Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik: Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930-1932/33 [1 ed.] 9783428487103, 9783428087105

Die Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren der Weimarer Republik gilt als ein entscheidender Faktor für den Untergang

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German Pages 282 Year 1997

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Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik: Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930-1932/33 [1 ed.]
 9783428487103, 9783428087105

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HAK-IE KIM

Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 50

Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik

1930-1932/33

Von

Hak-Ie Kim

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kim, Hak-Ie: Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik : die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930-1932/33/ von Hak-Ie Kim. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 50) Zug!.: Bochum, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08710-0

Alle Rechte vorbehalten

© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-08710-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 i§

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel "Die Konjunkturpolitik am Ende der Weimarer Republik. Die Debatte zwischen Industrie, Reichsregierung und Reichsbank 1930-1932/33", im Februar 1994 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Mein erster Dank gilt der Konrad-Adenauer-Stiftung, die mir durch ein mehrjähriges Stipendium mein Studium und meine Forschungsarbeit in Deutschland erst ermöglichte. Besonders verpflichtet bin ich meinem Lehrer und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans Mommsen, der meine Arbeit anregte und immer wieder mit Geduld und Aufmunterung begleitete. Große Hilfe und Zuspruch erhielt ich in vielen Gesprächen auch von Herrn Prof. Dr. Dietmar Petzina, der zugleich die Arbeit des Korreferenten übernahm. Herrn Prof. Dr. Wolfram Fischer gebührt mein Dank dafür, daß er meine Arbeit in die von ihm betreuten "Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte" aufnahm. Ohne den Rat und die Hilfe vieler Institutionen und Einzelpersonen hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Aus der Vielzahl der Archive, deren Leiter und Mitarbeiter durch ihr Entgegenkommen die Arbeit erleichterten, sind stellvertretend das Haniel Archiv, das Historische Archiv der Friedrich Krupp GmbH, das Bayer Archiv und die Standorte des Bundesarchivs in Koblenz und Potsdam zu erwähnen. Für ihre Mühen, das Manuskript zu lesen und sprachliche Unebenheiten zu verbessern, schulde ich meinen Freunden Dr. Werner Plume, Dr. Mani Grieger, Gabriele Lotfi (geb. Berthold), Michael Nauen und Thomas Meschkapowitsch großen Dank, die mir auch das Alltagsleben an einer deutschen Universität stets erleichtert haben. Herrn Achim Brünger danke ich für seine Hilfe bei der stilistischen Überarbeitung des Textes, die durch einen Zuschuß des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft ermöglicht wurde. Von Herzen danke ich auch meinen koreanischen Freunden, namentlich Yu-Kyung Kim und Byung Jik Ahn, die sich als freundliche Begleiter meines Studiums erwiesen. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Jong-Soo, die meinen Ausführungen über das ihr so fremde Thema geduldig und oft mit Interesse folgte, manchmal sogar über Nacht. Sie war und ist der Glücksfall meines Lebens überhaupt. Widmen möchte ich diese Arbeit aber meinen Eltern, die mich über viele Jahre in jeder Hinsicht unterstützt haben und dabei nur meine Wünsche und Ziele vor Augen hatten. Pusan, Korea, im Mai 1997

Hak-Ie Kim

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ...................................................................... .

II. Hans Luther und die Großindustrie in den späten zwanziger Jahren ..............

II

I. Die Reichsreformbewegung und ihre Unterstützung durch die Industrie ......

II

2. Die "Schaltstelle" der Reichsreformbewegung: Gründung und politische Tatigkeit des Lutherbundes .....................................................

20

3. Die konzeptionelle Ausrichtung des Lutherbundes auf den Antiparlamentarismus .......... ............... .................................................

30

III. Die konjunkturpolitische Diskussion am Vorabend der Bankenkrise .............

48

I. Der deflationspolitische Konsens zwischen Politik und Wirtschaft vor der Zerreißprobe ...................................................... . . . . . . . . . . .

48

2. Erste Ansätze einer expansiven Wirtschaftspolitik in der Industrie. . . . . . . . . . . .

59

3. Das Auseinanderbrechen des deflationspolitischen Konsenses innerhalb der Reichsregierung und die kreditpolitische Haltung Luthers ....................

67

IV. Die Auseinandersetzungen um eine expansive Konjunkturpolitik im Umfeld der Bankenkrise während des Sommers 1931 ........................................

82

L Die Haltung Luthers während der Bankenkrise ...............................

82

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank ..............

90

V. Die konjunkturpolitische Diskussion von der Bankenkrise bis zur Pfundabwertung ............................................................................. 104 I. Die Forderung der Industrie nach einer aktiven Konjunkturpolitik der Reichsregierung .................................................................... 104

2. Die konjunkturpolitischen Auseinandersetzungen auf der Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 .......................... 123

VIII

Inhaltsverzeichnis

VI. Der Verlauf der konjunkturpolitischen Diskussion von der Pfundabwertung bis zum Jahresende 1931 ............................................................ 134 1. Der konjunkturpolitische Immobilismus der Industrieverbände ............... 134 2. Der Vorstoß Warmbolds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats .......... 146 VII. Der Fortgang der konjunkturpolitischen Diskussion in der ersten Jahreshälfte 1932 ............................................................................ 163 1. Die Initiative Krupps und die Beratungen des RDI über die Wirtschaftspolitik

163

2. Die Auseinandersetzungen um den Wagemann-Plan .......................... 173 3. Die Beratungen des Reichskabinetts über die Arbeitsbeschaffung und die Haltung Luthers im Frühjahr 1932 ............................................... 183 VIII. Die konjunkturpolitische Diskussion in den letzten Monaten der Weimarer Republik ............................................................................. 193 1. Die Option der Industrie für eine expansive Konjunkturpolitik im autoritären Staat. . ... . . . .. . . . .. . . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . 193 2. Die Konjunkturpolitik der Regierungen Papen und Schleicher und die Reaktion Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209 IX. Zusammenfassung .............................................................. 231

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238

Abkürzungsverzeichnis ADGB AdR AfS BAK BAP BASF BIZ BVP CDBB Compri-Bank Danat-Bank DDP Dedi-Bank DIHT DNVP DVP GHH GuG GWU HdSW HZ Ifago IfZ IG Farben IHK

IWK Jg. Langnamverein MAN NL NotVO NSDAP RDI RGBI

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Akten der Reichskanzlei Archiv für Sozialgeschichte Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam Badische Anilin- und Soda-Fabrik Bank für Internationalen Zahlungs ausgleich Bayerische Volkspartei Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes Commerz- und Privatbank Aktien-Gesellschaft Darmstädter- und Nationalbank Kommandit-Gesellschaft auf Aktien Deutsche Demokratische Partei Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft Deutscher Industrie- und Handelstag Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Gutehoffnungshütte Aktienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Historische Zeitschrift Industrie-Finanzierungs-Aktiengesellschaft-Ost Institut für Zeitgeschichte I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft Industrie- und Handelskammer Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung Jahrgang Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg Aktiengesellschaft, Augsburg Nachlaß Notverordnung Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Reichsverband der Deutschen Industrie Reichsgesetzblatt

x RLB RM RWE RWR SPD St. Abt. VDA VDESI VDMA Vfz VSWG WRV WTB

Abkürzungsverzeichnis Reichslandbund Reichsmark Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG, Essen Vorläufiger Reichswirtschaftsrat Sozialdemokratische Partei Deutschlands Statistische Abteilung der Reichsbank Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Weimarer Reichsverfassung Woytinsky-Tarnow-Baade-Plan

J. Einleitung Das politische Verhalten der Großindustrie in der Weltwirtschaftskrise ist seit langem Gegenstand heftiger Kontroversen über die Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik und der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Der Grund ist naheliegend: sucht man die Ursachen dieser politischen Umwälzung nicht nur im Verhalten der politischen Parteien sowie der Einflußnahme der Kamarilla um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, sondern wendet man sich auch dem grundsätzlichen Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu, dann erscheint der Untergang der Weimarer Republik letztlich auch als ein Ergebnis des gesellschaftlichen Legitimitätsverlusts der politischen Eliten. 1 Da der "korporative Pluralismus", der den Interessenausgleich zwischen den gesellschaftlichen Kräften prägte sowie die Einflußmöglichkeiten der Wirtschaft auf die Politik in der Weimarer Republik kennzeichnete, die Großindustrie in der Endphase der Weimarer Republik in eine innenpolitische Veto-Position brachte 2 , konnte die Weimarer Republik nur solange ihre Stabilität bewahren, wie die Industrie die pluralistische und sozialstaatliche Verfassungs- und Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik zu akzeptieren bzw. zu stützen bereit war? Gerade in den Krisenjahren 1930 bis 1933 kam daher dem Verhältnis zwischen Staat und Industrie eine besondere Bedeutung zu. Die vorliegende Untersuchung verfolgt die Absicht, anhand einer Analyse der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland während der Weltwirtschaftskrise das Verhältnis und die gegenseitige Einflußnahme von Industrie und Staat vor 1933 nachzuzeichnen und damit einen Beitrag zur Klärung der Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik zu leisten. Während der Staat zur Ausarbeitung und Durchführung seiner wirtschaftspolitischen Krisenstrategie die Unterstützung der über erheblichen gesellschaftspolitischen Einfluß verfügenden wirtschaftspolitischen Interessenverbände benötigte, stellte andererseits die staatliche 1 Vgl. E. Rosenhaft u. W. R. Lee, State and Society in Modem Gennany: Beamtenstaat, Klassenstaat, Wohlfahrtsstaat, in: dies. (Hrsg.), The State and Social Change in Germany, 1880-1980, New York 1990, S. I. 2 Vgl. B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978, S. 17, im Anschluß an Ch. S. Maier, Recasting Bourgeois Europe, Princeton University Press 1975. 3 H. Mommsen hebt hervor, daß die Weimarer Republik nur solange lebensfähig war, "als im bürgerlichen Lager die Bereitschaft bestand, einen Ausgleich mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft zu suchen". H. Mommsen, Sozialdemokratie in der Defensive. Der Immobilismus der SPD und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: derselbe (Hrsg.), Sozialdemokratie zwischen Klassenkampf und Volkspartei, Frankfurt a.M. 1974, S. 107.

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I. Einleitung

Depressionsbekämpfung, also eine erfolgreiche Konjunkturpolitik, für viele Unternehmen eine Überlebensfrage dar. Schließlich wurde die wirtschaftspolitische Diskussion noch dadurch belastet, daß die Bekämpfung des Staatsinterventionismus vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen - allem voran der staatliche Eingriffe in die Wirtschaft in den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1916 bis 1923 als ein vorrangiges Ziel der großindustriellen Interessenpolitik galt. 4 Die liberale ordnungspolitische Auffassung, die nicht nur von der Industrie, sondern auch von der Wissenschaft und den Wirtschafts- und Finanzressorts des Reiches weitgehend geteilt wurde, fand ihre konjunkturpolitische Entsprechung in der Deflationspolitik des Reichskanzlers Heinrich Brüning. Gemäß der in der klassischen Nationalökonomie entwickelten Hypothese von der inhärenten Stabilität des marktwirtschaftlichen Systems wird jede Krise bei freiem und funktionierendem Preismechanismus im Marktgeschehen von selbst behoben und ist als eine Gesundschrumpfung bzw. eine durchaus notwendige Reinigungskrise anzusehen, da sie entweder auf exogene Umstände - wie staatliche Eingriffe - oder endogene Faktoren - z. B. in der Hochkonjunktur entstandene Disproportionalitäten in den Produktions- und Verteilungsstrukturen - zurückzuführen sei. 5 Dieser Sichtweise fügte sich die Deflationspolitik Brünings nahtlos ein: der Staat sollte einerseits Störungen der freien Preisbildung - dazu wurden etwa das Tarifvertragssystem, soziale Absicherungen der Arbeitnehmer sowie das Kartellwesen gezählt - beseitigen und einen entsprechenden Effekt durch die Senkung von Löhnen und Preisen erzielen; andererseits sollte die öffentliche Finanzpolitik darauf ausgerichtet sein, Einwirkungen des Staates auf die Wirtschaft zu neutralisieren, indem der Staat "der Wirtschaft genau das wiedergebe, was er ihr entziehe,,6, mit anderen Worten also Parallelpolitik betreiben, d. h. konjunkturbedingte Einnahmeverluste durch Ausgabenkürzungen im Etat ausgleichen. Der deflationspolitsche Konsens zwischen Wirtschaft und Staat ist jedoch nicht nur auf das in Kreisen der Großindustrie verbreitete Leitbild einer "staatsfreien Wirtschaft" und die Dominanz der klassischen Konjunkturtheorie zurückzuführen, sondern auch darauf, daß die prozyklische Konjunkturpolitik mit den politischen Zielsetzungen der staatlichen Instanzen und der Industrie im Einklang stand. Brüning wollte im Einvernehmen mit der Reichsbürokratie die Depression und die Deflationspolitik zur Streichung der Reparationen und zur Beseitigung der föderativen Struktur des Reiches instrumentalisieren, wobei die deflationistische Finanzpolitik zum einen die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands unterstreichen sollte und 4 Vgl. G. D. Feldman, Aspekte deutscher Industriepolitik am Ende der Weimarer Republik 1930-32, in: K. Holl (Hrsg.), Wirtschaftskrise und liberale Demokratie, Göttingen 1978, S.110ff. 5 Vgl. W. Glastetter, Konjunkturpolitik. Ziele, Instrumente, alternative Strategien, Köln 1987, S. 129 ff. 6 Vgl. H. Sanmann, Daten und Alternativen der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Ära Brüning, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik \0 (1965), S. 130.

I. Einleitung

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zum anderen als Instrument zur finanziellen Aushöhlung der Länder und Gemeinden eingesetzt wurde. 7 Die großindustrielle Krisenstrategie war demgegenüber darauf gerichtet, die Länder und Gemeinden im Zuge der Verwaltungs- und Reichsreform parlamentarisch - und damit auch finanzpolitisch - zu entmachten und zugleich die in der Kriegs- und Nachkriegszeit erheblich gestiegene Staatsquote herabzusetzen. Darüber hinaus verfolgte sie das Ziel, mit Hilfe der Losung der Krisenbekämpfung das kollektive Tarifrecht aufzulockern und das staatliche Schlichtungswesen zu beseitigen, was auf die Entmachtung der Gewerkschaften und schließlich auf die Zerstörung der parlamentarischen und sozialstaatlichen Errungenschaften der Weimarer Republik hinauslief. 8 Der deflationspolitische Konsens begann etwa seit Mai 1931, als sich die Finanzpolitik Brünings trotz der rigoros betriebenen Ausgabenkürzungen bei gleichzeitigen Einnahmenerhöhungen als Fehlschlag erwies, beschleunigt seit der Bankenkrise im Juli 1931, mit der die Depression in eine qualitativ andere Phase eintrat, abzubröckeln, und die antizyklische Konjunkturpolitik bot sich nun stärker als alternatives Konzept an. Die Exponenten einer expansiven Konjunkturpolitik stellten die Selbstheilungslehre der klassischen Ökonomie fundamental in Frage, indem sie die darin enthaltene Gefahr eines Unterbeschäftigungsgleichgewichtes betonten, die eine aktive Intervention des Staates in den Konjunkturverlauf notwendig erscheinen ließ. 9 Diese "Keynesianer vor Keynes" sahen die Mittel zur Überwindung der "deflatorischen Nachfragelücke" vor allem in der staatlichen Arbeitsbeschaffung, durch welche "neue Arbeitsleistungen in den volkswirtschaftlichen Kreislauf' so eingesetzt werden sollten, daß sich daraus eine "erweiterte Arbeitsgelegenheit" und eine "Ausdehnung des bestehenden Finanz- und Güterkreislaufes" ergab. 10 Zielten die fiskalischen Krisenrezepte darauf ab, durch öffentliche Investitionen das volkswirtschaftliche Auftragsvolumen zu vermehren, so gingen die vornehmlich monetär orientierten Reformer davon aus, daß die Depression in erster Linie durch die Erhöhung der Geld- und Kreditmenge überwunden werden könne. Diese Vorstellung, die sich gleichermaßen als keynesianisch wie auch als monetaristisch bezeichnen läßt,11 erfreute sich breiter Unterstützung der Industrie, 7 Vgl. H. Mommsen, Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, in: G. Jasper (Hrsg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, Frankfurt a.M. 1976, S. 81 ff. 8 Vgl. B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln". Deflationspolitik als Krisenstrategie der Unternehmer in der Ära Brüning, in: GuG 11 (1985), S. 295 ff. 9 Vgl. W. Glastetter, Konjunkturpolitik, S. 155 ff. 10 Vgl. K. Schiller, Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung in Deutschland, Berlin 1936, S.lOf. 11 Es ist wenig sinnvoll, vordergründig monetär orientierte Reformvorstellungen jener Zeit entweder als streng keynesianisch oder monetaristisch zu charakterisieren, zumal J. M. Keynes selbst seit der Verbreitung der Ansätze von Milton Friedman in den 1970er Jahren, der auf die enge Korrelation von Volkseinkommen und Geldmenge hingewiesen hat, immer häufiger monetaristisch interpretiert wird. Bei der vorliegenden Arbeit wird eine bestimmte Vorstellung nur insofern als monetaristisch bezeichnet, als sie die Erhöhung des Geldangebots

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I. Einleitung

da das mangelnde Geldangebot seit der Bankenkrise die prägende Erscheinung der Depression darstellte. Da sich der konzeptionelle Wandel von der prozyklischen und kontraktiven zur antizyklischen und expansiven Konjunkturpolitik sowohl in der Theorie als auch in der Praxis bis zum Septemberprogramm des Kabinetts Papen bzw. spätestens bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten vollzog,12 versucht die vorliegende Studie diesen Wandlungsprozeß zu verfolgen und dabei herauszuarbeiten, wer sich unter den Kabinettsmitgliedern und den Repräsentanten der Industrie wann von der Deflationspolitik abwandte, aus welchen Gründen einige von ihnen der Arbeitsbeschaffung bzw. der Geldmengensteuerung Vorrang einräumten, welche von diesen beiden Konzeptionen größere Resonanz fand, wann und aus welchen Anlässen dieser Wandlungsprozeß beschleunigt bzw. abgebremst wurde und welche Widerstände von wem und aus welchen Motiven dagegengesetzt wurden. Diese Fragen sollen aber nicht allein anhand der Analyse der konjunkturpolitischen Stellungnahmen, sondern vor allem im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Staat und Industrie beantwortet werden, weil die Haltung und die Kontakte der führenden Vertreter der Wirtschafts verbände zur jeweiligen Reichsregierung zu den wichtigsten Voraussetzungen der politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung gehörten und ihre wirtschaftspolitischen Darlegungen darüber hinaus nicht uneingeschränkt als ihre tatsächliche Überzeugung angesehen werden dürfen. 13 Da der deflationspolitische Konsens mit den staatlichen und großindustriellen Krisenstrategien im finanz-, sozial- und verfassungspolitischen Bereich eng verbunden war, mußte eine konzeptionelle Umkehr zur expansiven Konjunkturpolitik mit den politischen Zielsetzungen kollidieren. Diesem Zusammenhang wendet sich die vorliegende Arbeit mit dem zweiten Fragenkomplex zu, nämlich der Wechselwirkung zwischen ökonomischer und politischer Krisenstrategie, und geht den Fragen nach, ob bzw. inwiefern die politischen Zielsetzungen hemmend auf die Herausbildung bzw. Artikulierung konjunkturpolitischer Konzeptionen einwirkten, wer von den maßgeblichen Politikern und Unternehmern den politischen Krisenstrategien oder der Konjunkturpolitik Vorrang einräumte, welche Konsequenzen für den Schlüssel zur Überwindung der Krise hielt, eine direkte Intervention des Staates in den Konjunkturverlauf mit finanzpolitischen Instrumenten aber zugleich ausschloß. Vgl. H. James, Gab es eine Alternative zur Wirtschaftspolitik Brünings? in: VSWG 70 (1983), S. 534; V. Hentschel, Große Depression und Wirtschaftspolitik. Sachzwänge und Handlungsspielräume der Großmächte, in: W. Fischer (Hrsg.), Sachzwänge und Handlungsspielräume in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit, St. Katharinen 1985, S. 13 ff. 12 Vgl. D. Petzina, Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik 1932/33, in: va 15 (1967), S. 18 ff; ders., Elemente der Wirtschaftspolitik in der Spätphase der Weimarer Republik, va 21 (1973), S. 127 ff. 13 R. Neebe und M. Grübler haben klar herausgearbeitet, daß die Protagonisten der Wirtschaftsverbände beinahe wie aktive Politiker handelten, und daß ihre Stellungnahmen zu Sachfragen auch im wesentlichen politisch bedingt waren. Vgl. R. Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, Göttingen 1981; M. Grübler, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning, Düsseldorf 1982.

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dies für die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Industrie und für die Auflösung der Weimarer Republik hatte und schließlich, ob und gegebenenfalls unter welchen politischen Rahmenbedingungen die großindustrielle Krisenstrategie und die Orientierung auf eine expansive Konjunkturpolitik miteinander vereinbar gewesen wären. Die Untersuchung des konjunkturpolitischen Wandlungsprozesses im Zusammenhang des Verhältnisses von Staat und Industrie soll Aufschlüsse darüber liefern, ob bzw. wie der wirtschaftspolitische Konsens über eine expansive Konjunkturpolitik, nachdem der deflationspolitische Konsens wegen des Krisenverlaufes schwer erschüttert worden war, bereits während der Kanzlerschaft Brüning hätte (wieder)hergestellt werden können. Da die großindustriellen Interessen bzw. Auffassungen meist in den internen Diskussionen der einzelnen Wirtschaftsverbände erörtert wurden, schien die Berücksichtigung des Meinungsbildungsprozesses innerhalb der Verbände unerläßlich. So werden bei der vorliegenden Studie die internen Diskussionen der Spitzenverbände der Wirtschaft, des RDI und des DIHT, und des politisch einflußreichen schwerindustrielIen Regionalverbandes Westdeutschlands, des Langnamvereins, systematisch ausgewertet. Da Großunternehmen auch ohne verbandsförmige Repräsentation gegenüber den staatlichen Instanzen ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Auffassungen Geltung verschaffen, andererseits aber auch an Integrationskraft und somit an Einfluß gegenüber dem Staat einbüßen können - wie das Beispiel des Langnamvereins zeigt, der nach dem Rücktritt des Vorsitzenden Paul Reusch Ende März 1930 seine bisherige Funktion als zentrale Koordinationsstelle bei der Interessenvertretung der westdeutschen Schwerindustrie weitgehend verlor 14 -, wird hier überdies versucht, die konjunkturpolitischen Vorstellungen einzelner politisch einflußreicher Schwerindustrieller zu rekonstruieren. Neben der Analyse des konjunkturpolitischen Willensbildungsprozesses der Industrie und der Reichsregierung und der Interdependenz der konjunkturpolitischen und verfassungspolitischem Konzeptionen verfolgt die Arbeit das Ziel, die konjunkturpolitischen Optionen jener Zeit präzise darzustellen und die Verflechtung zwischen Industrie und Staat zu verdeutlichen; im Rahmen der Darlegung der internen Debatte der Reichsregierung sollen die wirtschaftspolitische Konzeption sowie die krisenpolitische Strategie des Reichsbankpräsidenten Hans Luther herausgearbeitet werden. Die ausführliche Würdigung Luthers hängt zunächst mit seiner zentralen Position als Reichsbankpräsident zusammen, dessen geldpolitische Kompetzenzen den konjunkturpolitischen Programmen enge Grenzen setzten. Hinzu kam, daß er als Vertrauensmann der Großindustrie auch auf der informellen Ebene einen nicht unbedeutenden Einfluß besaß. 15 Da er schließlich die Reichsreform in Übereinstimmung mit der Reichsregierung und der Industrie als eine der dringendsten verfassungs- und auch wirtschaftspolitischen Aufgaben betrachtete, können Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 37. Vgl. Niederschrift Jäneckes über eine Unterredung mit Luther, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 31, S. 80 f. 14 15

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I. Einleitung

anband einer Analyse seiner Position die Konfliktsituation zwischen politischer Strategie und konjunkturpolitischer Konzeption, konjunkturpolitische Konvergenzen und Divergenzen mit der Industrie und das Ausmaß des großindustriellen Einflusses auf die staatliche Wirtschaftpolitik auf programmatischer und praktischer Ebene beispielhaft untersucht werden. Vor dem Hintergrund dieser Leitperspektive scheint es zunächst sinnvoll, anhand einer Analyse des "Bundes zur Erneuerung des Reiches" herauszuarbeiten, welche gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Implikationen die angestrebte Reichsreform für die Industrie und für Luther selbst seit Ende der 20er Jahre hatte (Kapitel 11).16 Des weiteren erfordert der Versuch, Verlauf und Wandel der konjunkturpolitischen Diskussion genau zu rekonstruieren, eine chronologische Untersuchung, die die für die konjunkturpolitische Debatte bedeutsamen Ereignisse, nämlich die Bankenkrise im Sommer 1931, die Pfundabwertung im September 1931 und den Erlaß der NotVO vom 8. Dezember 1931, in die Darstellung integriert. Die jeweilige Phase wird wiederum systematisch gegliedert, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Diskussionen auf der Ebene der Politik und der Industrie und deren Wechselwirkung klar herauszustellen, wobei Luther mit Rücksicht auf seine Schlüsselposition bei der Willens bildung der Reichsregierung eine ausführliche Beachtung findet (Kapitel III-VII). Ein Gesamtbild des wirtschaftspolitischen Wandlungsvorgangs in der Endphase der Weimarer Republik entsteht aber erst durch die Klärung der Umstände, unter denen das Septemberprogramm des Kabinetts Papen und das Sofort-Programm des Kabinetts Schleicher zustandekamen (Kapitel VIII). Die .Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise, vor allem in der Ära Brüning, zählt zu den am intensivsten erforschten Bereichen der Geschichte der Weimarer Republik, um die seit langem kontrovers diskutiert wird. Während in den fünfziger Jahren die Deflationspolitik Brünings von den meisten Historikern als sachlich geboten angesehen und insoweit positiv beurteilt wurde l7 , führte die verstärkte Rezeption des Keynesianismus durch die Geschichtswissenschaft in den sechziger Jahren zu dem kritischeren Urteil, daß die Deflationspolitik Brünings die Depression lediglich verschärft habe und daher objektiv falsch gewesen sei. 18 Angesichts der außen- und reparationspolitische Zwänge, der institutionellen Hemmnisse gegenüber einer expansiven Geld- und Finanzpolitik sowie der in der Bevölkerung 16 Auf einer Darlegung der großindustriellen Krisenstrategie im sozialpolitischen Bereich wird hier verzichtet; vgl. ausführlich B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978. 17 V gl. K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955, S. 385 ff.; K. D. Erdmann, Die Zeit der Weltkriege (Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte, 8. Aufl., Bd. 4), Stuttgart 1959, S. 166 f. 18 Vgl. D. Petzina, Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik, a. a. 0.; derselbe, Elemente der Wirtschaftspolitik in der Spätphase der Weimarer Republik, in: Vfz 21 (1973), S. 127-133; G. Kroll, Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958.

