiert werden, und selbst wenn der Handelnde seine mit dieser Handlung verknüpfte Intention mitteilt, wird diese aber wiederum durch die daran anschließenden Interakte interpretiert. Der Sinn wird verschoben, in einer Serie von Verschiebungen reinterpretiert.6 Im ungünstigsten Fall wird er geradezu zur Unkenntlichkeit reinterpretiert, und so können die mitgeteilten Intentionen zu etwas völlig anderem werden, als je mit ihnen intendiert war. Diese Erfahrung beschreibt Weick pointiert durch seine verdrehten Sätze: „Ich weiß nicht, was ich sage bevor ich nicht sehe, was ich tue“ (Weick 1977: 279; 1995: 12, 18, 61). Denn den genauen Sinn dessen, was man sagt, erfährt man eigentlich erst durch den Fortgang der Interaktion. Unversehens wird man so zu einem Beobachter einer Szenerie, an der man zwar mitwirkt, deren Entwicklung aber eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die außerhalb der Kontrolle einzelner Personen zu liegen scheinen.7 Die entsprechenden Negativerfahrungen sind bekannt und werden oft mit Sätzen umschrieben wie „das Gespräch ist entglitten“ oder „das Gespräch hat sich verselbständigt“, womit wohl zum Ausdruck gebracht werden soll, daß eigentlich keiner der Beteiligten den Wortwechsel so intendiert hatte, wie er abgelaufen ist, und deshalb irgendwie dem Gespräch dafür die Schuld zugeschrieben wird. Aber auch positive Beispiele kennt man, wie die Erfahrung, daß Gespräche helfen, komplexe Sachverhalte zu klären, weil Gespräche natürlich Mehrdeutigkeit reduzieren. Durch solche Reduktionen von Mehrdeutigkeit entsteht Weick zufolge eine kollektive Struktur (1985: 169). Indem Menschen aufeinander bezogen handeln, transformieren sie die Vielzahl möglicher sinnhafter 5 6 7
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Auch Luhmannn arbeitet mit einer sinnbezogenen Komplexitätsreduktion, allerdings erst in seinen späteren Werken (vgl. Luhmann 1984). Im Sinne der Différances von Jaques Derrida (1972). Diesen Sachverhalt macht sich Loriot zu nutze. Hier ein gekürztes Beispiel, es dürfte hinlänglich bekannt sein: Er: Das Ei ist hart! Sie: Du willst es doch immer viereinhalb Minuten haben. Er: Woher weißt Du, wann das Ei gut ist? Sie: Nach Gefühl. Er: Aber es ist hart. Sie: Willst Du sagen, daß mit meinem Gefühl etwas nicht in Ordnung ist usw., vgl. Loriot und Vicco von Bülow (2006): „Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“, München: Diogenes.
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Zuschreibungen auf wenige Möglichkeiten. Sie geben Sinnverläufen eine Richtung, sie lassen Kontexte entstehen. Eine Gruppe von Personen einigt sich daher nicht darüber, was sie in der Umwelt sehen, sondern indem sie miteinander interagieren entsteht zwischen ihnen und durch ihr Verhalten ein Prozeß der Sinneinschränkung, die dann als Wahrnehmung einer Gruppe als gemeinsam geteiltes Weltbild beobachtet werden kann.8 Weick bezeichnet diesen Prozeß, indem eine Gruppe interaktiv Sinn erzeugt als Sensemaking, welches er als „acting your way in the meaning“ (Weick 2001a: 130) definiert, was so viel bedeutet wie „handelnd Bedeutungen erzeugen“ (Groth 2004: 91). „Überprüfen Sie ihre Erwartungen“, „seien Sie vorsichtig, etwas als Tatsache zu behaupten“, „seien Sie kompliziert“, „sagen Sie, was Sie sehen, denn nur weil Sie etwas sehen, heißt es nicht, daß es die anderen auch sehen“, „stärken Sie ihre Phantasie“ – dies sind einige der Ratschläge, die Karl Weick und Kathleen Sutcliffe (Weick und Sutcliffe 2001: 160ff.)9 Managern mit auf den Weg geben und sie zielen darauf ab, die Organisationsmitglieder dafür zu rüsten, neue unerwartete Situationen einerseits überhaupt richtig einschätzen zu können, und andererseits, darauf adäquat reagieren zu können. Hochsicherheitsorganisationen wie Kernkraftwerke, chemische Anlagen, aber auch Teams, die komplexe Situationen mit hohem Unfallrisiko bewältigen müssen, wie die Mannschaften auf Flugzeugträgern, Feuerlöschteams u.ä. sind alle derselben Herausforderung ausgesetzt: Sie müssen hoch komplexe und zugleich gefährliche Krisensituationen schnell und gut bewältigen können. Ihr Scheitern ist zudem zum Teil mit dem Damoklesschwert eines nicht unerheblichen Katastrophenpotentials behaftet. Aber wie können Gruppen, Teams und Organisationen Veränderungen in der Umwelt sehen, wenn sie das wahrnehmen, was sie sowieso über ihre Umwelt wissen? Oder zugespitzt: wie können Sie Neues erkennen, wenn Sie die Vergangenheit sehen? Wie wird die Zirkularität von Beobachter und Beobachtetem durchbrochen? Angesichts des oben dargestellten zirkulären Theoriedesigns ist dies eine der zentralen Fragen, die es zu beantworten gilt.
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So vertreten Mary Douglas und Aaron Wildavsky (1993/1982) beispielsweise die These, daß mit einem bestimmten Lebensstil, bestimmtem Verhalten auch eine spezifische Beurteilung und Wahrnehmung von Risiken einhergehe. Bestimmte, gefährliche Krankheiten werden beispielsweise in verschiedenen Kulturen jeweils anders beurteilt. Es gibt somit keine objektiven Gefahren, sondern nur subjektiv, gesellschaftlich rekonstruierte Wahrnehmungen von Gefahren. Original in englisch, eigene Übersetzung. 55
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Die Erfahrungen zeigen jedenfalls, daß dieses Problem lösbar ist, denn Unfälle sind bei Hochsicherheitsorganisationen glücklicherweise doch eher die Ausnahme als die Regel.10 Was also tun diese Organisationen, um Änderungen sofort zu erkennen, und wie finden sie aus dem Stehgreif die richtigen Handlungsprogramme, um auf unerwartete Situationen adäquat reagieren zu können? Die Antwort – die bereits aus den oben genannten Ratschlägen hervorgeht – bezieht sich auf das Sensemaking dieser Organisationen. Wer die Umwelt nicht eindimensional sehen will, muß über komplexe Sensemakingsrukturen verfügen. Wer flexibel reagieren möchte, muß in der Lage sein, mehrere alternative Interpretationsmöglichkeiten in Anschlag zu bringen, und das heißt zugleich auch, daß sinnhafte Widersprüche nicht auszumerzen, sondern zu akzeptieren sind. Karl Weick bleibt aber keinesfalls bei einer Ansammlung mehr oder weniger kurios wirkender Ratschläge für Manager stehen; diese bilden vielmehr nicht den Anfangspunkt, sondern umgekehrt das Endresultat zahlreicher Analysen, die auf einem evolutionären vierstufigen Modell beruhen, welches Sinnbildungsprozesse in Gruppen und Organisationen beschreibt. Dieses Modell dient Karl Weick als Analyseraster, mit dem er Wahrnehmungsprozesse und Koordinationshandeln innerhalb von Gruppen und Organisationen auf spezifische im Modell dargestellte Mechanismen beziehen kann, wodurch er typische Fehlerquellen aufzuzeigen vermag.
2.3
Das Modell des Organisierens
Das Modell des Organisierens stellt eine Weiterentwicklung der weiter oben bereits dargelegten Konzeptualisierung der Entstehung kollektiver Strukturen durch doppelte Interakte dar. Wie wir gesehen haben, entsteht eine Bedeutungszuschreibung als „Nebenprodukt“ von Interaktionsketten, deren Eigenschaft es ist, Mehrdeutigkeit zu reduzieren. Die Spezifikation einer Sinnzuschreibung ist daher nicht das Resultat eines Meinungsaustausches, bei dem man über diverse mögliche Sinnzuschreibungen debattiert, um sich auf eine bestimmte Bedeutung zu einigen. Sensemaking hat Weick zufolge vielmehr Ähnlichkeiten mit natürlichen Evolutionsprozessen. Mit den Begriffen Variation, Selektion und
10 Auch wenn Unfälle selten sind, so sind sie aber nie gänzlich zu beseitigen, weil die Komplexität großtechnischer Anlagen und die Anzahl strikt gekoppelter Ereignisse Unfälle wahrscheinlich macht. Insofern sieht Perrow (1984) Unfälle nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall an. 56
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Retention aus der Evolutionstheorie11 kann man den Prozeß der Reduktion von Mehrdeutigkeit zunächst folgendermaßen beschreiben: Variation wäre dann das Auftauchen von Ereignisströmen, die noch nicht mit Sinn belegt sind, also noch den Status von Rohdaten haben. Während die Akteure in bezug auf diese Rohdaten handeln, machen sie sich kontinuierlich „einen Reim“ darauf, sie interpretieren, was vor sich geht, und selektieren dadurch einen bestimmten Sinn (Selektion), den sie in Form von Ursachenschemata, Ablaufschemata und ähnlichem speichern. Diese Erinnerungen stehen dann wiederum als Retention für weitere Interpretationen zur Verfügung (Weick 1985: 193ff.). Variation, also das Auftauchen neuer Rohdaten, kann auf zwei verschiedene Weisen verursacht werden: Zum einen gibt es Überraschungen, die einfach aus der Komplexität der Welt heraus auftauchen. Ein unerwartet heftiger Sturm, der Ausfall bestimmter Maschinen, mit dem man nicht gerechnet hatte, das unerwartete Fehlen einer zentralen, wichtigen Person usw. Diese Ereignisse, die von den Akteuren als eigenartig, als überraschend und als unnormal wahrgenommen werden und die man am liebsten normalisieren oder zumindest kontrollieren möchte, bezeichnet Weick als ökologischen Wandel (Weick 2001: 97; ders. 1985: 190). Andererseits gestalten die Organisationsmitglieder durch ihre Aktivitäten ständig ihre Umwelt selbst, indem sie zumeist auf vergangene Erfahrungen und auf in der Vergangenheit bewährte Schemata zurückgreifen. Indem sie alte Schemata auf neue Situationen anwenden, produzieren sie nicht selten ungewohnte Arrangements oder sogar völlig überraschende Situationen. Die Tätigkeit des Gestaltens bietet daher „eine Parallele zur Variation“ (Weick 1985: 190), die nicht selten dazu führt, daß ökologischer Wandel, indem er beseitigt werden soll, gerade verstärkt wird. Variation kann also zweifach angestoßen werden: Zum einen kann Variation organisationsextern verursacht sein, was als ökologischer Wandel bezeichnet wird, und andererseits kann Variation aber auch durch die Aktivitäten der Organisationsmitglieder selbst verursacht sein, und dieser Teil der Variation wird mit dem Begriff „Enactment“ oder deutsch „Gestalten“ bezeichnet. Die vier Prozesse des Organisierens sind in Abbildung 1 schematisch dargestellt (Weick 1985: 195).
11 Weick bezieht sich hier nicht auf Darwin, sondern auf eine bereits vorhandene sozialwissenschaftliche Adaptionen des Evolutionsmodells durch Donald T. Campbell (1970). 57
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Abbildung 1: Die vier Prozesse des Organisierens
Quelle: Weick 1985: 193 Anhand des bereits angeführten Orchesterbeispiels lassen sich die vier Prozesse des Organisierens nochmals veranschaulichen: Die Noten sind nicht eine uniforme, gleiche Masse, sondern aufgrund der Erfahrung mit Musikstücken (Pfeil 1) zerlegen die Musiker das Stück in einzelne Passagen und gestalten somit diese Rohdaten. Im Zusammenspiel werden diese Passagen interpretiert und als getragen, lustig, schnell usw. angesehen, wobei den Musikern ihr vorhandenes Repertoire als Interpretationshilfe dient (Pfeil 2). Die Interpretation fließt in die Retention und beeinflußt, wie die Musiker ein anderes Stück gestalten und was sie interpretativ daraus machen. Es kann aber auch sein, daß die Musiker Passagen als neu, als anders und unbekannt klassifizieren, was ökologischem Wandel bedeuten würde. Dann wird für diese Passagen eine höhere Aufmerksamkeit aktiviert. Ob Variation in Form von ökologischen Wandel oder in Form von Gestaltung passiert, ist nicht eine Frage der Beschaffenheit der Umwelt, sondern der subjektiv durch die Akteure selbst wahrgenommenen Passung vergangener Interpretationen. An diesem Beispiel läßt sich auch der Umweltbegriff Weicks verdeutlichen, denn Umwelt ist nicht einfach nur die eine Organisation umgebende Welt. Umwelt ist für Weick dasjenige, was noch nicht mit Sinn belegt ist, wie das neue Musikstück im obigen Beispiel. Eine sensemakingbezogene Grenzziehung zwischen Organisationen und ihrer Umwelt ist daher dynamisch zu denken. Die Grenze verschiebt sich kontinuierlich mit den Sensemakingprozessen: „Die Grenzen zwischen Organisationen und Umwelt sind niemals so eindeutig und stabil, wie viele Organisationstheoretiker meinen“ (Weick 1985: 192). Dieses Modell dient Karl Weick als Analyseraster, mit dem er vor allem mißlungene versus funktionierende Situationsdeutungen von 58
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zuzeigen. Es ist die Betrachtung von Handlungen über dem Abgrund zur Katastrophe, wodurch sich falsche und richtige Situationsdeutungen sozusagen von selbst klären, und sie erlauben es, entweder danach zu fragen, was verkehrt lief, oder andersherum zu fragen, wieso es klappt, wo Gelingen doch so unwahrscheinlich ist. Wenn es schief gelaufen ist, weiß man anschließend immer, was man hätte besser machen können, und auf diese Weise gewinnt man eine alternative Wahrnehmung der Wirklichkeit, die besser gewesen wäre, und kann von dieser Folie her fragen, welches Wissen, welche Deutungsschemata und welche Aktivitäten hätten ablaufen müssen, damit die Katastrophe hätte vermieden werden können. Diese Doppelperspektive von Sollen und Sein verleiht diesen markanten Situationen eine Rahmung, die Karl Weick und Kathleen Sutcliffe (2003: 70) als „Fenster zum Gesamtsystem“ bezeichnen, denn sie geben Einblick in die verborgenen Strukturen der Organisationen. Zu jeder der vier Phasen des Modells des Organisierens hat Weick typische Probleme zugeordnet: In der Gestaltungsphase liegt die Problematik darin, eine erste angemessene Konstruktion der Umwelt einschließlich des Handelns des Gegenübers vorzunehmen. Sind die ersten angenommenen Ursache-Wirkungsbeziehungen oder die ersten Einstufungen dessen, was vor sich geht, nicht der Situation angemessen, dann können diese auch durch die weiteren Sensemakingaktivitäten kaum ausgeglichen werden.12 Umgekehrt ist es aber möglich, daß die erste grobe Orientierung situationsadäquat ist, nicht aber der anschließende Umgang mit diesem ersten Eindruck. Dann liegt das Problem nicht im Gestaltungs-, sondern im Selektionsprozeß.13 Schließlich kann das Gelingen oder Mißlingen von Handlungen auch in der Retention begründet sein, wenn die Pflege von Bekanntem genau die passenden Erinnerungen in Anschlag zu bringen vermag oder aber gerade der Vergangenheitsbezug notwendigen neuen Wahrnehmungen entgegensteht.14 Da das Modell des Organisierens als Grundlage für die Untersuchung der Entstehung eines regionalen Netzwerks dienen soll, werden diese vier Phasen im folgenden nochmals eingehender betrachtet.
12 Die Katastrophe von Bhopal etwa führt Weick auf eine falsche Situationsdeutung zurück, die durch die Erwartungsstruktur der Firma hervorgerufen wurde (Weick 1988). 13 Das unfallfreie Zusammenspiel vieler Akteure auf einem Flugzeugträger führt Weick auf situativ richtig gewählte Handlungsprogramme zurück, die durch die Organisationskultur und in Handlungsroutinen erinnert werden (Weick/Roberts 1993). 14 Zur Organisationskultur als wichtigem Baustein für das fehlerfreie Funktionieren von Hochsicherheitsorganisationen vgl. Weick (1987a). 59
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2.3.1 Gestaltung und ökologischer Wandel Mit dem Wort Gestaltung, im englichen Original „enactment“, bezeichnet Weick die aktive Herstellung einer Umwelt, von der Organisationen und Gruppen in der Regel meinen, sie existiere unabhängig von ihnen. Es geht dabei um weit mehr als lediglich um Wahrnehmungsprozesse, denn wäre dies der Fall, so wendet Weick ein, dann müßte man von „Bedenken, nicht [von] Gestalten“ sprechen (Weick 1985: 237, Hervorh. im Original). Weicks Konzept des Organisierens ist daher keinesfalls so aufzufassen, daß ein Akteur erst eine Welt konstruiert, auf die bezogen er anschließend handelt. Und ebenfalls geht Weicks Vorstellung von einer gestalteten Umwelt weit über die Intervention in und die Manipulation der Umwelt durch eine Organisation hinaus. Wenn Organisationen aktiv werden, wenn sie kaufen, verkaufen, bauen, konstruieren, designen, wenn sie ihre Märkte zu kontrollieren suchen, neue Märkte erschließen usw. dann greifen sie selbstverständlich aktiv in ihre Umwelt ein und verändern diese. Aber die Veränderung einer bereits existierenden Umwelt ist nicht das, was Weick unter Gestaltung versteht. Denn gestaltet wird eben gerade dasjenige, was Akteure als ihre Umwelt bezeichnen, das, was unabhängig von ihrem Zutun so zu sein scheint, wie die Akteure es sehen. Gestaltet werden gerade die Märkte, die Kundengruppen, die Konkurrenten, die Rohstoffe oder die Beschaffenheit einer Firma, also gerade jene Situationen und Ereignisse, mit denen Akteure sich konfrontiert sehen. Mit dieser Auffassung stellt Weick das Verhältnis von Weltkonstruktion und Handeln freilich auf den Kopf: Anstatt sich erst über seine Ausgangslage klar zu werden und anschließend darauf bezogen zu handeln, begreift der Akteur eigentlich erst während und vor allem nachdem er bereits gehandelt hat, was eigentlich vor sich geht. Die eigenen Aktivitäten werden mit der Welt verwoben, indem in die Welt Beziehungen hineingelegt werden, die aber so gar nicht in der Welt vorgelegen hatten. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß alles, was passiert, immer gleichzeitig passiert (James 1950/1890: 365, zitiert nach Weick 1985: 213): „Während ich rede und die Fliegen summen, fängt eine Seemöwe an der Amazonasmündung einen Fisch, in der Wildnis von Adirondack fällt ein Baum, in Deutschland niest ein Mann, in der Tatarei stirbt ein Pferd, und in Frankreich werden Zwillinge geboren. Was bedeutet das? Bildet die Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse miteinander und mit Millionen anderen, ebenso unzusammenhängenden ein sinnvolles Band zwischen ihnen, und vereint sie zu irgend et-
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was, was für uns eine Welt bedeutet? Und doch ist gerade eine derartige parallele Gleichzeitigkeit und nichts anderes die reale Ordnung der Welt.“
Wenn alles, was passiert, immer gleichzeitig passiert, woher weiß man dann, daß etwas eine Wirkung von etwas anderem ist? Woher weiß eine Organisation, von welchen Faktoren der Erfolg ihres Produktes abhängt? Sie weiß es nicht, aber sie wird Zusammenhänge zwischen einigen Faktoren vermuten und ihrer Umgebung insofern eine Logik unterstellen. Und in eben dieser Unterstellung und entsprechenden Aktivitäten wird die Umwelt enacted: „Wenn Manager auf Mehrdeutigkeit stoßen und sie zu verringern suchen, arbeiten […] sie häufig mit der Unterstellung von Logik […] Aufgrund der Annahme, die Umwelt sei geordnet und sinnvoll, unternehmen Manager Anstrengungen, ihr Ordnung aufzuerlegen, und gestalten so Ordnungshaftigkeit, die dann ‚entdeckt’ wird“ (Weick 1985: 231). Es werden also zunächst irgendwelche als relevant angesehene Faktoren aus der allumfassenden Gleichzeitigkeit isoliert, was Weick als „einklammern“ bezeichnet (Weick 1985: 222). Zwischen diesen eingeklammerten Elementen werden dann Beziehungen vermutet: „Die Leute in Organisationen versuchen, dieses Chaos [der Gleichzeitigkeit] in Gegenstände, Ereignisse und Teile zu sortieren, die dann verbunden, in Sequenzen aufgefädelt, in Serien angeordnet und aufeinander bezogen werden“ (Weick 1985: 214). Das Resultat sind Vorstellungen über Zusammenhänge in der Welt, die Weick zufolge in Form von Ursachenkarten15 gespeichert werden, die aber allesamt selbst erfunden sind. Damit ist der zentrale Problemkomplex, um den es Weick geht, wenn er von Gestaltung spricht, umrissen: Wie eine Organisation sich in der Welt bewegen wird, ob sie erfolgreich sein wird oder nicht, hängt vor allem damit zusammen, ob sie in der Lage ist, Ursachenkarten ihrer Umwelt zu gestalten, anhand derer sie Aktivitäten ausführen kann, die ihr ein angemessenes Überleben erlauben. Die erste Einklammerung der als wichtig erachteten Aktivitäten, Gruppen, Ereignisse etc. ist gerade deshalb bedeutsam, weil der Organisation im weiteren Verlauf des Sensemakings nur noch die eingeklammerten Ereignisse zur Verfügung stehen und alle weiteren Vorkommnisse in der Welt als irrelevant betrachtet werden. Resultat eines Gestaltungsprozesses ist also das Aussondern
15 Mit dem Konzept der Ursachenkarten haben bereits Staw und Salancik (1977) gearbeitet. Sie nutzten es, um die Ursache-Wirkungsbeziehungen abzubilden, die eine Person annimmt, nachdem sie etwas zum wiederholten Mal erlebt. Für eine weitere Anwendung dieses und ähnlicher Begriffe (Script, Frame) in der Organisationstheorie vgl. Gioia und Manz (1985) sowie Sims und Gioia (1986). 61
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bzw. „einklammern“ relevanter Variablen und das Knüpfen erster Beziehungen zwischen diesen. Wie kann eine Organisation ihre Gestaltung verbessern? Dies ist eine der Fragen, die Weick beschäftigt. Er hat verschiedene Einflußfaktoren auf Gestaltungprozesse herausgearbeitet, wie beispielsweise Wissen. Wenn eine Organisation über komplexes Wissen über die Dinge und Ereignisse ihrer Umwelt verfügt, wird die Organisation diese auch in der Umwelt ausmachen können. Auch Widersprüche innerhalb einer Organisation können aus dieser Perspektive vorteilhaft sein, weil dadurch eine widersprüchliche Umwelt leichter zu sehen ist. Starke Erwartungen darüber, wie sich andere Akteure, Objekte und Abläufe der Umwelt normalerweise verhalten, werden dazu führen, daß man das Erwartete leichter sieht als das nicht Erwartete. Ein starkes Engagement für eine bestimmte Sichtweise wird dazu führen, daß die Sichtweise auch dann aufrechterhalten wird, wenn es in der Umwelt zahlreiche gegenteilige Anzeichen gibt. Dies heißt umgekehrt aber auch, daß eine Organisation erst dann offen für Neues ist und bewußt nach neuartigen Interpretationsmöglichkeiten ihrer Umwelt sucht, wenn sie ihre Umwelt für mehrdeutig, schwierig einzuschätzen oder für schnell wandelbar hält und kein allzu großes Engagement für die herkömmliche Sichtweise der Umwelt aufbringt (Weick und Daft 1984). Es gibt aber andererseits auch Situationen, in denen sich die Umwelt massiv verändert und diese Umweltänderung sich zum zentralen Bestimmungsmoment der Szenerie entwickelt und alle weiteren Aktivitäten maßgeblich bestimmt. In solchen Situationen steht ökologischer Wandel im Vordergrund und die Frage, wie eine Organisation hier so Sinn zu produzieren vermag, daß sie die Situation noch meistern kann, ist von besonderer Wichtigkeit. Wie wir bereits weiter oben gesehen haben, stehen Gestaltung und ökologischer Wandel in einem engen Zusammenhang: Ökologischer Wandel umfaßt alle Überraschungen, alle unvorhergesehenen Ereignisse und kommt vermutlich täglich in allen Organisationen vor. Ökologischer Wandel stellt insofern das Rohmaterial für den Gestaltungsprozeß zur Verfügung und setzt einen Sensemakingprozeß in Gang. Drastischer Wandel, welcher eine Situation maßgeblich beherrscht, stellt einen Extrempunkt dar, der von Organisationen besondere Aufmerksamkeit und besondere Gestaltungfähigkeiten wie das flexible Umschalten auf andere Sensemakingmöglichkeiten abverlangt (Weick 2001/1990).
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DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
2.3.2 Selektion Was geht hier vor? Womit haben wir es zu tun? Es sind die Antworten auf diese Fragen, die in der Selektionsphase gefunden werden. Die zuvor zur näheren Betrachtung eingeklammerten Stücke der Umwelt werden in der Selektionsphase in einen in sich kongruenten Zusammenhang gebracht. Resultat ist dann ein „Wissen“ über die Umwelt, welches durch die Einbettung dieser stückhaften „Fetzen“ aus der Umwelt in einen sinnhaft-logischen Ursache-Wirkungszusammenhang oder in bestimmte Ablaufschemata entsteht. Das folgende Beispiel, welches Weick (1987) selbst anführt, veranschaulicht, was unter Sensemaking verstanden wird: Eine ungarische Truppe nahm an einer militärischen Übung in den Schweizer Alpen teil. Dabei war ein Spähtrupp von einem Schneesturm überrascht worden und hatte erst nach drei Tagen zu seiner Truppe zurückgefunden. Als der besorgte Leutnant wissen wollte, wie ihnen die Rückkehr angesichts der unwirtlichen Wetterverhältnisse gelungen war, zeigten die Soldaten ihm eine Landkarte vermittels derer sie ihren Weg zurückgefunden hatten. Erstaunt stellte der Leutnant fest, daß es sich um eine Karte der Pyrenäen, nicht der Alpen gehandelt hatte. Dies zeigt Weick zufolge, daß man, um handeln zu können, zunächst irgendeine Art von Ordnung oder Regelmäßigkeit unterstellen muß. Auf dieser Basis kann man dann aktiv werden und sich mit seiner Umgebung auseinandersetzen. Durch die aktive Rückkopplung mit der unterstellten Ausgangslage tastet man sich in eine unbekannte Welt vor, und so produziert man aktiv eine sinnvolle Welt. Es ist also nicht die Landkarte, die die Zusammenhänge in der Welt abbildet und so ein sinnvolles Handeln ermöglicht, sondern die Karte bietet statt dessen vielmehr einen Ausgangspunkt, von dem man die Welt erforschen und Sinn kreieren kann. In gleicher Weise bilden Zusammenhangsvermutungen wie etwa Marktmechanismen die Welt nicht ab, sondern dienen lediglich als Ordnungsschablonen, anhand derer man Zusammenhänge und Abläufe in der Welt entdecken kann. Aus dieser Auffassung folgt logischerweise, daß es wichtiger ist, mit etwas zu beginnen als etwas zu planen: „Managers keep forgetting that it is what they do, not what they plan that explains their success“ (Weick 2001/1987: 346). Um zu beginnen, ist nur ein erstes – und sei es auch grobes – Konzept notwendig. Erfolgreiches Handeln wie der geglückte Heimweg im obigen Beispiel hat Weick zufolge eher mit der Fähigkeit der Gruppe zu tun, aus einer mehrdeutigen Situation handlungsrelevanten Sinn zu erzeugen und weniger mit der Genauigkeit der benutzten Karte. Kirk Downey (vgl. Weick 2001/1987: 346) dagegen weist darauf hin, daß die Karte der Pyrenäen immerhin eine Bergregion darstellte und die Struktur von Tälern und Bergen sich 63
INNOVATION UND KOOPERATION
trotz der Differenzen zwischen den beiden Bergregionen doch ähneln. Insofern konnten die Soldaten der Karte sinnvolle Informationen entnehmen. Weick streitet nicht ab, daß eine Karte von Disneyland die Rückkehr deutlich erschwert hätte, aber die Schwierigkeit sieht er weniger in der Unadäquatheit der Karte, sondern darin, daß eine Karte von Disneyland den Sensemakingprozeß der Gruppe möglicherweise deutlich erschwert hätte: „A map of Disneyland makes it harder to develop a shared understanding of what has happened and where we have been, but if it does not inhibit action and observation, some clearer sense of the situation may emerge as action proceeds“ (Weick 2001/1987: 346). Insofern kann man mit jeder Karte oder praktisch jeder Zusammenhangsvermutung in die Welt starten und die Mehrdeutigkeit der Welt bändigen. Ob ein Sensemakingprozeß gelingt oder nicht, hängt damit weniger von der Verfügbarkeit bestimmter Informationen ab, als vielmehr von dem Erfordernis aus dem Wissen und den Wahrnehmungen mehrerer Personen, ein kongruentes Bild zu erstellen und dieses weiterhin zu verdichten und zu benutzen. Wenn eine Gruppe über Sensemakingfähigkeiten verfügt, dann können dadurch Informationsdefizite ausgeglichen werden. Wichtiger als eine Gruppe oder eine Organisation auf ein bestimmtes Ziel hin zu lenken, ist es daher, eine Gruppe zu motivieren und zu veranlassen, gemeinsam in irgendeine Richtung aktiv zu werden: „If you get people moving, thinking clearly, and watching closely, events often become more meaningful“ (ebd.: 346). In vielen Aufsätzen Weicks findet man Reflektionen und Erkenntnisse zu der Frage, was einen gelungenen Sensemakingprozeß auszeichnet. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es beim Sensemaking darauf ankommt, Neues zu denken, kreativ zu sein und unkonventionelle Lösungen zu denken. Sensemakingprozesse sind daher zumeist von Widersprüchen und Inkongruenzen geprägt, und selten sind die Akteure dabei einer Meinung. Es ist gegenteilig die Vielfalt individueller Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie die zur Verfügung stehenden kollektiven Erfahrungen und Muster vergangener Handlungen, aus denen eine sinnhafte Interpretation dessen, was vor sich geht, aktiv probiert wird und sich dadurch ein neuer Sinn konkretisiert.16 Für das Sensemaking ist eine möglichst breite Beteiligung verschiedenster Akteure zuträglich, um viele Interpretationsmöglichkeiten dessen, was vor sich geht, zur 16 Die Rolle von Institutionen für den Sensemakingprozeß wird bei Weick nicht behandelt. Hier gibt es aber Anknüpfungspunkte zu institutionalistischen Ansätzen, die Klaus Weber und Mary Ann Glynn (2006) aufzeigen. Im Sensemakingprozeß bedienen sich die Akteure eben durchaus bei vorhandenen Sinnmustern wie Rollen, Skripts etc. 64
DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
Verfügung zu haben. Diese Anforderung, möglichst in die Breite zu gehen und Widersprüche zuzulassen, steht aber quer zur Routinisierung und strikten Einhaltung spezifischer Standards in Hochsicherheitsorganisationen. Da kleine Fehler große Katastrophen auslösen können, sind hier eine klare Hierarchie und perfektionierte Sicherheitsstandards unerläßlich. Daraus folgt dann der Konflikt, daß im Normalbetrieb Informationen ausgeschlossen werden, die aber in der Krise zugelassen werden müssen, um die Möglichkeiten für das Sensemaking zu verbessern.17 Das Umschalten vom Normalbetrieb in den Sensemakingmodus gelingt Hochsicherheitsorganisationen durch „Mindfulness“ (Achtsamkeit). Mindfulness ist eine Offenheit gegenüber anderen neuen Möglichkeiten, eine Sensibilisierung in bezug auf die Frage, ob die angewendeten Regeln noch der Situation angemessen sind (Weick und Sutcliffe 2001). Ein Beispiel für flexible Anpassungsleistungen durch Mindfulness geben Weick und Roberts (1993) mit dem Zusammenspiel verschiedener Akteure auf Flugzeugträgern, wie dem Towerpersonal, den Piloten und dem Deckpersonal.18 Gleichwohl die verschiedenen Teams in der Regel weder Blickkontakt haben noch sich absprechen können, da die Notwendigkeit bestimmter Handlungen und die Reaktionen darauf beinahe zeitgleich aufeinandertreffen, beobachteten Weick und seine Kollegen zahlreiche spontane Handlungen zwischen den Teams, die so gut ineinandergriffen, als wären sie von einer unsichtbaren Hand koordiniert. Weick und Roberts sprechen deshalb von einem „collective mind“ (ebd.), welches dadurch entsteht, daß einerseits alle Akteure eine recht präzise Vorstellung von den Aufgaben der jeweils anderen Teams haben und deshalb einschätzen können, wie ihre eigenen Aktivitäten mit denjenigen der anderen Akteure zusammenpassen. Und andererseits haben sie eine hohe Sensibilität in bezug auf allerkleinste Abweichungen vom Normalverlauf ausgebildet und wissen diese flexibel zu deuten. Gut funktionierende Hochsicherheitsorganisationen zeichnen sich dadurch aus, daß sie „mindful“, also achtsam in bezug auf die allerkleinsten Veränderungen sind und in bezug auf diese sofort 17 Um schnelles Entscheiden zu gewährleisten, gibt es in Cockpit Crews eine klare Hierarchie. Unter der Bedingung von Ambiguität allerdings ist es günstiger, mehrere Sichtweisen zuzulassen, um mehr Informationen zur Verfügung zu haben. Und so hat eine Untersuchung des Verhaltens von Cockpit Crews, die erfolgreich mit Krisensituationen umgingen, ergeben, daß diese Teams von Hierarchie auf Demokratie wechseln konnten (Ginnett 1993). 18 Weick und Roberts sprechen allerdings von Heedfulness. In späteren Arbeiten spricht Weick von Mindfulness. Ich vermute, daß Weick deshalb den Begriff Heedfulness in neueren Veröffentlichungen durch Mindfulness ersetzt hat. 65
INNOVATION UND KOOPERATION
in einen Sensemakingmodus umschalten, bei dem ein breiteres Spektrum an Wissen, Erfahrungen und Fähigkeiten sehr schnell zu Rate gezogen werden kann. Fertige Lösungskonzepte allerdings, wie es Katastrophenpläne üblicherweise sind, behindern das Sensemaking in Krisensituationen, die einen unerwarteten Verlauf nehmen können. Das Problem vorgefertigter Pläne besteht darin, daß sie für bestimmte Auslöser angefertigt sind und sich die Wahrnehmung daher auf die Erkennung dieser möglichen Auslöser einengt: „plans can undercut organizational functioning because they specify contingent actions that are designed to cope with the future. The prolem is […] they are blind because they restrict attention to what we expect“ (Weick und Sutcliffe 2001: 80). Sensemaking kann vor allem dann Neues entfalten, wenn es von der Retention, von Routinen, Erfahrungen und vergangenem Wissen ein Stück weit entkoppelt ist und diese nicht einfach über die neue Erfahrung stülpt.
2.3.3 Retention Als Retention bezeichnet Weick das Gedächtnis einer Organisation. Es umfaßt die Routinen, die Herangehensweisen, die Problemdefinitionen und die typischen Lösungsmuster, durch welche eine Organisation ihre Umwelt als sinnhaft wahrnimmt. Die Schemata des Gedächtnisses erlauben es, die an sich zusammenhangslosen Geschehnisse in der Umwelt einzustufen, zu klassifizieren, zu ordnen und bewährte Aktivitäten und Maßnahmen vorzunehmen. Das Gedächtnis liegt sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form vor: in zahlreichen Akten, Arbeitsanweisungen, in Protokollen vergangener Entscheidungen einerseits und in Handlungsroutinen, in der informellen Art und Weise, wie man etwas üblicherweise tut, aber auch in Scherzen, Geschichten und Anekdoten. Neben den menschlichen Erinnerungen stehen Organisationen aber auch Gruppen zahlreiche weitere Speichermedien wie Texte, Tabellen aber auch ihre Kultur in Form von Symbolen, sozialen Normen und mündlicher Überlieferung zur Verfügung. Es handelt sich aber nicht um ein statisches Gedächtnis, in dem diese Schemata dinggleich konserviert würden. Vielmehr ist die Retention dynamisch mit den aktuellen Aktivitäten gekoppelt. Bei jedem Einsatz eines Schemas wird dieses bestärkt und die Wahrscheinlichkeit, daß dieses wieder zum Zuge kommt, erhöht. Ohne den Rückgriff auf erinnerte Schemata würden die Akteure sich in einer zusammenhangslosen und insofern sinnlosen Welt wiederfinden. Vergangene Ordnungsschemata sind eine notwendige Hilfe, um einer Organisation Orientierung zu bieten. In der neueren Hirnforschung wird eine ähnliche Funktion des menschlichen Gedächtnisses für die 66
DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
Wahrnehmung beschrieben: Anhand weniger Eckdaten kann das menschliche Gehirn feststellen, ob eine Situation vertraut ist, und produziert sofort das entsprechende Bild (Roth 1997: 267). Man sieht dann das erinnerte Bild anstelle des zeitaufwendiger zu produzierenden tatsächlichen Abbilds. Deshalb haben wir, so Gerhard Roth (ebd.), beim Betreten der eigenen Wohnung sofort das Gefühl, unser Umfeld wahrnehmungsmäßig vollständig erfaßt zu haben. Anders verhält es sich auf unbekanntem Terrain. Hier fühlt man sich oft blind und verschafft sich erst nach und nach einen Überblick über die Situation. Die erinnerungsproduzierten Bilder vertrauter Situationen sind zwar blitzschnell verfügbar, allerdings kommt es in Fällen, in denen sich nur kleine Details in einer ansonsten bekannten Umgebung verändert haben, zu uns allen bekannten typischen Fehlern (ebd.: 269): Fehlt an einer uns vertrauten Person plötzlich die gewohnte Brille, hat sie eine neue Frisur oder trägt neuerdings einen Bart, so wird ebenfalls zunächst das bekannte und vertraute Bild der Person produziert. Mit einer gewissen Zeitverzögerung stellt sich dann das Gefühl ein, daß irgend etwas anders ist, ohne daß man genau zu sagen vermag, um was es sich handelt. In Organisationen ist dies nicht anders. In vertrauten Situationen ist die Verwendung bekannter Schemata und die Anwendung bewährter Routinen unproblematisch. Ohne Zeit zu verschwenden, weiß jeder, was der Fall ist und was deswegen zu tun ist. Ebenfalls werden gänzlich neue Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit als solche erkannt werden. Aber hier wird es bereits problematisch. Denn im Gegensatz zur Konfrontation einer Einzelperson mit etwas Neuem gibt es in Organisationen zahlreiche Koordinationserfordernisse. Da die Neuordnung einer Situation und damit ein neues Sensemaking Zeit in Anspruch nimmt, ebenso wie die damit einhergehenden notwendigen Absprachen und Koordinationserfordernisse enervierend und sowohl kräfte- wie zeitraubend sind, ist es zwar eine Sache zu bemerken, daß die Situation sich geändert hat, aber es ist eine zweite und u. U. deutlich schwierigere Angelegenheit, die Verhaltensweisen, Konzepte, Schemata etc. entsprechend zu verändern. Angesichts der Schwierigkeiten, die Organisation zu ändern, bleibt bekanntlich auch angesichts des Wissens um Änderungsnotwendigkeiten alles nicht selten beim alten. Der besonders heimtückische Fall schließlich, daß man kleine Änderungen der Umwelt durch die Anwendung der Erinnerung nur als ungutes Gefühl wahrnimmt, ist gerade in Hochsicherheitsorganisationen relevant. Kleine Änderungen können dort zu großen Katastrophen führen und sollten deshalb bemerkt werden, wenn man noch intervenieren kann, und hier ist wieder die bereits angesprochene Aufmerksamkeit (Mindfulness) wichtig. Damit sind bereits die zentralen Fragen umris67
INNOVATION UND KOOPERATION
sen, um die es Weick im Zusammenhang mit der Retention einer Organisation geht: Erstens gilt es zu fragen, wie Vergessen dort inhibiert wird, wo die Erinnerung auch für zukünftige Situationen wichtig sein könnte. Zweitens geht es darum, wie Neues als neu bemerkt werden kann. Drittens geht es schließlich um die Frage, wie eine Organisation schnell ein neues situationsadäquates Sensemaking generiert. Zu allen drei Fragen liegen zahlreiche Erkenntnisse, Reflektionen und empirische Beobachtungen in verschiedenen Aufsätzen Weicks vor. Die erste Frage ist die klassische Frage, die hinter den Bemühungen zu organisationalem Lernen steht.19 Wie schafft man es, Informationen und Wissen leicht zugänglich und schnell abrufbar dort parat zu haben, wo sie gebraucht werden? Stringent seinem Denkansatz folgend, verfällt Weick bei dieser Frage keinesfalls in informationslogistische Überlegungen, sondern fragt nach typischen Mustern, wie mit Erinnertem umgegangen wird. So gibt es beispielsweise Organisationen, die eine Kultur des Nachfragens kultivieren (Weick 2001/1987). Dahinter steht die Auffassung, daß keiner allwissend sein kann und auch fachkompetente, respektable Personen sehr vieles nicht wissen. Auch die Reichhaltigkeit erinnerten Wissens ist von Bedeutung, wenn es darum geht, ob es später wieder zur Anwendung kommen wird. So können Geschichten beispielsweise Informationen anschaulich transportieren und lebendig erhalten, wodurch sie leichter erinnert werden, als würden die gleichen Informationen schriftlich aufbewahrt werden (ebd.; ders. 1985: 295). Schwierig wird es aber ebenfalls dann, wenn nur kleine Veränderungen vorliegen und die bekannten Routinen und Schemata vermeintlich zu passen scheinen. Viele Unfälle in Organisationen sind auf eine Insensibilität in bezug auf Veränderungen in der Umwelt zurückzuführen. Bewährte Routinen und Interpretationen werden so auf Situationen angewendet, auf die sie nicht passen. Als Beispiel hierfür läßt sich ein Flugzeugunglück anführen, bei welchem ein startendes und ein landendes Flugzeug auf der im Nebel liegenden Start- und Landebahn des Flughafens von Teneriffa zusammenstießen. Der Unfall wurde Weick (2001/1990) zufolge insbesondere dadurch verursacht, daß sowohl die Fluglotsen als auch die Flugkapitäne nicht auf Sensemaking umgeschaltet hatten, sondern versucht hatten, sich weitestgehend an normale Routinen zu halten. Eine typische Schwierigkeit in der Kommunikation zwischen Flugzeugkapitänen und Fluglotsen besteht darin, daß einige, und in diesem Fall alle die englische Sprache nicht besonders gut und schon gar nicht akzentfrei beherrschen. Wie Weick (1987a: 122) in einem an19 Als grundlegende Arbeit zu organisationalem Lernen siehe beispielsweise Argyris und Schön (1978); vgl. auch den Überblick bei Wiesenthal (1995). 68
DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
deren Aufsatz betont, ermöglichen die bekannten Routinen aber, daß sich Fluglotsen und Piloten trotz Sprachschwierigkeiten verständigen können, weil sie wissen und deshalb hören, was normalerweise in einer bestimmten Situation zu sagen ist. Aber gerade dies führte in Teneriffa dazu, daß der startende Pilot dachte, er dürfe starten, weil der Begriff „take off“ mißverständlich verwendet wurde. Anstatt sich zu wundern, warum er in dieser Situation verwendet wurde, wurde der Satz, in dem dieser Begriff vermutlich mißverständlich gehört wurde, als das Routinekommando interpretiert, zu dem dieses Wort gehört (Weick 2001/ 1990: 136). In Situationen veränderter Umweltbedingungen, wie es für Teneriffa der Fall war20, müßten die Akteure von einer als analysierbar angenommenen Umwelt auf eine Einschätzung als unanalysierbar wechseln und anstelle nach bekannten Routinen zu verfahren, müßten sie auf Sensemaking umstellen.
2.4
Karl E. Weick: eine Würdigung
Der Ansatz von Karl E. Weick ist keine schlüssige, logisch aufeinander aufgebaute Theorie, sondern ein Denkansatz, der dazu auffordert, Ereignisse und Aktivitäten in Organisationen aus einer bestimmten Perspektive zu betrachten und zu beschreiben. Es ist ein Analysewerkzeug oder besser: ein Werkzeugkasten, dessen Sinn und Zweck mehr in der praktischen Verwendung liegt als im idealisierten Theoretisieren. Vorwerfen kann man Weick nämlich durchaus eine gewisse begriffsbezogene Lokkerheit, durch die man ihn nicht auf eine präzise Sicht der Dinge festnageln kann, was ein Doktorant, den Dennis Gioia (2006: 1719) diesbezüglich zitiert, folgendermaßen ausdrückt: „Although he [Weick] trains the lens, he often steadfastly refuses to focus it […] he instead offers a kind of Rorschach test. Because of the inherent equivocality21 of his writing, it is hard for Weick’s interpreters not to find what they might be looking for“ (Hervorh. im Original). Ein Umstand, den ich mir in dieser Arbeit gerne zunutze mache und Weick deutlich in Richtung des radikalen Konstruktivismus auslege, was natürlich auch gemäßigter ginge, aber alle konstruktivistischen Sichtweisen lassen sich finden, und so bie20 Nicht nur die Wetterverhältnisse, sondern auch die Tatsache, daß zwei Riesenflugzeuge in Teneriffa notgelandet waren, stellten eine Änderung der Normalsituation dar. 21 Weick spricht selbst gerne davon, daß die Umwelt, Handlungen oder was auch immer einem begegnet mehrdeutig erscheint („equivocal“), und so ist der Begriff in diesem Zitat bewußt als Anspielung auf die Zirkularität von Weicks Begrifflichkeit und dem, was er damit sieht, gewählt. 69
INNOVATION UND KOOPERATION
tet der Ansatz eine gewisse, und ich meine kreative Interpretationsfreiheit.22 Interessanterweise hat aber nun gerade Karl Weick, vermutlich ohne es intendiert zu haben, durch sein praktisches Vorgehen und seine innovativen Beschreibungen, wobei letzteres durchaus im doppelten Sinne gemeint ist: als innovativ Beschriebenes und als innovative Weise der Beschreibung vor allem das Theoretisieren oder deutlicher die grundlegende Art, wie wir über Organisationen denken, verändert. In Kenntnis der Arbeiten von Karl Weick denken wir Organisationen anders. Sie sind dynamischer geworden. Nicht, daß man nicht schon vorher gewußt hätte, daß Organisationen vor allem aktiv sind, daß in ihnen etwas getan wird und daß das als was die Organisation erscheint, Resultat von Aktivität ist. Mit seinen praktischen Analysen hat Weick aber eine tiefere Ebene der Aktivität aufgebrochen. Er zeigte beispielsweise, daß die Aktivität von Feuerwehrleuten nicht einfach im Löschen mit allen diese Kernaktivität umgebenden Folgeaktivitäten besteht, sondern vielmehr besteht die Aktivität darin, daß die Feuerwehrleute eine Vorstellung von sich selbst als Feuerwehrleuten und eine von dem gerade aktuellen Feuer in ihre Handlungen quasi hineinlegen (Weick 1993). Das frappierende dabei ist, daß es Weick tatsächlich gelingt, in so vielen empirischen Studien logisch, schlüssig und nachvollziehbar aufzuzeigen, wie die Konzepte und Vorstellungen im Handeln vorkommen und wie sie die jeweilige Welt verändern. Und diese frischen in ihrer Herangehensweise so radikalen wie konsequenten Beschreibungen haben die Diskussion um Organisationen einfach nur durch die Tatsache, daß es sie gibt und man sie deshalb wahrnehmen muß, bereichert und verändert.23 Abgesehen von der Tatsache, daß man nicht umhin kann, den Ansatz von Karl E. Weick wahrzunehmen, gibt es aber gar nicht so viele Studien, die stringent in der Tradition des Weickschen Ansatzes stehen. Die Studien von Weick haben keinesfalls zu einer massenhaften Nachahmung oder zu einer neuen Forschungstradition geführt, und das könnte zwei Gründe haben: Zum einen ist das Aufspüren und Aufzeigen dieser tieferliegenden Ebene der Aktivität nicht so leicht, wie sie in Weicks eigenen Arbeiten daherkommt. Zum anderen verkompliziert diese Ebene
22 Viele Autoren interpretieren die Arbeit Karl Weicks in Richtung auf den radikalen Konstruktivismus, vgl. beispielsweise Czarniawska 2006; Gioia et al. 2002; Groth 2004. 23 Beinahe schon (zu) überschwenglich bewertet Dennis Gioia den Stellenwert der Arbeiten von Weick: „Of all accomplishments, we might attribute to Weick, undoubtedly one of his greatest is, that he has, in the modern vernacular, ,changed the conversation’ of our field, meaning its about ‚making a difference’ now“ (Gioia 2006: 1710). 70
DER ANSATZ DES ORGANISIERENS
Handlungsanweisungen, weil sie eine selbstbezügliche Schleife erforderlich machen, was die Forschung komplexer macht, anders ansetzt, nicht immer entsprechendes Datenmaterial zur Verfügung stehen mag und die Arbeit schlichtweg verkompliziert. Beim Ansatz von Karl Weick handelt es sich um eine bekannte, beliebte, gern zitierte und wohlwollend betrachtete Außenseiterposition.
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3 F O R S C H U N G S F R AG E N
3.1
UND
METHODIK
Theorie und Forschungsfrage
Das Modell des Organisierens hat wie bereits aufgezeigt vier Phasen, nämlich Ökologischer Wandel, Gestaltung, Sensemaking und Retention, die in dieser Studie als Phasenmodell der Entstehung des zu untersuchenden Netzwerks interpretiert werden. Weick selbst macht keine Angaben dazu, in welchem Zeitrahmen sich ein kompletter Sensemakingzyklus vollzieht. Eine strikte Anwendung aller Phasen innerhalb einzelner Studien hat Weick selbst m.E. nicht durchgeführt. Allerdings ordnet er viele seiner wichtigsten Aufsätze in einem 2001 erschienenen Sammelband jeweils einer der Phasen des Modells zu (vgl. Weick 2001). Dies erlaubt daher die Interpretation, daß Organisationen oder Gruppen nicht fortlaufend alle Phasen erleben, sondern daß die eine oder andere Phase des Modells für die Gesamtheit der Organisation, einer Gruppe oder einer Abteilung zeitweilig im Vordergrund steht. Insbesondere bei der Entstehung und Reifung einer Sensemakinggemeinschaft, wie sie hier mit der zu beschreibenden Netzwerkentstehung angenommen wird, kann man durchaus davon ausgehen, daß die Sensemakingphasen auch als Entstehungsphasen interpretiert werden können.1 Die untersuchte Fallstudie begann aber nicht erst mit einer Phase des Wandels, sondern der Blockierung. Zunächst schien einfach keine Kooperation zustande zu kommen, und erst dann setzte allmählich eine Veränderung ein, die der Phase des ökologischen Wandels in Weicks Modell entsprechen
1
Ich folge damit nicht der Ansicht von Torsten Groth (2004), Weick habe dieses Konzept grundsätzlich verworfen. 73
INNOVATION UND KOOPERATION
würde. Vor die vier Phasen des Weickschen Modells tritt zusätzlich also noch die Phase der Blockierung. Wie im letzten Kapitel deutlich geworden ist, sind für Weick Gründe für Kooperationsblockaden grundsätzlich bei den Akteuren selbst zu suchen. Geht man aber wie viele Vertreter ökonomischer Theorien aber auch einiger soziologischer Theorien von der grundlegenden Annahme einer unabhängig vom Beobachter existierenden Welt aus, dann liegen aus dieser Perspektive die Gründe für sinnvolle Kooperationsbeziehungen in der Sachlogik der Gegebenheiten mehr oder weniger zweifelsfrei vor. Und die Beispiele, die eben diese Sichtweise bestätigen, sind Legion: Wenn sich ein Birnen- und ein Apfelbauer zusammentun, um gemeinsam auf dem Wochenmarkt einen Obststand zu betreiben, dann liegen die Vorteile für die Beteiligten derart auf der Hand, daß es schon an Dummheit grenzte, würden sie nicht kooperieren. Und auch in zahlreichen anderen Fällen ist die Sinnigkeit einer Kooperationsnotwendigkeit augenfällig: Wenn ein kleines Unternehmen sehr spezielle medizinische Instrumente herstellt, tut es gut daran, mit einem großen Hersteller gängiger medizinischer Apparaturen zu kooperieren, um von dessen schon etablierten Vertriebswegen zu profitieren, und andererseits kann der Hersteller gängiger Geräte seine Angebotspalette durch die Zusammenarbeit mit kleinen Spezialanbietern erweitern. Kooperationen um die Produktpaletten zu komplettieren, Vertriebskapazitäten und Werbemittel zu bündeln, Partnerschaften mit ortsansässigen Unternehmen, um sich als ortsfremdes Unternehmen neue Märkte zu erschließen, das Engagement großer Financiers in Zukunftstechnologien, wie es Shell mit der Solarenergie betreibt, wodurch Shell einen Imagegewinn und die Solarenergie einen großen Kapitalgeber gewinnt; es gibt Know-How bezogene Kooperationen und noch viele weitere mehr, die Liste sinnvoller und für alle Beteiligten gewinnbringender Kooperationen, sei es regional oder überregional, ließe sich beliebig verlängern. Und in all diesen Fällen liegt der Nutzen auf der Hand oder anders gesagt: in der Welt, wie sie ist. Nach dem in Kapitel 2 dargestellten zirkulären Theoriemodell Karl Weicks liegen auch in den gerade angeführten eindeutigen Fällen die Gründe für Kooperation ebenfalls nicht in den Gegebenheiten der Welt vor, sondern sind Konstruktionen der Akteure selbst. Die scheinbare Faktizität ist eine selbst produzierte. Dies läßt sich auch für das obige Beispiel des gemeinsamen Obststandes veranschaulichen: Die Praktikabilität der Idee, sich für den Verkauf verschiedenen Obstes zusammen zu tun, liegt in einer kostenökonomischen Kalkulation, nach der Kosten durch die Einsparung eines Standes und einer weiteren Arbeitskraft gesenkt werden können. Ginge es aber darum, eine persönliche Beziehung 74
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
zwischen Kunden und Produzenten aufzubauen, und nicht nur Obst, sondern zugleich ein gesundes Lebensgefühl zu vermarkten, so könnte sich die Entscheidung über eine Kooperation bezüglich eines Marktstandes dadurch anders darstellen. Die Sinnigkeit einer Kooperationsbeziehung ist also nicht einfach an irgendwelchen Dingen oder Sachlagen abzulesen, sondern hängt mit der Art und Weise zusammen, wie die einzelnen Dinge in ein Gesamtbild sortiert werden oder aus der Perspektive Weicks gesagt: Ob es Sinn macht, sich auf eine Kooperation einzulassen oder nicht, hängt einerseits damit zusammen, welche Komponenten als wichtig aus der Welt eingeklammert werden und wie andererseits aus diesen Komponenten ein sinnvolles Bild – „ein sensemaking“ – entsteht. Und je nach den als wichtig erachteten Zutaten und ihrem vermuteten Zusammenhang mag es sinnvoll oder gerade nicht sinnvoll sein, eine Kooperation einzugehen oder nicht. Die Ursache für regionale Kooperationsblockaden, wie beispielsweise die Schwierigkeit aus regionalen Kontakten Kooperation entstehen zu lassen, wird aus der Weickschen Perspektive konsequent nicht in der Sachlage, sondern im Sensemaking der beteiligten Akteure verortet. Wer kooperieren will, muß sein Sensemaking so verändern, daß er kooperieren kann. Es ist demnach nicht ein Mangel an Kooperationsgelegenheiten oder eine Unkenntnis über das Vorliegen regionaler Kooperationspotentiale, sondern es sind vielmehr divergierende Sinnmuster, die dazu führen, daß die Beteiligten jeweils eine Welt gestalten, in der Kooperation überhaupt nicht als Möglichkeit erscheint. Empirisch wäre somit zu klären, ob die Blockaden auf disparate Sinnwelten zurückzuführen sind, und wenn dies der Fall ist, worin das Mißverstehen genau bestand und schließlich an welchen Punkten genau die Kooperation dadurch blokkiert wurde. Die Akteure wären somit blind für mögliche Kooperationsgelegenheiten. Das Resultat, nämlich Inaktivität, stellt aus Weicks Perspektive die größte Blockade für den Beginn von Kooperationen dar. Hätten die Soldaten im oben (Kap. 2.3.2) angeführten Beispiel sofort gemerkt, daß ihre Landkarte gar nicht die richtige war, hätten sie womöglich nichts weiter unternommen. Die Hoffnung aber, anhand der Karte einen Weg zu finden, setzte einen aktiven Prozeß des Sensmakings in Gang, durch den alles vorhandene Wissen mobilisiert wurde und in die Lösungsfindung eingebunden werden konnte. Die Karte fungierte nicht als Wegweiser, sondern als Mobilisierungsinstrument für einen Sensemakingsprozeß, und dieser war es, der ihnen aus der mißlichen Lage half. Auch für regionale Kooperationsblockaden gilt deshalb ebenfalls, daß es weniger darum geht, ob die Akteure im herkömmlichen, üblichen Sinne strategische Kooperationsvorteile erwarten können, sondern daß sie ein75
INNOVATION UND KOOPERATION
fach anfangen zu kooperieren, selbst wenn es nichts gibt, wofür es sich lohnte. Denn indem sie kooperieren, werden sie zirkulär den Sinn der Kooperation selbst hervorbringen.2 Aktivität birgt allerdings nur die Chance, nicht die Gewißheit eines positiv verlaufenden – und das heißt in diesem Zusammenhang eines in Kooperation mündenden – Sensemakingprozesses. Ohne Aktivität kommt nichts zustande, dennoch ist Aktivität allein natürlich keine Garantie für Erfolg. Ineinandergreifendes Handeln der Akteure kommt nur dann zustande, wenn die Akteure die Dinge, Geräte, Aktivitäten, mit denen sie in ihrer Arbeit zu tun haben, in ihrem Sensemaking so gestalten, daß es für sie tatsächlich sinnvoll erscheint, mit den anderen Partnern zu kooperieren. Die Auseinandersetzung miteinander muß also, sollte aus ihr tatsächlich eine sinnvolle netzwerkartige Kooperationsbeziehung hervorgehen, dazu führen, daß die Akteure ihre Arbeitsbezüge sinnhaft so rekonstruieren, daß gemeinsames Handeln als gewinnbringende Option erscheint. Es geht also nicht darum, in der Beschaffenheit der Dinge nach Anhaltspunkten für Komplementarität zu suchen als wären es Puzzleteile, bei denen man zweifelsfrei feststellen kann, ob sie zusammengehören oder eben nicht. Ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Dingen muß statt dessen im Sensemaking gestaltet werden. Natürlich kann man an dieser Stelle einwenden, daß diese Sichtweise deshalb unsinnig sei, weil es einfach klare materielle Gegebenheiten gibt, an deren Faktizität man auch mit dem besten Wunsch zu Kooperation einfach nicht vorbeikommt. Dies scheint aber ein Einwand zu sein, den man wohl nur empirisch falsifizieren kann oder eben nicht. Deblockierung ist Weicks Modell folgend auf ökologischen Wandel zurückzuführen, was nichts anderes bedeutet, als daß sich die Umwelt durch eigenes oder fremdes Handeln so verändert, daß den Akteuren Zweifel an der Passung der eigenen Handlungsprogramme kommen. Ökologischer Wandel bedeutet, daß die Umwelt als mehrdeutig erfahren wird, daß sie auf einmal eigenartige Geschehnisse enthält, seien dies fremde Signale oder auch unerwartete Vorkommnisse. Für die Empirie heißt dies wiederum, daß nach einem Punkt gefahndet werden müßte, an 2
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Aus der Sensemakingperspektive ist auch das Eingehen einer strategischen Kooperation nichts anderes als die zirkuläre Hervorbringung von Kooperationsmöglichkeiten durch die Kooperationserwartung. Denn die Erwartung, daß die Kooperation vorteilhaft sein wird, führt zu der Bereitschaft, ernsthaft erste Schritte miteinander zu gehen und sich aktiv auseinanderzusetzen. Auf diese Weise wird ein Sensemakingprozeß angestoßen, in dem eine Chance, nicht jedoch die Garantie für eine gelingende Kooperation enthalten ist. Aus der Weickschen Perspektive wäre der erste Schritt Blockaden aufzulösen, ernsthaft die Möglichkeit einer gewinnbringenden Kooperation anzunehmen und zu gestalten.