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weit verbreiteten Inflationsangst und dem zeitgenössischen theoretischen Kenntnisstand der Ökonomie wurde die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung dennoch als unvermeidlich angesehen. 19 In den siebziger Jahren wurde dann einerseits die Analyse der Wirtschaftspolitik und der Möglichkeiten einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in der Endphase der Weimarer Republik, vor allem in Anlehnung an die von Karl Schiller geprägten Begriffe der "unmittelbaren" bzw. "mittelbaren Arbeitsbeschaffung", vertieft. 20 Andererseits setzte sich unter den meisten Historikern - vor allem unter dem Eindruck, den die Veröffentlichung der Memoiren Brünings hinterließ 21 -, die Auffassung durch, daß der Reichskanzler die krisenverschärfenden Auswirkungen der Deflationspolitik für die Streichung der Reparationen und die Beseitigung der föderativen Struktur des Reiches bewußt in Kauf nahm, ohne die ökonomisch-theoretischen, institutionellen und massenpsychologischen Aspekte der Deflationspolitik gebührend zu berücksichtigen. 22 Die unterschiedlichen Auffassungen von der wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklung in der Endphase der Weimarer Republik kulminierten im letzten Jahr19 Vgl. W. Helbich, Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Young-Plans für die deutsche Politik 1930 bis 1932, Berlin 1962; W. Conze, Brünings Politik unter dem Druck der großen Krise, in: HZ 199 (1964), S. 529-550; H. Sanmann, Daten und Alternativen, a. a. 0.; F. A. Hermens, Das Kabinett Brüning und die Depression, in: T. Schieder u.a. (Hrsg.), Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 287-310. 20 Vgl. K. Schiller, Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung, a. a. 0.; H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher. Grundsteinlegung für die Wirtschaftspolitik im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1974; M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik? Studien zur Politik der Arbeitsbeschaffung in Deutschland 1930-1934, Berlin 1977. 21 Heinrich Brüning, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970. Vgl. auch H. Mommsen, Betrachtungen zu den Memoiren Heinrich Brünings, in: Jahrbuch für die Geschichte MitteIund Ostdeutschlands 22 (1973). 22 Vgl. H. Mommsen, Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, a. a. 0.; derselbe, Heinrich Brüning als Reichskanzler: Das Scheitern eines politischen Alleingangs, in: K. Holl (Hrsg.), Wirtschaftskrise und liberale Demokratie. Das Ende der Weimarer Republik und die gegenwärtige Situation, Göttingen 1978, S. 16-45; G. Hardach, WeItmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 1924-1931, Berlin 1976; W. Jochmann, Brünings Deflationspolitik und der Untergang der Weimarer Republik, in: D. Stegmann (Hrsg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte, Bonn 1978, S. 97-112; J. Schiemann, Die deutsche Währung in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933. Währungspolitik und Abwertungskontroverse unter den Bedingungen der Reparationen, Bern 1980; W. Glashagen, Die Reparationspolitik Heinrich Brünings 1930-1931. Studien zum wirtschafts- und außenpolitischen Entscheidungsprozeß in der Auflösungsphase der Weimarer Republik, (Diss.) Bonn 1980; G. Bombach u.a. (Hrsg.), Der Keynesianismus II: Die beschäftigungspolitische Diskussion vor Keynes in Deutschland. Dokumente und Kommentare, Berlin 1976; ders. (Hrsg.), Der Keynesianismus III: Die geld- und beschäftigungstheoretische Diskussion in Deutschland zur Zeit von Keynes, Berlin 1981; G. Schulz, Reparationen und Krisenprobleme nach dem Wahlsieg der NSDAP 1930. Betrachtungen zur Regierung Brüning, in: VSWG 67 (1980), S. 200-222.

2 Kim

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I. Einleitung

zehnt in der mit außerordentlicher Schärfe geführten "Borchardt-Debatte", die zeitweise wie eine Neuauflage des zeitgenössischen Disputs zwischen Expansionisten und Deflationisten über die Zweckmäßigkeit und Zwangsläufigkeit der Deflationspolitik Brünings erschien. Im Anschluß an die monetaristisch-neoklassische Trendwende innerhalb der Wirtschaftswissenschaften in den siebziger Jahren und unter Einbezug der zeitgenössischen Diskussion faßte Knut Borchardt die seiner Ansicht nach für die Angemessenheit und die Alternativlosigkeit der Deflationspolitik Brünings sprechenden Argumente thesenartig zusammen: 1. sei der Abbau von Löhnen und staatlichen Ausgaben ökonomisch und politisch sinnvoll und zwangsläufig gewesen, da das Lohnniveau in der Stabilisierungsphase im Vergleich zur Steigerung der Produktivität überproportional gestiegen sei und der Staat mit seiner Ausgabenpolitik über die ökonomischen Verhältnisse gelebt habe; 2. sei durch die bankrechtlichen Vorgaben des Young-Plans der Kreditgewährung der Reichsbank an den Staat enge Grenzen gezogen worden und die Reichsbank zur Erhaltung der Goldparität der Reichsmark verpflichtet gewesen; 3. hätte eine durch die Reichsbank finanzierte Konjunkturpolitik "nicht die geringste Unterstützung von irgendeiner der politisch relevanten Gruppen" gehabt. 23 Bei den Auseinandersetzungen zwischen Borchardt und seinen Kontrahenten über die institutionellen und politischen Hemmnisse einer expansiven Konjunkturpolitik, die im Rahmen der vorliegenden Studie von Bedeutung sind,24 geht es hauptsächlich um die Frage, ob die politischen Entscheidungsträger in Reichsregierung und Reichsbürokratie, namentlich der Reichsfinanzminister Hermann Dietrich, der seit Oktober 1931 amtierende Reichswirtschaftsminister Hermann Warmbold, der Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald, der stellvertretende 23 Des weiteren stilisierte Borchardt ebenso wie zeitgenössische Anhänger Brunings die Wirtschaftspolitik des Reichskanzlers als eine "wahrhaft heroisch durchgestandene Bereinigung". Ähnlich bezeichnete H. James den Reichskanzler als einen "ehrbaren Mann", der, "mit einer unmöglichen Situation konfrontiert, verantwortliche Lösungen wählte". Vgl. K. Borchardt, Zwangslagen und Handlungenspielräume der Wirtschaftspolitik in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes (1979); Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik (1980); Zur Frage der währungspolitischen Positionen Deutschlands in der Weltwirtschaftskrise (1980). Unten wird nach dem Sammelband, K. Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungensspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1981, zitiert. Der im Text zitierte Teilsatz findet sich auf der Seite 170 des Sammelbandes; Stilisierung Brunings S. 182 u. 205; H. James, Comment on Carl Holtfrerich's Paper, in: I. Kershaw, Weimar: Why did German Democracy fail? London 1990, S. 175; G. Treviranus, Das Ende von Weimar. Heinrich Brüning und seine Zeit, Düsseldorf 1968, S. 151 ff. 24 Wenn die ökonomische Zwangslage auch unzweifelhaft existierte, so schließt dies, wie Charles S. Maier ausführlich dargelegt hat, keineswegs aus, daß eine expansive Konjunkturpolitik in der Ära Bruning möglich und sinnvoll gewesen wäre. Durch eine antizyklische Intervention des Staates hätte der Konjunkturverlauf seinen Tiefpunkt früher als Mitte 1932 erreichen können. Vgl. Charles S. Maier, Die Nicht-Determiniertheit ökonomischer Modelle. Überlegungen zu Knut Borchardts These von der "kranken Wirtschaft" der Weimarer Republik, in: GuG 11 (1985), S. 275-294; ähnlich G. Plumpe, Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Realität und Alternativen, in: GuG 11 (1985), S. 328.

I. Einleitung

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Reichswirtschaftsminister Erp.st Trendelenburg und der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Hans Schäffer, für eine reichsbankfinanzierte Beschäftigungspolitik eintraten oder nicht. 25 Da die Beweise und Gegenbeweise bisher weder zeitlich ausreichend differenziert wurden noch die politischen Rahmenbedingungen hinreichend berücksichtigten, führte die Debatte bislang nur zu dem pauschalen Urteil, daß die oben genannten Personen sich zeitweise mal für und mal gegen die Fortführung der Deflationspolitik aussprachen, ohne daß die Entwicklung und der Wandel der konjunkturpolitischen Auffassungen systematisch untersucht wurde?6 Ungeklärt bleibt somit die Frage, wer, wann, warum und in welchem Kontext sich widersprüchlich verhielt, und wie dies zu interpretieren ist. Die konjunkturpolitischen Vorstellungen der Gewerkschaften 27 und der Industrieverbände28 , auf die Borchardt bei seiner Argumentation größeres Gewicht legt als auf die Haltung der Reichsregierung, sind wesentlich intensiver erforscht als die staatliche Konjunkturpolitik. Seitens der Großindustrie wurde aufgrund ihrer Strategie, Depression und Deflationspolitik als Einfallstor zu Beseitigung des kollektiven Tarifrechts zu verwenden, kein erkennbarer Druck auf Brüning in Richtung einer antizyklischen Konjunkturpolitik ausgeübt. 29 Da aber die Akzeptanz einer konjunkturpolitischen Intervention des Staates in Kreisen der Industrie im Verlauf der Krise immer größer wurde 3o , ist zu untersuchen, ob von der Industrie auf die staatlichen Instanzen in der Tat so geringer Druck in Richtung auf eine expansive Konjunkturpolitik ausgeübt wurde und wie die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Akzeptanz der Eingriffe des Staates und den mangelnden Initiativen zur Herbeiführung eines konjunkturpolitischen Kurswechsels zu erklären ist. Erstaunlicherweise ist in der Borchardt-Debatte die konjunkturpolitische Einstellung und die zentrale Rolle des Reichsbankpräsidenten Hans Luther bei der 25 Vgl. c.-L. Holtfrerich, Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise? in: HZ 235 (1982); K. Borchardt, Noch einmal: Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik? in: HZ 237 (1983); H. James, Gab es eine Alternative zur Wirtschaftspolitik Brünings? in: VSWG 70 (1983), S. 601-631; Henning Köhler, Knut Borchardts "Revision des überlieferten Geschichtsbildes" der Wirtschaftspolitik in der Großen Krise - Eine Zwangsvorstellung? in: IWK 19 (1983), S. 164-180. 26 Vgl. K. Borchardt, Noch einmal, S. 82. 27 M. Schneider, Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB. Zur gewerkschaftlichen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn 1975; R. A. Gates, Von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik? Das Dilemma der deutschen Sozialdemokratie in der Krise 19291933, in: H. Mommsen u.a.(Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 206-225; W. Zollitsch, Einzelgewerkschaften und Arbeitsbeschaffung: Zum Handlungsspielraum der Arbeiterbewegung in der Spätphase der Weimarer Republik, in: GuG 8 (1982), S. 87-115. 28 M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik? Studien zur Politik der Arbeitsbeschaffung in Deutschland 1930-1934, Berlin 1977; R. Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-33. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 111 ff. 29 B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln", a. a. O. 30 Vgl. G. Feldman, Aspekte deutscher Industriepolitik, S. 104.

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wirtschaftspolitischen Willens bildung der Reichsregierung kaum thematisiert worden, obwohl selbst ein politisch tragfähiges Konjunkturkonzept bei einem Veto Luthers aufgrund seiner geldpolitischen Befugnisse keine Realisierungschance gehabt hätte. In der Forschung wird Luther weithin als ein starrsinniger Deflationist betrachtet. Von dieser Position hebt sich Harold James insofern ab, als er den Reichsbankpräsidenten als einen "monetaristischen Expansionisten" bezeichnet. Aus dem Befund, daß Luther seit Juli 1931 massiv Finanzwechsel vornahm, schließt James, daß der Reichsbankpräsident heimlich eine monetäre Gegensteuerung der Depression betrieben habe. 31 Obwohl die Hereinnahme der Finanzwechsel durch die Reichsbank unbestritten ist, bleibt dennoch unklar, ob der Finanzwechselbestand im Portfolio der Reichsbank tatsächlich als ein Beleg für eine heimliche Gegensteuerung der Krise anzusehen ist. Darüber hinaus bleibt offen, wie die Diskrepanz zwischen der an der Struktur des Wechselbestandes ablesbaren Befürwortung einer Ausweitung der Geldmenge und der strikt ablehnenden Haltung Luthers gegen einen konjunkturpolitischen Kurswechsel von der Deflationspolitik zur antizyklischen Krisenbekämpfung zu erklären ist. In Anknüpfung an die nach wie vor durch erhebliche Forschungsdefizite gekennzeichnete Borchardt-Debatte versucht die vorliegende Studie, zu einer differenzierten Sicht des konjunkturpolitischen Handlungsspielraums der Reichsregierung zu gelangen. Es wäre verfehlt, allein anhand der Analyse der wirtschaftspolitischen Diskussion den Handlungsspielraum und die möglichen Alternativen zur Deflationspolitik vollständig erfassen zu wollen. Dies hieße, die Bedeutung der ökonomischen Rahmenbedingungen für wirtschaftspolitische Entscheidungen und die außenwirtschaftliche wie außenpolitische Problematik der Konjunkturpolitik zu unterschätzen. Eine empirisch gesättigte Präzisierung des konzeptionellen Wandlungsprozesses im Beziehungsgeflecht zwischen Reichsregierung, Reichsbank und Industrie kann jedoch dazu beitragen, innenpolitische Möglichkeiten der Konsensbildung über eine expansive Konjunkturpolitik aufzuzeigen. Darüber hinaus kann sie auf die verpaßte Chance hinweisen, die die von einer konzeptionellen Konsensbildung zwischen Staat und Industrie begleitete Lancierung einer antizyklischen Wirtschaftspolitik im Bezug auf die weitere Entwicklung der Weimarer Republik gehabt hätte, zumal eine wachstumsorientierte Konjunkturpolitik die verhärteten Fronten des Verteilungskampfes zwischen Kapital und Arbeit möglicherweise hätte aufweichen können. 32

31 Vgl. H. James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924-1933: A Study of the Politics of Economics during the Great Depression, Frankfurt a.M. 1985; derselbe, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988, S. 275 ff.; derselbe, Gab es eine Alternative, S. 538 f. 32 Ein bedeutender Sinn der Theorie von Keynes lag, wie Charles S. Maier zu Recht hervorhob, darin, daß man mit einer expansiven Konjunkturpolitik einen unmittelbaren Eingriff in den Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit vermeiden kann. Vgl. Charles S. Maier, Die Nicht-Determiniertheit ökonomischer Modelle, S. 288 f.

11. Hans Luther und die Großindustrie in den späten zwanziger Jahren 1. Die Reichsreformbewegung und ihre Unterstützung durch die Industrie Die Diskussion über die Reichsreform, d. h. über eine territoriale Neugliederung des Reiches und zugleich eine funktionale Neuregelung des Verhältnisses von Reich, Ländern und Gemeinden, spielte während der ganzen Zeit der Weimarer Republik sowohl in den verfassungspolitischen als auch in den finanzpolitischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle. l Die Notwendigkeit einer territorialen "Flurbereinigung" hielt man schon insofern für geboten, als die 17 Gliedstaaten des Reiches in ihrer Größe, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft und damit in ihrer verwaltungspolitischen Manövrierfähigkeit höchst ungleich waren. 2 Darüber hinaus waren die Kleinstaaten häufig in verschiedene Gebietsteile aufgegliedert; außerdem gab es etwa 200 En- und Exklaven. 3 Indem das Reich eigene Verwaltungen - wie die Reichsfinanzverwaltung, die Sozialverwaltung und die Wasserstraßenverwaltung - aufbaute, wurde die Verwaltungsstruktur noch undurchsichtiger. Mit der fehlenden Homogenität auf der Länderebene waren die Schwierigkeiten bei der Verteilung des Steueraufkommens gleichsam vorprogrammiert, nachdem das Reich seit der Gründung der Weimarer Republik in zentralen Bereichen die Finanzhoheit übernommen hatte. Nach der Erzbergerschen Finanzreform erhielten die Länder ihrer Einkommenssteuerkraft gemäß vom Reich einen bestimmten prozentualen Anteil des Einkommens-, Körperschafts- und Umsatzsteueraufkommens zugewiesen. 4 Demzufolge bekamen die ohnehin wirtschaftlich schwächeren Län1 Zur Diskussion über die Reichsreform im allgemeinpolitischen Zusammenhang in der Weimarer Republik siehe H. Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918-1933, Berlin 1989. 2 Preußen nahm allein drei Fünftel des Reichsgebietes ein, während Bayern und Sachsen zusammen ein weiteres Fünftel ausmachten und alle restlichen Länder sich in das noch verbliebende Fünftel teilten. Vgl. L. Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik. Fragen zur Funktionalreform und zur Neugliederung im Südwesten des Deutschen Reiches, Frankfurt a.M. 1980, S. 27 u. 32. 3 Vgl. ebd., S. 28. 4 Der Länder- und Gemeindeanteillag bei der Einkommens- und Körperschaftssteuer zwischen 75% und 100% und bei der Umsatzsteuer zwischen 20% und 35%. Vgl. W. Heindl, Die Haushalte von Reich, Ländern und Gemeinden in Deutschland von 1925 bis 1933, Frankfurt a.M. 1984, S. 258-317.

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der geringere Finanzzuweisungen, was das Wohlstandsgefälle weiter verschärfte. 5 Dieses Problem wurde noch von chronischen Mindereinnahmen der Länder und Gemeinden begleitet, so daß die drei Gebietskörperschaften um die Finanzzuweisungen aus dem Steueraufkommen ständig kämpften. 6 Der angestrebte Finanzausgleich, der nicht nur die Verteilung des Steueraufkommens zwischen Reich, Ländern und Gemeinden endgültig regeln, sondern auch eine neue Einnahmequelle wie die kommunale Kopfsteuer erschließen sollte, erschien ohne die Reichsreform undurchführbar. Überzeugt von der verwaltungs- und finanzpolitischen Notwendigkeit der Reichsreform, sind immer wieder Reformvorschläge zur Diskussion gestellt worden. Neben prominenten Vorschlägen aus den Reihen der politischen Parteien von seiten Otto Brauns (SPD), Adam Stegerwalds (Zentrum), Erich Koch-Wesers (DDP) und Alfred Hugenbergs (DNVP)7 interessierten sich auch die Industrieverbände für die Reichsreform. Dies zeigte sich vor allem darin, daß die Reichsreformfrage etwa von 1927 an bis zum Ende der Weimarer Republik auf fast allen großen Veranstaltungen der Wirtschaftsverbände und in dem Großteil ihrer Eingaben an die Reichsregierung angesprochen wurde. Ein Reformvorschlag, der die Auffassung der Industrie zusammenfaßte, wurde im November 1928 von dem Bund zur Erneuerung des Reiches, nach dessen Vorsitzendem Hans Luther "Lutherbund" genannt, dessen Tätigkeit eine große Zahl von prominenten Industriellen öffentlich unterstützte, 8 vorgelegt. 9 5 Diese Länder verlangten vom Reich einen größeren prozentualen Anteil an den Finanzzuweisungen. Bayern, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Thüringen, Lippe, MecklenburgStrelitz, Schaumburg-Lippe und Waldeck erhielten bis zu 100% ihres Einkommensteueranteils. Vgl. L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 26. 6 Vgl. K.-H. Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1973, S. 100 ff. 7 Friedrich E. Saemisch, Reichssparkommissar, faßte im Jahre 1928 insgesamt 89 EinzeIvorschläge zur Reichsreform zusammen. BAK, R 43 1/1877. Zu den bedeutenden Reformvorschlägen siehe G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1, Berlin 1963 und L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, a. a.O. 8 Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder. Vorschläge, Begründung, Gesetzentwürfe, Berlin 1928. 9 Vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 590; B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978, S. 471; L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 109-116; aus marxistischer Sicht: W. Müller, Die Monopolbourgeoisie und die Verfassung der Weimarer Republik. Eine Studie über die Strategie und Taktik zur Beseitigung des bürgerlich-parlamentarischen Systems (1927-1930), Diss. Berlin (Ost) 1970, S. 74-94, sowie K. Gossweiler, Bund zur Erneuerung des Reiches (BER) 1928-1933, in: D. Fricke (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte 1789-1945, Bd. I, Leipzig 1968, S. 195 ff. (Erweiterte Auflage, Köln 1983, S. 374-382); vgl. neuerdings auch H. James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924-1933: A Study of the Politics of Economics during the Great Depression, Frankfurt 1985, S. 162 f.; G. Feldman, The Weimar Republic: A Problem of Modernization? in: AfS 26 (1986), S. 38; H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 266.

1. Die Reichsreformbewegung

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Eingehende Untersuchungen der Reichsreform-Entwürfe haben die ideen geschichtliche Herkunft des Vereins 10, insbesondere den Einbezug ständestaatlicher Ideen und die unverkennbare Tendenz einer Stärkung der Exekutive 11, deutlich herausgearbeitet. Hinsichtlich seiner Bedeutung als politische pressure-group hat G. Schulz den Lutherbund angesichts der breiten gesellschaftlichen Unterstützung als "ein nahezu perfektes Spiegelbild der herrschenden Kräfte der Weimarer Republik,,12 bezeichnet und H. A. Winkler sah den Lutherbund geradezu als "ein für die Verflechtung der Machteliten der späteren Weimarer Republik geradezu idealtypisches Gremium,,13 an. Desungeachtet blieb weiterhin unklar, weIchen Stellenwert die Reichsreform für die Industrie besaß, weIche wirtschaftspolitische Implikation die Reichsreforrn hatte, weIche Motive der Gründung des Vereins zugrundelagen, wer diesen Verein in Wirklichkeit führte, wer ihn finanzierte und schließlich, wie die Reforrnkonzeption des Vereins zu beurteilen ist. Ende Oktober 1927, als Paul Reusch und Max Warburg Industrielle und Bankiers um finanzielle Unterstützung für den Lutherbund baten, bemerkte Warburg ironisch: "Die Erhöhung klingt gerade nicht danach, als wenn unser verehrter Dr. Luther vom Geiste der Sparsamkeit, den wir predigen wollten, schon erfaßt ist.,,14 Diese Bemerkung traf den Kern der Absicht, die einige Industrielle und Bankiers zur Gründung des Lutherbundes veranlaßt hatte: sie wollten eine Organisation bzw. eine Bewegung aufbauen, die die Reduzierung der staatlichen Ausgaben propagieren und politisch umsetzen helfen sollte. Die Höhe der Staatsausgaben stellte in der Tat ein Dauerthema dar, das gemeinsam mit der Sozialpolitik die wirtschafts- und finanzpolitische Diskussion innerhalb der Industrie seit der Währungsstabilisierung beherrschte. In der Ende 1925 veröffentlichten Denkschrift "Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik", die die Ausrichtung der industriellen Interessenpolitik programmatisch skizzierte, erklärte der RDI, daß die öffentliche Finanzwirtschaft einen "geradezu bestimmenden Charakter für das Schicksal unserer industriellen und gewerblichen Arbeiten" besitze. 15 Der Anteil der staatlichen Ausgaben am Volkseinkommen betrug tatsächlich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahren durchschnittlich 25,8%, was im Ver10 G. Schulz führt das Konzept des Lutherbundes zur Umwandlung Preußens in ein Reichsland auf den bereits 1924 zwischen earl W. Petersen, erster Bürgermeister von Hamburg, und dem damaligen Reichswehrminister Otto Geßler diskutierten Reformplan zurück. Vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 308. L. Biewer betont den Einfluß der Entwürfe des Lutherbundes auf die Beratungen des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz. Vgl. L. Biewer, Reichsreformbestregungen, S. 122. 11 Vgl. H. A. Winkler, Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus, in: Vfz 17 (1969), S. 354 12 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 590. 13 H. A. Winkler, Unternehmerverbände, S. 354. 14 Warburg an Reusch, 23. 10. 1927, Haniel Archiv, 400101293 /15. 15 Vgl. Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, Veröffentlichungen des RDI Heft 29, Dezember 1925, S. 25. Ähnlich auch bei der zweiten Denkschrift des RDI, Aufstieg oder Niedergang? Veröffentlichungen des RDI, Nr. 49, Dezember 1929, S. 5 f.

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

gleich zur Vorkriegsperiode von 1909-1913 eine Erhöhung um 14,3 Prozentpunkte bedeutete. 16 So nahm es nicht wunder, daß die Zunahme der Staatsquote von Vertretern der Industrie als "Staatsfinanz-Kapitialismus",17 "Kompromisse mit dem Sozialismus,,18 oder ,,staatssozialismus,,19 denunziert und die Ausgabensenkung als vorrangige wirtschaftspolitische Zielsetzung angesehen wurde. Allerdings erwies sich die pauschale Forderung nach Ausgabensenkungen der öffentlichen Haushalte als sachlich ungerechtfertigt. Der Anteil des Reiches an den gesamten Staatsausgaben erhöhte sich zwar von 32,1% in 19l3/14 auf 38,7% in 1928129, war aber in erster Linie auf die Übertragung der Verwaltungen für Zoll, Steuer, Post, Eisenbahn, Heer, militärisches Versorgungswesen und Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich und weniger auf eine expansive Ausgabenpolitik der Regierung zurückzuführen. 2o Auch die Industrievertreter waren sich intern im wesentlichen darüber einig, daß die Einsparungsmöglichkeiten im Reich sehr gering waren 21 ; Hamm glaubte, daß das Reich seine Ausgaben um höchstens 130-140 Mio. RM senken könne. 22 In öffentlichen Stellungnahmen pochte die Industrie hingegen unentwegt auf eine Sanierung des Reichshaushalts. In einem Aide-memoire vom November 1927 führte der RDI die verfehlte Finanzpolitik auf das "bestehende System und seine beklagenswerten Auswüchse,,23 zurück und verband mit dieser Kritik die diffuse Erwartung, daß die Schwächung des Parlaments und die Stärkung der finanzpolitischen Unabhängigkeit der Regierung die Wirtschafts- und Finanzpolitik stärker an Sachnotwendigkeiten ausrichten und die Zunahme der Staatsquote dämpfen werde. Die Vorschläge der Industrie sahen vor, das ohnehin für das Reichskabinett geltende Vetorecht des Finanzministers auch auf die finanzpoliti16 Vgl. D. Petzina u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945, München 1978, S. 148. 17 Reusch in einer Sitzung des Langnamvereins vom 4. 8. 1925, Haniel Archiv, 400101221/4a. 18 RDI, Aufstieg oder Niedergang, S. 6. 19 Reusch in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, in: Mitteilungen des Langnamvereins, 1925, S. 3 ff. 20 V gl. Die Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Verwaltung im Deutschen Reich für die Rechnungsjahre 1913/14, 1925/26 und 1926/27. Einzelschriften zur Statistik des Deutschen Reiches, Nr. 10, bearbeitet von Statistischem Reichsamt, Berlin 1930; W. Heindl, Die Haushalte, S. 237 u. 342. 21 Vgl. Kastl in der Mitgliederversammlung des RDI vom 3. 9. 1926, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 32, S. 21; Drews in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1925, Heft 2, S. 12; Hamm in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 14. 10. 1926, in: Verhandlungen des DIHT (1926). 22 Vgl. Referat Hamms in der Vorstandssitzung des DIHT vom 7. 12. 1927, Haniel Archiv, 40010123 / 20. Philip Wieland, Präsidiumsmitglied des RDI, war der Auffassung, daß das Reich nur in der Finanzverwaltung etwas sparen könne. Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung des RDI vom 24. 2. 1927, Bayer Archiv, 62 /10.4. 23 Haniel Archiv, 40010123 / 8. Das Memorandum wurde anläßlich des Briefwechsels zwischen Parker Gilbert und der Reichsregierung im Oktober 1927 abgefaßt. Vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 568 f. u. 659 f.

1. Die Reichsrefonnbewegung

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schen Beschlüsse des Reichstages und des Reichsrates auszudehnen,24 den bislang dem Reichsfinanzminister unterstellten Reichssparkommissar von der Reichsregierung unabhängig zu machen und ihm das Recht zu gewähren, sich gegenüber der Reichsregierung, dem Reichstag und dem Reichsrat zu finanzpolitischen Angelegenheiten gutachterlich zu äußern25 , oder gar nach amerikanischem Vorbild das Amt eines Budgetdirektors einzuführen. 26 Die Finanzpolitik der Länder war demgegenüber für die Industrie nur von untergeordnetem Interesse. 27 Die gelegentlich geübte Kritik bezog sich darauf, daß die Ausgaben der Länder trotz der Übertragung etlicher Verwaltungen auf das Reich nicht bzw. nur geringfügig reduziert wurden - der Anteil der Ausgaben der Länder an den gesamten öffentlichen Ausgaben sank von 24,4% im Jahr 1913/14 auf 21,2% im Jahre 1928/2928 - und daß die Länder immer noch über eigene Finanzverwaltungen verfügten. 29 Die Industrie maß der Finanzpolitik der Länder nur im Rahmen der Konzeption einer "Finanzdiktatur" Bedeutung bei: das Finanznotgesetz, das das Präsidium des RDI in seinem Aide-memoire vom November 1927 anregte, sah vor, das Vermögen, die Schulden und die Unternehmen von Ländern und Gemeinden der Kontrolle des Reichsfinanzministers zu unterstellen. 30 Die Hauptkritik der Industrie richtete sich gegen die Gemeinden. Aus der Sicht earl Duisbergs hätten die Gemeinden "furchtbar gesündigt". "Sie sind alle im Geld verschwommen und haben das Geld scheffelweise ausgegeben".3l Um die Ge24 Vgl. Aide-memoire des RDI vom 24. 11. 1927, ebd.; Die gemeinsame Resolution der Spitzenverbände der Wirtschaft vom 17. 12. 1927, BAK, R 43 I 11873. 25 Vgl. Richtlinien für die Neugestaltung des Haushaltsrechts des Reiches, ausgearbeitet gemeinsam vom RDI und DIHT, in: Anhang der Denkschrift des RDI von 1929, Aufstieg oder Niedergang, S. 47 ff. 26 Vgl. Aide-memoire des RDI vom 24. 11. 1927, Haniel Archiv, 40010123 1 8; Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 26. 4. 1928, Bayer Archiv, 621 10.4; Niederschrift über die Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 19.6. 1926, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1928, Heft 1/2, S. 29 f.; Hede an Reusch, 24. 7. 1929, Haniel Archiv,

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27 Dies hing offenbar mit dem relativ geringen Anteil der Ländersteuern an der gesamten Steuerbelastung der Industrie zusamme, der nach Angaben der Industrie weniger als 10% betrug. Vgl. B. Skrodzki u, K. E. Mössner, Besteuerung, Ertrag und Arbeitslohn industrieller Unternehmungen im Jahre 1927, Veröffentlichungen des RDI, Nr. 47, September 1929, S. 24. 28 Vgl. Statistisches Reichsamt, Die Ausgaben und Einnahmen; W. Heindl, Die'Haushalte, S. 237 u. 358 f. 29 Vgl. Referat Kastls in der Mitgliederversammlung des RDI vom 24.6. 1925, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 28, 1925, S. 23. 30 Silverberg schlug seinerseits im Dezember 1929 vor, im Reichsfinanzministerium eine Sonderabteilung zu schaffen, die für sämtliche öffentliche Schulden, Sozialversicherungen, öffentlich-rechtliche Finanzinstitute und finanzielle Beziehungen mit Reichsbahn und Reichsbank zuständig sein sollte. Vgl. Vortrag Silverbergs in der außerordentlichen Mitgliederversammlung vom 12. 12. 1929, in: Veröffentlichungen des RDI, Nr 50, S. 31. 31 Duisberg in der Mitgliederversammlung des RDI vom 24.6. 1925, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 28, S. 12.

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

meinden zu einer sparsamen Ausgabenpolitik zu zwingen, regte Thyssen an, etliche Betriebe in Gemeinden, deren Gewerbesteuer hoch sei, vorsätzlich in den Konkurs zu treiben. 32 Diese extrem feindliche Haltung der Industrie gegenüber den Gemeinden kommentierte Oskar Mulert, Ministerialdirektor im Preußischen Innenministerium und designierter Präsident des Deutschen Städtetages, mit den Worten, er habe den Eindruck, "als wolle die Wirtschaft einen Krieg gegen die Selbstverwaltung eröffnen".33 Der "Kampf gegen die Gemeinde",34 der zwischen 1925 und 1927 besonders hart ausgestragen wurde, ist auf den ersten Blick unverständlich. Der Anteil der Ausgaben der Gemeinden an den gesamten öffentlichen Ausgaben sank von 39,1% im Jahre 1913/14 auf 37,5% im Jahre 1927/2S?5 Die Industrie polemisierte zwar heftig gegen die "kalte Sozialisierung,,36, anerkannte in der Praxis aber, daß die öffentlichen Unternehmen mit den privaten Unternehmen selten in Konkurrenz standen. Sie war sich auch bewußt, daß die Privatisierung der kommunalen Unternehmen bloß zur Erhöhung der Gewerbesteuer führen würde. 37 So übten die Industrieverbände zwar scharfe Kritik an der Schuldenpolitik der Gemeinden, tolerierten aber eine weitere Schuldenaufnahme der Gemeinden, die der Erhöhung der Gewerbesteuer vorzuziehen sei. 38 Erst mit dem Memorandum Parker Gilberts an die Reichsregierung vom 20. Oktober 1927 und mit der Bochumer Rede Hjalmar Schachts vom IS. November 192739 rückte das Thema allmählich ins Zentrum der Diskussion. Die Kampagne der Industrie gegen die Finanzpolitik der Gemeinden ist wohl am besten mit den Steuerbelastungen der Unternehmen zu erklären. Ihren eigenen Angaben zufolge stand der Anteil der Gewerbesteuer an der gesamten Steuersumme bei den gewerblichen Unternehmen im Jahre 1927 mit 20,4S% an zweiter Stelle hinter der Einkommens- und Körperschaftssteuer. 4o Davon betrug der Gemein32 Vgl. Äußerung Thyssens in der Vorstandssitzung des RDI vom 23. 6. 1925. Ihm stimmte Abraham Frowein zu: "Wir kommen mit der ganzen Angelgenheit bezüglich der Überspannung der Steuerschraube nicht zu Ende, wenn wir es nicht fertig bringen, bestimmte Gemeinden tatsächlich zu bestrafen". Vgl. Niederschrift über die Sitzung, Bayer Archiv, 62/ 10.4. 33 Mulert in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1925, Heft 2, S. 45. 34 Reusch an Schlenker, 26.11. 1927, Haniel Archiv, 400101221/ 8a. 35 V gl. Statistisches Reichsamt, Die Einnahmen und Ausgaben; W. Heindl, Die Haushalte, S. 237 u. 374. 36 V gl. C. Böhret, Aktionen gegen die "kalte Sozialisierung" 1926-1930, Berlin 1966. 37 Vgl. Referat Hamms in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 30. 1. 1929, in: Verhandlungen des DIHT (1929). 38 V gl. Schlenkers Kommentar zum Referat Mulerts in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1925, Heft 2, S. 34 f. 39 H. Schacht, Eigene oder geborgte Währung, Berlin 1927. 40 Der Anteil der Einkommens- und Körperschaftssteuer betrug 27,70%. Vgl. B. Skrodzki u, K. E. Mössner, Besteuerung, S. 24. Im Jahre 1925 stand die Gewerbesteuer mit 20,73% ebenfalls an zweiter Stelle hinter der Umsatzsteuer. Vgl. O. Tetzlaff u. K. E. Mössner, Die

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deanteil 17,77 Prozentpunkte; demgegenüber fiel weder der mit 0,75 bis 1,5% niedrige Umsatzsteuersatz 41 noch die 20%ige Versteuerung der Gewinne durch die Körperschaftsteuer ins Gewicht. 42 Zudem eröffnete die Gewerbesteuer durch die individuelle Festlegung der Zuschläge einen steuerpolitischen Spielraum für die Gemeinden, und die Klage der Industrie über die Ausgaben der Gemeinden ging häufig einher mit der Kritik an der Höhe der Gewerbesteuer. 43 Dem liberalen ordnungspolitischen Ziel der Ausgabensenkung der öffentlichen Haushalte lag somit oftmals das betriebs wirtschaftliche Interesse zugrunde, die Gewerbesteuer zu senken. Sucht man nach konkreten Ansätzen zur Umsetzung dieser Ziele, so fällt auf, daß bereits in den Jahren 1925 und 1926 eine rege Diskussion sowohl intern in den Wirtschaftsverbänden als auch zwischen der Industrie und den Vertretern der Städte geführt wurde. 44 Die Industrievertreter kritisierten wiederholt die übermäßige Ausgabenerhöhung der Gemeinden, konnten jedoch ihrerseits keine praktikablen Gegenvorschläge unterbreiten. Auf den Vorschlag einer Erhöhung der Klassenfrequenz in den Schulen zur Senkung der Schulausgaben45 entgegneten die Gemeinden, daß die Industrie sich in dieser Frage an die Länderregierungen wenden müsse. 46 Hinsichtlich der scharfen Kritik an der Erhöhung der Wohlfahrtsausgaben wiesen die Gemeinden auf die von ihnen nicht verschuldeten Ursachen hin, nämSteuerbelastung der Deutschen Industrie 1913 und 1925, Berlin 1927, Veröffentlichungen des RDI, Nr. 36, S. 22. 41 Vgl. U. Braun, Die Besteuerung der Unternehmen in der Weimarer Republik von 1923 bis 1933, Köln 1988, S. 74. 42 Vgl. ebd., S. 56. 43 Die Kritik von Max Schlenker lautete, die Gewerbesteuer sei die "Quelle des allgemeinen Finanzbedarfs geworden, dazu bestimmt, den gesamten Finanzbedarf, der anderweitig nicht gedeckt wird, zu befriedigen". Mulert wies diese Kritik nicht zurück; nach seinen Angaben belief sich die Gewerbesteuersumme im Jahre 1925 auf das Doppelte bzw. Dreifache des Betrages vom Jahre 1913 / 14. Vgl. Vortrag Mulerts in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925; Schlenkers Bemerkung zum Vortrag Mulerts, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1925, Heft 2, S. 35, 42 u. 54. 44 Vgl. Gemeinsame Beratung des RDI und des Deutschen Städtetages vom 30. 4. 1925, Bayer Achiv, 62 / 10.4; Mulert und Lehr (Oberbürgermeister Düsseldorfs) in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, S. 34 f. u. 77 f.; Mulert in der Mitgliederversammlung des RDI vom 3. 9. 1926, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 32, S. 11; Gutachten von A. Henschel (Professor an der Universität Bonn) und E. Becker (Senatspräsident des Rechnungshofs) über den Finanzausgleich, Oktober 1926, Haniel Archiv, 40010123/ 22b; Suren (Ministerialrat im preußischen Innenministerium) in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 6. 2. 1926, in: Verhandlungen des DIHT (1926). 45 Die Klassenfrequenz hatte in Preußen von 53,35 im Jahre 1914 auf 37,25 im Jahre 1925 abgenommen. Sie sollte nach der Vorstellung der Industrie wieder auf 50 angehoben werden. Vgl. Reuss, Die Finanzwirtschaft der Kommunen, Juli 1925, Bayer Archiv, 62/ 10.3; Otto Most in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 6. 2. 1926, in: Verhandlungen des DIHT (1926). 46 Vgl. Gemeinsame Beratung des RDI und des Deutschen Städtetages vom 30. 4. 1925, Bayer Archiv, 62/ 10.4.

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lich die Kriegsfolgen, die schwache Konjunktur und die Lastenzuteilung durch Reich und Länder. 47 Schließlich entkräfteten die Gemeindevertreter den Vorwurf unverhältnismäßig hoher Personalausgaben mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einführung neuer Ämter, was eine Erhöhung der Beamtenzahl zur Folge hatte, und den großen Nachholbedarf bei den Beamtengehältern. 48 Kastl, Duisberg, Most und Hamm mußten einsehen, daß eine spürbare Senkung der Gemeindeausgaben nur durch die Einschränkung der Aufgaben erfolgen konnte. 49 Nach den Angaben Mulerts waren mindestens 80% des ordentlichen Etats einer Stadt an die vom Reich oder von den Ländern auferlegten Aufgaben gebunden 50 ; selbst Hamm erinnerte 1928 daran, dem lauten Ruf der Industrie nach Ausgabensenkung folgte bald die Erkenntnis, daß bei den Gemeinden "ein sehr großer Teil der Ausgaben wegen seiner Zweckbestimmung wesentlicher Änderung kaum fähig" sei. 51 Trotz dieser Eingeständnisse lebte in Industriekreisen die kaum näher präzisierte politische Erwartung fort, daß eine Schwächung des parlamentarischen Einflusses auf die kommunale Finanzpolitik zu einer nennenswerten Ausgabensenkung führen würde. 52 Als die Diskussion über die Senkung der Gemeindeausgaben etwa im Herbst 1926 ins Stocken geriet, rückte die Reichsreform in den Vordergrund des Interesses der Industrieverbände. Bis dahin bloß als ein Mittel zur Vollendung des Finanzausgleichs angesehen, wurden die Vorstellungen zur Änderung der föderativen Struktur zu einer Konzeption erweitert, um eine Neugliederung des Reiches herbeizuführen und zugleich den Abbau der staatlichen Auf- und Ausgaben zu bewerkstelligen. Allerdings war im Jahre 1926 noch umstritten, ob der Abbau der Auf- und Ausgaben nur durch eine Verwaltungsreform oder durch eine Reichsreform mit Verfassungsänderung herbeigeführt werden sollte. Kastl und Hamm optierten für den Weg über die Verwaltungsreform53 , während Heinrich Vielhaber (Krupp), Vor47 Vgl. Vortrag Mulerts in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 23. 10. 1925, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1925, Heft 2, S. 38. 48 Vgl. Äußerung Lehrs (Oberbürgermeister von Düsseldorf) im Langnamverein am 23. 10. 1925, ebd, S. 78. 49 Vgl. Kastl in der Untersuchungsausschußsitzung des RDI für die Prüfung der Verwendung öffentlicher Gelder vom 1. 5. 1925, Bayer Archiv, 62/10.6; Duisberg in der Mitgliederversammlung des RDI vom 24. 6.1925, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 28, S. 12; Most in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 6. 2. 1926, in: Verhandlungen des DIHT (1926); Hamm, Bemerkungen zur Beratung im Verfassungsausschuß der Länderkonferenz, Beratungsunterlagen 1928, Berlin 1929, S. 284. 50 Vgl. Vortrag Mulerts in der Mitgliederversammlung des RDI vom 3. 9. 1926, in: Veröffentlichungen des RDI, Heft 32, S. 12. 51 Hamm, Bemerkungen zu den Beratungen im Verfassungsausschuß der Länderkonferenz, Beratungsunterlagen 1928, Berlin 1929, S. 284. 52 Jakob Reichert, Geschäftsführer des VDESI, meinte, es sei eine "Farce", den Gemeinden eine Selbstkontrolle bezüglich der Finanzpolitik anzuvertrauen, "in einer Zeit, wo die Selbstverwaltung bei der Stimmrechtherrschaft kein Recht mehr hat". Vgl. Niederschrift über die Vorstands sitzung des RDI vom 21. 10. 1927, Bayer Archiv, 62/10.4.

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sitzender des Steuerausschusses des RDI, Otto Most und Fritz Thyssen die Durchführung der Verwaltungsreform ohne eine Verfassungsreform, die eine "Vereinheitlichung der Gesetzgebung im Reich, Dezentralisierung ihrer Durchführung und stärkere Ausgestaltung einer sachlich fundierten Selbstverwaltung" beinhaltete, für schlichtweg unmöglich hielten. 54 Angesichts der unklaren und in manchem inkonsequenten Haltung Kastls 55 wurde der Streit zwischen den führenden Industrievertretern bis etwa Mitte 1927 zugunsten der Befürworter einer Reichsreform entschieden. 56 . Die Zuspitzung der Diskussion über die Haushaltssanierung im Kontext der Reichsreform-Debatte beeinflußte zugleich die Haltung der Industrie gegenüber der Länderpolitik. Sollten bei der Konzeption einer "Finanzdiktatur" die Länder gleichsam durch die Hintertür der Reichskontrolle unterstellt werden, wurde nun die Ländersouveränität völlig zur Disposition gestellt. Hinter der von Silverberg befürworteten "neuen Ländersouveränität,,57 verbarg sich die Vorstellung, daß die Länder lediglich auf dem Gebiet der Schul- und Kulturpolitik ihre Eigenständigkeit behalten sollten, während die Kompetenzen der Finanz-, Wirtschaft-, Justizund Sozialpolitik vollständig auf das Reich übergingen. Der in ihren Kompetenzen derart erweiterten Reichsverwaltung sollte eine "Mittel- und Lokalinstanz" untergeordnet werden, die alle bisherigen Reichs- und Länderaufgaben in sich vereinte. 58 Die neu zu schaffenden, mit umfassenden Verwaltungsbefugnissen ausgestatteten Landesbehörden sollten dem Reich unmittelbar unterstellt werden. Hamm brachte die Bedrohung der Länderparlamente und der kommunalen Selbstverwal53 Vgl. Kastl in der gemeinsamen Sitzung des Hauptausschusses des RDI und des Großausschusses der VDA vom 11. 12. 1926, Bayer Archiv, 62 / 10.5; Hamm in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 14. 10. 1926, Verhandlungen des DIHT (1926). 54 Zitat aus der Ausführung von Otto Most in der gemeinsamen Sitzung des Präsidiums und des Vorstandes des RDI vom 29. 7. 1927, BAK, NL Silverberg, 226. Vgl. Most in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 14. 10. 1926, in: Verhandlungen des DIHT (1926); Vielhaber in der Präsidialsitzung des RDI vom 24. 2. 1927, Bayer Archiv, 62/ 10.3. 55 In der Mitgliederversammlung des RDI vom 3. September 1926 führte Kastl aus: "Es ist klar, daß auf die Dauer auch eine Verwaltungsvereinfachung nicht genügen kann, daß man im Auge behalten muß, auch die staatsrechtlichen Verhältnisse im Wege der Verfassungsreform zu ändern". Vgl. Veröffentlichungen des RDI, Heft 32, S. 23. 56 In der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 19.6. 1928 erinnerte sich Silverberg an diesen Streit: "Da war die Frage aufgeworfen worden, was muß in Deutschland das Primäre sein, die Verwaltungsreform oder die Verfassungsreform? Ich habe für meine Person die Empfindung, als ob eine Klärung doch nach der Richtung stattgefunden hat, daß eine Verwaltungsreform im Sinne einer Gesundung nur basieren kann auf einer vorhergegangenen Verfassungsreform". Vgl. Mitteilungen des Langnamvereins, 1928, Heft, 1/2, S. 56. 57 Vgl. Ausführung Silverbergs in der gemeinsamen Sitzung des Präsidiums und des Vorstandes des RDI vom 29. 7. 1927, BAK, NL Silverberg, 226. Kastl und Most waren gleicher Meinung. Vgl. Most in der Hauptausschußsitzung des RDI vom 2. 9. 1927, in: Geschäftsmitteilung des RDI, 20. 9. 1927, S. 197; Kastl in der Mitgliederversammlung des RDI vom 2.9. 1927, in: Veröffentlichungen des RDI, Nr. 37, S. 26. 58 Vgl. Referat Mosts in der Hauptausschußsitzung des RDI vom 2. 9.1927, ebd.

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tung pointiert zum Ausdruck, als er in der Vorstandssitzung des DIHT vom 7. Dezember 1927 darlegte, er erblicke "das Endziel in einer Entpolitisierung der Länder und ihrer Regierungen und in einer Stärkung der Vormachtstellung des Reiches namentlich in Bezug auf das Finanzgebaren der Länder und Gemeinden".59 Die Frage des Machtverhältnisses zwischen der Reichsregierung und dem Reichstag wurde zwar von der Reichsreform nicht unmittelbar tangiert, aber das Ziel der Reichsreform aus Sicht der Industrie, der Abbau der staatlichen Auf- und Ausgaben, schien ohne die Einschränkung der finanzpolitischen Befugnisse des Reichstages undenkbar; daran ließ schon die geläufige Vorstellung von der "Finanzdiktatur" keinen Zweifel aufkommen, auch wenn die Industrie den Ausdruck Reichsreform relativ selten benutzte, wenn sie von einer Neuregelung des Verhältnisses zwischen den drei Gebietskörperschaften sprach. Überdies wurde in den Diskussionen über die Reichsreform häufig das Machtverhältnis zwischen Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag thematisiert. 6o Auch wenn die Reichsreform nicht unmittelbar darauf abzielte, so war aus Sicht der Industrie die Stärkung der Exekutive und die Schwächung des Parlaments doch gleichsam die logische Konsequenz ihrer Reformbestrebungen. Auch wenn der Verlauf der Diskussion über die Ausgabensenkung und die allmähliche Entstehung der Konzeption einer Entpolitisierung und Entparlamentarisierung der drei Gebietskörperschaften keineswegs gradlinig verlief, besaß die Reichsreform für die Industrie rückblickend doch die Funktion einer Nahtstelle zwischen ökonomischem Liberalismus und politischem Antiparlamentarismus. Zeitgleich mit der industriellen Strategiediskussion über die Senkung der staatlichen Auf- und Ausgaben, die in die Reichsreform einmündete, begannen Paul Reusch und Max M. Warburg auch damit, zur Verbreitung und Unterstützung ihrer Ideen eine Reichsreformbewegung in Gang zu setzen.

2. Die "SchaltsteHe" der Reichsreformbewegung: Gründung und politische Tätigkeit des Lutherbundes Parallel zur innenpolitischen Forderung einer Senkung der staatlichen Ausgaben arbeitete die Industrie auf außenpolitischem Gebiet auf die Revision des DawesPlanes hin. Da sich die Annuität der Reparationszahlungen nach dem Zeitplan des Dawes-Planes im Jahre 1928 / 29 auf die volle Höhe von 2,5 Mrd. RM erhöhen sollte, intensivierte die Industrie im Jahre 1927 ihre Bemühungen, die Undurch59 Vgl. Protokoll über die Vorstandssitzung des DIHT vom 7. 12. 1927, Haniel Archiv, 40010123/20. 60 So befürchtete etwa Max Schlenker bei einer Erörterung des Vorstandes des RDI am 21. 10. 1927 über die Auslandsschulden der Länder und Gemeinden ohne Zögern die Stärkung des Reichspräsidenten und die Schaffung eines Oberhauses. Bayer Archiv, 62/ 10.4.

2. Gründung und politische Tätigkeit des Lutherbundes

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führbarkeit des Dawes-Planes nachzuweisen. 6l Anfang Juli 1927 stellte Paul Reusch, angeregt von Martin Sogemeier, das Konzept einer "Anti-Dawes-Bewegung" zur Debatte, die von einer straff durchorganisierten Leitung unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt werden sollte. 62 Die Leitung der Bewegung sollte einem mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten "Anti-Dawes-Kommissar" obliegen, dem jeweils ein Vertreter aus Politik, Presse, Industrie, Landwirtschaft, Handel, Banken, Schiffahrt, Handwerk und Wissenschaft sowie der Kirche beratend zur Seite stehen. Mithilfe dieser Honoratiorenorganisation sollte eine einheitliche Auffassung der Wirtschaft zur Reparationsfrage herbeigeführt und die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer drastischen Reduzierung der Reparationen überzeugt werden. 63 Als weitere Hauptaufgabe der "Anti-Dawes-Bewegung" bezeichnete Reusch die Verbreitung und Popularisierung des Steuer- und Verwaltungsreformgedankens, da die Verwaltungsreform "eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg aller Abänderungsbewegungen" sei. Solange diese Reform nicht ernsthaft in Angriff genommen werde, sei die Untragbarkeit der Dawesbelastungen nicht überzeugend nachzuweisen. Warburg, der als "Gegenreparationsagent,,64 gewonnen werden sollte, erteilte Reusch jedoch eine Absage und legte seinerseits zwei Gegenvorschläge vor. Grundsätzlich befürwortete er die Bildung eines offiziellen politischen Gremiums aus Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Wirtschaftsministeriums, der Reichsbank und der Reichsbahn, als deren Leiter Hjalmar Schacht vorgesehen war. 65 Zugleich verfolgte Warburg das Ziel, den finanziellen Aufwand der staatlichen Verwaltung durch die Reichsreform zu reduzieren. 66 In seiner Antwort wies Warburg Reusch weiter darauf hin, daß er den ehemaligen Reichskanzler Hans Luther schon seit Monaten gebeten habe, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen, die den als unerträglich empfundenen Zustand des "Nebeneinanderregierens" in Deutschland beseitigen sollte und betonte, daß Luther diese Auffassung teile, eine aktive Beteiligung allerdings weder abgelehnt noch angenommen habe, und so bat Warburg Reusch, Luther in seinem Sinne zu beeinflußen:"Luther wäre geeignet und er hat auch das Zutrauen sowohl der links- wie rechtsstehenden Kreise, um gerade auf verwaltungstechnischem Gebiet die notwendigen Reformen einzuführen. ,,67 Reusch machte sich die beiden Vorschläge Warburgs zu eigen: einerseits wirkte er auf Schacht ein, sich für eine "Anti-Dawes-Bewegung" einzusetzen68 , anderer61 Vgl. Vortrag Springorums in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 1. 6. 1927, in: Mitteilung des Langnamvereins, 1927, Nr. 3, S. 68; Leitsätze des DIHT zur Verwaltungsreform, März 1927, Haniel Archiv, 40010123 /19. 62 Vgl. Paul Reusch, Undurchführbarkeit des Dawesplans, Haniel Archiv, 400101293 / 15. 63 Auch dem Reparationsagenten Parker Gilbert gegenüber sollte grundsätzlich nur der Anti-Dawes-Kommissar als Vertreter der deutschen Wirtschaft auftreten. Vgl. ebd. 64 Vgl. Reusch an Warburg, 8. 7. 1927, ebd. 65 Vgl. Warburg an Reusch, 12.7.1927, ebd. 66 Vgl. Warburg an Reusch, 13.7. 1927, ebd. 67 Ebd.