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
dem Zweifel an der Richtigkeit des bis dahin üblichen wie auch immer blockierenden Verhaltens aufgekommen sein dürften, die aber – und das erschwert die ganze Studie – nicht notwendigerweise diskutiert werden müssen. Im sehr wahrscheinlichen Fall, daß ökologischer Wandel in Form von Unsicherheit, Zweifeln und Irritation nur schwer feststellbar sein wird, allzumal es sich um eine retrospektive Fallanalyse handelt, wird man nur indirekt durch das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen in der Gestaltungsphase rückwärts auf ökologischen Wandel schließen können. Wenn eine Organisation Mehrdeutigkeit nicht ignoriert, sondern nach neuen Interpretationen suchend ihr Handeln ändert, dann beginnt damit die Gestaltungsphase. Es ist dies aber, darauf sei nochmals verwiesen, keine kontemplative Tätigkeit, sondern die Gestaltung ist ein Nebenprodukt des Mehrdeutigkeit reduzierenden Umgangs mit Neuem. Indem die Akteure mit der Neuartigkeit ihrer Umwelt umgehen, gestalten sie sie. Es ist das Handeln selbst, durch welches die Akteure Dingen und Geschehnissen eine Bedeutung verleihen. Sie ordnen ihre Welt und knüpfen Verbindungen, was der Tätigkeit des Einklammerns in Weicks Gestaltungsphase korrespondiert. Um eine Gestaltungsphase empirisch verorten zu können, müßte nach neuen Handlungsweisen und veränderten Aktivitäten gefahndet werden. Der genaue Sinnzusammenhang dieser neuen Handlungsweisen wird aber erst allmählich in der Selektionsphase deutlich werden: Erst rückblickend, wenn sich die Akteure durch interpretierendes Einordnen „einen Reim darauf gemacht haben“, was vor sich geht und was sie gemeinsam tun, entsteht die Bedeutung, der Sinn des Handelns. Neue Handlungsprogramme und veränderte Herangehensweisen, neue Routinen etc. werden retrospektiv in einen Deutungszusammenhang integriert. Kennzeichnend für den Selektionsprozeß ist es Weick zufolge daher, daß verschiedene Interpretationsweisen ausprobiert werden und eine Weile auch nebeneinander her bestehen, bis sich eine dominante Interpretation zwischen den Akteuren herauskristallisiert. Die Frage an die Empirie wäre die Selektionsphase betreffend daher, ob es neue Handlungsweisen gab, die verschieden interpretiert wurden, ob also mit Sinnzuschreibungen experimentiert wurde und ob daraus zwischen den Akteuren dann tatsächlich eine neue und vielleicht ganz eigene Definition der Kooperationsbeziehungen hervorgegangen ist, so die Vermutung, die dann auch letztendlich Kooperation ermöglichte. Diese Annahme setzt aber voraus, daß sich neben den beteiligten Akteuren eine neue Sensemakingebene entwickelt, die auf der Ebene der Kooperationsbeziehungen und somit des Netzwerks stattfindet. Demnach müßte mit der Gestaltung auch die Entstehung eines netzwerkarti77
INNOVATION UND KOOPERATION
gen Gefüges sichtbar werden, welches von den Netzwerkpartnern selbst als solches in der Sensemakingphase in irgendeiner Form thematisiert wird. Dabei müssen die Netzwerkpartner sich selbst natürlich nicht als Netzwerk benennen, wohl aber müßte ein Bewußtsein einer Gemeinschaft entstehen, welches von den Akteuren in irgendeiner Weise semantisch zum Ausdruck gebracht werden müßte. Auf den Netzwerkbegriff werde ich weiter unten genauer eingehen, jedoch soll an dieser Stelle angemerkt werden, daß Personen in mehreren Sensemakingcommunities zugleich aktiv sein können. Gerade in bezug auf Wissenschaftler kann man zeigen, daß sie immer zugleich Mitglied einer Organisation und einer professionellen Scientific community sind, die einen großen Einfluß auf ihre Arbeit hat. Es ist deshalb vorstellbar, daß zu diesen bereits vorhandenen Sensemakingkontexten mit dem Netzwerk ein weiterer hinzutritt. Zu vermuten ist diesbezüglich auch, daß sich die Phase, in der Kooperation irgendwie blockiert wurde, auf der Sensemakingebene der Organisationen bzw. der Funktionsträger als Mitglieder von Abteilungen und/oder als Angehörige von professional communities ereignete, während mit der Gestaltung und der Selektionsphase die Kooperationsbeziehung der Akteure untereinander als neue Ebene eines Sensemakings hinzutritt. Ob dadurch auch das Sensemaking auf der organisationalen Ebene verändert wurde oder welche wechselseitigen Sensemakingeinflüsse es dadurch gab, ist eine empirische Frage. In der Retentionsphase steht die Festigung dieser neu entstandenen Interpretation der Kooperationsbeziehung der Akteure im Vordergrund. Die Interpretation der multilateralen, wechselseitigen Beziehungen ist in Handlungsroutinen und spezifischen Vorgehensweisen verankert und wird durch Anekdoten, Mythen und Witze lebendig erhalten und tradiert. Die spezifische Interpretation der Wirklichkeit durch das Netzwerk wird sich in dessen Kultur niederschlagen und zirkulär durch diese reproduziert. Da das Netzwerk zum Zeitpunkt der Untersuchung erst etwa ein Jahr lang gut funktionierte, kann man wohl kaum erwarten, bereits auf eine Fülle von Anekdoten zu treffen, um über diese einen Zugang zur Retention des Netzwerks zu erhalten. Es bleiben deshalb vermutlich nur die Verhaltensweisen, in denen sich die Kultur des Netzwerks spiegelt. Aber wie kann man empirisch aus nichts als dem Vorliegen von verschiedenen Handlungen unterschiedlicher Netzwerkpartner auf eine in diese Handlungen eingelagerte gemeinsame Kultur schließen? Dies kann – wenn überhaupt – nur gelingen, wenn das, was als Kultur gelten soll, von etwas anderem, was Kultur nicht sein soll, abgrenzbar ist. Für eine solche Diskriminierung steht in der Soziologie der Begriff der sozialen Norm zur Verfügung. Es gibt derer allerdings viele, und ich 78
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
will mich im folgenden auf den Begriff der sozialen Norm beziehen, wie ihn Niklas Luhmann vorgeschlagen hat. Er versteht unter sozialen Normen diejenigen Erwartungen, an denen eine Gemeinschaft auch dann festhält, wenn gegen sie verstoßen wird (Luhmann 1980: 43). Normative Erwartungen werden zwingend erwartet, und dies heißt, daß es Konsequenzen hat, wenn man sich als Teil einer Gemeinschaft nicht an die gemeinsamen Normen hält. Anders als die meisten Vorstellungen über soziale Normen stellt aber Luhmann dem Normbegriff nicht den Begriff der Sanktion an die Seite, sondern das Reparieren der verletzten Norm durch die Vergewisserung ihrer Geltung.3 Bei Normbruch reicht dann eine wechselseitige Vergewisserung der Normgeltung aus, und die Sanktion wird zur Ausnahme. Bei Normbruch hilft oft bereits ein Gespräch mit einer dritten Person, um den Ärger abzumildern, da diese dritte Person einen darin bestätigen kann, daß nicht das eigene, sondern das fremde Verhalten das Falsche war. Im Hinblick auf die empirische Untersuchung kann mit dieser Begriffsbildung zum einen der Begriff der Kultur näher definiert werden, da als Kultur diejenigen Verhaltenserwartungen angesehen werden sollen, welche die Akteure des Netzwerks voneinander als normales einer Situation angemessenes Verhalten und insofern also normativ erwarten und welche zugleich den Beziehungszusammenhang des Netzwerks fortschreiben. Andererseits verknüpft sich damit der Vorteil einer empirischen Zugänglichkeit der als angemessen erachteten Verhaltensweisen, da die Vergewisserung einer Normgeltung eben nicht nur anhand von Sanktionen sichtbar wird, sondern auch aus zahlreichen unprätentiösen anderen Situationen herausgelesen werden kann wie beim gemeinsamen Lästern über ein Verhalten und Äußerungen des Enttäuschtseins schlechthin. Richtiges Verhalten wird andererseits über Anerkennung und Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Abschließend lassen sich die Überlegungen zu einer Entwicklung des Netzwerks nach der Chronologie der Phasen des Modells des Orga3
Bei Berger und Luckmann (1977: 179) fällt der Begriff der Norm mit dem, was normal ist, zusammen. Man kann dann schlecht zwischen Lernen und zeitstabilen kontrafaktischen Erwarten diskriminieren, weil jegliche Erwartungsanpassung dann die Anpassung einer normativen Erwartung wäre. Während der Normbegriff bei Berger und Luckmann zu umfassend erscheint, so diskriminieren beispielsweise Eichner (1981: 24), Popitz (1961) und Spittler (1967: 27) viel zu sehr. Bei ihnen ist eine normative Erwartung an eine negative Sanktion geknüpft. Norm ist, wenn ein Verstoß sanktioniert wird, wodurch er wiederum Erwartungen nicht als normativ faßt, wenn man an diesen kontrafaktisch festhält ohne sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen, obgleich gegen sie verstoßen wurde. Dies kommt aber massenhaft vor, im Straßenverkehr beispielsweise. 79
INNOVATION UND KOOPERATION
nisierens in den folgenden Fragen für die empirische Untersuchung zusammenfassen: Blockaden: • Inwiefern differierten die Sensemakingkulturen der beteiligten Ateure beim Start des durch EU-Mittel initiierten Kooperationsverbunds? • Ist der Umstand, daß es zunächst keine oder kaum Kooperationen gab, tatsächlich auf divergierende Sinnkulturen zurückzuführen oder lassen sich dafür auch andere Gründe finden? Ökologischer Wandel: • Kann man rückblickend einen Punkt ausmachen, an dem es Zweifel an der bisherigen Handlungspraxis gegeben hatte? Gestaltung: • Wie, wann und weshalb änderten sich Handlungsweisen der Akteure untereinander? Welche veränderten Sichtweisen und Handlungsweisen führten dazu, daß die Akteure enger und häufiger kooperierten und die Kooperation im Netzwerk selbstmotiviert stattfand? Selektion: • Gab es verschiedene Interpretationen über die Zusammenarbeit im Netzwerk? Wie wurde damit umgegangen? Kam man zu einer Einigung? • Wenn ja, kann man von einer gemeinsamen Deutung der Wirklichkeit in diesem Zusammenhang sprechen? Retention: • Spiegelt sich das aktuelle Sensemaking in der Kultur des Netzwerks, ist das spezifische Sensemaking tatsächlich in Routinen, Handlungsweisen und Selbstreflexionen verankert?
3.2
Netzwerke und organisationale Felder
Weil die vorliegende Studie die Entstehung von Kooperation untersucht, dabei jedoch das Anstoßen von Aktivitäten nicht aus der Konstellation der Akteure zueinander heraus erklärt wird, handelt es sich bei dieser Studie streng betrachtet nicht um eine Netzwerkanalyse (vgl. dafür Jansen 1999), denn aus der Beschaffenheit des Netzwerks werden keine
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FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
Rückschlüsse auf dessen Performanz gezogen.4 Ungeachtet der Tatsache, daß sich auf die Entstehungsbedingungen eines spezifischen Netzwerks konzentriert wird, so geht es doch eher um die Entstehung von Aktivität, von Kooperation, von gegenseitiger Wahrnehmung und Abstimmung in der Region im allgemeinen und weniger um besondere Konstellationen von Akteuren. Insofern gilt es zu diskutieren, ob das Untersuchungssujet nicht besser als Entstehung eines organisationalen Feldes zu bezeichnen wäre. Als organisationale Felder bezeichnen Paul J. DiMaggio und Walter W. Powell (1983: 148) „those organizations, that in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services or products.“ Diese Definition stimmt mit der Definition von Clustern (vgl. Kap. 1.2) überein, beinhaltet aber zugleich sowohl weniger als auch mehr als ein Cluster. Organisationale Felder sind diagnostizierbar, wenn von Clustern noch nicht gesprochen werden würde. Ein organisationales Feld liegt nämlich bereits vor, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind (DiMaggio und Powell 1983: 148f.): Erstens muß eine Zunahme von Interaktionen zwischen Organisationen im Feld zu verzeichnen sein, zweitens sollte die Entstehung von Kooperations- und/oder Dominanzbeziehungen zwischen einigen Organisationen des Feldes zu beobachten sein, dies führt drittens zur Zunahme von Informationen zwischen den Organisationen des Feldes; und schließlich nehmen sich viertens die in einem Feld liegenden Organisationen gegenseitig zur Kenntnis und sind sich des Vorhandenseins des Feldes bewußt, und als Folge entstehen daher gemeinsame Deutungsmuster (ebd. 150). Zwar treffen all diese Bedingungen auch auf Cluster zu, entscheidend jedoch ist, daß sie in Erscheinung treten bevor ein Cluster als solcher erkennbar wird. Das organisationale Feld ermöglicht es daher begrifflich, etwas als Einheit zu fassen, was eventuell ein frühes Entwicklungsstadium eines Clusters ist, aber noch nicht als solcher sichtbar in Erscheinung tritt. Als Cluster werden in der Regel voll ausgebildete und als solche insbesondere volkswirtschaftlich gut sichtbare Wirtschaftsregionen bezeichnet, währenddem eine Wahrnehmbarkeit von außen bei organisationalen Feldern nicht vorausgesetzt wird. Ob ein organisationales Feld besteht, hängt davon ab, ob sich Organisationen gegenseitig wahrnehmen und ihr Handeln in irgendeiner Weise aufeinander bezie-
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Für Netzwerkstudien, die aus der Akteurkonstellation heraus die Performanz eines Netzwerks studieren, vgl. beispielsweise Burt (1992) sowie Emirbayer und Goodwin (1994). 81
INNOVATION UND KOOPERATION
hen, unabhängig davon, ob dieses Feld eine bestimmte Größe, Wahrnehmbarkeit oder volkswirtschaftliche Relevanz hat. Betrachtet man die Entstehung eines Clusters, so setzt der Feldbegriff sehr viel früher ein, in jedem Fall wird zuerst ein organisationales Feld entstehen, bevor es als Cluster beobachtbar wird. Insofern ist ein organisationales Feld weniger als ein Cluster und gerade deshalb als Rahmenbegriff für diese Studie geeignet, denn in der Tat kann man die Entstehung von Aktivität in der Region als Entstehung eines organisationalen Feldes bezeichnen. Organisationale Felder können aber auch weit mehr beinhalten als mit Clustern gemeint ist, denn ein organisationales Feld kann auch internationale Verbindungen zwischen Organisationen beinhalten (Walgenbach 2000: 38). Damit umgeht der Begriff der organisationalen Felder eine Schwierigkeit, die sich der Clusterbegriff, der regionale Agglomerationen voraussetzt, einhandelt. Denn mit dem Begriff Cluster kommt man nicht umhin anzugeben, was denn nun eine Region sein soll. Zumeist wird auf politische Einheiten verwiesen, wie etwa Staaten (Lundvall 1992) oder kleinere politische Einheiten wie Bundesstaaten (Cooke 2001), in jedem Fall handelt es sich um eine politisch-administrative räumliche Einheit. Durch die EU gibt es neuerdings auch mehrere staatenübergreifende administrative Einheiten wie beispielsweise die EUREGIOs, mit denen Grenzregionen zwischen zwei Ländern benannt wurden, deren Grenzkontakte mit Hilfe eines Förderprogramms intensiviert werden sollen. Mit dieser Zweiteilung, nämlich politischadministrative räumliche Einheiten einerseits und Vernetzungsaktivität zwischen Akteuren, die sich in diesen Einheiten befinden, andererseits, läuft man Gefahr, in ein mehr oder weniger plumpes Ursache-Wirkungsdenken von politischen Initiativen zu regionalen Auswirkungen zu verfallen. Zudem wird man dann immer mit dem Problem zu tun haben, daß sich regionale Agglomerationen zumeist nicht an politisch-administrative Grenzziehungen halten. Im Begriff organisationaler Felder taucht dieses Problem nicht auf, denn ein Feld wird durch die Akteure und ihre vielschichtigen, wechselseitigen Verbindungsmuster erst geschaffen, und dies kann, muß aber nicht in räumlicher Nähe vorliegen. Auch im Fall der untersuchten Fallstudie war das organisationale Feld nicht identisch mit der administrativen Einheit zweier benachbarter Euregiogebiete. Das organisationale Feld ist zum einen nicht im ganzen Euregiogebiet vorhanden und zum anderen geht es an einigen Stellen über die Euregiogebiete hinaus. Zentral für die Entstehung des untersuchten organisationalen Feldes ist die Entstehung einer netzwerkartigen Beziehung zwischen mehreren Organisationen, dessen Gründung durch Euregiofördermittel ins Leben gerufen worden war. Der Umstand, daß durch ein politisches Förderprogramm die Vernetzung im Grenzgebiet 82
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
gefördert werden sollte, zeigt an, daß die anvisierte Vernetzung zunächst nicht mehr als eine diskursive Schablone war und gerade deshalb hier keine klassische Netzwerkanalyse zum Zuge kommen kann. Das Netzwerk kommt als realer Zusammenhang erst am Ende der Studie vor, da sozusagen mit der Lupe frühe soziale Strukturbildungen betrachtet werden. Es werden also nicht Cluster oder auch einzelne Netzwerke als Gesamteinheiten betrachtet, sondern die Entstehung von wechselseitigem Wahrnehmen regional nah liegender Organisationen, die Aufnahme von Kontakten, Kooperationen und weiterer Aktivitäten. Der Gegenstand der Untersuchung ist deshalb wohl am ehesten mit dem Begriff eines organisationalen Feldes zu bezeichnen. Der Begriff des organisationalen Feldes wird jedoch selbst als analytische Größe in der Studie verzichtbar, denn dort geht es um die Entstehung der Merkmale des organisationalen Feldes, nämlich Interaktion, wechselseitige Bezugnahmen, Kooperation und schließlich vor allem auch um die Entstehung des bereits angesprochenen Netzwerks, für dessen Entwicklung das entstehende Netzwerk selbst eine zentrale Rolle spielte, und zwar deshalb, weil mit dem beginnenden Netzwerk neue netzwerkeigene kollektive Deutungen entstanden, die letztlich zum Impulsgeber neuer Interpretationsweisen der bestehenden Wirklichkeit der mit dem Netzwerk interagierenden Organisationen wurden. Und genau aus diesem letztgenannten Grund, daß Netzwerke nämlich kollektive Deutungshorizonte zu entwickeln vermögen, ist der Netzwerkbegriff für diese Studie unverzichtbar.
3.3
N e t z w e r k e a l s k o l l e k t i ve Deutungshorizonte
Wie oben bereits deutlich wurde, wird hier davon ausgegangen, daß mit dem Beginn der Gestaltungsphase und damit mit der Entstehung des Netzwerks auch eine neue Sensemakinggemeinschaft entstand. Die Netzwerkakteure entwickelten ihre eigene Deutung der Wirklichkeit, die sie in dieser Weise exklusiv miteinander verbindet und sich so weder in ihren Organisationen noch in ihren professionellen Zugehörigkeiten findet. Um diesen Sachverhalt näher erläutern zu können, ist es zunächst erforderlich, klarer zu fassen, was als Netzwerk verstanden wird. Deshalb wird der Netzwerkbegriff im folgenden zunächst definiert und dann nach unten hin von Beziehungen im allgemeinen und nach oben hin von Organisationen im besonderen abgegrenzt.
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INNOVATION UND KOOPERATION
Wie bereits erwähnt wurde, wird für diese Untersuchung ein eingeschränkter Netzwerkbegriff5 verwendet, für den ich mich am Konzept des Unternehmungsnetzwerks von Arnold Windeler orientiert habe (Windeler 2001: 224ff.).6 Als Netzwerke sollen nur solche Beziehungsstrukturen verstanden werden, die zwischen mindestens drei voneinander unabhängigen Akteuren bestehen7 und die von relativer Dauer sind (ebd.: 233). Das Besondere an dieser Definition ist nun, daß nicht die Akteure, sondern ihr Beziehungszusammenhang zum Bezugspunkt der Begriffsdefinition gewählt wird. Eine Aktivität – und das kann sehr verschiedenes sein, wie beispielsweise eine soziale Interaktion, eine Forschungshandlung, die Durchführung einer Veranstaltung, ein Informationsgespräch oder die Vorbereitung einer Organisationsentscheidung – ist damit nur dann eine Aktivität des Netzwerks, wenn sie von einem oder mehreren Netzwerkpartner(n) im Rekurs auf andere Aktivitäten oder Ressourcen weiterer Netzwerkpartner erfolgt (ebd.: 233) und zugleich von den Akteuren selbst als Aktivität des Netzwerks diesem zugerechnet wird (ebd.). Mit dieser Definition lassen sich Netzwerke erstens von anderen Beziehungen unterscheiden, und zweitens heben sie sich dadurch ebenfalls von Organisationen ab. Entscheidend für diese Abgrenzbarkeit ist die wechselseitige Definition der relativen Dauer durch den Beziehungszusammenhang und umgekehrt des Beziehungszusammenhangs als „einzelne Dyaden übergreifend“ (Windeler 2001: 233; im Original kursiv). Relative Dauer ist nämlich gerade nicht das bloße Andauern von Zeit. Dann wäre die regelmäßige gemeinsame Einnahme eines Mittagessens bereits hinreichend für die Definition dieser Gruppe als Netzwerk. Die relative Dauer wird gerade nicht durch ein Hintereinanderschalten episodenhafter Interaktionen konstituiert, sondern durch einen Beziehungszusammenhang, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Akteure in ihrer
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Andere Netzwerkkonzepte verstehen bereits die Kontaktstruktur einzelner Akteure, die sowohl Personen als auch Organisationen sein können als Netzwerk (Emirbayer und Goodwin 1994). Die strukturationstheoretischen Implikationen dieses Konzeptes durch Windeler (2001) finden hier aber keine Berücksichtigung, weil der Fokus auf zirkuläre Mechanismen und Sensemaking nach Karl Weick gelegt wird und keine strukturationstheoretische Studie intendiert ist. Windeler spricht allerdings nicht von Akteuren, sondern von Unternehmungen, die sich durch „vornehmlich ökonomische Aktivitäten“ auszeichnen (Windeler 2001: 228). Die Rede von Akteuren verbleibt demgegenüber sehr offen und schließt sowohl Einzelpersonen wie auch Organisationen als Akteure ein, wobei letztere neben ökonomischen Aktivitäten auch primär andere Aktivitäten verfolgen können wie forschen, verwalten, ausbilden und erziehen etc.
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
Aktivität sich auf vergangene Aktivitäten anderer Netzwerkpartner beziehen und zugleich ihre eigenen Aktivitäten auch unter der Prämisse eines Fortbestehens der Kooperationsbeziehung stattfinden. Auf diese Weise werden „Geschehenszusammenhänge relational miteinander verbunden“ (ebd.: 126). Jede Aktivität wird auf diese Weise in einen Kontext vergangener und zukünftig erwarteter weiterer Aktivitäten der anderen Partner plaziert. Es ist dieses Ausgreifen in die Vergangenheit einerseits und die Zukunft andererseits, durch die eine Verkettung von Erwartungen und damit ein Geschehenszusammenhang von ineinandergreifenden und aufeinander aufbauenden Aktivitäten und somit „unu actu“ auch der Beziehungszusammenhang entsteht. Die relative Dauer ist daher durch den Beziehungszusammenhang definiert, wie auch dieser durch die Zeithorizonte erst räumlich als Beziehungszusammenhang Gestalt annimmt (Windeler 2001: 126).8 Reziproke Beziehungen stellen einen typischen Fall solcher rekursiven Verweisungen dar, bei denen Geben und Nehmen zeitversetzt stattfinden und durch Vertrauen in das Fortbestehen der Beziehung gedeckt werden. Als Beziehungszusammenhang von mindestens drei Akteuren mit relativer Dauer fallen sowohl Dyaden als auch Ketten von Dyaden oder Ketten von Gruppentreffen oder auch dasjenige, was als Kontaktnetzwerk bezeichnet wird, nämlich die Summe der Kontakte einer Einzelperson, die untereinander nicht einmal voneinander Kenntnis haben müssen, nicht unter die hier verwendete Definition eines Netzwerks. Organisationen werden über die drei Merkmale formale Mitgliedschaft, Stellen als Definitionen der Zuständigkeit von Mitgliedern und Kommunikationswege als Verknüpfung zwischen den Stellen definiert, die sich beliebig variieren lassen (Luhmann 1975a).9 Während Stellen und Kommunikationswege nicht formal festgelegt sein müssen, ist es die Mitgliedschaft immer, und darin zeigt sich eine entscheidende Differenz zwischen Netzwerken und Organisationen. Wer Mitglied in einer Organisation wird oder andersherum, wer diese aufgibt, durchschreitet eine eindeutige Grenze, die für alle beteiligten Personen als zeitpunktbe-
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Windeler (2001: 126), auf dessen Netzwerkdefinition ich mich beziehe, argumentiert selbst allerdings ausschießlich mit dem Vergangenheitsbezug von Netzwerken. Den Zukunftsbezug thematisiert er nicht, wohl aber Luhmann (2000). Und das trifft erst auf die moderne Organisation zu. In den mittelalterlichen Handwerksbetrieben waren beispielsweise die Lehrlinge als ganze Person in das Haus inkludiert. Die Rekombinationsmöglichkeiten sind ein spezifisch modernes Phänomen, vgl. dazu ausführlicher Alfred Kieser (1989). 85
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zogenes Ereignis klar wahrnehmbar ist.10 Anders verhält sich dies bei Netzwerken. Wenn die Beziehungen nicht mehr aktualisiert werden, dann endet der Beziehungszusammenhang, und gerade die Tatsache, daß die anderen Netzwerkpartner nachfragen müssen, was dies zu bedeuten habe, zeigt auch, daß keine eindeutige zeitpunktbezogene Grenzziehung über die Teilnahme am Netzwerk existiert, weshalb man auch nicht von einer formalen Mitgliedschaft sprechen kann. Die formale Mitgliedschaft wird insofern zu einem Kriterium, anhand dessen zwischen Netzwerken und Organisationen diskriminiert werden kann.11 Ein weiterer Unterschied zwischen Netzwerken und Organisationen wird deutlich, wenn wir die Konzeption von Organisationen von Niklas Luhmann heranziehen. Er sieht Organisationen als soziale Systeme an, die aus Entscheidungen bestehen (Luhmann 1981: 339f.). Jede Entscheidung ist wie ein Einschnitt in die Wirklichkeit, auf deren Grundlage nicht mehr alles, sondern nur noch bestimmtes möglich ist. Jede Entscheidung ruht auf den Schultern vorheriger Entscheidungen und ebnet durch ihre Selektivität den Weg für weitere Entscheidungen. Eine Schule beispielsweise, in der ja bekanntlich mehr unterrichtet als entschieden wird, zeichnet sich jedoch als Organisation darin aus, daß sie jegliches Verhalten von Lehrern und Schülern zum Gegenstand von Entscheidungen machen kann (vgl. Luhmann 1981: 339). Ist es rechtmäßig, zu spät kommende Schüler vom Unterricht auszuschließen? Ist Frontalunterricht noch pädagogisch angemessen? Weil Organisationen ihre Mitglieder, ihre Programme und ihre Stellen an ihren Aktivitäten ausrichten können, haftet ihnen etwas Künstliches, Gemachtes an. Mit dieser Definition gewinnen wir nun neben dem formalen Unterscheidungskriterium zwischen Organisationen und Netzwerken über 10 Die Unterschrift in einem Arbeitsvertrag enthält einen klaren Termin für den Eintritt in die Organisation, eine Kündigung wiederum einen Austrittstermin, ganz gleich ob es sich bei der Organisation um ein Wirtschaftsunternehmen, einen Sportverein, eine Kirche, einen Kindergarten etc. handelt. 11 Obgleich der Ausgangspunkt für die hier dargestellte Netzwerkkonzeption von Windeler (2001) stammt, wird an diesem Punkt deutlich, daß die Interpretation dieses Konzepts aus der Perspektive einer konstruktivistischen Lesart von Karl Weicks Konzept zu anderen Schlußfolgerungen führt, als die Einbettung des Konzepts in die Giddensche Strukturationstheorie, wie sie Windeler umsetzt. Für Windeler können Netzwerke sich in Form von Vereinen zusammenschließen (Windeler 2001) und als kollektive Akteure auftreten (vgl. Sydow et al. 1995). Wenn Netzwerke allerdings mit Vereinen identisch sein können, so muß man sich fragen, wie dann zwischen Organisationen und Netzwerken unterschieden wird. In der Organisationstheorie werden Vereine als Organisation definiert (vgl. dafür etwa das Lehrbuch von Kieser/Kubicek 1992: 1). 86
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
Mitgliedschaft noch ein inhaltliches hinzu: Organisationen entscheiden, Netzwerke jedoch nicht. In Netzwerken werden Entscheidungen von Organisationen durchaus abgestimmt, vorbereitet und eingefädelt und natürlich noch vieles andere auch bewerkstelligt, jedoch stehen ihnen nicht die Konditionierungsmöglichkeiten zur Verfügung, die Organisationen über die Variation von Stellen, Mitgliedern und Kommunikationswegen verfügen. Netzwerkpartner können untereinander Absprachen treffen, sind aber immer an den good will der Partner gebunden. Aus eben dieser Unfähigkeit, formale Entscheidungen treffen zu können, können Netzwerke auch nicht als Einheit, als ein Akteur auftreten. Nachdem Netzwerke gegenüber anderen sozialen Beziehungen abgegrenzt wurden, bleibt es nun noch danach zu fragen, wer denn als Akteur in einem Netzwerk in Frage kommt. Dies können ganze Organisationen sein, wenn also Repräsentanten einer Organisation wie beispielsweise Manager für ihre Organisation sprechen können, aber auch Einzelpersonen. Besteht ein Netzwerk zwischen Personen, dann kann dieses Netzwerk innerhalb einer großen Organisation existieren (Cooke und Morgan 1993) oder auch zwischen Funktionsträgern verschiedener Organisationen gespannt sein. In den beiden letztgenannten Fällen verläuft die Grenze des Netzwerks mitten durch Organisationen hindurch, was dazu führen kann, daß die größten Förderer und die schlimmsten Hindernisse für ein Netzwerk innerhalb der eigenen Organisation auftreten können. Dieses Teilkapitel abschließend kann nun schließlich die für diese Studie überaus wichtige Frage beantwortet werden, ob denn in Netzwerken ein gemeinsames Sensemaking stattfindet. Denn, wenn man davon ausgeht, daß die Entstehung des Netzwerks insbesondere dadurch zustande kommt, daß ein gemeinsames Sensemaking im Sinne gemeinsamer Deutungshorizonte entsteht und die Zusammenarbeit der Netzwerkpartner in wesentlichen Teilen genau darauf fußt, so ist die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit der Entstehung eines solchen Deutungszusammenhangs in einem Netzwerk eine vordringliche. Wenn Netzwerke über wechselseitig aufeinander bezogene Aktivitäten definiert werden, dann kann man solche Beziehungsketten als „Organisieren“ im Sinne von Weick klassifizieren. Organisieren ist ja das Aneinanderanschließen und das wechselseitige Interpretieren einer Aktivität durch die vorherigen und die nachfolgenden Aktivitäten. Damit wird Mehrdeutigkeit reduziert, und es kristallisiert sich ein spezifischer Sinn heraus. Damit sich gemeinsame Deutungen der Wirklichkeit interaktiv herauskristallisieren können, sind längere Beziehungsketten zwischen den verschiedenen beteiligten Akteuren notwendig. Wenn sich also ein Netzwerk als sozialer Beziehungszusammenhang zwischen meh87
INNOVATION UND KOOPERATION
reren Akteuren von relativer Dauer bildet, dann kann man davon ausgehen, daß sich darin in der Tat ein eigener Deutungszusammenhang, ein spezifisches Sensemaking mit einer eigenen netzwerkspezifischen Kultur entwickelt.
3.4
Methodik
3.4.1 Das Forschungsdesign im Überblick Die Verwendung eines qualitativen Forschungsdesigns ergibt sich unmittelbar aus der Theorie und den daraus entwickelten Forschungsfragen. Die Divergenz subjektiver Weltkonstruktionen und ihre Angleichung in einem Sensemakingprozeß lassen sich wohl kaum anhand standardisierter Indikatoren erheben. Dies liegt vor allem daran, daß die Alternativität der eigenen Weltkonstruktion den Individuen in der Regel nicht bewußt ist und daher auch nicht einfach abfragbar ist. Ein dichtes Datenmaterial, durch Beobachtung etwa oder reichhaltige Erzählungen, ist deshalb geeigneter, um „zwischen den Zeilen“ die relevanten Deutungsstrukturen zu erschließen. Angesichts der Wahrscheinlichkeit retrospektiver Verzerrungen wäre es zweifelsohne am besten gewesen, die Entstehung eines Netzwerks beobachtend mitzuerleben. Damit handelte man sich aber andererseits entweder das nicht unerhebliche Risiko ein, daß das Netzwerk längere Zeit benötigen könnte, um sich zu entfalten, als dem Forschungsvorhaben zur Verfügung steht oder aber daß die beobachteten Kooperationsbemühungen sich nach einiger Zeit im Sande verlaufen und die Forscherin ohne rechte Ergebnisse verbleibt. Die Beobachtung eines gescheiterten Netzwerkgründungsversuchs wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu keinerlei verwertbaren Ergebnissen führen, da jede Identifikation eines Scheiterns reine Spekulation bliebe, solange man nicht weiß, was man hätte anders machen müssen, um das Scheitern zu verhindern. Da dies aber gerade die zu füllende Leerstelle der Forschung ist, kann die Beobachtung eines Scheiterns lediglich eine Anekdote hervorbringen. Gewinnbringender erschien es deshalb, ein junges Netzwerk zu suchen, dessen Gründung noch nicht lange zurückliegt und dessen erfolgreiches Weiterbestehen bereits sichtbar ist. Diesen Kriterien entsprach das hier untersuchte Lack- und Oberflächentechniknetzwerk, da erste Gründungsbemühungen nur fünf Jahre zurücklagen und das Netzwerk zum Zeitpunkt der Untersuchung im Jahr 2002 erst seit etwa einem Jahr gut funktionierte und damit gerade erst auf den Weg gebracht war.
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FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
Aus dem Umstand, daß der Untersuchungsgegenstand in der Vergangenheit liegt und deshalb nicht beobachtet, sondern rekonstruiert werden muß, folgt der Einsatz von Interviews als Methode der Datenerhebung. Mit einer rekonstruierenden Vorgehensweise handelt man sich allerdings das Problem retrospektiver Verzerrungen ein, ein Problem, welches ich in bezug auf die Datenerhebung vermittels des Einsatzes narrativer Interviews zu begegnen suchte und auf der Ebene der Datenanalyse durch die Methode des qualitativen Experiments. Beide Methoden werde ich im Anschluß an die Darstellung der Untersuchungsphasen ausführlicher erläutern. Phasen der Untersuchung Die Untersuchung läßt sich in die folgenden vier Phasen unterteilen, die aber in ihrer Länge sehr unterschiedlich waren. Die Suche nach dem geeigneten Forschungsgegenstand dauerte etwa drei Monate, die Annäherung und Vorbereitung der Untersuchung ebenfalls. Die Interviews selbst wiederum waren bereits nach zwei Monaten beendet, aber die Transkriptionen zogen sich über mehrere Monate hin. Die mit Abstand längste Zeit hat die Datenanalyse, die wiederum in mehreren rekursiven Phasen vor sich ging, in Anspruch genommen. Die Suche nach einem geeigneten Forschungsgegenstand Nachdem die grundlegende Forschungsfrage mit der Untersuchung der Entstehungsmechanismen eines regionalen Innovationsnetzwerks gefunden war, bestand die erste Phase der eigentlichen Untersuchung darin, einen geeigneten Forschungsgegenstand aufzufinden. Dies gestaltete sich weit schwieriger als zunächst angenommen. Da die bereits länger existierenden bekannten Netzwerke aufgrund der geforderten Neuheit des Netzwerks nicht in Frage kamen, schrieb ich Netzwerke an, die gerade durch die Bundesinitiative „Kompetenznetzwerke“ gefördert wurden. In diesem Rahmen führte ich drei Gespräche mit Koordinatoren verschiedener Netzwerke. Wie sich herausstellte, war keines der Netzwerke bereits ein Netzwerk, wenn man unter einem Netzwerk, wie es in dieser Untersuchung definiert wird, eine längerfristige Beziehung von mindestens drei organisationalen Akteuren ansieht, im Rahmen derer die Akteure immer wieder miteinander kooperieren (vgl. Windeler 2001: 224). Die Kompetenznetzwerke standen gerade am Beginn ihrer Förderzeit und hatten zwar vor, ein Netzwerk aufzubauen, wußten aber noch nicht genau, wie dies am besten zu bewerkstelligen war. Als ich in Ermangelung eines geeigneten Forschungsgegenstands schon kurz davor 89
INNOVATION UND KOOPERATION
war, die Forschungsfrage zu ändern, vermittelte mir ein Professor, der zu Innovationsnetzwerken forscht, den Kontakt zu dem hier untersuchten Netzwerk. Erste Annäherung und Vorbereitung der Interviews In der zweiten Phase habe ich die Untersuchung vorbereitet. Es fanden Informationsgespräche mit einigen zentralen Personen des Netzwerks statt, die mir einen ersten Eindruck von der Art der Zusammenarbeit der Netzwerkakteure im allgemeinen und ihrer Projekte im besonderen vermittelten. Das Netzwerk bestand aus einer engen Kooperation von vier Fachhochschulen und einem Technologieberatungsunternehmen. Diese Akteure pflegten enge Kontakte zu mehreren Verbänden. Diese Akteurkonstellation bildete einen regionalen Knotenpunkt, um den sich zahlreiche weitere regionale Kooperationen gruppierten. An diesem Knoten laufen auch heute noch die Fäden vieler Einzelakteure der Region zusammen. Mit der Entscheidung, die Untersuchung auf die Entstehung des Netzwerks als zentralen Knotenpunkt der Region zu konzentrieren, standen auch die relevanten zu interviewenden Partner fest und wurden mit der Bitte um ein Gespräch angeschrieben. Datenerhebung und Datenkorpus In den gerade genannten Institutionen (vier Fachhochschulen, ein Technologieberatungsunternehmen und fünf Verbände) wurden innerhalb eines Zeitraums von etwa zwei Monaten im Frühjahr 2002 insgesamt zwölf narrative Interviews durchgeführt, und zwar mit jeweils den Personen, denen zentrale Bedeutung für die Entstehungszeit der Kooperationsbeziehung zukam. Die Interviews waren zwischen eineinhalb und drei Stunden lang. Alle Interviews wurden auf Tonträgern festgehalten und anschließend vollständig transkribiert. Die Namen sämtlicher Interviewpartner wurden anonymisiert, indem sie durch fiktive Namen ersetzt wurden. Die zentralen im Netzwerk aktiven Organisationen und ihre wichtigsten institutionellen Unterstützer werden dagegen offen genannt und beschrieben, da anders eine spezifische Region nicht charakterisiert werden kann. Neben den Interviews kamen die Besichtigung von Laboren und zahlreiche Unterhaltungen zwischen „Tür und Angel“ hinzu bei gemeinsamen Mittagessen oder Fahrten von einem zum anderen Netzwerkpartner. Über diese Gespräche und meine Beobachtungen, während ich an Orten des Netzwerks präsent war, führte ich ein Feldbuch, in dem ich tagebuchartig meine Erlebnisse und Beobachtungen festhielt. Einige 90
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
wertvolle Hinweise und Anregungen für Interpretationen des Verhaltens der Netzwerkakteure gehen auf dieses Feldbuch zurück. Darüber hinaus hatte ich mehrere Informationsgespräche mit einem Unternehmensberater, der das Netzwerk zeitweilig beraten hatte und sehr gut kannte. Er stellte mir überdies auch seinen Abschlußbericht zur Verfügung, der auf April 2000 datiert ist und sich auf Interviews bezieht, die der Unternehmensberater im Winter 1999/2000 mit ungefähr derselben Personengruppe, die auch ich interviewte, geführt hatte. Der Unternehmensberater war engagiert worden, um ein Einschlafen des Netzwerks zu verhindern. Mit dem Bericht aber auch den Erinnerungen des Unternehmensberaters an die Zeit, bevor das Netzwerk ins Florieren kam, standen mir wertvolle Einblicke in diese Zeit zur Verfügung. Datenanalyse Die Analyse des schriftlichen und verschriftlichten Datenmaterials gestaltete sich als äußerst schwierig, weil die Erzählungen der Interviewten im großen und ganzen ungern Probleme erkennen ließen und nur wenige relevante Hinweise auf die Startschwierigkeiten enthielten. Es wurde deshalb notwendig, auch das „zwischen den Zeilen“ in die Auswertung einzubeziehen. Mit der weiter unten ausführlicher dargestellten Textanalysemethode des qualitativen Experiments (Kleining 1982; 1994) wurde eine Sensibilität für Widersprüche im Datenmaterial erzeugt und ein kreativer Umgang mit dem Datenmaterial gefunden. Endresultat war eine kompakte schriftliche Zusammenstellung aller Thesen und Ergebnisse, welche das Gerüst für die hier vorliegende Arbeit lieferte.
3.4.2 Das narrative Interview Mit der Fallrekonstruktion handelt man sich das Problem ein, nachträglich, nachdem man den „Ausgang der Geschichte“ kennt, den Weg dorthin genannt bekommen zu wollen, der vorher aber niemals als Weg zu dieser Lösung begriffen worden ist oder anders ausgedrückt: das Problem einer geläuterten, von allen Irrwegen und Auseinandersetzungen bereinigten und somit idealisierten auf einen spezifischen Gegenwartsoder gewünschten Zukunftszustand hin finalisierten Geschichtsdarstellung.12 Diese Problematik ist für die hier vorgestellte Fallstudie in be12 Ein typisches Beispiel für retrospektiv finalisierte Darstellungen bietet Ludwig Fleck in seiner wissenschaftssoziologischen Untersuchung der Entdeckung des ersten Nachweises von Antikörpern im Blut: Man hatte viele Jahre lang zahlreiche Versuche variiert und fand schließlich etwas, was man nicht gesucht hatte. Retrospektiv betrachtet, verwandelte sich die 91
INNOVATION UND KOOPERATION
sonderer Weise relevant, weil das funktionierende Netzwerk als markant hervorstechender Zielzustand sehr wahrscheinlich als Orientierungspunkt für die Art und Auswahl des Erzählten dient. Eine selektivfinalisierte Darstellung der Entstehungsgeschichte des Netzwerks würde das Interviewmaterial praktisch unbrauchbar machen, da gerade in der Art und Weise, wie man mit „Irrwegen“ und der Vielfalt anderer Möglichkeiten und Interpretationsweisen umgegangen ist und sich durch diese verändert hat, in der Art wie man Schwierigkeiten bewältigt und Unstimmigkeiten beigelegt hat, die Antwort auf die Entstehung des Netzwerks vermutet wird. Fritz Schütze (1982; 1983) hat jedoch eine Interviewmethode entwickelt, welche die eben geschilderte Problematik zu vermeiden verspricht. Schütze geht davon aus, daß die Erzählstruktur, die mit dem Erzählen einer Geschichte aufgebaut wird, zu „narrativen Zugzwängen“ führt, so daß auch unangenehme, als unbedeutend eingeschätzte oder lieber verschwiegene Begebenheiten erzählt werden müssen, weil dies der Erzählstrang erforderlich macht. Schütze unterscheidet drei verschiedene Erzählzwänge, die den Erzählverlauf wechselseitig vorantreiben (Schütze 1982: 575f.): Detailliertes Erzählen erzwingt eine Ausrichtung an der tatsächlichen Ereignisabfolge (Detaillierungszwang), während die Knappheit der Interviewzeit zur Kondensierung des Erlebten auf ein grobes Ereignisgerüst führt (Kondensierungszwang). Schließlich erzwingt der Gestaltschließungszwang die Einordnung des Erzählten als Episode in einer Ereigniskonstellation. Vor allem in Stehgreiferzählungen entfalten die genannten Zugzwänge anders als in Argumentationen oder Gesprächen ihre erzähltechnische Wirkung (Schütze 1983). Ein narratives Interview wird so durchgeführt, daß die Interviewpartner gebeten werden, die Entstehungsgeschichte aus ihrem Blickwinkel zu erzählen. Die Personen sollen, ohne durch Nachfragen unterbrochen zu werden, ihre Geschichte erzählen können. Fragen seitens der Interviewerin werden erst nach Beendigung der Erzählung gestellt. Es ist gerade das über längere Strecken fortgeführte selbständige Erzählen, durch welches die genannten Erzählzwänge zum Tragen kommen. Die Technik der narrativen Interviewführung wurde in der Biographieforschung entwickelt und ist nicht notwendigerweise einfach auf andere Kontexte übertragbar. Dies wird schon daran deutlich, daß man das eigene Leben unmittelbar selbst erlebt und sich kontinuierlich mit den eigenen Erlebnissen auseinandersetzen muß. Wichtig scheint dabei vor allem zu sein, daß die eigenen Erlebnisse bereits in Form von Erzählun„Zickzacklinie“ in einen „geraden, zielbewußten Weg“ (Fleck 1980/1935: 101). 92
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
gen sortiert und erinnert werden und somit auch als Erzählung wiedergegeben werden können. Es zeigte sich, daß die Entstehung des Netzwerks auf zwei verschiedene Weisen erinnert wurde: Einerseits war sie Teil individueller Berufsbiographien. Anstelle als abgerundete Erzählung in den Gedächtnissen der interviewten Personen vorzuliegen, wurde die Geschichte des Netzwerks nicht fertig, sondern episodenhaft als Einzelereignisse innerhalb der Chronologie der beruflichen Tätigkeit erinnert. Nicht selten benötigten die interviewten Personen Fragen als Anstoß, um eine nächste Episode zu erzählen. Andererseits gab es neben dieser Form eine zweite Form der Erinnerung, welche auf der Ebene der sozialen Gemeinschaft zu liegen scheint. Jan Assmann (1999) weist darauf hin, daß Gruppen und Volksgemeinschaften eine eigene Erinnerung über das Erlebte ausbilden. Es spielt sich sozusagen ein gemeinsamer Rückblick auf die Geschichte ein, der Erinnerung genannt wird und keinesfalls mit der Geschichte, wie sie erlebt wurde, identisch ist. Diese soziale, gemeinschaftlich geteilte Erinnerung wurde in der Regel als immer mehr oder weniger gleiche Kurzgeschichte der Netzwerkentstehung von fast allen interviewten Personen gleich zu Anfang wiedergegeben, und erst im Anschluß daran erinnerten sich die interviewten Personen aus ihrer Berufsbiographie heraus an einzelne Episoden. Diese Episoden wurden dann aber flüssig in längeren Erzählpassagen berichtet, in denen auch die Wirkungsweise der drei Erzählzwänge sichtbar wurde, was man – worauf Schütze (1982) auch hinweist – daran erkennen kann, daß die Erzähler ins Stocken gerieten, wenn sie merkten, daß sie gerade dabei sind, etwas zu erzählen, was sie an sich nicht erzählen wollten, oder wenn sie plötzlich etwas gerade Gesagtes nachträglich abzumildern versuchen. Im Rückblick betrachtet waren es gerade diese „Ausrutscher“, die den Blick auf die Irrwege, Mißverständnisse und Hindernisse frei gaben, die der Netzwerkentstehung entgegengestanden hatten und die letztendlich von den Akteuren erfolgreich überwunden worden waren. Gleichwohl die Methode nicht in der Konsequenz umgesetzt werden konnte, wie es bei biographischen Interviews der Fall ist, so konnte doch das Ziel erreicht werden, der retrospektiven Glättung der Geschichte in mancher Hinsicht „ein Schnäppchen“ zu schlagen, und sie hat insofern die zentralen Impulse für die weitere Datenanalyse zur Verfügung gestellt. Die narrative Interviewmethode brachte aber noch einen weiteren Vorteil mit sich: Da die Interviewten eine große Freiheit in der Auswahl der erzählten Episoden hatten, die auch genutzt wurde, wodurch aus jeder Perspektive sehr verschiedene Aspekte der Zusammenarbeit betont
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INNOVATION UND KOOPERATION
wurden, ließ sich auch die Auswahl des Erzählten wiederum als Information verwerten. Darüber hinaus wurde versucht, zu in den narrativen Erzählungen genannten Ereignissen möglichst weitere Beschreibungen anderer Akteure zu erhalten. Durch mehrere Perspektiven auf das gleiche Ereignis lassen sich Übertreibungen oder subjektive Einfärbungen leichter relativieren. Um solche Ereignisse, zu denen sich mehrere Netzwerkakteure äußern könnten, für weitere Interviews präsent zu haben, wurden die angesprochenen Themen nach jedem Interview ausgewertet und bestimmte Ereignisse oder Themen ausgewählt, um sie dann am Ende weiterer Interviews anzusprechen. Die Intervention eines Unternehmensberaters, bestimmte Projekte oder Konflikte waren beispielsweise Themen, zu denen die Interviewpartner gebeten wurden, ihre Sichtweise darzustellen.
3.4.3 Textanalyse: Das qualitative Experiment Für die Auswertung des Interviewmaterials habe ich mich an einer von Gerhard Kleining (1982; 1994) entwickelten Auswertungsmethode orientiert, die eine Heuristik für den experimentellen Umgang mit dem Datenmaterial vorgibt. Ziel dieser Heuristik ist die Entdeckung von Neuem, sie ist auf das „Finden, das Aufdecken von Verhältnissen, Relationen, Beziehungen, Abhängigkeiten gerichtet, die besondere sind für jeden Gegenstand“ (ders. 1994: 149). Für die Entwicklung der experimentellen Heuristik hat sich Kleining an Grundprinzipien qualitativer Experimente in den Naturwissenschaften orientiert, wie sie vor allem von Ernst Mach (1905) entwickelt wurden (vgl. Kleining 1994: 156f.). In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist der Gegenstand nicht immer ein natürlich gegebener, sondern kann beispielsweise auch ein Text, ein Interviewgespräch etc. sein. Als Heuristik für den Umgang mit diesem Gegenstand schlägt Kleining eine dreistufige Vorgehensweise vor (ebd.: 163ff.): In einem ersten Schritt geht es um das Auffinden von Extremen im Forschungsgegenstand. Extreme sind Ausprägungen „von etwas“ und somit die Wegmarken zu den essentiellen Strukturen des Gegenstands. Die Interviews zeigen eine auffällige Tendenz, die Entstehung des Netzwerks retrospektiv auf von Anfang an bestehende fachliche Komplementarität zurückzuführen. Diese Geschichte stand im Widerspruch zu Erzählungen, in denen Konkurrenz und die Suche nach möglichen gemeinsam durchführbaren Projekten als Probleme geschildert wurden. In der zweiten und zentralen Phase des Experiments erfolgt der eigentliche experimentelle Eingriff in den Gegenstand (Kleining 1994: 94
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
164). Die gefundenen Gegensätze, Widersprüche und andere Auffälligkeiten in den Texten werden spielerisch und gedankenexperimentell verschärft und auf die Spitze getrieben, um auszutesten, wie und ab wann sich der Textinhalt ändert. Die Maximierung von Gegensätzen resultierte in diesem Fall in der Kontrastierung der gefundenen Widersprüche zwischen Komplementarität und Zusammenhanglosigkeit, zwischen Konkurrenz und Kooperation. Diese gefundenen Widersprüche werden gesteigert, indem einerseits die Kontraste verstärkt werden und andererseits jedoch Ähnlichkeiten aneinander angeglichen werden, so daß die Grenze zwischen den Kontrasten stärker hervortritt und als Gegensatz erlebbar wird (ebd.). Paradoxien, die gerade dadurch gekennzeichnet sind, daß keine der möglichen Lösungen richtig oder falsch sein können, nennt Kleining als Beispiel für solche Grenzauslotungen, die erst die notwendige Kreativität freisetzen, die für eine in der dritten Phase sich anschließende Erklärungsfindung die Voraussetzung bildet. Kleining weist darauf hin, daß Thomas S. Kuhn (1978: 349) Anomalien eine hohe Bedeutung für die Neuorientierung der Wissenschaft zuschreibt. So weit wird hier zwar nicht gegangen, aber mit der Konzentration auf den Widerspruch wurde tatsächlich eine Neuorientierung der Erklärungsfindung in bezug auf die Fallstudie eingeleitet: Als Schlußfolgerung blieb in diesem Fall nichts anderes übrig, als den Widerspruch auf die Spitze zu treiben und u.a. zu konstatieren, daß die Kompetenzen der Akteure zugleich zueinander komplementär wie auch nicht komplementär waren. Die dritte Phase geht in die theoriegeleitete Auseinandersetzung mit der Empirie über. Eine logische Erklärung muß die Entstehung oder das Erscheinen als Widerspruch gleichsam miterklären. Dieses Unterfangen ist aber nur möglich, wenn eine tiefere Strukturebene mit einbezogen wird, durch welche das Erscheinungsbild an der Oberfläche hervorgebracht wird, was in diesem Fall zu einer Verschiebung des Blickwinkels führte, da nun das Interviewmaterial unter einer anderen Fragestellung betrachtet wird: Anstatt nach einem „was“ zu fahnden, wird jetzt der Widerspruch zum Ausgangspunkt genommen und danach gefragt, wie es möglich ist, daß etwas zugleich so und anders ist. Auf diese Weise wird nach den Bauprinzipien der Konstruktion von Realität gefragt, es wird nach Mechanismen und Aktivitäten gefahndet, die diese Widersprüche hervorgebracht haben. Es geht also nicht mehr darum, das äußere Erscheinungsbild zu beschreiben, sondern das äußere Geschehen wird als Symbol einer dahinter liegenden Ordnung13 oder als Text aufgefaßt, dessen Produziertheit erst archäologisch hervorgeholt werden muß
13 Clifford Geertz (1983) etwa hat die Ordnung der balinesischen Gesellschaft in den Symbolen des Hahnenkampfs zutage gefördert. 95
INNOVATION UND KOOPERATION
(Foucault 1973). Auch Karl Weicks Ansatz des Organisierens behandelt die Produziertheit der Realität und wurde in der dritten Experimentierphase zum Gegenpart der empirischen Daten. Ähnlich wie im Vorgehen der Grounded Theory (Strauss 1998) irritierten und inspirierten sich Theorie und Empirie wechselseitig. Die dritte Phase der Erklärungsfindung war daher vom wechselseitigen Impulsgeben zwischen Ideen aus Weicks Ansatz und den Datentexten und umgekehrt geprägt. Auf diese Weise wurde nach und nach die hier dargebotene Erklärung erarbeitet.
3.4.4 Theoriegeleitete Beobachtung und Beschreibung Die Intention dieser Arbeit ist es, die Entstehung des Netzwerks aus der spezifischen Perspektive des Ansatzes des Organisierens von Karl Weick heraus zu beobachten und zu beschreiben. Die Theorie wird nicht nur zur Interpretation vorher erzeugter neutraler Daten benutzt, sondern die beobachteten Daten werden aus dieser Sichtweise bereits durch die verwendete Theorie selbst erzeugt und anschließend durch diese wiederum beschrieben. Die Zirkularität des theoretischen Ansatzes gilt auch für den Ansatz selbst: Aus der Perspektive des Ansatzes von Karl Weick sieht man, wie Personen ihre Welt durch ihre eigenen Annahmen gestalten und zugleich erzeugt man – ebenfalls zirkullär – durch die Schemata und Phaseneinteilungen des verwendeten theoretischen Ansatzes die Daten, die man findet, selbst. Diesem Forschungsverständnis liegt die Auffassung zugrunde, daß es neutrale Daten grundsätzlich nicht gibt. Der Beobachter, der meint, er beobachte „neutral“ eine von ihm unabhängig existierende Welt, ist an der Produktion eben dieser Welt beteiligt. Mit der Verwendung einer zirkulären Theorie ist daher konsequenterweise auch ein zirkuläres Verständnis von Datenproduktion und Datenauswertung verbunden.14 Aus diesem Grund wird hier bewußt von der typischen Struktur empirischer Arbeiten abgewichen, bei der im Anschluß an den Forschungsstand eine Theorie zu Rate gezogen wird, aus der Hypothesen gebildet 14 Ein Beispiel für einen wissenschaftstheoretischen Ansatz, der explizit zirkuläre Zusammenhänge im Wissenschaftssystem aufzudecken sucht, ist die ethnomethodologische Wissenschaftsforschung, wie sie beispielsweise von Karin Knorr Cetina (1984) betrieben wird. Sie zeigt auf, wie Physiker und Laboranten gerade durch Kategorien und Einheiten ihres wissenschaftlichen Vorgehens ihre eigenen Forschungsdaten und Interpretationen selbst produzieren (Knorr-Cetina 2002). André Kieserling (2000: 72) weist aber darauf hin, daß die Vertreter dieses Ansatzes es leider versäumen, die Zirkularität auch auf sich selbst anzuwenden. Die Rhetorik sei empiristisch und die Determinationskraft von Wahrnehmungen stark überschätzt. 96
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
werden, wodurch der empirischen Untersuchung lediglich die Rolle eines Hypothesentests zukommt. In dieser Arbeit wird zwar ebenfalls ein Forschungsstand referiert, dann aber eine spezifische theoretische Sichtweise als Interpretationsbrille sozusagen aufgesetzt. Mit dieser Brille erscheint das zu erforschende schon deutlich fokussiert. Es entstehen Vermutungen und zum Teil sogar thesenartige Erwartungen darüber, wie Kooperation blockiert und die Blockierung aufgebrochen worden sein könnte. Dann aber – und hierin liegt der zentrale Unterschied zu einer empirischen Forschung als Hypothesentest – folgt eine theoriegeleitete interpretative Beschreibung des untersuchten Falls. Auf die Produktion angeblich „neutraler“ Daten durch eine theorielose, scheinbar objektive Präsentation reinen Datenmaterials wird verzichtet. Die Präsentation des empirischen Falls gestaltet sich vielmehr als ein Wechselspiel zwischen theoretischen Reflexionen und empirischer Indiziensuche. Das Resultat ist dann also eine theoriegeleitete Beschreibung der vorgefundenen Ereignisse und gerade keine theoriefreie Darstellung der Wirklichkeit, bei der erst im abschließenden Teil die aus der Theorie gewonnenen Hypothesen auf die Wirklichkeit angesetzt werden, um die Theorie, wie es so schön heißt, zu testen. Der Gewinn dieser Arbeit besteht in der Beschreibung des Falls aus dieser speziellen theoretischen Sichtweise und gerade, indem dies geschieht, unterscheidet sich die Beschreibung von anderen Beschreibungen mit anderen Theoriebrillen. Ein Sachverhalt kann also niemals theoriefrei wahrgenommen werden. Ein zirkuläres Wissenschaftsverständnis nimmt von der prinzipiellen Möglichkeit objektiver Erkenntnis grundsätzlich Abstand. Freilich gibt es heutzutage wohl niemanden mehr, der tatsächlich ernsthaft die Auffassung vertreten würde, daß man sich mit einem Hypothesentest der Realität nähern würde. Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, daß wir keinen Durchgriff auf die Realität haben wie sie ist. Dennoch hat diese Erkenntnis nicht zu einer andersartigen Darstellung der Forschungsergebnisse geführt. Weiterhin werden wissenschaftliche Ergebnisse häufig in der Dreiteilung theoriegeleitete Thesenbildung, empirischer Test und abschließende Reflexion der Forschungsergebnisse präsentiert. Die Fiktion eines Tests an der Realität der Daten wird methodisch aufrechterhalten, gleichwohl man weiß, daß es sich um nicht mehr als eine Fiktion handelt.15 Dies geschieht, um den Forschungsprozeß diskutabel zu halten, weil es auf diese Weise eben klare Anforderungen gibt, anhand derer die guten von den schlechten Ergebnissen zu trennen sind.
15 Über die Künstlichkeit der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse vgl. beispielsweise Karin Knorr-Cetina (1984: 210ff.). 97
INNOVATION UND KOOPERATION
Mit dem Verzicht auf die Fiktion einer externen und insofern neutralen Qualitätsüberprüfung wissenschaftlichen Wissens durch eine wie auch immer bewußt durchgeführte Rekonstruktion der Empirie als externe Daten handelt man sich schnell den Einwand wissenschaftlicher Beliebigkeit ein. Wenn es keine objektiven Qualitätsstandards gibt, dann könnte man unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Ästhetik alles Mögliche unterbringen.16 Aber wozu benötigt man eine Verschleierungstechnik, die Aufrechterhaltung einer Fiktion, um qualitativ hochwertige wissenschaftliche Ergebnisse zu produzieren? Die Methodik der Fiktion kann ohne Qualitätsverlust durch eine andere Methodik ersetzt werden. Es gibt durchaus Möglichkeiten, bessere von schlechteren Interpretationen zu unterscheiden, und zwar erstens, weil unsere Kultur, unser Leben, und zwar nicht nur die biologische und stoffliche Welt, sondern auch das Soziale von Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist, für deren Erklärung man tatsächlich logische, stringente und nachvollziehbare Antworten finden kann, und weil zweitens über die gefundenen Interpretationen ein wissenschaftsinterner Diskurs stattfindet, durch den sich entsprechende die Diskussion strukturierende Normen herauskristallisieren. Jo Reichertz (2006: 310), der verschiedene Techniken der interpretativen Deutung diskutiert, kommt zu dem Ergebnis, daß „sich im Forschungsprozeß Schritt für Schritt eine einheitliche Lesart, Struktur, Gestalt oder Theorie finden läßt, in der alle Dateninterpretationen in eine Erklärungsfigur integriert sind […] wenn in einer Deutung alle Daten zu einer einfachen, meist eleganten Figur verdichtet werden können, dann überzeugt sie.“ Als weiteres Kriterium läßt sich nicht Neuheit, sondern Überraschungsfähigkeit nennen. Dem Verwerfen einer Verifizierbarkeit liegt ein Wissenschaftsverständnis zugrunde, welches ein offensives Verhältnis zum Nicht-Wissen einnimmt. Es geht nicht darum, Wissen zu verfestigen, einen Kanon gesicherten Wissens auszubauen, sondern wie es Bruno Latour (1998) ausdrückt, anstelle einer „world of science“ bei der die Verfestigung des Wissens zentral steht, eine „world of research“ zu betreiben, bei der Unsicherheit und Risiko erzeugt werden und welche gerade dadurch zu produktiven Kontroversen anregt. Klaus Amann und Stefan Hirschauer (2000: 165) plädieren deshalb dafür, den in der Sozio16 So auch geschehen. Der Physiker Alan Sokal veröffentlichte 1996 in der amerikanischen Zeitschrift für Kulturwissenschaft „Social Text“ einen parodistischen Artikel, in dem er das postmoderne „anything goes“ auf die Schippe nahm, eigentlich aber bewußt Unsinn schrieb. Die Tatsache, daß der Artikel in der Zeitschrift für ernst gehalten wurde und publiziert wurde, löste natürlich eine Debatte über wissenschaftliche Qualität und woran man sie erkennt aus (Sokal und Bricmont 1998). 98
FORSCHUNGSFRAGEN UND METHODIK
logie existierenden Paradigmenpluralismus und die damit einhergehenden Differenzen „auszuhalten und produktiv zu nutzen“. Wenn der produktive Diskurs zum erklärten Ziel der Forschung wird, dann wird Überraschungsfähigkeit statt Absicherung zum Kriterium für Forschung (ebd.: 164). Neues zu produzieren und eine Differenz im wissenschaftlichen Diskurs zu machen, tritt somit auch als Kriterium stärker in den Vordergrund, denn man kann dann nicht Sachverhalte aus einer bestimmten Theorieperspektive einfach nur beschreiben oder erzählen, ohne eine Differenz zur alltagsweltlichen oder zu bereits vorhandenen wissenschaftlichen Beschreibungen zu machen. Während also in der Vorgehensweise der Fiktion des Hypothesentests Neues über die Methode als neu ausgewiesen wird17, muß bei Wegfallen dieser Fiktion Neues stärker über die eingenommene theoretische Perspektive oder die Neuheit der These bewirkt werden. In dieser Darstellung der Entstehung von geographisch nahen Kooperationsbeziehungen wird auf die relative Neuheit des theoretischen Ansatzes spekuliert. Dennoch wollen aber auch Überraschungen gekonnt produziert sein. Eine Überraschung entsteht durch Enttäuschung einer Erwartung. Dies kann eine alltägliche „Normalerwartung“ sein oder eine Erwartung, die sich aus einer spezifischen Theorieperspektive heraus ergibt. Überraschungen zeigen das sicher Geglaubte, die Normalität in einem anderen Licht, sie decken die erstaunliche Künstlichkeit des als normal Geglaubten auf. Sie zeigen eine andere, vielleicht ungewöhnliche, in jedem Fall unerwartete Perspektive auf und geben so die Möglichkeit, etwas neu zu sehen und gerade damit wird ein Spannungsfeld erzeugt, welches zumindest die Option enthält, den fremden Blick in Beziehung zu anderen Forschungen und Perspektiven zu setzen. Ich werde dafür auch das Stilmittel eines Gesprächs mit einem fiktiven von meiner geäußerten Ansicht überraschten Alter Ego (A.E.) verwenden, welcher sich mit der Autorin (D.M.) über differente Sichtweisen unterhält. In jedem der vier empirischen Kapitel wird jeweils ein Gespräch erfolgen, welches jeweils in kursiver Schrift vom restlichen Text abgesetzt ist.
17 Die Fälle sind bekannt, bei denen etwas, was man eigentlich schon wußte, wissenschaftlich bewiesen wurde. 99
4 D I E F AL L S T U D I E
4.1
Das Netzwerk: ein Überblick
4.1.1 Die Akteure des Netzwerks Das Netzwerk, um dessen Entstehung es im folgenden geht, ist wie beschrieben ein regionales Netzwerk, welches im Bereich der Oberflächen- und Lackiertechnik in zwei benachbarten Euregioförderregionen1 im deutsch-niederländischen Grenzgebiet aktiv ist. Es wird im folgenden immer nur als „das Netzwerk“ bezeichnet, was unproblematisch ist, da in der Studie keine weiteren Netzwerke vorkommen. Es handelt sich dabei um einen kontinuierlichen Beziehungszusammenhang zwischen Personen, die als Professoren oder als Mitarbeiter an drei deutschen und einer niederländischen Fachhochschule in den Fachrichtungen Lackingenieurwesen oder Oberflächentechnik tätig sind, sowie um leitende Mitarbeiter eines Technologieberatungsunternehmens und zweier Verbände. Diese Personen pflegen untereinander einen regelmäßigen Kontakt und treffen Absprachen und Abstimmungen in bezug auf ihre jeweilige Arbeit. Selbstredend ist daher die Autonomie der einzelnen Beteiligten, verstanden als Chance Orientierungs- und Verhaltensmuster in einem bestimmten Rahmen, selbst auszuwählen (Reimann 1988: 83), eine Vo1
EUREGIO ist ein grenzübergreifender Zusammenschluß von 140 deutschen und niederländischen Gemeinden, Städten und Kreisen. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, grenzübergreifende Kontakte und Strukturen wie beispielsweise Netzwerke zu fördern und durch verschiedene Förderprogramme finanziell zu unterstützen (vgl. dazu: http://www.euregio.de). Die EUREGIO wird weiter unten in Kap. 4.2.1. dargestellt. 101
INNOVATION UND KOOPERATION
raussetzung für die Teilnahme an einem Netzwerk zwischen Funktionsträgern verschiedener Organisationen. An Hochschulen beschäftigte Wissenschaftler definieren ihre Forschungsziele selbst und sind auch in bezug auf die Ausgestaltung ihrer Lehre und in bezug auf die Betreuung von Forschungsarbeiten nur an formale Rahmenregelungen gebunden und arbeiten in dieser Hinsicht relativ selbstbestimmt.2 Aber auch in anderen Organisationen gibt es Funktionsträger, die breite Entscheidungsbefugnisse haben und daher über den nötigen Spielraum verfügen, um Aktivitäten zu initiieren, abzustimmen und zu ändern.
4.1.2 Die Grenzen des Netzwerks Diese Konzeption eines Netzwerks über einen personenbezogenen3 Beziehungszusammenhang bringt es aber mit sich, daß die Grenze zwischen Netzwerk und anderen dem Netzwerk äußerlich stehenden Akteuren mitten durch die beteiligten Organisationen hindurch verläuft. Ich will dies anhand eines Beispiels erläutern: Ein im Netzwerk aktiver Verband bietet Weiterbildungen und Schulungen an. Die Qualität und Aktualität dieser Angebote hängt aber entscheidend damit zusammen, daß im Netzwerk ein Informationsaustausch über die Bedarfe der mittelständischen Betriebe vonstatten geht und durch das Netzwerk Seminaranregungen wie auch Seminarleiter an den Verband weitervermittelt werden können. Die dem Verband zuzurechnende Aktivität, Seminare anzubieten, findet im fortwährenden Rekurs auf die Netzwerkaktivitäten statt und ist insofern eine Aktivität einer Organisation, deren Initiierung und Vorbereitung dem Netzwerk zuzurechnen ist und von den Beteiligten auch so klassifiziert wird. In anderer Hinsicht jedoch tritt eben dieser Verband nicht als Teil, sondern als Unterstützer des Netzwerks auf, wenn er beispielsweise als Verband sich für den Erhalt und den Ausbau der lack- und oberflächenbezogenen Studiengänge an den Fachhochschulen einsetzt. Die Grenze zwischen Netzwerkpartnern, Netzwerkunterstützern, Netzwerkblockierern und dem Netzwerk neutral gegenüberstehenden Akteuren ist also nicht identisch mit Organisationsgrenzen. Die Rektoren der Fachhoch2
3
Henry Mintzberg (1983: 255ff.) bezeichnet solche Organisationen, die aus einem bürokratisch strukturierten administrativen Unterbau und einem Kern von hochspezialisierten Mitarbeitern, die das Vorgehen ihrer Arbeitsausführung relativ autonom strukturieren, als Profibürokratie. Universitäten und Krankenhäuser sind häufig Beispiele für diese Strukturform. Personenbezogen heißt lediglich, daß das Netzwerk zwischen Personen gespannt ist, nicht daß es zugleich auch persönlich im Sinne von Privatheit wäre.
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DIE FALLSTUDIE
schulen traten beispielsweise oft als Unterstützer des Netzwerks auf, indem sie Hochschulkooperationsverträge abschlossen und informelle Übereinkünfte über die wechselseitige Anerkennung von Studienleistungen und den Austausch von Diplomanden vereinbarten. Die Administrationen aller Fachhochschulen dagegen behinderten die Aktivitäten des Netzwerks wie Kooperationsprojekte, die wechselseitige Nutzung von Geräten und das Splitting von Forschungsaufträgen in Teilaufträge mal mehr mal weniger, was mit den rechtlichen Vorschriften und den oft komplizierten administrativen Vorgängen solcher staatlich-bürokratischen Apparate zusammenhängt und nicht mit dem „good-will“ einzelner Angestellter in diesen Abteilungen, die aber freilich im Rahmen ihrer Möglichkeiten die grundsätzliche Problematik abmildern oder verstärken können. In bezug auf drei am Netzwerk beteiligten Organisationen liegt der besondere Fall einer Personalunion von Unterstützer und Aktivisten des Netzwerks vor. In einem Fall ist der Rektor einer Fachhochschule zugleich ein im Netzwerk aktiver Wissenschaftler, in zwei weiteren Fällen handelt es sich um Organisationen, die nur zwei bis drei Mitarbeiter beschäftigen, in denen jeweils der Geschäftsführer zugleich auch der technologische Wissensträger ist. In der Eigenschaft als technologischer Wissensträger sind diese Personen im Netzwerk aktiv, und in ihrer Eigenschaft als Repräsentant der Organisation unterstützen sie das Netzwerk.
4.1.3 Die Aktivitäten des Netzwerks Die inhaltlichen Schwerpunkte der Netzwerkpartner sind je verschiedene, wodurch es zu einer inhaltlichen Ergänzung in bezug auf die Phasen des Lackierprozesses kommt. Der Spezialist für Oberflächentechnik an der Fachhochschule Osnabrück befaßt sich vorwiegend mit der Vorbehandlung von Oberflächen, die Professoren an der Fachhochschule Niederrhein sind auf Lackrezepturen und die Herstellung wasserlöslicher Lacke spezialisiert, die Partner der Fachhochschule Saxion in Enschede dagegen auf die Applikation der Lacke und die Messung konventioneller Größen, während der Spezialist für Meßtechnik an der Fachhochschule Münster Spezialmessungen durchführt. Im Technologieberatungsunternehmen sind viele prozeßbezogene Praxiskenntnisse vorhanden, und die im Netzwerk aktiven Verbände führen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen oft in Absprache mit den anderen Netzwerkpartnern durch. Schwerpunkt der Kooperation ist der Austausch von Wissen, d.h., daß häufig auch bei Dienstleistungen und Forschungsaufträgen mit
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INNOVATION UND KOOPERATION
einem der genannten Partner das Wissen aller Partner einfließt4, wodurch diese Aktivitäten qualitativ entscheidend verbessert werden. Dies betrifft nicht nur Forschungsdienstleistungen, sondern auch die Aus- und Weiterbildung. Die Netzwerkbeziehungen führen aber auch dazu, daß die Netzwerkpartner gemeinsam durch das Splitting von Aufträgen breitere und damit interessantere Aufträge einwerben können. Überdies sind durch die vielen anregenden Gespräche zahlreiche Forschungsideen entstanden, die in Einzel- oder Kooperationsprojekten umgesetzt werden. Darüber hinaus arbeiten die Kooperationspartner Hand in Hand mit mehreren Fachverbänden einerseits und regionalen Unternehmen andererseits. So kommt es nicht selten vor, daß bei Beratungen in Unternehmen Fragestellungen auftauchen, die sehr verschiedene Unternehmen der Region ebenfalls betreffen. In solchen Fällen treten die Berater als Makler auf und vermitteln Forschungspartner, geben Hilfestellung bei der Formulierung der Forschungsfrage und makeln diese weiter an die Verbände, die gegebenenfalls bei der Beantragung öffentlicher Fördergelder behilflich sind. Das enge Geflecht guter Kontakte führt auch Ratsuchende und entsprechende Wissensträger zusammen, vermittelt kompetente Beratungsdienstleistungen und führt dazu, daß sich Fortbildungsangebote in der Region stärker am tatsächlichen Bedarf orientieren.
4.1.4 Die Situation vor der Netzwerkentstehung Vor Gründung des regionalen Netzwerks hatte es jedoch nicht nur so gut wie keine Kontakte zwischen den Akteuren der beiden Nachbarstaaten gegeben, sondern ebenfalls kaum vertiefte Kontakte oder Kooperationen innerhalb der jeweiligen Länder. Und dies, obwohl sich viele der heute am Netzwerk beteiligten Akteure bereits gekannt hatten: Selbstverständlich hatten die Fachverbände Kenntnis von den Ausbildungsmöglichkeiten an den Fachhochschulen und kannten die dortigen Professoren. Diese wurden auch hin und wieder für Veranstaltungen der Fachverbände als Referenten engagiert. Auf beiden Seiten der Grenze hatte es jeweils regionale Branchentreffs gegeben, zu denen interessierte Unternehmer Fachvorträge hören konnten. Trotz der Kenntnis voneinander und gelegentlichen Kontakten konnte man weder auf deutscher noch auf niederländischer Seite von der Existenz regionaler Netzwerke sprechen. Denn Netzwerke zeichnen sich dadurch aus, daß „soziale Akteure, die zwar autonome Interessen verfolgen, jedoch ihre Handlungen mit denen ande-
4
Vgl. zur Zirkulation von Wissen am Beispiel desselben Netzwerks Gochermann/Bense 2004.
104
DIE FALLSTUDIE
rer Akteure derart koppeln, daß der Erfolg ihrer Strategien vom Erfolg ihrer Partner abhängt“ (Weyer u.a. 1997: 53 i.O. kursiv). Der Netzwerkcharakter zeigt sich also gerade darin, daß die Kontaktstrukturen genutzt werden, um verschiedene einzelne Ereignisse, getrennte Ressourcen oder Aktivitäten aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Obwohl sich also viele der später im Netzwerk aktiven Akteure bereits kannten, arbeiteten sie vor der Existenz des Netzwerks doch als einzelne an Einzelergebnissen, die mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander standen. Die Verknüpfung dieser Einzelaktivitäten war durch eine EU Förderungsmaßnahme angestoßen worden. Drei Fachhochschulen und ein Unternehmerverband hatten Fördermittel beantragt, die ihnen dazu verhalfen, ihre technische Laborausstattung entscheidend zu verbessern bzw. zusätzliche Projekte durchzuführen. Dieser Kooperationsverbund mit dem Namen ECCS entwickelte sich zu einer gleichnamigen Stiftung und bildete zugleich den Ausgangspunkt der späteren Netzwerkentstehung. Seitens der regional zuständigen Euregiobehörde war das Ziel, die regionalen Forschungs- und Ausbildungskapazitäten zu stärken und den fachlichen Austausch zwischen diesen und den im Fördergebiet zahlreichen mittelständischen Beschichtungsbetrieben zu fördern. Aus diesem Grund war die Mittelvergabe an regelmäßige Treffen der Partner geknüpft. Nach kurzer Zeit hatten die Kooperationspartner drei Fachverbände und eine weitere Fachhochschule als Partner hinzugewonnen, und innerhalb von wenigen Jahren hatte sich zwischen diesen Partnern und zahlreichen regionalen Beschichtern das bereits kursorisch beschriebene aktive Netzwerk gebildet. Obwohl die Entstehung des Netzwerks durch die Möglichkeit Euregiomittel einzuwerben angestoßen wurde, reichten weder die Fördermittel noch der allen Akteuren gemeinsame Bezugspunkt der Oberflächenbeschichtung aus, um das Netzwerk eigenmotiviert zu entfalten. Nach etwa zwei Jahren Förderlaufzeit wäre das Netzwerk sogar beinahe wieder „eingeschlafen“. Doch es gab Anstrengungen einiger Akteure, um eben dies zu verhindern, und es ist ihnen gelungen, ein sehr aktives Netzwerk aufzubauen. Die Forschungsfrage, um deren Klärung es im folgenden geht, lautet daher: Welche Aktivitäten der Netzwerkakteure haben die Netzwerkbildung begünstigt? Und vor dem Hintergrund der Weickschen Annahmen über Sensemaking heißt diese Frage: Wie hat sich das Sensemaking der Akteure geändert, so daß Zusammenarbeit möglich wurde?
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INNOVATION UND KOOPERATION
4.2
Kontextbedingungen des Netzwerks
4.2.1 Die EUREGIO Die Tatsache, daß im deutsch-niederländischen Grenzgebiet ein grenzüberschreitendes Netzwerk mit zahlreichen ebenfalls grenzüberschreitenden Firmenkontakten so gut funktioniert, ist nicht selbstverständlich, was bereits daran abzulesen ist, daß es zwar sehr lose Kontakte aber kaum grenzüberschreitende Kooperationen im Lackbereich gegeben hatte. Das allmähliche Zusammenwachsen der Regionen geht vor allem auf die zahlreichen Initiativen der EUREGIO zurück. Die EUREGIO ist ein Zusammenschluß der Kommunen im deutsch-niederländischen Grenzgebiet, die sich schon seit den 1950er Jahren um kulturellen Austausch, Abbau bürokratischer Hürden, infrastrukturelle Verbesserungen etc. kümmert und letztendlich sogar zum Modell für die Einrichtung anderer europäischer Grenzregionen wurde. In der EUREGIO wurde eine Liste dringlicher Maßnahmen für die Entwicklung der Grenzregion erarbeitet und an die EU weitergeleitet. Diese Liste bildete die Grundlage, auf der in Zusammenarbeit mit der EUREGIO und weiteren Institutionen auch die INTERREG Programme der EU entwickelt wurden, von denen auch das hier untersuchte Netzwerk profitierte. Im folgenden wird zunächst die Entwicklungsgeschichte der EUREGIO kursorisch dargestellt, daran anschließend folgt eine kurze Darstellung der Themen und Probleme, mit denen sich die EUREGIO befaßt. Abschließend werden die INTERREG Programme, durch die das Netzwerk gefördert worden war, knapp erläutert. Die Entwicklungsgeschichte der EUREGIO Die EUREGIO ist ein kommunaler Zusammenschluß der Kommunalgemeinschaften Rhein-Ems e.V., Regio Achterhoek und Regio Twente. Die EUREGIO entwickelte sich bereits Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre aus der Zusammenarbeit dreier Interessenverbände, die auf kommunaler Ebene aktiv waren und deren Ziel die Erleichterung grenzüberschreitender Aktivitäten war. Dies waren die Interessengemeinschaften Rhein-Ems, die Belangengemeenschap Twente-Oost Gelderland und die Stichting Streekbelangen Oost-Gelderland, die sich bald mit mehreren niederländischen und deutschen Kommunen zur EUREGIO netzwerkartig zusammenschlossen. Erst 1971 wurde die EUREGIO als Verein mit der Bezeichnung „EUREGIO-Kommunalgemeinschaft Rhein-Ems e.V.“ gegründet, für die eine Geschäftsstelle eingerichtet wurde, die am Grenzübergang Glanerburg zwischen Enschede und Gro106
DIE FALLSTUDIE
nau errichtet wurde. Die Aktivitäten erweiterten sich kontinuierlich. Der nächste große Sprung war 1978 die Gründung des Euregiorates. In diesem Rat sitzen Vertreter der im Euregiogebiet zusammengeschlossenen Kommunen, die nach einem regionalen parteipolitischen Schlüssel gebildet werden (Müller 2003). Er hat zwar keine politischen Befugnisse, kann aber auf eine breite Unterstützung auf Verwaltungsebene bauen und bildete das Instrument, mit dem zahlreiche administrative Hürden auf kommunaler Ebene unbürokratisch abgebaut werden konnten, sowie Themen, die nur gemeinsam zu bewältigen waren, wie der Trinkwasserschutz oder die Müllbeseitigung auch gemeinsam bewältigt werden konnten. Aktivitäten der EUREGIO Die deutsch-niederländische Grenze ist nicht nur eine Gebietsgrenze, sondern vor allem eine Grenze historisch gewachsener administrativer und rechtlicher Unterschiede. Dies hat Konsequenzen für zahlreiche Belange alltäglichen und geschäftlichen Lebens in den Grenzgebieten. So durften niederländische Rettungswagen, selbst wenn sie näher am Unfallort waren als ihre deutschen Kollegen, nicht auf deutschem Boden Einsätze fahren und umgekehrt. Niederländer, die in Deutschland arbeiteten, bekamen in den Niederlanden kein Kindergeld (Müller 2003: 2), und wenn Niederländer in Deutschland ein Haus kaufen oder bauen wollten, so bekamen sie keine steuerlichen Vergünstigungen (ebd.: 18) Selbst ein Abonnement einer Zeitung des Nachbarlands war aufgrund der hohen Gebühren praktisch unmöglich (ebd.). In den 1950er und 1960er Jahren gab es zu wenige Grenzübergänge, die überdies nur bestimmte Öffnungszeiten hatten, und die Infrastruktur, was Straßen und Schienenverkehr anbetraf, war kümmerlich (Müller 2003). All dies sind nur ein paar mehr oder weniger zufällig herausgegriffene Beispiele, die aber verständlich machen, weshalb sich bereits in den 1950er Jahren Initiativen bildeten, um gegen diese Zustände vorzugehen, und man kann sich ohne weiteres vorstellen, daß dies nicht nur auf der Basis ehrenamtlicher Arbeit erfolgen kann. In der Verfolgung seiner Ziele war der Euregiorat auf zwei Ebenen aktiv (Müller 2003: 18): Einerseits wurden langfristig administrative Veränderungen über die entsprechenden politischen Instanzen angestoßen und andererseits wurde sich auf kommunaler Ebene informell über vieles geeinigt wie die gegenseitige Hilfe im Katastrophenschutz und bei Rettungseinsätzen. Darüber hinaus wurden gemeinsame Übungen der Feuerwehren initiiert sowie zahlreiche weitere Aktivitäten wie deutsch-niederländische Sportfeste, Senioren- oder Jugendbegegnungen etc. ins Leben gerufen. Zahl107
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reiche bürokratische Hürden wurden zunächst auf kommunaler Ebene abgebaut, aber auch auf höheren Ebenen angegangen: So wurde beispielsweise die Aufnahme eines Studiums in der deutschen bzw. niederländischen Nachbarregion durch entsprechende Hochschulverträge erleichtert.5 Auch die Studiengänge der Fachhochschulen, die später am Netzwerk beteiligt waren, hatten bereits Abkommen über die wechselseitige Anerkennung von Studienleistungen geschlossen und vergaben zum Teil gemeinsame Diplome. Diese ersten durch die EUREGIO geknüpften Kontakte waren für die spätere Netzwerkbildung bedeutsam, da man auf die bestehenden Kontakte aufbauen konnte. Mit dem Einsetzen der EU Förderung durch die INTERREG-Programme veränderten sich die Aktivitäten der EUREGIO, da zahlreiche neuartige, primär technologische und wirtschaftliche Projekte ins Leben gerufen und gefördert wurden.
4.2.2 Die INTERREG-Programme der EU Ein Meilenstein in der Arbeit des Euregiorates war in den 1980er Jahren die Ausarbeitung eines Aktionsprogrammes, in welchem dringend benötigte Verbesserungen in den Grenzregionen aufgelistet wurden (Müller 2003). Das Aktionsprogramm wurde von Regierungsvertretern sowohl der Niederlande als auch aus der Bundesrepublik offiziell unterzeichnet und Arbeitskreise für die Gebiete Wirtschaft, Schule und Bildung, Technologie, Tourismus, Kultur, Landwirtschaft, Soziales, Umwelt, Verkehr und alltägliche Grenzprobleme/Rettungswesen eingesetzt. 1989 förderte die EU Projekte, welche durch das Aktionsprogramm vorgeschlagen worden waren. Darauf aufbauend entwickelte die EU in Zusammenarbeit mit der EUREGIO und weiteren Institutionen einen Kriterienkatalog für die Förderung von Grenzgebieten in der EU. EU-weit wurden zahlreiche Grenzregionen in sogenannte Euregiogebiete eingeteilt, von denen ein weiteres im deutsch-niederländischen Grenzgebiet existiert, nämlich die EUREGIO Rhein-Maas-Nord. Das hier untersuchte Netzwerk ist sowohl auf dem Gebiet der EUREGIO als auch der letztgenannten EUREGIO Rhein-Maas-Nord6 aktiv und erhält daher Fördermittel aus beiden EUREGIOS. Zur Förderung aller in verschiedenen europäischen Grenzgebieten eingerichteten Euregiogebiete legte die EU die INTERREG-Programme auf. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftsinitiative des Europäi-
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Informationen zu den Hochschulverträgen entstammen dem Interview mit Herrn Strater und der Homepage der EUREGIO. http://www.euregio-mr.org
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DIE FALLSTUDIE
schen Fonds für regionale Entwicklung für die Zusammenarbeit zwischen den Regionen Europas.7 INTERREG I lief von 1991 bis 1993, das INTERREG II Programm lief von 1994 bis 1999 und die Laufzeit der INTERREG III Programme ging von 2000 bis 2006. Im Anschluß daran läuft noch bis 2013 das INTERREG IV Programm. Alle Programme fördern mit unterschiedlichen Schwerpunkten die länderübergreifende Zusammenarbeit in den EUREGIOs. Aus den INTERREG II Mitteln erhielt die hier untersuchte Forschungskooperation zwischen zunächst drei, dann vier Fachhochschulen und einem Unternehmerverband mit dem Namen ECCS ca. 400.000 Euro Fördermittel. Aus dem INTERREG III A Programm erhielt die EUREGIO 49 Millionen Euro für ca. 100 Projekte (Müller 2003), von denen eines das ECCS ist, welches in diesem Zeitraum mit 1,6 Millionen Euro gefördert wird.8 Wie aus diesen Zahlen hervorgeht, erhielt das ECCS hohe Fördersummen, die einen immensen Anreiz boten, sich als ECCS zusammenzuschließen und die Auflagen der EUREGIO, d.h. gemeinsame Treffen durchzuführen und gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln, zu erfüllen. Es ist daher unzweifelhaft, daß das Netzwerk, welches aus dem ECCS hervorgegangen ist, ohne diese finanziellen Zuwendungen sicherlich nicht entstanden wäre. Dennoch ist dies nur ein notwendiger, nicht aber ein hinreichender Anstoß gewesen. Die Verwandlung dieser Ressourcen und der neu entstandenen Kontakte in eine dauerhafte eigenmotivierte netzwerkartige Kooperationsbeziehung mußten die Akteure ungeachtet aller Ressourcen dennoch in Eigenleistung bewerkstelligen.
4.2.3 Lackbranche und Lacktechnik Die Lackbranche ist – und das trifft sowohl auf die Niederlande als auch auf Deutschland zu – zweigeteilt: Es gibt einerseits die Lackhersteller und andererseits die Lackierer. Dazwischen liegt der Markt und das heißt andererseits auch, daß es keine engeren Beziehungen zwischen den Lackverarbeitern und Lackherstellern gibt. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in der Verbandsstruktur: Es gibt auf der einen Seite die Verbände der Lackhersteller, nämlich die Vereiniging van Verf en Drukinktfabrikanten in den Niederlanden und den Verband der deutschen Lackindustrie e.V. in Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es die Verbände der lackverarbeitenden Betriebe, nämlich in den Niederlanden 7
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Informationen über die INTERREG Programme: http://ec.europa.regional_policy/interreg3/index_de.htm und speziell für Nord-Rhein-Westphalen, welches eines der an der EUREGIO beteiligten Bundesländer ist: www.wirtschaft.nrw.de Interview Herr Maler. 109
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die Vereiniging Industriele Spuit- en Moffelbedrijven und in Deutschland die Deutsche Gesellschaft für Oberflächenbehandlung. Beide Bereiche, die Lackherstellung und die Lackverarbeitung, scheinen zumindest, was die Vergangenheit anbetrifft, in ihren jeweils eigenen, strikt voneinander getrennten Bereichen zu agieren, was sich durch die neueren Veränderungen in der Lackbranche, was weiter unten thematisiert wird, ändern könnte. Ein weiteres Spezifikum der Lackbranche, und zwar insbesondere der lackverarbeitenden Branche, ist eine räumliche Verteilung und keinesfalls eine räumliche Konzentration in Form von Clustern, denn: es gibt kaum ein Produkt, dessen Oberfläche am Ende des Produktionsprozesses nicht beschichtet wird wie beispielsweise Fensterrahmen, Fahrzeug- und Maschinenteile, Möbel oder Baustoffe wie Hölzer, Ziegel usw. Die Folge ist, daß praktisch jeder Hersteller auch ein Beschichtungsbetrieb ist. Die Oberflächenbeschichtung ist damit nicht ein eigener Industriezweig, der wie der Maschinenbau, die Optoelektronik oder die Medizintechnik in einer bestimmten Region als Beschichtungscluster auftauchte. Als Bestandteil fast aller Herstellungsprozesse ist die Beschichtung von Oberflächen ein ubiquitär vorkommender Bereich, der sich nicht clustern läßt. Die Tatsache also, daß das hier untersuchte Netzwerk gerade in dieser Region entstanden ist, hat nichts mit einer geopraphischen Konzentration der Lackhersteller oder der Lackbeschichter zu tun. Allerdings liegt mit der Fachhochschule Niederrhein eine der bundesdeutschen Kaderschmieden der Lackbranche in eben dieser Region, und zwei bundesdeutsche Verbände liegen nur einen „Steinwurf“ außerhalb des Euregiofördergebietes. Es ist also weniger eine Konzentration von Beschichtern der Auslöser für diese Netzwerkgründung, sondern vielmehr eine Ansammlung von einigen in der Forschung oder der überbetrieblichen Interessenvertretung aktiven Institutionen, durch welche die Möglichkeit einer Vernetzung eben dieser Akteure gegeben war. Es ist deshalb strukturell durchaus möglich, daß weitere Lack- und Oberflächennetzwerke in verschiedenen Regionen in Deutschland, den Niederlanden und anderen Ländern entstehen könnten. Verschiedene wichtige Akteure wie der Verband der deutschen Lackindustrie sowie zwei Fraunhoferinstitute, die jeweils im Bereich der industriellen Lackierung forschen, liegen weder in noch in der Nähe der EUREGIO und böten daher ebenfalls das Potential, sich in ihren geographischen Regionen zu vernetzen.
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DIE FALLSTUDIE
Lacktechnik: Vom Anstrich zur Vollendung der Oberflächen Im August 2001 setzte die Bundesregierung mit der Lösungsmittelverordnung9 eine Vorgabe der EG von 1999 in deutsches Recht um.10 Die Verwendung zahlreicher chemischer Lösungsmittel wurde damit verboten, womit faktisch eine Umstellung auf wasserlösliche Lacke ab diesem Zeitpunkt notwendig wurde. Die Eigenschaften der lösemittelbasierten Lacke, witterungsbeständige, kratz- und stoßfeste sowie attraktive Oberflächen zu bieten, mußten nun auf wasserlösliche Lacke übertragen werden, was, wie es im ECCS Newsletter von 2001 zu lesen war, „vor einigen Jahren ja noch kaum vorstellbar erschien.“11 Die Beschichtung mit wasserlöslichen Lacken ist viel aufwendiger und erfordert im Gegensatz zu den bis dahin handelsüblichen Lacken ein mehrphasiges Vorgehen: Zunächst muß der Untergrund auf die Lackierung vorbereitet, d.h. gereinigt werden, da Wasserlacke auf verunreinigten Flächen nicht richtig haften. Da Wasser darüber hinaus langsamer verdunstet, als die lösemittelbasierten Lacke muß der Trocknungsprozeß klimatisiert werden. Viele Eigenschaften der lösemittelbasierten Lacke sind aber noch nicht mit Wasserlacken zu erzielen wie beispielsweise die hohe Frostbeständigkeit und die Unempfindlichkeit gegen hohe Temperaturen.12 Die Umstellung auf wasserlösliche Lacke zieht daher einen großen Forschungsbedarf nach sich, wie es ein Lackingenieur formuliert: „Die heutigen hohen Qualitäts- und Umweltansprüche haben zur Folge, daß sich die Lack- und Coatingtechnologie in kurzer Zeit zu einer modernen hochwertigen Disziplin entwickelt hat.“13 Die neuen Umweltanforderungen haben die Beschichtungstechnik – zumindest was die Kleinbetriebe und die kleineren Mittelständler angeht – bildlich gesprochen aus der „Schmuddelecke“ herausgeholt und in die High-Tech Ära katapultiert. Dies bedeutet für die kleineren Betriebe, daß sie eine gravierende Umstellung vornehmen müssen, denn sie müssen erstens, anstelle an ihren Produkten einen Farbauftrag vorzunehmen, nun den Beschichtungsprozeß in eine Vorbehandlung und die Beschichtung aufteilen. Weitere Veränderungen gehen von den ebenfalls im Zitat genannten gestiegenen Qualitätsanforderungen aus. Die Beschichtungen 9 Als Teil der 31. BImSchV. 10 Es handelt sich dabei um die VOC- Richtlinie 1999/13/EG. Die Richtlinie befaßt sich mit der Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen (volatile organic compound = voc) aufgrund der Verwendung organischer Lösemittel in bestimmten Farben und Lacken. 11 ECCS Newsletter 1/2001 12 ECCS Projekte im Fokus: Wasserlacke: Besonderheiten bei Eigenschaften und Filmbildung, in: besser lackieren! 12/2002, S. 16. 13 ECCS Newsletter 2/2000 111
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sollen langlebiger sein, was bedeutet, daß die typischen späteren Belastungssituationen mit der Lackauswahl und dem Beschichtungsvorgang rückgekoppelt werden müssen. Auf betrieblicher Ebene bedeutet dies zweitens, daß handelsübliche Lacke auf die definierten Anforderungen hin getestet und die Parameter Oberflächenvorbehandlung, Lackapplikation aber auch Lackrezeptur spezifisch auf die definierten Merkmale hin aufeinander abgestimmt werden müssen. Eine dritte Veränderung betrifft schließlich Kosteneinsparpotentiale durch die Art des Lackauftrags. Anstelle ein Produkt doppelt zu beschichten, kann man auch bestimmte sehr beanspruchte Stellen, wie Ecken oder Kanten dicker und andere Flächen dünner beschichten. Dies spart natürlich Lack, setzt aber eine ausgeklügelte Applikationstechnik voraus. Mit höheren Ansprüchen an die Oberflächenbeschaffenheit und an Lackeigenschaften werden Lackauftrag und Lacktrocknung ebenfalls zu einzelnen hochspezifischen Phasen des Beschichtungsprozesses ausdifferenziert. Darüber hinaus ist die Qualitätskontrolle von ihrem kümmerlichen Dasein als „Schlußlicht“ der Produktion – nämlich als der Produktion nachgelagerte Aussortierung fehlerhafter Teile – zu einem in den Prozeß integrierten Überwachungsinstrument geworden, durch dessen Rückkopplungen der Beschichtungsprozeß angepaßt und feingesteuert wird. Für die Überwachung des Beschichtungsprozesses werden mittlerweile zahlreiche optische Meßverfahren handelsüblich angeboten. Anstelle eines Farbanstrichs, der nur von einer und womöglich nicht einmal einer spezifisch dafür ausgebildeten Person übernommen werden konnte, hat sich die Beschichtung in einen mehrstufigen Prozeß aufgefächert, dessen einzelne Phasen wiederum so spezifisch und zugleich komplex sind, daß es dafür jeweils getrennte Experten gibt. Wenn man High-Tech Produkte als Produkte definiert, für deren Schaffung wissenschaftliches Wissen notwendig ist, die in diesem Sinne also „science-based“ sind14, dann hat die High-Tech Welt des Lackes schon vor längerer Zeit in den großen Industriebetrieben begonnen, währenddem diese Realität in den klein- und mittelständischen Betrieben allmählich durch die gestiegenen Qualitätsanforderungen und sprunghaft durch die Lösungsmittelverordnung Einzug gehalten hat. Während die Industrieunternehmen sich speziell ausgebildete Experten wie Lackingenieure, Experten für Oberflächen- und Meßtechnik leisten können, stehen kleine Betriebe vor dem Problem, nicht auf entsprechende Fachkräfte zurückgreifen zu können. So gab es bislang noch keine qualifizierten
14 Auf die Verwissenschaftlichung einzelner Industrien weist Rammert (2000: 167) hin und definiert High-Tech in diesem Sinne als wissenschaftsnah (Ders. 2000). 112
DIE FALLSTUDIE
Lehr- und Fachschulausbildungen. Der Bedarf nach Weiterbildungsseminaren, in denen Grundlagen der Beschichtungstechnik vermittelt werden, ist dementsprechend sehr hoch. Die Differenzierung des Beschichtungsprozesses in mehrere Phasen (Vorbehandlung, Lackrezeptur, Applikation und Trocknung, Prüfung) und die Differenzierung des Wissens in spezifische Wissensgebiete haben aber nicht nur aus dem Anstrich eines Produktes eine High-Tech Veredelung desselben werden lassen, sondern darüber hinaus sind auch die Lacke selbst zu sehr komplexen High-Tech Produkten geworden. Die Lackeigenschaften wurden immer weiter differenziert. Der Korrosionsschutz wurde verbessert und weitere Eigenschaften erschlossen, indem Lacke beispielsweise in ihrer Mikrostruktur eine Beschaffenheit aufweisen, durch die sich Schmutzpartikel schlecht festsetzen können usw. Darüber hinaus lassen sich durch Lacke mittlerweile auch Eigenschaften erzielen, die Kunststoffe aufweisen. So gibt es weiche, schalldämmende Lacke, die äquivalent zu Kunststoffen eingesetzt werden können, gegenüber diesen aber den Vorteil aufweisen, daß die Beschichtung mit einem Lack langfristig kostengünstiger zu gestalten ist als das Fertigen, Zuschneiden und Kleben von Kunststoff. Ein weiteres innovatives Anwendungsfeld für Lacke ergibt sich durch die Möglichkeit, mit der Lackapplikation zugleich eine spezifische Oberflächenstruktur entstehen zu lassen. Die Tragflächen von Flugzeugen werden beispielsweise mit einer Folie beklebt, durch die die Oberflächen eine spezifische Struktur erhalten, welche sich vorteilhaft auf den Kerosinverbrauch auswirkt. Es wäre denkbar, in Zukunft die Tragflächen von vorneherein so zu lackieren, daß der Lack sofort die gewünschte Oberflächenstruktur aufweist.
4.3.
D i e Ak t e u r e u n d U n t e r s t ü t z e r des Netzwerks
Im folgenden werden die Akteure aber auch zentrale Unterstützer des Netzwerks vorgestellt. Die folgenden Absätze sind lexikalisch gedacht, um dem Leser und der Leserin zumindest an einer Stelle eine kompakte Darstellung der zentralen am Netzwerk beteiligten Organisationen bzw. den für das Netzwerk relevanten Teilbereichen größerer Organisationen zu bieten, auf die man gegebenenfalls später lexikalisch zurückgreifen kann. Es werden zunächst die Fachhochschulen, dann die lackbezogenen Verbände und schließlich weitere Akteure dargestellt.
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INNOVATION UND KOOPERATION
4.3.1 Die Fachhochschulen Die Hochschule Niederrhein An der Hochschule Niederrhein15 gibt es die Möglichkeit, Lackingenieurwesen zu studieren, welches eine Spezialisierung im Rahmen des Studiengangs Chemieingenieurwesen darstellt, welcher in Krefeld angesiedelt ist. Seit dem Wintersemester 2005/6 wird dieser Studiengang als Bachelor und Master angeboten. In diesem speziellen Studiengang sind drei Professuren angesiedelt, die allesamt mit ihren Mitarbeitern im von der EU geförderten Kooperationsverbund ECCS und dem daraus hervorgegangenen Netzwerk aktiv sind. Der Bereich der Lacktechnik am Standort Krefeld verfügt über ein Labor für Lack- und Oberflächentechnik, welches auch mit Mitteln aus dem INTERREG II Programm auf den neuesten technischen Stand gebracht wurde (Interview Herr Koch). Es befinden sich darin zahlreiche Apparaturen, um flüssige bzw. pastenförmige Beschichtungsstoffe sowie Pulverlacke herzustellen, zu applizieren, zu trocknen bzw. zu härten und zu prüfen. In all diesen Bereichen existiert eine Vielzahl verschiedener Gerätschaften. Im Labor können 15 bis 20 Personen gleichzeitig tätig sein. Die Professoren forschen zur Herstellung von Lacken, wobei der Schwerpunkt auf der Herstellung umweltfreundlicher Lacke liegt, und zu verschiedenen Themen der Pigmentforschung. Saxion Hogeschool in Enschede und Deventer Am Standort Enschede der Fachhochschule Saxion wurde der Studiengang Materialbescherming (Materialbeschichtung) angeboten und war der einzige speziell auf Beschichtung ausgerichtete Studiengang der Niederlande.16 In diesem Studiengang unterrichteten keine Professoren, sondern Dozenten. Diese sind ausschließlich mit Lehrtätigkeiten betraut und nicht wie in den meisten deutschen Hochschulen einer Professur zugeordnet, sondern einem Institut. Die Dozenten arbeiten sehr selbständig und organisieren gemeinsam die vom Institut durchzuführende Lehre. Einige der Dozenten des Studiengangs Materialbescherming hatten informelle Kontakte zu den niederländischen Verbänden der Lackindustrie, die weiter unten näher vorgestellt werden und die den Studiengang sehr unterstützen. Eine Kooperation mit der Fachhochschule Niederrhein
15 http://atlas.hs-niederrhein.de/cms/fb01.html 16 Die Informationen über den Studiengang stammen von Herrn Maler und Herrn Strater. 114
DIE FALLSTUDIE
ermöglichte es, einen europäischen Abschluß in den Bereichen Lackingenieur/Materialbescherming zu absolvieren, insofern die Studenten bestimmte Studienleistungen an der Partnerhochschule erbringen. Mit viel Engagement warben die Mitarbeiter der Fachhochschule Enschede und Deventer die INTERREG II Förderung ein und bauten damit ein Meßund Prüfzentrum an der Hogeschool in Enschede auf, welches 2001 in Betrieb ging. Es dient sowohl zur praxisnahen Ausbildung als auch zur Bearbeitung von Dienstleistungen für Firmen wie beispielsweise einer Farbmessung von Metalliklacken, der Charakterisierung von Oberflächen, der Schichtdickenmessung etc.17 Mit den überwiegend mobilen Meßapparaturen ist es möglich, diese Dienstleistungen vor Ort bei den Firmen auszuführen, was gerade auch für kleinere Firmen attraktiv ist. Der Studiengang Materialbescherming wurde aber etwa zwei Jahre nach der Untersuchung des aus dem Kooperationsverbund ECCS hervorgegangenen Netzwerks für diese Studie durch das Rektorat der Hochschule aufgrund finanzieller Engpässe eingestellt. Fachhochschule Osnabrück An der Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informatik wird zwar kein spezieller Studiengang im Bereich der Lacktechnik angeboten, jedoch befassen sich mehrere Studiengänge mit Oberflächen und Oberflächenstrukturen wie den Werkstoffwissenschaften, Flugzeug- und Flugingenieurwesen Engineering, Fahrzeugtechnik, Metallurgie etc. Insofern gibt es eine Anzahl von Wissenschaftlern, die auf verschiedenen Gebieten der Oberflächentechnik forschen. Zunächst kooperierte auch dort nur ein Professor mit dem ECCS. Er befaßt sich mit Klebetechnik und Oberflächenvorbehandlung sowie mit der Haltbarkeit von Metall-Polymerverbundstoffen. Im INTERREG III A Programm fördert die EU ein Projekt zur biologischen Reinigung von Oberflächen. Für das ECCS ist er ein passender Partner, da er mit der Vorbehandlung der zu lackierenden Teile die Lackherstellung (Krefeld), Lackapplikation (Enschede) und Qualitätsprüfung (Osnabrück) ideal komplettiert. Bereits nach kurzer Zeit konnte ein weiterer Professor der Fachhochschule für die Mitarbeit im ECCS und auch im Netzwerk gewonnen werden, der auf Computersimulationen spezialisiert ist und dadurch auch Lackverhalten, Aushärtungsprozesse etc. simulieren kann. Durch die eingeworbenen Drittmittelprojekte vergrößerte sich darüber hinaus der Kreis der Netzwerkaktiven auch um einige Mitarbeiter.
17 ECCS Newsletter 4/2003 115
INNOVATION UND KOOPERATION
Fachhochschule Münster Auch an der Fachhochschule Münster sind die Partner des ECCS an einem Fachbereich angesiedelt, der sich ebenfalls mit Oberflächen, weniger aber mit Beschichtungen befaßt, nämlich der Fachbereich Physikalische Technik. Als Studiengänge werden dort u.a. physikalische Technik, Lasertechnik und medizinische Technik angeboten. Im Rahmen dieser Studiengänge wird aber auch die Beschaffenheit von Oberflächen behandelt und hierbei geht es auch um frühzeitige Fehlererkennung, was ein Bereich der Sensortechnik ist. In der Sensortechnik geht es nicht nur um das meßtechnische Erfassen von Fehlern, sondern auch um die Erfassung von Geometrien, um die Lageerkennung von Werkstücken und um das zerstörungsfreie Erfassen von physikalischen Kenngrößen.18 Der Fachbereich Physikalische Technik verfügt über ein großes Sensorlabor mit überwiegend hochauflösender optischer Meßtechnik. Das Labor übernimmt Aufträge in folgenden Bereichen:19 Es können meßtechnische Untersuchungen und Machbarkeitsstudien durchgeführt werden, Meßsysteme für die Automatisierung und Qualitätssicherung erstellt und angepaßt werden und spezifische Oberflächeneigenschaften analysiert werden. Darüber hinaus gibt das Labor Hilfestellung bei der Suche nach einer adäquaten marktgängigen Sensortechnik und erstellt Lasten- und Pflichtenhefte für Kunden.20 Auch im Netzwerk ECCS geht es mit Lakken und Beschichtungen um Oberflächen. Sensortechnisch werden natürlich nicht nur unlackierte, sondern gerade auch lackierte Oberflächen, aber auch Lackschichten vermessen. Insofern stellt die Sensortechnik eine ideale Ergänzung zu den lackherstellenden Kompetenzen im Netzwerk dar. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war ein Professor des Sensortechnischen Labors mit seinen Mitarbeitern Partner im ECCS und die Zusammenarbeit im Netzwerk war gerade im Aufbau.
18 http://www.2fh-muenster.de/FB11/forschung/sensorlab/index.html 19 http://www.2fh-muenster.de/FB11/forschung/sensorlab/index.html 20 Bei Forschungs- und Entwicklungsaufträgen müssen die Anforderungen vorher in einem Pflichtenheft genau festgelegt werden. Dafür ist es vorteilhaft, eine dritte Person einzuschalten, die sowohl den industriellen Alltag kennt als auch die Forschungsnotwendigkeiten und stellvertretend für den Auftraggeber den Auftrag festlegt (Interview Herr Messner). 116
DIE FALLSTUDIE
4.3.2 Lack- und oberflächenbezogene Verbände Deutsche Forschungsgesellschaft für Oberflächenbehandlung Die Deutsche Forschungsgesellschaft für Oberflächenbehandlung (DFO) organisiert Gemeinschaftsforschungen auf dem Gebiet der industriellen Lackiertechnik.21 Ihr Mitgliedsangebot richtet sich nicht an Privatpersonen, sondern an Firmen und Verbände. Forschungsthemen werden an die DFO durch ihre Mitgliedsfirmen herangetragen, dann wird die Forschungsfrage spezifiziert, was in der Regel in Fachgremien oder Arbeitsgruppen geschieht.22 Für die Forschung tritt die DFO als Projektkoordinator auf und sucht Kooperationspartner, welche die Forschung durchführen können. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der DFO besteht in der Organisation von Lehrgängen und Weiterbildungsveranstaltungen, die nicht nur für die Beschäftigten der Mitgliedsorganisationen offen sind, sondern sich an alle Interessierten wenden. Darüber hinaus werden zahlreiche Tagungen zu verschiedensten Themen organisiert. Die DFO ist zweifelsohne in der Bundesrepublik ein zentraler Akteur für die industrielle Lackiertechnik. Als solche ist sie vor allem ein Partner für die größeren Mittelständler und natürlich die Großunternehmen. Das Netzwerk dagegen betreibt Forschung auch für kleine und Kleinstunternehmen. In bezug auf das Netzwerk tritt die DFO einerseits als Unterstützer auf, wenn sie sich für dieses auf politisch-administrativer Ebene einsetzt, andererseits ist sie aber auch Partner des Netzwerks, wenn sie über das Netzwerk sowohl relevante Weiterbildungsthemen erfährt als auch Kundschaft erhält und die Seminare in Kooperation mit Netzwerkpartnern durchführt. Europäische Gesellschaft für Lackiertechnik e.V. Die 1996 gegründete Europäische Gesellschaft für Lackiertechnik e.V. (EGL) ist eine berufsbezogene Vereinigung für Fachleute aus dem Lakkierbereich, was bedeutet, daß hier Einzelpersonen, nicht Organisationen Mitglied werden können. Die EGL organisiert bisher an elf Standorten in Deutschland und zweien in den Niederlanden zahlreiche regionale Lackiertreffs, durch die ein regionaler Erfahrungsaustausch zwischen in der Lackbranche aktiven Personen hergestellt werden soll.23 An den Treffen werden in der Regel mehrere Vorträge zu speziellen Themen 21 http://www.dfo-online.de/deutsch/p_1_0.htm 22 Informant hierfür war Herr Moser (Interview). 23 Vgl. hierzu die Selbstdarstellung auf der Homepage http://www.eglonline.de 117
INNOVATION UND KOOPERATION
gehalten, so daß die Treffen inhaltlich ausgerichtet sind. Eine Besonderheit der EGL ist, daß sie die einzige Vereinigung ist, in der sowohl Mitarbeiter aus lackverarbeitenden Firmen als auch Mitarbeiter von Rohstoffherstellern für die Lackindustrie Mitglied werden können. Insofern werden hier „die Zusammenhänge von Lackmaterial, Verarbeitungstechnik und Anwendung betont“.24 Die EGL sieht sich aber nicht nur als Schnittstelle zwischen Lackherstellung und Lackverarbeitung, sondern darüber hinaus auch zwischen „Praxis, Forschung und Lehre in der Lackiertechnologie“.25 Bezüglich des Netzwerks tritt die EGL zunächst als Unterstützer auf. Die EGL hat maßgeblich zur Gründung des Forschungsverbundes ECCS beigetragen, indem sie zunächst die Bemühungen um den Aufbau eines regionalen Forschungszentrums im Lackbereich in Enschede unterstützte und, nachdem diese Idee sich zerschlagen hatte, die Kontaktperson für die Antragstellung des INTERREG II Antrags in Osnabrück über ihre regionalen Lackiertreffs vermittelte. Auch später konnten immer wieder wichtige Kontaktpersonen über die EGL gefunden werden. Vereiniging voor Oppervlaktetechnieken van Materialen Der niederländische Verein für die Oberflächenbehandlung von Materialien (VOM) ist in Nieuwegein angesiedelt, er besteht bereits seit 50 Jahren und in ihm sind oberflächenbehandelnde Industrien der Niederlande organisiert.26 Mitglieder sind in diesem Verband Firmen, nicht Privatpersonen. Der Verband organisiert Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, die sowohl betriebsintern als auch öffentlich angeboten werden. Darüber hinaus initiiert die VOM Forschungsprojekte zu diversen Themen und informiert regelmäßig über neuere technische Entwicklungen. Aktiv ist die VOM vor allem auch als Interessenvertretung für die Belange der von ihr vertretenen Industrien sowohl im Inland als auch im Ausland und hier vor allem auf EU Ebene. Das Sekretariat der Europäischen Coatingsvereinigung „Comité Européenne du Treatement du Surface“ ist beim VOM angesiedelt. Vereiniging Industriele Spuit- en Moffelbedrijven Unter dem Dach des VOM ist auch die Vereiniging Industriele Spuit- en Moffelbedrijven zugeordnet. Dies ist der Verein für industrielle Lackier-
24 http://www.egl-online.de/deutsch/gesch.htm 25 http://www.egl-online.de/deutsch/mitglied.htm 26 Vgl. zum folgenden: http://www.vom.nl 118
DIE FALLSTUDIE
und Emaillierfirmen (VISEM), in der die Beschichter im speziellen nochmals organisiert sind. In der Studie treten VOM und VISEM zumeist als ein gemeinsamer Akteur, d.h. als Vertreter der gleichen Interessen auf. VOM und VISEM fungieren für das Netzwerk als Unterstützer. Über ihre Mitgliedskarteien kann das Netzwerk gezielt nach potentiellen Kunden suchen oder bestimmte Fachbetriebe in der Region herausfinden. Vereiniging van Verf- en Drukinktfabrikanten Die Vereinigung für die Farb- und Druckhersteller (VVVF)27 ist die verbandliche Organisation der lackherstellenden Firmen und damit das Gegenüber der VISEM als Verband für die Lackbeschichter. Als Interessenvertreter der ca. 100 lackherstellenden Firmen in den Niederlanden beobachten sie Gesetzgebungsverfahren und Handelsbestimmungen und unterhalten zahlreiche Arbeitsgruppen zu Themen rund um die Lackherstellung wie beispielsweise zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit, zu speziellen Lackarten und ihren Zusammensetzungen. Der Verband hatte immer wieder die schlechte Ausbildungssituation an den niederländischen Hochschulen bemängelt, die zum einen viel zu wenige Studenten ausbilden und zum anderen nicht genügend Praxisnähe hatte. Der VVVF wünschte sich eine stärkere Ausrichtung der Ausbildungsgänge an den Qualifikationsbedarfen der Beschichtungsindustrie. Der VVVF unterstützte auch den Studiengang Materialbeschichtung an der Fachhochschule in Enschede, indem er Vorschläge zu dessen Ausrichtung einbrachte und den Studiengang immer wieder gegenüber den Streichungsvorhaben des Rektorats der Fachhochschule verteidigte.
4.3.3 Weitere Akteure Syntens Syntens28 ist ein Unternehmerverband in der EUREGIO Maas/RijnNoord und ist überwiegend in der Provinz Limburg (Niederlande) aktiv. Syntens führt Informationsveranstaltungen für Firmen in der Provinz Limburg durch und sieht sich als Institution, die sich den Belangen der Unternehmer annimmt und als Koordinator Aktivitäten in die Hand nimmt wie beispielsweise die Vermittlung von Kontakten und die För-
27 http://www.vvvf.nl 28 Die Informationen über Syntens stammen aus dem ECCS Newsletter 1/2001 sowie von der Homepage: http://www.syntens.nl 119
INNOVATION UND KOOPERATION
derung von Wissensaustausch in der Region. Syntens war zusammen mit der Hoogeschool Enschede, der Fachhochschule Osnabrück und der Hochschule Niederrhein einer der zentralen vier Antragsteller des ersten Euregioförderantrags. Der Unternehmerverband Syntens verfügt über eine umfangreiche Adreßdatei lokaler Unternehmer und veranstaltet regelmäßig Branchentreffs in der Region um Limburg. Als Partner des späteren Netzwerks kann er Ansprechpartner in dieser Region vermitteln und spezielle Veranstaltungen zu lack- und oberflächenspezifischen Themen in dieser Region organisieren. DFO Service GmbH Im Jahr 2001 hat die DFO eine Service GmbH ins Leben gerufen, da sie einen sehr hohen Technologieberatungsbedarf sah. Während die DFO ein gemeinnütziger Verein ist und Mitgliedsbeiträge erhält, ist die Service GmbH eine Technologieberatungsfirma, die gegen Honorar eine Reihe von Dienstleistungen anbietet:29 Sie führt Anlagenplanungen, Prozeßoptimierungen, Schadensanalysen durch, erstellt Gutachten und führt firmenspezifische Seminare durch. Auch die DFO-Service GmbH initiiert und koordiniert staatlich geförderte Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Der Mitarbeiter der Service GmbH pflegt einen kontinuierlichen und regen Wissensaustausch mit einigen Wissenschaftlern der Fachhochschulen und vermittelt oft Teilaufträge an das Netzwerk oder bekommt anders herum von diesem welche vermittelt.
4.4
Entstehungsphasen des Netzwerks
Wenn also im folgenden die Entstehung des Netzwerks kurz dargestellt wird, so geht es um die Entstehung einer informellen, dauerhaften Austauschbeziehung zwischen mehreren Funktionsträgern an Fachhochschulen, in Verbänden und einer Technologieberatungsfirma. Das Netzwerk ist nicht identisch mit dem durch die EUREGIO initiierten Kooperationsverbund ECCS oder mit der daraus hervorgegangenen gleichnamigen Stiftung. Die Entstehung des Netzwerks hängt aber mit diesen gerade genannten Entwicklungen aufs engste zusammen und wäre ohne diese nie entstanden. Im folgenden wird die Entstehung des Netzwerks in verschiedene Phasen unterteilt, um sie leichter einordnen zu können. Anschließend werden die zeitlichen Entstehungsphasen des Netzwerks
29 http://www.dfo-service.de/allgemein.htm 120
DIE FALLSTUDIE
mit den Sensemakingphasen des Modells des Organisierens von Weick in Beziehung gesetzt, da diese nicht exakt deckungsgleich sind. Erste Phase: Vor dem Beginn: 1995/96-1997 Die Möglichkeit, Fördermittel bei der EUREGIO einzuwerben, war ohne Zweifel der Auslöser für die Kontaktierung und Zusammenstellung der ersten deutsch-niederländischen Kooperationspartner, die dann gemeinsam den INTERREG II Antrag an die EUREGIO einreichten. Es waren Mitarbeiter der Hoogeschool Enschede, welche den Antragskriterien entsprechend Partner suchten und diese auf deutscher Seite mit der Hochschule Niederrhein und der Fachhochschule Osnabrück fanden und auf niederländischer Seite mit dem Unternehmerverband Syntens. Da für die Beantragung der Mittel eine Namensgebung als vorteilhaft erschien, gaben sich diese ersten Partner den Namen European Center for Coatings and Surface Technology (ECCS). Die Bewilligung der Mittel war nicht von gemeinsamen Forschungsprojekten abhängig, wie es bei drittmittelgeförderten Verbundforschungen der Fall ist, sondern erforderte vielmehr den Aufbau sinnvoller, langfristiger grenzübergreifender Kontakte in Aussicht zu stellen, was mit der inhaltlichen Ausrichtung aller Partner auf Lack- und Oberflächentechnik gegeben war. Aus Sicht der EUREGIO sollten die zahlreichen regionalen Beschichtungsbetriebe gestärkt werden, indem die Laborkapazitäten der regionalen Fachhochschulen auf den neuesten Stand der Technik gebracht werden und damit die regionalen Beratungs- und Forschungskapazitäten verbessert werden. Die niederländischen Verbände VOM, VVVF und VISEM hatten schon längere Zeit den Wunsch gehabt, ein regionales Beratungszentrum für die kleineren lackbeschichtenden Unternehmen in der Region einzurichten und unterstützten den ECCS-Antrag daher sehr. Auch der deutsche Verband EGL trat als Ideengeber und Unterstützer auf. Selbstverständlich handelte es sich bei dem Kooperationsverbund ECCS noch nicht um ein Netzwerk. Zweite Phase: Konstituierung 1998/1999 Mit dem Beginn der Förderlaufzeit des bewilligten INTERREG II Antrages begannen die Akteure, sich näher kennenzulernen. Es gab verschiedene Treffen, bei denen die Akteure des ECCS sich ihre Arbeiten wechselseitig vorstellten sowie die Labore der jeweils anderen Partner besichtigten. Obgleich sich alle Partner sympathisch waren und man sich gut unterhalten konnte, kam es trotzdem nicht zu gemeinsamen Projekten, das Engagement der Beteiligten für das Vorantreiben des ECCS ließ 121
INNOVATION UND KOOPERATION
auf sich warten. Das ECCS gewann mit der Fachhochschule Münster einen weiteren Kooperationspartner, der zur INTERREG II Förderung hinzustieß. Der Kooperationsverbund ECCS begann mehr auf dem Papier als in der Realität zu existieren. Einige Akteure allerdings verstanden sich sehr gut und standen immer wieder in Kontakt miteinander. Sie führten auch erste niedrigschwellige Kooperationen in bezug auf Auftragsforschungsprojekte durch. Es ist fraglich, ob diese Kontakte und ersten Projekte bereits ausreichen, um von einem Netzwerk zu sprechen. Eine längerfristige Perspektive über die Förderlaufzeit des INTERREG II Projektes war nicht in Sicht. Man sollte deshalb wohl vorsichtiger von einer Akteurkonstellation sprechen, die sich erst allmählich zu einem Netzwerk verdichten sollte. Die Akteurkonstellation und im übrigen auch das daraus hervorgehende Netzwerk ist aber nicht mit den Beteiligten des ECCS identisch, sondern entwickelte sich im Überschneidungsbereich von Akteuren des ECCS und zunächst einem weiteren Akteur, nämlich der Technologieberatungsfirma DFO Service GmbH. Darüber hinaus wurde die DFO als Partnerorganisation hinzugewonnen. Dritte Phase: Stabilisierung: Ende 1999/2000 Aufgrund der Tatsache, daß sowohl die Kontakte unter den ECCS Beteiligten als auch Kooperationsprojekte eher schleppend verliefen und daher ein baldiges Ende des Kooperationsverbundes ECCS mit dem Auslaufen des INTERREG II Programms absehbar war, wurde ein Unternehmensberater eingeschaltet, der den Auftrag hatte, das Entwicklungspotential des ECCS im Hinblick auf Kooperationsmöglichkeiten zu untersuchen. Resultat war eine Formalisierung des ECCS in Form der Gründung einer Stiftung nach niederländischem Recht. Damit wurde aus dem lockeren Verbund ECCS eine Organisation, die abgesehen von einer Sekretariatsstelle und der Position eines Centermanagers keine weiteren Vollzeitmitglieder hatte. Die Stiftung ermöglichte es den ECCS- Partnern, unter dem gemeinsamen Label auch formal aufzutreten und Dienstleistungen gemeinsam anzubieten und abzuwickeln. Insbesondere die Abwicklung von Dienstleistungen für betriebliche Nachfrager über die Stiftung war für die ECCS-Partner vorteilhaft, da man auf diese Weise erstens das Hochschulrecht umgehen konnte, das sich in vielerlei Hinsicht als zu restriktiv erwies30, und zweitens, weil die administrative Abwicklung somit aus den Verwaltungen der Hochschulen he-
30 Ein Beispiel: Nach deutschem Hochschulrecht dürfen die Hochschulen nicht unternehmerisch auftreten. Bezahlte Forschungsaufträge sind aber marktwirtschaftliche Aufträge und werden somit zum Problem. 122
DIE FALLSTUDIE
rausgelagert wurde, die mit der Abwicklung der Projekte überfordert gewesen waren. In dieser Zeit etwa entwickelte sich die vorgenannte Akteurkonstellation sehr schnell zu einem Netzwerk, d.h. zu einer Mehrheit von Akteuren, die gemeinsam Projekte durchführten, sich gegenseitig in Wissensfragen berieten und gemeinsam Weiterbildungen anboten. Das Netzwerk ist aber nach wie vor nicht identisch mit der Stiftung ECCS, da diese mehr Akteure einschließt als im Netzwerk als dauerhaft gedachten Beziehungszusammenhang tatsächlich aktiv sind. Aus der Perspektive des Netzwerks ist das ECCS eine durch das Netzwerk selbst initiierte Organisation, die das Netzwerk in vielerlei Hinsichten perfekt unterstützt, womit sich das Netzwerk seinen wichtigsten Unterstützer selbst erschaffen hat, der allerdings auch dem Netzwerk selbst zum Durchbruch verholfen hat. Mit der mehr oder weniger gleichzeitigen Entstehung des ECCS durch das Netzwerk und der Entstehung des Netzwerks durch das ECCS scheint einer jener seltsamen zirkulären Prozesse vorzuliegen, die Maryann Feldman (2001) für die Region um die Route 128 bei Boston vermutet (vgl. Kap. 1.4.1). Vierte Phase: Entfaltung 2001-2002 Die Untersuchung des Netzwerks im Frühjahr 2002 fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Netzwerk gerade dabei war, seine Wirkung in die Region hinein zu entfalten31, d.h. es wurde stärker wahrgenommen und fungierte als Makler, um Wissensnachfrager und Wissensträger zusammenzubringen, um Kooperationspartner zu vermitteln, und es initiierte eigene und fremde Aktivitäten rund um Lacke und Oberflächen. Mittlerweile wird das ECCS und damit auch viele Netzwerkakteure durch das INTERREG IIIa Programm mit insgesamt 1,6 Millionen Euro durch die EU, durch die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und durch die Niederlande gefördert.