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

seits schloß er sich dem Vorhaben Warburgs an, eine Reichsreformbewegung mit Luther an der Spitze ins Leben zu rufen und konnte den ehemaligen Reichskanzler erfolgreich zu einem Engagement bewegen. Die Besprechung zwischen Reusch, Luther, Warburg, Kastl und Siegfried Graf von Roedern am 19. und 20. September 1927 in der Villa Reuschs, dem Stuttgarter "Katharinenhof', über ein konkretes Konzept bezüglich der Ausgestaltung und der Finanzierung der Reichsreform 69 war gleichsam die Geburtsstunde des "Bundes zur Erneuerung des Reiches".70 Von der ersten konzeptionellen Festlegung bis zur formellen Gründung des Lutherbundes dauerte es aber noch dreieinhalb Monate, innerhalb derer die Konzeption der Reichsreform mehrfach modifiziert wurde. Aus dem Briefwechsel zwischen Paul Reusch und Ludolf Blohm geht hervor, daß auf dem Katharinenhof vereinbart wurde, nicht den Lutherbund, sondern ein Büro L. (Luther) zu bilden. Offensichtlich sollte ursprünglich keine repräsentative Organisation entstehen, wie es später mit dem Lutherbund geschah, sondern ein "von unten" aufgebautes Büro, während der Lutherbund schließlich "an der Spitze der Pyramide mit seiner Tatigkeit einsetzt".71 Warburg erinnerte Reusch später an die eigentliche Konzeption: "Unsere Idee war doch, daß Dr. Luther hauptsächlich mit seinem Namen möglichst viele Publikationen deckt, die sonst vielleicht unbeachtet bleiben".72 Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß die Teilnehmer der Unterredung auf dem Katharinenhof zunächst nur beabsichtigten, ein von ihnen finanziertes und kontrolliertes Büro zu bilden, das für die publizistische Unterstützung der Reichsreform die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen sollte, wobei Luther auf Grund seines Ansehens eine meinungsführende sowie propagandistische Rolle zugedacht wurde. 73 Den Anstoß für die Änderung der Konzeption der Reichsreformbewegung

68 Schacht erwähnte den Gedanken Reuschs in einem Vortrag, den er vor einigen Industriellen Ende Oktober 1927 an läßlich der Besichtigung der Leuna-Werke der I.G. Farben hielt, wobei allerdings Hermann Bücher als Antireparationsagent empfohlen wurde. Nachdem aber auch Bücher den Vorschlag ablehnte, wurde offenbar der Gedanke verworfen. Vgl. Bücher an Reusch, 28.10. 1927, ebd. 69 Vgl. Reusch an Warburg, 13. 08. 1927, ebd. Von Roedern, Staatssekretär des Reichsschatzamtes 1916-1918, war zu der Zeit in der Hamburgischen Schiffahrtsindustrie tätig. 70 Die in der Literatur häufig anzutreffende Schilderung, daß die Gründung des Lutherbundes auf die Anregung eines Hamburger Kreises um Wilhelm Cuno von der Hapag zurückging, trifft nur teilweise zu. In seinen Memoiren, auf die sich die Literatur bevorzugt stützt, spielt Luther die Rolle Reuschs herunter. Vgl. Hans Luther, Vor dem Abgrund 1930-1933. Reichsbankpräsident in Krisenzeiten, Berlin 1964, S. 33 f. 71 Blohm an Reusch, 6. 11. 1928, Haniel Archiv, 400101293/19. 72 Warburg an Reusch, 23. 10. 1927, Haniel Archiv, 400101293/15. 73 Da Blohm mit dem Bund keinerlei Beziehungen haben wollte, betrachtete er seine zweimalige Zahlung als Druckkostenzuschuß für das Buch von W. Adametz und K. E. Mössner, "Die deutsche Verwaltungs- und Verfassungsreform in Zahlen". Aus der Sicht Blohms lag diese Arbeit "ja ganz in dem Rahmen dessen, was seinerzeit als der ursprüngliche Zweck des Ausschusses L. angesehen wurde". Gegen den Einwand Blohms konnte sich Reusch nicht wehren. Er antwortete: "Richtig ist, daß die Dinge nicht ganz so gelaufen sind, wie ursprüng-

2. Gründung und politische Tatigkeit des Lutherbundes

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gab die Strategie Reuschs, ein in der gesamten Groß wirtschaft konsensfähiges Re c formkonzept zu finden. Nach der Unterredung auf dem Katharinenhof begannen Reusch und Warburg damit, Finanziers für den Aufbau und die Tatgkeit des "Büros L." anzuwerben. Dabei arbeitete Reusch im Einvernehmen mit Warburg gezielt und erfolgreich darauf hin, das sogenannte "Kuratorium" des Büros L., das die neue Reichsreformbewegung finanzieren sollte, aus regional und gewerblich möglichst unterschiedlichen Industriellen und Bankiers zusammenzusetzen. 74 Reusch begnügte sich aber nicht damit, die Großwirtschaft von der Ruhr, Hamburg und Berlin in Form einer finanziellen Unterstützung an der geplanten Reichsreformbewegung zu beteiligen, sondern bemühte sich weiterhin darum, daß seine Reichsreformbewegung auf der Verbandsebene sowohl vom RDI als auch vom Reichslandbund Unterstützung fand. Die Konsensbildung mit dem RDI war schon durch die Teilnahme Kastls an der Unterredung auf dem Katharinenhof gesichert, zumal der RDI bereits im Juli 1927 nicht der Verwaltungsreform, sondern der Reichsreform Priorität einräumte. 75 Auf seiten der Agrarverbände konnte sich Reusch auf den von ihm geleiteten sogenannten "Smoking-Club", eine quasi-institutionalisierte Zusammenkunft zwischen Vertretern der Industrie und der Landwirtschaft im Berliner Hotel "Esplanade", stützen. 76 Da sich eine Übereinkunft von Industrie und Landwirtschaft in Fragen der Handelspolitik als schwierig erwies, war die Reichsreform eine willkommene Gelegenheit, um sich vom Nutzen der Zusammenarbeit der beiden Berufsgruppen zu überzeugen. In der Tat gelang es Tilo v. Wilmowsky, der mit Reusch die Bildung des "Smoking-Clubs" initiiert hatte, im September 1927 den Reichslandbund dazu zu bewegen, sich für eine reichsweite Vereinheitlichung der Realsteuern auszusprechen. Wilmowsky räumte ein, daß "die Überwinlich beabsichtigt war". Vgl. Blohm an Reusch, 13. 11. 1928; Reusch an Blohm, 30. 1. 1928, Haniel Archiv, 400101293/19. 74 Dem Kuratorium gehörten an: Reusch, Vögler, Krupp, Springorum und Silverberg von der westdeutschen Schwerindustrie; Warburg, Blohm, Franz H. Witthoeft (Handelsfirma Arnold O. Meyer), Wilhelm Cuno (Hapag) und Carl Stimming (Norddeutscher Lloyd), Robert Krull (Deutsche Werft - GHH Konzern) aus der Hamburgischer Großwirtschaft; Jakob Goldschmidt (Danat-Bank), Paul Kempner, Franz v. Mendelssohn (beide von dem Bankhaus Mendeissohn), Walther Frisch (Dresdner Bank), Oskar Wassermann, Franz Urbig (beide von der Dedi-Bank) und die Compri-Bank aus den Berliner Großbanken; Louis Hagen (Bankhaus Levy, Köln) und Kurt Hirschland (Bankhaus Simon Hirschland, Essen) aus den rheinischen Banken; Carl F. Siemens, Hans Bücher und Robert Bosch aus der Elektroindustrie, Carl Bosch von der I.G. Farben, Richard Buz (MAN - GHH Konzern), F. Dietrich (Bayerische Vereinsbank) und Fritz Neumeyer (F. Neumeyer AG.- GHH Konzern) aus Bayern; Erich Rabbethge (Zuckerfabrik Rabbethge) aus der Provinz Sachsen; Reemtsma Cigarettenfabriken aus Altona und Neuerburg Cigareuenfabriken aus Köln und schließlich das Deutsche KaliSyndikat. Im November 1927 gehörten noch nicht alle hier aufgezäIten Personen und Firmen dem Kuratorium an; Nachzügler waren C. Bosch, die bei den Zigareuenfirmen und das Deutsche Kali-Syndikat. Vgl. Liste der Mitglieder des Kuratoriums, Haniel Archiv, 400101251 1 Oa, 400101293 1 8b, 15, 16a, 17. 75 Vgl. Rundschreiben des RDI vom 2.8. 1927. BAK, NL Silverberg, 226. 76 Diese Treffen fanden seit Dezember 1926 fast regelmäßig monatlich ein- bis zweimal statt. Vgl. D. Gessner, Agrarverbände in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1976, S. 72. 3 Kim

Ir. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

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dung der verschiedenen partikularistischen und föderalistischen Gegenströmungen" innerhalb des Reichslandbundes nicht einfach gewesen sei. Aber er glaube, "daß in diesen allgemeinen Gesichtspunkten", die mit der Reichsreform zusammenhingen, "Industrie und Landwirtschaft nunmehr völlig einig gehen werden".?? Am 20. Oktober 1927 schließlich hatten Luther, Warburg und v. Roedern eine Unterredung mit Abraham Frowein, dem stellvertretenden Vorsitzenden des RDI, und Eberhard von Kalckreuth, dem Vorsitzenden des Reichslandbundes. 78 Offensichtlich wurde in dieser Unterredung vereinbart, daß Walther Adametz?9 und Wilhelm Kitz, Landrat von Düsseldorf, auf der Führertagung des Reichslandbundes vom 7. November 1927 als Hauptreferenten zum Thema Reichsreform sprechen sollten. Sollte in der Ausarbeitung eines Reichsreform-Konzepts eine Einigung gelingen, so Kitz, würde sich eine einheitliche Linie aller Berufsgruppen leichter als bisher finden lassen. 8o Unabhängig von der Bildung einer publizistischen Reichsreformbewegung in Industrie und Landwirtschaft verfolgte zum gleichen Zeitpunkt ein "HannoverKreis", dem Hermann Schmidt (Braunschweiger Kaliindustrieller), Ewald Hecker (Aufsichtsratsvorsitzender der Ilseder Hütte), Walter Jänecke (Verleger des "Hannoverschen Kuriers") und Gustav Heintze (Textilindustrieller in Hannover) angehörten, das Ziel, einen Nationalverein für die Reichsreform zu gründen. In einer gemeinsamen Besprechung am 20. Oktober 1927 gelang es Luther, Warburg und v. Roedern, den Kreis von einem Alleingang abzubringen und den Zusammen schluß beider Gruppen zu vereinbaren. 81 Mitte November informierte Luther dann die Kuratoriumsmitglieder des Büros L. über die Besprechung mit dem HannoverKreis und die Ergebnisse der Führertagung des Reichslandbundes. 82 Schließlich kamen die Kuratoriumsmitglieder des Büros L. am 1. Dezember 1927 mit den Vertretern des RDI (Kastl, Frowein und Adametz), des Reichslandbundes (G. von Kalckreuth, Karl Hepp und Arno Kriegsheim) und des Hannover-Kreises zusammen, um die konkrete Ausgestaltung der Reichsreformbewegung zu erörtern. 83 In dieser Besprechung wurde die Konzeption einer informell organisierten publizistischen Offensive zugunsten der Gründung eines Bundes endgültig aufgegeben. Wilmowsky an Reusch, I. 10. 1927, Haniel Archiv, 400101290/39. Vgl. Warburg an Reusch, 21. 10. 1927, Haniel Archiv, 400101293 /15. 79 Walther Adametz, Oberregierungsrat im Preußischen Innenministerium, arbeitete im Auftrag des RDI Vorschläge zur Ausgabensenkung aus. Er trug mit seinem Plädoyer zur Klärung der Strategiekontroverse innerhalb des RDI zugunsten der Befürworter einer Reichsreform bei. Vgl. Rundschreiben des RDI vom 2. 8. 1927, BAK, NL Silverberg, 226; W. Adametz u. K. E. Mössner, Die deutsche Verwaltungs- und Verfassungsreform in Zahlen, Berlin 1928, S. 31. 80 Vgl. W. Müller, Die Monopolbourgeoisie, S. 68; K. Gosswei1er, Bund zur Erneuerung des Reiches, S. 376. 81 Vgl. Warburg an Reusch, 21. 10. 1927, Hanie1 Archiv, 400101293 /15. 82 Die Unterredung mit den Kuratoriumsmitgliedern fand am 17.11. 1927 statt. Vgl. Einladungsbrief Luthers an Ausschußmitglieder vom 12. 11. 1927, ebd. 83 Vgl. Einladungsbrief Luthers an die Mitglieder des Büros L. vom 25. 11. 1927, ebd. 77

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2. Gründung und politische Tätigkeit des Lutherbundes

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Nach der Unterredung begannen die Teilnehmer mit der Sammlung von Unterschriften für den Gründungsaufruf des neuen Vereins. 84 Der Lutherbund war also offenbar dadurch zustande gekommen, daß sich die Industrievertreter von der Ruhr und aus Hamburg und die Großgrundbesitzer vom Reichslandbund schließlich den Vorstellungen des Hannover-Kreises angenähert hatten. Dabei fungierte das gemeinsame Ziel der Reichsreform als ein Bindeglied dieser äußerst heterogenen Interessenkoalition. Der Gründungsprozeß des Lutherbundes spiegelte sich in seiner Führungsstruktur wider. Wie schon erwähnt, gingen die Vorbereitungen seiner Gründung ursprünglich auf das Treffen auf dem Katharinenhof im September 1927 zurück, das regelmäßig bis 1932 wiederholt wurde und auf dem stets alle grundlegenden Entscheidungen über die Tätigkeiten des Lutherbundes präjudiziert wurden. Diesem "Katharinenhof-Kreis" gehörten Reusch, Luther, Warburg und v. Roedern, seit 1930 als stellvertretender Vorsitzender des Vereins Tilo v. Wilmowsky, seit 1930 Paul Kempner als Schatzmeister und seit 1931 der neue Vorsitzende Otto Geßler an. Im Juli 1933, nach der Auflösung des Bundes, reisten sie ein letztes Mal auf den Katharinenhof, um den Bund endgültig an seinem Geburtsort zu begraben. 85 Intern übernahmen Reusch und Luther die Aufgabe, die Kuratoriumsmitglieder über die Entscheidungen des "Katharinenhof-Kreises" und die Beratungsergebnisse der Arbeitsausschüsse des Lutherbundes zu unterrichten sowie über die Verwendung der Beiträge Bericht zu erstatten. Mit der Einrichtung unregelmäßiger gemeinsamer Sondersitzungen mit der Vereinsführung wurden die Kuratoriumsmitglieder überdies an der konzeptionellen Arbeit beteiligt. 86 In der Öffentlichkeit trat demgegenüber der Vorstand als die Führung des Lutherbundes auf, obwohl er faktisch kaum mehr als eine prachtvolle Fassade für den Katharinenhof blieb. Er konnte den Bund weitgehend unabhängig von dem Willen seiner Mitglieder leiten, da die Satzung vorsah, daß die Mitgliederversammlung die Vorstandsmitglieder auf 3 Jahre wählte und der Vorstand selbständig eigene Mitglieder kooptieren konnte. Überdies sollte der Lutherbund ursprünglich nur drei Jahre lang bestehen. 87 Die Zusammensetzung des Vorstandes resultierte aus der engen Zusammenarbeit der westdeutschen Schwerindustrie, der Hamburger und Berliner Großwirtschaft, des RDI, des Reichslandbundes und des "Hannover-Kreises" in der Gründungsphase des Bundes; eine vollständige Rekonstruktion ist allerdings aus den vorhandenen Unterlagen nicht möglich. 88 Die Mitglieder des Lutherbundes, deren VgI. Luther an die Mitglieder des Ausschusses L., 14. 12. 1927, ebd. Haniel Archiv, 400101293/ 16a, 17 u. 18. 86 VgI. R. Buz an Reusch, 25. 2. 1928, Haniel Archiv, 400101293 /15. 8? Haniel Archiv, 400101293 / 9a. 88 Eine lückenlose Aufstellung der Vorstandsmitglieder ist aufgrund der verfügbaren Materialien nicht möglich. An deren Stelle wird hier eine Liste der Mitglieder des Vorstandes und des Arbeitsausschusses vorgelegt, die faktisch in allen Fällen mitarbeiteten und vor der Öffentlichkeit geschlossen auftraten. Die Liste ist eine zusammenfassende Aufstellung der Vorstands- und Arbeitsausschußmitglieder, die in den Schriften des Bundes und in den An84 85

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II. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

Zahl sich auf rund 300 belief, wurden hauptsächlich dadurch rekrutiert, daß die im Vorstand überwiegend vertretene Großindustrie und Landwirtschaft ihren Beteilungskreis vergrößerten. 89 Außer den oben genannten Vorstands- und Arbeitsausschußmitgliedern schlossen sich auch zahlreiche Prominente dem Lutherbund an: Erste Gruppe (die westdeutsche und Berliner Großwirtschaft und Kommunalpolitiker):

Abraham Frowein (Stellvertretender Vorsitzender des RDI); Hans Kraemer (Stellvertretender Vorsitzender des RDI); Ludwig Kastl (Geschäftsführendes Präsidialmitglied des RDI); Bernhard Grund (Stellvertretender Vorsitzender des DIHT); Eduard Hamm (Geschäftsführendes Präsidialmitglied des DIHT); Paul Reusch (Generaldirektor des GHH); Karl Haniel (Aufsichtsratsvorsitzender der GHH): Hans Luther (Mitglied der DVP 1928-30); Otto Most (Geschaftsführer des IHK, Duisburg; MdR, DVP); Walther Adametz; Martin Sogemeier (Geschaftsführer d. Zweckverband d. Nordwestlichen Industrieverbände); Paul Moldenhauer (Aufsichtsratsmitglied der I.G. Farben, MdR, DVP); Walther Frisch (Vorstandsmitglied d. Dresdner Bank); Paul Kempner (Mitinhaber des Bankhauses Mendelssohn); Rudolf v. Bitter (Vorstandsmitglied der Deutschen Landesbankzentrale); Hermann Röchling (Röchling Konzern, Saar); Franz Bracht (Oberbürgermeister von Essen); Kar! Jarres (Oberbürgermeister von Duisburg, DVP); Dr. Dickmann (Landeshauptmann von Münster); Johannes Horion (Landeshauptmann der Rheinprovinz, Zentrum); Wilhelm Kitz (Landrat von Düsseldorf, Zentrum); Dr. Kühl (Landrat von Münster). Zweite Gruppe (Landwirtschaft):

Graf v. Ka1ckreuth (Präsident des Reichslandbundes); Arno Kriegsheim (Großgrundbesitzer, Direktor des Reichslandbundes); Richard v. Flemming (Präsident der Landwirtschaftskammer Pommern); Karl Robert Graf Douglas-Langenstein (Rittergutsbesitzer, Präsident der Badischen Landwirtschaftskammer); Achim v. Amim (Rittergutsbesitzer, MeIlenau); Georg Ernst Graf v. Bernstorff (Rittergutsbesitzer, Junkerwehningen); Felix Busch (Gutsbesitzer, Neumark); Tilo v. Wilmowsky. gaben von W. Müller als solche bezeichnet wurden. Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Rechte des Reichspräsidenten, Berlin 1929. S. 5 f.; Bund zur Erneuerung des Reiches, Das Problem des Reichsrats, Berlin 1930. S. 17 f.; W. Müller, Monopolbourgeoisie und die Verfassung der Weimarer Republik, S. 75-90. 89 Wie beim Vorstand des Lutherbundes ist leider keine Aufstellung der Mitglieder vorhanden. Deshalb wird hier die Aufstellung von W. Müller, die sich auf die Zeitungsberichte stützt, zusammen mit den Unterzeichnern der Reichsreformleitsätze, die der Bund 1928 herausgegeben hatte, zugrunde gelegt. Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder, Berlin 1928, S. 11 f.; W. Müller, Monopolbourgeoisie und die Verfassung der Weimarer Republik, S. 70-95.

2. Gründung und politische Tatigkeit des Lutherbundes

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Dritte Gruppe (Hamburger Großwirtschaft):

Max M. Warburg (Bankhaus Max Warburg); Siegfried Graf v. Roedern (Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Reeder); Carl Wilhelm Petersen (Erster Bürgermeister von Hamburg, DDP); Arndt v. Holtzendorff (Rittergutsbesitzer bei Hamburg, Präsidiumsmitglied des Hansabundes). Vierte Gruppe (Hannover-Kreis):

Ewald Hecker (Aufsichtsratsvorsitzender der Ilseder Hütte, Präsident der IHK, Hannover, Vorsitzender der DVP für den Wahlkreis Hannover); Hermann Schmidt (Präsident des IHK, Braunschweig, Zentralratsmitglied der DVP); Gustav Noske (Oberpräsident der Provinz Hannover); Walter Jänecke (Verleger d. "Hannoverschen Kuriers", Zentralratsmitglied der DVP); Gustav Heintze (Hannoverscher Textilindustrieller) . Fünfte Gruppe (Poltik. Wissenschaft und sonstiges):

Otto GeBIer (Reichswehrminister a.D.); Willy Hellpach (Staatspräsident a.D., Heidelberg); Otto Hoetzsch (MdR, DNVP, Historiker); Wilhelm Kahl (MdR, DVP); Charlotte Mühsam-Werther (Mitglied des RWR, DVP); Heinrich Retzmann (Admiral a.D., Zentralratsmitglied der DVP); Franz Schweyer (Bayerischer Innenminister a.D.); Karl Brandi (Historiker, Professor an der Universität Göttingen); Bernhard Otte (Vorsitzender des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands); Otto Henne (Flaschnermeister, Tübingen); Hans Remshard (Vorstandsmitglied der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank). Industrie und Banken:

Ernst Borsig (Mitinhaber der August Borsig GmbH, Vorsitzender der VDA); Ernst Brandi, (Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke, Vorsitzender des Bergbau-Vereins); Ernst Brauweiler (Geschäftsführer der VDA); Erich Fickler (Generaldirektor der Harpener Bergbau AG.); Julius Flechtheim (Syndikus des RDI); Louis Herren (Vorsitzender des Gesamtverbandes der Rheinisch-Westfälischen Spinnerei); Hermann Hummel (Direktor der BASF, MdR, DDP); Hermann Lange, (Textilindustrieller); Richart Lenel (Präsident der IHK, Mannheim); Carl Me1chior (Teilinhaber des Bankhauses Max Warburg Co.); Konrad Piatscheck (Vorsitzender des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins); Wolfgang Reuter (Generaldirektor der Demag AG.); Jakob Riesser (Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinischen Braunkohlen AG., Zentralvorstandsmitglied der DVP); Philipp RosenthaI (Generaldirektor der Porzellanfabrik Ph. RosenthaI und Co.); Kurt Schmitt (Generaldirektor der Allianz und Stuttgarter Verein Versicherungs AG.); Oskar Sempel (Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke); Kurt Sorge (Direkto-

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II. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

riumsmitglied der Friedrich Krupp AG.); Carl Stimming (Generaldirektor der Norddeutsche Lloyd); Albert Vogler (Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke). Landwirtschaft:

Hans Bodo Graf v. Alvensleben (Präsident des Herrenklubs); Hans v. Goldacker (MdR, DNVP); Hermann Dietrich (MdR, DNVP); Friedrich K. Döbrich (MdR, CNBL); Karl Hepp (Präsident des Reichslandbundes, MdR, CNBL); Oskar v. Osten-Wanitz, (Großgrundbesitzer, enger Freund von Paul v. Hindenburg); Freiherr v. Richthofen (Rittergutsbesitzer, MdR, DNVP); Hans Joachim v. Rohr (Vorsitzender des Pommerschen Landbundes); Alwin Schurig (Erster Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgebervereinigung). Politik:

Hermann Höpker-Aschoff (Preußischer Finanzminister, DDP); Siegfried Kardorff (MdR, DVP); Konrad Adenauer (Oberbürgermeister von Köln, Zentrum); Adolf v. Batocki, (Oberpräsident a.D., Könisgberg, DNVP); Dr. Hübener (Landeshauptmann von Merseburg); Wilhelm Lutsch (Landeshauptmann von Wiesbaden) Arbeiterbewegung:

Friedrich Baltrusch (MdR, Geschäftsführer des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands); Hans Bechly (Vorsitzender des Deutschnationalen Handlungsgehilfen Verbandes); Otto Becker, (Vorsitzender des Gesamtverbandes der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs); Herrnann Beims (Oberbürgermeister von Magdeburg, MdR, SPD - Austritt aus dem Lutherbund 1928); Paul Hirsch (Mitglied des Preußischen Landtags, SPD - Austritt aus dem Bund 1928). Wissenschaft und lungkonservative:

Gerhard Anschütz; Hans Delbrück; Johannes Haller; Fritz Hartung; Friedrich Meinecke; Max Planck; Hans Rothfels; Heinrich Triepel; Ernst Troeltsch; Alfred Weber; Wilhelm Freiherr von Gayl; Magnus Freiherr von Braun; Franz von Papen; Heinrich Freiherr von Gleichen; Edgar Julius Jung. Die Zusammensetzung des Vorstandes und der Mitgliedschaft zeigt, daß es dem Lutherbund unter der geschickten Regie Reuschs gelungen war, die maßgebenden gesellschaftlichen Kräfte der Weimarer Republik in die Reichsreform-Bewegung zu integrieren, wobei Bernhard Otte, Friedrich Baltrutsch, Otto Becker, Hans Bechly und Otto Henne als Vertreter der Arbeiterbewegung bzw. des Mittelstandes aufgenommen wurden, um dem von dem Lutherbund immer wieder erhobenen

2. Gründung und politische Tätigkeit des Lutherbundes

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Anspruch auf Vertretung aller "produktiven" Gesellschaftskräfte gerecht zu werden. Allerdings fand die Sammlungsidee ihre Grenze bei den weithin erfolglosen Versuchen, die Mitgliedschaft auf die politisch links von der Mitte stehenden republiktreuen Kräfte auszuweiten. 90 Das spiegelte sich auch im parteipolitischen Spektrum des Lutherbundes 91 : das Übergewicht der DVP ergab sich aus der Dominanz der Industrie und Banken; die DNVP und die Christlich-Nationale Bauernund Landvolkspartei als Vertretung der Landwirtschaft stellten den zweitgrößten Mitgliederanteil; dann kam die DDP mit einigen Großindustriellen, Wissenschaftlern und Kommunalpolitikern ; schließlich waren einige Kommunalpolitiker Zentrumsmitglieder. Der Lutherbund brachte also, zumindest was die Reichsreform betrifft, einen Minimalkonsens von rechts bis zur Mitte zustande. Es ist jedoch irreführend, aus der Zusammensetzung des Vorstandes und der Mitgliedschaft des Lutherbundes eine politisch tatkräftige Versammlung der konservativen Eliten abzuleiten. Obwohl sich Reusch um eine Sammlung der bürgerlichen Parteien von der DNVP bis zur DDP bemühte und der Lutherbund als eine wichtige Grundlage für das politische Comback Luthers fungierte, findet sich kein Anhaltspunkt dafür, daß Reusch den Lutherbund für die bürgerliche Sammlung unmittelbar einsetzte. Reusch und Luther begegneten dem Vorschlag v. Roederns mit Skepsis, aus dem Lutherbund eine politische Kraft zu machen. Offensichtlich begnügte sich Reusch damit, daß der Lutherbund für die bürgerliche Sammlung ein Beispiel bzw. Modell darstellen sollte und als interessenpolitische pressure-group auf die Politik einzuwirken versuchte. Die Politiker der bürgerlichen Parteien sollten durch die Zusammenarbeit in dem Lutherbund einander näher kommen und sich darüber klar sein, daß eine Sammlung der bürgerlichen politischen Kräfte möglich und sinnvoll war. Überdies hätte der Versuch Reuschs, den Lutherbund als breites politisches Sammelbecken bürgerlicher Kreise nutzen zu wollen, wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Die parteipolitische Heterogenität der Mitgliedschaft des Lutherbundes konnte nicht dadurch überwunden werden, daß sich verschiedene Parteigänger in einem interessenpolitisch relativ wenig umstrittenen Thema wie der Reichsreform auf ein gemeinsames Konzept einigten. Desgleichen garantierte der Schulterschluß von Industrie und Landwirtschaft in dieser Frage keineswegs deren Zusammenhalt in einem umstrittenen Bereich wie der Handelspolitik, ganz abgesehen von der Frage, wie weit überhaupt gesellschaftliche Interessengruppen das Parteigefüge effektiv langfristig zu ihren Grinsten beeinflussen konnten. Die Gründung und Tätigkeit des Lutherbundes zeigt somit, daß die konservative Elite Deutschlands Ende 90 Vgl. Aktennotiz über die Vorstandssitzung des Lutherbundes vom 8. u. 9. Mai 1928, Haniel Archiv, 400101293 /15. 91 Es ist müßig, die einzelnen Mitglieder des Lutherbundes genauestens einer bestimmten Partei zuzuordnen, weil dies für viele Personen nicht möglich ist. Beispielsweise standen die westdeutschen SchwerindustrielIen, die eigentliche Führung des Lutherbundes, sowohl mit der DVP als auch mit der DNVP in enger Verbindung. Die Schwierigkeit der parteipolitischen Einordnung der Vereinsmitglieder ist zudem darauf zurückzuführen, daß der Lutherbund bewußt ein überparteilicher Zusammen schluß war und die einzelnen Wirtschaftsverbände mit verschiedenen Parteien engen Kontakt pflegten.

11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

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der zwanziger Jahren bezüglich der Reichsreform eindrucksvoll Geschlossenheit demonstrierte, aber dieser Zusammenhalt kaum mehr als einen politischen Minimalkonsens darstellte, der sehr schnell brüchig werden konnte.