4.5
D e r Au f b a u d e r v i e r e m p i r i s c h e n K a p i t e l
Da die Kapitelfolge im folgenden empirischen Ergebnisteil nicht den hier dargestellten Entwicklungsphasen folgt, sondern statt dessen die Phasen des Modells des Organisierens als roten Faden verwendet, soll an dieser Stelle kurz der Zusammenhang von den im Modell des Organi-
31 Der genannte Endpunkt der Entfaltung ist insofern künstlich, als daß im Jahr 2002 die Untersuchung des Falls stattfand. Die Entfaltung ging über diesen Zeitraum natürlich hinaus. 123
INNOVATION UND KOOPERATION
sierens dargestellten Sensemakingphasen und den Entwicklungsphasen des Netzwerks erläutert werden (vgl. Tab. 1). Aufgrund der Annahme, daß das Netzwerk erst durch ein verändertes Sensemaking zustande kam, muß zuvor das „alte“ Sensemaking eine mögliche Zusammenarbeit blockiert haben. Aus diesem Grund fängt das erste empirische Kapitel (5) mit diesen Blockaden an, die in der hier geschilderten Zeitfolge in die ersten zwei Drittel der Konstituierungsphase fällt. Anschließend ist ein ökologischer Wandel aufgetreten, der durch Gestaltung im Sinne Weicks eines neuen Sensemakings entstand. Es kam zu neuartigen Handlungsweisen, die neue Gestaltungen evozierten. Die beiden Phasen ökologischer Wandel und Gestaltung fallen dadurch praktisch zusammen und werden gemeinsam in Kapitel 6 dargestellt. Die Zeitphasen betreffend, handelt es sich dabei um das letzte Drittel der Konstituierungsphase. Die Stabilisierungsphase fällt mit dem Selektionsprozeß (7) zusammen. Dieser greift allerdings auch weiter in die Vergangenheit auf Ideen und Konzepte zurück, die es bereits vor der Antragstellung für den INTERREG II Antrag gegeben hatte, und betrifft daher auch die erste Zeitphase „vor dem Beginn“. Die Retention schließlich fällt zeitlich mit der Entfaltung des Netzwerks zusammen (8). Tabelle 1: Entwicklungs- und Sensemakingphasen Entwicklungsphasen
Sensemakingphasen
Vor dem Beginn 1995-1997 Konstituierungsphase 1998/1999 Stabilisierungsphase 1999/2000 Entfaltung 2000 – bis heute
Blockaden Ökologischer Wandel/Gestaltung Gestaltung/Selektion Retention
Quelle: eigene Tabelle
124
5 B L O C K AD E N
R E G I O N AL E R
K O O P E R AT I O N
Die Entstehung des regionalen Netzwerks wäre – wie beschrieben – beinahe gescheitert. Die Sachlage ähnelte gewissermaßen dem Turmbau zu Babel: Dieser scheiterte bekanntlich am Sprachgewirr der verschiedenen am Bau beteiligten Volksgruppen, denen es nicht gelang, über die verschiedenen Sprachen hinweg Koordination zu erzeugen. Im vorliegenden Fall geht es ebenfalls um Koordinationsprobleme, jedoch ist das Koordinationsproblem nicht durch unterschiedliche Sprachen, sondern vielmehr durch divergierende Sinnwelten verursacht. Die durch das Förderprogramm zusammengebrachten Partner konvergieren zwar in einem gemeinsamen Gegenstand „Lacke und Oberflächen“, sie divergieren jedoch hinsichtlich der Sinnwelten, die sie aus den gleichen Daten erzeugen. Aus diesen je verschiedenen subjektiven Sinnwelten heraus konnten sie in den Aktivitäten, den sozialen Praktiken, Kompetenzen und Forschungsthemen ihrer Euregiopartner keine Kooperationsmöglichkeiten erkennen, und zwar nicht weil es keine wechselseitigen Bezüge gab, denn letztendlich fanden die Akteure zahlreiche Gelegenheiten für Wissensaustausch und Kooperation. Vielmehr erschienen aus der subjektiven Welt der verschiedenen Akteursgruppen die jeweils anderen Akteure nicht als angemessene Partner. Am Anfang der EUREGIOZweckpartnerschaft ging es ihnen zunächst wie dem Huhn im folgenden Cartoon, das alles aus seiner Hühnerwelt betrachtet und deshalb das bewohnte Haus als leer einordnet und als einziges interaktionsfähiges Lebewesen nur eine Plastikente findet (Abb. 1). Die Tatsache divergierender Sinnwelten führt aber ebenso wie die Faktizität verschiedener Sprachen nicht unausweichlich zu unüberbrückbaren Verständigungsschwierigkeiten. Ganz gegenteilig ist die Kooperation von Akteuren unterschiedlicher Sinnwelten sogar allseits 125
INNOVATION UND KOOPERATION
gelebte Realität. Denn Unüberbrückbarkeit würde jede Arbeitsteilung verunmöglichen; angesichts begrenzter Rationalität und eingeschränkter kognitiver Kompetenzen (Cyert/March 1963) ist Arbeitsteilung eine unausweichliche Notwendigkeit und gängige Praxis in fast allen Organisationen, und zwar gerade auch zwischen Vertretern sehr unterschiedlicher Wissenskulturen wie Marketingfachleuten, Betriebswirten und Ingenieuren unterschiedlicher Provenienz. Das Koordinationsproblem liegt daher offensichtlich weniger in der Tatsache divergierender Sinnwelten an sich. Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen vielmehr, daß mögliche Kooperationsgelegenheiten nicht auffielen, weil sie jenseits gebräuchlicher Schnittstellen im Bereich der Lackier- und Oberflächentechnik angesiedelt waren. Abb. 1: Divergierende Sinnwelten
Quelle: Minerva Luise hüpft ins Haus. PIXI-Serie 136, Hamburg. Der Begriff „Schnittstellen“ allerdings ist ein Begriff, der das zugrundeliegende Problem, wie unterschiedliche Wissensbereiche aufeinander bezogen werden, eher verdunkelt denn erhellt. Der Begriff legt nahe, daß es Schnittstellen gäbe und diese im Objekt an sich bereits angelegt 126
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
wären und man folgerichtig aus dem Objekt erführe, wer als Kooperationspartner in Frage komme. Eine solche objektivistische Sichtweise vermeidet das von Edmund Husserl (1948) verwendete Konzept der Verweisungszusammenhänge. Aus wahrnehmungspsychologischer Sicht befaßt sich Edmund Husserl mit der Frage, wie wir Dinge auch dann als identisch wahrnehmen, wenn wir sie aus einer anderen als der bereits bekannten Perspektive sehen. Dies funktioniert durch Typisierungen, die Wahrnehmung und Orientierung erst erlauben, indem sie das Ding auf bestimmte, wesentliche Merkmale reduzieren und zugleich die Annahme ihrer zeitlichen Konstanz transportieren. Konstanz heißt, daß angenommen wird, daß ein Objekt in wesentlichen Merkmalen immer wieder in ähnlicher Weise und ähnlichen Kontexten in Erscheinung treten wird.1 Die Typisierungen sind aber nicht als starre Schablonen angelegt, sondern flexibel und komplex, was Husserl durch den Gedanken der Verweisungshorizonte zum Ausdruck bringt (ebd.: 48). Der Innenhorizont eines Objekts verweist auf sich selbst sowie auf identische Objekte. Wir wissen wie Stühle aussehen und ein bestimmter Stuhl verweist in jedem Detail auf zahlreiche andere Variationsmöglichkeiten anderer Stühle. Zugleich verweist ein Stuhl aber auch auf anderes als Stühle, nämlich auf Erinnerungen, auf erfahrene Kontexte des Objekts etc., womit der Außenhorizont eines Objekts bezeichnet ist. Mit dem Innen- und Außenhorizont eröffnen sich dem Betrachter mit jedem Objekt im Prinzip unendliche Pfade, entlang derer die Aufmerksamkeit des Betrachters wandern kann. Die Horizontstruktur der Welt verleiht den Typisierungen Flexibilität, da in ihnen zugleich das Allgemeine, das Besondere sowie gänzlich anderes sortiert zur Verfügung steht. Für die hier geführte Argumentation sind nun zwei Aspekte aus Husserls Konzeption von besonderer Bedeutung: Dies ist erstens die Vorstellung, daß die Verweisungshorizonte zwar auf ein Objekt bezogen sind, nicht aber aus dessen ontischer Struktur ablesbar sind. Die Konstitution der Horizontstruktur bedarf vielmehr eines Beobachters, der diese Horizonte anhand des Objekts konstruiert. Zweitens bezeichnen die Verweisungshorizonte nur Möglichkeiten aktualisierbarer Aufmerksamkeitsbezüge, was bedeutet, daß ein Beobachter nur einen winzigen Teil der Horizonte zugleich betrachten kann und eben alles andere als potentiell zu aktualisierende Möglichkeit im Hintergrund verbleibt. Niklas Luhmann hat diese Vorstellungen von Husserl aufgenommen und die
1
Diese Überlegungen Husserls korrespondieren mit Erkenntnissen von Jean Piaget und Bärbel Inhelder (1975/1956), die aufzeigen, daß Objektkonstanz eine kognitive Fähigkeit ist, die Kinder erst erlernen müssen. 127
INNOVATION UND KOOPERATION
Aktualisierung möglicher Verweisungen sozialen Systemen zugeordnet.2 Ohne weiter auf diese Theorie einzugehen, hilft uns aber eben dieser Gedanke, daß die Selektion der zu aktualisierenden Verweisungen eine soziale Gruppe gemeinsam trifft, in der hier verfolgten Argumentation weiter, denn damit läßt sich argumentieren, daß es sozusagen Verweisungsgewohnheiten innerhalb einer bestimmten Gruppe wie bestimmten Spezialistengemeinschaften gibt. In bezug auf die Lackiertechnik läßt sich daher argumentieren, daß es in dieser Kultur der Spezialistengemeinschaft eingespielte, typische Verweisungsgewohnheiten gibt, wann und in welcher Weise Spezialgebiete aufeinander rekurrieren. Es wird sich dabei um gebräuchliche, häufig genutzte Verweisungen typischer Lackierprozesse handeln, die deshalb als bestimmte Phasen des Lackierprozesses standardisiert sind und dadurch Abstimmungsprozesse zwischen diesen Phasen erübrigen. Wählt man für eine Standardlackierung eines der Standardverfahren zur Untergrundbehandlung, so wird man damit in der Regel gut bedient sein, und auch für die Qualitätsüberprüfung gibt es eine Anzahl standardisierter Tests, die den meisten Anforderungen gerecht werden. Die selektive Bezugnahme einer Gruppe auf die große Masse potentiell verbleibender Aktualisierungsmöglichkeiten bringt es allerdings mit sich, daß bestimmte Verweisungen unberücksichtigt bleiben, da die Aufmerksamkeit durch diese Gewohnheiten nur auf ganz bestimmte Aspekte des Geschehens konzentriert wird. Deshalb gibt es die Möglichkeit, jenseits der von einer bestimmten Spezialistengemeinschaft vorwiegend verwendeten Verweisungshorizonte andere Horizonte, die genauso möglich sind, zu aktualisieren. Insbesondere im Bereich der Forschung und Innovation, der im Zusammenhang eines entstehenden Innovationsnetzwerks der eigentlich relevante Gesichtspunkt und daher Gegenstand unseres Interesses ist, gibt es deutlich weniger standardisierte Verweisungen, obwohl natürlich auf vorhandene Standards aufgebaut wird. Rund um die Lackiertechnik gibt es zahlreiche Fragestellungen, an denen geforscht wird, und hier bilden sich, wie es für das Vorgehen in der Wissenschaft üblich ist, Spezialistengemeinschaften von jeweils den Experten, die zu den gleichen Problemstellungen arbeiten. Diese speziellen Fragestellungen, die zunächst in einer der Phasen verortet werden können, führen zu sehr selektiven Bezugnahmen auf andere Phasen des Lackierprozesses, so beispielsweise können neue Lackrezepturen Bezugnahmen zur Vorbehandlung dieser entsprechenden Oberflächen notwendig erscheinen lassen. 2
Zur Darlegung von Luhmanns Rekurs auf Husserl und Heider vgl. Heidenescher (1992).
128
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
Zunächst läßt sich feststellen, daß die Spezialgebiete der EUREGIOKooperationspartner in jeweils einer anderen Phase der Lackiertechnik lagen und sie deshalb gemeinsam die gesamte Bandbreite des Lackierprozesses von der Vorbehandlung der Oberfläche, der Lackrezeptur, der Lackapplikation bis hin zur Qualitätsmessung formal abdecken konnten. Diese Spezialisierungen hatten bereits vor der Antragstellung bestanden, waren also nicht erst durch das Netzwerk verursacht, was sich sowohl anhand der Zuständigkeiten an den Fachhochschulen als auch bezüglich früherer Tätigkeiten der jeweiligen Experten in der Industrie leicht zeigen läßt. Diese phasenbezogene Komplementarität lag aber andererseits auch nicht zufällig in der Region vor, da der Studiengang Lackiertechnik auf niederländischer Seite bewußt anders akzentuiert wurde als der entsprechende Studiengang an der nahen deutschen Fachhochschule, die von jeher als eine der beiden deutschen Kaderschmieden im Bereich Lackrezeptur galt.3 Nachdem sich diese beiden Fachhochschulen zwecks Beantragung der durchaus beachtlichen Fördermittel zusammengetan hatten, versuchten sie weitere möglichst komplementäre Kooperationspartner in der Region zu finden, wodurch man dann zu der genannten formal komplementären Konstellation gelangte. Betrachtet man jedoch typische Verweisungsmuster zwischen diesen Spezialgebieten, so standen die Spezialkompetenzen beziehungslos nebeneinander. Ein Forschungsgebiet behandelte beispielsweise das Ersetzen von für die Umwelt schädlichen Chemikalien in den Lackrezepturen im Bereich der Pulverbeschichtung durch andere ungiftige Stoffe. Eine andere Person setzte sich mit verschiedenen Techniken der Applikation von Flüssiglacken auseinander, und zwar vornehmlich im Bereich Kunststoffe, während der Experte für die Vorbehandlung der Oberflächen auf Metalle spezialisiert war und hier nochmals spezieller im Flugzeugbau. Es wäre ein völlig unwahrscheinlicher Zufall gewesen, wenn die in einem geographischen Gebiet durch einen Euregioantrag zusammengewürfelten Spezialisten hinsichtlich ihrer partikularen und hochspezifischen fachlichen Spezialisierung sich komplementär im Rahmen der fachtypischen Verweisungsgewohnheiten ergänzt hätten. Damit ist das Problem bereits charakterisiert: Zu Beginn der durch die EUREGIO initiierten Kooperation war es für die beteiligten Partner weder offensichtlich noch ersichtlich, wie man sich in bezug auf die tägliche Arbeit ergänzen könnte oder welche gemeinsamen Projekte man durchführen könnte. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß vieles dafür spricht, daß die Kooperationsmöglichkeiten und die Anlässe zum Wissensaustausch, die das Netzwerk später für die Akteure attraktiv 3
Interview Herr Maler. 129
INNOVATION UND KOOPERATION
werden ließ, jenseits der bekannten und in die soziale Praxis der Ingenieure eingelassenen Sinnverweisungshorizonte lagen und insofern unkonventionell waren. Daraus folgt, daß solange die Euregiopartner sich gegenseitig aus der üblichen Sichtweise und der durch diese ausgewiesenen, üblichen Verweisungshorizonte ihrer Spezialistengemeinschaft betrachteten, sie sich als unverbundene und unverknüpfbare Spezialgebiete gegenüberstanden, was zu Koexistenz statt zu Kooperation führte und damit wohl den gewichtigsten Grund für die Blockierung der Netzwerkentwicklung darstellt. Darüber hinaus wurde aber auch das Sensemaking auf organisationaler Ebene untersucht, und es zeigte sich, daß auf der organisationalen Ebene die inhaltlichen Überschneidungsbereiche, die es insbesondere in bezug auf das Standardwissen des Lackierprozesses zwischen den Euregiopartnern gab, als äquivalent interpretiert wurden und in Richtung auf Konkurrenz gesteigert wurden, so daß eine Deblockierung über diese ähnlichen Kompetenzen erschwert wurde. Im folgenden soll anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt werden, wie das zu Beginn der Kooperation praktizierte Sensemaking der jeweiligen Spezialisten zunächst auf professionell-fachlicher und anschließend auf organisationaler Ebene Kooperationsgelegenheiten abblendete. Gespräch zwischen Alter Ego (A.E.) und Daniela Manger (D.M.) A.E.: Liebe Frau Manger, leider tun Sie das, was mir bei vielen soziologischen Texten auffällt, und zwar äußerst unangenehm auffällt: Sie blasen einen einfachen Sachverhalt theoretisch auf, so daß man ihn kaum noch versteht, und verstecken eine einfache Lösung hinter soziologischem Geschwafel. D. M.: Wie meinen Sie das? A.E.: Das Problem, welches Sie erörtern, ist ein sehr einfaches, wenn man Ihre unnötigen Theoretisierungen wegläßt: Die Experten arbeiteten in unterschiedlichen Spezialgebieten, die üblicherweise in eben dieser Konstellation normalerweise nicht kooperieren, was natürlich keinesfalls heißt, daß Kooperation prinzipiell unmöglich wäre. Schließlich arbeiten alle Experten zum gleichen Oberthema Lacke und Oberflächen. Die Leute müssen sich also nur kennenlernen und erfahren, worüber die anderen Euregiopartner arbeiten, sie müssen wissen, in welchen Bereichen Fachwissen vorliegt, um gegebenenfalls darauf zurückgreifen zu können. So werden regionale Synergien erzeugt. D. M.: Sie meinen, die Leute müßten sich einfach näher kennenlernen? A.E.: Genau, und hier liegt das Problem. Die Leute haben keinen Anreiz, die anderen Partner überhaupt kennenzulernen, weil sie glauben, 130
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
es würde ihnen nichts bringen. Deshalb muß man diesen Anreiz künstlich erzeugen, um das System zu deblockieren. D.M.: Aber genau in diesem Punkt komme ich auf Grund meiner theoretischen Reflexionen, die Sie für überflüssig halten, zu einem anderen Schluß: Weil die Akteure eben nicht eine sinnhafte Welt vorfinden, sondern diese erst aktiv durch ihr Sensemaking gestalten, hängt es von den Sensemakinggewohnheiten der Akteure ab, ob sie Gelegenheiten für Kooperation und Wissensaustausch finden oder nicht. Damit ist zugleich die These verknüpft, daß selbst, wenn die Akteure über die Spezialkompetenzen ihrer potentiellen Kooperationspartner informiert wären, sie diese Information nicht wahrnehmen würden, solange sie mit der gewohnten Weise des Sensemakings fortfahren. A.E.: Sie interpretieren da etwas in die Wirklichkeit hinein, was sich empirisch gar nicht zeigen läßt. D.M.: Ich nehme Ihren Einwand im folgenden gerne auf.
5.1.
Sensemaking auf fachlich-professioneller Ebene
Ziel des Euregioprogramms ist es, grenzübergreifende Kooperationen anzuregen. Voraussetzung für die Teilnahme und damit für den Erhalt durchaus beträchtlicher Forschungsmittel sind regelmäßige Treffen der Programmteilnehmer, und darüber hinaus sollen die Euregiopartner Kooperationsprojekte entwickeln. Die gemeinsamen Treffen waren so gestaltet, daß sich die Teilnehmer gegenseitig ihre Forschungsgebiete vorstellten, was später auch mit gegenseitigen Laborbesuchen verknüpft wurde. Dieses gegenseitige Kennenlernen hat jedoch nicht zur Aufnahme von Kooperationen geführt. Gegenteilig schien den Euregiopartnern unklar zu sein, in welcher Weise man kooperieren könne. In Gesprächen wurde deutlich, daß die Kooperationspartner sich regelrecht den Kopf darüber zerbrochen haben, welche Kooperationsprojekte sie in den ersten Folgeantrag für die Bewilligung der Euregiofördermittel angeben könnten. Daß man dann „nur“ die Organisation allgemeiner Branchentreffs für Oberflächenbeschichtung fand, stützt die Vermutung, daß man andere, engere die tägliche Arbeit betreffende Bezugspunkte in diesem Stadium der Kooperation noch nicht gesehen hatte. Ein weiteres Indiz für diese Interpretation ist, daß die Interviewten bezüglich der ersten Zeit der Kooperationsbeziehung die Kompetenzen der Partner allgemein beschreiben wie beispielsweise „wir hatten ja alle was mit Oberflächen zu tun“ (Interview Herr Maler). Bei Schilderungen gegenwärtiger Kooperationsbeziehun131
INNOVATION UND KOOPERATION
gen wird dagegen immer eine spezifische Kompetenz angesprochen, wegen der man den Rat des anderen benötigt, wie „Der Herr X kennt sich mit der Beschichtung von Kupfer aus“ (Interview Herr Koch). Und schließlich ist es nachvollziehbar, daß die Euregiopartner, weil sie sich als beziehungslos nebeneinander wahrnahmen und aus diesem Grunde für sie weder Wissensaustausch noch forschungsbezogene Kooperation im engeren Sinne zu erwarten waren, die gemeinsamen Treffen als „zwanghaft“ beschreiben, als „langweilig“ und als „zeitraubend“ bezeichneten: „Es waren diese zwanghaften Gemeinsamkeiten, ja, die durch diese Struktur EUREGIO vorgegeben war, also ‚ihr müßt zusammen das und das machen, ihr müßt Infos austauschen’ und so und dieses und jenes, das wird immer so als Zwang empfunden“ (Interview Herr Rater).
All diese genannten Indizien zeigen bereits, daß sich durch Kennenlernen und durch den Austausch von Information darüber, womit sich die anderen Partner inhaltlich beschäftigen, die Sinnbarrieren nicht aufbrechen ließen. Sie wurden gegenteilig kontinuierlich von den Akteuren erzeugt. Dies soll exemplarisch anhand eines Beispiels näher verdeutlicht werden. Das Beispiel entstammt einem zum Zeitpunkt der Untersuchung neu gewonnenen Partner des zum Untersuchungszeitpunkt bereits florierenden Netzwerks. Dieser neue Partner hatte aber scheinbar eben jene Anfangsprobleme, welche die anderen Partner schon hinter sich gelassen hatten, eine Vermutung, die ihre Begründung darin findet, daß er erstens keine Kooperationsmöglichkeiten mit seinen neuen Partnern entdecken konnte und sich dieses aber – wie ich hörte – später doch geändert hatte. Sein Motiv für die Teilnahme am Netzwerk liegt bei ihm wie bei allen anderen frühen Partnern auch vor allem in der Möglichkeit, darüber Euregiofördermittel zu erhalten, die wie schon oft erwähnt von nicht unerheblicher Höhe waren. Der neue Partner, nennen wir ihn Herr Messner, ist Experte für Sensortechnik. Zentrale Bedingung für den Erhalt der Fördermittel ist die Bereitschaft, mit den anderen Euregiopartnern zusammenzuarbeiten, und wohl aus diesem Grunde signalisierte der Sensortechniker seine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft, sollte er auf eine Frage stoßen, die die inhaltlichen Gebiete der anderen betrifft. Etwas später im Gespräch sagt er aber, daß solcherart Fragestellungen im Rahmen seiner Projekte nicht zu erwarten seien: „Wissenstransfer ist auch noch nicht so viel […] wenn ich auf was stoße, dann ja dann muß ich eben beim A [Name eines Netzwerkpartners] oder bei B 132
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
[Name eines Netzwerkpartners] nachgucken.“ Etwas später: „Es ist schon so, daß man eher sehr unabhängig arbeitet, solche Fragestellungen kommen da überhaupt nicht erst auf“ (Interview Herr Messner).
Es ist aber nun keinesfalls so, daß es grundsätzlich keine inhaltlichen Berührungspunkte mit den Euregiopartnern gäbe. Denn die Aufträge, die der Experte für Meßtechnik bekommt, bestehen typischerweise darin, Unternehmen bezüglich der für sie geeigneten Meßtechnik zur Fehlererkennung zu beraten. Wenn es auch in vielen Fällen um die Charakterisierung unlackierter, nackter Oberflächen geht, so gibt der Experte doch an, daß er auch immer wieder Anfragen von Unternehmen erhält, bei denen es um lackierte Oberflächen geht. Wenn nun dieser Experte Fehler in der lackierten Oberfläche aufspürt und in einem Verbund mit Partnern ist, die Spezialisten in verschiedenen Bereichen der Lackiertechnik sind, und die Unternehmen in bezug auf eine Optimierung ihrer Lackierprozesse beraten, wobei Optimierung immer auch Fehlerreduktion heißt, so drängt sich der Verdacht auf, daß einige der Lackfehler, für die Herr Messner eine Sensortechnik entwickeln oder auch nur vorschlagen soll, durch eine Optimierung des Lackierprozesses zu vermeiden wären. Auf meine diesbezügliche Nachfrage jedoch reagierte der Sensortechniker erstaunt, hielt eine solche Möglichkeit aber durchaus für eine machbare Option: Interviewerin: „Greifen die Themengebiete des Euregionetzwerks vielleicht auch so ineinander, daß mit einer anderen Lackiertechnik die auftretenden Fehler reduziert werden könnten, oder ist das abwegig?“ Herr Messner: „Ne, ne, abwegig ist das nicht. Aber in DIE Tiefe sind wir bisher [im Netzwerk] nicht vorgedrungen.“
Er selbst führt anschließend diese Idee, wie eine solche Zusammenarbeit aussehen könnte, weiter aus: Herr Messner: „Das ist natürlich der Vorteil, den man mit so einem geförderten Projekt ja auch hat, daß man sagen kann, […] ja, also man kann eben global optimieren, also nicht nur die Meßtechnik. Weil wir Kooperationen haben, also wenn Probleme aufstoßen, dann können wir auch mit den anderen sprechen. Da kommt beispielsweise immer diese Orangenhaut [kleine Dellen im Lack], dann können Sie die messen, aber die [Orangenhaut] haben Sie dann immer noch. Dann kann man Kollegen anrufen, ja wenn sie den Lack auf diese Art und Weise anrühren [können Sie die Orangenhaut vermeiden]. Das wäre ein Vorteil, den wir hier in der Euregiopartnerschaft haben, daß wir nicht nur die Meßtechnik ansehen, sondern eben schauen, daß wir dem Kunden da das Beste geben.“ 133
INNOVATION UND KOOPERATION
Gleichwohl der Experte für Sensortechnik die Möglichkeit sieht, wie man in bezug auf bestimmte Fälle ab und an zusammenarbeiten könnte, vermittelt er doch den Eindruck, als wolle er insgesamt eine solche Kooperation eher vermeiden. Dies zeigt sich nicht nur in seiner zwar höflichen, aber doch etwas wortkargen und reservierten Haltung, sondern auch in einigen sehr klaren Äußerungen. So beendet er sein Orangenhautbeispiel mit der Anmerkung, daß solche Problemstellungen an sich aber nie auftauchen würden. Damit widerspricht er sich selbst, denn er hatte eingangs erläutert, daß er Fehlerdetektion sowohl an unlackierten wie auch lackierten Oberflächen vornehme und seinen Tätigkeitsschwerpunkt am Beispiel eines kürzlich abgeschlossenen Auftrags veranschaulicht, bei dem es gerade um die Fehlerdetektion bei lackierten Profilen für die Fertigung von Fenstern und Fensterrahmen ging. Vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Herangehensweise an die Interviews drängt sich daher die Vermutung auf, daß es zwar durchaus Fragestellungen gibt, die auf die Kompetenzen der anderen Euregiopartner verweisen, daß er als Sensortechniker jedoch diese Art Fragestellungen nicht verfolgt, weil sie für ihn aus seiner fachlichen Perspektive nicht relevant und sogar unattraktiv zu sein scheinen. Gerade die erste spontane Reaktion auf meine Frage, ob Lackfehler nicht auch grundsätzlich beseitigt werden könnten, untermauert diese Interpretation, denn sie zeigt die theoretische Möglichkeit einer solchen Zusammenarbeit und zugleich jedoch die subjektiv wahrgenommene Unattraktivität: „Ne, ne, abwegig ist das nicht. Aber in DIE Tiefe sind wir bisher nicht vorgedrungen. Das ist natürlich ein Punkt, den wir als Sensorentwickler manchmal etwas negativ erfahren, denn im Grunde genommen geht es da nicht darum, ob wir die Meßtechnik dafür haben, sondern es geht ihnen darum, ihre Fertigung zu optimieren […] da steht man dann als Meßtechniker ein Stück weit auf dem Schlauch, weil Meßtechnik brauchen die ja dann nicht mehr“ (Interview Herr Messner).
Um zu verstehen, warum der Sensortechniker durchaus Verknüpfungen zu den Tätigkeitsfeldern der anderen Euregiopartner sieht, diese Kooperationsmöglichkeiten ihn aber nicht interessieren, sondern gegenteilig geradezu irrelevant zu sein scheinen, müssen wir im folgenden tiefer in die Struktur von Expertengemeinschaften eintauchen, die sich dann wiederum in ihrer Kultur spiegelt. Erst vor dem Hintergrund der Bedeutungswelt der Sensortechniker wird die Bewertungs- und Beurteilungspraxis, die uns hier angesichts offensichtlicher und logischer Querverweise erstaunt, nachvollziehbar. 134
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
5.1.1 Die Bedeutungswelt der Sensortechniker Die Sensortechnik ist ein Spezialgebiet der Physik. Es geht dabei um die Charakterisierung von Oberflächen, d.h. ihre Zusammensetzung anhand von hochsensibler Meßtechnik mittels optischer, lasergestützter und elektronischer Verfahren. Diese Verfahren werden häufig als Präzisierung des menschlichen Auges begriffen und insofern der visuellen Wahrnehmung zugeordnet, die gegenüber dem „defizitären“ menschlichen Sehsinn eine körperunabhängige Verfügbarkeit, Präzision und eine hohe Zuverlässigkeit aufweisen.4 Dieses anthropomorphe Konzept allerdings ist noch relativ jung, es entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung von nicht mit dem Auge erfaßbaren Lichtwellen.5 Angestoßen durch diese erste Entdeckung, der weitere folgten (wie die Röntgenstrahlen, elektromagnetische Wellen etc.), kam dem menschlichen Auge nicht mehr die Bedeutung als Verifikationsinstanz wissenschaftlicher Beweisführung zu, sondern erschien gegenteilig schließlich sogar als defizitär. Das „Sehvermögen“ der Instrumententechnik gilt seither als Quelle sicheren Wissens.6 Die Entwicklung der Meßtechnik hin zur wissenschaftlich präzisen Sehinstanz war interpunktiert von zahlreichen und schnellen Entwicklungen der meßtechnischen Instrumente auf allen Gebieten, also sowohl der optischen, der lasergestützten als auch der Elektronenmikroskopie. Diese rasante technische Entwicklung war nur deshalb möglich, weil sich die mit diesen Instrumenten befaßten Wissenschaftler in ihrer Wahrnehmung sehr stark einschränkten und sich systematisch auf weniges konzentrierten, so lautet, etwas salopp formuliert, eine zentrale These Niklas Luhmanns (1992) zur Herausbildung des Wissenschaftssystems oder anders herum formuliert: Weil die Wissenschaftler vielen Aspekten und Themen, die auch interessant gewesen wären, keine Beachtung schenkten, weil sie Ignoranz pflegten, konnten sie so viele spezifische Informationen erzeugen und verarbeiten. Damit wäre Ignoranz gegenüber Themen, die von den eingespielten Themen der eigenen Fachgemeinschaft abweichen, ein notwendiges und richtiges Verhalten
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Die Verknüpfung von visueller Wahrnehmung und wissenschaftlicher Beweisführung über die Realität des Gesehenen läßt sich wissenschaftstheoretisch natürlich auch kritisch hinterfragen (vgl. dazu etwa Gooding, Pinch, Schaffer 1989). Es handelte sich dabei um doppelt brechendes Licht durch Polarisationsinstrumente, vgl. Renneberg (2000). „Sehen heißt Wissen“ lautet der programmatische Titel einer Darstellung der Rasterelektronenmikroskopie (Eckert 1998). 135
INNOVATION UND KOOPERATION
dieser Wissenschaftler. Diese These soll im folgenden näher ausgeführt werden: Kommen wir nochmals zurück auf die Überlegungen von Niklas Luhmann (1992: 298): Hohe wissenschaftliche Leistungen, wie sie in der Sensortechnik aber natürlich auch in zahlreichen anderen wissenschaftlichen Disziplinen selbstverständlich geworden sind, wurden durch strukturelle Umbauten des Wissenschaftssystems möglich, durch die das Wissenschaftssystem als ganzes gesehen aber auch jede Spezialdisziplin für sich immense Informationen auf sehr spezifische Weise verarbeiten kann. Zur Verdeutlichung der Funktionsweise dieses neuen Grundprinzips greift Luhmann auf Arbeiten zum menschlichen Nervensystem des Kybernetikers Heinz von Foerster (1993/1973) zurück: v. Foerster betont, daß unser Nervensystem die Umwelt nicht einfach abbildet oder gar eine Punkt für Punkt Übertragung der Außenwelt leistet, sondern „die Welt“ aus erstaunlich wenigen Daten errechnet. Die nervlichen Rezeptoren für die Außenwelt reagieren nur auf ein bestimmtes, und man könnte sogar sagen: eingeschränktes Spektrum an Reizen, die erst ab einer bestimmten Stärke überhaupt registriert werden, und überdies zeigen die Rezeptoren nicht einmal die Qualität eines Reizes, also weder die Intensität noch die Richtung, sondern registrieren lediglich die Tatsache des Reizes an sich. Aus all diesen eigentlich rudimentären Angaben vermag das Gehirn jedoch eine kongruente Vorstellung einer Außenwelt zu erzeugen, mit der wir so gut zurechtkommen, daß wir die Konstruktion einer Welt als direkten Zugriff auf die Welt interpretieren. Diese Meisterleistung des Gehirns, aus wenigen Daten so reichhaltige Wahrnehmungen zu konstruieren, führen Hirnforscher auf die Reduktion der eingehenden Reize auf wenige Möglichkeiten zurück, die aber durch zahlreiche Korrelationen Rückschlüsse erlauben (Roth 1997: 100ff.). Die Kombination aus einer „überschaubaren“ Menge sowie begrenzter Variabilität an eingegangenen Daten einerseits und einer hoch komplexen Datenverarbeitung andererseits, ermöglicht die Konstruktion einer funktionierenden Weltrepräsentation. In Analogie zum Erfolg des Gehirns stellt sich Luhmann (1992: 551) den Erfolg des Wissenschaftssystems als Folge der Zurückweisung zahlreicher Reize aus der gesellschaftlichen Umwelt zugunsten der Konzentration auf ganz bestimmte, sehr spezifische Reize vor, die dann aber in sehr komplexe Theorien eingearbeitet werden und deren Entstehung kontinuierlich irritieren, wodurch dann ebenfalls Weltkonstruktionen entstehen, die sich als äußerst praktikabel erweisen, was zu der Tendenz führt, wissenschaftliche Wahrheiten als Wahrheit schlechthin zu interpretieren, obgleich sie v. Foerster zufolge nur ein Schlüssel von mehreren möglichen sind, die ein Schloß aufzuschließen vermögen. 136
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Dieses Argument läßt sich anhand der Geschichte der Sensortechnik veranschaulichen: Auch dort wurden externe Referenzen auf nur wenige Eingangsdaten reduziert und zwar durch einen Vorgang, den man als Laboratisierung des meßtechnischen Vorgangs auffassen kann. Karin Knorr-Cetina (2002: 48) versteht unter Laboratisierung nicht nur die Konzentration bestimmter, und in diesem Fall meßtechnischer Gerätschaften und der mit ihnen experimentierenden Wissenschaftler an einem Ort, sondern einerseits die Rekonfiguration und Manipulierbarkeit der verwendeten Objekte und Instrumente, aber andererseits ebenfalls die Rekonfiguration der Verhaltensweisen der sozialen Akteure, also der Wissenschaftler im Labor.7 Im Labor werden Objekte in eine neue Ordnung eingepaßt, sie werden zu einem Parameter in einem Set aus Objekten, Personen und Geräten etc. Die zu untersuchenden Objekte oder Körper werden ihren vorherigen Bezügen entnommen und in neue verwoben. Die Wespe beispielsweise interessiert dann nicht mehr als Blütenbestäuber, als Ärgernis am Frühstückstisch oder in sonst irgendeiner Weise, in der sie als Insekt Beachtung finden mag.8 Im meßtechnischen Labor interessiert sie nur noch als Vergrößerungsobjekt, als Objekt, dessen Mikrostrukturen es zu betrachten gilt. Die Frage, die dann im Vordergrund steht, ist, wie das Objekt beschaffen sein muß und wie es präpariert werden kann, damit es optimal zu der gewählten Vergrößerungstechnik paßt. Für die Untersuchung vermittels eines Rasterelektronenmikroskops beispielsweise ist die elektrische Leitfähigkeit der Oberflächen des zu untersuchenden Objekts von Bedeutung. Viele Objekte, die nur eine geringe elektrische Leitfähigkeit aufweisen wie beispielsweise Glas oder biologische Körper müssen zunächst mit einem Kathodenzerstäuber (ein sogenanntes Sputtergerät) hauchdünn vergoldet werden, damit die Oberflächen der Objekte und Körper leitend werden und der Elektronenstrahl diese somit durchdringen kann (Eckert 1998: 29). Die Objekte und Körper werden im Labor manipuliert, um als Gegenstück des Instruments fungieren zu können. 7
8
Knorr-Cetina (2002) befaßt sich allerdings nicht mit der Meßtechnik, sondern mit der Kernphysik. Ich habe mich nur von ihrem Laborbegriff inspirieren lassen. Knorr-Cetina (2002) verwendet die Unterscheidung von Labor und Natur. Im Labor würde die natürliche Ordnung revidiert (ebd.: 48). Aber was ist die natürliche Ordnung? Gibt es ein bestimmtes ontologisches „so sein“, von dem man ein Labor als unnatürlich oder nicht-natürlich abzugrenzen vermag? Diese Unterscheidung halte ich für problematisch, denn schließlich sind Frühstückstische und Wespen auch keine natürliche Konstellation? Oder doch? Diese Frage zeigt schon die Schwierigkeit der Hantierung mit dem Naturzustand auf. Ich präferiere es daher, einfach nur von „anders“ als „anderswo“ zu sprechen. 137
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Anstelle der Beziehungen des zu vergrößernden Objekts oder Körpers in vielen denkbaren Umfeldern interessiert im meßtechnischen Labor nur noch eine einzige Beziehung, nämlich die zum verwendeten meßtechnischen Instrument. Um diese Beziehung zu optimieren, war eine völlige Vernachlässigung aller anderen Themen und die absolute Konzentration auf diejenigen Parameter, die sich in diesem Vorgang wechselseitig bedingen, notwendig. Daß diese absolute Abschottung gegenüber anderen durchaus relevanten Themen und die völlige Konzentration auf ganz Spezifisches etwas besonderes und in jedem Fall zu Beginn der modernen Wissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich war, wird deutlich, wenn man die Geschichte der Instrumente näher betrachtet. Freilich hatte es Fernrohre schon lange gegeben und die Vergrößerung vermittels optischer Instrumente hat auch einige Fortschritte erlebt, wie den Bau von Vergrößerungsapparaten mit drei optischen Linsen im 17. Jahrhundert (Keil 2000). Die Instrumente allerdings wurden nicht speziell für Forschungszwecke gebaut und entwickelt und auch nur selten zu solchen Zwecken eingesetzt, denn Wissenschaftler und Universitäten gab es nur wenige und ein entsprechender Markt mit spezifischen Anforderungen war nicht entwickelt. Statt dessen erfüllten die Instrumente, wie Paolo Brenni (2000: 75f.) ausführt, zahlreiche verschiedenartige Funktionen: „Während der Renaissance waren es kostbare Instrumente, Sammlungsobjekte wie Gemälde oder archäologische Raritäten der Wunder- und Schatzkammern, die Macht, intellektuelle Neugier und Reichtum ihres Besitzers zeigten.“ Eine Optikwerkstatt im 17. Jahrhundert hat neben Brillengläsern, die sicherlich die Haupteinnahmequelle darstellten, auch eine breite Palette an optischen Instrumenten gefertigt, darunter auch gern als Amüsement gekauftes Spielzeug (für Erwachsene) wie „Flohbüchsen“ und große Fernrohre für die Schatzkammern der Fürsten (Keil 2000: 106, 264). Der kommunikative Austausch über technische Neuentwicklungen spielte auch schon zu dieser Zeit eine entscheidende Rolle für die schrittweise Verbesserung der Instrumente. Kommunikation fand im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts via Kaufleute, durch den Verkauf von Instrumenten selbst und vor allem durch Briefwechsel statt, wobei jedoch die Geschwindigkeit dieses Austauschs gemessen an modernen Möglichkeiten sehr langsam war (Keil 2000: 99ff.). Abgesehen davon, daß sich die Kontextbedingungen für die Instrumentenentwicklung erst allmählich so herausbildeten, daß eine Spezialisierung auf die Optimierung und eine Bündelung bereits erzielter Erkenntnisse möglich wurde, muß man sich verdeutlichen, was die Konzentration auf weniges für die Erzeugung spezifischer Informationen 138
BLOCKADEN REGIONALER KOOPERATION
und damit für den Erkenntnisgewinn bedeutet. Informationen werden im Wissenschaftssystem nicht einfach zufällig irgendwo entdeckt, als würde man irgendwo im Erdreich bei Bauarbeiten einen prähistorischen Knochen finden, Informationen werden hingegen gezielt erzeugt und zwar durch das, was man als Experimentieren bezeichnet, nämlich durch das Ausbilden und Überprüfen von Erwartungen. Dies war im meßtechnischen Labor durch die Wiederverwendung immer gleicher Objekte möglich, denn wie schon beschrieben interessieren nicht mehr alle Objekte und schon gar nicht die Einzigartigkeit eines bestimmten Objekts, sondern bestimmte, standardisierte Objekte oder Oberflächen. Nur eine bekannte Oberfläche kann zur Projektionsfläche werden, vor der die Präzision und Verwendbarkeit der Meßinstrumente überprüft werden kann. Wie sich ein Bild durch die Variation der Voltzahl des Elektronenrastermikroskops verändert, läßt sich nicht feststellen, wenn man immer andere Objekte benutzt, sondern nur, indem man das Objekt gleich läßt und eben ausschließlich den Elektronenstrahl variiert. Die externen Bezüge einer Oberfläche, ihre Funktion in einem laborexternen Anwendungsbezug werden im Meßlabor irrelevant. Die laboratisierte Oberfläche verweist nicht mehr auf externe Daten, sondern sie verweist umgekehrt auf die eigenen Apparaturen und erzeugt zahlreiche Informationen über die Reichweite dieser Instrumente. Somit kommt es durch die Kappung externer Verweisungen zur Intensivierung interner Verweisungshorizonte. Mit der Abkopplung von vielen ebenfalls interessanten aber eben für den Arbeitszusammenhang irrelevanten Informationen werden zugleich andere Informationskanäle deutlich intensiviert. Es handelt sich hierbei um fachinterne Kommunikationen, die sich auf die Änderung und den Bau von Meßinstrumenten beziehen. Die interne Umwelt des Meßlabors wird zu einer wichtigen und zentralen Informationsquelle für die eigenen Versuche. Die Gespräche mit Kollegen, die an ähnlichem arbeiten, die Kalibrierung der Geräte, die Gespräche über den Versuchsablauf werden zu wichtigen Informationen, weshalb Karin Knorr-Cetina (2002: 59) in bezug auf physikalische und biotechnische Laboratorien von „internen Beobachtungsumwelten“ spricht. Oberflächen und Meßinstrumente bilden zwei Pole in einem Zusammenhang rekursiv aufeinander verweisender Aktivitäten und Kommunikationen, und dies heißt zugleich auch, daß andere Informationen, Kommunikationen und Handlungen, die außerhalb dieses rekursiven Verweisungszusammenhangs stehen, nicht anschlußfähig sind und deshalb in bezug auf diesen als irrelevant erachtet werden. Auch der Sensortechniker in unserem Fallbeispiel verhält sich in diesem Sinne. Weil die Oberfläche für den Meßtechniker nicht mehr als Oberfläche in ihren 139
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diesbezüglichen funktionalen Bezügen als regenabweisende oder korrosionsschützende Fläche interessant ist, sondern ausschließlich als zu vermessendes Objekt, und nur noch die Informationen als interessant Beachtung finden, die auf die eigenen vorhandenen oder möglichen Meßtechniken verweisen, ist die Information, daß ein anderer Lack die Fehlerquote bereits reduziert, im internen Verweisungszusammenhang der Meßtechniker nicht anschlußfähig und eben genau eine der NonInformationen, die als irrelevant eingestuft werden. Diese Information kann im Bereich der Meßtechnik nicht weiter verarbeitet werden, und dies ist sogar eine strukturelle Notwendigkeit, die den wissenschaftlichen Fortschritt in diesem Bereich erst ermöglicht. Wissenschaftler erlernen in ihrer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft spezifische kognitive Kompetenzen, bestimmte Wertungen und Denkweisen, die sie verinnerlichen. Was als erstrebenswert, als wichtig oder unwichtig und was als akzeptable Lösung anzusehen ist, wird durch die sozialen Normen der fachlich-professionellen Gemeinschaft definiert, und anderes kommt dann gar nicht in den Blick und wenn doch, so scheint es absurd, verrückt oder zumindest unattraktiv zu sein. Es ist die durch spezifische Wahrnehmungen, Routinen und Wertungen geprägte Handlungspraxis, die – wie Weick (1985: 213ff.) dargelegt hat – die Welt und ihre Möglichkeiten hervorbringt, von denen wir meinen, sie existiere unabhängig von uns. Deshalb spricht Karin Knorr-Cetina nicht nur von der Laboratisierung von Objektkonstellationen, sondern ebenfalls von der Laboratisierung des Verhaltens der Wissenschaftler selbst, denn „in Laboratorien werden […] auch Personen im Hinblick auf die entsprechende Objektwelt rekonfiguriert“ (Knorr-Cetina 2002: 48). Sie erlernen eine spezifische Art der Beobachtung, sie kaprizieren sich auf das Erkennen bestimmter Reize, ihre Wahrnehmung, ihr Gehör, ihr gesamter Sinnesapparat aber auch ihre Wertung, ihre arbeitsbezogenen Prioritäten, all dies wird zu einem Baustein im rekursiven Bezug zwischen Apparatur, Personen und Untersuchungsobjekt. Auch die Intensivierung von Kontakten und Informationen innerhalb der Fachgemeinschaft der Meßtechniker läßt sich für den interviewten Meßtechniker zeigen. Für ihn sind die Kontakte insbesondere zu Kollegen an Universitäten äußerst bedeutsam, wo die Grundlagenforschung der Meßtechnik im wesentlichen angesiedelt ist. Mit großer Begeisterung schilderte der interviewte Meßtechniker den gegenwärtigen Stand meßtechnischer Machbarkeit und zwar höchstauflösender Meßtechnik. Es sind die Universitäten und nicht die Fachhochschulen, an denen die Entwicklung solcher Instrumente angesiedelt ist. Diejenigen Experten, die diese Meßinstrumente entwickeln und bauen, genießen seine absolute Hochachtung, denn geradezu ehrfurchtsvoll erläutert er: 140
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„Die Universität [Name] die sind tollst ausgestattet. Die haben Rasterelektronenmikroskope und optische höchstauflösliche Meßtechnik […] die optische Meßtechnik, die dann in dem optischen Sensor drin steckt, ist einfach hoch entwickelt und elaboriert, und da bin ich noch in der Lage zu verstehen, wie das funktioniert, aber ich wäre nicht in der Lage, innerhalb von nem halben oder dreiviertel Jahr so was selbst zu entwickeln. Und in dem Bereich gibt es viele, die da sehr weit fortgeschritten sind“ (Interview Herr Messner).
Er selbst als Professor an einer Fachhochschule baut und entwickelt ebenfalls Meßtechnik, zwar nicht im höchstauflöslichen Bereich, aber immerhin für Anwendungen, die nicht mit der standardisierten, weit verbreiteten und handelsüblichen Meßtechnik zu erfassen sind. Darüber hinaus fungiert er auch als Mittler zwischen der höchstauflöslichen Meßtechnik und ihrem Anwendungsfeld. Da er lange in der Industrie für den Einsatz von Meßtechnik zuständig gewesen ist, kennt er die Anwendungssituationen in den Industriebetrieben gut und kann daher bei der Implementation höchstauflöslicher Meßtechnik wertvolles Wissen beisteuern. Anders als im Forschungskontext, bei dem die Oberfläche konstant gehalten wird und die Instrumente Focus der Aufmerksamkeit sind, wird im Anwendungskontext umgekehrt das bekannte Instrument genutzt, um Informationen über unbekannte Oberflächenstrukturen zu generieren. Relevant sind dann aber nicht mehr alle Oberflächen und Oberflächenstrukturen, sondern nur noch solche, über die mit diesen bestimmten Instrumenten Aussagen zu erwarten sind. Je nach Instrumentenausstattung kommen für bestimmte Labore daher auch nur bestimmte Typen von Oberflächenstrukturen als Untersuchungsgegenstand in Frage und alle anderen Oberflächen sind daher uninteressant bzw. irrelevant. Auch der Meßtechniker in unserem Beispiel gab deutlich zu verstehen, daß er nur für bestimmte Anwendungen der richtige Experte sei (Gesprächsaufzeichnung). Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der interviewte Meßtechniker in seiner Ablehnung möglicher Zusammenarbeit kein absonderlicher Ausnahmefall zu sein scheint, sondern daß die Ablehnung bestimmter Themen, die die eigene fachliche Arbeit nicht voranzubringen versprechen, ein ganz normales und sogar notwendiges Verhalten im Rahmen wissenschaftlicher Gemeinschaften darstellt. Das Wissen über Kooperationsgelegenheiten wird ihn deshalb noch lange nicht veranlassen, diesen nachzugehen, es sei denn, er könnte für seine berufliche Tätigkeit tatsächlich Vorteile erwarten. Auf der fachlich-professionellen Ebene scheint daher die Schwierigkeit der Netzwerkbildung vor allem darin gelegen zu haben, daß die Vorteile der Zusammenarbeit vorab un141
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sichtbar waren oder eben in der beschriebenen Weise als irrelevant eingestuft wurden. Für den genannten Experten der Meßtechnik war es nicht vorstellbar, wie er durch Wissensaustausch mit verschiedenen Experten der Lackiertechnik seinem Fachgebiet nützen könnte. Dies hat sich durch die Zusammenarbeit im Netzwerk geändert, denn es zeigte sich später, daß es einen Bedarf gab, die Dicke von Lackschichten zu messen, und im Bereich der Oberflächenvorbehandlung gab es noch keinerlei Meßtechnik aber einen Bedarf, wodurch sich ein möglicherweise sehr innovatives Anwendungsfeld auftat. Das hier ausführlich dargelegte Beispiel des Sensortechnikers ist aber keinesfalls ein Einzelfall, sondern exemplifiziert vielmehr, wie Experten durch ihre Kultur des Sensemakings die jeweils anderen Experten als irrelevant einstuften. Auch wenn die anderen Experten als Chemiker und Lackingenieure inhaltlich näher beieinander lagen als der Sensortechniker, so stuften doch alle Experten die jeweils anderen in ein Spezialgebiet ein, das zu ihrem eigenen nicht in Beziehung steht, da sie wie eingangs geschildert zwar formal in komplementären Phasen des Lackierprozesses angesiedelt, aber wenn man den Materialbezug oder die Beschichtungsart hinzunimmt, zueinander inkompatibel waren. In fast jedem Interview wurden mir mit großer Begeisterung neue, vor der Kooperation ungeahnte und vor allem völlig unerwartete Möglichkeiten der Kooperation genannt. So fanden beispielsweise Leute, die überwiegend in Laboren tätig waren, heraus, daß es eine Menge inspirierender Ideen gibt, die sie von Experten erhalten, die primär Technologieberatung machen, und umgekehrt fanden die Berater oft unkonventionelle Lösungen, wenn sie mit Experten sprachen, die andere Spezialisierungen aufwiesen als sie selbst. Sie transferierten oft bestimmte Mechanismen von einem Kontext zu einem anderen Kontext, oder aber sie fanden Wege, wie sie Wissen rekombinieren könnten, das auf den ersten Blick so aussah, als würde es sich in keiner Weise auch nur berühren. Ein Experte für die Reinigung von Metalloberflächen beispielsweise und ein Experte, der mit verschiedenen Auftragstechniken für Kunststoffe befaßt war, fanden heraus, daß sie versuchen könnten, eine spezifische Auftragstechnik zu benutzen, um eine bestimmte Oberflächenstruktur in Metalloberflächen zu bewirken. Die beiden Experten arbeiteten dafür eine Versuchsreihe aus, welche gerade angelaufen war, als ich meine Interviews durchführte. Schließlich jedenfalls hatten die Euregiopartner eine Vielzahl ungeahnter interessanter Themen für Wissensaustausch entdeckt, so daß sie schließlich täglich in engem Kontakt standen, um aktuelle Probleme zu besprechen.
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5.2 Sensemaking auf organisationaler Ebene Während auf der Ebene der Expertengemeinschaften das jeweilige kulturell eingespielte Sensemaking eine Wahrnehmung der Wissens- und Kompetenzbereiche der jeweils anderen Euregiopartner als völlig verschieden produzierte, wodurch jegliche Ähnlichkeiten, mögliche Zusammenhänge und Querverweise keine Möglichkeit hatten, entdeckt zu werden, so bewirkte das Sensemaking auf organisationaler Ebene gegenteilig, daß Kompetenzen, die dichter beieinander lagen, in Richtung auf Konkurrenz gesteigert wurden. In funktionierenden Clustern wird Konkurrenz als wesentlicher Motor der Dynamisierung einer Region angesehen (Porter 1990) und eher als sportlicher Wettbewerb (Saxenian 1994) denn als Kommunikationshindernis beschrieben. Vorgreifend auf die Entwicklung der Region kann man auch für diese Fallstudie feststellen, daß sich Konkurrenz später, nachdem das Netzwerk und die Kontakte eingerichtet waren, selbstverständlich vorhanden war, sich aber nicht mehr negativ auf die grundsätzliche Kontaktaufnahme auswirkte. In der Frühphase der Entstehung von Kontakten blockierten aber Konkurrenzvermutungen Kommunikation und Austausch und damit die Entwicklung des Netzwerks und letztendlich damit auch der Region. Die Euregiopartner wiesen in der Tat nicht nur jeweils verschiedene Kompetenzen auf, sondern auch ähnliche, was bereits daran deutlich wird, daß auf deutscher wie auch niederländischer Seite ähnliche Studiengänge angeboten wurden. Zwar lagen die Forschungsgebiete der Experten in jeweils aufeinander aufbauenden Phasen des Lackierprozesses, aber doch was die Materialien, Anwendungsfelder oder Lackarten anbetraf, in zueinander inkompatiblen Spezialgebieten. Dennoch verfügten sie doch fast alle über ein breites gemeinsames Grundlagenwissen, welches in der Lehre und in der Technologieberatung zum Einsatz kam. Obwohl jeder Netzwerkpartner sich in seinem Spezialgebiet von den anderen unterschied, konnten doch viele der Netzwerkpartner die gleichen Forschungs-, Beratungs- und Fortbildungsleistungen anbieten. Die Beratungs- und Forschungsdienstleistungen bezogen sich zumeist nicht auf Spezialprobleme, vielmehr ging es in der Regel um allgemeine Prozeßberatung sowie bestimmte standardisierte Forschungsdienstleistungen. Sie waren also nicht hinsichtlich ihres Wissens, wohl aber bezüglich ihres Leistungsangebotes äquivalent. Darüber hinaus boten alle Akteure, sowohl die Verbände als auch die Fachhochschulen, Weiterbildungen an. Insbesondere die Fachhochschulen hatten vor, in diesen Bereich deutlich zu expandieren. Aufgrund dieser gar nicht so wenigen Ähnlichkeiten könnte man annehmen, daß diese den geeigneten Startpunkt bildeten, um von dort aus weitere kom143
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plementäre Bezugspunkte ausfindig zu machen. Dies war aber keineswegs der Fall. Gegenteilig wurden diese Ähnlichkeiten auf organisationaler Ebene in zwei der damals acht EUREGIO-Partnerorganisationen in Richtung auf Konkurrenz gesteigert, weil seitens dieser Organisationen die Einwerbung von Forschungsmitteln und die Einnahmen durch Fortund Weiterbildung in Autonomie, Status, Stellen usw. transformiert wurde und diese Strukturvorgaben sich jeweils in einem entsprechenden Sensemaking spiegelten. In den anderen Organisationen kann man zwar auch Konkurrenz ausmachen, die jedoch nur eine eher subtile Färbung in einem Gemengelage zahlreicher weiterer Faktoren sind, welche die Netzwerkentwicklung insgesamt störten, indem sie Kooperation verhinderten. Ich werde im folgenden zunächst das Sensemaking in den beiden Organisationen darstellen, die Konkurrenz wahrnahmen und im Anschluß daran auf das Gemengelage anderer Störfaktoren eingehen: Die niederländischen Fachhochschulen sind mittlerweile weitgehend kommerzialisiert. Vom Staat bekommen sie finanzielle Mittel in Relation zu Studentenzahlen. Für jeden eingeschriebenen Studenten bekommt die Fachhochschule vier Jahre lang eine bestimmte Summe und ebenfalls gibt es eine bestimmte Summe für jedes abgeschlossene Studium.9 In Relation zu den Kosten eines Dozenten kommt man dann in der betreffenden Fachhochschule auf ein Verhältnis von etwa einem Dozent auf 28 Studenten. Die Hochschule kann aber weniger Dozenten anbieten und/oder anstelle in vier in nur drei Jahren ausbilden und gewinnt dadurch zusätzliche Finanzmittel. Allerdings muß das Studium für die Studenten attraktiv sein. Man braucht eine gewisse Mindestzahl von Studenten, damit sich ein Studiengang überhaupt finanziell rechnet. Allerdings ist es nun weiterhin so, daß es staatlicherseits darüber hinaus keine Finanzmittel für die technische Ausstattung gibt. Dies bedeutet, daß ein Studiengang der Wirtschaftswissenschaften bei gleicher Studenten- und Diplomzahl genau so viel Finanzmittel erhält, wie ein technischer Studiengang, der aber zusätzlich Labore benötigt. In kleineren Studiengängen, wie es für den Studiengang Materialbeschichtung der Fall ist, besteht überdies das Problem, daß man für einen Studiengang bestimmte sehr spezifische Kompetenzen benötigt, aber eventuell nicht das Geld hat, um für jedes Fachgebiet einen Dozenten einzustellen. Deshalb muß man in diesen Fällen Dozenten einkaufen, die die fehlenden Curricula anbieten, wofür es aber ebenfalls keine Extramittel gibt. Der Studiengang der Materialbeschichtung, der erst in den 1990er Jahren entstanden war, stand deshalb vor einem großen Finanz9
Die Informationen über die finanzielle Ausstattung des Studiengangs stammen von Herrn Strater.
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problem, da angesichts weniger Studenten weder genug Dozenten eingestellt und erst recht keine Mittel vorhanden waren, um ein Labor einzurichten, was aber dringend für die Lehre und natürlich für die Attraktivität des Studiengangs benötigt wurde. Aus diesem Grunde wurden einerseits Kontakte zur regionalen Industrie aufgebaut, um zumindest im Praxisbezug die Ausbildung attraktiv zu gestalten und die Studenten mit dem Maschineneinsatz im Industriebetrieb vertraut zu machen, und andererseits wurden Forschungs- und Beratungsaufträge für die regionale Beschichtungsindustrie eingeworben, durch die man sich ein weiteres finanzielles Standbein versprach. Durch diese zusätzlichen Mittel gelang es dem Fachbereich, ein kleines Labor aufzubauen, welches sie dann durch die Euregiofördermittel deutlich erweitern konnten.10 Darüber hinaus konnte man einige Mitarbeiter einstellen, die ihre Kompetenzen zusätzlich auch in der Lehre einbringen konnten. Obgleich die Mitarbeiter dieses Bereichs sich mit großem Engagement einsetzten, was auch an den Kontakten zur Industrie, Erschließung von Praktikumsmöglichkeiten und Einwerbung von Aufträgen ablesbar war, blieben die Studentenzahlen gering und das Rektorat drohte immer wieder mit der Schließung des Studiengangs, was die Entlassung der Mitarbeiter zur Folge gehabt hätte. Diese strukturelle Ausgangssituation führte in der kleinen Gruppe der Mitarbeiter des Fachbereiches Materialbeschichtung zu einem engen Zusammenhalt und großer Kollegialität, da man schließlich in einem Boot saß. Gemeinsam versuchte man den Spagat zwischen finanziellen Restriktionen einerseits und dem eigenen fachlichen Anspruch an eine gute Lehre andererseits zu bewältigen und sogar noch Forschungsaktivitäten durchzuführen. Mit der restriktiven finanziellen Situation wurde sehr offensiv umgegangen, die Probleme wurden angepackt, und es schien bei niemandem Zweifel zu geben, daß man den Studiengang weiterführen würde. Diese positive, kämpferische Einstellung zeigte sich darin, daß man ständig Ideen austauschte und gemeinsam umsetzte. Auf diese Weise waren auch die Finanzmittel der EUREGIO entdeckt und tatkräftig die Partnersuche und Antragsstellung angegangen worden. Neben den Finanzmitteln erhofften sich die Niederländer von der EUREGIO Partnerschaft auch einen Austausch bezüglich der Lehre. Deshalb trieb man die Zusammenarbeit offensiv voran, und als man bemerkte, daß die Partner ähnliche Beratungen durchführten wie sie selbst, wurde dies im Hinblick auf die eigene finanzielle Situation als Konkurrenz wahrgenommen. 10 Informationen aus dem Interview mit Herrn Maler und zum Teil Herrn Mayer. 145
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Man behalf sich damit, daß man diese Themen sozusagen aussparte. Man sprach wenig über diese Projekte und einigte sich stillschweigend auf territoriale Hegemonien und konzentrierte sich statt dessen eher auf Bereiche, die unverfänglicher waren, wie den Austausch von Lehrplänen.11 Die Überführung von Konkurrenz in territoriale Hegemonie hat das Konkurrenzproblem jedoch keinesfalls aus der Welt geschaffen. In bezug auf viele Aufträge lebte man mit der Vermutung, daß ein anderer Partner in dieser Sache womöglich kompetenter wäre und womöglich seinen Anspruch auf diese Art Aufträge geltend machen würde, wenn sie davon wüßten. Weil man aber die Aufträge aufgrund der finanziellen Situation dringend benötigte, zog man es vor, das gesamte Beratungsthema nicht anzusprechen. Die Befürchtung, Aufträge zu verlieren, verhinderte auf diese Weise Gespräche und Gedankenaustausch, der später selbstverständlich wurde. Weick spricht in einem solchen Falle einer „untested reality perception“ von vermiedenen Tests der Wirklichkeit (Weick 1985: 216f.). Man geht von einer bestimmten Annahme über die Welt aus, die aber nicht zutrifft, und vermeidet es, diese zu testen. Die andere Organisation, deren Sensemaking für Konkurrenz optierte, war ein großer Verband, in dem die Beschichtungsbetriebe organisiert waren. Der Verband war bisher der größte Anbieter für Fort- und Weiterbildungen in diesem Bereich und hatte beinahe eine Monopolstellung. Der Weiterbildungsbereich fungierte für den Verband aber nicht nur als Einnahmequelle, sondern war für ihn identitätsbildend. Man verstand sich als Dienstleister für die Branche und insofern waren die Weiterbildungen Serviceleistungen an die Mitglieder. Als nun die Euregiopartner den Verband baten, mit ihnen in bezug auf das Anbieten von Weiterbildungsseminaren zusammenzuarbeiten, war man im Verband keinesfalls begeistert, sondern vermutete, daß in der Euregiopartnerschaft eine Konkurrenz entstehen könnte, die dem Verband die unangefochtene Stellung in diesem Bereich und zugleich die zentrale Legitimität ihrer Existenz streitig machen könnte. Der Verband sagte aber dennoch die Zusammenarbeit zu mit dem Hintergedanken, auf diese Weise Informationen über die Aktivitäten der Euregiopartner zu erhalten, nicht aber, um tatsächlich mit diesen gemeinsam Seminare anbieten zu wollen oder in anderer Weise deren Bestrebungen in den Weiterbildungsbereich vorzudringen zu unterstützen.12 Diese Konkurrenzängste wurden durch diese Inkognito-Teilnahme natürlich nicht offen diskutiert, sondern exis11 Ich komme darauf ausführlicher im nächsten Kapitel zu sprechen. 12 Informationen aus Gesprächen mit Herrn Fröhlich, Herrn Mayer und aus dem Interview mit Herrn Rater. Zitate, in denen die Konkurrenz angesprochen wird, werden zu diesem Verband später in Kapitel 6 präsentiert. 146
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tierten unterschwellig und führten zu Blockaden, wodurch insgesamt die Bestrebungen, gemeinsam Weiterbildungen anzubieten, nicht funktionierte, da der Verband als Schlüsselpartner zum Markt, also den vielen Kleinbetrieben als potentiellen Kunden, nicht mitspielte. In den übrigen Organisationen kann man nicht davon sprechen, daß Konkurrenzerwägungen vorherrschten. Konkurrenz scheint punktuell aufgekommen zu sein in bezug auf einige Projekte, denn auch wenn die deutschen Fachhochschulen keine mit den Niederländern vergleichbaren finanziellen Probleme hatten, so war die Einwerbung von Aufträgen doch ein Mittel, um beispielsweise Laborkapazitäten erhöhen zu können oder um institutspolitisch Einfluß nehmen oder steigern zu können. Bedeutsamer jedoch als Konkurrenz scheint aber Indifferenz gewesen zu sein. Der Zweck der Euregiopartnerschaft lag ja, wie bereits beschrieben, bei allen Partnern primär im Abschöpfen der erheblichen Finanzmittel. Darüber hinaus sah man keine unmittelbaren inhaltlichen Vorteile in der Partnerschaft, schloß diese aber auch nicht kategorisch aus. Diese abwartende Haltung allerdings führt ebenfalls nicht zu einem Engagement, sondern wartet ja gerade ab, ob sich etwas zufällig ergibt. Allerdings waren alle Personen so sehr in ihren normalen Arbeitsalltag engagiert, so daß der Zeitaufwand für etwas Undefiniertes, von dem man weder weiß, was es wird noch ob es etwas wird, nicht selbstinitiativ geleistet wurde. Diese Gemengelage aus abwartenden Haltungen, durchaus freundlich gesinnter Untätigkeit, Zwangspartnerschaft, teilweise Konkurrenz und Blockaden wiederum führte dazu, daß die Konkurrenz ein stärkeres Gewicht bekam, als hätten sich die restlichen Partner engagiert in eine Zusammenarbeit gestürzt. Festhalten läßt sich abschließend also, daß einerseits auf der fachlich-professionellen Ebene sinnvolle Möglichkeiten für inhaltliche Zusammenarbeit nicht offensichtlich waren und andererseits in den Bereichen, in denen es inhaltliche Überschneidungen gab, eine inhaltliche Auseinandersetzung aufgrund von Indifferenz und sogar Konkurrenz blockiert wurde und man sich deshalb im wesentlichen mit einer Zweckpartnerschaft arrangierte.
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6 Ö K O L O G I S C H E R W AN D E L
UND
G E S T AL T U N G
Ökologischer Wandel ist als die Bezeichnung für das Neue eingeführt worden, er ist das Unerwartete, eine veränderte Ausgangslage, auf die sich eine Gruppe durch neuartiges Sensemaking einstellen muß oder aber sie ignoriert die Hinweise auf veränderte Bedingungen des Handelns und trägt die Konsequenz dieser Ignoranz in Form eines Störfalls, eines Unfalls, eines Marktversagens oder einfach in Form verpaßter Chancen. Ökologischer Wandel ist die Form, in der sich die bislang erfolgreich ausgeschlossene Komplexität der Welt den Akteuren quasi zur Beachtung aufdrängt, freilich ohne, daß die Gruppe gleich wüßte worum es sich dabei handelte. Ökologischer Wandel kommt in der Regel als Unbehagen, als Unsicherheit, als irritierende und Verwirrung stiftende Situation daher, als das Gefühl, daß die bisherigen Deutungsgewohnheiten der neuartigen Situation nicht mehr angemessen sind. In technischen Anlagen kann es sich dabei beispielsweise um ungewöhnliche Geräusche handeln, um eigenartige Signale und andersartige ungewohnte Vorgänge, die man noch nicht einzuordnen vermag. In bezug auf den hier vorliegenden Fall läßt sich sowohl vor dem Hintergrund der im letzten Kapitel aufgezeigten Blockaden der Kooperation als auch auf die Ergebnisse der Studie vorgreifend konstatieren, daß ökologischer Wandel in Form von Zweifeln an bis dahin gehaltenen Situationsdeutungen daherkam: Dies waren Zweifel daran, ob man nicht gleichwohl man fachlich unterschiedlich spezialisiert war, dennoch interessante Gelegenheiten für Kooperation finden könnte und ob nicht vielleicht Themen, die man zwar als Kooperationsmöglichkeiten gesehen hatte, die man aber für unattraktiv befunden hatte, nicht vielleicht doch attraktiv wären und schließlich ob es nicht günstiger wäre, generell Konkurrenz für Kooperation aufzugeben. Diese Zweifel haben sich nicht 149
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aufgrund von Änderungen in der Umwelt den Akteuren aufgedrängt oder die Akteure gezwungen, ihre lang gehaltenen Vorstellungen in Frage zu stellen, sondern statt dessen waren es Handlungen der Akteure selbst, die schließlich den Blick auf andere Möglichkeiten, die Welt zu sehen, freigaben. Ökologischer Wandel wurde durch die Gestaltung der Akteure selbst erzeugt (vgl. Kap. 2.3.1). Mit der Entstehung und Vertiefung von Vertrauen ging eine neue Praxis des Sensemakings einher, durch die lang praktizierte Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten in Frage gestellt wurden und neue Möglichkeiten praktikabel erscheinen ließ. Im ersten Teil dieses Kapitels wird ein neuer Typus des Handelns, nämlich die Gestaltung von Vertrauen als Weg zu ökologischem Wandel, dargestellt, denn Vertrauen führte dazu, daß man überhaupt Kooperationsgelegenheiten entdeckte, und im zweiten Teil dieses Kapitels wird der Weg zur Erkenntnis, daß man womöglich weit mehr als gedacht kooperieren könnte, als Wechsel aufeinander aufbauender Kooperationsformen interpretiert.
6.1
Die Erzeugung von Mehrdeutigkeit durch Vertrauen
6.1.1 Vertrauen, eine Begriffsklärung Vertrauen ist für die Entstehung und Funktionsweise von Netzwerken ein bekannter Mechanismus, dessen Bedeutung immer wieder hervorgehoben wurde.1 Allerdings ist vielen dieser Arbeiten kein theoretisches Konzept von Vertrauen unterlegt, woraus man schließen kann, daß die Autoren davon ausgehen, daß hinlänglich bekannt sei, was Vertrauen ist und wie es funktioniert, und sie begnügen sich mit Klassifizierungen verschiedenartigen Vertrauens wie beispielsweise wissensbasiertes Vertrauen, kalkuliertes Vertrauen etc. (Lewicki und Bunker 1995). Vertrauen ist ein Alltagsbegriff, den jeder benutzt, der aber so vieles einschließt, daß wir es Martin Endress (2002: 10) zufolge dabei mit einem „verwikkelten, komplizierten und analytisch schwer zugänglichen Phänomen zu tun haben“. Aus Rational Choice Perspektive hat sich aber James Coleman eingehend theoretisch-analytisch mit dem Phänomen Vertrauen befaßt. Er behandelt die Vergabe von Vertrauen als eine kalkulatorische Größe, wonach die Akteure entscheiden, ob es für sie in einer bestimm1
Vgl. beispielsweise Jarillo (1990) sowie die Beiträge der Themenhefte zu Vertrauen und Kooperation der Academy of Management Review 1998, Heft 23 und Organization Studies 2001, Heft 2. Eine konträre Ansicht vertritt allerdings beispielsweise Paniccia (1998).
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ÖKOLOGISCHER W ANDEL UND GESTALTUNG
ten Situation von Vorteil sein wird zu vertrauen oder eher nicht (Coleman 1995: 115ff.).2 Zentral steht dabei der Begriff des Risikos, denn will man einen bestimmten Gewinn erzielen, für dessen Erreichung man aber von entsprechenden Handlungen anderer Personen abhängig ist, dann muß man abwägen, ob man Vertrauen wagen will oder nicht. Als Problem erscheint hier die Zeitspanne, die zwischen Gabe und Gegengabe vergeht. Beim marktförmigen Tausch steht einem Tauschwert ein entsprechender Geldwert gegenüber, und Zeitdifferenzen, die zwischen der Übergabe des Tauschwerts und dem dafür zu entrichtenden entsprechenden Geldwert liegen, werden durch rechtlich abgesicherte Verträge überbrückt. Anders verhält sich dies bei reziproken Tauschprozessen in Netzwerken. Ob für eine Gabe später tatsächlich eine Gegengabe geleistet wird, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob die Gegengabe in etwa dem Wert der bereits geleisteten Gabe entsprechen wird (Gouldner 1984). Der Anfang eines durch Vertrauen getragenen, reziproken Beziehungsgeflechts ist daher risikobehaftet. Das Risiko kann jedoch durch eine Strategie vieler kleiner Schritte minimiert werden (Luhmann 1973/1968: 49). Man tritt zunächst mit kleinen Gaben einseitig in Vorleistung und beobachtet dann, ob und wenn ja, wie die Partner darauf reagieren. Im positiven Fall können die Einsätze gesteigert werden. Ist erst einmal eine reziproke Beziehung zwischen mehreren Akteuren eingerichtet, so entsteht durch die Verschränkung, also die Interdependenz der Handlungen, eine Dynamik, die den Ausstieg eines Partners unwahrscheinlich werden läßt, da der akteurspezifische Gewinn an den Erfolg des ganzen Netzwerks geknüpft ist.3 Im Falle des Vertrauensbruchs ist der eingetretene Schaden allerdings größer als der mögliche Gewinn gewesen wäre.4 2
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In neueren Rational Choice orientierten Veröffentlichungen ist das Verhältnis der Akteure zueinander dynamischer konzipiert (vgl. Mayer/Davis/ Schoorman 1995; Mayer/Davis 1999). An der Grundkonzeption allerdings, daß das Eingehen von Vertrauen als Risikoübernahme konzipiert wird, hat sich nichts verändert. Gouldner (1984) erklärt dieses Phänomen durch das gegenläufige Verhältnis von Autonomie und Interdependenz. Zu Beginn eines Netzwerkengagements ist die jeweilige Autonomie der Akteure hoch, sie entscheiden selbst über ihre Handlungen. Mit der Zunahme von Interdependenz, verstanden als Verschränkung der Aktivitäten der Netzwerkpartner, nimmt Autonomie ab. Allerdings muß das Verhältnis von Abhängigkeit und Autonomie ausgewogen sein (Lose und Sydow 1994: 186). Die riskante Entscheidung bildet nur die Grundüberlegung Colemans, auf der seine sehr elaborierten Überlegungen zu Vertrauen basieren. Zu notieren ist, daß es Coleman (1995: 232) tatsächlich gelingt, auf dieser Basis reiner Kosten-Nutzenkalküle auch Vertrauenssysteme zwischen einer Mehrheit von Personen zu erklären, wofür sogenannte Vertrauensinterme151
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Die Ausbildung von Vertrauen kann durch flankierende Maßnahmen unterstützt werden, durch die das Risiko eines Vertrauensverlustes abgemildert wird und gerade dadurch die Vergabe von Vertrauen erleichtert (ebd.: 37).5 Achim Lose und Jörg Sydow (1994: 187) haben eine Liste von Sicherungsmaßnahmen zusammengestellt, welche die Vergabe von Vertrauen ergänzen können wie eine vertragliche Absicherung, Reputationsverlust, Kontrollsysteme etc. Sie gehen allerdings auch davon aus, daß Vertrauen durch solche Mechanismen gegebenenfalls substituiert werden könne (ebd.). Dies mag für strategisch-hierarchische Netzwerke zutreffen, jedoch ist die Ausgangslage im Falle technischer Innovationssysteme eine andere, da diese, wie Jörg Abel (1997: 61) betont, in hohem Maße zukunftsoffen und somit in besonderer Weise unsicher sind, ohne daß diese Unsicherheiten durch konkrete Zielvereinbarungen reduziert werden könnten. Er verweist daher auf die Notwendigkeit starker Akteure, die durch ihren Einfluß eine Netzwerkbildung initiieren könnten (ebd.: 226). James Coleman spricht in diesem Zusammenhang von Akteuren als Intermediären, deren Partnern man vertrauen kann, weil man in erster Linie dem Intermediär vertraut (Coleman 1995: 232). Auf diese Weise können größere Vertrauenssysteme entstehen. Vertrauen kann also ausgeweitet werden, wenn es erst einmal irgendwo entstanden ist. Reinhard Bachmann (2001: 345) hat diese kalkulatorische Konzeptualisierung in Form von Risikoentscheidungen als unrealistisch kritisiert, denn wenn die Akteure ihre Zukunft so gut einschätzen könnten, daß sie in der Lage wären, rational abwägen zu können, ob es für sie vorteilhafter ist zu vertrauen oder nicht, hätten sie bereits genügend Informationen über die Zukunft, um auch ohne Vertrauen handeln zu können.6 Bachmann verweist deshalb auf Niklas Luhmann (1973/1968), für den es bei Vertrauen um die Ermöglichung von Handeln angesichts einer überkomplexen Welt geht. Vertrauen setzt damit weitaus subtiler an, als es eine Konzeptualisierung von Vertrauen als Entscheidungsgrö-
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diäre wichtig sind, und ebenfalls erklärt er darüber Phänomene auf gesellschaftlicher Ebene wie Massenhysterie. Dieser Zusammenhang wird in einer empirischen Studie von Reinhard Bachmann (2001) bestätigt, wenn er etwa aufzeigt, daß sich aufgrund einer besseren rechtlichen Flankierung vertrauensvolle Unternehmernetzwerke in der BRD leichter herausbilden als in Großbritannien. Und Francis Fukuyama (1995) geht davon aus, daß kulturelle Unterschiede dafür verantwortlich sind, daß in einigen Kulturen Vertrauen leichter geschenkt wird als in anderen. Und Martin Endress (2002: 39) wendet ebenfalls kritisch ein, ob angesichts der Komplexität der modernen Welt nicht die Reflexionsfähigkeit der Akteure überschätzt würde.
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ße vorsieht.7 Durch Vertrauen werden Handlungsoptionen erschlossen, für die man sich gerade angesichts der Unsicherheit der Zukunft nicht entscheiden könnte, und insofern erzeugt Vertrauen Zukunft.8 In diesem Sinne kann man Luhmanns Konzeptualisierung von Vertrauen als einen zirkulären Mechanismus im Sinne von Karl Weicks Sensemakingkonzept auffassen, durch den in zirkulärer Weise durch Vertrauen Zukunft entsteht. Auf den ersten Blick allerdings geht es auch im Vertrauenskonzept Luhmanns um den Zusammenhang von Risiko und Vertrauen: „Vertrauen bezieht sich stets auf eine kritische Alternative, in der der Schaden bei Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus einem Vertrauenserweis gezogen wird“ (Luhmann 1973/1968: 24). Vertrauen liegt immer dann vor, wenn man sich vor dem Hintergrund der Komplexität der Welt für eine bestimmte Handlung entscheidet, mit der dann das Risiko späterer Enttäuschung verknüpft ist, die Vergabe von Vertrauen also bereut würde. Hoffnung liegt im Gegensatz dazu im umgekehrten Fall vor, wenn man einen alternativenlosen Weg beschreitet, wenn man also ohnehin nicht anders kann, so bleibt eben nichts anderes als zu hoffen, daß es gut gehen wird. Mit Luhmann gesprochen heißt das: „Vertrauen reflektiert Kontingenz, Hoffnung eliminiert Kontingenz“ (Luhmann 1973/1968: 25). Anders nun als in der oben erwähnten Rational Choice Konzeptualisierung von Vertrauen ist Risiko in Luhmanns Konzeption keine kalkulatorische Größe, sondern ein handlungsermöglichender Mechanismus. Weil der Vertrauende weiß, daß er vertrauen kann, muß er der Gefahr des Mißtrauens, des Vertrauensbruchs keine Beachtung schenken, die Gefahr wird sozusagen „neutralisiert“ (ebd.: 25), und so stehen dem Vertrauenden Handlungsmöglichkeiten offen, die er ohne Vertrauen nicht gehabt hätte. Vertrauen reduziert in diesem Sinne die Komplexität 7
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Die handlungsermöglichende Funktion von Vertrauen für Kooperationsbeziehungen wird mittlerweile auch von Vertretern der Rational Choice Konzeption anerkannt und diese entsprechend erweitert, ohne allerdings vom Risikokalkül als Schwerpunkt der Vertrauenskonzeptualisierung abzuweichen (vgl. Wurche 1994). Mit der Konzeptualisierung von Vertrauen als handlungsermöglichenden Mechanismus schließt Luhmann an die Arbeiten von Simmel an. Simmel hat bereits betont, daß Vertrauen in der funktional differenzierten Gesellschaft notwendig ist, weil man vieles nicht mehr wissen kann, sondern „auf Treu und Glauben hinnehmen muß“ (Simmel 1999/1908: 388f.). Diese Hinnahme von Nichtwissen ist aber zugleich auch nicht unwissend, denn Simmel zufolge ist Vertrauen ein „Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“ (ebd.: 393). Vertrauen ist somit ein unentrinnbares Erfordernis, aber zugleich mehr als dumpfe Hoffnung. Damit sind wesentliche Punkte angesprochen, auf die Luhmann aufgebaut hat. 153
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der Welt. Gleichwohl die Alternativität der Welt den Ausgangspunkt für die komplexitätsreduzierende Funktion von Vertrauen bildet, wird über die Vergabe von Vertrauen nicht notwendigerweise in Form einer rational geführten Abwägung entschieden. Vertrauen kann gegenteilig auch gewohnheits-, leichtsinnig oder sogar gedankenlos vergeben werden (ebd.). Insbesondere in Fällen, in denen der Vertrauende sicher glaubt, davon ausgehen zu können, daß sein Vertrauen gerechtfertigt ist, werden Risiken überhaupt nicht erst in Betracht gezogen. Vertrauen geht, wie Luhmann formuliert, „stufenlos über in Kontinuitätserwartungen“ (Luhmann 1973/68: 25). So entscheidet sich beispielsweise in den westlichen Demokratien kaum jemand vor dem Verlassen des Hauses für oder gegen die Mitnahme einer Waffe. Gleichwohl die Alternativität der Welt bekannt ist, vertrauen wir darauf, daß nichts passiert (ebd.). Und hier wird die Differenz zum Rational Choice Denken offensichtlich: Die Vergabe von Vertrauen kommt in Form einer Risikoabwägung Luhmann zufolge nur dann vor, wenn es Anhaltspunkte für Zweifel an der gerechtfertigen Vergabe von Vertrauen gibt. Vertrauen fußt in Vertrauenswürdigkeit, was bedeutet, daß nur dann vertraut wird, wenn es in der Gegenwart bereits genügend Anhaltspunkte gibt, die die Annahme erlauben, daß die Vergabe von Vertrauen auch gerechtfertigt sei. Das heißt aber andererseits auch, daß die Vergabe von Vertrauen nur als Risiko wahrgenommen wird, wenn die Vertrauenswürdigkeit in Frage steht. Nimmt dagegen die Vertrauenswürdigkeit zu, ändert sich die Wahrnehmung der Zukunft, so daß über eine mögliche Riskanz der Aktivität nicht weiter reflektiert wird, nicht weil es keine Handlungsalternative gäbe, sondern weil die Vergabe von Vertrauen in der anvisierten Alternative für sicher gehalten wird. Anstatt also in einer Art Risikoabwägung auf Vertrauen und einer damit verknüpften Alternative zu setzen, wird eine bestimmte, attraktive Zukunft aufgrund von Vertrauen für wahrscheinlicher gehalten als andere, und gerade dadurch schrumpfen die weniger attraktiven Zukunftsalternativen auf einen nicht näher beachteten Rest zusammen. Neben persönlichem Vertrauen kommt Vertrauen aber vor allem als Systemvertrauen vor. Man vertraut dann nicht einer bestimmten Person, sondern eben gesellschaftlichen Institutionen wie symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld, Recht, Wahrheit etc. (ebd.: 50ff.). Diese Konzeptualisierung von Vertrauen nun läßt sich ohne weiteres an Karl Weicks Sensemakingkonzept anschließen: Vertrauen kann demnach als ein zirkulärer Mechanismus angesehen werden, durch den eine bestimmte Zukunft dadurch erzeugt wird, daß sie bereits in der Gegenwart in der Form von Vertrauenswürdigkeit vorweggenommen wird. Eine gegenwärtige Gestaltung (im Sinne Weicks) von Vertrauenswür154
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digkeit öffnet oder besser: erzeugt eine neue, alternative und attraktive Zukunft, die vorher noch nicht bestanden hatte. Obgleich also Weick den Begriff des Vertrauens nicht als einen zentralen, zukunftserzeugenden Mechanismus verwendet, so läßt sich seine Konzeption ohne weiteres durch diesen ergänzen. Auch wenn in einer späteren Phase des Netzwerks Systemvertrauen bedeutsam wurde, weil Personen dem Netzwerk an sich vertrauten, so geht es in dessen Gründungsphase und den ersten Aktivitäten in der Region doch um persönliches Vertrauen.
6.1.2 Die Zunahme von Vertrauen Im folgenden wird gezeigt, daß sich für diese Fallstudie empirisch ein wechselseitiges Aufschaukeln von der Vertiefung der Vertrauensbeziehungen einerseits und der dadurch ermöglichten Wahrnehmung erweiterter Kooperationsmöglichkeiten andererseits beobachten läßt. Dieser Zusammenhang ist zunächst erst einmal neutral, d.h. er unterstützt an sich weder eine Beschreibung von Vertrauen als Mechanismus der Risikoreduktion noch eine Deutung von Vertrauen als Öffnung neuer Sinnoptionen. Die Indiziensuche für eine Interpretation dieses Wechselspiels wird erst im anschließenden Teilkapitel thematisiert. Zunächst geht es erst einmal um die Darlegung des Zusammenhangs von Vertrauensentstehung einerseits und der Ausweitung der Zusammenarbeit andererseits. Den Ausgangspunkt für die Entstehung und die Zunahme von Vertrauen bildete eine grundsätzliche Sympathie zwischen den Akteuren der ersten Stunde des zukünftigen Netzwerks. Die Akteure hatten das Gefühl, miteinander reden zu können, sie hatten salopp formuliert einen „Draht zueinander“ und begegneten sich von Anfang an mit Sympathie und in partnerschaftlicher Weise. Die erste Begegnung fand zwischen einem Akteur der Fachhochschule Enschede und einem Akteur aus der Fachhochschule Niederrhein statt. Die Initiative für den Euregioantrag war, wie bereits erwähnt, von Mitarbeitern der Hoogeschool Enschede und Deventer ausgegangen. Mit der Antragsidee im Kopf und aus dem Wunsch, sich Anregungen von der als Kaderschmiede für Lacktechnik bekannten Fachhochschule Niederrhein für den weiteren Auf- und Ausbau des Studiengangs Materialbeschichtung in Enschede zu holen, besuchte ein Mitarbeiter der Fachhochschule Enschede, hier Herr Maler genannt, Lehrveranstaltungen des Studiengangs Lackingenieurwesen an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld, um wie er sagte, „selbst mal [zu] kucken wie die Kollegen das so machen.“ Herr Maler wurde in Krefeld sehr freundlich aufgenommen, woraus sich ein partnerschaftliches Verhältnis entwickelte, wie er im folgenden beschreibt: 155
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„Die Krefelder haben mich gleich richtig integriert, vom Fach her bin ich Chemiker, das paßte dann ganz gut. Dann kam da so ein väterlicher Aspekt noch dazu beim Prof. [Name], und da hab ich den ja ganz gut kennengelernt, und da kam dann Offenheit und ein Stück Vertrauen“ (Interview Herr Maler).
Zusammen mit den neu gewonnenen Partnern an der Fachhochschule Niederrhein wurden dann weitere Partnerorganisationen für die Antragstellung der Euregiomittel gesucht. Im einen Fall war der gefundene Partner ein Verband, im anderen wurde über einen Berufsverband ein Kontakt an der Fachhochschule Osnabrück vermittelt. Auch zu diesen neu hinzugewonnenen Euregiopartnern ergab sich von Beginn an eine freundliche, offene sympathiegetragene Beziehung, wie aus folgender Erzählsequenz mit einem der gefundenen Partner hervorgeht: „Schon als wir die erste Besprechung hatten, das ist ein wichtiger Punkt eigentlich, das ist nämlich meine Erfahrung von früher, wenn man zusammen Forschung macht, Projekte zusammen macht, Projekte begleitet. Da merkte ich einfach, daß man auch miteinander arbeiten kann. Die persönliche Beziehung hat einfach funktioniert“ (Interview Herr Clean).
Die empathiegetragene Basis bildete den Nährboden, auf dem sich anschließend Vertrauen bilden und weiterhin gedeihen konnte. Vertrauen ist Luhmann (Luhmann 1973/1968) zufolge in Vertrauenswürdigkeit basiert. Vertrauenswürdig können Personen durchaus aufgrund eines subjektiven Gefühls sein, jedoch benötigt Vertrauenswürdigkeit, um zu wachsen, einen Rückhalt in tatsächlicher Erfahrung. Sie muß, anders gesagt, immer ein Stück weit auch bewiesen werden und gerade darin liegt der Grund dafür, daß Vertrauen Zeit in Form gemachter Erfahrungen benötigt, um vertieft werden zu können. In dem hier vorliegenden Fall verlief die Zunahme gegenseitigen Vertrauens nach eben diesem Muster. Obgleich man – wie im vorangegangenen Kapitel über die Blockaden der Kooperation beschrieben – nicht sah, wie man auf fachlichprofessioneller Ebene zusammenarbeiten könnte, so entdeckten die Partner doch Kooperationsmöglichkeiten, die unverfänglich waren, bei denen man kooperieren konnte, ohne sich in bezug auf die konkurrierenden Bereiche „ins Gehege“ zu kommen. Dies betraf zum einen den Erfahrungs- und Informationsaustausch bezüglich der Studiengänge und zum anderen bestimmte Teile der Auftragsforschung, bei der es, wie beschrieben, zahlreiche Überschneidungen gab. Bereits beim ersten Durchgang durch die Labore hatten einige Euregiopartner Maschinen in den Laboren der jeweils anderen Partner entdeckt, die sie selbst gerne gehabt hätten, um bestimmte Forschungsaufträge annehmen zu können. 156
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Man vereinbarte daher in bezug auf Aufträge, für deren Bearbeitung u.a. auch Maschinen der jeweils anderen Partner notwendig wären, zu kooperieren, insofern Kapazitäten an den betreffenden Maschinen frei waren. Ohne die Konkurrenzen zu tangieren, eröffnete sich mit dieser Möglichkeit für jeden Partner die Option, Aufträge anzunehmen, die man andernfalls hätte ablehnen müssen und ebenfalls die Option, über Teilaufträge an den Aufträgen der anderen Partner zu partizipieren. Die Zusammenarbeit in diesen beiden Bereichen ließ sich jeweils mit einem absehbaren Aufwand durchführen, und ihr jeweiliger Nutzen lag für alle beteiligten Partner auf der Hand. Diese Form einer sozialen Beziehung bezeichnet James Coleman (1995: 54) als selbständig, weil die Anreize zur Fortführung der Beziehung in der Beziehung selbst liegen. Solange die Akteure in ihrer Beziehung weiterhin für alle Beteiligten diese Anreize schaffen, hat die Beziehung Bestand. Diese Kooperationsbeziehung auf der Basis offensichtlicher und unaufwendig erzielbarer Vorteile entwickelte sich nach und nach als ein Hineintasten in eine funktionierende partnerschaftliche Zusammenarbeit. Die Akteure erfuhren sich praktisch als zuverlässige Partner, die abgesprochene Teilarbeiten in hoher Qualität und zum terminierten Zeitpunkt erledigen. Die interviewten Netzwerkakteure betonten ausnahmslos die Bedeutung von Vertrauen, und einige charakterisierten Vertrauen auch in der gerade beschriebenen Form als Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit etc., wie es beispielhaft Herr Koch in folgendem Zitat tut: „Seit der Gründung bis heute ist es in erster Linie durch eine gute, ja harmonische Zusammenarbeit getragen. Zwischen allen […] Das ist nur deswegen so gewachsen, so gut gediehen, in den letzten 6 Jahren, nein 5 Jahren, glaube ich, nur dadurch ist es jedenfalls so gut gediehen, daß man sich auch persönlich vertraute. Ohne Vertrauen auf die Ehrlichkeit und die Fairneß usw. der anderen hätte es gar nicht so viel Sinn“ (Interview Herr Koch, Hervorh. durch die Verfasserin).
Durch diese Erfahrungen wuchs die Vertrauenswürdigkeit der Partner und eröffnete dadurch nach und nach die Perspektive, auch in anspruchsvolleren Projekten zusammenarbeiten zu können. Der studiengangsbezogene Austausch wurde beispielsweise intensiviert und dehnte sich auf weitere Personen der Lehrkörper der Studiengänge Lackingenieurwesen bzw. Materialbeschichtung aus. Über Informationsgespräche hinaus wurden sogar Lehrmaterialen ausgetauscht. Darüber hinaus durften Diplomanden in Einzelfällen auch die Maschinen in den Laboren der Partner benutzen. In bezug auf das Auftragssplitting wurden nach und nach auch komplexere Aufträge angenommen, wodurch man sowohl für 157
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größere Kunden interessant wurde als auch spannendere, weil komplexere Aufträge erhielt.
6.1.3
Wie Vertrauen Zukunft erzeugt
Die Zunahme gegenseitigen Vertrauens, und das heißt, wie im letzten Kapitel aufgezeigt, die Erfahrung von Ehrlichkeit, Verläßlichkeit, Fairneß, von qualitativ hochwertiger Arbeit etc. hat dazu geführt, den Blick zu weiten und eine Welt voller ungeahnter Möglichkeiten jenseits der bis dahin praktizierten Routinen zu entdecken. Insofern bewirkte Vertrauen ein Stück weit die Öffnung vorher verschlossener Perspektiven. Ein erstes Indiz für diese Argumentation findet sich in dem Umstand, daß die Akteure übereinstimmend angaben, über den Nutzen, den ihnen die Kooperation einbrachte, überrascht gewesen zu sein. Der ursprünglich erwartete Nutzen aus der politisch geförderten „Kooperation“ bestand in der Einwerbung der Finanzmittel. Mit der erfolgten Einwerbung war somit das Ziel der „Kooperation“ erreicht, und weitere auf tatsächliche Kooperation bezogene Erwartungen hatte es gar nicht gegeben, denn man sah, wie aus unten stehendem Zitat hervorgeht, das Ziel mit der Einwerbung der Mittel als erreicht an: „Das [Euregiogeld] war prima, die haben sich wie die Schneekönige über neue Geräte gefreut, die bezogen grad ein neues Büro, ne neue Abteilung, da war es ganz klasse, daß man noch ein bißchen mehr investieren konnte, die hatten schon gesehen, daß sie was davon hatten, materiell, wegen der Gelder […] und die waren zufrieden, die wollten nicht mehr als das“ (Interview Herr Maler).
Sicherlich war die Möglichkeit einer Kooperation vorab von den ECCSPartnern nicht kategorisch ausgeschlossen worden, mögliche Kooperationen waren aber gleichwohl nicht das zentrale Motiv für das Eingehen der Euregiopartnerschaft gewesen. Die Tatsache, daß sich dann aber tatsächlich Möglichkeiten für sinnvolle Kooperationen auftaten, von denen alle profitieren konnten, wurde als positive Überraschung gewertet: „Man hat dann festgestellt, da gibt es ja noch ganz andere Seiten an der Einrichtung [die Euregiopartnerschaft]. Da könnte man ja ganz andere Dinge machen […] ich denke, da hat man gesagt, da ist ein Konstrukt, damit kann ich Geld bekommen, und dann hat man festgestellt, da gibt es ja noch was anderes, ‚das ist ja super! Mit dem kann man das und das zusammen machen’“ (Interview Herr Rater).
Der Befund nun, daß das Auffinden von Kooperationsgelegenheiten überraschend kam, ist allerdings nicht mehr als ein Indiz für die These der erspektivenöffnenden Wirkungsweise des Vertrauens, denn das 158
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langsame Hineintasten in komplexere und riskantere Kooperationen läßt sich ohne weiteres mit einem linearen Rational Choice Ansatz erklären, bei dem man annimmt, daß die Einsätze mit zunehmendem Vertrauensbeweis steigen und man sich deshalb langsam von kleineren, wenig riskanten Projekten zu größeren und riskanteren Kooperationen vorwagt. Eine solche Beschreibung ist zwar für diese Fallstudie möglich, verbleibt aber unterkomplex. Sie übersieht nämlich, daß eben diese Möglichkeiten der Kooperation, die man später entdeckte, sogar von vorneherein bekannt gewesen waren. So läßt sich für diese Fallstudie zeigen, daß Informationen über eine Reihe möglicher Vorteile der Kooperation durchaus von Anfang an antizipierbar gewesen waren, es also nicht der Fall war, daß man etwas nicht gewußt hatte, sondern daß man es nicht wahrgenommen hatte. Die Akteure waren sozusagen blind gegenüber bestimmten Informationen, und es war Vertrauen, welches den Blick auf diese öffnete. So kam es zu der Paradoxie, daß man über etwas überrascht war, was man eigentlich schon längst gewußt hatte. Der Widerspruch, Vorteile erst gesehen und gekannt zu haben, sie aber dann allmählich zu entdecken, wurde empirisch an Widersprüchen im Interviewmaterial deutlich: Einerseits gaben die interviewten Personen an, daß sie die Spezialisierungen der anderen Euregiopartner kannten, teils weil sie die Personen schon auf Tagungen aus der Zeit vor dem Euregioprojekt gekannt hatten, und mindestens hatte sich jeder Euregiopartner auf offiziellen Euregioprojekttreffen zu Beginn der ersten Projektphase mit seinen Arbeitsschwerpunkten präsentiert. Darüber hinaus hatte es ebenfalls wechselseitige Laborbesichtigungen gegeben, und so war es bekannt, wer welche Maschinen besaß. Es braucht an sich nicht viel Phantasie, um antizipieren zu können, daß man mit diesem Zusammenschluß auch für interessantere Kunden attraktiv sein würde. Andererseits berichteten die Euregiopartner, wie sie – und zwar bezogen auf den Zeitpunkt des partnerschaftlichen Handelns – zufällig in Gesprächen entdeckten, daß ihre Tätigkeiten sich in diesem oder jenem Punkt berührten. Dieses Kennenlernen und Entdecken wechselseitiger Bezugspunkte fand aber etwa eineinhalb bis zwei Jahre nach dem Start und der Kennenlernphase der Euregioförderung statt, wodurch der Widerspruch entsteht, daß man wußte, was die andern taten, ohne es gewußt zu haben. Als ich einen Projektpartner auf diesen Widerspruch hin ansprach, antwortete er mit der Differenz von gewußtem und gefühltem Wissen: Interviewerin: War das nicht von vorneherein bekannt, wer welche Spezialisierung hat?
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„Ja, das kann ich lesen [die Homepages und Selbstbeschreibungen der anderen Euregiopartner], aber ich spüre es nicht, da bekomme ich ja nichts für, wenn ich es weiß. Wenn man das erfährt, kommt man dahinter, daß man Aufträge von der Industrie auch annehmen kann, die ein bißchen Applikation haben und ein bißchen [undeutlich], was Krefeld dann macht, und dann sind wir ein besserer Partner für draußen. Auf dem Papier weiß man das schon, daß man das könnte, aber man muß erfahren, daß das auch gemacht wird. Man sagt: das weiß ich tatsächlich, zusammen können wir größeren Erfolg haben“ (Interview Herr Strater; Hervorh. durch die Verfasserin).
In gleicher Weise betrifft diese Differenz von Wissen und gefühlter, funktionierender Partnerschaft die Lehre: „Aber auch bei der Lehre, das haben wir auch vorher gelesen, aber nicht so gespürt, wenn wir hier Information brauchen über Lacktechnik, muß nicht ein Dozent alles in Büchern suchen und nachsehen, wie macht man das, wie geht das, das müssen die Krefelder, die können nicht nur applizieren, […] im Moment ist es schon, daß wir gespürt haben, daß es so ist, daß wir einander kennen und Information bekommen, die Bücher austauschen, […] aber wir alle haben das Gefühl dabei, da könnte noch mehr sein“ (Interview Herr Strater; Hervorh. durch Verfasserin).
Verändert hat sich also im Laufe der Kooperation die gegenseitige Wahrnehmung der Partner und dadurch wurden Informationen, die schon die ganze Zeit vorgelegen hatten und theoretisch bekannt waren, handlungsrelevant. In eben der Tatsache, daß bestimmte Vorteile der Kooperatationsbeziehung erst durch deren Bestehen überhaupt sichtbar wurden, obgleich sie von Anfang an antizipierbar gewesen wären und sogar im Prinzip gewußt wurden, zeigt sich der sich zirkulär aufschraubende Zusammenhang von Sensemaking und Gestaltung im Sinne der Hervorbringung einer eigenen Welt. Weil sich die Existenz dieser Differenz von theoretisch-gewußtem Wissen einerseits und praktisch-erfahrenem Wissen andererseits zeigen läßt, kann Informationszuwachs hier nicht als Erklärung für die schrittweise Ausweitung der Kooperation angenommen werden. Verfügen die Akteure umgekehrt vorher über Informationen über den wahrscheinlichen Nutzen einer Kooperation, so liegt die Erklärung aus einer Rational Choice Perspektive in einer schrittweisen Annäherung im Zuwachs von Vertrauen (Coleman 1995: 229). Danach wird das Risiko einer negativ verlaufenden Kooperation von den Akteuren als zu gravierend eingeschätzt, und die Kooperation wird deshalb nur scheibchenweise gewagt und mit dem Vertrauenzuwachs ausgeweitet. Gegen diese Variante einer Colemannschen Rational Choice Erklärung spricht jedoch, daß die Akteure im hier untersuchten 160
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Fall überrascht waren von dem, was sie durch die Kooperation erreichten. Der logische Widerspruch, vorher gewußt zu haben, was man nachher erst praktisch wußte, und dann über dieses Wissen, das man vorher wußte, völlig überrascht zu sein, läßt sich nur durch eine zirkuläre Theoriearchitektur erklären. Diese Paradoxie, daß man sich über etwas, was vorher bekannt war, nachher überrascht zeigte, läßt sich mit dem Informationsbegriff Gregory Batesons (1996/1972) aufschlüsseln. Bateson zufolge ist als Information nur dasjenige Wissen zu klassifizieren, welches für einen Akteur bedeutsam ist, was ein Akteur also auch tatsächlich gebrauchen kann. Informationen über Möglichkeiten, die gegenwärtig gar nicht erreichbar scheinen, sind damit für das gegenwärtige Handeln ebenso irrelevant wie Informationen über irgend etwas, was überhaupt nicht mit den eigenen Aktivitäten in Zusammenhang steht. Als Information qualifiziert sich ein Wissen deshalb nur, wenn es für das Handeln eines Akteurs bedeutsam ist, sie ist in den Worten Batesons „ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“ (ebd.: 408). Durch die Gestaltung der Beziehungen untereinander als Vertrauensbeziehungen wurde unbrauchbares Wissen zu brauchbarem Wissen und damit in handlungspraktische Information transformiert. Damit wird zum einen die Paradoxie erklärbar, daß man überrascht war über das, was man schon wußte, und zum anderen spricht mit diesen Überlegungen sehr viel für die Beschreibung von Vertrauen als Perspektiven öffnenden und ermöglichenden Mechanismus.
6.1.4 Eine Alternative wird sichtbar Um die Kooperationsbeziehung zu beginnen, die hier als maschinenbezogene Kooperation bezeichnet wurde, waren weder auf der fachlichprofessionellen noch auf der organisationalen Ebene Veränderungen der gewohnten Art des Sensemakings notwendig. Sowohl im Hinblick auf die Spezialgebiete als auch im Hinblick auf die Bearbeitung von Forschungs- und Beratungsaufträgen für die mittelständischen, regionalen Betriebe standen die Euregiopartner weiterhin mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander. Neben dieser gewohnten Handlungspraxis und der durch diese hervorgebrachten Welt entstand aber die neue Form partnerschaftlicher Zusammenarbeit, da diese handlungspraktisch als Partner relevant wurden. Indem die Verläßlichkeit, das Engagement und die gute Qualität der gesplitteten Projekte als Prämisse in die Auftragsannahme einflossen, ebnete eben diese Gestaltung partnerschaftlichen Arbeitens den Weg zur Erfahrung ganz neuer, unerwarteter Möglichkeiten wie der Annahme größerer, komplexerer und insofern auch interes161
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santerer Forschungsaufträge. Die Möglichkeit neuartiger Kooperationen zwischen den Euregiopartnern wurde auch in bezug auf einzelne gemeinsame Forschungsprojekte entdeckt. Gleichwohl die frisch entstandene neue Sensemakingkultur und die bis dahin übliche Art des Sensemakings nebeneinander her bestanden, so kam es schließlich doch zu dem Punkt, an dem die neue Sensemakingkultur als Alternative zum Sensemaking auf organisationaler Ebene heranwuchs:9 Wenn man in bezug auf bestimmte Maschinen als Partner zusammenarbeitet und wenn man weiß, daß andere Euregiopartner in bestimmten Wissensgebieten inhaltlich stärker sind, sollte man dann nicht Forschungs- und Beratungsprojekte nach Kompetenz innerhalb des Netzwerks verteilen? Dies würde aber bedeuten, daß man vom Nebeneinanderherlaufen oder sogar Konkurrenz auf Kooperation in jeglicher Hinsicht umstellen müßte. Diese Schwelle, an der andere neue Optionen ernsthaft in das Blickfeld einer Gruppe oder Organisation treten, bezeichnet Karl Weick als ökologischen Wandel (Weick 1985: 189f.). Die Alternative „Kooperation“ zum Ausgangspunkt gemeinschaftlichen Arbeitens zu nehmen, drängte sich zunehmend auf und wurde zwischen den Akteuren auch kontrovers diskutiert, wie Herr Maler im folgenden Zitat berichtet: „Die Kundenbetreuung, das ist ja im Prinzip eine Dienstleistung, wenn ich da jetzt eigensinnig reagieren möchte, so ‚oh das möchte ich aber jetzt gerne [selbst] haben’, also das [Problem] haben wir, auch der [Name eines Kollegen] am Anfang alle gehabt, auch unsere Mitarbeiter, alle im Team haben das hier gehabt“ (Interview Herr Maler).
Ebenfalls geht aus dem Zitat hervor, daß es Widerstände gab, die neu herangewachsene Sensemakingkultur zum Anlaß zu nehmen, die bis dahin übliche Entscheidungspraxis auf Partnerschaft umzustellen. Die Tatsache einer neu entdeckten Option – in diesem Fall partnerschaftliche Kooperation – führt aber keinesfalls zu einem autologischen Sicheinlas9
Organisationen bestehen Luhmann zufolge aus Entscheidungen (Luhmann 2000). Auf der Interaktionsebene, auf welcher das Netzwerk funktioniert, kann es laufend zu Sinnverschiebungen, zu Umdeutungen etc. kommen. Organisationen jedoch produzieren Entscheidungen, die nicht selten schriftlich niedergelegt werden und auf diese Weise auf Dauer gestellt werden. Zwar gibt es auch in Organisationen Interaktionen, jedoch kann eine Organisation via Entscheidung eine Zäsur vornehmen, daß Ärzte beispielsweise mehr oder weniger mit Patienten zu reden haben oder was auch immer. Die Frage, wie mit den Kooperationspartnern grundsätzlich weiter zu verfahren sei, drängte sich insofern auf der Ebene der organisationalen Entscheidungen auf.
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sen auf diese Option. Die Option ist zunächst einfach nur eine Irritation durch Mehrdeutigkeit, und es kommt dann auf den weiteren Umgang mit dieser Mehrdeutigkeit an, ob diese konstruktiv für Lernen genutzt wird oder ob sie nicht beachtet wird, und alles bleibt wie es war. Empirisch kann man diesen Punkt der Irritation durch Mehrdeutigkeit an dem als erstaunlich gewerteten Tatbestand festmachen, daß – gerade zu dem Zeitpunkt, als das Netzwerk schon ein wenig Fahrt aufgenommen hatte – viele Akteure dennoch davon ausgingen, daß es wieder einschlafen werde. In eben dieser losen Kopplung von ökologischem Wandel einerseits und dessen möglichem Realwerden als einer veränderten Handlungsweise andererseits zeigt sich der evolutionäre Charakter des Weickschen Modells. Denn Grundprinzip der biologischen Evolutionstheorie ist nun gerade die Trennung zwischen zahlreichen Mutationen einerseits und der Selektion nur weniger erfolgreicher Mutationen andererseits. Ob Änderungen der Umwelt Verhaltensänderungen einer Organisation zur Folge haben, hängt von den internen Möglichkeiten ab, auf neue Sensemakingoptionen reagieren zu können. Umweltänderungen sind also an sich noch keine Selektionsverstärker, sondern werden als von diesen unabhängige Größen behandelt.10 Um zu untersuchen, was nun dazu geführt hat, daß der ökologische Wandel tatsächlich zu verändertem Sensemaking und neuen Handlungsweisen führte, muß sich der Blick auf die Selektion der Akteure richten. Die Frage ist dann, wie die Akteure zu einer Interpretation ihrer Kooperation gelangten, die ihnen diese Umstellung von gelegentlicher maschinenbezogener Kooperation auf einen generellen Verzicht auf Konkurrenz erlaubt hat. Diese Frage wird in Kapitel 7: „Selektion“ behandelt werden.
6.2
D i e D yn a m i k d e r G e s t a l t u n g
Die Geschichte ist zu schön, um wahr zu sein: Die Akteure einer überwiegend als Zweckpartnerschaft gedachten Kooperation entwickeln Vertrauen und eröffnen sich dadurch neue, ungeahnte Zukunftsperspektiven. Dies klingt nach einem Märchen und in der Tat ist die Geschichte auch zum Teil eine Fiktion. Als retrospektives Sensemaking eines Gestaltungsprozesses wurden für die Geschichte aus vielen Einzelereignissen bestimmte als wichtig ausgesondert und durch eine spezifische Interpretation zu einer logischen Geschichte verwoben. Während die Geschichte
10 Die Unabhängigkeit der Mechanismen untereinander ist ein Grundprinzip evolutionstheoretischer Ansätze (vgl. Junker und Scherer 1988). 163
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im Hinblick auf die Echtheit und Authentizität erzählter Episoden wahr ist, so ist sie doch in ihrer interpretativen Linienführung ebenso fiktiv, wie es Lebensläufe bekannter Personen sind, bei denen Entdecker schon als Kinder Entdecker waren und berühmte Dirigenten schon Kinderlieder lieber dirigiert als gesungen hatten. Gleichwohl jede einzelne erzählte Begebenheit wahr ist, erzeugt die rückblickende Spurensuche die Fiktion eines autologischen Prozesses, bei dem die Begabung sich quasi von selbst im Leben des Einzelnen gehör verschafft. Verdeckt werden dadurch aber die Fehlversuche, die zu überwindenden Widerstände und die Anstrengung an sich, die aber wichtiger Teil der letztlich erzielten Gestaltung ist. Es sind nun gerade diese Einzelereignisse, die in ihrer Gesamtheit den Gestaltungsprozeß ausmachen. Gestaltung besteht aus tausend kleinen Aktivitäten und mit jeder Aktivität werden Erwartungen ausagiert, die von anderen aufgenommen, umgeformt und anders zurückgespielt werden. Es werden Bilder und Ziele gestaltet, Bedeutungen geformt und umgeformt. Genau genommen finden ständig kleine Gestaltung-Selektions-Retentionszyklen statt, auch wenn die erste Phase der Entstehung des Netzwerks insgesamt als Gestaltungsphase bezeichnet wird, weil es sich um die Herausbildung der zentralen Axialen desselbigen handelt. Indem nun aber im letzten Teilkapitel der Gestaltungsprozeß als allmählich konturiert hervortretende Gestaltung von Partnerschaft und Kooperation aufgezeigt wurde, ist dabei aber paradoxerweise zugleich der Gestaltungsprozeß als Zusammenspiel und Aneinanderreihung zahlreicher verschieden interpretierbarer Aktivitäten unsichtbar geworden. Deshalb soll im folgenden nun der Fokus auf die Aktivitäten und damit die Dynamik des Gestaltungsprozesses eingestellt werden, um aufzuzeigen, daß es sich hier keinesfalls um einen autologischen, von selbst ablaufenden Prozeß gehandelt hat, sondern daß es Randbedingungen sowie Entwicklungsverläufe gab, die diesen Prozeßablauf begünstigt hatten. Der ersten Geschichte wird also eine zweite an die Seite gestellt, freilich mit dem unhintergehbaren Problem einer wiederum in eine logische Abfolge gebrachten retrospektiven Sichtweise, aber dennoch in der Hoffnung, daß sich in der zweifachen Perspektive auch die Dynamik des Prozesses ein Stück weit einfangen läßt. Den Erzählstrang der zweiten Geschichte bilden die unterschiedlichen Motivlagen der Akteure für über die Einwerbung der Euregiomittel hinausgehende vertiefte Kooperation. Während man im nachhinein zwar eine Vielzahl von Vorteilen aufzuzählen vermag, für die sich ein Engagement für den Aufbau der Kooperation allzumal gelohnt hätte, so waren diese Vorteile allerdings vorab nicht wahrgenommen worden. Was sich im nachhinein als überraschend erfolgreich entwickelte, war im 164
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vorhinein zunächst einmal überwiegend zeit- und arbeitsintensiv, ohne daß Erfolge absehbar waren. Die Motive für ein Engagement, die Ziele und sogar die Zwecke wurden erst durch die Gestaltung der Partner selbst hervorgebracht. Im folgenden sollen drei Phasen der Gestaltung unterschieden werden, wobei in jeder Phase neue und bessere Motive für ein weiteres Engagement für die Kooperationsbeziehung gefunden wurden. Die Gestaltung scheint jeweils von einem bestimmten dem Gestaltung zu Grunde liegenden Schema strukturiert worden zu sein. Gestaltet wurde also ein bestimmtes Bild, eine Idee einer Kooperation, aus der dann wiederum ein neues, abstrakteres Schema hervorging, welches die Gestaltung komplexerer Kooperationen ermöglichte. Die Gestaltung setzte sich insofern nicht linear in Form stringent zunehmender Kooperation fort, sondern schraubte sich sozusagen spiralförmig auf. Die drei Schemata, welche als Gestaltprinzipien der Kooperation zu Grunde lagen, werden im folgenden nacheinander dargestellt und sind erstens maschinenbezogene Kooperation, zweitens projektbezogene Kooperation und drittens rollenkomplementäre Kooperation. Zuvor wird allerdings kurz auf zwei Randbedingungen der Ausgangslage eingegangen, von denen die eine vermutlich eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit einer Netzwerkbildung überhaupt darstellt, während die andere in diesem Fall ein nicht unerhebliches Hemmnis für die Entfaltung der Netzwerkaktivitäten war.
6.2.1 Die Ausgangslage: Spielräume und Hemmnisse Eine nicht unwichtige Voraussetzung für die Entstehung des Netzwerks liegt zunächst einmal darin, daß sämtliche sich für die Entstehung der Kooperationsbeziehung engagierende Akteure, sei es in der Form als Unterstützer oder als teilnehmende Kooperationspartner, in ihren jeweiligen Organisationen über einen erheblichen Entscheidungsspielraum verfügten. Dies ist zum einen der Fall, weil die beteiligten Akteure aus den Verbänden in Führungspositionen oder zumindest in der Verantwortung für ein breit abgestecktes Aufgabenfeld verantwortlich zeichneten. Andererseits handelt es sich, was die Fachhochschulen anbetrifft, um einen Typus von Organisation, den Henry Mintzberg (1992/1983) als professionelle Bürokratie bezeichnet. Diese bestehen aus einem Kern hochqualifizierter professioneller Angestellter, in unserem Fall die Wissenschaftler, die ihre Forschungsarbeit aufgrund ihres Wissens selbstän-
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dig, also ohne arbeitsinhaltliche Vorgaben, verrichten.11 Dieser flexible professionelle Kern wird durch verschiedene Dienstleistungen unterstützt, die aber typischerweise in bürokratisch strukturierter Arbeitsform erbracht werden, worunter beispielsweise die Verwaltung der Personalangelegenheiten, das Gebäudemanagement, diverse technische Dienste etc. fallen. Die Entscheidungsfreiräume bildeten für das entstehende Netzwerk einen Spielraum des Experimentierens, bei dem man unkompliziert Absprachen treffen, Informationen austauschen und Ideen diskutieren konnte, indem also kurz gesagt neuartige Gestaltungen der Umwelt in unkomplizierter Form ausprobiert werden konnten. Das Vorliegen von Entscheidungsspielräumen als Voraussetzung für die Entfaltung einer netzwerkartigen Beziehung ist von vielen Organisationsforschern beobachtet worden (vgl. etwa Baecker 2003) und insofern bestätigt der hier vorliegende Fall diese Einschätzung. Der bürokratisch strukturierte Dienstleistungsbereich der Fachhochschulen allerdings gestaltete die Aktivitäten des Kooperationsverbundes als Störung ihrer geordneten Arbeitsabläufe. Projekte und Dienstleistungen, die von mehreren Akteuren erbracht werden sollten, erforderten es, Verträge zu splitten, immer wieder Mitarbeiter projektbezogen einzustellen, und darüber hinaus waren Kooperationsvorhaben nicht immer kompatibel mit den Hochschulgesetzen der Länder. Im folgenden Zitat werden die Nöte der Verwaltung geschildert: „Für die Verwaltung sind die [Verträge] schon zum Teil eine Zumutung. Manche sind in der Grauzone. Und dann heißt es: ‚Ach du liebe Güte, was haben Sie denn da wieder gemacht?’ […] Da müssen Gelder von einer Firma zur Hochschule in Osnabrück und von da wieder nach Krefeld, weil das nordrhein-westfälische Gesetz das wieder verbietet. Und das niedersächsische verbietet das nicht“ (Interview Herr Koch).
Die Verwaltungen aller beteiligten Hochschulen unterstützten die Kooperationspartner so gut sie konnten, nicht zuletzt deshalb, weil die Rektorate allesamt hinter dem Kooperationsverbund standen, und dieser in den Hochschulzeitungen jeweils an prominenter Stelle vorgestellt und gewürdigt wurde. Gleichwohl die Verwaltungen kooperativ waren12, 11 Die Frage ist natürlich, wieviel Zeit Professoren noch für Forschung haben, wenn die Lehrtätigkeit an den Fachhochschulen bereits bis zu 18 Stunden umfassen kann. 12 Die Akteure des Kooperationsverbandes gaben an, daß die Verwaltungsangestellten sehr kooperativ seien: „Die drücken schon die Augen zu, das ist wichtig, daß man da nicht nur Leute hat, die drauf pochen, daß alles nach […] den Regeln läuft. Wenn wir solche Leute hätten, dann könnten wir manches gar nicht machen“ (Interview Herr Koch). 166
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mußten sie aber dennoch ihre Vorschriften und Abläufe einhalten, und das bedeutete für alle Beteiligte viel Arbeit in bezug auf immer wieder hin und her laufende Absprachen und bürokratische Verwaltungsvorgänge, wodurch, ohne daß es jemand intendiert hatte, die Kooperationen immer wieder als Störung gestaltet wurden. Es gab Wissenschaftler, denen dieser Aufwand zu hoch war, und die sich deshalb von dem Projekt zurückzogen. Im folgenden Kapitel 7 „Selektion“ wird auf diese Schwierigkeiten zurückgekommen, da letztendlich die Akteure eine Organisation, die Stiftung „ECCS“, gründeten, über die sich Verträge und Finanzflüsse unkompliziert abwickeln ließen. Zunächst aber handelt es sich bei den bürokratischen Abläufen um Erschwernisse, die die Frage nach Motiven für ein Engagement um so wichtiger erscheinen lassen.
6.2.2 Maschinenbezogene Kooperation Maschinen sind Teil des professionellen Alltags von Spezialisten der Lacktechnik. So gibt es beispielsweise Maschinen, die zur Pulverbeschichtung verwendet werden, Maschinen mittels derer klimatische Bedingungen simuliert werden, um mit ihnen die Haltbarkeit von Lacken bei verschiedenen Witterungsbedingungen zu testen, es gibt Spritzgeräte zur Lackbeschichtung, verschiedene Sorten von Meßgeräten, diverse Geräte zur Mischung von Lackrezepturen etc. Wie bereits weiter oben dargestellt, fand die erste fachlich-inhaltliche Kooperation maschinenbezogen statt und hat gerade deshalb so einfach funktioniert, weil die Maschinen die Akteure von der Aushandlung vielfältiger spezifischer Kooperationsmodalitäten entledigten. Dies wird deutlich, wenn man die Maschinen und die Spezialisten, die mit ihnen arbeiten, als soziotechnische Einheiten begreift. Der Begriff soziotechnisch meint, daß „materielle und symbolische Artefakte und soziale Handlungen funktional aufeinander bezogen“ sind (Rammert: 1988: 749). Bereits im Studium lernen die Studenten des Studiengangs Materialbeschichtung viele dieser Maschinen kennen und damit in einer bestimmten Weise umzugehen, indem sie sie im Rahmen von Laborpraktika oder zur Anfertigung von Studienarbeiten benutzen. Die Technik wird mit spezifischen in der Fachgemeinschaft bekannten sozialen Handlungen umgeben, sie wird sozial eingebettet. Werner Rammert spricht davon, daß die Technik sich in die soziale Umwelt ausdehnt (1993: 246). Und weil nun die sozialen Handlungsprogramme auf die Maschinenprogramme bezogen sind und die Maschinen für eine bestimmte Bedienung ausgelegt sind, kann man auch von soziotechnischen
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Mensch-Maschine Einheiten sprechen.13 Es gibt komplette, standardisierte Mensch-Maschinen Aktionsprogramme, auf die man für Routinetätigkeiten bausatzartig zurückgreifen kann. Es ist deshalb leicht einsehbar, daß Kommunikationserfordernisse entfallen, wenn man auf eine solche „Bausatzleistung“ zurückgreifen will. Maschinenbezogene Kooperation bedeutet in diesem Fall, daß man Aufträge auch dann annehmen kann, wenn dafür Arbeiten, Messungen und Versuche vorgenommen werden müssen, für die eine Maschine im Labor des kooperierenden Partners benötigt wird. Eine kurze Klärung freier Kapazitäten ermöglicht die Annahme eines Auftrags, im Rahmen dessen das kooperierende Labor einen spezifizierten Teil erbringt. Durch die fertig geschnürten routinemäßig bereitstehenden Mensch-Maschine Aktionsprogramme wird die inhaltliche Aufteilung bereits geregelt und sowohl die Arbeiten als auch die Kompetenzen klar verteilt, womit sich die Aushandlung zahlreicher enervierender und vielleicht unter anderen Umständen schwieriger Abklärungen und Abmachungen in bezug auf die Modalitäten der Kooperation erübrigen. Wer welchen Projektanteil erbringt, ist nicht weiter zu verhandeln, weil es im Maschinenprogramm bereits im wesentlichen festgelegt ist. Abzuklären ist nur noch, welche Maschine und in welcher Ausführlichkeit das Programm durchgeführt werden soll, sowie ein paar organisatorische Rahmenbedingungen und nichts weiter als das ermöglicht bereits eine Kooperation. Diese Art der Kooperation ist abgesehen von den schwierigen vertraglichen und verwaltungsbürokratischen Lasten arbeitsinhaltlich jedenfalls einfach und erbringt unmittelbare Vorteile. Aber nicht nur der unmittelbare, sofort offensichtliche und erfahrbare Nutzen offeriert neue Motivmöglichkeiten für das Engagement der Akteure, sondern darüber hinaus erweitert sich die Perspektive zu neuen Möglichkeiten. Über die Auslastung von Kapazitäten hinaus geht es dann auch um die Möglichkeit, interessantere und komplexere Aufträge einwerben zu können und weitere Mitarbeiter einstellen zu können. Die Gestaltung des Schemas maschinenbezogene Kooperation hat insofern eine sich selbst aufschraubende Dynamik in Gang gesetzt, die mit der Zunahme von Vertrauen nahtlos in die projektbezogene Kooperation als weitere und komplexere Möglichkeit der Kooperation überging. Nicht erklärbar ist allerdings mit dem Konzept soziotechnischer Einheiten, warum es so einfach war, trotz vieler Vorbehalte an anderer Stelle in eine maschinenbezogene Kooperation „hineinzurutschen“. Man
13 Nicht aber von Systemen. Die Systemhaftigkeit großer technischer Systeme, die oft als soziotechnische Systeme bezeichnet werden, fehlt hier (Rammert 1988). 168
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kann natürlich auf die eindeutige Interessenlage hinweisen, denn schließlich war die wechselseitige Bearbeitung bestimmter maschinenbezogener Aufträge für alle von Vorteil. Allerdings gilt hierfür die gleiche oben bereits geschilderte Problematik: Vorab waren die Möglichkeiten anscheinend bekannt aber nicht „spürbar“. Denn auffällig ist, daß die ECCS-Partner nicht bei ihren ersten Treffen, bei denen sie sich anhand von Vorträgen über ihre Arbeit kennenlernen sollten, auf diese Form der Kooperation kamen, gleichwohl die Laborausstattung referiert worden war. Erst bei ihrem ersten Gang durch ein Labor eines Partners, der zeitlich deutlich später stattfand, entdeckte man die Möglichkeit der maschinenbezogenen Kooperation. Herr Clean beschrieb diese Begebenheit folgendermaßen: „Als wir dann mal durch die Labore durchgegangen sind, da haben wir gesagt: ‚Was DAS Gerät steht hier? Da hab ich vor einem halben Jahr mal eine Anfrage gehabt!’ Ja und da haben wir gesagt, da können wir nächstes Mal so einen Auftrag zusammen machen!“ (Interview Herr Clean).
Aus dem Zitat wird deutlich, daß die materielle Präsenz der Maschinen und die verobjektivierte Sichtbarkeit möglicher mit diesen ausführbarer Aktionsprogramme das Aufkommen entsprechender Gespräche verursacht hat. Technik ist weit mehr als ein „stummer Diener“, der nur dann auffällt, wenn er nicht funktioniert. In der neueren Techniksoziologie werden die Auswirkungen von Technik auf menschliche Aktivitäten und auf soziale Interaktionen zunehmend wahrgenommen und untersucht. Straßenschwellen beispielsweise nötigen Autofahrer, langsam zu fahren, um einen Schaden am eigenen Auto abzuwenden (Latour 1992: 244), riesige Schlüsselanhänger an Hotelschlüsseln führen dazu, daß die Schlüssel „brav“ an der Hotelrezeption abgegeben werden (Ders. 1996a). Technik kann sozialen Normen zur Durchsetzung verhelfen, indem die Norm in die Technik eingebaut wird, so Bruno Latour (ebd.). Technik bewirkt aber nicht nur spezifische Änderungen menschlichen Verhaltens, sie wirkt auch auf Situationen sozialen Handelns ein und verändert diese. So hat die Entwicklung diagnostischer Instrumente beispielsweise das Verhältnis von Arzt und Patient völlig verändert (Stollberg 1997). Während der Arzt sich in der Krankenbettmedizin des 18. und auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Gespräch mit dem Patienten und seinen Vertrauten über das Befinden des Kranken informierte, wurde die Diagnose in der Hospitalmedizin nach 1850 mit Hilfe der diagnostischen Instrumente gestellt (Ebd.), wodurch der Patient nur noch zum empfangenden Dritten wurde. Dieses 169
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Beispiel zeigt, wie Technik auch in das soziale Gefüge eingreift und dieses verändert. Prägnanter als mit der Vorstellung soziotechnischer MenschMaschine Einheiten läßt sich diese materielle Faktizität der Maschinenpräsenz mit dem Actor-Network Konzept von Michel Callon (1987; 1991) und Bruno Latour (1988; 1991) erklären. Ihnen geht es um die Kopplung verschiedenster Aktionen, ungeachtet ob die Aktion von einer Maschine, einem Menschen, einem Tier oder anderen natürlichen Entitäten verursacht wird. Alles was Aktivität hervorbringt, wird als Aktant bezeichnet, und es geht um die Beschreibung, wie netzwerkartige Relationierungen zwischen Aktionen dieser Aktanten hergestellt werden. Das Entscheidende dabei ist, daß durch diese Mensch-Technik Verknüpfung eine neue Qualität des Handelns entsteht. Der technikverwendende Mensch ist ein anderer als ohne diese Technik, und umgekehrt ist die in einem spezifischen Kontext eingesetzte Technik eine andere als in einem anderen Kontext. Diesen Gedanken veranschaulicht Latour am Beispiel der Kontroverse um Schußwaffen: Während für die Waffengegner die Schußwaffe aus rechtschaffenen Menschen Mörder macht, existiert für die Befürworter das Motiv zum Mord unabhängig von dem dafür verwendeten Werkzeug. Ein rechtschaffener Mensch bleibt rechtschaffen, ein Mörder mordet auch ohne Schußwaffe. Die Position des Actor-Network Ansatzes liegt dazwischen, denn die Waffe in der Hand will gebraucht werden, und flugs wird aus einer Drohung eine Tat. Bereits die Präsenz der Waffe greift in Handlungssituationen ein und verändert diese. Die Identitäten der beteiligten Objekte und Menschen entstehen erst in ihrer spezifischen Vernetzung, im Kontext ihrer Verwendung.14 Ob aus einem rechtschaffenen Menschen ein Mörder wird, hängt dann von der spezifischen Situation und ihrem Verlauf ab und wie der Mensch mit der Waffe darin eingebunden ist. Identitäten von menschlichen und nicht menschlichen Aktoren sowie von ihren Aktivitäten werden im Aktor-Network Ansatz dynamisch konzeptualisiert und können deshalb mit dem in Kap. 2.2. vorgestellten Konzept kollektiven Handelns durch doppelte Interakte von Karl Weick kombiniert werden. Der Sinn von Handlungen entsteht Weick zufolge durch das Aneinanderanschließen von mehreren (aber mindestens zwei) Interakten. Wenn man nun Aktionen oder Aktionspotentiale von Technik als einfache Interakte im Sinne Weicks gelten läßt, dann wird durch das wechsel14 Mit der Frage, wie Technik Handeln verändert, also in das soziale Gefüge eingreift, befassen sich eine ganze Anzahl neuerer Arbeiten; vgl. hierfür beispielsweise Burri (2008), Braun-Thürmann (2002), Schubert (2006), Schulz-Schaeffer (2007), Rammert/Schulz-Schaeffer (2002), Rammert (2007). 170
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seitige Anschließen an spezifische Deutungen eine Wirklichkeit auch in der Interaktivität von Mensch und Technik hervorgebracht.15 Im vorliegenden Fall liegt schon allein in der Präsenz der Maschine eine Aktion vor, sie fordert zum Gebrauch auf wie ein Fußball, der zufällig auf der Straße liegt, einen Tritt beinahe schon evoziert. In der Rahmung einer Laborbegehung drängt sich die physische Präsenz einer Maschine stärker auf, als wenn diese im Kontext eines Vortrags beschrieben wird. Die Unhintergehbarkeit der Präsenz der Maschine hat Gespräche angeregt, durch die die ECCS-Partner schneller in eine Kooperation verwickelt wurden, als hätten sie sich weiterhin abseits von ihren Laboren in Tagungsräumen aufgehalten. Das Aktionsprogramm der Maschine will gekoppelt werden16, und indem der Wunsch geäußert wird, liegt ein konkretes Angebot einer Mensch-Maschine Kooperation vor, dessen Ablehnung ebenso wie dessen Annahme Spuren im weiteren Fortgang der Interaktionen zwischen den ECCS-Partnern haben werden. Vor dem Hintergrund von Vertrauen und Sympathie hätte die Ablehnung seltsam gewirkt, sie wäre jedenfalls folgenreich geworden. Mit der Annahme dieser Idee kam es zur Kopplung des Wunsches nach größeren Aufträgen der einen Wissenschaftler, der Aktionsprogramme gewisser Maschinen eines fremden Labors und entsprechender anderer Wissenschaftler, welche mit diesen Maschinen arbeiten. Gespräch zwischen Alter Ego (A.E.) und Daniela Manger (D.M.) A.E.: Also ich sehe nicht, wozu Sie nun auch noch selbsthandelnde Maschinen benötigen, um zu erklären, daß die Leute beim Gang durch das Labor auf die Idee kamen, bezüglich der vorhandene Maschinen zu kooperieren. Die Idee, was man mit einer Maschine machen kann, ist ja in den Köpfen der Leute oder wird meinetwegen auch durch die sozialen Normen der Akteursgruppen transportiert oder durch die Kommunikation sozialer Systeme weitergetragen. Aber reden tut man mit Maschinen nun mal nicht, und deshalb brauchen Sie auch kein Aktanten-Konzept.