3. Die konzeptionelle Ausrichtung des Lutherbundes auf den Antiparlamentarismus Den Ausgangspunkt für die Ausarbeitung eines Reichsreformkonzeptes durch den Lutherbund bildete die gemeinsame Auffassung des Katharinenhof-Kreises, daß das Verhältnis zwischen dem Reich und Preußen neu gestaltet werden müsse. Luther sah seit langem in dem Dualismus zwischen Preußen und dem Reich den Hauptgrund für die Handlungsunfähigkeit des Deutschen Reiches 92 , während Reusch durch sein Engagement in der bayerischen Wirtschaft, Politik, Presse und Kultur93 zu der Auffassung gelangte, daß eine mit einer erheblichen Änderungen der territorialen und staatsrechtlichen Verhältnisse der süddeutschen Länder verbundene Reichsreform nicht durchzuführen war. Von Roedern, der 1926 anläßlich der Verhandlungen zwischen Preußen und Hamburg über die territoriale Neuregelung beider Länder ein Gutachten erstellte und von der rauhen Art Preußens, seine Machtposition einzusetzen, enttäuscht war94 , schloß sich wie Warburg der Auffassung Reuschs und Luthers an. 95 Der Arbeitsausschuß des Lutherbundes, der Mitte Januar 1928 unter dem Vorsitz v. Roederns seine Arbeit aufnahm, konzentrierte deshalb seine Beratungen auf die Lösung des Dualismus zwischen Preußen und dem Reich, zumal ein Konsens in dieser Frage bereits während der Verhandlungen über die Gründung des Lutherbundes sichtbar wurde. 96 Demgemäß schied sowohl Vgl. Warburg an Reusch, 13.7.1927, Haniel Archiv, 400101293/15. Der GHH-Konzern beteiligte sich an vielen Eisenverarbeitungs- und Maschinenbauunternehmen und Zeitungen in Bayern. Die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg AG, deren Mehrheit sich im Besitz der GHH befand, war der größte Arbeitgeber in Bayern. Reusch unterhielt besonders enge Beziehung mit dem Vorsitzenden der BVP Fritz Schäffer (seit Mai 1929), dem Bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held und dem Reichstagsabgeordneten der BVP Eugen Graf v. Quant-Isny. Alle waren häufig zu Gast bei Reusch auf dem Katharinenhof. Außerdem zahlte die Ruhrlade unter der Leitung Reuschs seit Ende 1928 zur Verbesserung der Partei organisation der BVP monatlich 3000 RM. Die Jungkonservativen Franz Freiherr v. Gebsattel, Edgar J. Jung und Paul N. Cossman waren Informanten Reuschs. Außerdem war Reusch führendes Mitglied des Münchener konservativen Clubs, der Gäa-Gesellschaft. Vgl. Briefwechsel Reuschs mit Blank, F. Schäffer, N. Cossmann, F. v. Gebsattel und v. Quant-Isny, Haniel Archiv, 4001012007 12 u. 3,400101290 115a, 400101293/2,3, 11 u. 12, 4001012024 1 4b. Vgl. auch E. Maschke, Es entsteht ein Konzern. Paul Reusch und GHH, Tübingen 1969 S. 19 ff; Falk Wiesemann, Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 19321 33, Berlin 1975, S. 64-67. 94 Vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 500. 9S Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus den verschiedenen Sitzungsberichten von Most an Reusch im Februar 1928. Haniel Archiv, 400101293/15 u. 10010123/11. 92

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3. Die Ausrichtung des Lutherbundes auf den Antiparlamentarismus

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eine konsequente Unitarisierung, die eine radikale territoriale Neugliederung des gesamten Reiches zur Folge gehabt hätte, wie auch die Errichtung Großpreußens durch die Einverleibung der nord- und mitteldeutschen Länder als mögliche Lösung aus. Ebenso wurde das Konzept, die Eigenstaatlichkeit der Länder finanziell auszuhöhlen, von vornherein ausgeschlossen. 97 Bei dem Versuch einer Konsensbildung kristallisierte sich schließlich die Reichslandlösung, d. h. die direkte Übernahme und Ausübung der Ländersouveränitat durch das Reich, als gemeinsame Grundüberzeugung heraus, so daß die Vorschläge von Hermann Höpker-Aschoff und von Wilhelm Kitz innerhalb des Arbeitsausschusses zur Diskussion standen. Höpker-Aschoff schlug eine Verschmelzung von Preußen und Nord- und Mitteldeutschland als "Reichsland Norddeutschland" vor. 98 Nach seinem Konzept sollten die Staatsministerien und Landtage der norddeutschen Länder aufgelöst werden, und die das Reichsland betreffende Gesetzgebung in den Händen der in Norddeutschland gewählten Reichstagsmitglieder liegen. Im Reichsrat säßen die Vertreter von Bayern, Württemberg und Baden und die der norddeutschen Reichsprovinzen. Wilhelm Kitz wollte dagegen nur den Staat Preußen in Reichsland umwandeln 99 , das unter Wahrung seiner territorialen Einheit Staatsministerien, Landtag und Staatsrat verlieren sollte. Den Reichstagsmitgliedern des Reichslandes Preußen wurde ein Vetorecht gegen die Preußen betreffenden Beschlüsse des Reiches zugesprochen. Obwohl mit der grundsätzlichen Befürwortung der Reichslandlösung die Hauptrichtung des Konzeptes klar erkennbar wurde, blieben Unstimmigkeiten bei der Präzisierungsarbeit des Arbeitsausschusses nicht aus, auf dessen Sitzungen drei unterschiedliche Auffassungen über die beiden vorgelegten Konzepte aufeinanderprallten. Von Roedern bevorzugte den Vorschlag von Höpker-Aschoff, während Luther, der sich hauptsächlich für die Beseitigung des Dualismus zwischen Preußen und dem Reich interessierte, 100 sich für das Konzept von Kitz aussprach. Für eine Minderheit, die die Interessen des Rheinlands vertrat und sich um die Beseitigung der vorhersehbaren staatsrechtlichen Differenzen zwischen den dann entstandenen Reichsprovinzen und den süddeutschen Ländern bemühte, waren beide Konzepte inakzeptabel. 101 Vor allem die Position v. Roederns geriet in die Schußlinie heftiger Kritik: nach Meinung Otto 96 Vgl. Protokoll von OUo Most über die Beratung des Arbeitsausschusses vom 3. 2. 1928, Haniel Archiv, 40010123/11. 97 Vgl. R. Buz an Reusch, 25.2. 1928, Haniel Archiv, 400101293/15. 98 Vgl. H. Höpker-Aschoff, Reichsland Norddeutschland, in: Kölnische Zeitung vom 29. 12. 1927; derselbe, Deutscher Einheitsstaat, Berlin 1928; L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 82 ff. 99 Vgl. Wilhelm Kitz, Reichsland Preußen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform, Düsseldorf 1926; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 512; L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 96 ff. 100 Vgl. Luther an Silverberg, 18.6. 1928, Haniel Archiv, 400101290 1 29a. 101 Der Wortführer dieser Minderheit war OUo Most. Vgl. Protokoll über die Sitzungen des Arbeitsausschusses des Lutherbundes vom 3. u. 24. 2. 1928, Haniel Archiv, 40010123 1 11.

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

Mosts führe das Roedernsche Konzept bloß zu einer Blockbildung von Süd- und Nordeutschland und benachteilige Norddeutschland staatsrechtlich in einer kaum tragbaren Weise. Franz Schweyer, der Bayern vertrat, sprach sich wiederum gegen Most aus, der letzten Endes aus seiner unitaristischen Neigung keinen Hehl machte. \02 Die verworrene Diskussion verdeutlichte, wie mühsehlig die Meinungsbildung und wie unklar die politischen Fronten in Detailfragen innerhalb des Lutherbundes bei aller Geschlossenheit nach außen waren. Die Gegensätze zwischen v. Roedern und Most versuchte Luther mit dem Vorschlag aufzulösen, den künftigen Reichsprovinzen bei der Neuregelung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern eine starke Mitwirkungsmöglichkeit bei dem Erlaß der Regierungsverordnungen zu gewährleisten. Da Most sich davon die Überwindung der staatsrechtlichen Differenzen zwischen Nord- und Süddeutschland versprach, lenkte er schließlich ein. In der Aufstellung der Leitsätze setzte sich von Roedern im wesentlichen durch: der Übertragung der Exekutive und der Gesetzgebung von Preußen auf das Reich sollten sich die Länder Hessen, Thüringen, Mecklenburg, Oldenburg, Anhalt, Braunschweig, Hamburg, Bremen, Lübeck und Lippe dem Reichsland anschließen. Für dieses Reichsland würden Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag an die Stelle von Staatsregierung und Landtag treten, während Preußen samt allen mittel- und norddeutschen Ländern als Machtfaktor faktisch verschwinden und die Provinzen direkt dem Reich untergeordnet werden sollten. Mit anderen Worten: die höchsten Verwaltungsträger auf der Landesebene waren nach diesem Vorschlag die Provinzen. Neben den Provinzen würden nur noch Bayern, Württemberg, Baden und Sachsen als Länder erhalten bleiben. \03 Es wirft ein deutliches Licht auf die Schwierigkeiten der Ausschuß-Beratungen, daß entgegen der ursprünglichen Zielsetzung Mosts und Luthers die Ausarbeitung des Konzeptes über die funktionale Neuregelung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern auf später vertagt wurde. \04 Statt dessen stand in den weiteren Beratungen die Frage im Vordergrund, wie sich die inneren Angelegenheiten Preußens nach dem Wegfall des preußischen Landtages regeln ließen. Sowohl Kitz als auch Höpker-Aschoff stellten in Aussicht, daß die im Gebiet von Preußen gewählten Reichstagsabgeordneten mit Sonderberatungsrechten ausgestattet sein sollten. In den Beratungen des Arbeitsausschusses verfocht unter anderen Johannes Horion, Landeshauptmann von Düsseldorf, die Aufrechterhaltung eines derartigen besonderen preußischen Parlaments. Aber die überwiegende Mehrheit der AusschußmitVgl. ebd. Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder, S. 9. 104 Das Konzept wurde erst nach dem Untergang der Weimarer Republik der Öffentlichkeit präsentiert. Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Reichsreform, Bd. 1. AIIgemeine Grundlage für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich, Ländern und Gemeindeverbänden, Beriin 1933. Entscheidend für die Verzögerung der Ausarbeitung war wohl weniger die Komplexität des Themas als die Befürchtung, daß ein geplanter tiefer Einschnitt in die Hoheitsrechte der Länder die süddeutschen Länder brüskieren würde. 102 103

3. Die Ausrichtung des Lutherbundes auf den Antiparlamentarismus

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glieder lehnte diese Lösung ab, da es nach den Worten von Otto Most das "in der Hauptsache Beabsichtigte zunichte macht". 105 Die "Beseitigung des preußischen Parlaments,,106 sollte also vollständig und endgültig durchgeführt werden. Die Arbeitsausschußmitglieder hielten es gleichwohl für sachlich nicht gerechtfertigt, wenn allein der bloß zu zwei Fünftein aus nichtpreußischen Abgeordneten bestehende Reichstag über rein preußische Angelegenheiten Entscheidungen treffen würde. Die mögliche Lösung wurde schließlich in der Umwandlung des bestehenden preußischen Staatsrates erblickt. Aus den neuen Reichsprovinzen sollte nach dem Muster des preußischen Staatsrates ein neuer Staatsrat gebildet werden. Dieser Staatsrat sei nunmehr bei allen Gesetzesvorlagen des Reichstags, soweit sie das Reichsland beträfen, zu hören; ihm sollte darüber hinaus ein Vetorecht im Bereich der Gesetzgebung und ein Mitwirkungsrecht beim Erlaß von Ausführungsverordnungen zustehen, die die bisherigen Ausführungsgesetze ersetzen sollten. 107 Die in der Schrift des Lutherbundes "Reich und Länder" zusammengefaßten Leitsätze stießen bei den Kuratoriumsmitgliedern auf positive Resonanz. Sowohl Warburg als auch Vögler fanden die Denkschrift "ausgezeichnet". 108 Ähnliche Reaktionen kamen von Reusch lO9 , Frowein 110 und Silverberg. 11l Kritische Stimmen blieben jedoch nicht aus. Krupp war skeptisch, ob das Konzept überhaupt durchzusetzen sei 112, während Karl Haniel Verständnis für negative Reaktionen aus Bayern zeigte und befürchtete, daß sich der Lutherbund, wenn er sich mit seinen Auffassungen halbwegs durchsetzen würde, "zum Spaltpilz Deutschlands" entwickeln würde, bei einem vollen Erfolg gar die "rote Gefahr für Deutschland doppelt so stark heraufbeschwören" würde. 113 Diese kritischen Einzelstimmen konnten jedoch über den Erfolg der Leitsätze nicht hinwegtäuschen. Eine Großzahl einflußreicher Industrieller und Bankiers einschließlich Krupp und Haniel gaben ebenso ihre Unterschrift unter die Leitsätze wie führende Vertreter der Argarverbände. 114 105 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Arbeitsausschusses des Lutherbundes vom 24. 2. 1928, Haniel Archiv, 40010 123 / I!. 106 Formulierung Siegfried v. Roederns. Vgl. R. Buz an Reusch, 25. 2. 1928, Haniel Archiv, 400101293/15. 107 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Arbeitsausschusses des Lutherbundes vom 7.3. 1928, ebd; Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder, S. 9 f. 108 Vogler an Reusch, I!. 8. 1928; Warburg an Reusch, 23. u. 26. 6. 1928, ebd. 109 Reusch an Roedern, 22. 6. 1928, ebd. 110 Frowein an Reusch, 20. 6. 1928, ebd. 111 Vgl. Niederschrift über die Migliederversammlung des Langnamvereins vom 19.6. 1928, in: Mitteilung des Langnamvereins, Jg. 1928, Nr. 1/2, S. 56. 112 Vgl. Krupp an Hugenberg, 2. 7. 1928, Krupp Archiv, FAH 4 E 46. 113 Reusch antwortete an Haniel mit einer harten Gegenkritik: "Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der, die weißblauen Partrikularisten in München ihre Suppe selbst brauen zu lassen; ihre ganze Haltung ist lediglich von der Befürchtung diktiert, daß bei Durchführung der Luther'schen Vorschläge es voraussichtlich weniger leicht möglich sein wird, die Monarchie in Bayern wieder einzuführen". Haniel an Reusch, 13. 8. 1928; Reusch an Haniel, 14.8.1928, ebd.

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

Erfolg und Einfluß des Lutherbundes spiegelten sich auch in der Zusammensetzung und den Beratungen des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz. 115 Von den insgesamt fünf Sachverständigen des Verfassungsausschusses, der sich am 4. Mai 1928 konstituierte und das funktionale und organisatorische Verhältnis zwischen Reich und Ländern neu regeln sollte, gehörten mit Eduard Hamm, Felix Busch, Heinrich Triepel und Gerhard Anschütz vier Personen dem Lutherbund an; einzige Ausnahme war Heinrich Brüning. 116 Carl Petersen, Vorstandsmitglied des Lutherbundes, gehörte als erster Bürgermeister von Hamburg dem Verfassungsausschuß selbst an. Darüber hinaus war der Lutherbund mit Johannes Horion und Carl Petersen in den zwei Arbeitsgruppen vertreten, die zwei bedeutende Gemeinschaftsgutachten über die Reichsreform erstellten. 1I7 So konnten die Mitglieder des Lutherbundes auf vielfältige Weise ihren Einfluß zugunsten der Reichlandlösung geltend machen. 118 Ebensoviel Bedeutung wie die personellen Verbindungen hatten die Leitsätze des Lutherbundes für die inhaltliche Diskussion des Verfassungsausschusses. Franz Medicus, Oberregierungsrat im Reichsministerium des Innern, der eine zusammenfassende Darstellung über den Verlauf der Länderkonferenz im Jahre 1930 veröffentlichte, wußte zu berichten, daß der Verfassungsausschuß die Leitsätze ernst nehmen mußte, weil "sich zum ersten Male Männer der verschiedensten Parteien und Lager ( ... ) auf einen einheitlichen konkreten Vorschlag geeinigt hatten"Y9 Der Verfassungsausschuß habe des weiteren vor allem in seinen Beratungen Ende Oktober 1928 aus der Kritik, die die vor kurzem veröffentlichten Leitsätze des Lutherbundes in der Öffentlichkeit hervorrief, Nutzen ziehen können, besonders deshalb, da die Reformvorschläge des Verfassungsausschusses in großem Maße denen des Lutherbundes ähnelten. Der Reformvorschlag des Verfassungsausschusses, die sogenannte "differenzierte Gesamtlösung", 120 zielte auf nichts anderes als die Bildung eines Reichslandes Norddeutschland. 121 Nach der Verschmelzung der Regierungen und Parlamente 114 Vgl. die Liste der Unterzeichneten der Leitsätze. Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder, S. 11 ff. 115 Zu Vorgeschichte und Verlauf der Länderkonferenz vgl. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 564 ff. u. 577 ff. 116 Vgl. F. A. Medicus, Reichsreform und Länderkonferenz, Berlin 1930, S. 10 f. 117 Diese Gutachten, die wichtigsten Ausarbeitungen während der ganzen Beratungen der Länderkonferenz, wurden schließlich vom Verfassungsauschuß am 21. Juni 1930 angenommen. Die Arbeitsgruppen bestanden jeweils aus vier Mitgliedern. Die größte Bedeutung bei der Ausarbeitung hatte Arnold Brecht. Vgl.: F. Medicus, Reichsreform, S. 52-55; L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 122 ff. 118 Vgl. u.a. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses der Länderkonferenz für Verfassungs- und Verwaltungsreform vom 22. bis 24.10. 1928, Berlin o.j. 119 Medicus, Reichsreform, S. 21. 120 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 592. 121 Vgl. Verfassungsausschuß der Länderkonferenz, Niederschrift über die Verhandlungen der Unterausschüsse vom 20.6. 1930 und Beschlüsse des zweiten Unterausschusses über die Organisation der Länder und den Einfluß der Länder auf das Reich, Berlin 1930, S. 49-57;

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von Preußen und dem Reich blieben die preußischen Provinzen übrig, die sich in "Länder neuer Art" umwandeln sollten, welche über keine den bestehenden Ländern zustehenden Hoheitsrechte mehr verfügen würden, da diese nunmehr vom Reich wahrgenommen werden sollten. Diesem Reichsland sollten sich dann außer Bayern, Württemberg, Baden und Sachsen die mittel- und norddeutschen Länder anschließen. Dieser Vorschlag unterschied sich grundlegend von dem des Lutherbundes, indem er das Parlament des Reichslandes bestehen ließ l22 , während der Lutherbund das Mitwirkungsrecht der Provinzen bezüglich der Angelegenheiten des Reichslandes innerhalb der Reichsgesetzgebung dem Staatsrat, also den Vertretern der Provinzverwaltung anzuvertrauen beabsichtigte. So fand die zentrale Komponente der Leitsätze des Lutherbundes, die Ausschaltung des Länderparlamentarismus, in dem Beratungsergebnis des Verfassungsausschusses keine volle Berücksichtigung. Trotzdem sah Luther die Arbeit des Bundes zu Recht im Grundsatz durch die Länderkonferenz bestätigt. 123 Dennoch verfehlte der Lutherbund bei allem Erfolg an zwei politisch entscheidenden Stellen seine Wirkung, namentlich in Bayern und in der von Alfred Hugenberg geführten DNVP. Luther und Reusch waren sich bewußt, daß die Reichsreform nicht gegen Bayern durchzusetzen war. 124 Deshalb versuchten sie mehrere Jahre, maßgebende Politiker und Föderalisten Bayerns enger an den Lutherbund zu binden. Bereits vor der Gründung des Bundes versuchte Reusch vergebens, Heinrich Held, Georg Heim und Franz Gürtner zur Unterschrift des Gründungsaufrufes zu bewegen. Diese wichen jedoch sogar einem Gespräch mit Luther aus und trafen erst nach der Gründung des Lutherbundes mit ihm zusammen. 125 Überdies gelang es nicht einmal, die Presse unter der Kontrolle des GHH-Konzerns auf die Linie des Lutherbundes bringen. 126 Gleichermaßen weigerte sich Paul Nikolaus Cossmann, der auf der Gehaltsliste der GHH stand, der Bitte Reuschs nachzukommen, dem Lutherbund zur publizistischen Verbreitung seiner Reformideen in Bayern zu verhelfen. l27 Ja, Cossmann überschrieb das Januarheft der von ihm herausL. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 117 ff. Biewer rekonstruiert den Verlauf der Länderkonferenz gut, aber er macht nicht deutlich, worin der Unterschied zwischen dem Vorschlag der Länderkonferenz und dem des Lutherbundes lag. 122 Die "Länder neuer Art" sollten einen gemeinschaftlichen Landtag bilden, indem die Listen zum Landtag auch für den gemeinschaftlichen Landtag gelten. Vgl. eben erwähnte Niederschrift des Verfassungsausschusses, S. 54 f. 123 Vgl. Luther, Vor dem Abgrund, S. 43. 124 Vgl. ebd., S. 42. 125 Auch nach der Unterredung mit dem nach München gereisten Luther am 10. 1. 1928 blieb der nachträgliche Beitritt der beiden aus. Vgl. Reusch an Cossmann, 21., 23. u. 26.12.1927; Cossmann an Reusch, 21. u. 23. 12. 1927; Cossmann an Luther, 23. 12. 1927, Haniel Archiv, 400101293/15. 126 Vgl. W. Thomas (Hauptschriftleiter des Fränkischen Kuriers) an Cossmann, 23. 12. 1927, ebd. 127 Vgl. Reusch an Cossmann, 27. 12.1927; Cossmann an Reusch, 27. 12. 1927, ebd.

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gegebenen Zeitschrift, der "Süddeutschen Monatshefte", 1928 mit dem föderalistischen Motto "Gegen den Einheitsstaat".!28 In der bayerischen Presse stießen die Leitsätze des Lutherbundes auf eine verheerende Kritik. Die "Bayerische Staatszeitung" bezeichnete die mögliche Umsetzung der Leitsätze als einen "Triumph des Unitarismus über den föderalistischen Charakter des Reiches".!29 Die "Münchner Neuesten Nachrichten", die dem GHH-Konzern angehörte, erblickte ihrerseits in dem Reformkonzept des Erneuerungsbundes "keine erneuernde Kraft".!30 Auch die Bayerische Staatsregierung übte scharfe Kritik an den Leitsätzen: letztes Ziel der Lutherschen Vorschläge sei nichts anderes als der Einheitsstaat.!3! Bayern befürchtete einerseits, daß das Reichsland auf die süddeutschen Länder eine Sogwirkung entfalten würde, andererseits setzte man die "Verreichlichung Preußens" mit einer "Abgabe des Reichs an Preußen" gleich. Held war nur dann bereit, Großpreußen zu akzeptieren, wenn Bayern Reservatsrechte gewährt würden. 132 Trotz aller Widerstände aus Bayern ließ Reusch in seinen Bestrebungen nicht nach. Nach einer massiven Einwirkung auf den Vorsitzenden der BVP, Fritz Schäffer, gelang es ihm, eine Unterredung zwischen Schäffer und Luther auf dem Katharinenhof Ende 1930 zu arrangieren. 133 Nach diesem Treffen erhielt Reusch von einem Mitglied der BVP Nachricht, daß Schäffer eventuell zur Mitarbeit gewonnen werden könne. Daraufhin kamen Luther, v. Roedern und v. Wilmowsky erneut zu einer Unterredung mit Fritz Schäffer zusammen, in der beide Seiten übereinkamen, eine Besprechung zwischen einer Abordnung der BVP und einer Delegation des Vorstandes des Lutherbundes herbeizuführen. !34 Im letzten Augenblick intervenierten jedoch Heinrich Held und Georg Escherich, so daß die geplante Besprechung verschoben wurde.!35 So endeten die jahrelangen Anstrengungen Reuschs, die BVP in das Konzept des Lutherbundes einzubinden, im wesentlichen erfolglos. Das wurde besonders offensichtlich, als Schäffer erklärte, er werde an einer sich mit dem Dualismus beschäftigenden Studiengruppe als "eine außenstehende Persönlichkeit" teilnehmen. 136 Diese Bereitschaftserklärung war bedeutungslos, zuVgl. Süddeutsche Monatshefte Jg. 25, H. 4. Vgl. Bericht der Vertretung der Reichsregierung in München vom 10. 8. 1928. BAK, R 43 I / 771. Die Leitsätze gelangten durch eine Indiskretion bereits im August an die Öffentlichkeit, obwohl ihre offizielle Bekanntgabe erst Mitte Oktober 1928 stattfand. 130 Vgl. ebd. Daß die Presse unter der Kontrolle des GHH-Konzerns so gravierend von der Auffassung Paul Reuschs abweichen konnte, war offenbar darauf zurückzuführen, daß unmittelbare Einflüsse auf die Redaktion der Zeitung nicht von Reusch, sondern von dem Aufsichtsratsvorsitzenden der GHH Karl Haniel ausgeübt wurden. 131 Vgl. Bericht der Vertretung der Reichsregierung in München vom 13. 10. 1928, BAK, R 43 1/771. I32 Vgl. Bericht der Vertretung der Reichsregierung in München vom 11. 10. 1928, ebd. 133 Diese Unterredung fand am 21. 12. 1930 statt. Vgl. Reusch an Luther, 26.1. 1931, Haniel Archiv, 400101290/ 29b. 134 Vgl. Roedern an Reusch, 18.3.1931, Haniel Archiv, 400101293 /17. 135 Vgl. Roedern an Reusch, 12. 4. 1931; W. Jahn (ein Mitstreiter von G. Escherich) an Roedern, 9. 4. 1931; Roedern an Jahn, 12.4.1931, ebd. 128

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mal der Bayerische Ministerpräsident Held auf der Tagung des föderalistischen Vereins "Reich und Heimat" Mitte Juni 1931, also zum gleichen Zeitpunkt, als Schäffer auf ein Gespräch mit dem Lutherbund eingehen wollte, den Bund als eine Vereinigung von "arbeitslosen Reichsarchitekten ohne den sittlichen Ernst" bezeichnete. 137 Alfred Hugenberg, der im Oktober 1928 den Vorsitz der DNVP übernahm, reagierte auf die Leitsätze des Lutherbundes nicht weniger negativ als die bayerischen Föderalisten. Hugenberg lehnte das Ersuchen Froweins, die Leitsätze zu unterschreiben, schroff ab. Obwohl er anerkannte, daß wesentliche Grundgedanken der Leitsätze früher von ihm selbst vertreten worden waren, glaubte er öffentlich dagegen Stellung nehmen zu müssen, weil "die Leitsätze an dem deutschen Parlamentarismus vorbeigehen".138 Früher habe er auch die Frage des Parlamentarismus nicht berührt, aber "heute ist das Stadium längst überholt, in dem man die Frage Reich und Preußen gesondert von der Frage des alles vernichtenden deutschen Parlaments- und Parteiensystems betrachten" könne. Die Rettung sei nur "im Herzen des Verfassungsorganismus" zu finden. Deshalb müsse man nach der Ansicht Hugenbergs mit der Auseinandersetzung um die Reichsreform aufhören und stattdessen den Artikel 54 der Reichsverfassung, also die Vertrauensklausel, durch eine Volksabstimmung beseitigen. Hieran könne sich unmittelbar die Gesundung des Verhältnisses zwischen Preußen und dem Reich anschließen, indem der Reichspräsident zugleich preußischer Staatspräsident werde und dann gleichzeitig die Minister im Reich und in Preußen ernenne. Hugenberg hatte bereits im Jahre 1925/26 einen Aufsatz über die Reichsreform verfaßt 139 , in dem er, wie er gegenüber Frowein einräumte, auch für die Reichslandlösung plädierte, der sich aber in zwei Punkten von den Leitsätzen des Lutherbundes unterschied. Erstens schnitt Hugenberg nicht die Frage an, ob sich die nordund mitteldeutschen Länder dem mit dem Reich vereinigten Preußen anschließen sollten. Zweitens wollte Hugenberg den in Preußen gewählten Reichstagsabgeordneten an der Stelle des weggefallenen Preußischen Landtages die gesetzgeberische Funktion für die Preußen betreffenden Angelegenheiten gewähren, während der Lutherbund dies ablehnte. Außerdem war das Konzept Hugenbergs, das Reich und 136 Vgl. Roedern an Schäffer, 13.6. 1931; Schäffer an Roedern, 22. 6. 1931; Reusch an Adametz, 28. 6.1931, ebd. 137 Vgl. Bayerische Staatszeitung vom 10.6. 1931; Fritz Linn an W. Adametz, 30. 6.1931, ebd. 138 Hugenberg an Frowein, 24. 6. 1928, Hanie1 Archiv, 400101293 /15. Den Durchschlag dieses Briefes schickte Hugenberg mehreren Industriellen und auch Luther. 139 Vgl. A. Hugenberg, Die Wiederaufrichtung eines wirklichen Bundesstaates, in: ders., Streiflichter aus Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1927, S. 22 ff. Dieser Aufsatz ist zwar undatiert, aber er muß nach der Anlage des Buches in den Jahren 1925/26 entstanden sein. Vgl. L. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 95, Anm. 95. Biewer faßt zwar die Vorschläge Hugenbergs gut zusammen, aber es ist ihm nicht gelungen zu verdeutlichen, wodurch die beiden Vorschläge sich eigentlich unterschieden.