15 Aktionen können als Interakte eingestuft werden, wenn sie kontingent sind. Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer (2002: 49) haben unabhängig vom Aktant (Mensch, Maschine, Tier) Handeln nach verschiedenen Freiheitsgraden abgestuft. 16 In der Beschreibungssprache des Actor-Network Ansatzes werden bewußt Begriffe, die ansonsten sozialen Akteuren vorbehalten bleiben, auf alle Aktanten angewendet, ganz gleich, ob es sich dabei um Maschinen, um technische Artefakte, Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt. Gerade damit soll die Asymmetrie zwischen Sozialem und Technik aufgehoben werden, vgl. Latour (1996). 171
INNOVATION UND KOOPERATION
D.M.: Natürlich können Sie mit einer Maschine bislang zumindest keine Unterhaltung führen, aber dennoch gibt es da eine Faktizität, die in das Soziale ausgreift. Die Anordnung von Gebäuden an einem öffentlichen Platz beispielsweise kann so beschaffen sein, daß Sie sich als Fußgänger geborgen fühlen, klein und allein fühlen, aufgrund der Unübersichtlichkeit sich unwohl fühlen oder gar Angst bekommen etc. Der architektonisch gestaltete Raum bewirkt etwas mit denjenigen, die ihn betreten, und das wirkt sich auch auf die dort stattfindende Gesprächskultur aus, und wenn sie nur die Gespräche betrachten, fehlt ein wichtiger Erklärungsfaktor. A.E.: Würden Sie denn Luhmann nicht beipflichten, der einmal gesagt hat, daß Umweltkatastrophen für die Gesellschaft nur relevant sind, wenn man darüber spricht?17 D.M.: Nein. Die Systemtheorie kann genau das nicht erfassen, daß die Gestaltung von Objekten für den Verlauf sozialer Kommunikationen einen Unterschied ausmacht. In ihren Vorträgen haben die ECCS-Partner auch ihre Maschinen erwähnt, aber so ein Vortrag bietet zahlreiche kommunikative Anschlußmöglichkeiten, und so hat man sich eben über anderes unterhalten. Aber wenn man vor der Maschine steht, dann drängt sie sich ganz anders in der Kommunikation auf. Es geht Latour und Callon um das Erfassen solcher dinghafter Widerständigkeit. Dinge ändern soziale Kommunikationen, wie Latour zum Beispiel mit dem Schlüsselanhänger bei Hotelschlüsseln zeigt.18Wenn der Anhänger riesig groß und dann auch noch schwer ist, dann geben ihn die Hotelgäste eben auch an der Rezeption ab, anstatt ihn mitzunehmen. Die Beschaffenheit des Objekts ändert das Verhalten, die Kommunikation. Das Objekt wirkt sich sozial aus. Darum geht es hier. A.E.: Aber das kann Luhmann doch über den Begriff der Irritation fassen. Das Objekt irritiert die Wissenschaftler, sie stolpern darüber und müssen dann damit umgehen. D.M.: Aber Irritation ist sehr unspezifisch. Es macht einen Unterschied aus, ob man über einen Ast am Boden stolpert oder ob ein Partner genau die Maschine im Labor stehen hat, die ein anderer gerade braucht. Mit Latour läßt sich die Anregung, die das Objekt gibt, spezifisch fassen, es fordert geradezu zu etwas bestimmtem auf, nicht zu irgendwas. Diesen Unterschied kann man mit der Systemtheorie nicht zu fassen bekommen.
17 Luhmann (1986: 11ff.) Umweltprobleme zwingen sich der Kommunikation auf. Dort werden sie dann als Thema relevant und je nach Funktionssystem verschieden behandelt. 18 Latour (1996a). 172
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6.2.3
Projektbezogene Kooperation
Projektbezogene Kooperation erhält man durch eine Umkehr des Rollenverhältnisses zwischen Projekt und Maschinen. Wurden vorher ausgehend von einem gegebenen Projekt die Aufgaben an die Maschinen delegiert, so kann man umgekehrt das Vorhandensein eines bestimmten Maschinenpools zum Ausgangspunkt nehmen und überlegen, welcher Art Projekte man mit ihnen angehen könnte. Der Unterschied mag zunächst nur geringfügig erscheinen, denn der größere Gestaltungsspielraum dieser Variante wird erst deutlich, wenn man weiß, daß es in bezug auf die maschinenbezogene Kooperation um standardisierte Auftragsforschung geht, wenn aber Projekte von den Akteuren selbst konzipiert werden, dann handelt es sich um Forschungsprojekte, und es geht dann um die Frage, welcherart Forschung der Maschinenpark erlaubt, auf den man insgesamt zugreifen könnte. Unter diesem Blickwinkel werden die Maschinen unter einer völlig anderen Perspektive neu betrachtet. Sie werden zu dem, was Susan L. Star und James R. Griesemer (1989) als „Boundary Objects“ bezeichnen. Boundary Objects sind Kreuzungspunkte zwischen verschiedenen communities of practice.19 In unserem Fallbeispiel haben zwar sämtliche Experten mit Oberflächen und Lacken zu tun, in bezug auf ihre Spezialthemen trennen diese Spezialisten dennoch zahlreiche Spezialfragen und in bezug auf diese arbeiten die Experten in getrennten Welten. Als Boundary Objects werden die Maschinen in den Laboren zu Kreuzungspunkten dieser verschiedenen Welten, weil jeder Experte und jede Expertengruppe diese Maschinen aus seiner bzw. ihrer ganz speziellen fachlichen Perspektive heraus betrachtet. Die gleichen Maschinen können dann jeweils Verschiedenes bedeuten, ein „Boundary Object is an object, which lives in multiple social worlds“ (Star und Griesemer 1989: 409). Während für den Sensortechniker die Meßgeräte zu Zwecken der Oberflächenanalyse jeglicher Oberflächen dienten, überlegte der Spezialist für die Reinigung von Metallflächen, ob man nicht diese Meßgeräte zur Messung der Reinheit von Oberflächen einsetzen könnte, denn in diesem Bereich gab es bislang noch keine Meßtechnik. Aus seiner Perspektive waren die Geräte im Labor des Sensortechnikers in anderer Weise relevant als für diesen selbst.20 In der projektbezogenen Kooperation wurden die Maschinen der anderen Partner unter der Perspektive betrachtet, ob sie einem selbst bei 19 Star und Griesemer (1989) sprechen hier allerdings nicht von communities of practice, sondern von unterschiedlichen sozialen Welten, verschiedenen Kulturen, die aber dem Begriff der communities of practice entsprechen. 20 Interview Herr Clean. 173
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seinen spezifischen Forschungsfragen weiterhelfen könnten. Aus dieser Fragestellung heraus waren nicht mehr nur die Maschinen der Partner interessant, die man selbst gerne gehabt hätte, um Aufträge abzuarbeiten, sondern alle Maschinen der Partner wurden näher betrachtet, um herauszufinden, was man mit ihnen machen könnte. Die Laborausstattungen regten insofern Gespräche darüber an, welche Möglichkeiten es mit welcher Maschine gibt, und bei diesen Gesprächen kamen selbstverständlich immer auch die Spezialinteressen und Forschungsgebiete der Partner mit zur Sprache. Die Maschinen wurden so nicht mehr nur als Arbeitsgeräte im Rahmen standardisierter Aufgaben angesehen, sondern sie wurden zu Fixpunkten mit einem über den Normalstandard hinausgehenden und zum Teil noch unbekannten Einsatzradius, die zu Bausteinen einer kreativen Projektentwicklung wurden. In dieser Eigenschaft wurden die „Boundary Objects“ zu „Innovation Objects“, denn sie ermöglichten weit mehr als nur Koordination zwischen verschiedenen Wissenskulturen.21 Sie ermöglichen die Rekombination von Wissen. Dies wird deutlich, wenn wir Richard Nelsons und Sidney Winters (1982) Vorstellung über die Entstehung von Innovationswissen hinzunehmen: In Anlehnung an den verhaltenswissenschaftlichen Organisationsansatz von Richard Cyert und James March (1963) betrachten sie technisches Handeln als Routinehandeln, welches in eine interpretierte Welt eingebettet ist (Nelson und Winter 1982: 14). Routinen und gewohnte Deutungsmechanismen schließen den Blick vor der Wahrnehmung neuer Möglichkeiten und Wege. Damit konzipieren Nelson und Winter technisches Wissen nicht als eine unabhängig vom Kontext verfügbare und variierbare Ressource. Innovationen entstehen demnach nicht durch rationale Entwurfstätigkeit, sondern werden durch neuartige Probleme angestoßen. Deren Lösung erzwingt die Neuordnung von Routinen und ermöglicht somit die Variation des in diese eingelagerten Wissens. Die Experimentierfreude mit den Maschinen aus den
21 Im Konzept der Boundary Objects von Susan Star und James Griesemer (1989) geht es um Koordinationserfordernisse zwischen Vertretern verschiedener communities of practice. Indem sich verschiedene Gruppen von Objektsammlern eines Naturkundemuseums wie Trapper, Laiensammler und verschiedene wissenschaftliche Experten auf ein Set von Regeln über die Art und den Zustand von Sammlungsobjekten einigen konnten, konnten die Angehörigen dieser verschiedenen kulturellen Subgruppen eine gemeinsame Sammlung aufbauen, ohne sich inhaltlich zu reiben. Das Set von Regeln fungierte dabei als Boundary Object. Anstelle der Rekombination von Wissen ging es aber dabei lediglich um die Koordination verschiedener Gruppen. Die Idee der Rekombination von Wissen über Boundary Objects geht daher über das Konzept von Susan Star und James Griesemer hinaus (vgl. Manger 2007). 174
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Laboren der anderen hat in genau diesem Sinne zur Rekombination des Wissens verschiedener Experten geführt und zahlreiche Innovationen angestoßen. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Wie bereits dargestellt waren die Akteure zwar in komplementären Teilgebieten der Lacktechnik tätig, aber in zueinander inkompatiblen Spezialisierungen. Über die Beschäftigung mit den Maschinen der jeweils anderen Partner bemerkte aber der Spezialist für Metalloberflächen, daß der Spezialist für Aufspritztechniken im Kunststoffbereich damit experimentierte, gerillte Oberflächen zu spritzen. Ein Problem bei bestimmten Anwendungen im Metallbereich ist es, daß eine gerillte Oberfläche oftmals wünschenswert ist, technisch aber noch nicht herstellbar war. Die beiden Spezialisten taten sich zusammen, und so wurde eine erste Versuchsreihe aufgelegt, bei der getestet wurde, inwieweit die für Kunststoffe entwickelte Auftragstechnik für Metallacke funktioniert. Dieses Forschungsprojekt war ein anspruchsvolles, in der Grundlagenforschung anzusiedelndes Vorhaben, bei welchem die verschiedenen Spezialgebiete in einer sehr speziellen Weise verknüpft wurden, die für beide Bereiche zugleich so spannend wie innovativ waren. In diesem Beispiel wurden die Maschinen zu Mediatoren der Verknüpfung unterschiedlicher Spezialkompetenzen, ohne daß die Akteure sich jeweils in das Spezialgebiet ihrer Kooperationspartner einarbeiten mußten.
6.2.4 Rollenkomplementäre Kooperation Während es in bezug auf standardisierte Forschungsdienstleistungen zahlreiche Überlappungen gab, arbeiteten die Euregiopartner in bezug auf ihre Forschung zu Fragestellungen, die nichts miteinander zu tun zu haben schienen, obgleich sie in zueinander komplementären Phasen des Lackierprozesses angesiedelt waren. Durch die Boundary Objects wurden zwischen diesen unzusammenhängenden Spezialfragen neue Fragestellungen gefunden, bei denen das jeweilige Wissen, die Erfahrungen und Kompetenzen miteinander verknüpfbar wurden. Die Kooperationspartner wußten nun nicht mehr nur abstrakt, daß ihre jeweiligen Spezialisierungen in zueinander komplementären Phasen des Lackierprozesses liegen, sondern erlebten dieses zunehmend praktisch.22 Sie erfuhren sich als fachlich-komplementäre Partner und nahmen sich gegenseitig stärker in der Rolle als Fachspezialisten zueinander komplementärer Phasen des Lackierprozesses wahr.
22 Auch diesbezüglich läßt sich die weiter oben angeführte Differenz zwischen gewußtem und erfahrenem Wissen konstatieren (vgl. Kap. 6.1.3). 175
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Die gegenseitige Akzeptanz als rollenkomplementäre Partner allerdings ist äußerst folgenreich: Denn unter der Prämisse rollenkomplementärer Partner werden die Personen, die über ein spezifisches Wissen verfügen, für dieses Wissen im Netzwerk zuständig. Zuständigkeit heißt wiederum, daß alle anfallenden Fragen, Projekte oder Teilaufgaben immer zu dem für diesen Bereich als kompetent definierten Partner gepoolt werden. Diese rollenkomplementäre Arbeitsteilung bildet dann aber auch zugleich die Voraussetzung dafür, bei Einzelprojekten, in denen auch Wissensgebiete der anderen berührt werden, den Rat der Partner einholen zu können. Infolge der gegenseitigen Behandlung als rollenkomplementäre Partner ist das rollenkomplementäre Schema zugleich rekursiv verstärkt worden. Dies ist zum einen dem Umstand zu verdanken, daß die grundsätzliche Möglichkeit besteht, einen Spezialisten jederzeit auch dann unverbindlich fragen zu können, wenn er selbst gar nicht in dem in Frage stehenden Projekt formal involviert ist. Je mehr man miteinander arbeitete, desto mehr wurden wechselseitige Bezugspunkte gestaltet. Darüber hinaus veränderte sich die Wahrnehmung ihrer eigenen Arbeit: Zunehmend entdeckten die Netzwerkpartner in ihrer eigenen Arbeit Wissensbezüge zu anderen Netzwerkakteuren und banden deren Wissen in die eigenen Projekte ein. Im Interviewmaterial wird dies zum einen daran deutlich, daß die Netzwerkakteure tatsächlich von „Entdeckungen“ neuer Kooperationsmöglichkeiten und neuer Wissensbezüge sprechen und es sich andererseits zeigen läßt, daß mittlerweile Wissensaustausch in Bereichen stattfindet, von denen man vorher glaubte, diese gut alleine abwickeln zu können.23 Die Erörterung von Wissensfragen wurde letztendlich zur zentralen Form der Kooperation, wobei freilich auch die bereits angesprochenen Kooperationsformen maschinenbezogen einerseits und projektbezogen andererseits weiterhin Bestand hatten. Die Akteure des Netzwerks telefonierten mindestens einmal, oft aber mehrfach am Tag mit mindestens einem Netzwerkpartner in bezug auf Wissensfragen.24 Darüber hinaus trafen sich manche Partner alle paar Wochen, um spezifische Themen Face-to-Face zu besprechen oder aber sie nutzten andere Gelegenheiten
23 So sinngemäß beispielsweise Herr Gustavsson im Interview. 24 Nach der Häufigkeit und der Art der Kontakte zu den Netzwerkpartnern wurde in jedem Interview gefragt und übereinstimmend so geschildert. Darüber hinaus fand kaum ein Interview statt, währenddem nicht der Interviewpartner von anderen Netzwerkpartnern angerufen wurde, so daß ich auch selbst einen lebendigen Eindruck von der Gesprächskultur der Netzwerkpartner bekam. 176
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wie Treffen im Rahmen des Euregioprojektes, normale Projekttreffen, Tagungen etc., um sich unterhalten zu können. Diese Art der Rekombination von Wissen lief aber ohne Rückgriff auf Boundary Objects ab, aber dennoch in der gleichen unkomplizierten Weise, nämlich ohne in die Tiefe der jeweils anderen Wissensgebiete eintauchen zu müssen. Die Boundary Objects stellen nämlich auch materiell-gegenständliche Grenzen dar, weil sich über sie nur verknüpfen läßt, was in der Struktur des Objekts im weitesten Sinne auch unter kreativer Ausdehnung der ‚Normalnutzung’ angelegt ist. Alle anderen ebenfalls verknüpfbaren Wissensbereiche, Ideen, Schemata, Mechanismen etc. bleiben unentdeckt und in diesem Sinne sind Boundary Objects auch Boundarys, also Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes. Durch die rollenkomplementäre Kooperationsform konnten die Grenzen der Boundary Objects überwunden werden, indem die mediatorische Funktion der Maschinen sozusagen in die Innovationskultur des Netzwerks überführt wurde. Die Netzwerkakteure helfen sich gegenseitig in zahlreichen Fragen weiter und diskutieren in kreativer Weise über neue Problemlösungen. Durch den Rückgriff auf den gemeinsamen Wissenspool kann zum einen jeder seine Arbeit besser machen und zum anderen kommt es immer wieder zu neuen Lösungen, also zur Rekombination dieses Wissens. Das folgende Beispiel zeigt, wie in einem Beratungsgespräch eine einfache Lösung gefunden werden konnte, die sich aus der Perspektive des Ratsuchenden als sehr kompliziert dargestellt hatte. In dem Beispiel wird die gute Gesprächskultur des Netzwerks deutlich, die es eben möglich macht, das Gespräch zu suchen, ohne daß die Präsenz einer Maschine das Gespräch im Sinne Latours anregt: „Er [Herr Gustavsson] hatte da so Teile von einer Zapfanlage, so Gußteile, die sind zwar verchromt, aber eine Stelle, so ein breiter Streifen, der muß irgendwie eingefärbt werden mit irgendeinem Lack. Bisher war das sehr aufwendig, da wird das alles abgeklebt, da werden 100.000 Stück im Jahr produziert und das ist ein immenser Aufwand […] und dann ist er zu mir gekommen, ‚wie kann man das hier machen?’ Und da hab ich gesagt, da gibt es ein Verfahren, das ist eine geniale Technologie, da füllen Sie einen Behälter mit Pulverlack an, der wird aufgewirbelt und dann heizen Sie das Teil auf und dann tauchen Sie es soweit rein, wie die Beschichtung sein soll, […] und dann wird nur der Bereich beschichtet, der Pulverlack schmilzt auf, und fertig ist die Geschichte“ (Interview Herr Rater).
Zwischen den Akteuren ist somit das entstanden, was Wegner als „Transactive Memory“ bezeichnet, nämlich ein System, in dem spezifisches Fachwissen verteilt ist und jeder weiß, was der andere weiß (Wegner 1986) oder zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, was 177
INNOVATION UND KOOPERATION
welcher Partner wissen könnte. So entsteht und vervollständigt sich zunehmend eine Art Wissenslandkarte der Netzwerkpartner. Man muß dann nicht alles wissen, sondern nur erkennen können, welches Wissen gefragt ist und wo es im System aufzufinden ist. Wenn die „TransactiveMemory“ sehr gut untereinander verdrahtet ist, also jeder Teil weiß, über welches Wissen die anderen verfügen, dann kann man als Ratsuchender auch an irgendeines dieser Teile herantreten und wird sehr schnell zum richtigen Ansprechpartner weitergeleitet. In eben dieser Weise funktionierte das Netzwerk bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung als zentraler Knotenpunkt in der Region, beispielsweise als Makler für viele ratsuchende Unternehmen, als Bündelung von in der Region verstreuten Weiterbildungsbedarfen und zugleich als Koordinator entsprechender Weiterbildungsangebote. Es ist allerdings ebenfalls völlig klar, daß eine rollenkomplementäre Kooperationsform an sich keinesfalls ausreicht und oft auch nicht einmal die Voraussetzung für den Austausch von Wissen darstellt. Eine solche Annahme wäre eine Vertauschung von Ursache und Wirkung, denn in diesem Fall kam es nicht deshalb zum Austausch von Wissen, zu anregenden Gesprächen und gemeinsamen Aktivitäten, weil die Kooperationspartner komplementär waren, sondern anders herum hat die Gestaltung von Komplementarität die wechselseitigen Bezugspunkte sowie die Motivation zu kooperieren überhaupt erst hervorgebracht. Nach dem Ansatz des Organisierens von Karl Weick handelt es sich bei dem zunehmenden kompatibilisierbaren Spezialwissen gerade nicht um Entdeckungen, sondern um Gestaltungen. Die hier eingenommene Sichtweise ist ja nun gerade diejenige, daß die Welt an sich mehrdeutig ist und deshalb auch die Beziehung der Akteure untereinander in vielerlei Hinsicht interpretierbar ist. Wie beschrieben sind Indifferenz und Konkurrenz ebenfalls Optionen für eine Gestaltung der Beziehungen untereinander, und das Resultat wäre bei gleicher Ausgangslage ein grundlegend anderes, und es würde den Akteuren in gleicher Weise als gegeben erscheinen, wie es später die komplementäre Rollenverteilung wurde. Die These hier ist also, daß durch die Gestaltung – also durch den aktiven Einsatz des Schemas komplementärer Zusammenarbeit – die Akteure selbst die Voraussetzungen der komplementären Zusammenarbeit erst entstehen ließen. Für das Entstehen einer neuartigen sozialen Beziehungsstruktur, innerhalb derer Wissen rekombiniert wurde, waren aber noch zwei andere bereits angesprochene soziale Mechanismen unabdinglich: Erstens das Vertrauen, die grundlegende Sympathie und das Gefühl, mit den anderen reden und arbeiten zu können, und zweitens die Tatsache, daß die Akteure aus eigenem Antrieb motiviert waren, das Gespräch zu suchen. 178
ÖKOLOGISCHER W ANDEL UND GESTALTUNG
Dieser Antrieb lag in der dynamischen Entwicklung der Motivmöglichkeiten von der Auslastung der Maschinen, über interessantere Projekte, interessantere Partner in der Industrie, der Verfolgung spannender Forschungsfragen, der Erkenntnis, daß man unter Einbeziehung des Wissens der anderen bessere Beratung, bessere Lehre und bessere Forschung machen kann, daß man Dinge in der Region in Bewegung setzen und zahlreiche innovative Ideen generieren kann. All dies ist die Entdeckung von Vorteilen, die erst mit der Kooperation selbst sichtbar wurden und welche die Zusammenarbeit immer wieder beflügelte und voranbrachte. Gleichwohl wir in diesem Kapitel lediglich die Gestaltung neuer Konzepte betrachtet haben, haben wir mit diesem Strang nicht nur die Entstehung, sondern auch die Entfaltung des Netzwerks betrachtet. Denn bereits seit der Kooperation zum Zweck der Auslastung von Maschinen handelte es sich bei den Akteuren um ein Netzwerk, weil man sich ganz gemäß der in Kapitel 3.3 eingeführten und diskutierten Netzwerkdefinition tatsächlich längerfristig auf diese Kooperationsform einstellte. Natürlich fand auch weiterhin Gestaltung statt, jedoch keine Gestaltung, welche der Phase des ökologischen Wandels zugerechnet werden kann. In der ganzen Zeit, in der die Kooperationspartner miteinander arbeiteten, fand die Suche nach dem statt, was man gemeinsam sein kann – diese Selektion von Sinn wird im folgenden Kapitel 7 dargestellt.
179
7 SELEKTION
Die Anekdote von den ungarischen Soldaten, die mit einer Karte der Pyrenäen ihren Weg durch die Schweizer Alpen fanden, steht geradezu beispielhaft für einen Sensemakingprozeß, wie er auch im Fall der hier beschriebenen Entstehung eines Netzwerks stattfand. Die Landkarte der Pyrenäen bildete die Schweizer Alpen ebenso wenig ab, wie die anfängliche Vorstellung eines Zentrums für Lack- und Oberflächentechnik auf das spätere Netzwerk paßte. Sowohl die Landkarte als auch die Vorstellung eines Zentrums führten aber jeweils zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten bzw. mit den Aktivitäten der anderen Partner, so daß im einen Fall der Weg gefunden wurde und im anderen Fall eine neue Form der Zusammenarbeit. In bezug auf diese Geschichte war Weicks Argument, daß praktisch jede Karte zum Ziel geführt hätte, solange sie einen konstruktiven Sensemakingprozeß anstößt, da die Lösung nicht in der Karte enthalten ist, sondern die Karte nur eine Schablone bildet, anhand derer die Akteure unter Verwendung des vorhandenen Wissens und der vorhandenen Erfahrungen der Beteiligten zu Interpretationen gelangen können, mit deren Hilfe sie sich weiter vortasten, bis sie eine funktionierende, also der Situation angemessene Vorstellung gestaltet haben. Im folgenden soll daher aufgezeigt werden, wie die Idee eines Zentrums von den Akteuren umgesetzt und ausagiert wurde und wie dadurch Auseinandersetzungen angestoßen wurden, die schließlich in der Selbstfindung einer netzwerkförmigen Zusammenarbeit mündete. Der Begriff „Center“ erscheint bereits in der Namensgebung des Kooperationsverbundes ECCS (European Center of Coatings and Surface Technology) und ist insofern als Zielvorstellung bereits von Beginn der Euregioförderung an existent. Zunächst soll deshalb den Wurzeln 181
INNOVATION UND KOOPERATION
dieser Namensgebung nachgegangen werden, um herauszufinden, was die Namensgeber unter Center verstanden hatten. In der alltäglichen Handlungspraxis zeigten sich dann aber differente Vorstellungen über dasjenige, was ein Center sein kann und wie man dieses Ziel erreicht.
7.1
Herkunft und Visionen des Centerkonzepts
Das Centerkonzept entstand aus der Allianz zweier Notlagen: Die eine wurde durch die niederländischen Verbände als Bedarfslage der Branche diagnostiziert, wonach eine Dringlichkeit der Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen im Lackbereich bestand. Die in Kapitel 4.2.3 beschriebenen tiefgreifenden Änderungen der Lackiertechnik in den letzten Jahren hatten, wie aus einer vom niederländischen Verband der Lackierer (VOM) in Auftrag gegebenen Marktstudie hervorging, zu einem hohen Weiterbildungsbedarf geführt.1 Darüber hinaus wünschte sich der niederländische Verband VVVF eine praxisnähere Ausbildung der Materialbeschichter und Lackingenieure, die stärker an den Bedarfen der Lackbeschichter ausgerichtet sein sollte. Die zweite Notlage dagegen betraf den Studiengang Materialbeschichtung an der Fachhochschule Enschede: Die staatliche Finanzierung der niederländischen Hochschulen hängt von Absolventenzahlen ab, was bedeutet, daß sich ein geräte- bzw. laborintensiver Studiengang nur bei hohen Studentenzahlen rechnet. Da aber der Studiengang Materialbescherming sehr klein war, fand er sich immer wieder auf der Streichungsliste des Rektorats wieder. Aus der Allianz der beiden Notlagen, die Bedarfslage der Branche einerseits und die prekäre Situation an der Fachhochschule Enschede andererseits, entstand die Idee, den Studiengang Materialbeschichtung an der Fachhochschule Enschede durch stärkere Anbindung an die regionale Beschichtungsindustrie attraktiver zu gestalten. Nach und nach durch die Verfolgung diverser Ideen und Projekte, durch Gespräche auch mit der deutschen EGL entstand die Idee, an der Fachhochschule Enschede ein Zentrum für Lacktechnik einzurichten, in dem kleinere Aufträge, Beratungen und Schulungen für die mittelständischen Betriebe durchgeführt werden könnten. Davon würden auch die Studierenden profitieren, die durch dieses Zentrum mehr Praxis erleben könnten und
1
Dieses Gutachten wird im Bericht des Unternehmensberaters Herr Fröhlich genannt.
182
RETENTION
darüber hinaus könnten über die damit eingeworbenen Mittel Geräte und Maschinen angeschafft werden.2 Gleichwohl diese Idee eines Zentrums die volle Unterstützung der Verbände erfuhr, blieb sie zunächst nicht mehr als eine Idee, weil weder Geld zum Aufbau eines solchen vorhanden war, noch eine entsprechende Unterstützung seitens der universitären Institutsleitung an der Fachhochschule Enschede entgegengebracht wurde und überdies auch einige Mitarbeiter des Studiengangs Materialbeschichtung kein Interesse an einem solchen Engagement zeigten. Die Vorstellung eines regionalen Zentrums, welches diverse Forschungs- und Weiterbildungsdienstleistungen für die regionalen Beschichter anbieten könnte, existierte also bereits im Vorfeld des ECCS und stand der Gründung des ECCS Pate. Der Name European Center of Coatings and Surface Technology ist ein Produkt dieser ersten Bestrebungen, ein Kompetenzzentrum aufzubauen und ist daher durchaus programmatisch aufzufassen. Gleichwohl war der Name zunächst mehr Hoffnung als Programm, zum einen, weil sich zum Zeitpunkt der Projektbewilligung noch nicht einmal alle Euregiopartner untereinander kennengelernt hatten und zum anderen war die Idee eines regionalen Zentrums bei den neu hinzugewonnen Partnern kein vorab bestehendes Anliegen gewesen.
7.2
Zw e i k o n t r ä r e I n t e r p r e t a t i o n s w e i s e n des Centers
Das Wort „Center“ eröffnet einen Sinnbezug auf einen festen Ort des Geschehens wie bei einem Technologiezentrum oder einem Dienstleistungszentrum, welches eine Palette von Weiterbildungsseminaren und eine gewisse Bandbreite an Forschungsdienstleistungen anbietet. Aber anstelle eines solchen Zentrums gab es eine Anzahl von Akteuren, die jeweils über bestimmte, sehr spezifische Kompetenzen verfügten und deren Bezüge untereinander nicht offensichtlich waren und welche überdies räumlich in zwei Nationalstaaten und zwei innerdeutschen Bundesstaaten angesiedelt waren. Von dem Zeitpunkt aber, von dem das Gebilde für mehr als eine virtuelle Konstruktion zur Einwerbung von EU-Geldern gehalten wurde, weil man gemerkt hatte, daß man miteinander arbeiten könnte, war eine längerfristige Perspektive eröffnet und damit auch die Frage, was aus dem Center werden würde und wie die Diskrepanz zwischen Name und Wirklichkeit zu deuten wäre. Es lassen
2
Die Informationen entstammen den Interviews mit Herrn Maler und Herrn Strater. 183
INNOVATION UND KOOPERATION
sich zwei Interpretationen, die an diese Ausgangslage anknüpften, unterscheiden: Die eine Variante, die im folgenden als aktive Haltung bezeichnet wird, wurde von den Enscheder Euregiopartnern eingenommen, welche die Vision eines regionalen Kompetenzzentrums verfolgten, wie sie im letzten Teilkapitel dargestellt wurde. Die andere Interpretation begünstigt eine eher abwartende Haltung und wird dementsprechend als passive Variante bezeichnet. Diese Haltung wurde von den neu hinzugewonnenen Euregiopartnern eingenommen, aus deren Perspektive ein Zentrum zwar wünschenswert war, für die der Aufbau des Zentrums aber nur eine unter mehreren Aktivitäten war, von der man eben abwarten müsse, ob sich der Zusammenschluß tatsächlich in diese Richtung entwickeln würde. Im folgenden werden diese beiden Haltungen veranschaulicht, und in Kapitel 7.4 wird aufgezeigt, wie es dadurch zu in diesem Fall konstruktiven Mißverstehen kam. Aus der Perspektive der aktiven Variante gab es viel zu tun: Die aktive Variante modifiziert den Centergedanken dahingehend, daß es ein Zentrum an verteilten Orten sei. Eine solche Interpretation ist eine Zukunftsvision, die gerade dazu auffordert, diese Vision umzusetzen. Man sucht nach Indizien, die darauf hindeuten, wie die einzelnen Partner an einem solchen Zentrum partizipieren könnten. Die Partner werden im Hinblick auf ihre Ressourcen und Kompetenzen für ein solches verteiltes Zentrum beobachtet. Die Krefelder beispielsweise hatten die Euregiomittel eingesetzt, um ihr Lacklabor, welches sie für die Laborpraktika ihres Studiengangs und für eigene Forschungsarbeiten benötigten, deutlich zu vergrößern. Aus der Perspektive der aktiven Variante heraus wurde dieses Lacklabor als Grundstock für ein schon lange gewünschtes regionales Applikationszentrum interpretiert. Mit dem Begriff Applikationszentrum wurde das Labor in einen neuen, erweiterten, sinnhaften Zusammenhang gestellt. Es war nicht mehr einfach nur eine innere Räumlichkeit der Fachhochschule Niederrhein, sondern wurde in seinem sinnhaften Bezug in die Region hinein als regionaler Dienstleister gedacht. An dieser retrospektiven Umdefinition von einem organisationalen Forschungslabor zu einem regionalen Dienstleister lassen sich Sensemakingprozesse festmachen. Indem Herr Maler im folgenden Zitat darauf verweist, daß das Krefelder Labor etwas darstellt, was eigentlich als Idee von der niederländischen VISEM schon lange angeregt worden war und nun im engeren Sinne verfolgt werden soll, formuliert er diese Sinnmodulation konkret: „Man kann jetzt schon sagen, das Applikationszentrum da stecken Gedanken drin, die wir schon lange hatten. Die Krefelder bauen das Labor weiter aus, ein Applikationszentrum, wo man Pulver und Lacke prüfen kann. Der Anwender 184
RETENTION
kann das eben nicht prüfen, der hat höchstens Bauchschmerzen. […] Ein Applikationszentrum – der Gedanke kam von der VISEM, und wir sagten, ja das wollen wir auch. Das können wir gemeinsam machen“ (Interview Herr Maler).
Dieses Zitat verdeutlicht auch, daß Herr Maler das ECCS als Umsetzung lang gehegter und auch zum Teil verfolgter Wünsche in anderen Strukturen sieht. In seinen Augen muß man nun diese Ideen stringent weiterverfolgen und die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen entsprechend ausbauen. Aus der Perspektive der passiven Variante hingegen wurde der Centergedanke nicht im eigentlichen Sinn als Zukunftsvision interpretiert. Das Center ist statt dessen ein Gebilde, welches seine Existenz den Antragskriterien der EU verdankt und seither existiert, „es ist halt da“, wie es im untenstehenden Zitat heißt. Es entwickelt sich als eigenständiges Gebilde neben und durch die Zusammenarbeit der Euregiopartner. Man begreift sich aus dieser Sicht denn auch nicht als Element oder Teil des ECCS, sondern behandelt das ECCS, als wäre es unabhängig von einem selbst, ein Gebilde, dessen Entwicklung sich beobachten läßt und dem man abwartend, wohlwollend oder unterstützend gegenüber steht. Dies wird im folgenden Zitat deutlich, in dem Herr Rater von der EGL beschreibt, wie die Euregiopartner in der ersten Phase nach der Gründung des Kooperationsverbundes das ECCS wahrnahmen. Interessant ist, daß er das ECCS auf die gleiche Ebene wie die anderen Euregiopartner stellt, wodurch es wirkt, als sei der Zusammenschluß aller Akteure, das „Center“, ein Partner unter mehreren: „Also es ging nur um Geld in der ersten Stufe, na ja, also wo bekomme ich Geld her für mich, für meine Forschung, um die irgendwie abzusichern. Da denkt man nicht an die anderen, sondern an sich. Ach ja gut, da gibt’s noch die in Enschede und das ECCS und die in Venloo und wo auch immer. Ja, und das ist halt da, aber man hat nicht so weitergedacht, wie es dann in der nächsten Stufe des ECCS weitergeht“ (Interview Herr Rater).
Eine regionale oder sogar eine europäischen Perspektive war aber andererseits von den Vertretern der passiven Interpretation des Konzepts „Center of Competence“ nicht unerwünscht, sondern ganz gegenteilig stand man der Idee an sich positiv gegenüber. Man wußte von den Nöten vieler kleinerer Unternehmen und artikulierte bei gemeinsamen Treffen auch ernsthaft das gewünschte Ziel eines gemeinsamen regionalen Dienstleistungszentrums. So sehr man sich über den groben Fahrplan und das ungefähre Ziel auch einig war, so schlug sich diese Zielverfolgung nicht so stark auf die tägliche Handlungspraxis nieder. Gleichwohl 185
INNOVATION UND KOOPERATION
die einzelnen Organisationen und die jeweiligen Aufgaben der Akteure sehr verschieden waren, so ähnelten sich die Vertreter der passiven Variante doch darin, daß sie ihrem Handeln jeweils organisationsinterne Erwägungen zugrunde legten. Es ging um die Bewältigung der zahlreichen Aufgaben in Forschung und Lehre und um die Erhöhung eigener Forschungskapazitäten durch bessere Ausstattung, mehr Mitarbeiter usw. Obgleich alle diese Akteure regionale Bezüge nicht ausschlossen, wurden sie gleichwohl häufig nicht mitgedacht, sie waren nicht dem alltäglichen Handeln unterlegt. Dadurch wurden viele Aktivitäten in den Kontext der organisationalen Zugehörigkeit eingeordnet, deren möglicher regionaler Bezug weder gesehen noch mitgedacht wurde (Gesprächsnotiz). Kommunikativ fielen die verschiedenen Interpretationsweisen des Zentrums kaum auf, da weder die Sinnigkeit eines Zentrums an sich in Frage stand, noch der Wunsch, sich am Aufbau an einem solchen zu beteiligen. Erst auf der Handlungsebene, in den alltäglichen Routinen und der Art und Weise, wie Aktivitäten angegangen wurden, traten die differenten Interpretationsweisen in Form von Mißverstehen und Unzufriedenheit auf der Seite der Vertreter der aktiven Variante hervor. Aus der Perspektive der Vertreter der aktiven Interpretation eines Centers an verteilten Orten ging es darum, die Vision eines Centers in die Tat umzusetzen. Aus dieser Perspektive erschienen die Vertreter der passiven Variante als Bremser, da sie eine eher abwartende Haltung einnahmen. Sie ergriffen selten die Initiative, „die kamen nicht auf einen zu“, wie Herr Maler über die Anfangszeit lamentierte. Dies führte dazu, daß die Rolle der Ideengeber in der ersten Zeit an die Partner in Enschede fiel, die immer mehr zum zentralen Motor der noch etwas stockend verlaufenden Kooperation wurden. Die verschiedenen Sinnkonzepte des Centers lassen sich auch an der unterschiedlichen Sichtweise auf die Rolle eines Centermanagers festmachen. Herr Maler begriff sich schon sehr früh als „Centermanager“, eines noch sich im Aufbau befindenden Centers. Seine Aufgabe sah er eben darin, diese Vision umzusetzen. Aus der Perspektive der passiven Variante, bei der sich das Center in Abhängigkeit vom Verlauf der Kooperationsbeziehungen mit der Zeit ergibt oder eben nicht, wird eine Notwendigkeit für einen Centermanager erst gesehen, nachdem sich ein Center entwickelt hat, welches dann gemanagt werden muß. Herr Maler stieß mit der Vorstellung, managen zu müssen, daher auf eine Art wohlwollendes Unverständnis. Man sah zwar nicht den Bedarf für ein Management, gleichwohl notierte man das große Engagement für das Center wohlwollend. Herr Maler allerdings hatte das Gefühl, für die Notwendigkeit eines Managements Überzeugungsarbeit leisten zu müs186
RETENTION
sen. Erst nachdem erste gemeinsame Auftragsforschungen stattgefunden hatten, stieß er mit der Managementidee nicht mehr auf taube Ohren. Geradezu begeistert schilderte er den Punkt, an dem die anderen Euregiopartner die Notwendigkeit einer Koordinationsstelle endlich einsahen: „Vorher haben die blockiert, die sind da zwar mitgegangen, […] und dann merken die, da können wir hier mal einen Auftrag machen und da und so langsam merken die, daß man da doch noch mehr machen kann und daß man da MANAGEN muß“ (Interview Herr Maler).
Auch anhand der Nutzung der gemeinsamen Visitenkarten, die gleich zu Anfang von allen gemeinsam entwickelt worden waren, kann man dieses unterschiedliche Verständnis des Centers zeigen: Während die Leute aus Enschede sich von Anfang an mit der Visitenkarte des ECCS vorstellten, was zeigt, daß sie sich als Element dieses entstehenden Centers verstanden, faßten die anderen Partner das ECCS als potentiellen Kooperationspartner auf. In erster Linie waren sie Mitglieder ihrer Institution, hatten aber Zugang zum ECCS und konnten darüber gegebenenfalls die damit in Zusammenhang stehenden Kooperationsmöglichkeiten ins Spiel bringen. Diese Option wurde aber zunächst wenig genutzt, vermutlich deshalb, weil es das Center ja noch nicht richtig gab. Diese Zurückhaltung wurde von den Aktivisten des Centers bedauert, was sich aus ihrer Begeisterung über die zunehmende Verwendung der Visitenkarten der anderen ECCS-Partner schließen läßt (Gesprächsnotiz).
7.3
M i ß ve r s t e h e n : C h a n c e o d e r R i s i k o ?
Für das Fortbestehen der Kooperation ist es von entscheidender Bedeutung, ob es gelingt, Mißverstehen konstruktiv für den Aufbau von Kooperation zu nutzen. Damit dies gelingen kann, sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens muß Mißverstehen als solches auffallen, wobei die Auffälligkeit Weicks Ansatz zufolge nicht mit der Größe des Mißverstehens korreliert, sondern mit der Wahrnehmungsfähigkeit der Beteiligten.3 Zweitens muß dann das Mißverstehen zu einer Änderung der Interpretation der Situation führen, es regt sozusagen eine neue Sichtweise an, und gerade darin liegt sein konstruktives Potential. Mißverste-
3
Die Schwelle, ab welcher und ob überhaupt Mißverstehen auffällt, ist abhängig von der Sensitivität der Beobachter, vgl. dazu Weick und Sutcliffe (2001). 187
INNOVATION UND KOOPERATION
hen wird von Weick gerade nicht als Scheitern begriffen,4 sondern es stellt eine Chance für den Sensemakingprozeß dar. Die falsche Landkarte hat ja im Prinzip ebenfalls ein Mißverständnis nach dem anderen hervorgerufen und gerade dadurch eine Auseinandersetzung mit den geographischen Gegebenheiten angeregt, durch die die Soldaten den Weg zurückfanden. Mißverstehen ermöglicht es, eine neue, chancenreichere Interpretation der Situation zu gewinnen. Ob Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren möglich ist, hängt für Weick davon ab, ob sie in der Lage sind, ihr je verschiedenes Wissen und ihre je verschiedenen Erfahrungen in ein gemeinsames Sensemaking konstruktiv einzubinden. Für Weick spielt es dabei keine Rolle, ob die Akteure über gleiches oder über verschiedenes Wissen verfügen. In diesem Punkt sind aber die Vertreter der communities of practice Perspektive (vgl. Kap. 1.2.1) anderer Ansicht, und es lohnt sich, die Differenzen dieser Auffassungen klarer gegenüberzustellen: Für die Vertreter der communities of practice Perspektive (Brown und Duguid 1991; 2001; 2002; Lave und Wenger 1991; Wenger 1998) verbleibt der größte Teil des Wissens implizit, es ist also nicht kommunikativ verfügbar. Dieses Wissen ist in Handlungen, in Routinen und Daumenregeln eingelagert, die aber Teil der Kultur einer community of practice sind. Eine community of practice besteht aus Experten der gleichen Spezialisierung, die häufig miteinander arbeiten und kommunizieren und insofern ihre Kultur und damit auch entsprechendes implizites Wissen teilen. Angehörige einer community of practice können daher ohne weiteres Wissen weitergeben, weil ja der implizite Anteil des nur halb kommunizierten Wissens zwischen ihnen vorhanden ist. Je weniger Kultur geteilt wird, desto schwieriger wird daher die Verständigung.5 Mißverstehen bezieht sich dabei aber zumeist nicht auf das Fachwissen selbst, was in der Regel in der Fachliteratur nachzulesen ist, sondern auf dessen Verwendung im Anwendungskontext. Es sind eingespielte Routinen, die Art, wie man an etwas herangeht, auch Wahrnehmungsraster
4
5
Es gibt allerdings Fälle, in denen man sich Mißverstehen nicht leisten kann, und dies sind Hochsicherheitsorganisationen. Sie haben Frühwarnsysteme für kleinste Anzeichen von Umweltveränderungen ausgebildet und sind insofern hochsensibel, vgl. dazu Weick und Sutcliffe (2001). Für eine Fallstudie, bei welcher Mißverstehen auf verschiedenen Ebenen (Interaktion, Gruppe, Organisation) zu einer Katastrophe führte, vgl. Snook (2000). Aus der Bedingung gemeinsamer Arbeiten folgt aber nicht notwendigerweise die räumliche Präsenz an einem Ort. Vgl. hierzu die Arbeiten von Karin Knorr-Cetina (1984) zu epistemischen Kulturen im Wissenschaftssystem.
188
RETENTION
etc.6 Es kann daher auch den Fall geben, daß Spezialisten der gleichen Fachrichtung unterschiedlichen kulturellen Gruppen angehören, wie das folgende Beispiel eines Mißverstehens von John Brown und Paul Duguid (2001) zeigt: Im Unternehmen Xerox hatte ein Team von Produktentwicklern ein neuartiges Kopiergerät entwickelt, dessen Prototyp von den Ingenieurkollegen einer anderen Abteilung desselben Unternehmens als nicht serienfähig und unbrauchbar getestet wurde. Aufgrund dieses Tests verwarf Xerox diesen Prototyp, der daraufhin aber von der Konkurrenz gebaut und sehr erfolgreich wurde. Dieser folgenreichen Fehleinschätzung lag Brown und Duguid zufolge ein kulturell bedingtes Mißverstehen zwischen der Produktentwicklungsabteilung einerseits und der Abteilung, welche die Prototypen testete, andererseits zu Grunde, da die Tester ihre Tests vermittels bestimmter Routinen durchführten und dadurch die Idee, die diesem neuartigen Gerät zugrunde lag, nicht erfassen konnten. Anders als bei Karl Weick wird eine Reduktion von Mißverstehen aus der community of practice Perspektive nur durch eine Angleichung der verschiedenen Kulturen und damit der differenten Handlungspraxen bewirkt. Angesichts der unhintergehbaren Spezialisierungsnotwendigkeiten in allen Bereichen, in denen Expertenwissen notwendig ist, scheint daher Mißverstehen unausweichlich zu sein. Ein Ausweg aus diesem Grundproblem wird von vielen Vertretern der community of practice Perspektive in „interkulturellen“ Individuen gesehen, die mit den Handlungspraxen zweier communities vertraut sind, und als sogenannte „boundary spanner“ für besseres Verständnis bei Kooperationsprojekten zwischen diesen verschiedenen communities sorgen können (Brown und Duguid 2001). So verschieden die beiden Ansätze in bezug auf den Umgang mit Mißverstehen sind, so findet sich aber die Vorstellung implizit verbleibenden Wissens und von in einer spezifischen Kultur eingebetteten Handlungen auch in Weicks Ansatz. Im Modell des Organisierens wird gegenwärtiges Handeln von der Retention beeinflußt (Weick 1985: 193ff.), die aus erinnerten Schemata, Erfahrungen und Routinen einer Gruppe besteht, also intersubjektiv geteilt wird, und die in Form von Regeln, Routinen, Geschichten, Mythen etc. innerhalb der Gruppe transportiert wird. Der Retention bei Weick entspricht insofern die community of practice bzw. die Kultur einer Gruppe oder Organisation und in
6
In einer Studie zum Ingenieurhandeln wurden solche professionellen Normen näher herausgearbeitet, vgl. Manger (1999) sowie Eckart, Manger u.a. (2000). 189
INNOVATION UND KOOPERATION
späteren Schriften spricht Weick selbst auch vornehmlich von Kultur anstelle von Retention (Weick und Sutcliffe 2001). Die Retention fließt zum einen als Wahrnehmungs- und Gestaltungsraster bei der Ausführung der Aktivitäten ein und zum anderen als Interpretationsschema im retrospektiven Sensemaking derselben. Auch wenn Weick nicht explizit darauf hinweist, kann man dennoch davon ausgehen, daß die Beeinflussung durch die Retention größtenteils implizit verläuft und den Akteuren nicht bewußt ist und daher auch nicht explizit kommuniziert wird. Gleichwohl man also sagen kann, daß sich die beiden Ansätze im Hinblick auf die kulturelle Einbettung des Handelns sehr ähnlich sind, so verschieden sind die Schlußfolgerungen in bezug auf den Umgang mit Mißverstehen. Das Zustandekommen von Mißverständnissen und Fehlern sowohl innerhalb von homogenen Gruppen als auch zwischen verschiedenen Teams bildet einen Schwerpunkt der Arbeiten von Karl Weick, und er thematisiert dabei m.E. kulturelle Differenzen zwischen den Gruppen nicht. Er scheint vielmehr vorauszusetzen, daß viele Aktivitäten wie das Betreiben eines Chemiewerks immer verschiedene Abteilungen bzw. Gruppen von Spezialisten benötigen. Auf Flughäfen beispielsweise haben wir das Towerpersonal, die vielen Cockpitcrews und das Bodenpersonal, und Weick hat in mehreren Studien das aufeinander bezogene Handeln und die Kommunikationen dieser Gruppen untersucht (Weick 1987a; 2001; 1990; Weick und Roberts 1993). In großtechnischen Anlagen gibt es in der Regel verschiedene Expertenteams wie die Wartungsarbeiter und verschieden spezialisierte Fachleute und natürlich auch das Management, das ebenfalls eine der Expertengruppen bildet. Brown und Duguid (2001) weisen darauf hin, daß es innerhalb von Organisationen oft sehr viel größere kulturelle Differenzen zwischen den Vertretern verschiedener Expertengruppen gibt als zu den Fachkollegen der gleichen Spezialisierung in anderen Organisationen. Man kann also davon ausgehen, daß in jedem großen Unternehmen mehrere communities of practice vorkommen. Die Ursache für Mißverstehen sieht nun Weick anders als die Vertreter der community of practice Perspektive in mißglücktem Sensemaking, bei dem man immer danach fragen kann, welches alternative Sensemaking bei welchen Akteuren zu einer Vermeidung der Situation geführt hätte. Dies führt dann bei Weick zu zahlreichen Einzelfallanalysen, deren Ergebnisse kein theoretisches Modell oder ähnliches ergeben, sondern bestimmte in die Kultur einer Gruppe oder Organisation eingelagerte Verhaltensregeln, die Weick und Sutcliffe (2001) in ihrer Arbeit zu Hochsicherheitsorganisationen zusammengefaßt haben und die als Kultur der Aufmerksamkeit, der Informiertheit, des Nachfragens, des 190
RETENTION
Weitergebens von Informationen, des Mitdenkens (mindfulness) etc. beschrieben werden. Das oben angeführte Beispiel von Brown und Duguid des Scheiterns bei Xerox würde Weick also nicht auf die unterschiedlichen communities of practice zurückführen, sondern danach fragen, welche Art von Sensemaking und welche Art von Organisationskultur zur Aufklärung dieses Mißverstehens geführt hätte. Auch in der hier vorliegenden Fallstudie ist deshalb der Frage nachzugehen, welcher Art von Sensemaking das Mißverstehen in produktiver Weise gewendet hat. Gespräch zwischen Alter Ego (A.E.) und Daniela Manger (D.M.) A.E.: Daß Karl Weick mit seiner Vorstellung zum Sensemaking einen Beitrag zur Debatte um die Kooperation zwischen Angehörigen verschiedener communities of practice leistet, so habe ich Karl Weick aber nie gelesen. Ich würde eher Brown und Duguid beipflichten, die schließlich kritisieren, daß Organisationen und Gruppen oft als homogen behandelt werden, obgleich sie eben inhomogen sind, und diese Problematik erwähnt Weick, wie Sie richtig anmerken, nicht einmal, und daraus würde ich schließen, daß er eben dies übersieht und insofern sein Ansatz unterkomplex ist. DM: Es geht aber doch darum, daß Weick oder Autoren, die mit Weicks Ansatz arbeiten, zeigen können, daß Kooperation zwischen verschiedenen Expertengruppen funktioniert, oder im negativen Fall, daß es Mißverstehen war, welches vermeidbar gewesen wäre. Und gerade darin, daß man dies zeigen kann, liegt doch der Beweis, daß da nichts übersehen worden ist, und ich denke, daß er verschiedenartige Kulturen nicht thematisiert, weil er grundsätzlich von der Möglichkeit eines gemeinsamen Sensemakings über verschiedene Kulturen hinweg ausgeht. A.E.: Der Punkt ist doch eher der, daß Herr Weick im nachhinein zwar immer weiß, was man in dem betreffenden Fall hätte anders machen müssen, und dabei schwingt ein Stück weit die Unterstellung mit, daß man sich irgendwann eben verstehen könnte, wenn man alle Tips von Weick beachtet. Und gerade dies streiten die Vertreter der community of practice Perspektive doch ab, würde ich sagen. Man wird sich immer irgendwo mißverstehen, früher oder später. Man könnte vielleicht sogar sagen, daß Perrow7 gezeigt hat, daß Technik strukturell versagen muß, da sie, je komplexer sie wird, desto wahrscheinlicher auch versagen wird. Und äquivalent würde ich ebenfalls behaupten, daß je verschiedenartiger die beteiligten Expertenkulturen sind, desto wahrscheinlicher
7
Perrow (1984). 191
INNOVATION UND KOOPERATION
werden Fälle von Mißverstehen auftreten, ungeachtet von Boundary Objects, von Boundary Spannern und von Weicks mindful cultures! D.M.: Ja, ich denke, Sie sprechen da einen wirklich wichtigen Punkt an. Es wäre sicherlich illusorisch zu glauben, daß man Mißverstehen ausräumen könnte, aber das ist ja auch nicht Weicks Ziel. Nicht einmal in Hochsicherheitsorganisationen geht Weick davon aus, daß Mißverstehen nicht mehr stattfindet. Im Gegenteil: Weick geht davon aus, daß Fehler und Mißverstehen ständig passieren, weil es, wie Sie richtig festgestellt haben, struktrell nicht auszuräumen ist. Es kommt aber eben auf das Erkennen einerseits und den Umgang damit andererseits an, und man kann immerhin zeigen, daß es Organisationen oder Kooperationen gibt, in denen dies besser gelingt als in anderen, und es geht eben darum herauszufinden, wieso das so ist. A.E.: Dann würden Sie aber prinzipiell der Auffassung von Brown und Duguid folgen, daß Verstehen eigentlich strukturell nicht funktioniert? D.M.: Ja, das schon. Ich habe ja auch darauf hingewiesen, daß die Positionen von Weick und der community of practice Perspektive in bezug auf die Einbettung von Wissen und Handeln in eine spezifische Kultur sehr ähnlich sind. Aber die Schlußfolgerungen, was man daraus machen kann, sind verschiedene. Weick zufolge bauen sich Teams ungeachtet ihrer je verschiedenen kulturellen Herkunft in bezug auf ihre Kooperation eine eigene Kooperationskultur auf, sei sie auch noch so begrenzt. A.E.: Nun ja, aber obwohl die Ansätze, wie ich durchaus anerkenne, in der Tat in vielerlei Hinsicht sehr dicht beieinanderliegen, so würden Brown und Duguid als Vertreter der community of practice Perspektive die Möglichkeit eines gemeinsamen Sensemakings – und sei es auch nur bezüglich der spezifischen Schnittstellen aufgrund kultureller Differenzen – für unmöglich halten. D.M.: Genau, das ist die Differenz der Ansätze, und da folge ich dann, zumindest was diese Fallstudie anbetrifft, Weick.
7.4
K o n s t r u k t i ve s M i ß ve r s t e h e n
Gleichwohl also die differenten Vorstellungen über das Center vorher nicht kommuniziert wurden, weil sie nicht bewußt vorlagen, führte aber die differente Handlungspraxis zu vielen kleinen Enttäuschungen auf der Seite der Enscheder Partner, wodurch das unterschiedliche Verständnis des Centerbegriffs doch ans Tageslicht befördert wurde. Herr Maler beispielsweise war sich der unterschiedlichen Herangehensweisen an das Center durchaus bewußt, wenn er sagte:
192
RETENTION
„Die haben das nicht als wirklich neues Projekt angesehen, sondern als Erweiterung bestehender Pläne“ (Interview Herr Maler).
Die Erkenntnis verschiedener Deutungspraxen markiert einen Scheideweg, von dem aus zwei Realitäten erreichbar scheinen: Zum einen diejenige, die dann Realität wurde, nämlich die Wendung des Mißverstehens in eine neue allen Beteiligten stärker entgegenkommende Definition der Situation, und zum anderen das Einschlafen der Kooperationen, eine Variante, die nicht verwirklicht wurde. Sie verbleibt aus gerade diesem Grund hypothetisch, gleichwohl lohnen sich zweierlei Überlegungen: Erstens, welcher Art Sensemaking wohl zum Scheitern der Kooperation geführt hätte, um sich dann zweitens die Frage stellen zu können, welche Art von Interpretation gerade dies verhindert hat.8 Passivität und auch das Vergessen, die erklärten Partner in manche Projekte einzubinden, hätte sehr wohl negativ ausgelegt werden können als Desinteresse, vor dem sich die gemeinsam erklärten Ziele nur noch als Lippenbekenntnis ausgenommen hätten – eine Sichtweise, die auch durch die Tatsache, daß die Partner bereits durch den Zwang Kooperationsinteressen zu artikulieren, um die Euregiomittel erhalten zu können, allemal plausibilisiert worden wäre. Interessant ist nun aber, daß die Vertreter der aktiven Variante die Passivität und Zurückhaltung nie in diese negative Richtung ausgelegt hatten. Es scheint, als habe die Gestaltung von Vertrauen zu der Überzeugung geführt, daß die Partner aufrichtig, ehrlich und ernsthaft an der Idee eines Zentrums interessiert seien. Vertrauen eröffnet eine positive Sinnperspektive und verschließt damit zugleich negativen Interpretationsoptionen den Weg. Diese Perspektive wirft auch ein anderes Licht auf den von John Brown und Paul Duguid (2001) geschilderten Vorfall bei Xerox. Anstelle Mißverstehen zwischen den Abteilungen auf unterschiedliche communities of practice zurückzuführen, könnte es ebenfalls durch eine Gestaltung von Mißtrauen oder Konkurrenz verursacht sein. Schließlich hätte man das Mißverstehen in Gesprächen auch aufdecken können. Die Tester hätten das Vertrauen haben können, daß die Ingenieure der Entwicklungsabteilung nicht unfunktionale Geräte entwickeln und deshalb den Fehler nicht der Fehlerhaftigkeit des Geräts, sondern ihrer Unkenntnis der Funktionsweise des Geräts zuschreiben können. Ob eine solche Interpretation dieses Falls in Frage käme, ist natürlich eine empirische 8
Es ist eine typische Methode von Karl Weick, danach zu fragen, welcher Art Sensemaking eine andere Realität als die gewordene hervorgebracht hätte, wobei ihm die Tatsache hilft, daß man bei Katastrophen im nachhinein weiß, was man im vorhinein hätte tun müssen, um diese zu vermeiden, vgl. dazu Kap. (2.3). 193
INNOVATION UND KOOPERATION
Frage und kann in diesem Zusammenhang nicht geklärt werden. Das Einziehen einer wenn auch hypothetischen Alternative bekräftigt aber dennoch die Zweifel an der ausweglosen Situation der communities of practice Perspektive. Wie mit Differenzen und Unstimmigkeiten in Kooperationsbeziehungen umgegangen wird, hängt nicht nur von der gegenwärtigen Handlungskompetenz ab, sondern ebenfalls von den bereits gestalteten oder in der Retention enthaltenen Annahmen über diese Kooperationspartner. Das grundsätzliche Vertrauen in die Aufrichtigkeit und in das ernsthafte Interesse der Partner an einem Zentrum führte deshalb zu einer Situationsanalyse, bei der die Ursache für Untätigkeit nicht bei den Partnern, sondern in der Sache selbst vermutet wurde. Wie das folgende Zitat belegt, sahen die Enscheder Partner das Problem darin, daß das Center noch viel zu unstrukturiert und zu offen sei: „Ich hab nicht gesehen, daß da was lief […], und ich merkte dann, das Interreg II einfach so laufen lassen, da ist nichts, was das fokussiert“ (Interview Herr Maler).
Das Gegenmittel gegen Untätigkeit und allgemeine Lethargie stellte für Herrn Maler eine schnellstmögliche Konkretisierung dessen, was ein Zentrum sein könnte, dar. Er wünschte sich einen Rahmen, innerhalb dessen die Verbände, die Hochschulen und Unternehmer aus klein- und mittelständischen Betrieben sowie aus der Industrie regelmäßig zusammenkämen, um zu diskutieren und regionale Projekte anzuregen, die dann durch den Kooperationsverbund der Fachhochschulen aufgenommen werden könnten. Das ECCS sollte nicht nur als Projektbezeichnung der EUREGIO geführt werden, sondern als eine Stiftung nach niederländischem Recht gegründet werden. Das niederländische und deutsche Stiftungsrecht sind keinesfalls äquivalent, und deshalb entspricht die niederländische Stiftungsform nicht der deutschen, weshalb ich im folgenden bei der niederländischen Bezeichnung „Stichting“ bleiben werde.9 In sehr kurzer Zeit hatte Herr Maler diese Rechtsform ausfindig gemacht und eine gremienähnliche Struktur entworfen, die aus einem Vorstand besteht, welchem ein Beirat für Lehre und Ausbildung sowie ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite steht. Der Vorstand wird durch ein „ECCS-Office“ unterstützt, in dem ein Centermanager als Schaltstelle zwischen den ursprünglich als ECCS bezeichneten Zusammenschluß der 9
Nach dem deutschen Recht hätte man sich längst nicht so schnell gründen können, da es zahlreiche Anforderungen für deutsche Stiftungen gibt, aber weit weniger für niederländische Stichtings.