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Preußen zu verschmelzen und gleichzeitig die Hegemonialmacht Preußens wiederherzustellen, in sich widersprüchlich. Offensichtlich ging es ihm 1925/26 v.a. darum, die von den Sozialdemokraten dominierte preußische Staatsregierung und den preußischen Landtag zu beseitigen. Mitte April 1929 legte Hugenberg dem Vorstand der DNVP sein zweites Reichsreformkonzept vor, daß sowohl eine Korrektur seines alten Vorschlages als auch die deutschnationale Alternative zu den Leitsätzen des Lutherbundes darstellte. 140 Diesmal stellte Hugenberg die Frage des Parlamentarismus in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Demnach sollten zunächst die Artikel 17 und 54 der Reichsverfassung, also die parlamentarische Abhängigkeit der Reichsregierung und der Länderregierungen, aufgehoben werden. Darüber hinaus stellte Hugenberg die Errichtung eines Oberhauses in Aussicht. Erst nach der Entmachtung der Parlamente sollte der Reichspräsident zugleich preußischer Staatspräsident und der Reichskanzler zugleich preußischer Ministerpräsident werden. Der Hauptunterschied zwischen dem neuen Vorschlag Hugenbergs und seinem alten Konzept sowie den Leitsätzen des Lutherbundes lag darin, daß Hugenberg die Vormachtstellung Preußens sichern wollte, indem er zum einen die Regierungen von Reich und Preußen nicht verschmelzte und zum andern die innere Administration und die Justizverwaltung, also die Machtstellen in der Innenpolitik, der Zuständigkeit des Reiches zu entziehen und ausschließlich den Ländern vorzubehalten beabsichtigte. Zugleich sollte die Verschmelzung der Innen-, Justiz- und Arbeitsministerien 141 vom Reich und Preußen durch eine Personalunion auf Ministerebene gesichert werden. So war die HegemonialsteIlung Preußens durch die Beherrschung der Innen- und Justizverwaltung des Reiches gesichert. 142 Das Reich sollte weiterhin das Außen-, Wehrund Postministerium, also die Reichsministerien ohne die konkurrierenden Länderministerien haben, während die preußische Regierung ihrerseits das Kultusministerium und das Finanzministerium behalten sollte. Soweit die Regierungen von Reich und Preußen eigenständig blieben, sollten beide ein eigenes Finanzministerium besitzen. Der Vorstand der DNVP machte sich in seiner Sitzung vom 9. April 1929 das Konzept Hugenbergs zu eigen und übte zugleich massive Kritik an dem Reformvorschlag des Lutherbundes. Dieser würde bloß zur Zerstörung Preußens führen, vor allem aber ginge er an dem Grundübel des Verfassungssystems von Weimar, nämlich dem Parlamentarismus, vorbei. 143 Der zweite Kritikpunkt überVgl. Der Tag vom 10.4. 1929. Die Reichsministerien der Wirtschaft, des Verkehrs und der Arbeit sollten darüber hinaus zu einem Reichsarbeitsministerium vereinigt werden, während das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe mit dem preußischen Wohlfahrtsministerium verschmolzen werden sollte. Vgl. ebd. 142 Da der Reichsarbeitsminister sich dem Verwaltungsapparat Preußens und zugleich der Wirtschaftsverbände bedienen und seine hoheitliche Aufgabe allmählich abbauen sollte, stellte die Zuständigkeit des Reiches für diese Bereiche keine Gefahr für die Hegemonie Preußens dar. Vgl. ebd. 143 Vgl. ebd. 140 141

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sah, daß der Lutherbund bald nach der Veröffentlichung der Leitsätze an einer Konzeption über die Neuregelung des Machtverhältnisses zwischen der Exekutive und Legislative auf Reichsebene arbeitete. Im November 1929 veröffentlichte der Lutherbund die Schrift "Die Rechte des Deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung".I44 Im Vorwort steckte der Bund sein politisch-publizistisches Ziel folgendermaßen ab: "Der Bund will dartun, daß im Rahmen und auf dem Boden der geltenden Verfassung die Entwicklungen möglich sind", die die Führung des Lutherbundes für "politisch notwendig" erachtete. 145 Mit dieser Erklärung grenzte sich der Lutherbund von der Konzeption Hugenbergs und des Stahlhelms ab, die auf die Aufhebung des Artikels 54 der Reichsverfassung abzielte. 146 Der Lutherbund machte zwar deutlich, daß er eine ähnliche verfassungspolitische Perspektive anstrebte, die letztlich auf eine Stärkung der Exekutive hinauslief und diese weitgehend vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig machte, hoffte dieses Ziel jedoch "ohne Paragraphenänderung", 147 nur auf Grund einer neuen Interpretation der Rechte des Reichspräsidenten herbeiführen zu können. 148 Der Lutherbund hob zunächst hervor, der Reichspräsident verkörpere den Volkswillen auf einer höheren Ebene als der Reichstag, weil der vom Volk gewählte "plebiszitäre Präsident,,149 jenseits des Ringens konkurrierender Parteien im Reichstag stand und der überparteilichen Zusammenfassung aller Kräfte des Volkes diene. 15o Von dieser Grundauffassung ausgehend, konzentrierte sich der Lutherbund darauf zu zeigen, daß die bisherige Praxis der Regierungsbildung und des Regierungswechsels die von der Verfassung gewährten einschlägigen Rechte des Reichspräsidenten bis zur Bedeutungslosigkeit verzerrte. Die Schrift betonte nachdrücklich, daß für die Regierungsbildung nicht Artikel 54, sondern Artikel 53, also die Ernennung der Reichsminister durch den Reichspräsidenten, ausschlaggebend sei. Obwohl die Ernennung des Reichskanzlers die wichtigste selbständige Funktion des Reichspräsidenten sei und gewährleiste, "seine politische Führereigenschaft zu bewahren",151 sei in der Praxis fast eine Umkehrung der Verhältnisse eingetreten, da sich die Regierungsbildung in Verhandlungen zwischen den Reichs144 Bund zur Erneueung des Reiches, Die Rechte des Deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung, Berlin 1929. 145 Vgl. ebd., S. 5. 146 Zum Vorstoß des Stahlhelms, durch ein Volksbegehren den Artikel 54 der Verfassung zu beseitigen, siehe V. R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten, Düsseldorf 1966, S. 119 ff. und H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 283 f. 147 Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Rechte, S. 5. 148 Für den Bund war die Absicht des Stahlhelms deshalb unakzeptabel, weil eine solche Bewegung "der Gefahr unterliege, die vorhandenen Rechte (des Reichspräsidenten) nicht hinreichend zur Geltung zu bringen". Vgl. ebd., S. 50. 149 V gl. ebd., S. 11. 150 Vgl. ebd., S. 7. 151 Vgl. ebd. S. 29.

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tagsfraktionen vollzog. 152 Den Ansatzpunkt zur Neuinterpretation des Artikels 54 fand der Lutherbund in Satz 1 des Artikels 153, der in keiner Weise das Erfordernis einer "positiven Mitwirkung des Reichstages bei der Regierungsbildung" enthalte. 154 Anders als bisher gehandhabt, sei in der Verfassung mit keinem Wort gesagt, daß das Vertrauen des Reichstages "gelegentlich der Regierungsbildung irgendwie ausgesprochen werden muß. ( ... ) Staatsrechtlich formal ist die zustimmende Äußerung des Reichstages zu einer neuen Regierung eine freiwillige Mehrleistung. Sie stellt eine besondere Begrüßung der Regierung durch den Reichstag dar".155 Der Bund hielt es für verfassungsrechtlich konform, die Regierungsbildung "damit zu beenden, daß durch Abstimmung die Regierungserklärung zur Kenntnis genommen wird".156 Der Reichskanzler sei kein Ausgewählter des Reichstages, sondern der "Vertrauensmann des Reichspräsidenten". 157 Auch wenn dem Reichstag eine neue Regierung vorgestellt werde, die die Reichstagsmehrheit nicht zu akzeptieren bereit wäre, sollte der Reichstag nach der Vorstellung des Lutherbundes von einem Mißtrauensvotum absehen. Andernfalls sollte der Reichspräsident von seinem Auflösungsrecht des Reichstags Gebrauch machen; der Reichspräsident vollziehe diesen Akt im Sinne seiner eigenen politischen Verantwortung für das Schicksal seines Volkes 158, um eine "unerträglich gewordene poltische Situation jeweilig auf streng verfassungsmäßigem Wege zu beseitigen".159 Der Versuch des Lutherbundes, die Rechte einer der beiden vom Volk gewählten Instanzen auf eine höhere Legitimationsebene zu stellen und so den plebiszitären Dualismus zwischen Reichstag und Reichspräsidenten zu überwinden, stieß aber auf verfassungsrechtliche Grenzen, da die vom Reichspräsidenten eingesetzte Regierung unabhängig vom Willen der Reichstagsmehrheit auf die Dauer nicht zu halten war. Der Lutherbund konnte nur das verfassungsrechtlich fragwürdige Argument gegen die Möglichkeit des Vertrauensentzuges durch das Parlament vorbringen, daß der Reichspräsident kraft seiner Autorität die Regierung stützen und legitimieren sollte. Es werde für den Reichstag schwer sein, so das Argument des Lutherbundes, den Rücktritt der Regierung gegen den Willen des Reichspräsidenten durchzusetzen, wenn der Reichspräsident die "innere Zustimmung des Volkes" finde. 160 Der Lutherbund flüchtete also genau zu dem Zeitpunkt in ein dem geltenden Verfassungsrecht widersprechendes Wunschbild des Reichspräsidenten als dem zentralen Verfassungsorgan, als die Diskussion über die Rechte des Vgl. ebd., S. 30 u. 35. Artikel 54, WRV: "Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht". 154 V gl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Rechte, S. 45. 155 Ebd., S. 46. 156 Vgl. ebd., S. 47. 157 V gl. ebd., S. 58. 158 Vgl. ebd., S. 42. 159 V gl. ebd., S. 43. 152 153

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Reichspräsidenten zugunsten einer autoritären Regierungsumbildung ins Stocken geriet. Führte der Entwurf eines autoritären Staatsaufbaues zur Propagierung einer abgeschwächten charismatischen Führerdiktatur in Gestalt des Reichspräsidenten, so versuchte der Lutherbund andererseits, das plebiszitäre Moment seiner Konzeption einzuschränken. Der Bund verlangte nämlich nicht die Identifikation des Volkswillens mit der Persönlichkeit des Reichspräsidenten, sondern wollte lediglich die "Rechte des Reichspräsidenten" im Ansehen des Volkes kräftigen. Der Reichspräsident müsse, so die Erklärung des Lutherbundes, "von einem Volksbewußtsein getragen werden, das ihm aus Überzeugung die Rechte zuerkennt, deren er zur Erfüllung seiner Sendung bedarf'. 161 Die Reformideen zeigten deutlich, daß der Lutherbund über keine konsistente verfassungs politische Konzeption verfügte. Schon in der verfassungspolitisch fragwürdigen Interpretation der Rechte des Reichspräsidenten, die von seinen tatsächlichen verfassungsrechtlichen Kompetenzen weithin abstrahierte und das Problem der dualistischen Verfassungskonstruktion der beiden vom Volk gewählten Organe nicht zu lösen imstande war, wurde dieses Dilemma deutlich erkennbar. Einerseits hielt man das Regierungssystem für reformbedürftig, andererseits scheute man aber vor der Propagierung einer offenen Führerdiktatur zurück, zumal Hindenburgs Integrationskraft offenkundig als eher gering eingeschätzt wurde. Weder die parlamentarische Demokratie noch eine plebiszitäre Dikatur, sondern einzig eine Stärkung der Autorität des Reichspräsidenten gemeinsam mit der parlamentarischen Unabhängigkeit der Regierung schien einen Ausweg anzubieten. 162 Reusch war von der Schrift des Lutherbundes sehr begeistert und prognostizierte ihr einen großen Absatz: "Das Buch wird ein Schlager werden! ( ... ) Ich empfehle Ihnen dringend, die Herausgabe dieses Buches zu beschleunigen, zumal wir im Laufe dieses Winters in politischer Beziehung noch allerhand erleben können und infolgedessen es für die Einstellung jedes gebildeten Deutschen zu den kommenden wertvoll ist, vorher genau über die Rechte des Reichspräsidenten, wie sie in vorzüglicher Weise in der Denkschrift dargestellt sind, unterrichtet zu sein". 163 LuVgl. ebd., S. 55. Vgl. ebd. \62 Zum Dilemma der illusionären restaurativen Reformvorstellungen der konservativen Eliten am Ende der Weimarer Republik siehe H. Mommsen, Regierung ohne Parteien. Konservative Pläne zum Verfassungsumbau am Ende der Weimarer Republik, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 2 ff. und auch H. A. Winkler, German Society, Hitler and the Illusion of Restoration 1930-33, Journal of Contemporary History 11 (1976), S. 10 f. \63 Reusch an Luther, 22. 10. 1929, Haniel Archiv, 400101293 / 16a. Reusch legte die Schrift dem Brief bei, mit dem er die Industriellen um weitere Beitragszahlungen bat. Vor allem an Silverberg richtete Reusch unter Hinweis auf die Schrift die Bitte, den im vorausgegangenen Jahr von diesem eigenmächtig reduzierten Beitrag zu verdoppeln. Silverberg kam der Bitte tatsächlich nach. Vgl. Reusch an Silverberg, 7. 11. 1929; Siverberg an Reusch, 5. 12. 1929, ebd. \60

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ther war auch der Meinung, daß es besonders wichtig sein werde, "das Buch im Buchhandel zu haben, nachdem der Ausgang des Volksbegehrens (über den Young-Plan, H.I.K.) feststeht".164 Tatsächlich fand das Buch im Vergleich zu den anderen Schriften des Lutherbundes großen Absatz. 165 Die politische Entwicklung im Frühjahr 1930, also kurz nach Erscheinen der Schrift, schien die Stichhaltigkeit der Reformvorschläge des Lutherbundes eindrucksvoll zu bestätigen. 166 Die "Deutschen Führerbriefe" würdigten im April 1930, unmittelbar nach der Bildung des Kabinetts Brüning, die Bedeutung der Schrift mit den Worten, die Bildung dieser ersten Präsidialregierung sei eine "praktische Nutzanwendung der jüngsten verdienstvollen Veröffentlichung des Lutherbundes" über die noch so wenig ausgeschöpften Rechte des Reichspräsidenten. 167 Zudem konnte die Schrift als propagandistisches Pendant zu den Bestrebungen von Paul Reusch angesehen werden, der über den Industrieflügel der DVP konsequent den Sturz der Großen Koalition betrieben hatte. 168 Dabei ist er von Luther unterstützt worden, der in einer Unterredung mit dem Vorsitzenden der DVP, Ernst Scholz, am 17. März 1930 davon abriet, die Große Koalition zu verlassen, damit die SPD die Verantwortung für die sich abzeichnende Auflösung der Großen Koalition trage. In der Zeit zwischen Anfang November 1928, als Reusch, Warburg, Luther und Roedern im Katharinenhof zusammenkamen, um sich auf die unmittelbar anstehenden Tätigkeiten des Lutherbundes festzulegen l69 , und Juli 1929, als Luther vor der Presse den Plan des Lutherbundes zur Untersuchung über die Rechte des Reichspräsidenten bekanntmachte, fand keine besondere Unterredung im Führungskreis des Lutherbundes statt. Spätestens in dieser Phase erfolgte die offene Hinwendung des Lutherbundes zu verfassungspolitischen Experimenten, die von den Bemühungen Reuschs um die Bildung eines Präsidialkabinetts begleitet wurden. Nicht mehr die Verwaltungsreform, sondern die Verfassungsreform stand nun endgültig im Zentrum der Aktivitäten des BundesPo Luther an Reusch, 24. 10. 1929, ebd. "Reich und Länder", das im Oktober 1928 erschienen war, wurde nach dem Stand von 20. September 19306775 mal verkauft, während von der ein Jahr später erschienenen Schrift über den Reichspräsidenten 6302 Exemplare verkauft wurden. Vgl. Adametz an Reusch, 23.9. 1930, Haniel Archiv, 400101293/16b. 166 Walter Adametz, Geschäftsführer des Lutherbundes, rühmte, daß "die Not- und Krisenzeit der letzten Monate die Richtigkeit der in der Reichspräsidentenschrift niedergelegten Auffassungen voll bestätigt" habe. W. Adametz an Reusch, 29. 12. 1930. Eine Berichterstattung über die Errungenschaften des Bundes, Haniel Archiv, 400101293/17. 167 Zitiert nach W. Müller, Die Monopolbourgeois!e, S. 219. 168 Zu den Intrigen von General von Schleicher, der DVP und der Schwerindustrie, die Große Koalition zu stürzen und ein Präsidialkabinett zu inaugurieren, vor allem zum Zusammenhang zwischen diesen Bestrebungen und der Verabschiedung der Young-Plan-Gesetze siehe H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 287 ff. Zu der Aktion des Industrieflügels der DVP vgl. Gilsa an Reusch, 22. 1. 1930, in: I. Maurer u. U. Wengst (Hrsg.), Politik und Wirtschaft in der Krise 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning, Düsseldorf 1980, S. 33 f. 169 Sie trafen sich am 1. und 2. November 1928 im Katharinenhof. Vgl. Haniel Archiv, 400101293/16a. 164 165

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Dem Versuch, auf die verfassungspolitische Entwicklung des Reiches Einfluß zu nehmen, diente auch die dritte Schrift des Lutherbundes, "Das Problem des Reichsrats"171, deren Ursprünge sich ebenfalls bis zu der Unterredung auf dem Katharinenhof im November 1928 zurückverfolgen lassen. Im September 1929 wurde den Vorstands- und Arbeitsausschußmitgliedern ein Entwurf der Denkschrift über die Zusammensetzung und Bedeutung der zweiten Kammer übersandt. 172 Anfang Dezember 1929 schloß der Arbeitsausschuß zur Vorbereitung von Vorschlägen zur zweiten Kammer seine Beratungen ab und stellte die Leitsätze vor. 173 Der Lutherbund schloß von Anfang an die Errichtung einer völlig neuen Kammer aus l74, da weder die Beseitigung der Ländervertretung noch die Errichtung einer dritten Kammer neben dem Reichsrat sinnvoll und möglich war. 175 An den Widerständen, auf die der Reichsreformplan des Lutherbundes vor allem in Bayern stieß, hatte die Führung des Vereins die Unmöglichkeit erkannt, den Reichsrat zu beseitigen. Zudem bedeutete eine dritte Volksvertretung für den Bund eine Überorganisation und die Verteuerung des Staatsapparates, während eine drastische Kostenreduzierung ja gerade das leitende Motiv zur Gründung des Bundes war. Deshalb kam die Führung des Lutherbundes zu der Schlußfolgerung, daß die zweite Kammer nur auf einen Ausbau des Reichsrats hinauslaufen könne l76 und legte dafür als mögliche Lösung zwei Modelle vor. Nach dem ersten Modell bestand der neue Reichsrat jeweils zur Hälfte aus dem bestehenden Reichsrat und den Mitgliedern, die der Reichswirtschaftsrat wählen sollte. Nach dem zweiten Modell sollte der bestehende Reichsrat durch die vom Reichswirtschaftsrat zu wählenden Mitglieder sowie durch weitere Personen ergänzt werden, die jeweils zur Hälfte vom Reichstag gewählt und vom Reichspräsidenten ernannt würden, wobei eventuell das Berufungsrecht des Reichstages wegfallen sollte. Nach dem ersten Modell wäre der Reichsrat auf das Doppelte, nach dem zweiten Modell auf das Dreifache seiner derzeitigen Mitgliederzahl vergrößert worden. Beiden Fassungen war gemeinsam, daß der jetzige Reichsrat als engeres Gremium, "Länderrat" genannt, nur einen Teil des neu170 Ende Februar 1929 entließ Luther einen für volkswirtschaftliche Statistik zuständigen Mitarbeiter; dessen Nachfolger wurde mit den Presseangelegenheiten betraut, da, so Luther, "bei der jetzigen HaupteinsteIlung des Bundes das Verwaltungsreformproblem nicht mehr so im Vordergrund steht"; Luther an Reusch, 24. 2. 1929, ebd. Reusch und Warburg mußten für die verstärkte Pressekampagne weitere Geldquellen erschließen. Vgl. Reusch an Warburg, 8.3. 1929, ebd. 17l Bund zur Erneuerung des Reiches, Das Problem des Reichsrats, Berlin 1930. 172 Vgl. Luther an Vorstands- und Arbeitsausschußmitglieder, 28. 9. 1929, Haniel Archiv, 400101293/16a. 173 Vgl. Geschäftsstelle des Bundes zur Erneuerung des Reiches an Vorstands- und Arbeitsausschußmitglieder, 3. 12. 1929, ebd. 174 Vgl. Vorschläge für Beschlüsse der Jahresversammlung des Bundes zur Erneuerung des Reiches vom 28. 2. 1930, ebd. 175 Vgl. Bericht von Adametz, betitelt "Schlußfolgerung betreffend den Reichsrat", ebd. 176 Vgl. ebd.

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en Reichsrats bildete. 177 Im Rückblick erscheinen beide Reformmodelle kaum alltagstauglich : die auf dem Wege der Verfassungsreform angestrebte Vereinfachung der Verwaltung wäre - ganz abgesehen von den politischen Durchsetzungsproblemen eines solchen Konzepts - durch eine Aufblähung des Reichsrates teuer erkauft worden und hätte die politische Entscheidungsbildung kaum in der gewünschten Weise erleichtert. Die Mitwirkungsrechte des Reichsrats bei der Gesetzgebung wollte der Lutherbund nicht erweitern. Die starke Stellung des Reichsrats als "dritte Säule der Macht" neben dem Reichspräsidenten und dem Reichstag sei schon in der Reichsverfassung gesichert. Artikel 69, Absatz 1 der Reichsverfassung, wonach die Gesetzesvorlagen der Reichsregierung der Zustimmung des Reichsrates bedürfen, das Recht des Reichsrates, Initiativvorlagen zu beschließen, die dann die Reichsregierung dem Reichstag vorlegen mußte (Art. 69, Abs. 2), schließlich das suspensive Veto des Reichsrates gegen Gesetze, die der Reichstag nur mit Zweidrittelmehrheit überwinden konnte, garantierten nach der Ansicht des Lutherbundes dem Reichsrat umfangreiche Mitwirkungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung des Reiches. Es komme aber darauf an, ob dem Volk die Rechte des Reichsrats, die "durch die bisherige Handhabung der Verfassungsbestimmungen in ihren Auswirkungen beeinträchtigt sind", 178 ausreichend vermittelt werden könnten. Aus dem Konzept ist deutlich ersichtlich, daß der Lutherbund zwar die weitverbreiteten Ideen einer Beteiligung der verschiedenen Berufsgruppen an der Gesetzgebung als eine Art Gegengewicht zum Reichstag einbezog, dem ständestaatlichen Element aber dennoch keine entscheidende Bedeutung zuteil werden ließ. Nach dem vom Lutherbund bevorzugten zweiten Modell machten die berufsständischen Vertreter nur ein Drittel des erweiterten Reichsrats aus. Der Lutherbund war also keineswegs etwa auf eine strikte Verwirklichung der ständischen Ideologie ausgerichtet. Vielmehr diente die Schrift primär dazu, eine erhebliche Einschränkung der finanzpolitischen Entscheidungsbefugnisse des Reiches vorzubereiten. Der Bund sah eine Korrektur des verfassungsrechtlichen Verhältnisses von Reichstag und Reichsrat gerade in der Finanzpolitik als unumgehbar an: "Nur in denjenigen Fällen, wo der Reichstag entgegen dem Vorschlag oder der Bewilligung der Reichsregierung Ausgabenerhöhungen oder Neuausgaben beschlossen hat, soll es künftig unbedingt der Zustimmung des Reichsrat zum Reichstagsbeschluß bedürfen".179 Der Lutherbund zielte also mit der Schrift nicht nur auf die Schwächung der Länderkompetenzen in Reichsange1egenheiten ab, sondern zugleich auf die Stärkung der Regierungsgewalt. Desgleichen lautete der erste Punkt der Leitsätze zur Reichsratsreform: "Das wesentliche Ziel jeder Reform der deutschen Staatsorganisation ist die Sicherung einer einheitlichen politischen Führung für Deutschland".18o Damit strebte der Lutherbund implizit die Schwächung des Einflusses 177

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V gl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Das Problem, S. 50 f. Vgl. ebd., S. 15. Ebd.

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der Länderregierungen auf die Reichspolitik an. Dem Länderrat, der nach dem ersten Modell eine Hälfte und nach dem zweiten Modell ein Drittel des neuen Reichsrates bilden sollte, wurde ausschließlich die derzeitige Zuständigkeit des Reichsrats in Verwaltungsangelegenheiten vorbehalten, wogegen die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Reiches auf den neuen erweiterten Reichsrat übergehen sollte. 181 In einem Brief an Adametz lobte Gerhard Anschütz, der den Lutherbund wahrscheinlich bei der Konzipierung seiner Reformvorschläge beriet, die Schrift zur Reichsreform im Hinblick auf die "erfreuliche Ablehnung radikaler und utopischer Forderungen", die "es sehr weiten, auch politisch links stehenden Kreisen ermöglichen wird, Ihren Vorschlägen grundsätzlich zuzustimmen".182 In der Tat erteilte der Lutherbund der ständestaatlichen Ideologie eine Absage. Darüber hinaus lehnte der Bund das Konzept einer Finanzdiktatur mittlerweile ebenfalls ab. Ein Finanzdiktator, der außerhalb der Reichsregierung stünde, würde aufgrund der notwendigen Detailkenntnisse für die Regierungsarbeit entweder ohnmächtig vor Sachfragen stehen oder bloß ein finanzpolitisches Chaos anstiften. Ein Finanzdiktator, der zum Reichskabinett gehöre, würde auch keine wünschenswerten Ergebnisse erzielen. Entweder würde sich der Reichsfinanzminister überflüssig machen, oder aber die beiden Finanzressorts würden doppelte Arbeit leisten. 183 Der politischen Konzeption des Lutherbundes, ein Präsidialkabinett auf der Grundlage des bestehenden Verfassungssystems in die Wege zu leiten und es auf ein politisch breites Spektrum von der Mitte bis rechts zu stützen, entsprach auch die politische Strategie Reuschs 1929/30, eine bürgerliche Sammlung herbeizuführen und an deren Spitze gegebenenfalls Hans Luther zu stellen, der auch die Bildung eines Präsidialkabinetts übernehmen sollte. 184 Am 4. März 1929 kündigte der mit der westdeutschen Schwerindustrie eng verbundene Chefredakteur der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" Fritz Klein einen Plan zur Bildung einer Rechtsregierung mit der Überschrift "Die Stunde des Reichspräsidenten" an. 185 Der Reichspräsident solle ein Kabinett der Persönlichkeiten unter einem bewährten Führer berufen, das gegenüber dem Reichstag über die Auflösungsorder verfügen müsse. Dieses "Ministerium der Erneuerung" sollte auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes die vordringlichsten Aufgaben lösen. Die Bezeichnung "Ministerium der Erneuerung" wurde in Anspielung auf den Lutherbund gebraucht, weshalb Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 51 f. 182 Anschütz hielt sie für "eine der besten von den vielen Arbeiten, die dem großen Problemkreis der Reichsreform in den letzten Jahren gewidmet worden sind". Vgl. G. Anschütz an W. Adametz, 28. 7. 1930, Haniel Archiv, 400101293 / 16b. 183 Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Das Problem,S. 26 ff. 184 Vgl. Gilsa an Reusch, 25. u. 29. 1. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 9 u. lla, S. 23 f. u. 32 f. 185 Vgl. W. Müller, Die Monopolbourgeosie, S. 166. 180 181

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11. Hans Luther und die Großindustrie in den zwanziger Jahren

der "Vorwärts" am nächsten Tag kommentierte, "warum nicht gleich offen und deutlich: Die Stunde des Herrn Luther!,,186

In der Tat setzten sich Paul Reusch und der Hannover-Kreis, mit denen Luther erst anläßlich der Gründung und der Beratungen des Lutherbundes enge Kontakte knüpfte, für eine neue politische Karriere Luthers ein. Zunächst strebten Paul Reusch, Ewald Hecker, Hermann Schmidt und Walther Jänecke an, Luther zum Nachfolger des Anfang Oktober 1929 verstorbenen Vorsitzenden der DVP Stresemann zu machen. 187 Aber dieser Versuch stieß auf den Widerstand des Mittelstandsflügels der DVP und der Anhänger von Ernst Scholz. So wurden Einwände erhoben, daß Luther "zu viel fiskalisch" denke und "etwas diktatorisch veranlagt" sei. 188 Luther wurde eher als künftiger ,,spardiktator, Finanz- oder Innenminister, vielleicht wieder als Kanzler" denn als Parteivorsitzender erwünscht. 189 Als die DVP in einen innerparteilichen Kampf zu geraten drohte, lehnte Luther von sich aus eine Kandidatur für den Partei vorsitz ab und sprach sich für Ernst Scholz aus, zumal er seine Kandidatur von Anfang an von einem innerparteilichen Konsens abhängig gemacht hatte. 190 Luther wollte weiter abwarten, bis die Bestrebungen Reuschs um die bürgerliche Sammlung ein positives Ergebnis ergab. Darauf verwies Hermann Schmidt in der Zentralvorstandssitzung der DVP am 14. Dezember 1929, in der Scholz zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Luther wolle sich nur dann zur Verfügung stellen, so Schmidt, wenn die DVP ihre Flügel nach rechts und links öffne und eine Einigung von den Demokraten bis zur Mitte der Deutschnationalen herbeiführe. 191 Da die bürgerliche Sammlung jedoch ins Stocken geriet l92, und Luther selbst die Zeit für ein "Kampfkabinett" unter seiner Führung noch nicht für gekommen hielt 193 , Vgl. ebd., Anm. 67. Vgl. Reusch an Gilsa, 25.10 u. 7. 11. 1929, Haniel Archiv, 400101293 / 4a; Luther an Jänecke, 11. 10. 1929, BAK, NL Luther, 296. 188 V gl. Reusch an Gilsa am 9. 11. 1929, ebd. 189 Dies war die Meinung der Mehrheit der Reichsausschußmitglieder der DVP, die am 3. Dezember 1929 zusammenkamen. Vgl. Reusch an Luther, 4. 12. 1929, Haniel Archiv, 400101290/29b. 190 Vgl. Luther an Jänecke, 11. 10. 1929; Luther an Kempner, 30. 11. 1929, BAK, NL Luther, 296 u. 363. Zum innerparteilichen Konflikt um die Wahl des Nachfolgers Stresemanns vgl. L. E. Jones, German Liberalism, S. 346 ff. Innerparteiliches Taktieren war ohnehin nicht die Stärke des Verwaltungsmannes Luther. Er konnte sich im Januar 1928 nicht einmal mit seiner Kandidatur für den Reichstagswahlkreis Düsseldorf-Ost und im März 1928 für den Wahlkreis Hannover-Ost durchsetzen. In beiden Fällen verhinderte Stresemann die politische Rückkehr Luthers. Vgl. Reusch an Krupp, 7. 3. 1928, Krupp Archiv, FAH 4 E 1186; Reusch an Ewald Hecker, 7.3. 1928, Haniel Archiv, 400101293 /8b. 191 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Zentralvorstandes der DVP vom 14. 12. 1929, BAK, R 45 11 / 44. 192 Vgl. L. E. Jones, German Liberalism, S. 357 f. u. 367 f.; H. A. Turner, Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S. 130 ff. 193 Vgl. Niederschrift Jäneckes über eine Unterredung mit Luther, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 31, S. 78 ff. 186

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3. Die Ausrichtung des Lutherbundes auf den Antiparlamentarismus

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übernahm er nach eingehender Aussprache mit Reusch, Warburg, Goldschmidt, Mendelssohn, Krupp und Wilmowsky das Amt des Reichsbankpräsidenten 194 und verschob seine Ambitionen auf das Reichskanz1eramt auf einen späteren Zeitpunkt. 195

194 Vgl. ebd.; Reusch an Jung, 20. 3. 1930; Warburg an Reusch, 3.4,1930, Hanie1 Archiv, 400101251 I lOa. Kurz nach dem Amtsantritt Luthers wurde Reusch auf Bitten Luthers und Warburgs Verwaltungsratsmitglied der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Vgl. Reusch an Warburg, 6. 4. 1930, ebd. 195 Luther wollte sich zurückhalten, da er der Meinung war, daß das nächste Kabinett die vorhersehbare Finanzkrise vom Herbst 1930 nicht überstehen würde. Vgl. Niederschrift Jäneckes, ebd.

III. Die konjunkturpolitische Diskussion am Vorabend der Bankenkrise 1. Der deflationspolitische Konsens zwischen Politik und Wirtschaft vor der Zerreißprobe Der 27. November 1930 war ein bemerkenswerter Tag. Reichskanzler Heinrich Brüning trat an diesem Tag zusammen mit dem Reichsbankpräsidenten Hans Luther in einer großen Veranstaltung des Dachverbandes der Industrie auf, um seine Politik zu verteidigen. Der Verlauf der Hauptausschußsitzung des RDI zeigte, daß zwischen Reichsregierung, Reichsbank und Industrie ein Grundkonsens über die wirtschaftspolitische Zielsetzung einer Preis- und Kostensenkung existierte, die in dem von Luther formulierten, zu jener Zeit gängigen deflationspolitischen Kredo beredten Ausdruck fand: "Je fester und entschlossener das deutsche Volk danach trachtet, durch Senkung von Produktionskosten und Preisen möglichst vor den anderen die neuen Ufer zu erreichen, desto besser Deutschlands Zukunftsausschichten sein werden".l Der deflationspolitische Konsens konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Protagonisten bei der Ausgestaltung der Deflationspolitik jeweils eigene Prioritäten setzten. Kastl machte deutlich, daß die Industrie von Brüning eine grundlegende sozial- und finanzpolitische Kehrtwende erwartete; er bezeichnete das zwei Monate zuvor veröffentlichte Regierungsprogramm als den "ersten Anfang einer Umkehr nach einer Zeit von zehn Jahren falscher Wirtschafts- und Finanzpolitik".2 Luther vertrat die Auffassung, daß nur eine Stärkung der Reichsgewalt langfristig die Voraussetzungen für eine "gesunde" Wirtschaft schaffen könne. Brüning seinerseits stellte die Reduzierung der Reparationsverpflichtungen in den Vordergrund und erklärte, daß die Reichsregierung die Reparationsfrage "jeden Tag, in jeder Stunde, in jedem Beschluß vor Augen hat". 3 Schon kurz nach dem Amtsantritt hatte Brüning die ersten Maßnahmen zur Revision der Reparationsverpflichtungen eingeleitet, als er die Forderung der Gläubiger, die letzten 22 Annuitäten in kommerzielle Anleihen umzuwandeln, strikt ablehnte. 4 Bereits im Sommer 1930 existierte eine von der Reichskanzlei in AbspraI Vgl. Ansprache Luthers in der Hauptausschußsitzung des RDI vom 27. 11. 1930, BAK, NL Luther, 414. 2 Vgl. Veröffentlichungen des RDI, Nr. 55, S. 19. 3 Ebd., S. 24. 4 Vgl. W. Glashagen, Die Reparationspolitik Heinrich Brünings 1930-1931, Diss. (Bonn) 1980, S. 200 f.

1. Der deflationspolitische Konsens vor der Zerreißprobe

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che mit den Reichsministerien für Wirtschaft, Finanzen und Äußeres formulierte, in sich schlüssige Konzeption zur Streichung der Reparationen 5 , deren Strategie auf einer aktiven Wirtschaftspolitik und einer passiven Finanzpolitik aufbaute. Eine Exportoffensive und der konjunkturbedingte Rückgang des Importes sollten die Absatzmärkte der Gläubigerländer erschüttern und deren Ausfuhr nach Deutschland erschweren. Dies richtete sich insbesondere gegen England, das aufgrund der Überbewertung des Pfundes ein chronisches Handelsdefizit besaß und auf den Exportmärkten mit Deutschland konkurrierte. Die finanzpolitischen Bemühungen um einen Haushaltsausgleich waren hingegen darauf ausgerichtet, die grundsätzliche Zahlungsbereitschaft Deutschlands bei gleichzeitiger Zahlungsunfähigkeit unter Beweis zu stellen. Der aktiven Reparationspolitik diente zunächst die gezielte Exportförderung, die vor allem in der auf Initiative Brünings erfolgten Umwandlung der Golddiskontbank in eine Export-Kreditbank institutionellen Ausdruck fand. 6 Im Mittelpunkt standen aber die Bemühungen des Reichskanzlers, das allgemeine Preisniveau zu senken; ausreichenden Handlungsspielraum verschaffte er sich hierzu durch die in der NotVO vom 26. Juli 1930 enthaltene Befugnis, die Preisbindungen aufzuheben 7 - eine erste Bewährungsprobe für die von Vertretern der Industrie zuvor vehement geforderte Stärkung der Entscheidungsbefugnisse der Reichsregierung. Brüning erhoffte sich vor allem von der Preis senkung der stark kartellierten Grundstoffwaren wie Kohle und Eisen eine Signalwirkung für den Rückgang des allgemeinen Preisniveaus. Reparationspolitisch war die Senkung des Kohlepreises nicht nur deshalb von besonderer Bedeutung, weil er einen wichtigen Kostenbestandteil der übrigen Branchen bildete, sondern auch, weil Deutschland und England auf diesem Sektor in engem Wettbewerb standen. 8 Da sich die Reichsregierung mit ihren Plänen nicht gegen den Widerstand der Industrie durchzusetzen vermochte, schlug sie den Wirtschaftsverbänden eine Lohnsenkung zur Finanzierung der Preissenkungen vor. Eingriffsmöglichkeiten boten sich der Reichsregierung im Bereich des staatlichen Schlichtungswesens, und so schaltete sie sich schließlich zugunsten der Arbeitgeber in die Tarifverhandlungen ein, wie der Oeynhausener Schiedsspruch im Mai 1930 und der Verlauf der Lohnverhandlungen in der Nordwest Gruppe der Eisen- und Stahlindustrie Ende 1930 nachdrücklich zeigte. 9 Anfang Januar 1931 machte die Reichsregierung sogar von Vgl. ebd., S. 97-116. Die Umwandlung der Golddiskontbank in eine Exportbank vollzog sich zwar durch die NotVO vom I. 12. 1930, aber die Konzeption ist bereits seit Mitte Mai 1930 in der Reichsregierung diskutiert worden. V gl. ebd., S. 118 ff. 7 Vgl. RGBI 1930 I, S. 311 u. 328; M. Grübler, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning. Vom Ende der Großen Koalition 1929/30 bis zum Vorabend der Bankenkrise 1931, Düsseldorf 1982, S. 175 f. 8 Vgl. W. Fischer, Wirtschaftliches Wachstum, wirtschaftlicher Strukturwandel und Veränderungen des industriellen Systems, in: H. Mommsen u.a. (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 33; W. Glashagen, Die Reparationspolitik, S. 128 f. 9 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 157 f. u. 306 f. 5

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III. Die konjunkturpolitische Diskussion vor der Bankenkrise

dem Notverordnungsrecht Gebrauch, um die Preis- und Lohnsenkungen im Ruhrbergbau durchzusetzen. 10 Grundsätzlich war die Industrie mit der Preispolitik Brünings einverstanden. Kastl erklärte in der ersten Vorstandssitzung des RDI nach der Septemberwahl 1930, daß eine Anpassung an den weltweiten Preisverfall zum Wiederaufbau der Wirtschaft zwingend notwendig sei. II Dieses Bekenntnis zur Deflationspolitik konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Industrie in der Preispolitik Brünings hauptsächlich ein Instrument sah, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und erst in zweiter Linie den reparations politischen Kurs des Reichskanzlers unterstützen wollte. Die Kopplung der Preissenkungen an die Reduzierung der Löhne wirkte sich für Brüning insofern negativ aus, als die Lohnsenkungen nun jeweils zur Vorbedingung für weitere Preissenkungen wurden und dadurch die Kaufkraft weiter geschwächt wurde. So verschob die westdeutsche Schwerindustrie die Preissenkungen ihrer Produkte bis zu den jeweiligen Tarifverhandlungen, obwohl sie selbst kaum mehr wußte, wie der nur auf dem Papier stehende offizielle Preis nach außen hin aufrechterhalten werden konnte. 12 Auch die kartellrechtliche Bestimmung der NotVO vom 26. Juli 1930 führte zur Verzögerung der marktwirtschaftlich längst gebotenen Preissenkungen. Um sich einem möglichen Eingriff der Reichsregierung zu entziehen, stoppte die Industrie die Preissenkungen und wies die Vorwürfe energisch zurück, daß der jeweilige Preisstand nur dank der Kartellbildung zu halten seiY Der Index bei den gebundenen Preisen industrieller Rohstoffe und Halbwaren sank in der Tat vom März 1930 bis November 1931 (1926 = 100) von 105 auf 93,4, während der Index bei den freien Preisen in demselben Zeitraum von 84,9 auf 55,7 sank. 14 Seit Ende 1930 begann die Industrie, ihre von Anfang an bestehenden Bedenken gegen die Preispolitik der Reichsregierung unverhüllter zu artikulieren. Kastl erklärte, daß jeder Eingriff in das Preisgefüge zu einer Verzerrung des marktwirtschaftlichen Mechanismus führe und richtete an den anwesenden Reichskanzler die Bitte, "die Preissenkungsaktion möglichst bald zu Ende" zu führen. 15 Eduard Hamm bezeichnete in der Hauptausschußsitzung des DIHT am 28. November 1930, in der der stellvertretende Reichswirtschaftsminister Trendelenburg anwesend war, den Abschluß der staatlichen Preissenkungsmaßnahmen ebenfalls als "dringend" erwünscht. Eine Preissenkungsaktion führe vielfach zu einer stärkeren ZurückhalVgl. ebd., S. 301 ff. u. 329 ff. Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 19. 9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 140, S. 396. 12 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 303. I3 Vgl. ebd., S. 176. 14 V gl. Institut für Konjunkturforschung, Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, Berlin 1933, S. 121. 15 Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des RDI vom 27. 11. 1930, in: Veröffentlichung des RDI, Nr 55, S. 21. 10 11

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tung der Käufer, die nicht nur aus der Minderung der Einkommen zu erklären sei, so daß schließlich bloß die Fixkosten steigen würden. 16 Die Industriellen forderten von der Reichsregierung, die Preissenkung auf die Waren des täglichen Bedarfs wie Nahrungsmittel, Produkte des Handwerks und öffentliche Tarife, zu beschränken. 17 Als die Reichsregieung durch die NotVO vom 16. Januar 1931 die Preisbindung für den Einzelhandel bei jenen Markenartikeln aufhob, deren Preise am 1. Februar 1931 nicht mindestens 10% niedriger lag als am 1. Juli 1930, kritisierten Industrievertreter, daß die landwirtschaftlichen Produkte von dem staatlichen Reglement ausgenommen wurden. 18 Der Grund, warum die Industrie bei allen Bedenken gegen die Preispolitik die Deflationspolitik Brünings mitzutragen bereit war, lag nicht bloß in der dadurch eröffneten Möglichkeit der Lohnsenkung. Vielmehr zielte sie damit zugleich auf die Beseitigung des Schlichtungswesens sowie die Auflockerung des Tarifrechts und damit letzten Endes auf die Entmachtung der Gewerkschaften. Obwohl der großindustrielle Drang nach Beseitigung der Tarifautonomie vor allem auf die Initiative der Schwerindustrie zurückging, wurde diese Position auch von den gemäßigten Industrieflügeln unterstützt oder zumindest geduldet. In der Vorstands sitzung des RDI vom 26. November 1930 begründete der Textilindustrielle Georg Müller-Oerlinghausen, stellvertretender Vorsitzender seines Verbandes, den man keineswegs zum radikalen Verbandsflügel zählen kann, sein Einverständnis mit der Preispolitik der Reichsregierung gerade mit der sozialpolitischen Zielsetzung: der Weg einer konsequenten Preissenkung sei unerläßlich, um "zu einer Erschütterung der Zwangslohnfront überhaupt zu kommen".19 Aus diesem Grunde blockierte die westdeutsche Schwerindustrie konsequent alle Schritte, die zwar mit der Deflationspolitik in Einklang standen, dem Ziel der Entmachtung der Gewerkschaften und der Beseitigung der Tarifautonomie aber zuwiderliefen. Vertreter der westdeutschen Schwerindustrie und der VDA-Führung brachten die Bemühungen von Vertretern des RDI und der Freien Gewerkschaften im Mai/Juni 1930, eine gemeinsame Position zur Senkung der staatlichen Ausgaben sowie der Löhne und Preise zu finden, zum Scheitern, indem sie die Auflokkerung des Tarifrechts zur Bedingung machten. 2o Die gleiche Strategie prägte das Verhalten der VDA, den erneuten Annäherungsversuch einiger Industrieller mit den Gewerkschaften im Dezember 1930 zu blockieren. 21 Desgleichen verhinderten die westdeutschen Schwerindustriellen den Vorstoß von earl Bosch zur Arbeits16 Vgl. Referat Hamms in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 28. 11. 1930, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1930, H. 15, S. 111 u. 121. 17 V gl. ebd, S. 104 ff. 18 Vgl. H. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988, S. 228 f. 19 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 26. 11. 1930, Bayer Archiv, 62/10.4. 20 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 160 ff. 21 Vgl. ebd., S. 328 f.

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zeitverkürzung im Januar 1931 22 , während sie zum gleichen Zeitpunkt im Ruhrbergbau auf einen tariflosen Zustand hinsteuerten. 23 Die Tatsache, daß es der Schwerindustrie stets gelang, die gemeinsame Front der Industrie gegen das kollektive Tarifrecht zu bewahren und mögliche Schritte zur Aufweichung dieser Front zu blockieren, beweist die Entschlossenheit, die Deflationspolitik zur Entmachtung der Gewerkschaften zu instrumentalisieren. 24 Brüning schien einer Auflockerung des Tarifrechts gegenüber nicht abgeneigt zu sein; er lehnte den Vorschlag des Geschäftsführers des Arbeitgeberverbandes der nordwestdeutschen Schwerindustrie, Ludwig Grauert, durch eine innerbetriebliche Vereinbarung den Tariflohn bis zu 15% unterschreiten zu können, nicht von vornherein ab. 25 Widerstand erhob jedoch Stegerwald; der Reichsarbeitsminister war nur zu einer Auflockerung des Tarifrechts bereit, falls die großen Kartelle der Grundstoffindustrien ebenfalls aufgelöst würden?6 Der entscheidende Grund für das Ausbleiben der tarifpolitischen Initiative Brünings lag aber darin, daß der Reichskanzler für die Fortführung seiner Notverordnungspraxis eine Tolerierung seiner Politik von seiten der SPD benötigte, die sich ihrerseits in Fragen des Arbeits- und Tarifrechts zu keinem Kompromiß bereitfand. Als die Schwerindustrie sich dieses Dilemmas bewußt wurde, erblickte sie in der Trennung Brünings von der SPD die einzige Lösung. Da dieser Schritt nicht erfolgte, distanzierten sich einflußreiche Schwerindustriellen wie Reusch und Springorum im Frühjahr 1931 zusehends von Brüning. 27 Die Deflationspolitik Brünings erwies sich aufgrund der unterschiedlichen Prioritätensetzung der Reichsregierung und der Industrie allmählich als eine politische Fehlkonstruktion. Dem Reichskanzler gelang es nicht, die Preise der kartellierten Grundstoffwaren ausreichend zur Anregung der Nachfrage zu reduzieren; stattdessen verlor er immer mehr die Unterstützung einflußreicher Industriegruppen wie der westdeutschen Schwerindustrie. Auch in der Finanzpolitik schlug Brünings Kurs fehl; die reparationspolitische Konzeption, die auf die Erfahrungen des Kreditabzugs während der Verhandlungen über den Young-Plan im Februar 1929 zurückging,28 beruhte im wesentlichen auf der Sanierung der öffentlichen Haushalte Vgl. ebd., S. 345 f. Vgl. R. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918-1933, Berlin 1986, S. 386 ff. 24 Vgl. B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln". Deflationspolitik als Krisenstrategie der Unternehmer in der Ära Brüning, in: GuG 11 (1985), S. 295-326; T. Mason, Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934: Ein Versuch über das Verhältnis "archaischer" und "moderner" Momente in der neuesten deutschen Geschichte, in: H. Mommsen u.a. (Hrsg.), Industrielles System, S. 348. 25 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 391 u. 396. 26 Vgl. ebd., S. 393. Die Auflösung der großen Kartelle wagte die Reichsregierung nicht, weil sie davon eine Gefährdung der Kreditwürdigkeit Deutschlands im Ausland und den Verfall der Schwerindustrie in Oberschlesien und im Saargebiet befürchtete. Vgl. ebd., S. 399 f. 27 Vgl. ebd., S. 440 ff. 28 Vgl. H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 276 f. 22 23

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und der Bildung von Haushaltsrücklagen. Brüning wollte bei einem neuen Revisionsversuch verhindern, daß die Reichsregierung durch Abzüge der ausländischen kurzfristigen Kredite erneut zur Rücknahme des Revisionsziels gezwungen würde. Ferner erwartete er von dem gelungenen Haushaltsausgleich eine Stärkung des ausländischen Vertrauens in die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, was zum Zufluß von langfristigem Auslandskapital nach Deutschland führen sollte, um so den kurzfristigen Schulden das gefährliche Moment zu nehmen. 29 Als sich mit der Zeit die Konsolidierung der kurzfristigen Kredite als aussichtslos herausstellte, wurde die Finanzpolitik Brünings ausschließlich zum Mittel, die Zahlungsbereitschaft Deutschlands bei gleichzeitig eng begrenztem finanzpolitischem Spielraum unter Beweis zu stellen. Entsprechend seines reparationspolitischen Konzepts setzte Brüning die höchste finanzpolitische Priorität auf den Finanzausgleich. Zu diesem Zweck kombinierte er die mehrfach vorgenommenen Steuererhöhungen bzw. die Einführung neuer Steuern mit den Ausgaben- und Gehaltssenkungen: vom April 1930 bis Juni 1931 wurden u.a. die Umsatz-, Lohn-, Einkommens-, Kraftfahrzeug-, Bier-, Tabak-, Warenhaus- und Zuckersteuer erhöht; es wurden weiterhin Sonderzuschläge zur Lohn- und Einkommenssteuer der Ledigen, eine Krisensteuer und die kommunale Bürgersteuer eingeführt. Außerdem wurden mehrfach Gehaltssenkungen im öffentlichen Dienst und die Herabsetzung der Pensionen und Renten, der Kriegsopfer-, Kranken- und Arbeitslosenunterstützung angeordnet. Ferner wurde das Ausgabenvolumen von 1931 als Obergrenze für die nachfolgenden Haushalte festgesetzt 30 , und es gelang tatsächlich, die Ausgaben des Reiches von 8,2 Mrd. RM in 1930 / 31 auf 6,6 Mrd. RM in 1931/32 zu reduzieren?' Trotz dieser drastischen Sparmaßnahmen gelang es Brüning nie, den Haushalt zum Ausgleich zu bringen. Das Haushaltsdefizit des Reiches beliefen sich in 1929/30 auf 446 Mio. RM, in 1930 / 31 auf 631 Mio. RM und in 1931/32 auf 182 Mio. RM. 32 Diese Zahlen verschleiern jedoch, daß die Reichsregierung mit ihren Sanierungsbemühungen der Entwicklung des Haushaltsdefizits verzweifelt hinterhinkte und ihr bloß mit Aushilfen begegnete. Kaum wurde die Erhöhung der Bier- und Umsatzsteuer Mitte April 1930 vom Reichstag verabschiedet, trat einen Monat später ein Haushaltsdefizit von 136 Mio. RM auf. 33 Einen Monat nach dem Erlaß der NotVO vom 27. Juli 1930 berichtete Dietrich im Kabinett, daß das neue Defizit im laufenden Haushaltsjahr 300 Mio. RM erreichen werde?4 Im September Vgl. W. Glashagen, Die Reparationspolitik, S. 227 ff. Vgl. H. Sanmann, Daten und Alternativen der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Ära Brüning, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Geselischaftspolitik 10 (l965),S.1l5. 31 Vgl. W. Heindl, Die Haushalte, S. 334 u. 342 f. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Ministerbesprechung vom 19.5. u. 3. 6. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37 u. 45, S. 139 u. 182. 34 Vgl. Ministerbesprechung vom 22.8. 1930, AdR, Brüning, Nr. 105, S. 391. 29

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korrigierte er die Zahl auf 900 Mio. RM?5 Daraufhin nahm das Reich den LeeHigginson-Kredit in Höhe von 125 Mio. Dollar auf. 36 Das Haushaltsdefizit des Reiches stieg trotz der Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen durch die NotVO vom 1. Dezember 1930 bis Ende April 1931 auf 700 Mio. RM,37 so daß sich die Reichsregierung gezwungen sah, am 5. Juni 1931 eine neue Notverordnung zu erlassen und ferner von den Privatbanken einen Überbrückungskredit in Höhe von 125 Mio. RM zu nehmen. 38 Von März bis Dezember 1930 stieg die Reichsschuld um 16%?9 Die Konsequenzen der Brüningschen Finanzpolitik bestanden nicht nur in der kumulativen Krisenverschärfung, die die kontraktive Finanzpolitik in der Depression bewirkte, sondern auch in dem sich zunehmend verschlechternden Verhältnis der Reichsregierung zur Industrie. Anders als Brüning, der aufgrund seiner reparationspolitischen Zielsetzung die Haushaltssanierung in den Vordergrund seiner Finanzpolitik rückte, setzte die Industrie den finanzpolitischen Schwerpunkt auf die Ausgaben- bzw. Steuersenkung und den Abbau von staatlichen Aufgaben. Trotz der bisweilen umstrittenen Effektivität scheint das Mittel der Ausgabensenkung neben dem Reichsreformgedanken die populärste wirtschafts- und gesellschaftspolitische Zielsetzung in den Reihen der Schwerindustrie gewesen zu sein, da nicht nur politisch radikale Industrielle wie Wilhelm Wittke, Rudolp Blohm und Oskar Sempell, sondern auch gemäßigte Unternehmer wie Hermann Bücher und Paul Silverberg zeitweise für diese Lösung optierten. 4o Die Führungen des RDI und des DIHT, die einer Katastrophenpolitik strikt ablehnend gegenüberstanden, waren durchaus bereit, die finanzpolitischen Maßnahmen Brünings mitzutragen. 41 Diese auf politische Rücksichtnahme gegenüber Brüning zurückgehende Haltung war jedoch den Verbandsmitgliedern ohne Schwierigkeiten nur verständlich zu machen, Vgl. Kabinettssitzung vom 23. 9.1930, AdR, Brüning, Nr. 116, S. 436. Vgl. H. James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924-1933: A Study of the Politics of Economics during the Great Depression, Frankfurt a.M. 1985, S. 120 f. 37 Vgl. Ministerbesprechung vom 23. 4. 1931, AdR, Brüning, Nr. 283, S. 1021. 38 Vgl. Vermerk Schäffers über eine Besprechung mit Luther am 17. u. 25. 3.1931, BAK, R 43 1/2368; H. James, Deutschland, S. 296. 39 Vgl. G. Plumpe, Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Realität und Alternativen, in: GuG 11 (1985), S. 338. 40 Vgl. Ausführung Blohms in der Vorstandssitzung des RDI vom 22. 5. 1930 und die Wortmeldungen von Wittke, Sempell, Bücher und Silverberg in der gemeinsamen Sitzung des Präsidiums und des Vorstands des RDI vom 25. 6. 1930. Silverberg verlangte eine allgemeine Ausgabenkürzung um 5%, während die andere Gruppe eine 20%ige Senkung forderte. Bayer Archiv, 62/ 10.3 u. 4. 41 Kastl entgegnete den Forderungen nach einer stärkeren Ausgabenreduzierung mit dem Argument, daß die Ausgaben des Reiches selbst durch eine "Diktatur" nur um 300 Mio. RM zu kürzen seien. V gl. Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Vorstände des RDI und der VDA vom 13.6. 1930, Bayer Archiv, 62 / 10.3 und auch M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 122. Zur Einstellung der Führung des DIHT vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des DIHT vom 25. 7. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 120b, S. 329 ff. 35

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wenn dem Reichskanzler ohne Erhöhung der direkten Steuern der Haushaltsausgleich gelingen würde und wenn in absehbarer Zeit die Aussicht auf eine rigorose Ausgabensenkung bestand. Aus diesem Grunde wurde das Finanz- und Wirtschaftsprogramm vom 30. September 1930 von der Industrie fast einhellig begrüßt. 42 Bereits seit dem Frühjahr 1931 begann sich jedoch die westdeutsche Schwerindustrie von der Finanzpolitik Brünings zu distanzieren, da die erwarteten Schritte ausblieben. 43 Als Brüning schließlich mit der NotVO vom 5. Juni 1931 die sogenannte Krisensteuer auf Lohn und Einkommen einführte, geriet die Führung des RDI angesichts der heftigen Kritik der Mitglieder in enonnen Rechtfertigungszwang, warum sie trotzdem die Reichsregierung unterstütze. 44 Die Bedenken gegenüber der Finanzpolitik Brünings waren ferner darauf zurückzuführen, daß der Reichskanzler an das über eine Senkung der Staatsquote hinausgehende gesellschaftspolitische Ziel der unitarischen Verfassungsrefonn aus Sicht der Industrie nicht entschlossen genug heranging. Bezüglich der Reichsreform hatte die Industrie ein konkretes Konzept gleichsam in der Schublade, seitdem der Lutherbund Mitte 1928 die einschlägigen Leitsätze vorgelegt hatte. Auch mit der Frage des endgültigen Finanzausgleiches beschäftigte sich die Industrie recht intensiv, nachdem die Reichsregierung in ihrem Wirtschafts- und Finanzprogramm vom 30. September 1930 dessen endgültige Regelung in absehbarer Zeit ankündigt hatte. 45 Die Ausarbeitung eines gemeinsamen Konzepts übernahm der sogenannte "PopitzAusschuß", der auf Initiative von Paul Reusch zustandekam. 46 Der Popitz-Aus42 Vgl. Stellungnahme des Präsidiums des RDI vom 8.10. 1930 zum Wirtschafts- und Finanzprogramm der Reichsregierung, in: Geschäftliche Mitteilungen des RDI, Jg. 1930, S. 213; Ausführung Grunds in der Hauptausschußsitzung des DIHT am 9. 10. 1930, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1930, H. 12, S. 22. 43 M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 237 f. 44 Silverberg, der Anfang November 1930 öffentlich für einen Ausgleich des Haushalts, und zwar im äußersten Fall auf Kosten von Steuererhöhungen, plädierte, konnte nach dem Erlaß der NotVO vom 5. Juni 1931 nur das Argument anführen, daß die Krisensteuer als eine Gegenleistung für den in der NotVO vorgesehenen sozialen Leistungsabbau zu interpretieren sei. Vgl. ebd., S. 246 und P. Silverberg, Wirtschafts lage und öffentliche Hand, ein Vortrag im Hamburger Überseeclub am 6. 11. 1930, in: F. Mariaux (Hrsg.), Paul Silverberg. Reden und Schriften, Köln 1951, S. 168 f. 45 Vgl. Wirtschafts- und Finanzprogramm der Reichsregierung vom 30. 9. 1930, AdR, Brüning, Nr. 124, S. 473. 46 Reusch folgte seinerseits der wiederholten Anregung Martin Sogemeiers, ein Gremium zu bilden, das ein gemeinsames Konzept der Industrie über den Finanzausgleich ausarbeiten sollte. Um die Konsensflihigkeit der Industrie von vornherein zu sichern, schaltete Reusch Vertreter des RDI und des DIHT in das Gremium ein. Ferner bildete Reusch den Ausschuß im Rahmen des Lutherbundes, um die allzu unitaristische Tendenz von Popitz zu dämpfen. Vgl. Reusch an Sogemeier, 15. u. 22. August, 27. u. 29. September 1930 und Reusch an Luther, 24. 12. 1930; Reusch an Roedern, 24. 2. 1931, Haniel Archiv, 400101226 / 28; 400101290/ 29b; 400101293 / 17. Popitz galt in der Industrie als Fachmann in der Frage des Finanzausgleiches. Er hielt im Oktober 1930 in dem Steuerausschuß des RDI einen Vortrag über die Finanzreform und erhielt dabei einhellige Zustimmung. Vgl. BAK, NL Silverberg, 337.