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Fachhochschulen und den diesen unterstützenden Verbänden fungiert (vgl. Abb. 2). Für diese Konstruktion hatte Herr Maler die Zustimmung aller Beteiligten eingeholt und in rasanter Geschwindigkeit die Stichting auf die Beine gestellt. Als Vorstandsmitglieder wurden Universitätsrektoren aber auch Verbandsleute bestellt. In den Beiräten sitzen Vertreter sowohl aus Verbänden der Lackhersteller wie auch der Lackbeschichter sowie Leute aus Mittelstand und Industrie, jeweils ca. 10 Personen pro Beirat. Durch diese gremienähnliche Struktur hat Herr Maler versucht, alle Akteure zu beteiligen, die er für ein regionales Zentrum für wichtig hielt. Die Stichting war aber nur als regionales Forum gedacht, welches gemeinsame Projekte erleichtern sollte, beispielsweise dadurch, daß relevante Entscheider wie die Universitätsrektoren dort eingebunden waren und somit ihre Mitarbeiter besser unterstützen können. Es waren sozusagen die Netzwerkunterstützer, die in die Stichting mit hineingeholt wurden.10 Abbildung 2: Die Stichting ECCS
Quelle: ECCS Vor allem aber lag die Bedeutung der Stichting im stellvertretenden Handling von Verträgen mit Firmen, für die der Kooperationsverbund gemeinsam Forschungsdienstleistungen erbrachte. Die Stichting konnte ab diesem Zeitpunkt sozusagen treuhänderisch als Vertragspartner für die im ECCS organisierten Akteure auftreten und entsprechend das Pro10 Unterstützer von Netzwerken initiieren und unterstützen aktiv die Bildung von Kooperationen. Dies sind häufig regionale Servicecenter, die bestimmte Beratungsleistungen aber auch technische Dienstleistungen anbieten und vermittelnd auftreten, vgl. dazu beispielsweise Pyke (1994); Sabel (1989). 195
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die im ECCS organisierten Akteure auftreten und entsprechend das Projektsplitting, die Verteilung der Gelder etc. übernehmen. Die Fachhochschulen wurden dadurch von den Vertragsangelegenheiten entlastet, was eine große Erleichterung war, zum einen weil sich die bis dahin ausgehandelten Verträge aufgrund des länderspezifischen Hochschulrechts11 am Rande der Legalität bewegt hatten, und zum anderen waren die Hochschulverwaltungen mit dem Splitting und Hin- und Herschieben diverser Vertragsposten, wie im letzten Kapitel angesprochen, schlichtweg überfordert. Eine hohe Flexibilität und Schnellligkeit konnte der Kooperationsverbund letztlich nur mit dieser Konstruktion erreichen. Mit der Stichting wurde insofern eine Institution geschaffen, die später der wichtigste Unterstützer des daraus hervorgegangenen Netzwerks werden sollte. Mit diesem schnellen „aus dem Bodenstampfen“ eines institutionalisierten Centers toppte Herr Maler alle Erwartungen bezüglich des zeitlichen Entwicklungsverlaufes eines Centers. Das Center existierte plötzlich und erhielt entsprechende Aufmerksamkeit. Die Institutionsgründung konnte als sichtbarer Erfolg des Euregioprogrammes gewertet werden, dem es um das Zusammenwachsen der deutsch-niederländischen Grenzgebiete ging, seitens der Verbände konnte es als Meilenstein in der Bemühung um regionale Aktivität gewertet werden, und die beteiligten Fachhochschulen konnten ein erfolgreiches Kooperationsprojekt präsentieren. Als Institution wurden die noch lockeren und äußerst unklaren Beziehungen zwischen den Kooperationspartnern auf Fachhochschulebene nach außen hin als ein fester und erfolgreicher Verbund wahrgenommen. Mit der institutionalisierten Existenz war zwar noch vieles offen, dennoch stand damit ein Instrument zur Umsetzung regionaler Aktivitäten bereit, das erst noch mit Leben zu füllen war.
7.5
Vom Center zum Netzwerk
Mit dem Begriff des Centers war nur ungenügend dasjenige bezeichnet, was die Enscheder Aktivisten anstrebten. Für eine Kooperation zwischen verschiedenen Partnern an verschiedenen Orten war der Begriff eigentlich unzutreffend. Die Problematik, etwas Neues finden zu wollen, dafür aber nur die Begrifflichkeiten und Vorstellungen zur Verfügung zu 11 Nach dem Hochschulrecht der meisten deutschen Länder dürfen deutsche Hochschulen nicht unternehmerisch tätig werden, und sie dürfen häufig wissenschaftliche Mitarbeiter befristet nur auf Qualifizierungsstellen einstellen. Diese und weitere Restriktionen hatten die Vertragsgestaltung mit den Unternehmen verkompliziert. 196
RETENTION
haben, die man gerade verlassen möchte, ist in der Wissenschaftsforschung von Ludwik Fleck bereits in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts analysiert worden. Fleck zeigt auf, daß sich die Suche nach einem geeigneten Mittel gegen Syphilis vor allem deshalb schwierig gestaltete, weil das Denken der Forscher in bestimmten Denkstilen verhaftet war, die man nicht einfach verlassen konnte. Rückblickend kann man die Entwicklung als eine Ideengeschichte verfolgen, wie aus dem Dämonenglaube eine Vorstellung eines Krankheitsmiasmas entstand und daraus schließlich die Lehre von den Krankheitserregern (Fleck 1980/ 1935: 131). In ähnlicher Weise band die Vorstellung eines Centers die Akteure an diese Vorstellung, wodurch es schwierig wurde, die Kooperation von einer gänzlich anderen Perspektive zu betrachten. Erst langsam wurde der Centerbegriff abgestreift, indem man sich allmählich von dem sinnhaften Inhalt entfernte, den die Hauptaktivisten der Kooperation einmal unter Center verstanden hatten. Indem die Euregiopartner das Centerkonzept modifizierten, tasteten sie sich langsam in eine neue Welt vor. Sie paßten ihre Vorstellung von dem, was ein Center sein könnte, den Gegebenheiten, auf die sie trafen, an. Kooperation als der Gedanke, die unterschiedlichen Kompetenzen der einzelnen Partner konstruktiv zusammenzubringen, stand dabei, wie bisher deutlich geworden sein dürfte, im Vordergrund. Für diejenigen Partner, die an dem Projekt nur so nebenbei mitmachten oder trotz ihrer Teilnahme eher reserviert waren und sogar eine überwiegend skeptische Haltung einnahmen, waren diese Sinnmodulationen des Begriffs Center nicht klar. Insbesondere für diese Akteure, deren stärkster Vertreter der deutsche Verband DFO war, blieb die Idee des Centers ambivalent. Der Begriff „Center“ eröffnet auch das Bild einer Institution, einer hierarchischen Organisation oder zumindest die Vorstellung einer gemeinsamen Präsenz an ein und derselben räumlichen Stelle. Mit dieser Vorstellung ist aber auch der Gedanke der Konkurrenz verknüpft, denn wenn mehrere Akteure gemeinsam ein Zentrum betreiben, so ist damit auch eine Machtfrage verbunden. Wer hat wieviel Einfluß auf das Zentrum? Wer erobert sich Vorherrschaften und Zuständigkeiten? Der Gedanke des Centers nährte immer wieder den Konkurrenzgedanken, dessen faktische Grundlage bereits im Kapitel über die Blokkaden der Kooperation angesprochen worden war. Diese Akteure waren zurückhaltend, blockierten manches Mal oder dachten einfach nicht daran, die anderen Euregiopartner in Aktivitäten einzubinden, die dafür geeignet gewesen wären. Dieses Klima der Konkurrenz, Unachtsamkeit und der Machtbeziehungen, welches den Partnern angesichts der konstruktiven, partnerschaftlichen Beziehungen zum Zeitpunkt der Untersu197
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mer wieder in den Interviews erwähnt, wie sich im folgenden Zitat ein Mitarbeiter eines Verbandes erinnert: „Bei [Name des Verbands] war das ein bißchen schwierig, der Vorstand hat gesagt, das [Center] wird ja eine Konkurrenz […] da müssen wir aufpassen“ (Interview mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Verbands).
Die starke Konnotation von Konkurrenz in bezug auf das Konzept des Centers einerseits und die Versuche, das Center als kooperatives Synergien erzeugendes Unterfangen andererseits zu deuten, resultierten in einer insgesamt ambivalenten Situation, aus der man sich zunächst nicht zu lösen vermochte und die der Weiterentwicklung der Kooperationen der Euregiopartner nicht besonders förderlich war. Die Idee des Centers bot einen Zielpunkt, über welchen dann kommuniziert werden konnte, und bot somit eine Projektionsfläche für die Auseinandersetzung in der alltäglichen Handlungspraxis, und in diesem Sinne war der Begriff des Centers konstruktiv. Andererseits jedoch sind mit dem Centergedanken Vorstellungen einer Institution verknüpft, die Konkurrenz und Machtkämpfe evozierten und insofern gerade das Hervorbringen und Vertiefen von Kooperationen behinderten. Derselbe Begriff, der den Akteuren als begriffliche Krücke diente und ihnen so eine Vorlage lieferte, mit deren Hilfe sie ihre Expedition in unbekanntes Terrain strukturieren konnten, indem er als Anfangspunkt diente, von dem aus Respezifikationen und Anpassungen überhaupt erst vorgenommen werden konnten, eben dieser Begriff beeinträchtigte andererseits die Entdeckung einer neuen, passenden Form der Kooperation. In bezug auf das Sensemaking der Kooperationsbeziehung war der Begriff des Centers nicht neutral, da er zugleich in das Sensemaking selbst eingriff. Ein Stück weit erging es den Euregiopartnern wie dem Forscher in Abb. 3, der in der weiter unten abgebildeten Karrikatur dargestellt ist, der durch den Einsatz seines Instruments, einer Lupe, seinen Forschungsgegenstand zerstört. Diese ambivalente Situation änderte sich mit der Einführung des Netzwerkbegriffs, welcher an die Stelle des Centerbegriffs trat. Mit der Vorstellung als Netzwerk wurde eine klare Haltung für Kooperation und damit zugleich gegen Konkurrenz eingenommen. Ungefähr zum Zeitpunkt der Gründung der Stichting kam Herr Strater von der Fachhochschule Enschede in einem anderen Kontext mit dem Netzwerkbegriff in Berührung und erkannte sofort den Bezug zum ECCS. Unter einem Netzwerk wird in der Regel ein Zusammenschluß einer Mehrheit von Akteuren bezeichnet, die miteinander kooperieren und gegenseitig gerade nicht in Konkurrenz zueinander stehen (Weyer u.a. 1997: 53). Der Gedanke, durch Kooperation jeweils Vorteile zu erlangen, die man ohne 198
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diese Kooperation nicht erlangen könnte, beschrieb exakt die Qualität der regionalen Beziehungen, die sich die Enscheder erhofft hatten. Gleichwohl es auch in Netzwerken zu Konkurrenzsituationen kommen mag, so steht in diesem Konzept doch ein gleichgewichtiges, sich gegenseitig ergänzendes Handeln im Vordergrund. Abbildung 3: Der Einfluß des Instruments auf das Untersuchungsobjekt
Quelle: MAD Magazin 1975 aus: Weick 1985: 45 Das Center dagegen eröffnete das Bild einer Institution, die neu entsteht, und an der man sich als Organisation seinen Einfluß und seinen Anteil gegen etwaige Mitbewerber sichern muß. Der Centergedanke, wie er von einigen Euregiopartnern gedeutet wurde, hatte eine starke Konnotation von Konkurrenz und Wettbewerb, wodurch die gemeinsamen Bemühungen, ein regionales Center auf die Beine zu stellen, immer wieder torpediert wurden. Der Begriff Netzwerk stellt das gegenseitige Handreichen, sich aushelfen, den Gedanken, sich zu ergänzen, bereits begrifflichassoziativ in den Mittelpunkt und bezeichnet somit genau das Ziel, welches Herr Maler und die anderen Mitstreiter aus Enschede sowie deren Verbandsverbündete anstrebten. Um den Netzwerkgedanken stärker unter den Euregiopartnern publik zu machen, engagierte Herr Maler einen Unternehmensberater, der im folgenden Herr Fröhlich genannt wird. Herr Fröhlich, der Technik- und Organisationsberater, informierte sich in der Literatur über Netzwerke und besuchte wissenschaftliche Tagungen zum Thema. Der Netzwerkgedanke bewirkte, daß die Akteure bereit waren, nach weiteren möglichen Dienstleistungen zu fahnden, die 199
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bereit waren, nach weiteren möglichen Dienstleistungen zu fahnden, die sie gemeinsam als Partner anbieten könnten. Herr Maler nutzte deshalb eine der ersten Vorstandssitzungen der Stichting, um sich die formale Genehmigung für eine Stärken- und Schwächenanalyse der Euregiopartner einzuholen, wofür Herr Fröhlich einen Beratervertrag bekam. Ziel dieser Beratung war ein zweifaches: Einerseits sollte der Netzwerkgedanke etabliert werden und andererseits sollte die Stärken- und Schwächenanalyse an dieses Netzwerkkonzept geknüpft werden. „Da haben wir erst mal ein kleines Projekt gemacht, da hatten wir noch Mittel, […] bis dahin gab es ja noch kein Netzwerk, das Ziel war auch das Netzwerk“ (Interview Herr Maler).
Für die Stärken- und Schwächenanalyse fuhr Herr Fröhlich zu jedem einzelnen Euregiopartner sowie zu allen in die Stichting eingebundenen Verbänden. Es zeigte sich, daß der Netzwerkgedanke bei einigen Partnern eine völlige Veränderung der Perspektive bewirkte, wie sich ein Verbandsvertreter erinnerte: „Da sind Gespräche mit dem Netzwerk gelaufen, und Herr Fröhlich hat gesagt, das ist eigentlich ein Netzwerk, und wir haben nachgedacht und gesagt, ja, stimmt eigentlich“ (Interview Herr Rater).
Anschließend erstellte Herr Fröhlich einen Bericht, in dem neben der Stärken- und Schwächenanalyse ein besonderes Augenmerk auf die strukturelle Entwicklung des ECCS gelegt wird. Der Widerspruch zwischen Kooperationszielen einerseits und dem institutionellen Bild durch den Namen ECCS andererseits wird klar angesprochen: „Allen Zielsetzungen gemeinsam ist die Vorstellung, daß das ECCS ein Netzwerk und keine institutionelle Einrichtung ist. Problem: Dem Netzwerk-Gedanken widerspricht der Name des ECCS - European Center of Coating & Surface Technologie“ (Bericht 4/2000, Herr Fröhlich, Hervorh. im Original). In einem gesonderten Kapitel zur strukturellen Ausrichtung des ECCS wird die institutionelle Struktur der Stichting als Netzwerk reinterpretiert (vgl. Abb. 4 unten). Die Akteure, die im Organigramm der Stichting (Abb. 2) in einer an eine institutionelle Hierarchie erinnernde Weise dem Board und dessen Office „untergeordnet“ dargestellt werden, werden nun in drei netzwerkartig verknüpfte Gruppen unterteilt, denen innerhalb des Netzwerks jeweils verschiedene Rollen zukommen: Als Partner erster Ordnung werden die operativen Einheiten, nämlich die zunächst drei und später vier Fachhochschulen aufgeführt, die in der Graphik unten den vierecki200
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gen Kern des Netzwerks bilden. Sie können mit ihren fachlichen Kompetenzen, ihren Laboren und Lehrfähigkeiten Dienstleistungen anbieten. Daneben gibt es die Gruppe der Unterstützer dieses Netzwerks, die als strukturelle Verbindung zu verschiedenen Tätigkeitsfeldern dienen wie beispielsweise der Lackherstellung. Sie sind in der Grafik unten als Kästchen dargestellt. Die dritte Gruppe ist die Gruppe der Marktverbinder, die unten durch die ovale Umrandung abgesetzt wurden. Hierbei handelt es sich um Verbände, in deren Auftrag das Netzwerk tätig sein könnte oder deren Kontakte potentielle Märkte für das Netzwerk erschließen. Der Kooperationsgedanke, der der Netzwerkidee unterliegt, führt somit zu einer völlig anderen graphischen Darstellung (Abb. 4) Abbildung 4: Die Redefinition der Stichting als Netzwerk
Quelle: Bericht Herr Fröhlich Damit war der Weg für eine stärker kooperative Verpflichtung geebnet. Der Bericht ging allen Akteuren des ECCS auf niederländisch und deutsch zu und wurde bei einem gemeinsamen Treffen vorgestellt und diskutiert. Dieses Treffen wurde von einigen Akteuren als Initialzündung des Netzwerks beschrieben, da man sich dort explizit auf eine netzwerkartige Kooperation einigte. Die Intervention des Unternehmensberaters bewirkte überdies, daß die Modalitäten der Kooperation besprochen wurden und dadurch die ubiquitäre, latent mitschwingende Konkurrenz in offen ausgesprochenes Vertrauen verkehrt wurde. Mit diesem neuen kooperativen Netzwerkkonzept ist nicht nur ein Sensemakingschema gefunden worden, welches alle Akteure zu vereinen erlaubte, sondern zugleich wurde damit eine Vision eines kooperativen Netzwerks installiert, die zum Startpunkt eines autokatalytischen Prozesses 201
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wurde, durch den das Netzwerk in seinen spezifischen komplementären Ausprägungen überhaupt erst hervorgebracht wurde. Der Wunsch und die Verpflichtung für die Idee brachte sozusagen in zirkulärer Weise die Entdeckung entsprechender komplementärer Fähigkeiten hervor, die so bislang noch nicht gesehen worden waren. Das Bild des Netzwerks wirkte also gegenüber dem Centergedanken wie ein Befreiungsschlag. In diesem Kapitel wurde das Sensemaking auf der Ebene der eigenen „Selbstfindung“ der miteinander kooperierenden Akteure verfolgt, es ging also um die Frage, was das ECCS eigentlich genau sein soll, oder wie es Herr Rater von der EGL formulierte: „Die EGL war offen, wir wußten nicht, was ist das? [das ECCS] Aber das wußten die selber nicht“ (Interview Herr Rater).
Diese reflexive Ebene hat sich aber nicht unabhängig von den im letzten Kapitel dargestellten Gestaltungsprozessen vollzogen. Die zwei Formen maschinenbezogener Kooperation verliefen parallel zu der in diesem Kapitel geschilderten reflexiven Ebene über den Sinn und Zweck der Zusammenarbeit und waren mit dem Selbstfindungsprozeß aufs engste verzahnt. Denn ohne die handlungspraktische Erfahrung als Kooperationspartner hätte man natürlich nie eine Selbstinterpretation als Netzwerk gefunden. Die Akteure definierten sich als Netzwerk, nachdem sie es eigentlich schon waren.
7.6
Die Entstehung des Netzwerks – ein Überblick
Im folgenden soll rückblickend nochmals die Entstehung des Netzwerks nachgezeichnet werden, denn bislang haben wir Gestaltung und Sensemakingspuren verfolgt, ohne dabei jedoch explizit die Frage, ab wann und zwischen wem genau ein Netzwerk dadurch entstanden ist, zu erörtern.
7.6.1 Die Akteure des Netzwerks Wenn man das Vorliegen eines Netzwerks mit der in Kapitel 3.3 dargelegten Definition als Beziehungsstruktur zwischen mindestens drei voneinander unabhängigen Akteuren versteht, welche von relativer Dauer sind (Windeler 2001: 233), dann kann man zum Zeitpunkt der Beantragung der Euregiofördermittel durch drei Fachhochschulen und einen Verband noch nicht von einem Netzwerk sprechen, da nur zwei von drei 202
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definierenden Merkmalen vorlagen: Mit vier antragstellenden Akteuren war die Bedingung von mindestens drei am Netzwerk partizipierenden Akteuren erfüllt, und ebenso lag eine Beziehungsstruktur vor, deren Kennzeichen es war, daß die Aktivitäten der anderen als Prämisse in die je eigene Aktivität einflossen, denn jeder Teilantrag an die EUREGIO setzte die jeweils anderen Anträge voraus. Von relativer Dauer kann aber in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden, da es drei von vier Antragsparteien zunächst nur um die Einwerbung der Finanzmittel ging und darüber hinausgehende Aktivitäten weder sichtbar noch vorstellbar waren. Die Projektlaufzeit von zunächst zwei Jahren stellt zwar durchaus eine relative Dauer in Aussicht, allerdings bezieht sich die Bedingung der Dauer auf die immer wieder stattfindende tatsächliche Reaktivierung des Beziehungszusammenhangs und nicht auf einen davon unabhängigen Zeitraum. Von einem Netzwerk läßt sich deshalb erst mit Beginn der beschriebenen maschinenbezogenen Kooperationsform sprechen. Daran waren die drei antragstellenden Fachhochschulen beteiligt, nicht aber der vierte Akteur, der Unternehmerverband Syntens. Zunehmend wurden Forschungsaufträge bereits unter der Prämisse der Kooperation mit einem oder mehreren Netzwerkpartnern eingeworben, wodurch sich zum Teil auch die Kundengruppe änderte, und insofern steht die relative Dauer des Beziehungszusammenhangs für diese Kooperationsform außer Frage. Der nächste Neuzugang zum Netzwerk kam dann aber nicht aus dem Kreis der Euregiopartner, sondern aus dem Kreis der Netzwerkunterstützer: Die DFO Service GmbH ist ein kleines Technologieberatungsunternehmen, welches in der ersten Zeit der maschinenbezogenen Kooperation das Netzwerk unterstützte, indem es hin und wieder Forschungsaufträge an das Netzwerk weitervermittelte und insofern als Scharnier zu potentiellen Kunden fungierte. Bei einer solchen Kooperation, bei der ein Akteur Kunden und Auftraggeber zusammenbringt, handelt es sich jedoch keinesfalls um eine netzwerkartige Beziehung. Die Vermittlung ist in diesem Fall nicht mehr als eine Information über die Existenz und Solvenz eines Anbieters von Forschungsdienstleistungen und unterscheidet sich als Empfehlung über einen Dienstleister nicht von anderen Empfehlungen wie der Empfehlung eines guten Arztes oder eines guten Friseurs. Zu einem Akteur des Netzwerks wurde das Technologieberatungsunternehmen erst durch die Verknüpfung seiner eigenen Aktivitäten, nämlich der Beratung von Lackbeschichtungsunternehmen mit den Aktivitäten der anderen Netzwerkpartner. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Technologieberatung vom Wissen der Netzwerkpartner profi203
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tiert und umgekehrt die Netzwerkpartner vom Praxiswissen und den Erfahrungen des Technologieberaters. Diese Form der Kooperation lag in jedem Fall zum Zeitpunkt der rollenkomplementären Kooperation zwischen dem Technologieberatungsunternehmen und den drei genannten Fachhochschulen vor. Aber auch an der projektbezogenen Kooperationsform war der Technologieberater beteiligt. Aufträge wurden oft paßgenau mit den Netzwerkpartnern zusammen erarbeitet. Der Technologieberater war dann nicht mehr nur Vermittler, sondern erarbeitete mit den Netzwerkpartnern ein Paket von Dienstleistungen, welches exakt auf die Bedarfe des Unternehmens abgestimmt war. In dieser Form der Kooperation kann man nicht mehr von Marktvermittlung sprechen, da das spezifische Wissen des Technologieberaters über das Unternehmen und seine Erfahrungen in diesem Bereich insgesamt mit den Erfahrungen und technischen Möglichkeiten der anderen Netzwerkpartner verschmolz, um das Dienstleistungspaket zu schnüren. Dem Kreis der Unterstützer des Netzwerks entstammt auch das fünfte Glied des Netzes, nämlich der deutsche Verband DFO. Dieser war von den Fachhochschulen gezielt angesprochen worden, da man stärker in dem Bereich Weiterbildung aktiv werden wollte und der Verband der größte Anbieter solcher Veranstaltungen in Deutschland ist. Erst zum Zeitpunkt der rollenkomplementären Kooperation, also nach der Beratung des Netzwerks durch einen Unternehmensberater und nach der Selbstfindung der Stichting als Netzwerk wurde die Kooperation mit der DFO enger. Die Zusammenarbeit gestaltete sich nicht so, daß die DFO die Netzwerkakteure als Dozenten für ihre Seminare engagierte, sondern zunehmend nahmen die Netzwerkakteure durch ihr Wissen um die Bedarfe der Praxisanforderungen Einfluß auf das Seminarprogramm der DFO. Die Aktivität der Seminarkonzeption fand also im Rekurs auf das Wissen der Partner im Netzwerk statt, und insofern handelt es sich auch in bezug auf die DFO dann nicht mehr um eine marktmäßige Beziehung, bei der die DFO Seminare konzipiert und die Dozenten des Netzwerks dann einkauft. Ein weiterer potentieller Netzwerkakteur fand sich mit der Fachhochschule Münster, die erst etwas später zur durch die EUREGIO initiierte Kooperation ECCS hinzukam und ebenfalls Fördermittel durch die EUREGIO erhielt. Es hatte zum Zeitpunkt, als die Untersuchung des Netzwerks lief, zwar erste Bemühungen um inhaltliche Zusammenarbeit mit dem Partner in Münster gegeben, erste gemeinsame Forschungsideen wurden bereits besprochen, aber zu diesem Zeitpunkt konnte man in bezug auf diesen neuen Partner im ECCS noch nicht von einem Netzwerkakteur sprechen, wodurch man ihm hier nur den Status eines potentiellen Netzwerkakteurs zugestehen kann. 204
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Neben dem Hinzugewinnen weiterer Organisationen als Partner im Netzwerk dehnte sich das Netzwerk in der ersten Zeit vor allem innerhalb der je eigenen Organisationen aus. Denn zunächst waren es in jeder der Hochschulen nur ein bis zwei Personen gewesen, welche die Kooperation zunächst begonnen hatten. Sie konnten aber alle weitere Kollegen für die Mitarbeit im Netzwerk gewinnen und darüber hinaus über die eingeworbenen Finanzmittel auch neue Mitarbeiter einstellen. Mindestens verdoppelte sich die Anzahl der in die Kooperationsbeziehungen involvierten Personen pro Organisation, in zwei Fällen verdreifachte sie sich. Das Wachstum des Netzwerks fand also sowohl innerhalb der Organisationen wie auch in bezug auf neu hinzutretende Organisationen statt, und neue Kontaktanbahnungen zum Zwecke vertiefter Kooperation wurden auch zum Zeitpunkt der Untersuchung in beide beschriebenen Richtungen weiterverfolgt.
7.6.2 Das Netzwerk und seine Unterstützer Die in dieser Studie eingenommene Perspektive verfolgt die Bildung des Netzwerks als Aufbau einer Beziehungsstruktur zwischen den Netzwerkakteuren selbst. Damit wird der Fokus der Betrachtung eng auf die Aktionen zwischen den Netzwerkakteuren gerichtet. Dennoch sind die Rahmenbedingungen als Entstehungsbedingungen des Netzwerks nicht unwichtig. Ohne die Euregioförderung beispielsweise wäre das Netzwerk nie entstanden, aber auch andere kleinere und größere unterstützende Aktivitäten verschiedener Akteure halfen der Netzwerkbildung auf die Sprünge und spielten auch gerade in bezug auf die in diesem Kapitel dargelegten Selektionsaktivitäten eine Rolle. Gleichwohl in der Arbeit die unterstützenden Aktivitäten weiterer Akteure nicht systematisch verfolgt werden, so sollen doch im folgenden die wichtigsten Unterstützer kurz in ihrer Funktion für die Entstehung des Netzwerks genannt und überblicksartig dargestellt werden, um dem Leser und der Leserin ein Gesamtbild zu vermitteln. Als Unterstützer des Netzwerks werden Akteure bezeichnet, welche das Netzwerk als Kooperationsverbund mehrerer Akteure wahrnehmen und diesem unterstützend zur Seite stehen, indem sie Kooperationen vermitteln oder durch Dienstleistungen, Beratungen etc. dem Netzwerk weiterhelfen. Da hier das Beziehungsgeflecht zwischen den Netzwerkakteuren, welche immer Mitglieder von Organisationen sind, zugrunde gelegt wurde, zieht dieses den Umstand nach sich, daß die Grenzen des Netzwerks Organisationen durchschneiden. Als Folge finden sich Unterstützer des Netzwerks sowohl in Organisationen, in denen auch Netzwerkakteure selbst angesiedelt sind, als auch in Organisationen, die 205
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selbst nicht im Netzwerk aktiv sind. Die Rektorate der Fachhochschulen beispielsweise, aber auch die Verwaltungen der Universitäten haben das Netzwerk überwiegend aktiv unterstützt. Auch die DFO trat sowohl als Netzwerkpartner in der schon beschriebenen Weise auf als auch als Unterstützer des Netzwerks. Denn überwiegend tritt die DFO nicht als Seminaranbieter auf, ihr Hauptgeschäft liegt vielmehr in der Organisation von Gemeinschaftsforschung für industrielle oder auch größere mittelständische Mitgliedsorganisationen. Die DFO verfügt über zahlreiche Kontakte zu vielen Akteuren im Lackbereich und hat immer wieder dem Netzwerk interessante und wichtige Kontakte weitervermittelt, und dies unabhängig vom Seminarbereich und insofern als Unterstützer des Netzwerks. Weitere wichtige Unterstützer waren die niederländischen Verbände, die ihren Einfluß zum Wohl des Netzwerks sowohl auf die Hochschulen als auch auf das EUREGIO-Koordinationsbüro immer wieder geltend gemacht haben. Sie unterstützten das entstehende Netzwerk auch durch ihre Kenntnis der Bedarfslage der Branche. Auch der Unternehmerverband Syntens fungierte nicht nur als Antragspartner für die Euregiobehörde, sondern half, die Existenz des Netzwerks in der um Venloo gelegenen Region bekannt zu machen, und fungierte als Scharnier zum dortigen regionalen Markt. Abbildung 5: Das Netzwerk und seine wichtigsten Unterstützer
Quelle: eigene Graphik
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Als wichtiger Unterstützer des Netzwerks muß auch die Stichting ECCS genannt werden. Das Netzwerk ist zwar aus dem ECCS hervorgegangen, gleichwohl ist es aber nicht identisch mit dieser Organisation. Das ECCS wickelt aber sämtliche Vertragsmodalitäten für die durch das Netzwerk angestoßenen Aktivitäten ab, und somit kann man festhalten, daß sich das Netzwerk seinen wichtigsten Unterstützer – das ECCS – selbst hervorgebracht hat.
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Die Wirklichkeit ist nicht eindeutig, sondern läßt verschiedene Deutungen zu, und in diesem Fall war dies sowohl die Deutung als Konkurrenten, als indifferente Akteure, als auch die Sichtweise als komplementäre Partner, je nachdem welche Aspekte der Wirklichkeit im sozialen Austausch zentral gestellt wurden. Wenn sich die Kooperationspartner als komplementäre Partner definieren, so gibt es für diese Sichtweise zwar Anhaltspunkte in der Welt wie sie ist, jedoch ist der Aufbau, der Erhalt und Fortbestand der kooperativen Beziehung Produkt der sozialen Wahrnehmung. Wenn Kooperation aber nicht mehr Rückhalt in der Faktizität der Welt genießt als ihr Gegenteil Konkurrenz, so heißt das andererseits, daß diese Präferenz für Kooperation sozial produziert und bestärkt wird. Soziale Strukturen lenken die soziale Wahrnehmung und treiben die Realität in eine bestimmte Richtung. Soziale verbindliche Erwartungen, die von den Partnern konsensual geteilt werden, waren bereits als normative Struktur des Netzwerks dargestellt worden (vgl. Kap. 3.1). Damit diese Erwartungen als normative Struktur, und das heißt als Retention durch Gestaltung und Sensemaking, kontinuiert werden können, müssen sie intersubjektiv geteilt und weitergegeben werden. Als richtig angesehenes Verhalten kann in Form von Bildern und Vorstellungen transportiert werden, in Überzeugungen und Routinen eingelagert sein, in Form von Anekdoten und Mythen vermittelt werden und auch in Form von in der Gemeinschaft kursierenden Witzen und Redewendungen transportiert werden. Die Retention ist dementsprechend kein abstrakter Überbau, der als gemeinsames Manifest irgendwo in den Bücherregalen der Netzwerkpartner dahinschlummerte, sondern sie pulsiert vielmehr in den tagtäglichen Realisationen der Partner als Netz209
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werk. Die Retention durchzieht die Praxis aller Aktivitäten, sie ist zugleich Lebenselixier und Lebensgrund des Netzwerks. Dynamisch ist die Erwartungsstruktur des Netzwerks in dem Sinne, als daß jedesmal, wenn eine spezifische Überzeugung die Gestaltung und Sensemaking sozusagen führt, eben diese Überzeugung als richtig bestärkt und diese Erinnerung gefestigt wird.1 Da das Netzwerk zum Zeitpunkt der Untersuchung erst ca. ein Jahr funktionierte, ist es nicht wahrscheinlich, eine Fülle von Witzen und Anekdoten anzutreffen, wohl aber typisches Verhalten der Netzwerkpartner, wobei typisch meint, daß dieses Verhalten immer wieder in dieser oder ähnlicher Weise von den Netzwerkakteuren reproduziert wird und daß umgekehrt ein anderes und womöglich entgegengesetztes Verhalten als Normverletzung auffallen würde. Im folgenden sollen zunächst für die Funktionsweise und den Erfolg des Netzwerks wichtige Erwartungen in ihrer Bedeutung für das Netzwerk dargestellt werden (8.1), wobei jeweils auch danach gefragt wird, ob und wenn ja, wie diese zwischen den Netzwerkpartnern transportiert werden. Es wäre wohl unmöglich, alle Erwartungen, die es zwischen den Netzwerkpartnern gibt, vollständig zu erheben. Ich beschränke mich deswegen darauf, bestimmte Erwartungskomplexe herauszuarbeiten, die jeweils in spezifischer Weise die Zusammenarbeit im Netzwerk ermöglicht haben und die Innovativität des Netzwerks hervorbringen. Diese Erwartungskomplexe sind deshalb auch als Merkmale beschreibbar, die dem Netzwerk seine spezifische Netzkultur verleihen, die Kultur des Netzwerks ist sozusagen die Äußerung der Erwartungsstruktur des Netzwerks und verleiht ihm letztendlich seine spezifische Identität. Jeder Erwartungskomplex wird dementsprechend in eine Identitätsaussage, wie zum Beispiel „wir sind komplementär“, zusammengezogen. Daran anschließend komme ich nochmals auf die bereits erwähnte Transactive Memory zurück (8.2), deren Funktionsweise überhaupt erst vor dem Hintergrund der Kultur des Netzwerks deutlich wird. An sich wäre mit diesem Kapitel die Arbeit über die Entstehungsweise des regionalen Innovationsnetzwerks abgeschlossen, jedoch ergibt sich aus der Existenz dieses Netzwerks ein Spannungsverhältnis zwischen den am
1
Vgl. hierzu die Ausführungen zum Gallertmodell bei Weick (1985: 298). Man nehme ein Stück Gelatine und breite es auf einen Teller aus. Heißes Wasser wird an bestimmten Stellen, aber nicht überall aufgebracht. Es entstehen Muster, je häufiger das heiße Wasser in die immer gleichen Stellen gelangt, desto tiefer gräbt sich das Muster in die Gelatine ein. Erinnerungen, die durch weitere Erfahrung gefestigt werden, graben sich ebenfalls stärker im Gedächtnis ein als anderes.
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RETENTION
Netzwerk beteiligten Personen und den Organisationen, denen sie als Mitglieder zugehörig sind. Diese Problematik wird in Kapitel 8.3 behandelt.
8.1
Netzwerkkultur
8.1.1 Vertrauen: „Wir respektieren uns!“ Partnerschaftlich, vertrauensvolle Beziehungen bilden die Basis, auf der jeder Partner die anderen Kooperationspartner um eine kurze, häufig telefonisch erteilte Auskunft oder um ein Face-to-Face Beratungsgespräch bitten kann. Daß Anfragen an das eigene Wissen weder als Störung, als Abhalten von der eigenen Arbeit, als freche Aneignung fremden Wissens oder auch als Eingeständnis eigener Inkompetenz aufgefaßt werden, sondern ganz gegenteilig als freundschaftlicher Akt eines gegenseitigen Gebens und Nehmens zwischen ebenbürtigen Partnern, ist weder in der Sache an sich begründet noch selbstverständlich, sondern eine Errungenschaft der Netzwerkakteure selbst. Vertrauen und gegenseitiger Respekt sind nicht einfach da, vielmehr werden sie aktiv hergestellt, und genau dies taten die Netzwerkpartner in ganz selbstverständlicher Weise.2 Die Akteure haben aber keinesfalls krampfhaft versucht, eine vertrauensvolle Gesprächssituation herzustellen, sondern Vertrauen und Respekt schienen ganz „natürlich“ da zu sein, jedes Gespräch und jede Aktivität war sozusagen mit Vertrauen und Respekt interpunktiert. Vertrauen, die Achtung der Fachkompetenz der Partner und Respekt vor den Arbeiten der anderen – ganz gleich, ob es sich dabei um die Beratung von Kunden handelt, um standardisierte Forschungsdienstleistungen oder um ambitionierte Forschungsprojekte – man erwies sich gegenseitig Respekt. Achtung, Vertrauen und Respekt schienen als innere Einstellung vorhanden zu sein, die sich aber – und das ist entscheidend – ständig in den sozialen Interaktionen und Kom2
Mit dem Begriff „herstellen“ wird hier bewußt eine Formulierungsweise gewählt, wie sie in der Ethnomethodologie verwendet wird. Die Vertreter dieser Theorie gehen davon aus, daß alle Modalitäten und Eigenschaften wie Moral, die Geschlechtszugehörigkeit, Ehre, Nähe und Distanz interaktiv und kommunikativ hergestellt werden. In genau dieser Weise läßt sich hier ebenfalls die Herstellung von Respekt und Vertrauen beobachten. Es geht hier allerdings weniger um das Herausarbeiten, wie diese Eigenschaften hergestellt werden, als vielmehr um das Argument, daß dies geschieht, und nicht mehr als das ist für die hier geführte Argumentation notwendig. Für ethnomethodologische Fallstudien vgl. beispielsweise den Sammelband von Jörg Bergmann und Thomas Luckmann (1999). 211
INNOVATION UND KOOPERATION
munikationen niederschlagen, und das ist es dann auch, was im Gegensatz zur inneren Einstellung soziologisch untersuchbar ist. In beiläufigen Bemerkungen, in der Art wie die Partner aufeinander zugingen oder sich unterhielten, wurde dieser gegenseitige Respekt immer wieder kommunikativ und interaktiv erzeugt und kontinuiert. An folgendem Beispiel wird deutlich, daß Respekt vorhanden ist und daß dieser Respekt zugleich die Grundlage zu sein scheint, auf der die wechselseitigen Beratungen funktionieren. Um zu erläutern, wie gut das Netzwerk funktioniert, erzählte Herr Rater ein typisches Beispiel, wie der Wissensaustausch alltäglich funktioniert: In diesem Fall kam Herr Gustavsson aus Enschede zu ihm, um sich mit ihm über ein technisches Problem, welches er bei einer Beratung hatte, zu unterhalten. Diese Erzählsequenz leitet Herr Rater mit der Bemerkung ein, daß Herr Gustavsson „ein gestandener Mann aus der Industrie“ sei: „Der Gustavsson, in Enschede, der macht ja da so Beratung, und der kommt ja schon mal mit Problemchen her, der ist zwar ein erfahrener, gestandener Mann aus der Industrie, aber da sagt er, da hätte er gerne noch eine andere Meinung zu, und dann kommt er vorbei“ (Interview Herr Rater).
Diese Einleitung zu einer Begebenheit, in der es darum geht, daß Herr Gustavsson Herrn Rater um einen Rat fragt, macht eigentlich nur als Erklärung für die Zuhörerin Sinn. Es war Herrn Rater anscheinend wichtig, einer möglichen negativen Auslegung des Ratsuchens seitens Herrn Gustavssons als Inkompetenz vorzubeugen, indem er zunächst betont, daß er selbst Herrn Gustavssons Kompetenz schätzt und ihn überdies für sehr erfahren hält. Erst dann fährt Herr Rater mit der inhaltlichen Erzählung fort. Gerade darin, daß es Herrn Rater anscheinend wichtig ist, auch gegenüber Dritten keine Mißverständnisse bezüglich seiner Wertschätzung seiner Partner aufkommen zu lassen, zeigt sich aber auch der Respekt für die Partner. Und noch ein zweites wird deutlich: Niemand im Netzwerk muß fürchten, wegen einer Frage, selbst wenn sie in dem Bereich auftaucht, in dem der Fragende selbst arbeitet, für inkompetent gehalten zu werden. Jeder wird für seinen Bereich als kompetent respektiert, und dies bildet die Basis, um sich gegenseitig Rat holen zu können. Auch wenn man sagen kann, daß die Herstellung von Vertrauen einfach so nebenbei mitlief, war die Tatsache, daß man sich gegenseitig vertraut und dies zugleich eine Funktionsgarantie des Netzwerks ist, den Akteuren durchaus bewußt, wie aus folgenden Interviewsequenzen hervorgeht:
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Herr Strater: „Vertrauen heißt für mich, daß man auch Respekt für den Partner hat, für dessen Umgebung, dessen Zielsetzung und dessen Schwächen. Jeder hat seine Spezialität, aber anderes kann man nicht so gut. Vertrauen heißt da, daß wenn er das nicht gut kann, daß er es auch sagt.“ Interviewerin: „Wie wäre das, wenn ein Partner es nicht sagt?“ Herr Strater: „Das wäre eine große Enttäuschung. Das wäre sehr schlimm […] dann würden wir hinfahren, um eine Erklärung zu bekommen, was da los ist. So etwas macht dann das Netz schwächer.“
Die Sequenz zeigt zugleich auch, daß vertrauensvolles, partnerschaftliches Handeln normativ, also zwingend voneinander erwartet wurde, was an der wenn auch nur hypothetischen Enttäuschtheit im Falle eines Regelverstoßes ablesbar ist. Enttäuschungen weisen auf normative Erwartungen hin, denn man ist gerade deshalb enttäuscht, weil man meint, zu Recht das Vertrauen plaziert zu haben, weil dieses Verhalten eben in dieser Weise in der eigenen Gruppe, in unserem Fall – im Netzwerk –, zwingend und das heißt normativ von den Partnern erwartet wird (Luhmann 1980: 43ff.). Und nur deshalb, weil man sich als Enttäuschter in einer solchen Situation im Recht befände, würde es Sinn machen „hinzufahren, um eine Erklärung“ einzufordern, wie es in der obigen Sequenz heißt. Kooperatives, vertrauensvolles Verhalten war denn auch allgegenwärtig im Netzwerk beobachtbar.
8.1.2
Offenheit: „Wir gehen aufeinander zu!“
Daß nun aber Austausch von Wissen sozial möglich ist heißt noch nicht, daß diese Option auch genutzt wird. Dafür ist eine Gesprächskultur erforderlich, bei der es als normal angesehen wird, sich über die Inhalte der Arbeit zu unterhalten, die Partner einfach mal so um ihre Meinung zu bitten, selbst dann, wenn man meint, man könne dieses Problem auch alleine bewältigen.3 Zu einer Gesprächskultur, in der die Erörterung von Problemen und Ideen normal ist, gehört es, daß die Partner immer wieder aufeinander zugehen, sich gegenseitig in die eigene Arbeit einbezie3
AnnaLee Saxenian (1994) hat für die Boston Route 128 und Silicon Valley zwei völlig unterschiedliche Gesprächskulturen aufgezeigt. Während man sich in der Region um Boston bei Treffen außerhalb der Arbeit zumeist über allgemeine Themen wie etwa Baseball unterhielt, waren es zumeist Fachthemen, die in Silicon Valley auch außerhalb der Arbeit zumeist den Gesprächsstoff bildeten. AnnaLee Saxenian führt diesen Unterschied auf die verschiedenartigen Gesprächskulturen in den beiden Regionen zurück. 213
INNOVATION UND KOOPERATION
hen und die anderen Partner zumindest als virtuell aktivierbare Möglichkeit im Bewußtsein behalten. Die damit verknüpfte These ist, daß die täglichen Telefonate zwischen den Netzwerkakteuren sich nicht einfach aus der Rollenkomplementarität einerseits und der Vertrauensbeziehung andererseits in Verbindung mit technischen Anforderungen ergaben, sondern daß die Motivation dafür aus einer spezifischen normativ voneinander erwarteten Gesprächskultur kam, deren Kennzeichen es war, Anlässe zur Unterhaltung immer wieder zu erkennen und zu nutzen. Daß aktives Aufeinanderzugehen und die Auseinandersetzung mit den anderen Netzwerkpartnern zum Zeitpunkt des funktionierenden Netzwerks eine normative Verhaltensanforderung war, läßt sich daran zeigen, daß von neuen Netzwerkakteuren erwartet wurde, auf die Netzwerkpartner zuzugehen und sich auf die offene Gesprächskultur im Netzwerk einzulassen. Nicht lange vor dem Zeitraum, als die Interviews für die Fallstudie durchgeführt wurden, war ein neuer ECCS-Partner hinzugewonnen worden. Zum Unmut der Netzwerkakteure legte er jedoch die Mitarbeit im EUREGIO-Kooperationsprojekt rein formal aus. Er ging davon aus, daß man bestimmte Forschungsziele definiert und jeder Partner seine Teile getrennt ohne Rückkopplungen zu den anderen Partnern abarbeitet. Ein solcher Modus der Projektbearbeitung wird oft in sogenannten Forschungsverbundprojekten eingenommen. Die Netzwerkpartner, die das Netzwerk aufgebaut hatten, wiesen diesen neuen Partner höflich darauf hin, daß man sich im Netzwerk ernsthaft für die Arbeiten der anderen Partner interessiere und das Gespräch suche, und forderten ein solches partnerschaftliches Aufeinanderzugehen ein.4 Die im Netzwerk gemachte Erfahrung, daß brauchbares wertvolles Wissen von Wissensträgern beigesteuert wird, von denen man es aufgrund ihrer fachlichen Spezialisierung her nicht vermutet hätte, führte bei den Netzwerkpartnern zu einer neugierigen und offenen Haltung im Hinblick auf neue Personen. Die Netzwerkpartner hatten regelrecht die Fähigkeit entwickelt, aus den Kompetenzen, über die jemand verfügte, genau diejenigen Bereiche herauszufiltern, die man mit den eigenen Fähigkeiten konvergieren lassen konnte. Gleich welchen Status jemand hatte oder in welchem Bereich jemand tätig war, man erwartete nützliches Wissen: „Jede Person kann über brauchbares Wissen verfügen“, könnte als weiterer Glaubenssatz hinter dieser Haltung stehen.
4
Zu der Zeit, als ich die Interviews durchführte, war gerade dieses neue Mitglied zum Kooperationsnetzwerk hinzugekommen. Die sanfte Einweisung in das netzwerkübliche Verhalten habe ich dadurch selbst beobachten können.
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RETENTION
Wie die Gestaltung von Offenheit und interessierter Neugier arbeitsalltäglich umgesetzt wurde, zeigt das folgende Beispiel: Ein Netzwerkpartner hatte sich immer mal wieder mit einem Kollegen seiner Fachhochschule unterhalten, welcher ein Spezialist für Computersimulationen war. Als eine Airline den Lackingenieur damit beauftrage, für ein spezielles Problem, welches ab und zu an den Tragflächen der Flugzeuge auftrat, einen Lösungsweg vorzuschlagen allerdings unter der Bedingung hoher finanzieller Restriktionen, wodurch lacktechnische Untersuchungen zu teuer waren, kam dem Lackingenieur die Idee, daß eine Computersimulation vielleicht eine Lösung sein könnte. Er besaß die Offenheit, den erwähnten Kollegen zu fragen und dieser das Interesse und die Offenheit, in das Projekt einzusteigen. Dieser neu hinzugewonnene Partner war völlig überrascht, daß sich für ihn als Spezialist für Computersimulationen mit dem Lackenetzwerk ein neues Arbeitsfeld mit Kontakten zu interessanten Forschungspartnern auftat. Die Offenheit, einfach jemanden auch über disziplinäre Grenzen hinweg anzusprechen, verknüpft mit einer kreativen Herangehensweise, die auch unkonventionelle Lösungen zuläßt, hat in diesem Fall zu einer Lösung für den Kunden und zu neuen Projektideen für das Netzwerk geführt, da man mit diesem neuen Partner die Simulation von Lackverhalten ausbauen wollte und zum Zeitpunkt der Untersuchung des Netzwerks schon neue Ideen für Forschungsprojekte besprach. Nicht immer jedoch stieß die Offenheit der Netzwerkpartner auch auf ebensolche Bereitschaft der angesprochenen möglichen Kooperationspartner. Ein Forschungsinstitut beispielsweise, welches auf dem Gebiet der Lederverarbeitung tätig war und es somit Überschneidungen auf dem Gebiet der Beschichtung von Leder gab, lehnte jegliche Kooperationsgespräche ab. Auch andere Akteure reagierten auf Anfragen seitens der Netzwerkpartner reserviert. Mit denjenigen, die sich auf die Ideen der Netzwerkpartner einließen, kamen jedoch immer wieder interessante Projekte zustande.
8.1.3 Innovativität: „Wir sind verrückt!“ Ein Schlüssel für die Innovativität des Netzwerks liegt in der Selbstwahrnehmung der Akteure als Leute mit verrückten Ideen. Die Netzwerkakteure pflegen untereinander eine Kultur, in der es als normal angesehen wird, auch für unkonventionelle Ideen und Lösungswege offen zu sein, selbst dann, wenn sie aus der eigenen professionellen Spezialorientierung heraus verrückt anmuten oder die Kollegen in der eigenen Organisation die Akteure mit ihren Plänen und Ideen für verrückt halten. Aber diese gemeinsame Unerschrockenheit, sich Verrücktheit zu leisten 215
INNOVATION UND KOOPERATION
und die eigene Gemeinschaft auch noch darüber zu definieren, ist es gerade, die durch Routinen erzeugte Blindheiten aufzubrechen vermag.5 Im Hinblick auf Ziele und Lösungen zeigte sich die Verrücktheit als Haltung, das Unmögliche oder Absurde zu denken und zu versuchen. „Alles ist möglich“ und „die Lösung ist oft woanders als man sie erwartet“ – diese Glaubenssätze, die als solche der Retention zuzuordnen sind, beschreiben die Einstellung, mit der an Probleme herangegangen wurde, und sie führten nicht selten zur Beschreitung unkonventioneller Lösungswege, die auf den ersten Blick sogar abstrus oder zumindest unwahrscheinlich wirkten. Wie der Glaubenssatz „alles ist möglich“ praktisch umgesetzt wird, zeigt beispielhaft die folgende Geschichte, die mir ein Netzwerkpartner von seiner Beratungstätigkeit erzählte: Von einem Tag auf den anderen blätterte der Lack von den Endprodukten eines kleinen Unternehmens ab, ohne daß sie ihrem Dafürhalten nach etwas an der Produktion oder dem Beschichtungsverfahren verändert hatten. Der Berater setzte sich mit den verantwortlichen Mitarbeitern zusammen und erstellte eine Liste aller Änderungen, die um den fraglichen Zeitraum stattgefunden hatten. Auf der Liste waren auch Dinge wie „neues Auto angeschafft“. Es war natürlich nicht der neue Wagen, der das Abblättern des Lacks verursacht hatte, aber die Tatsache, daß solche Punkte auf die Liste geschrieben wurden, zeigt die Gestaltung der Einstellung „alles ist möglich“. Auch die Kultur der Zweckentfremdung von Maschinen ist bereits beschrieben worden. Die Tatsache, daß man Maschinen daraufhin beobachtete, was man sonst noch alles mit ihnen anstellen könnte, zeigt ebenfalls diese Kultur des kreativen Denkens auf. Diese Kultur entstand nicht, nachdem das Netzwerk als rollenkomplementäre Gemeinschaft entstanden war, sondern mit und durch diese Kultur wurde das Netzwerk als solches ja auch gestaltet. Wie bereits angesprochen, ist ein technisches Artefakt wie eine Maschine in der Regel multioptional. In einem
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Wie das Erstarren in Routinen verhindert werden kann, ist ein immer noch nicht gelöstes Rätsel der Organisationsforschung und wird es vermutlich bleiben, da wir es mit dem strukturellen Widerspruch zu tun haben, daß in Organisationen über Stellen, Personal und Kommunikationswege bestimmte Zustände auf Dauer gestellt werden. Die zweite Überlegung ist dann, wie das, was Organisationen eigentlich ausmacht, punktuell geändert werden kann. Querulanten, meint Helmut Wiesenthal (1995), würden eben die strukturell ausgeschlossene Verrücktheit wieder in die Organisation hineinbringen. Allerdings muß man sich fragen, ob ein einzelner Querulant nicht einfach als verrückt marginalisiert würde und man nicht besser eine Querulantenkultur oder eben ein Querulantennetzwerk wie in diesem Fall braucht. Dies freut aber auch nicht unbedingt jede Organisation. Ich komme darauf zurück.
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RETENTION
gegebenen sozialen Zusammenhang spielt sich auch eine routinierte, übliche und als richtig empfundene Nutzung der Maschinen ein, wodurch andere Nutzungsmöglichkeiten unüblich sind, was nicht notwendigerweise heißt, daß sie nicht bekannt sind, aber aus dem spezifischen sozialen Kontext heraus werden sie als irrelevant angesehen, weil sie für die Zielsetzung des sozialen Kontextes, in dem sie eingesetzt werden, nicht für brauchbar erachtet werden. Der kreative Umgang mit den Maschinen ist daher in der Regel für Normalnutzer der Maschinen weder üblich noch offensichtlich, wie das folgende Beispiel veranschaulicht: Ein Wissenschaftler, der ebenfalls an der Mitarbeit in einem Euregioprojekt interessiert war, hatte bei einem Treffen der Euregiopartner seine wissenschaftliche Arbeit vorgestellt und seine Laborausstattung erläutert. Zwei der Netzwerkpartner erzählten mir kurz nach diesem Treffen von Ideen, wie man mit dieser Person kooperieren könne. Eine dieser Ideen bezog sich auf eine Maschine im Labor des Wissenschaftlers, die der Netzwerkpartner zweckentfremden wollte. Er hatte bereits einen Versuch konzipiert und entsprechende Daten an den neuen Kollegen im Netzwerk weitergeleitet. Als ich mit diesem neu hinzugewonnen Wissenschaftler sprach, erwähnte er, daß ihm bereits ein Kollege Daten für einen Versuch gegeben habe, ließ aber durchblicken, daß er diesen Versuch zwar für machbar, aber auch für reichlich verrückt hielt (Interview Herr Messner). Verrückt fand der neue Kollege den Versuch vermutlich deshalb, weil der vorgeschlagene Versuch mit den Konventionen seiner Spezialdisziplin im Hinblick auf die Umgangsweise mit dieser speziellen Maschine brach. Die Kultur der Verrücktheit motiviert die Netzwerkpartner, Arbeitsverrichtungen und Routinen zu überdenken und sich auch an Lösungen zu wagen, die aus der Spezialistenorientierung heraus als ungewöhnlich angesehen werden. Eine Kultur, in der das Brechen von Konventionen zum Zwecke der Innovativität als normal angesehen wird, erleichtert es, unkonventionelle Nutzungsmöglichkeiten auszuprobieren und auch mal zu experimentieren, selbst wenn die Idee momentan nicht zu einer Lösung führt.6 Die genannten Beispiele zeigen, daß es zwei Bedingungen gibt, die erfüllt sein müssen, damit die Netzwerkakteure in kreativer Weise innovativ sein können: Erstens muß eine gewisse Begeisterung für die Sache 6
Unbrauchbare Ideen gibt es Andrew Hargadon und Robert Sutton (2000) zufolge an sich nicht. Gerade im Spielen und Experimentieren mit Lösungsmöglichkeiten wird ein Reservoir an Ideen geschaffen. In einer Kultur, in der darüber gesprochen wird, ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß die Ideen, wenn sie benötigt werden könnten, nicht schon wieder in Vergessenheit geraten sind. 217
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vorliegen, die die Akteure dazu motiviert, sich für innovative Ideen mit Zeit und Energie zu engagieren, und zwar auch dann, wenn das Ergebnis anderen Netzwerkpartnern mehr nutzt als ihnen selbst. Das funktioniert nur, wenn die Perspektive der Akteure sich von Spezialthemen zu übergreifenden Themen weitet. Im Netzwerk wurde diese Perspektivenerweiterung durch das gemeinsame Engagement für die Branche bewirkt, was thematisch im nächsten Teilkapitel behandelt wird. Zweitens erfordert Innovationsfähigkeit die Verrücktheit, frei zu denken und kreativ mit Möglichkeiten zu experimentieren. Sicherlich steht hinter diesem experimentellen Verhalten auch eine gewisse persönliche Fähigkeit. Andererseits zeigen Studien aber auch, daß Experimentierfreude durch soziale Strukturen entweder gefördert oder auch erdrückt wird.7 Ein Beispiel für letzteres sind bürokratische Organisationsstrukturen, die dafür bekannt sind, daß sie kein Ort für Kreativität darstellen. Kreativität erfordert ein spezifisches soziales Umfeld, und die Netzwerkkultur begünstigt und fördert solcherlei kreative Vorgehensweisen. Die Kultur der Verrücktheit wurde von den Netzwerkpartnern untereinander gepflegt, und man bestärkte sich gegenseitig darin. Selbstverständlich belächelte man niemanden, der die Anschaffung eines Autos mit auf eine Liste von Veränderungen eines Lackierprozesses schreibt, und man lächelt auch über andere Verrücktheiten nicht. Im Gegenteil scheint gerade das Unmögliche und fast schon als verrückt zu bezeichnende Denken intrinsischer Teil der Netzkultur zu sein, der gerade auch in der Gemeinschaft der Netzwerkpartner untereinander gepflegt wurde. Sie zeigte sich beispielsweise, wenn die Netzwerkpartner gemeinsam von ihrer Zukunft „träumten“. Die Visionen möglicher gemeinsamer Zukunftsprojekte hatten häufig die Qualität, das Unmögliche zu denken. Man phantasierte über einen Export des Netzwerks in der Form eines Franchising-Unternehmens oder dachte an eine europaweite Ausweitung des Netzwerks.8 Ebenfalls träumten die Partner von der Errichtung eines Gebäudes genau in der geographischen Mitte zwischen allen Netzwerkpartnern, indem Geräte und Maschinen für alle Partner zugänglich wären, die jeder ab und zu, aber nicht ständig benötigt. In solchen Gesprächen, in denen die Zukunft frei von restriktiven Begrenzungen entworfen wird, wird der Glaubenssatz „alles ist möglich“ immer wieder untereinander als richtige Einstellung bekräftigt, und solche Treffen gewinnen durch diese soziale Selbstvergewisserung eine 7
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Unter dem Stichwort „lernende Organisation“ findet sich eine breite Literatur, die sich mit eben der Frage beschäftigt, wie man Kreativität trotz Routine in einer Organisation einführt. Für einen Überblick vgl. Wiesenthal (1995). Ein europaweites Projekt ist inzwischen tatsächlich initiiert worden.
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rituelle Kraft.9 Rituale leisten Clifford Geertz (1983: 78ff.) zufolge die symbolische Verschmelzung von Ethos und Weltauffassung. Das Ritual ist nicht nur die Veranschaulichung, es ist die „Materialisierung […] von Dingen, die sie glauben“ (ebd.: 79). Es geht im Ritual um die gegenwärtige Erfahrung, um die Materialisierung eines Ethos, das als gegenwärtig vorhanden erlebt wird, woraus eine Kraft für die Zukunft geschöpft werden kann. Im euphorischen Pläneschmieden, in gemeinsamen kreativen Gedankenexperimenten wird die Richtigkeit kreativen Denkens gemeinsam erlebt und gefühlt. Diese gemeinsamen Werte, die Selbstwahrnehmung als verrückte Gruppe, verbleibt dann nicht als eine abstrakte Einstellung, sondern wird Teil der gegenwärtig gemeinschaftlich gefühlten Erfahrungswelt. Die Netzwerkpartner selbst waren sich durchaus bewußt, daß es ihre Verrücktheit war, die sie untereinander pflegen, die gerade die Innovationskraft ihrer Gemeinschaft ausmacht: „Davon lebt das ECCS, daß es viele verrückte Leute gibt, die sagen, das ist eine verrückte Idee, aber wir schauen mal, […] vielleicht geht es doch, realistisch ist es, weil, wenn das ECCS sich weiter so entwickelt, warum nicht? Man muß Ziele haben, sonst entwickelt sich nichts“ (Interview Herr Rater).
Aus dieser Kultur der Unkonventionalität in bezug auf Lösungen und dem offenen Zugehen auf mögliche Partner sind auch zahlreiche andere Projekte hervorgegangen, die oftmals nur durch das ECCS initiiert wurden, indem das Netzwerk als Ideengeber und Makler für Kooperationspartner tätig wurde.
8.1.4
Aktivität: „Gemeinsam sind wir stark!“
Den Netzwerkpartnern ist es überdies gelungen, trotz der zum Teil großen Unterschiede in den Spezialisierungen der Partner eine gemeinsame Klammer zu finden, vermittels derer sie ihre Aktivitäten unter einem gemeinsamen Ziel verorten konnten und die ihnen eine gemeinsame
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Den Begriff des Ritus für profane Tätigkeiten, wie Organisieren zu nutzen, ist so neu nicht. Martha Feldman und James March (1990/1981) behandeln das Sammeln von Informationen als Ritus, weil sie anstelle zur Entscheidungsfindung anscheinend eher der Bestätigung gemeinsamer sozialer Werte dienen. Bestärkt wird ein bestimmter Kompetenzbegriff, der an das Sammeln von Informationen gebunden zu sein scheint und zur Ausbildung von Vertrauen führt (ebd.: 465). Auch im neoinstitutionalistischen Denken findet sich der Rückgriff auf Riten, Symbole und Mythen, um die Aufrechterhaltung einer bestimmten Wirklichkeitskonstruktion zu erklären (vgl. beispielsweise Meyer und Rowan 1977). 219
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Identität verlieh. Diese Klammer fanden sie in einem professionellen Selbstverständnis als Aktivisten der Lackbranche. Mit den Ratschlägen und dem Zugriff auf das Wissen der anderen konnte jeder einzelne bessere Beratung, bessere Dienstleistungen und bessere Fortbildungen, bessere und neue Studiengänge anbieten. Darüber hinaus konnten bereits langgehegte Forschungsideen umgesetzt werden und neue Perspektiven für innovative Projekte gefunden werden, und schließlich konnten gemeinsame Aktivitäten initiiert werden, die alle hoch attraktiv fanden, die aber niemand alleine in Angriff genommen hätte. Die Fülle an Vorteilen und Möglichkeiten, die sich mit dieser netzwerkartigen Kooperation verknüpfte, übertraf den antizipierten Nutzen, den die Netzwerkpartner vorab von ihrer Partizipation an der Kooperationsbeziehung erwartet hatten bei weitem. Dieses Überraschungsmoment wird empirisch als eine Euphorie in bezug auf das Netzwerk deutlich. Berichte über gelungene Projekte werden euphorisch gegeben, und immer wieder wird die Überraschung über das Erreichte betont. Mit der Erfahrung dieser neuen unverhofften Möglichkeiten, die durch das Netzwerk verwirklicht werden konnten, bildete sich in der Kultur des Netzwerks eine Retention heraus, welche gerade die Wiederholbarkeit des Unwahrscheinlichen ermöglichte. Im Gedächtnis des Netzwerks wurde die Möglichkeit, gemeinsam Vorteile zu erringen, als sehr wahrscheinlich, und das heißt als normales und alltägliches Geschehen eingeschrieben und fand sich natürlich entsprechend in der Gestaltung und im Sensemaking der Netzwerkpartner wieder. In die Form eines kurzen Glaubenssatzes gebracht: „Gemeinsam sind wir stark!“ Wie das Gefühl „gemeinsam sind wir stark“ praktsich umgesetzt wird, zeigt die Organisation von Weiterbildungsveranstaltungen durch das Netzwerk. Begonnen hatte dieser Bereich mit der Überlegung, daß die Fachhochschulen im Bereich der Weiterbildung sich ein weiteres Tätigkeitsfeld eröffnen könnten. Deshalb hatte man die DFO als großen Verband der Lackierbranche und damit als wichtiges Scharnier zum Markt als Partner gewonnen, mit der bereits beschriebenen Folge, daß Konkurrenzvermutungen die Kooperation zunächst blockiert hatten. Nachdem der positive autokatalytische Zirkel in Gang gesetzt worden war, zeigten sich auch im Bildungsbereich ungeahnte Möglichkeiten: Gedacht war ursprünglich, daß die DFO Weiterbildungsmaßnahmen organisiert, die durch Akteure des ECCS dann durchgeführt werden. Es zeigte sich aber, daß dieser zunächst linear gedachte Weg, daß die Seminarplanung bei der DFO angesiedelt ist und das Netzwerk lediglich diese durchführt, sehr schnell mit der umgekehrten Richtung komplettiert wurde, also rekursiv wurde. Durch die zahlreichen Kontakte zu 220
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klein- und mittelständischen Firmen wurde den Netzwerkakteuren der Bedarf an Weiterbildung sehr genau bekannt. Das Netzwerk bildete daher nach kurzer Zeit das „Ohr“ der Seminaranbieter, durch welches praxisnähere, passendere Fortbildungen konzipiert werden konnten. Es wurden auch Bedarfe festgestellt, die mit einer Weiterbildung nicht abzudecken waren. Die erhöhten Anforderungen an die Beschichtung erforderten auch in Mittel- und Kleinstbetrieben zunehmend mehr Wissen. Ein Akteur des Netzwerks hatte Kontakte zu einer Fachschule, und zum Zeitpunkt der Untersuchung des Netzwerks waren bereits erste Gespräche mit der Leitung dieser Fachschule geführt worden, um eine Ausbildung einzuführen, die mehr als ein Lehrberuf, aber weniger als ein Studium wäre. Solche Aktivitäten werden nicht von dem Netzwerk als korporativer Akteur durchgeführt, aber die Kontakte und Möglichkeiten des Netzwerks ermöglichen den einzelnen Akteuren, Initiativen zu verfolgen, die machbar sind, weil sie als Ressource entsprechende Kontakte und Kooperationspartner mobilisieren können. Zur gleichen Zeit traten Großunternehmen aus der Industrie an das Netzwerk heran mit der Anfrage, ob sie Interesse hätten, einen Aufbaustudiengang zu initiieren, bei dem es speziell um die Vermittlung von Kenntnissen bei der industriellen Beschichtung gehen sollte. Der Aufbaustudiengang sollte in Form von Lehrgängen an den verschiedenen Fachhochschulen stattfinden, also an allen im Netzwerk aktiven Fachhochschulen und nicht an nur einer Fachhochschule, um spezifische Kompetenzen und Labore jeder einzelnen Fachhochschule nutzen zu können. Allerdings wußten die Akteure an den Fachhochschulen, daß sie nicht zu viele Aktivitäten zugleich angehen konnten, was bedeutete, daß sie vermutlich nicht zugleich eine Ausbildung und einen Studiengang würden initiieren können, da die Kapazitäten, die jeder einzelne Akteur an zur Verfügung stehender Zeit hatte, nicht für alles ausreichen würden. Deshalb stellte man die Anfrage seitens der Industrie zunächst zurück. Sie zeigt aber nichtsdestotrotz, daß dem Netzwerk von großen und wichtigen Industriepartnern die fachliche Kompetenz und die Tatkraft, langfristige und aufwendige Aktivitäten in Bewegung zu setzen, zugetraut wurden, was ebenfalls die Identität als schlagkräftiger Verbund von Akteuren nach innen hin bestärkt hat. Mit diesen Möglichkeiten, im Bildungs- und Weiterbildungsbereich aktiv zu werden, übertraf das Netzwerk die ursprünglichen Erwartungen in bezug auf Seminaraktivitäten bei weitem. Durch solcherlei Aktivitäten, bei denen das Netzwerk das Zentrum oder die initiativgebende Größe im Spannungsfeld verschiedenster Kontakte und Kräfte bildete, wurde das Gefühl, gemeinsam stark zu sein, erfahren und zugleich bestärkt. Die Erfahrung durch die Gemeinschaft der Netzwerkpartner, vieles be221
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wegt zu haben und noch zahlreiche interessante Aktivitäten vor sich zu haben, steht auch hinter der folgenden Zukunftsvision eines Netzwerkpartners wenn er sagt: „Ich denke, nach den drei Jahren da wird das so gut laufen, wenn das Projekt ausläuft [die EUREGIO-Förderung], dann werden anderen Forschungseinrichtungen noch graue Haare wachsen. Weil sie nie das Potential aufbringen können, was hier dahintersteckt“ (Herr Rater).
Durch das Wissen um das Wissen, die Fähigkeiten und die Kontakte der Partner untereinander, wurde das Netzwerk zum Katalysator für Forschungsaktivitäten der Netzwerkpartner, aber auch anderer Aktivitäten in der Region, wie folgendes Beispiel illustriert: Eine kleine Firma, die Antennen herstellte, suchte eine haltbarere Beschichtung für die Plane, mit der die Antenne an der Dachauslassung umhüllt wurde. Der Netzwerkpartner, der mit dieser Firma in Kontakt war, besprach sich mit den anderen Netzwerkpartnern über die Beschichtung mobiler Untergründe. Man konnte zwar keine Lösung für das Problem finden, aber immerhin den Weg dahin aufzeigen. Die Firma war aber zu klein und unvermögend, um ein Forschungsprojekt in Auftrag zu geben. Die Netzwerkpartner wußten aber von zwei weiteren Firmen, die in völlig anderen Bereichen tätig waren, aber ebenfalls mit dem Problem der Beschichtung eines mobilen Untergrundes zu tun hatten. Man organisierte ein Treffen aller drei Firmen und einigte sich auf die Durchführung einer Versuchsreihe. Für das Projekt konnten über einen ebenfalls im Netzwerk organisierten Verband Fördermittel eingeworben werden, um eine Person einzustellen, die dieses Projekt an den Maschinen von einer der hinzugewonnenen größeren Firmen durchführen würde. Daß die Akteure solcherlei Projekte auf die Beine stellen können, liegt nicht einfach an den Kontakten, über die sie verfügen, die zweifelsohne von entscheidender Wichtigkeit sind, sondern ebenfalls an der im letzten Teilkapitel verdeutlichten Gestaltung von Offenheit und der Freiheit, auch mal unkonventionell an die Dinge heranzugehen. Resultat war ein ungewöhnliches Projekt und eine weitere Erfahrung, daß man im Netzwerkverbund viel bewegen kann. Das gerade genannte Beispiel steht – gleichwohl es um die Initiierung eines Forschungsprojektes für Kunden des Netzwerks ging – dennoch zugleich beispielhaft für die Art und Weise, wie innerhalb des Netzwerks Forschungsprojekte geboren werden: Eine Idee wird zwischen zwei oder mehreren Netzwerkpartnern besprochen, sie wird zugespitzt und in Fragestellung und Versuchsaufbau überführt und die Durchführung im Netzwerk verteilt. Das Netzwerk selbst tritt selbstredend dabei nicht als Akteur auf, vielmehr sind es 222
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die verschiedenen im Netzwerk vorhandenen Fähigkeiten wie die Fähigkeit, komplexe Ideen schnell in einen machbaren Versuch transformieren zu können, Kontakte zu weiteren interessanten Kunden oder KnowHow Trägern, spezifisches Wissen oder eine spezielle Laborausstattung, in Gesprächen werden Ideen gesichtet, Projekte aufgestellt und verwirklicht. Im regelmäßigen aber ungeregelten Austausch werden Ideen besprochen, Projekte gegeneinander abgewogen, werden Commitments für Projekte und Ideen erzeugt und die Ressourcen für diese mobilisiert. Das Netzwerk stellt sich für jeden einzelnen Netzwerkpartner als Ressource und Erweiterung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten dar. Man kann zwar gewiß nicht sagen, daß Ideen, Ziele und Perspektiven für die einzelnen Partner zunehmend aus dem Netzwerk heraus entstanden, aber sie wurden durch das Netzwerk geformt, konkretisiert und kanalisiert. Für viele Netzwerkakteure waren deshalb das Netzwerk, die regelmäßigen Kontakte und Gespräche zu einem alltäglichen Arbeitsumfeld geworden. Jeder einzelne Netzwerkpartner hatte das Gefühl, einer zwar kleinen aber aktiven und innovativen Gruppe anzugehören, mit deren Hilfe die eigenen Kräfte und Ideen um ein Vielfaches aufgewertet wurden.
8.1.5
Identität: „Wir sind komplementär!“
Die Retention der rollenkomplementären Aufteilung besteht zunächst einmal in einer Selbstbeschreibung als rollenkomplementäre Partner, mit der sich die Partner selbst immer wieder untereinander und gegenüber Dritten charakterisieren, wie es Herr Clean beispielsweise im folgenden Zitat tut: „Wir machen alle was auf dem Gebiet der Lacke, aber jeder hat seine Spezialitäten, d.h. wir machen uns auch, was tödlich sein kann, keine Konkurrenz. Es gibt Überlappungen, die stören ja keinen […] Krefeld rührt die Lacke an, ich sag das mal so salopp, Enschede malt an, Applikationstechnik, Münster, der Herr Messner, hat die spezielle Meßtechnik, und wir sorgen eigentlich dafür, daß der Lack hält, daß er nicht wieder runterfällt“ (Herr Clean).
Neben dieser Selbstbeschreibung wird die Rollenkomplementarität mit jedem Projekt und jeder Idee, die im Netzwerk besprochen wird, bestärkt, denn sowohl die Vergabe von Teilaufträgen als auch die Orientierung für Nachfragen aktualisiert jedesmal das rollenkomplementäre Schema der Akteure und bestärkt es. Dies gilt auch dann, wenn Teilprojekte aufgrund der Überlappungen nicht dort bearbeitet werden, wo sie nach dem komplementären Schema bearbeitet werden müßten. Denn 223
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Projekte landen nur dann bei einem anderen Partner, wenn der dafür als kompetent oder zuständig angesehene Partner zuvor gefragt worden ist und das Projekt abgelehnt hatte.10 Damit wurde auch für eine solche anders gelagerte Bearbeitung für die Verteilung das rollenkomplementäre Schema eingehalten und insofern ebenfalls in seiner Richtigkeit und seinem Zutreffen bestärkt. Jede einzelne Gestaltung komplementärer Zuständigkeit ist eine Reimprägnierung der gemeinsamen Selbstbeschreibung als komplementäre Partner. Im Falle der rollenkomplementären Selbstwahrnehmung allerdings haben wir es mit einem Sonderfall zu tun, da diese zugleich die Funktionsgarantie des Netzwerks darstellt und insofern dem Netzwerk in besonderer Weise Identität verleiht. Durch kooperatives Verhalten und Vertrauen wurde Kooperation und letztendlich sogar komplementäre Kooperation von den Netzwerkpartnern als Möglichkeit erzeugt und als solche zugleich stabilisiert und ausgebaut. Die Selbstwahrnehmung als zueinander rollenkomplementäre Partner bildet daher die fundamentale Realitätsgrundlage, auf deren Basis das Netzwerk nicht nur entstanden ist, sondern auf der es auch zukünftig funktioniert. Die gegenseitige Behandlung und Respektierung als zueinander komplementäre Partner ist deshalb weit mehr als lediglich eine Flankierung oder Erleichterung der Austauschbeziehungen untereinander, sie bildet den Daseinsgrund und sichert den Fortbestand, sie ist lebensnotwendiger Bestandteil des Netzwerks. Es ist wohl diesem besonderen Umstand zuzuschreiben, daß wir in diesem Fall über die bereits dargestellten normativen Erwartungen hinaus eine weitere besondere Form der Stabilisierung dieser Selbstidentifikation als komplementäre Partner antreffen. Sie wird in der kollektiven Erinnerung der Netzwerkpartner in einem Gründungsmythos mystifiziert. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses geht bereits zurück auf Maurice Halbwachs (1985/1925). Ein Kollektiv wie eine soziale Gemeinschaft prägt Halbwachs zufolge das Gedächtnis ihrer Mitglieder, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Vergangenheit, sondern auch im Hinblick auf die Art, wie der einzelne das Erlebte erinnern wird. Die Vorstellung der Vergangenheit wird beim einzelnen durch die Art, wie die Geschichte weitergegeben wird, wie sie tradiert und überliefert wird, geprägt. In welcher Weise das gegenwärtig erlebte erinnert wird, wird ebenfalls durch die soziale Gemeinschaft beeinflußt, indem die soziale 10 Über 50 % der zum Zeitpunkt der Untersuchung bearbeiteten Projekte waren nicht dort angesiedelt, wo sie nach der komplementären Rollenaufteilung eigentlich hätten bearbeitet werden müssen. Nachfragen meinerseits ergaben, daß zumeist dem dafür zuständigen Partner das Projekt angeboten worden war, dieser aber aus Kapazitätsgründen abgelehnt hatte. 224
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Gemeinschaft die Wertigkeit und die Bedeutungszuschreibung einzelner Begebenheiten beeinflußt (Halbwachs 1985/1925: 364). Die Erinnerung des Einzelnen „hat ihren Ursprung im Denken der verschiedenen Gruppen, denen wir uns anschließen“ (Halbwachs 1967/1950: 127). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann man konstatieren, daß die Partner im Netzwerk eine kleine soziale Gemeinschaft bilden, in der sich ebenfalls eine eigene, netzwerkspezifische Wahrnehmung ihrer Vergangenheit herausgebildet hat und welche die Glieder des Netzwerks miteinander teilen. Siegfried Schmidt (1991) weist darauf hin, daß der Vergangenheit, um sie erinnern zu können, eine Ordnung auferlegt werden muß und die Ordnung, welche die Erinnerung leitet, ist wiederum ganz im Sinne von Halbwachs’ Resultat sozialer Strukturen. Schmidt zufolge gleichen sich die Organisationsmuster des Erinnerns und des Erzählens: „Die Ordnung des erzählten Geschehens ist eine Funktion des Erzählens, nicht der Ordnung des erzählten Geschehens. Im und durch Erzählen konstruieren wir die Identität der Prototypen ebenso wie die Identität des Erzählers“ (Schmidt 1991: 389). Erinnern und Erzählen koordinieren sich wechselseitig. Die Erinnerung ist insofern Produkt einer sozialen Gemeinschaft, welche das Gewesene, die gemachten Erfahrungen, ordnen und strukturieren. Erinnern läßt sich ohne weiteres als eine Form von Sensemaking im Weickschen Sinne auffassen. Das Chaos vieler einzelner vergangener Erfahrungen, Gefühle, erlebter Bilder und Ereignisse wird in eine stringente Geschichte überführt, zu der gegebenenfalls einiges hinzugedichtet und anderes weggelassen wird, und das Resultat ist dann die Erinnerung. Diese netzwerkspezifische Erinnerung kann sich deshalb von der Vergangenheit, wie sie tatsächlich stattfand, unterscheiden.11 Erstaunlicherweise wurde mir in der Tat als Geschichte der Entstehung des Netzwerks zumeist eine kurze, immer ähnliche Geschichte präsentiert, wie sie beispielhaft unten aufgeführt ist. Im Prinzip stechen daraus drei Faktoren hervor: EU-Geld als initiierende Größe, Sympathie und dann – und das ist das Überraschende – wird die Komplementarität als der Partnerschaft vorausgehende Tatsache eingeführt, die natürlich jedwede weitere Erklärungen, wie das Netzwerk entstanden ist, obsolet werden lassen: 11 In den historischen Wissenschaften gibt es die Unterscheidung von Vergangenheit und Gedächtnisgeschichte. Während sich die Geschichte im eigentlichen Sinne um die Aufklärung der Vergangenheit bemüht, befaßt sich die Gedächtnisgeschichte mit der Vergangenheit, wie sie erinnert wird (Assmann 1998: 26). In verschiedenen Arbeiten konnte so eine Differenz zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis festgestellt werden (Assmann 1998: 48ff.). 225
INNOVATION UND KOOPERATION
„Aus meiner Sicht hat es so angefangen: Es war eben EU-Geld da. […] Ich bin da mehr reingefallen. Und da hab ich gesagt, nun gut, mach ich, mal sehen, was dabei herauskommt. Ist immer schwierig genug. Mitmachen muß man, man kann nicht immer nein sagen. [...] Dann hab ich gesagt, mit geringer Kapazität steig ich ein, ganz vorsichtig. Ich wollte erst mal das Netzwerk ankukken, das da auf dem Papier steht, ob das wirklich funktioniert. Da sollte ganz viel in Sachen Zusammenarbeit gemacht werden. Die Sache hat sich dann ganz schnell bei mir geändert. […] Schon als wir die erste Besprechung hatten, das ist ein wichtiger Punkt eigentlich, das ist nämlich meine Erfahrung von früher, wenn man zusammen Forschung macht, Projekte zusammen macht, Projekte begleitet. Da merkte ich einfach, daß man auch miteinander arbeiten kann. Die persönliche Beziehung hat einfach funktioniert. Der andere Partner, bei allen Schwächen, die jeder auch hat, ist ein verläßlicher Partner, und das andere, wir machen alle was auf dem Gebiet der Lacke, aber jeder hat seine Spezialitäten, d.h. wir machen uns auch, was tödlich sein kann, keine Konkurrenz. Es gibt Überlappungen, die stören ja keinen […] Krefeld rührt die Lacke an, ich sag das mal so salopp, Enschede malt an, Applikationstechnik, Steinfurt, Münster, der Herr Messner, hat die spezielle Meßtechnik, und wir sorgen eigentlich dafür, daß der Lack hält, daß er nicht wieder runterfällt“ (Herr Clean).
Dieses Zitat enthält einen erstaunlichen Bruch, der durch einen Wechsel der Temporalform markiert wird, denn zunächst erfolgt die Erzählung in der Vergangenheitsform und wechselt ab der Darstellung der Partner als verläßlich in die Erzählform der Gegenwart, dem Präsenz, gleichwohl jedoch von der Vergangenheit erzählt wird. Erstaunlicherweise wird der Ursprung der Netzwerkkooperation in wesentlichen Teilen auf das Vorliegen der komplementären Ergänzung der Partner zurückgeführt. Es spricht viel dafür, daß wir es hier mit dem zu tun haben, was Jan Assmann als Gründungsmythos bezeichnet (Assmann 1999: 52). Der Gründungsmythos erzählt den Beginn einer sozialen Gruppe wie einem Stamm oder einem Volk. „Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen“ (ebd.: 52). Man könnte nun allerdings meinen, daß uns hier ein Fall vorliegt, bei dem umgekehrt nicht der Ursprung die Gegenwart erhellt, sondern die Gegenwart den Ursprung zu erhellen scheint. Dies wäre jedoch ein vorschnelles Urteil, denn das Netzwerk profitiert immens von einer Rekonstruktion seiner eigenen Geschichte als einer, bei der Komplementarität nicht Resultat, sondern Ausgangslage der Kooperationsbeziehung ist. Die Funktion dieser erzählten Geschichte scheint in einer Entproblematisierung der sozialen Konstruiertheit der Beziehungsstruktur zu liegen. Indem so getan wird, als hätten die Komplementaritäten schon 226
RETENTION
immer in der Sache an sich vorgelegen, wird die Gefahr gebändigt, daß Konkurrenz und Indifferenz sich als alternative Realitätsauffassung durchsetzen könnten und damit der Existenz des Netzwerks ein Ende bereiten könnten. Die erzählte Geschichte vermittelt nämlich den Eindruck, als hätten die Netzwerkpartner angesichts der Komplementärität, gekoppelt mit regionaler Nähe, eigentlich keine andere Wahl gehabt, als sich in dieser Form zusammenzuschließen. Wie Puzzleteile, die zusammengehören, haben sie sich zusammengefügt, wodurch die Entstehungsgeschichte des Netzwerks so entproblematisiert wird, daß sämtliche Fragen in bezug auf die Entstehungsgeschichte obsolet werden. Die Entstehung ist zu einer Naturnotwendigkeit geworden, zu etwas was einfach angesichts der Tatsachen auf der Hand liegt, was so sein muß, wie es ist, ohne eigentlich jemals eine andere Wahl gehabt zu haben. Es braucht und soll, ja es darf geradezu deswegen nicht hinterfragt werden. Diese Überlegungen zeigen, daß das Kooperationsnetzwerk keine faktische Vergangenheit benötigt, sondern seine Erinnerung nutzt, um sein zentrales Funktionsprinzip, nämlich Komplementarität in der Vergangenheit zu verankern, und es somit als stabil und sicher behandeln zu können, wodurch die Erinnerung das Netzwerk in die Zukunft trägt. Und genau in diesem Sinne kann man diese Erzählung der Netzwerkpartner als Gründungsmythos auffassen, in der die Gegenwart von der „fortdauernde[n], normative[n] und formative[n] Kraft“ (Assmann 1999: 52) des Mythos profitiert. Zwar schöpft sich diese Kraft aus Vergangenem, sie übersteigert, überspitzt und mystifiziert diese jedoch und nicht selten in starker Abweichung zu tatsächlich Gewesenem.12 Empirisch zeigt sich die Differenz von erlebter und erinnerter Geschichte darin, daß die Netzwerkpartner eine hohe Bereitschaft zeigten, ihre individuelle Geschichte der Entstehung des Netzwerks im Hinblick auf Komplementarität „geradezuziehen“. Passagen über Konkurrenz oder Indifferenz rutschen anscheinend nur zufällig in die Erzählung hinein. Die hohe Bereitschaft, die Vergangenheit in Richtung auf Kooperation und Komplementarität umzudeuten, führte sowohl innerhalb als auch zwischen den Interviewaussagen zu Inkonsistenzen, ein Tatbestand, der in dieser Studie wiederum als Information ausgewertet wurde.
12 So ist etwa die Figur des biblischen Moses Assmann (1998) zufolge eine Figur der Erinnerung, deren geschichtlichen Ursprung er als ägyptischen Pharao Echnaton vermutet. Assmann zeichnet die Entstehung der Erinnerung und ihre Entfernung von der Vergangenheit Schritt für Schritt anhand von Schriften, Mythen usw. nach. 227
INNOVATION UND KOOPERATION
8.2
T r a n s a c t i ve M em o r y
Als Transactive Memory wird, wie erwähnt, das Wissen über das Wissen, über Erfahrungen, über Kompetenzen und sogar über Kontakte zu weiteren Wissensträgern, über welches die Netzwerkpartner verfügen, verstanden (Wegner 1986). Die große Bedeutung der Transactive Memory für die Innovativität des Netzwerks liegt in der dadurch möglichen Verknüpfung von Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen aus unterschiedlichen Bereichen zwischen den Netzwerkpartnern und über diese auch in der Region. Das Wissen über das Wissen der anderen liegt aber nicht einfach so von sich aus vor wie in einem großen Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder nimmt, was er braucht. Die Analyse der Interviews legt nahe, daß zumindest drei der fünf dargestellten Erwartungskomplexe (Kap. 8.1) für die Entstehung und Erhaltung der Transactive Memory bedeutsam waren. Erstens hat die Definition der Netzwerkpartner als komplementäre Partner eine Schablone für das Erinnern bereitgestellt. Die komplementären Zuständigkeiten bilden sozusagen Schubladen, die als Memotechnik den Netzwerkpartnern dazu dienen, die Wissensgebiete ihrer Partner zu sortieren, und sie erlauben eine systematische Sortierung beliebig vieler weiterer Informationen. Zweitens hat die Kultur vertrauensvoller partnerschaftlicher Kooperation den Austausch von Wissen überhaupt ermöglicht und nahm insofern die Funktion des Türöffners ein. Drittens hat eine Kultur des Aufeinanderzugehens der bewußten Einbindung und Beteiligung der Partner an eigenen Projekten überhaupt erst die Gesprächskultur hervorgerufen, durch die die Transactive Memory entstehen und ihre Nützlichkeit entfalten konnte. Die beiden anderen Erwartungskomplexe bauen auf der existierenden Transactive Memory auf. Die Selbstwahrnehmung als Aktivisten der Lackbranche steigert die Offenheit und das Vertrauen, und die Innovationskultur, unvoreingenommen an Dinge heranzugehen, hängt mit dem Umstand zusammen, daß es sich bei dem untersuchten Netzwerk um ein Innovationsnetzwerk handelt. Die Verdrahtung verschiedener Wissensquellen miteinander ist aber in vielen Bereichen und nicht nur im Bereich technischer Innovationen denkbar. Die drei als soziale Voraussetzungen für das Funktionieren einer Transactive Memory genannten Erwartungskomplexe kommen im folgenden Beispiel vor, bei dem Herr Rater einen wichtigen Kontakt durch Herrn Koch vermittelt bekam: „Dann habe ich eine Untersuchung von der Oberfläche machen lassen, und dann haben wir festgestellt, aha, da gibt es ein ganz bestimmtes Eigentief […] 228
RETENTION
und dann hab ich den Herrn Koch angerufen und gefragt, ‚sagen Sie mir zu Eigentief was, Sie haben doch einen Wasserlack entwickelt, was ist denn das?’ ‚Ja sagt er, das ist ein Eigentief, das da und da eingesetzt wird, da sind die und die Stoffe drin, und da können Sie den und den fragen, der kann da weiterhelfen.’ Und dann hab ich den angerufen, und auf diesem Wege habe ich Kontakte zu drei Personen geknüpft, die jetzt auch langsam aufgebaut werden, und so wachsen diese Strukturen“ (Herr Rater).
Herr Koch hat erstens die Anfrage von Herrn Rater gerne beantwortet und seine eigenen Kontakte weitervermittelt, ohne daß er dies seinerseits als Preisgabe persönlicher Ressourcen aufgefaßt hätte und als Machtverlust oder ähnliches angesehen hätte, es handelte sich also um ein partnerschaftliches Geben und Nehmen. Weiterhin geht aus der dargebotenen Sequenz hervor, daß Herr Rater vermutete, daß Herr Koch ihm weiterhelfen könne, weil er einen Wasserlack entwickelt hatte, bei dem das Phänomen „Eigentief“ eine Rolle gespielt hatte. Herr Koch ist nach der komplementären Rollenaufteilung in der Tat der Spezialist für Lackrezepturen und damit für die Entwicklung von Lacken, und er hat sich dabei auf die Entwicklung umweltfreundlicher Wasserlacke spezialisiert. Allerdings scheint es so zu sein, daß es weder auf Grund der Spezialisierung von Herrn Koch noch aus der Laborausstattung von Herrn Kochs Labor Indizien gab, die auf ein Spezialwissen über Eigentief von Lacken hätten schließen lassen. In diesem Fall hätte Herr Rater ein Gerät, eine Maschine oder die Funktion von Herrn Koch angesprochen. Eigentief scheint kein Spezialthema von Herrn Koch zu sein, sonst wäre er auch bereits der richtige Ansprechpartner gewesen. Die Differenzierung dieses rollenkomplementären Gedächtnisschemas war Herrn Rater aber aufgrund der Gesprächskultur gelungen, denn Herr Rater wußte aufgrund eines irgendwann stattgefundenen Gesprächs über einen sehr speziellen Wasserlack dennoch, daß er bei Herrn Koch fündig werden könnte. Die rollenkomplementäre Einteilung bietet Anhaltspunkte, um aber in Spezialfragen wirklich den richtigen Ansprechpartner zu finden, ist weit mehr als oberflächliches Wissen über die Tätigkeitsbereiche der einzelnen Partner notwendig. Auch bei dem Interview mit Herrn Messner, der zum Zeitpunkt der Untersuchung des Netzwerks noch nicht lange dabei gewesen ist, war eben dieser Punkt deutlich geworden: Zunächst hatte ihm das Wissen um die Spezialgebiete und Zuständigkeiten seiner neuen Partner ausgereicht, wie er sagt: „Ich denke es ist wichtig, daß ich weiß, daß der Kollege X im Bereich der Oberflächentechnik und der Lacktechnik Spezialist ist, ich glaub nicht, daß es 229
INNOVATION UND KOOPERATION
so wichtig ist, daß ich GENAU weiß, welche neuen Erkenntnisse es nun in dem Bereich gibt“ (Interview Herr Messner).
Als es in einem späteren Teil des Gesprächs darum ging, ob das Wissen der anderen Netzwerkpartner weitergeholfen hätte, um ein bestimmtes Problem, das er im Interview angesprochen hatte zu lösen, konnte er diese Frage nicht beantworten, weil dazu ein sehr viel tieferes Wissen über die Arbeit seiner Partner notwendig gewesen wäre, über welches er aber zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht verfügte: „Nee, das weiß ich jetzt so nicht, aber dafür haben wir dann aber auch regelmäßige Besprechungen. Das [Wissen] kommt so nach und nach“ (Interview Herr Messner).
Die Interviewsequenzen zeigen also, daß eine Information über die Zuständigkeiten der anderen Partner eine grobe Kenntnis ihrer Arbeitsbereiche zwar ein orientierungsgebendes Gerüst darstellen, das aber in der Regel nicht ausreicht, um auf nützliches Wissen in einem spezifischen Fall zu schließen. Die Akzeptanz als ebenbürtige Partner und das Vertrauen, verknüpft mit der offenen, aktiven Gesprächskultur, hat das hervorgebracht, was als Transactive Memory die Quelle der Innovativität des Netzwerks wurde.
8.3
Netzwerk contra Organisationen
Durch die Einbindung im Netzwerk waren die Akteure nicht mehr wie zuvor in ihren jeweiligen Organisationen Einzelkämpfer, sondern fanden mit den Netzwerkpartnern Verbündete, mit denen sie für eine gemeinsame Sache eintraten. Die Erfahrung, daß die Verschiedenartigkeit der Kompetenzen gerade eine für jeden einzelnen Partner wichtige Ressource für Wissensfragen, für innovative Ideen sowie für Forschungskooperationen als auch für gemeinsame Bildungs- und Weiterbildungsprojekte geworden ist, hat den Blick der Netzwerkpartner geweitet. Aller Spezialisierungen zum Trotz fanden sie ihr gemeinsames Ziel in dem Gedanken, etwas für die Lackbranche zu tun, diese mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gemeinsam voranzubringen, was Herr Strater folgendermaßen in Worte faßt: „Die gemeinschaftlichen Ziele sind, daß wir für die Branche Untersuchungen machen, wir sehen Betriebe und Firmen als Kunden“ (Herr Strater).
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RETENTION
Die Folge dieser Zugehörigkeit zum Netzwerk war dann aber, daß Projekte, Forschungsideen und sogar die Anschaffung von neuen Gerätschaften, aber auch Ideen für die Gestaltung der Studiengänge, Weiterbildungen etc. nicht selten aus dem Netzwerk heraus entwickelt wurden und von den Akteuren in den jeweiligen Organisationen umgesetzt wurden. Die Geschwindigkeit der Umsetzung aber orientierte sich dann an den Netzwerkpartnern und deren Kunden und Auftraggebern und den sich daraus ergebenden Zielvereinbarungen. In den eigenen Organisationen ging es deshalb für die Netzwerkakteure immer mehr darum, die im Netzwerk initiierten und vereinbarten Aktivitäten durchzusetzen und dafür die benötigten Ressourcen ihrer jeweiligen Organisationen zu mobilisieren. Bei Stellenstreichungen, Mittelzuweisungen oder sogar Mittelkürzungen, bei der innerfakultativen Verwendung von Geldern usw. ging es den an den Fachhochschulen angesiedelten Netzwerkakteuren nicht mehr nur um Belange ihrer jeweiligen Organisation wie die Aufrechterhaltung der Qualität von Lehre und Forschung, sondern zunehmend um die Aufrechterhaltung und vor allem die Durchsetzung guter Konditionen für das Fortbestehen und den Ausbau des Netzwerks, das allerdings mit den Aufgaben der Netzwerkakteure in ihren Organisationen in positiver Weise verknüpft war. Dennoch mußten die Netzwerkakteure häufig darum ringen, Entscheidungen in ihrem Sinne in ihren jeweiligen Organisationen durchzusetzen. Für die Durchsetzung ihrer Ziele standen den Netzwerkakteuren neue durch das Netzwerk gewonnene Ressourcen zur Verfügung. Dies waren beispielsweise die erheblichen Drittmittel, die sie eingeworben hatten, die Zahl neu eingeworbener Stellen, die von Drittmitteln angeschafften Maschinen und Geräte, die neuen Kontakte zu einflußreichen Akteuren wie den Verbänden, die Steigerung der Attraktivität der Studiengänge und nicht zuletzt auch der Erfolg des Netzwerks als solches, den die Rektorate benötigten, um ihn als Erfolg für ihre Hochschulen zu verbuchen. Gerade aufgrund dieses organisationalen Interesses an der Aufrechterhaltung und am Erfolg der Netzwerkaktivitäten ergibt sich aber das Drohpotential der Netzwerkpartner, die damit drohen konnten, ihre Netzwerkaktivitäten aus der Fachhochschule abzuziehen und woanders hin zu verlagern. Gleichwohl die Spannungen zwischen den Organisationen und denjenigen Organisationsmitgliedern, die im Netzwerk aktiv sind, in den meisten Fällen nicht zu größeren Auseinandersetzungen geführt hatten, drohten die Netzwerkpartner ihrer Organisation hin und wieder, wenn auch nur scherzhaft, mit der durch das Netzwerk erzielten neuen Stärke, und dies zeigt aber gerade, daß diese Möglichkeit nicht nur bewußt war, sondern sogar eingesetzt wurde, wie es beispielsweise Herr Koch berichtete: 231
INNOVATION UND KOOPERATION
„Wenn wir die Verwaltung ärgern oder schocken wollen, dann sagen wir, ‚ja irgendwann bauen wir da unser Institut auf der grünen Wiese, wo ganz groß dran steht ECCS’, nicht? Wo die Hochschule nur noch eine kleine Rolle spielt, vielleicht, und wo das ECCS dann selber auch ausbilden darf und Diplome vergeben darf und all so was […] ja, ja, das sagen wir schon mal“ (Interview Herr Koch).
Eben in diesem neuen Selbstverständnis als starker Verbund, der in der Lage ist, eigene Ziele zu verfolgen und gegenüber den jeweiligen Organisationen auch durchzusetzen, in eben dieser Haltung zum Netzwerk als primären Ideengeber, als treibende Kraft der eigenen Arbeit zeigt sich die neu gewonnene, neu entstandene Identität als Netzwerk. Nur in einem Fall, nämlich an der Fachhochschule Enschede, kam es zu einem Streit, weil laut Aussage eines Netzwerkaktivisten der Institutsdirektor mit seinen Entscheidungsbefugnissen zu stark in die Netzwerkaktivitäten eingreifen wollte. Daraufhin verließ der gesamte Lackbereich das entsprechende Institut und siedelte sich in einem anderen Institut der Fachhochschule Enschede an: „Bis zum ersten Januar dieses Jahres waren wir ein Institut, jetzt […] passen wir nicht mehr zusammen. Mit dem Institut, Life Science and Technology, da waren wir drinnen. Der Direktor hatte direkt was zu sagen mit dem ECCS. Die Kultur paßt jetzt nicht mehr. Also, wie man auf die Welt kuckt. Wie man miteinander umgeht, die Zuverlässigkeit, das Vertrauen“ (Interview Herr Strater).
Zu dem betreffenden Institut bestanden allerdings noch Kontakte, und es wurde auch noch in bezug auf Lehrveranstaltungen kooperiert, aber die Identitätsverschiebung als Angehörige eines Netzwerks geht deutlich aus dem folgenden Zitat aus der weiteren Erzählung von Herrn Strater hervor: „Wir arbeiten mit dem Institut zusammen, aber WIR sind im ECCS“ (Interview Herr Strater).
In Enschede führten letzten Endes Auseinandersetzungen über die Ziele des Netzwerks, einerseits die Forschung zu intensivieren und andererseits die Ziele des Rektorats der Fachhochschule primär die Studentenzahlen anzuheben, zum fundamentalen Bruch und zum Ausstieg sehr aktiver Personen aus dieser Organisation, um in anderer Form die eigenen, nämlich die mit dem Netzwerk verfolgten Ziele, weiterzuführen. In letzter Konsequenz hat das Netzwerk eine Eigendynamik entwickelt, die es vorstellbar werden ließ, mit diesen Kontakten und Verbindungen auch
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RETENTION
ohne die eigene Organisation aber mit dem Netzwerk weiterhin überleben zu können.13 Gespräch zwischen Alter Ego (A.E.) und Daniela Manger (D.M.) A.E.: Hm, das ist eine interessante Geschichte, die Sie da erzählen, aber ist sie denn auch wahr? Sie präsentieren zwar Zitate und weisen auf selbst gemachte Beobachtungen und Gespräche hin, aber an sich ließe sich die Geschichte der Entstehung des Netzwerks doch auch ganz anders deuten. Also es könnte vielleicht doch so sein, wie Ihre Interviewpartner es übereinstimmend erzählt haben, daß man sich zusammengetan hatte, weil es Gelder gab und weil man bereits zueinander komplementär war und dies auch wußte. Dann hat sich die Kooperation vertieft, Vertrauen ist gewachsen. Fertig. Oder anders herum: Warum behaupten Sie, daß das was die Leute erzählen nicht stimmt, sondern daß alles ganz anders wäre. Die Inkonsistenzen, mit denen Sie das dann belegen wollen, die kann man auch anders erklären. D.M.: Stimmt. Man könnte die Geschichte auch genau anders herum erzählen, und wissen sie was? Sie wäre genau so wahr wie meine! A.E.: Wie meinen Sie das denn? Ich dachte, Sie verteidigen Ihre Sichtweise. Plädieren Sie jetzt für Willkür? D.M.: Nein das nicht. Aber wenn Sie mit einer – sagen wir mal – Rational Choice Perspektive an die Fallstudie herangehen würden, dann würden Ihnen lauter Begebenheiten im Interviewmaterial auffallen, die diese Sichtweise bestätigen und die würden Sie dann als „Beweise“ präsentieren. Die Sequenzen, die nicht zur Theorie passen, würden Sie irgendwie so erklären, daß alles zusammen ein konsistentes Bild ergibt. Das funktioniert bis zu einem gewissen Grad ganz gut. Ich denke da an ein Experiment, das Harold Garfinkel14 durchgeführt hat. Er bot eine kostenlose Therapiestunde an unter der Bedingung, daß man dem Therapeuten erstens nur Fragen stellen durfte, die dieser mit ja oder nein beantworten konnte und daß man zweitens nicht zweimal die exakt gleiche Frage stellen durfte. Die Leute haben also Fragen gestellt und Ant13 Die Sicherheit, die das Eingebundensein in das Netzwerk den Netzwerkmitgliedern gab, ist erstaunlich und erinnert an Beschreibungen von Silicon Valley, bei denen die Leute zwar die Arbeitgeber wechselten, nie aber ihre Kontakte (Rogers und Larson 1984). Natürlich wäre es vollkommen lächerlich, das hier untersuchte Netzwerk in die Nähe von Silicon Valley rücken zu wollen, aber das ist keinesfalls die Intention. Bemerkenswert ist aber doch, daß bereits bei diesem kleinen Netzwerk beachtliche Dynamiken freigesetzt wurden, die für die beteiligten Organisationen deutlich spürbar wurden. 14 Garfinkel (1967). 233
INNOVATION UND KOOPERATION
worten bekommen. Allerdings war die Abfolge von Jas und Neins vorher festgelegt. Obgleich die Leute zu ähnlichen Fragen gegenteilige Antworten bekommen haben, fanden sie das nicht seltsam, sondern informativ. Sie dachten, daß die klitzekleine Änderung in der Fragestellung den Sachverhalt für den Therapeut so geändert hat, daß er ihn aufgrund dieser Information eben genau anders bewertet hat. Wenn man Sensemaking ernsthaft betreiben will, dann gelingt das! A.E.: Sie plädieren ja für die reinste Willkür! Was ist denn dann noch eine wissenschaftliche Untersuchung wert, wenn Sie am Ende sagen, daß sie mit der gegenteiligen Theorie zwar gegenteilige, aber genau so wahre Ergebnisse bekommen hätten! D.M.: Nun ja, es gibt sicherlich Sichtweisen, für die wird man einfach keinen Wahrheitsanspruch aufrechterhalten können. Vorhersehung beispielsweise. Wenn ich das Fallbeispiel verwendet hätte, um zu beweisen, daß die Kooperation Vorhersehung war, und egal, wie sich die Akteure benehmen dieses Resultat eintreffen mußte, weil man der Vorhersehung nicht entgehen kann, dafür hätte ich keine Wahrheit reklamieren können. A.E.: Warum nicht? Da müssen Sie nun aber konsequent bei Ihrer Linie bleiben. Sie können sich damit doch ebenso eine schöne, konsistente und völlig abstruse Geschichte ausdenken! Und wie wollen Sie jetzt entscheiden, daß DIE Geschichte nicht wahr sein soll? Dahin kommt man mit Ihrer Auffassung! D.M.: Nein, nein, da gibt es schon ein Kriterium, nämlich die wissenschaftliche Gemeinschaft. Sie müssen mit Ihrer verwendeten Theorie an den Forschungsstand anschließen und die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierten Regeln wissenschaftlichen Arbeitens einhalten. Das können Sie nicht mit einer Theorie der Vorhersehung. Die Anschließbarkeit, die ist das zentrale Kriterium. Nun können Sie aber mit sehr verschiedenen Theorien gleichzeitig an den Stand wissenschaftlicher Diskussion anschließen und insofern kann man da wählen, was man mag. A.E.: Aber Sie bekommen da je nach verwendeter Theorie gegenteilige Ergebnisse, die können doch nicht gleichzeitig wahr sein! D.M.: Sie bekommen nur gegenteilige Ergebnisse, wenn Sie meinen, sie würden der Praxis eine Anleitung liefern, wie man Netzwerke gründet. Wir liefern aber nicht Anleitungen, sondern Irritation, und ob sie die bekommen, hängt nun auch ein Stück weit vom Leser und von der Leserin ab, wie sie es auffassen. Generell würde ich aber sagen, daß eine Sichtweise um so mehr irritieren kann, je weiter sie vom Alltagsdenken entfernt ist, weil dann die Überraschungseffekte größer sind.
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9 S C H L U S S B E T R AC H T U N G
Abschließend läßt sich fragen, was es denn nun gebracht hat, die Entstehung eines regionalen Innovationsnetzwerks aus der vielleicht etwas eigenwillig anmutenden Linse des interpretativen Ansatzes von Karl Weick zu beschreiben. Rekapitulieren wir zunächst einmal die eingangs gestellten Fragen: Zum einen geht es um die Frage, welches Problem die Anbahnung von Kooperation erschwert, und zum anderen geht es um die Suche nach denjenigen unpersönlichen Mechanismen, die durch die Überzeugungskraft einer Person in Gang gesetzt werden. Kann man über die Überzeugungskraft und Hartnäckigkeit eines Netzwerkgründers hinausgehend allgemeine personenunabhängige Problemlösungsmerkmale finden? Zur ersten Frage kann man resümieren, daß gleichwohl die potentiellen Kooperationspartner alle zum gleichen Oberthema arbeiteten und forschten, sich Gemeinsamkeiten bzw. Komplementaritäten dennoch nicht leicht finden ließen. Die sinnvollen wechselseitigen Bezugnahmen lagen nicht im Korridor standardisierter Schnittstellen. Oder anders ausgedrückt: Das jeweilige Wissen war untereinander nicht kompatibilisierbar. Und das heißt: ein Nutzen der Netzwerkkooperation war nicht antizipierbar und damit war auch keine große Bereitschaft vorhanden, Zeit, Mühe und Aufwand in diese zunächst künstlich durch die Mittelvergabe der EU konstruierten Partnerschaften zu investieren. Die Antizipation von Vorteilen regionaler Kooperation fällt demnach als Erklärungsmoment für die Netzwerkentstehung aus. Weder Vorteile im allgemeinen noch die inhaltliche Komplementarität der Partner im besonderen konnten zur Zusammenarbeit motivieren. Sie sind die Folge der Kooperation und wurden erst durch die Akteure selbst hervorgebracht
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INNOVATION UND KOOPERATION
und können insofern nicht zur Erklärung der Entstehung des Netzwerks herangezogen werden. Im Gegensatz zu strategisch-hierarchischen Netzwerken, die gerade wegen eines antizipierten Vorteils eingegangen werden, scheint eben dieses Antriebsmoment, um dessen Willen man bereit ist, die unter Umständen mühselige Auseinandersetzung mit dem potentiellen Partner zu wagen; bei einer wenn auch branchengleichen Ansammlung von Organisationen in einer Region durchaus zu fehlen und die Absenz eines offensichtlichen Motivs für Kooperation läßt den Schatz von vielleicht erheblichen Kooperationsvorteilen ungehoben. Das Problem lag aber in diesem Fall nicht einfach nur darin, daß den Akteuren das Risiko zu groß erschien, Zeit zu investieren, um herauszufinden wie man kooperieren könne, denn diese Zeit ist ihnen sozusagen durch Finanzentgelte der EUREGIO bezahlt worden. Das Problem lag vielmehr darin, daß die Akteure der Überzeugung waren, daß sie auch bei Investition von Zeit und Mühe keine Kooperationsmöglichkeiten finden würden. Sie standen sich nicht neutral gegenüber, sondern negativ: Die je eigenen professionellen Routinen erzeugten eine Wirklichkeitskonstruktion, durch welche die Arbeit der anderen Partner als irrelevant für die eigene Arbeit erschien. Die organisationalen Zwänge verstärkten diese negative Tendenz in Richtung auf Konkurrenz, wodurch eine Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten und den Kompetenzen der jeweils anderen potentiellen Partner vollends blockiert wurde. Ein erstes Ergebnis der Studie ist somit, daß Akteure in ihrer Region komplementäre Partner auch da entdecken können, wo sie es zunächst nicht vermutet hatten. Und zugleich ist damit das Problem benannt, was die so hartnäckigen Netzwerkgründer wie Fred Terman leisten: Sie motivieren die Beteiligten immer wieder zur Zusammenarbeit und helfen ihnen, wechselseitge Bezugspunkte zu (er)finden und die Deutungsmacht professioneller und organisationaler Sinnerzeugung zu ändern. Aber wie genau geht das vonstatten? Auch für die hier präsentierte Fallstudie der Entstehung eines regionalen Netzwerks läßt sich festhalten, daß einige Personen sich von ihren Visionen regionaler Zusammenarbeit nicht haben abbringen lassen und unermüdlich dieses Ziel verfolgt hatten, immer wieder den Kontakt gesucht und kleine Projekte angeschoben hatten. Über die Tatsache hinaus, daß man solcherart engagierte Leute braucht, wurde hier aber die Blokkierung bzw. die Deblockierung regionaler Kontakte auf allgemeine soziale Mechanismen zurückgeführt, und darin weist diese Arbeit über die eingangs beschriebenen Studien hinaus. Es waren nicht personenbezogene Gründe wie die Borniertheit, die Lethargie, der Unwille etc., wel236
SCHLUSSBETRACHTUNG
che Kooperationsmöglichkeiten blockierten, sondern vielmehr waren es soziale Mechanismen wie professionelle Routinen, die für die schnelle, richtige und gute professionelle Arbeit zwar wichtig und richtig sind, die aber paradoxerweise den Blick auf bestimmte andere Möglichkeiten verschlossen. Auch Frederick Terman – ohne sein Engagement in den Schatten stellen zu wollen – ist aber keine Ausnahmeerscheinung, sondern steht für die Notwendigkeit, das Spezialistendenken und die damit zusammenhängende Realitätskonstruktion hinter sich zu lassen und einen generellen Blick oder zumindest eine andere Perspektive auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit einzunehmen, und es sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, wie das erfolgen kann. In dieser Studie wurden drei Mechanismen aufgezeigt, durch welche es den Akteuren gelang, neue Modi des Sensemakings für sich zu entdecken: Erstens brachten in diesem Fall die Verbände und die Aktivisten der Fachhochschule in Enschede gemeinsam die Vision eines Centers ein, das erst einmal ausreichte, um ein zwar geringes aber immerhin ein Engagement auch unter den anderen Netzwerkpartnern zu erzeugen. Auf diese Weise kam Aktivität in Gang, und durch diese wiederum wurden neue Ziele gestaltet, was den Schluß nahelegt, daß man zunächst einfach jede und sei es auch noch so unwichtige oder gering bewertete Kooperationsgelegenheit nutzen sollte, um regionale Kooperation zu beginnen, da dies der Anfang für mehr und interessantere Zusammenarbeit werden kann. Es geht also um die Suche nach Motiven für Kooperation und gemeinsames Engagement. Ein solches kann auch noch in ganz anderer Gestalt gefunden werden und findet sich sicherlich in unterschiedlichen Formen. Ein besonders interessanter Kandidat für die Initiierung und Erzeugung von Commitments scheinen mir zweitens materielle Artefakte wie Maschinen zu sein, durch die unterschiedliche Akteure zusammengeführt werden. Durch die Präsenz von Maschinen oder anderen technischen Artefakten, welche die Aufmerksamkeit aller potentiellen Partner auf sich zu ziehen vermögen, kann Komplexität reduziert werden, und mögliche maschinen- bzw. artefaktbezogene Kooperationen haben es dann leichter, gestaltet zu werden oder – wenn man so will – wahrgenommen zu werden. Laborbesichtigungen, die gegenseitige Vorstellung von Maschinen und mögliche gemeinschaftliche Maschinennutzung könnten eine wichtigere Rolle als bisher für die Gründung von regionalen Kooprationsbeziehungen einnehmen. Die Rolle von Artefakten und Maschinen für die Initiierung von Kooperation ist ein noch völlig unterbelichtetes Feld und bietet einen spannenden Ausgangspunkt für weitergehende Forschung. 237
INNOVATION UND KOOPERATION
Der dritte in dieser Studie gefundene Baustein für die Entdeckung von Motiven zur Kooperation war die Entstehung von Vertrauen. Die Wichtigkeit von Vertrauen für die Ausbildung und Funktionsweise von Netzwerken ist immer wieder von verschiedenen Autoren betont worden und stellt insofern auch keine Neuigkeit dar. Allerdings wurde bisher Vertrauen zumeist als Voraussetzung thematisiert, um Kooperationsgelegenheiten wahrzunehmen, die andernfalls zu riskant gewesen wären. Neu ist deshalb die Verknüpfung von Vertrauen und dem Auffinden von Gelegenheiten für Kooperation. Neben Erkenntnissen zu den intendierten, eingangs gestellten Forschungsfragen gibt es aber noch darüber hinausgehend weitere Erkenntnisse: Als interessantes Forschungsergebnis ist beispielsweise die Balance zwischen Konkurrenz und Kooperation auf regionaler Ebene zu nennen. Konkurrenz wurde durch diese neue Sichtweise als komplementäre Partner zwar zwischen den Netzwerkpartnern beseitigt, auf regionaler Ebene war sie aber selbstverständlich noch vorhanden. Dennoch konnten aber auch miteinander konkurrierende Unternehmen über die Transactive Memory des Netzwerks und über dieses hinausreichende Kontakte nutzen und davon für sich profitieren. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß wenn eine Transactive Memory mit der dazugehörigen lebendigen Gesprächskultur eingerichtet ist, Konkurrenz konstruktiv statt zerstörerisch wirkt. Die hier eingenommene Sensemakingperspektive kann man auch als Plädoyer lesen, regionalen Wissensaustausch stärker als Konstruktion von Gelegenheiten zu sehen. Anders als die genannten Forschungsarbeiten, welche Innovationskulturen und communities of practice betrachten, fragt die Sensemakingperspektive danach, wie Inspiration gelingt und nicht Verstehen. Die Fokussierung auf die Verschiedenartigkeit von Wissenskulturen baut schnell unüberwindbare Barrieren gegen Wissensaustausch auf. Deshalb ist die hier präsentierte Fallstudie auch ein Plädoyer dafür, die Vorstellung der Objekthaftigkeit des Wissens aufzugeben, was zugleich bedeutet, grundsätzlich von der Vorstellung Abstand zu nehmen, daß Wissen zwischen Communities ausgetauscht werden könnte oder irgendwie zwischen diesen fließen könnte. Wenn man Wissen statt dessen als etwas konzipiert, das laufend produziert wird, dann ändert sich die Gesamtperspektive, und das Problem erscheint in einem anderen Licht: Anstatt nach der Menge gemeinsam geteilten Wissens zu fragen, welches benötigt wird, um sich gegenseitig verstehen zu können, ist die Frage ergiebiger, wie die Leute von dem Wissen und den Erfahrungen der Akteure fremder Communities inspiriert werden können. Welcher Art Wissen ist eigentlich inspirierend? Reichen allgemeine Mechanismen aus oder ist auch für Inspiration, für 238
SCHLUSSBETRACHTUNG
Anregung ein vertieftes Wissen voneinander nötig? Daraus folgen dann weitere noch zu erforschende Fragen: Ist es inspirierender, mit den Experten eines gleichen Feldes zu arbeiten oder mit denen verschiedener Bereiche? Gibt es ein optimales Mix? Unterscheiden sich grundlagenund anwendungsorientierte Forschung im Hinblick auf ihre Irritierbarkeit durch ähnliche bzw. verschiedene Wissenswelten? Damit stellt sich also die Frage, wie verschieden Akteure sein können, um daraus Vorteile für ihr Innovationshandeln zu erzielen. Ist es besser, wenn Akteure aus einer Branche miteinander kooperieren, sollten sie aus unterschiedlichen Spezialisierungen eines Bereichs wie die hier untersuchten Akteure stammen oder wäre auch ein Netzwerk zwischen völlig unterschiedlichen Akteuren denkbar? Wie man sieht, bieten qualitative Fallstudien aufgrund der Dichte des Materials und der damit auch bewußt zugelassenen Komplexität zahlreiche Anregungen, die den Ausgangspunkt für weitere Forschung bilden können. Darüber hinausgehend allerdings muß man sich immer auch fragen, inwieweit es auch verallgemeinerbare Ergebnisse gibt. Zur Beantwortung dieser Frage fällt zunächst auf, daß die Konstellation von organisationaler und fachlich-professioneller Deutungsebene in anderen Fällen anders gelagert sein kann und auch andere relevante Deutungshorizonte hinzukommen mögen. Zudem wurde in dieser Fallstudie die Linse der Betrachtung eng auf die Netzwerkakteure eingestellt, wodurch die netzwerkgünstigen Bedingungen in der Umwelt des betreffenden Netzwerks nicht weiter betrachtet wurden, die es aber durchaus auch gab wie beispielsweise zahlreiche Kontakte zu anderen, weiteren Institutionen, die die Netzwerkakteure immer wieder unterstützt haben. Ebenfalls wurden auch die Marktbedingungen nicht weiter in die hier dargebotene Analyse einbezogen. Dies mögen alles gewichtige Gründe sein, weshalb generalisierte Regeln und typische Muster für die Entstehung von Netzwerken aus dieser Fallstudie nicht abgeleitet werden können. Allen diesen Einwänden zum Trotz konnte aber immerhin verdeutlicht werden, daß Netzwerke sich nicht von selbst bilden, sondern die spezifischen sinnvollen Verknüpfungen und Ergänzungen, von denen die Netzwerkakteure profitieren, erst durch diese selbst hervorgebracht werden müssen. Dabei werden immer Widerstände zu überwinden sein, die gerade diese sinnvollen Verknüpfungen abblenden, denn insbesondere für die Entstehung regionaler Netzwerke gilt, daß die Region ja zumeist schon vorher mit zahlreichen Beziehungen aber ohne das zu gründende Netzwerk existent war. Neben der Reflexion des Irritationspotentials für die Erforschung der Entstehungsbedingungen regionaler Netzwerke bzw. regionaler Cluster soll aber auch der verwendete theoretische Bezugsrahmen, das Modell 239
INNOVATION UND KOOPERATION
des Organisierens rückblickend daraufhin reflektiert werden, inwieweit es sich als beobachtungsleitendes Konzept erwiesen hat. Weil nun mit dieser Studie der besondere Fall vorlag, daß ökologischer Wandel durch die eigene Gestaltung hervorgerufen wird und sich diese beiden Phasen dann nicht mehr analytisch sauber trennen lassen, wurden diese beiden Phasen zusammen behandelt, wodurch nur drei der vier Phasen des Modells des Organisierens betrachtet wurden. Die vierte Perspektive wurde durch die Ausgangslage „Blockierung“ gebildet. Diese vier verwendeten Phasen haben sich als jeweils eigenständige, gut voneinander trennbare Perspektiven bewährt. Die Phaseneinteilung des Modells des Organisierens hat dazu geführt, daß in der Tat je spezifische aber ganz verschiedene Blickwinkel auf den Entstehungsprozeß des Netzwerks geworfen wurden, wodurch auch der Komplexität eines solchen Entstehungsprozesses ein Stück weit Rechnung getragen werden konnte. Angesichts dessen, daß dieses Analyseraster sich so gut bewährt hat, ist es erstaunlich, daß dieses m.E. die einzige Arbeit ist, in der es jemals konsequent eingesetzt worden ist. Weick selbst hat in seinen empirischen Studien jeweils nur eine dieser Phasen behandelt, obgleich oft auch andere Aspekte mit erwähnt wurden. Studien, die Weicks Ansatz als Analyseraster wählen, beziehen sich oft überhaupt nicht auf das Modell des Organisierens, sondern fragen eher nach dem Zustandekommen einer bestimmten Realitätsauffassung (vgl. etwa die Studie von Snook 2000). Man muß allerdings konstatieren, daß wir es mit dieser Fallstudie mit einem evolutionären Prozeß zu tun haben, wodurch die einzelnen Phasen in besonderer Weise zur Geltung kommen können, da sie einzelnen Entstehungsphasen des Netzwerks zugeordnet werden können. Damit ist bereits ein weiterer Punkt angesprochen: Weicks Ansatz des Organisierens eignet sich für weit mehr Themen als lediglich für die Untersuchung von technischen Versagensfällen oder umgekehrt für die Frage, warum eine Organisation so gut funktioniert, daß technisches Versagen dort nicht vorkommt. Denkbar wären auch ganz andere Einsatzgebiete wie in der Wissenschaftsforschung etwa. Gerade bei der Fabrikation von Erkenntnis im Wissenschaftssystem ist zu erwarten, daß die Phasen des Modells des Organisierens hintereinandergeschaltet relevant werden, wenn sich konkreter an eine wissenschaftliche Wahrheit herangetastet wird. In jedem Fall bleibt festzuhalten, daß es nicht an der Inpraktikabilität oder Komplexität dieses Modells liegt, wenn es so selten zum Einsatz kommt, und es bleibt zu hoffen, daß es seine Blütezeit nicht schon hinter sich, sondern noch vor sich hat. Auch ein anderes Konzept von Weick würde es verdienen, stärker als bisher wahrgenommen zu werden, nämlich das Konzept der doppel240
SCHLUSSBETRACHTUNG
ten Interakte, mit dem sich Handlungen und Kommunikation immer als Produkt sozialer Gemeinschaften behandeln lassen. Abgesehen von den Interaktionsstudien Erving Goffmans, der die Interaktionsordnung auch auf soziale Prozesse zurückführt (vgl. zusammenfassend Goffman 1983), war dieses Konzept von Weick eigentlich seiner Zeit voraus. Selbst Luhmanns Theorie sozialer Systeme erschien deutlich später, in welcher der gleiche Grundgedanke steckt, daß Kommunikation nämlich nicht von einzelnen Individuen ausgeht, sondern zwischen diesen im Sozialen entsteht. Betrachtet man Weicks empirische Studien, so scheint der zentrale Gedanke, den Weick aus dem Konzept der doppelten Interakte weiterverfolgt hat, der zu sein, daß Wahrnehmungsprozesse und Handlungen überwiegend sozial gestaltet werden. Im Unterschied zu dieser Präferenz von Weick stand in dieser Arbeit allerdings ein anderer Aspekt im Vordergrund, der sich ebenfalls aus dem Theorem doppelter Interakte ergibt, sich aber in den Schriften von Weick m.E. so nicht findet, nämlich die Überlegung, daß Motive Produkt sozialer Prozesse sind. Dieser Gedanke bildete für diese Studie einen zentralen Beobachtungspunkt, und die Änderung bzw. die Dynamisierung der Gestaltung von Motivmöglichkeiten konnte damit gut herausgearbeitet werden. Die Untersuchung der Gestaltung von Motiven und Motivmöglichkeiten, die Erzeugung von Commitments, all dies sind interessante Möglichkeiten, für die man das Konzept ohne weiteres und sehr fruchtbar einsetzen kann. Zuletzt ist aber doch noch zu erwähnen, daß es in der Studie einen Punkt gab, an dem ohne den Rückgriff auf ein anderes theoretisches Konzept kein Weiterkommen war. Dies betraf die Bedeutung der Maschinen für die Initiierung von Kooperation. Nicht nur Weicks Modell, auch fast alle soziologischen Theorien beschränken ihre Handlungsoder Kommunikationstheorie auf Soziales, auf menschliche Akteure. Wenn Technik aber nur noch als unspezifische Irritation erscheint oder nicht mehr als eine Idee im Denken oder in der Kommunikation von Menschen, über die sich Menschen in Sensemakingprozessen klar werden (Weick), dann können eine Reihe von Sachverhalten nicht angemessen oder nur in einer Schieflage mit Übergewicht zum Sozialen erfaßt werden. Der Rückgriff auf Bruno Latour und Michel Callon, um in diesem Fall Technik als Aktant behandeln zu können, ist zugegebenermaßen keine befriedigende Lösung, denn besser wäre es, diese Möglichkeit technischer Aktanten bereits grundlegend in der Theorie zu berücksichtigen. Ob allerdings Bruno Latours Theorie wiederum die Komplexität und Elaboration vorhandener sozialer Theorien erreicht, steht in Frage.
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AB K Ü R Z U N G S V E R Z E I C H N IS
DFO BImSchV ECCS EGL EUREGIO
INTERREG VISEM VOM VVVF
Deutsche Forschungsgesellschaft für Oberflächenbehandlung Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes European Center for Coatings and Surface Technology Europäische Gesellschaft für Lackiertechnik Grenzübergreifender Zusammenschluß von 140 deutschen und niederländischen Gemeinden, Städten und Kreisen. EU-Initiative für länderübergreifende Kooperationen Vereiniging Industriele Spuit- en Moffelbedrijven (Verein für industrielle Lackier- und Emaillierfirmen) Vereiniging voor Oppervlaktetechnieken van Materialen (Verein für die Oberflächenbehandlung von Materialen) Vereiniging van Verf- en Drukinktfabrikanten (Vereinigung für die Farb- und Druckhersteller)
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Technik – Körper – Gesellschaft Regula Valérie Burri Doing Images Zur Praxis medizinischer Bilder 2008, 344 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-887-2
Ingo Rollwagen Zeit und Innovation Zur Synchronisation von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik bei der Genese der Virtual-Reality-Technologien 2008, 248 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-899-5
Paul Ferdinand Siegert Die Geschichte der E-Mail Erfolg und Krise eines Massenmediums 2008, 360 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-896-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-03-09 11-46-01 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c1204497736368|(S.
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) ANZ1078.p 204497736376