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schuß, an den sich u.a. Silverberg, Kastl, Hamm, Goerdeler, Bracht, Kitz, Horion, Kühl, Adametz, Roedern, Wilmowsky, Sogemeier, Stolper und Gereke beteiligten, konstituierte sich am 5. März 1931 und sandte bereits am 13. August 1931 das erste Teilgutachten an Brüning. 47 Das Konzept, das sowohl beim RDI als auch beim DIHT auf eine einhellige Zustimmung stieß,48 war verfassungspolitisch auf eine Entpolitisierung der Gemeindeverwaltung, finanzpolitisch auf eine zentralistische Kontrolle der Gemeinden und auf eine Trennung der Gemeinden von den Ländern ausgerichtet. Eine neue Personalsteuer, die "Wohnsteuer",49 die an Stelle der Hauszins steuer treten und 10% der Miete betragen sollte, war mit der um zwei Fünftel reduzierten Gewerbesteuer in Beziehung zu setzen. Außerdem waren die Gemeinden von einer Beteiligung an dem Aufkommen der Einkommens-, Körperschaftsund Umsatzsteuer auszuschließen; stattdessen sollten "Finanzzuweisungen" des Reiches an die Gemeinden zum Ausgleich ihrer Finanzlücke erfolgen. 50 Der Vorschlag des Popitz-Ausschusses, der bewußt auf das finanzielle Verhältnis zwischen Reich und Ländern nicht einging, stützte insofern die Reichsreformbestrebungen, als die Kommunen ohne nennenswerte eigene Steuerquellen endgültig zum Kostgänger des ReicheS degradiert worden wären. 51 Brüning stand den Grundüberlegungen zur Neuordnung des Finanzausgleichs im Rahmen einer Reichsreform grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, da sie mit seiner Deflationspolitik konform gingen. Auch wenn er sich als Sachverständiger bei den Beratungen des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz auf kein konkretes Konzept festlegte 52 , besteht kein Zweifel daran, daß Brüning die föderative Struktur nördlich des Mains zugunsten der Verschmelzung von Reich und Preußen unter Einbezug der norddeutschen Länder beseitigen wollte. 53 Die Umset-

47 Das zweite Teilgutachten wurde am 19.9. 1931 an Brüning geschickt. Vgl. Studiengesellschaft für Finanzausgleich an Brüning, 13.8. u. 19. 9. 1931, Haniel Archiv, 400101293 / 17. 48 Vgl. Hamm an Warmbold, 5. 12. 1931, BAK, R 43 1/2319; Rundschreiben der SteuersteIle des RDI, 8. 3. 1932, BAK, NL Silverberg, 338. 49 Hier sieht man den Einfluß Silverbergs deutlich, der bereits in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des RDI vom 12. 12. 1929 die Einführung einer "Wohnraumsteuer" für die Gemeinden als eine Ersatzsteuer für die abzuschaffende Hauszinssteuer vorschlug. Vgl. Veröffentlichung des RDI, Nr. 50, "Wirtschafts- und Sozialpolitik. Steuer- und Finanzpolitik", Berlin 1930, S. 28. 50 V gl. J ohannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, Berlin 1932, S. 162 ff. Die kommunale Bürgersteuer sollten nur diejeningen entrichten, die von der Wohnsteuer nicht betroffen waren. Vgl. ebd., S. 169 f. 51 Vgl. ebd., S. 185. 52 Gelegentliche Wortmeldungen Brünings im Verfassungsausschuß bezogen sich bloß auf die Geschäftsordnung der Beratungen. Vgl. Niederschriften über die Beratungen des Verfassungsausschusses vom 4.5. 1928 und vom 18. u. 19.11. 1929, Berlin 1928 u. 1930. 53 Vgl. H. Mommsen, Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, in: G. Jasper (Hrsg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, Frankfurt a.M. 1976, S. 107.

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zung dieser Vorstellungen wurde aber schon dadurch verhindert, daß der Reichskanzler in dieser Frage auf die bürokratische Solidarität der Länderregierungen, 54 vor allem auf eine positive Zusammenarbeit mit Preußen unter Führung der SPD, angewiesen war. Infolgedessen schien die Durchführung der Reichsreform auf dem Wege der Notverordnung zunächst ausgeschlossen, zumal Brüning bis zur Beendigung der Reparationen die Unterstützung der Länder benötigte55 und der Reichskanzler solange warten wollte, bis die Länderparlamente an der Umsetzung der Deflationspolitik scheiterten. 56 Brünings Taktik lief darauf hinaus, durch eine konsequente Fortführung der Deflationspolitik die Länder und Gemeinden finanziell auszuhöhlen und damit die Eigenstaatlichkeit der Länder zu gefährden. So sollten den Ländern und Gemeinden Ersparnisse aus den Gehaltskürzungen ihrer eigenen Beamten im vollen Umfang oder zu einem großem Teil zugunsten des Reiches vorenthalten werden; die Einnahmen aus der Krisensteuer und aus den Zuschlägen zur Einkommenssteuer nahm Brüning ausschließlich für das Reich in Anspruch, obwohl er sie eigentlich nach dem Verteilungsschlüssel der Einkommenssteuer den Ländern hätte zuteil werden lassen müssen. 57 Mit der NotVO vom 1. Dezember 1930 senkte die Reichsregierung auf dem Verordnungsweg die Realsteuern und griff damit in Länderkompetenzen ein; darüber hinaus wurden mit den Steuervereinheitlichungsgesetzen die der Landesgesetzgebung unterstehenden Realsteuern reichsgesetzlich geregelt. Mit der NotVO vom 5. Juni 1931 legte die Reichsregierung die Verwendung der Mittel fest, die aus den gekürzten Gehältern der Gemeindebeamten frei wurden: sie sollten die Wohlfahrtsausgaben der Gemeinden entlasten. 58 Ferner stellte die Reichsregierung allgemeine Grundsätze der Staatsaufsicht über die Finanzpolitik der Gemeinden auf. Während die finanzpolitischen Maßnahmen des Kabinetts Brüning durch die Pläne des Popitz-Ausschusses zur Neuordnung des Finanzausgleichs Unterstützung fanden, betrachtete Luther - abgesehen von der Sicherung der Währung, auf die er als Reichsbankpräsident ohnehin die absolute Priorität setzen mußte - nicht so sehr finanzpolitische Details, sondern die Reichsreform selbst, vor allem die Beseitigung des Dualismus zwischen Preußen und dem Reich, als seine politische 54 Vgl. W. Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928-1933, Stuttgart 1959, S. 205 ff.; H. Mommsen, Staat und Bürokratie, S. 86 f. Besson bezeichnetete die "bürokratisehe Gemeinsamkeit" der Reichs- und Länderregierungen neben der Notverordnungsgewalt des Reichspräsidenten und der To1erierung des Reichstages als ein "drittes Element", das das System Brüning stützte. Vgl. ebd., S. 216. 55 Vgl. ebd., S. 164. 56 Vgl. H. Mommsen, Staat und Bürokratie, S. 107. 57 Die Steuerüberweisungen des Reiches an die Länder wurden von 1929/30 auf 1930/31 um 395,3 Mio. RM, im darauffolgenden Jahr um 883,9 Mio. RM gekürzt. Vgl. Notverordnungen vom 27.7., I. 12. 1930 u. 5. 6. 1931, RGBI, 1930 I, S. 311 ff., 517 ff. u. 1931 I, S. 279 ff; H. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 87. 58 Der Bayerische Ministerpräsident Heinrich Held bezeichnete diese Bestimmung als einen "Eingriff schwerster Art in die verfassungsmäßigen Rechte der Länder". Vgl. Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung vom 12. 11. 1931, BAK, R 43 I / 1882

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Hauptaufgabe, deren Lösung ihn schließlich ins Reichskanzleramt führen sollte. 59 Neben öffentlichen Auftritten, auf denen er wiederholt auf die Notwendigkeit einer Reichsreform zur Besserung der Finanzsituation und der Wirtschaftslage hinwies 6o , benutzte Luther seine amtliche Stellung dazu, die Länderpolitik Brünings zu unterstützen und den kreditpolitischen Spielraum der Länder und Gemeinden zu verengen. Ende 1930 lehnte Luther die Bitte des Deutschen Städtetages ab, sich als Reichsbankpräsident für einen Überbrückungskredit für die Gemeinden einzusetzen 61 und blockierte das Vorhaben einiger Großstädte, durch Beteiligung französischen Kapitals an kommunalen Elektrizitäts- und Wasserwerken die Schulden der Gemeinden zu konsolidieren, obwohl die Reichsregierung dies ausdrücklich begrüßte und dies vermutlich die letzte Chance einer Konsolidierung der kurzfristigen Auslandsschulden vor der Bankenkrise darstellte. 62 Trotz aller zielstrebigen Bemühungen gelang es Brüning und Luther jedoch vor der Bankenkrise nicht, in der Länder- und Gemeindepolitik einen Durchbruch zu erzielen. Brüning sah sich entgegen seiner Planungen Ende September 1930 schließlich gezwungen, nur ein Drittel der Ersparnisse aus den Gehaltskürzungen der Länder- und Gemeindebeamten für das Reich einzubehalten. 63 Desgleichen räumte er hinsichtlich der Realsteuersenkung den Ländern zahlreiche Zugeständnisse in Form von Sonderbestimmungen ein, damit der finanzielle Druck auf die Länder und Gemeinden abgemildert werden konnte. 64 Ferner mußte der Reichskanzler angesichts der Klage Bayerns beim Staatsgerichtshof die mit der NotVO vom 1. Dezember 1930 erlassene reichsgesetzliche Regelung der Bemessungsgrundlage der Realsteuern nicht unerheblich abändern. 65 Auch in der Frage einer 59 Vgl. Niederschrift Jäneckes über eine Unterredung mit Luther am 9.3. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 31, S. 80. 60 Vgl. Ansprachen Luthers vor den Beamten der Reichsbank in Dresden vom 3. November 1930, in der Hauptausschußsitzung des RDI vom 27. November 1930 und auf dem Presseabend der Leipziger Frühjahrmesse vom 1. März 1931, BAK, NL Luther, 414. 61 Luther brachte in einer Besprechung mit den Vertretern der Gemeinden vom 15. 12. 1930 seine Ansicht unverhüllt zum Ausdruck: Es würde ,,für die Städte das Heilsamste sein, wenn wir einige von Ihnen in den Konkurs gehen lassen würden". Vgl. Niederschrift über die Besprechung, BAK, R 2/4057. 62 Ministerbesprechungen vom 13. u. 27. 3. 1931, AdR, Brüning, Nr. 261 u. 272, S. 947 u. 994 f.; Besprechungen vom 21. u. 26. 3.1931, BAK, R 2 / 4057. 63 Beschluß des Reichskabinetts vom 29. 9. 1930, AdR, Brüning, Nr. 124, S. 467 f. 64 Die Verschiebung des Stichtags für die der Senkung zugrundeliegenden Steuerhöhe vom I. Oktober auf den 31. Dezember 1930 ermöglichte es den Gemeinden, bis zum Stichtag die Realsteuer einfach zu erhöhen, um sie daraufhin im gleichen Umfang wieder zu senken. Vgl. Kritik der Industriellen in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 28.11. 1930, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1930, H. 12, S. 12. Weiterhin wurden früher vorgenommene Senkungen auf die neue Senkung angerechnet. Vgl. W. Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise, S. 200. 65 Die NotVO vom 5. Juni 1931 gewährte den Ländern das Recht, die Freigrenze und die Befreiungsvorschriften der Realsteuern eigenständig zu regeln und für diese Steuern eigene

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endgültigen Regelung des Finanzausgleiches kam die Reichsregierung keinen Schritt weiter; die durch die NotVO vom 16. Juli 1930 eingeführte Bürgersteuer für die Gemeinden war nicht mehr als ein unzureichendes Provisorium. Brüning konnte also bei der Deflationspolitik, dem Haushaltsausgleich und den Preissenkungen keinen durchgreifenden Erfolg verbuchen. Seine Preispolitik blieb angesichts des Widerstands von seiten der Industrie ineffektiv; trotz einer Reihe von Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen gelang es nicht, den Haushalt des Reiches erfolgreich zu sanieren. Von einer anfangs konzipierten Rücklagenbildung konnte keine Rede mehr sein; vielmehr schrumpften die Einnahmen desto stärker, je entschlossener der Haushaltsausgleich vorangetrieben wurde und trieben die Wirtschaftspolitik noch tiefer in die Deflationsspirale. Trotz einer rigorosen Fortführung der Deflationspolitik vermochte Brüning die Industrie aufgrund der unterschiedlichen Prioritätensetzung - hier die Beendigung der Reparationen, dort die Lockerung der tarifrechtlichen und sozialpoltischen "Fesseln" - nicht an sich binden. Da sich der Reichskanzler wegen seiner begrenzten politischen Kooperation mit den SPD-geführten Länderregierungen aus der Sicht führender Industrievertreter zur Durchsetzung ihrer Ziele, das kollektive Tarifrecht aufzulockern und die föderative Reichsstruktur zu beseitigen, als unHihig erwies, öffnete sich zwischen der Reichsregierung und der Industrie allmählich eine schwer überbrückbare Kluft. Die drohende Abkehr der westdeutschen Schwerindustrie vom Regierungskurs konnte nur durch das Hoover-Moratorium und die Bankenkrise abgewendet werden.

2. Erste Ansätze einer expansiven Wirtschaftspolitik in der Industrie Trotz der zunehmenden Distanzierung von der Deflationspolitik Brünings besteht doch kein Zweifel, daß die Industrie bis zur Bankenkrise im Juli 1931 in ihrer überwiegenden Mehrheit die Reichsregierung unterstützte, da deren sozial- und finanzpolitischer Nutzen die Zweifel bei weitem überwog. Überdies beruhte ihre zustimmende Haltung auf der wirtschafts theoretischen Grundannahme, daß die Hauptursache der Wirtschaftskrise überhöhte Produktionskosten seien und diese "Selbstkostenkrise" nur durch die Verringerung der Kosten und Abgaben überwunden werden könne. 66 Die deflationistische Auffassung der Industrie spiegelte sich Meßbeträge vorzuschreiben. Vgl. ROBI, 1931 I, S. 280 f.; W. Besson, ebd., S. 174. Im übrigen wurde das Inkrafttreten der Steuervereinheitlichungsgesetze immer wieder verschoben. 66 Vgl. P. Silverberg, Wirtschaftslage und öffentliche Hand, ein Vortrag im Hamburger Überseec1ub am 6. 11. 1930, in: F. Mariaux (Hrsg.), Paul Silverberg. Reden und Schriften, Köln 1951, S. 159; Kastl in der gemeinsamen Sitzung des Präsidiums und Vorstandes des RDI vom 25. 6. 1930, Bayer Archiv, 62/10.3; Müller-Oerlinghausen in der Hauptausschußsitzung des RDI vom 19.9. 1930, ebd., 62/10.5.

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auch in ihrer geldpolitischen Haltung. Obwohl gerade das hohe Zinsniveau als ein anormales Charakteristikum der derzeitigen Krise galt67 und das entscheidende Problem der Unternehmen in der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Erlösen und Kapitalkosten lag,68 fanden sich die meisten Industriellen mit der abwartenden Geldpolitik der Reichsbank ab. RDI und DIHT wiesen die Argumentation des schwedischen Nationalökonomen Gustav Cassel zurück, daß die Verknappung und Wertsteigerung von Gold und damit das unzureichende Geldangebot letzten Endes für die Depression verantwortlich sei. 69 Vielmehr ließ die Industrie keinen Zweifel daran aufkommen, daß man der Sicherung der Währung absolute Priorität einräumte. 7o Nicht durch eine expansive Geldpolitik der Reichsbank, sondern durch eine die Wirtschaft entlastende Finanzpolitik der Reichsregierung sei die Freisetzung des Kapitals, die nach der gängigen Vorstellung der Angebotspolitik zur Konjunkturbelebung führen sollte, zu bewerkstelligen. Solange die Depression als eine Kostenkrise aufgefaßt wurde und dementsprechend die Überwindung der Krise von einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik erwartet wurde, war es ausgeschlossen, Ansätze einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, etwa staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder die gezielte Erhöhung der Geldmenge, ernsthaft in Betracht zu ziehen, zumal die Industrie die in die Höhe schnellende Arbeitslosigkeit gerade auf Eingriffe des Staates in die Wirtschaft zurückführte. 71 Die meisten Unternehmer waren mit Eduard Hamm der Auffassung, daß es sich bei der staatlichen Arbeitsbeschaffung bloß um eine "Verlagerung privatwirtschaftlicher Mittel an öffentliche Stellen" handle, da "letzten Endes diese Mittel dafür wiederum der Wirtschaft in Form von Steuern, Tariferhöhungen oder durch Eingriffe in den Geldmarkt entzogen werden" müß67 E. Hamm erklärte in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 23. 6. 1931: "Diesmal haben wir alle Nachteile der Krise ohne den Vorteil der Zinssenkung". Vgl. Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 7, S. 23. Der Tagesgeldsatz betrug zum Jahresende 1930 in Berlin 6,20%, während er sich in London auf 1,70% und in New York auf 2,87% belief. Vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876-1975, S. 279. 68 Vgl. B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978, S. 78 ff.; G. Plumpe, Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Realität und Alternativen, in: GuG 11 (1985), S. 335. 69 Cassel war einer der wenigen Nationalökonomen, mit deren Auffassung sich die Spitzenverbände der Wirtschaft auseinandersetzten, da Cassels Theorie die Senkung bzw. Beseitigung der Reparationslasten begründen half. V gl. Vorstandssitzung des RDI vom 26.11. 1930, Bayer Archiv, 62/10.4; Hauptausschußsitzung des DIHT vom 23. 6. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 7, S. 33. 70 Der Auffassung Thyssens, der die Kapitalflucht nach den Septemberwahlen als eine Gefährdung der Währung betrachtete, entgegnete Müller-Oerlinghausen: "Nach der Art, wie der Reichsbank-Mechanismus funktionieren muß, kann ich mir wohl denken, daß Sie keine deutschen Noten mehr bekommen. Ich kann mir aber nicht denken, daß Sie keine Devisen für die Reichsbank mehr haben werden". Vgl. Vorstandssitzung des RDI vom 26. 11. 1930, Bayer Archiv, 62 / 10.4. 71 Vgl. Silverberg in der Mitgliederversammlung des Langnamvereins vom 4.4. 1930, in: Mitteilungen des Langnamvereins, Jg. 1930, Nr 2, S. 182.

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ten. 72 Die staatlichen Aufträge, von denen einzelne Unternehmen profitierten, hielten sie für eine unzulässige Begünstigung einer Minderheit der Unternehmen auf Kosten der Mehrheit. Wenngleich eine Konjunkturbelebung durch staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen möglich sei, würden damit lediglich die für die Zukunft gegebenen Sanierungschancen vorweg "verschüttet". 73 So eindeutig die ablehnende Haltung der Großindustrie zur Arbeitsbeschaffung insgesamt war, änderte sich doch das Bild, wenn man ihre Einstellung zu einzelnen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen genauer untersucht. Die Industrie sprach sich zwar stets gegen Bagatellmaßnahmen wie die Einführung der Arbeitsdienstpflicht, die Verlängerung der Schulpflicht und eine Reihe landwirtschaftlicher Projekte aus, deren konjunkturelle Wirkung ohnedies fraglich war. Hingegen schlug sie zu den Maßnahmen, die konjunkturpolitisch als wirksam angesehen wurden, einen völlig anderen Ton an; dies betraf den Wohnungs- und Straßenbau, die Aufträge der Reichsbahn und der Reichspost und das "Russengeschäft", die allesamt in der Öffentlichkeit wie auch in der Reichsregierung als sinnvolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erörtert wurden. Wenn die Haltung der Industrie gegenüber den Bauprojekten eher zwiespältig ausfiel, so wurde der Straßenbau recht positiv beurteilt 74 , wie die Forderung der Fachgruppe Bauindustrie des RDI nach einem Straßenbauprogramm der Reichsregierung - gegen den Widerstand Luthers - bewies. 75 An der Wohnungsbauförderung, mit der sich der Reichswirtschaftsrat bereits vor dem Amtsantritt des Kabinetts Brüning als einer bedeutenden Maßnahme zur Abmilderung der Arbeitslosigkeit intensiv beschäftigt hatte 76, übte der RDI jedoch vernichtende Kritik. In der Vorstandssitzung des RDI Ende Mai 1930 bezeichnete Müller-Oerlinghausen ein Wohnungsbau programm der Reichsregierung in Höhe von 250 Mio. RM als "Verbrechen".77 Angesichts dieser schroffen Reaktion der Verbandsführung konnte sich die Bauindustrie in dem RDI nicht durchsetzen. Die ablehnende Einstellung der Industrie ist aber weniger auf ihre Bedenken gegen das Wohnungsbauprogramm an sich als auf ihre Einwände gegen die Wohnungspolitik der Weimarer Republik im allgemeinen zurückzuführen. Seit langem forderte die Industrie die Abschaffung der Zwangsbewirtschaftung des Wohnungsbaus und der Hauszinssteuer, deren Aufkommen jeweils zur Hälfte dem öffentlichen Wohnungsbau und dem allgemeinen Finanzbedarf der Länder und Gemeinden zugeführt wurde. 78 Müller-Oerlinghausen forderte die Reichsregierung auf, zuerst die Hauszins72 Vgl. Hamm in der Vorstandssitzung des DIHT vom 25.7. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 120b, S. 331; Hamm an Conrad v. Borsig, 25.8. 1930, Haniel Archiv, 40010123/25b. 73 Vgl. Hamm an Conrad v. Borsig, 25. 8. 1930, ebd. 74 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 182. 75 Vgl. Besprechung der Reichsregierung mit den Vertretern des RDI vom 4. 8. 1930, AdR, Brüning, Nr. 93, S. 358 .. 76 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 182. 77 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 22. 5. 1930, Bayer Archiv, 62/10.4.

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steuer abzuschaffen und die Tariflöhne der Bauarbeiter zu senken. Im Sommer 1930 plante die Reichsregierung außerdem, zusätzliche Aufträge der Reichsbahn in Höhe von 500 Mio. RM und der Reichspost in Höhe von 200 Mio. RM zu vergeben. 79 Diesen Vorhaben, insbesondere den Aufträgen der Reichsbahn, die etwa zu einem Drittel der Schwerindustrie und zu einem weiteren Drittel der Maschinenbau- und Fahrzeugbauindustrie zugutekamen, 80 brachte die Großindustrie großes Interesse entgegen; Mitte Juni 1930 forderte Kastl die Reichsregierung zur schnelleren Auftragsvergabe durch Reichsbahn und Reichspost auf, während er hinsichtlich des Wohnungsbauprograrnrns weiterhin darauf bestand, daß zuerst die Löhne der Bauarbeiter gesenkt werden müßten, bevor sich das staatliche Programm effektiv auswirken könne. 81 Zwei Wochen zuvor hatte bereits Jakob Reichert, Geschäftsführer des VDESI und Reichstagsabgeordneter der DNVP, in seiner Reichstagsrede die Aufträge der Reichsbahn in Höhe von 400 Mio. RM als "einen Tropfen auf den heißen Stein" bezeichnet 82 und betont, daß die Überwindung der Wirtschaftskrise nur von der Seite der Kostensenkung her möglich sei. In eine ähnliche Richtung ging die in der Besprechung mit der Reichsregierung am 4. August 1930 vom RDI vertretene Forderung, das staatliche Schlichtungswesen zu beseitigen und Löhne radikal zu senken. 83 Die ambivalente Haltung der Großindustrie im Hinblick auf eine aktive staatliche Konjunkturpolitik ist deutlich zu ersehen. Bei jeder Gelegenheit brachte sie ihre grundsätzlich ablehnende Einstellung zu einer expansiven Wirtschaftspolitik, insbesondere hinsichtlich des Intruments der Arbeitsbeschaffung, zum Ausdruck, während sie die Reichsregierung zugleich zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen an die Unternehmen drängte. So läßt sich eine gewisse Spannung zwischen der betriebswirtschaftlichen und der volkswirtschaftlichen Haltung der Großindustrie feststellen. Offensichtlich hat die Industrie die Arbeitsbeschaffung vor allem als Notmaßnahme angesehen, die einzelnen Unternehmen über die Krise hinweghelfen sollte, während die Überwindung der Krise selbst von einer deflationspolitischen Strategie der Kostensenkung erwartet wurde. Im weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise geriet jedoch auch der volkswirtschaftliche Glaube der Industrie an die Deflationspolitik allmählich ins Wanken. Ein frü78 Vgl. RDI, Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, Berlin 1925, S. 28 f.; derselbe, Aufstieg oder Niedergang, S. 22. 79 Vgl. Ministerbesprechung vom 19. 5. 1930; Kabinettssitzung vom 5. 6. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37 u. 46, S. 138 u. 188. 80 Vgl. M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik? Studien zur Politik der Arbeitsbeschaffung in Deutschland 1930-1934, Berlin 1977, S.246. 81 Vgl. Niederschrift über die gemeinsame Vorstandssitzung des RDI und der VDA vom 13.6.1930, Bayer Archiv, 62 /10.3. 82 Vgl. J. Reichert, Die deutsche Wirtschaftskrise. Ihre Hauptursachen und die Möglichkeit ihrer Überwindung, BAK, R 13 1/612. 83 Vgl. Besprechung der Reichsregierung mit den Vertretern des RDI vom 4. 8. 1930, AdR, Brüning, Nr. 93, S. 358.

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hes Zeichen dafür war der Vorstoß Conrad v. Borsigs, Mitinhaber der August Borsig GmbH, die geschäftlich in Bedrängnis geraten war, der bereits im Juli 1930 die Auffassung vertrat, daß der Staat die Wirtschaft durch die Vergabe von öffentlichen Aufträgen beleben solle. 84 Als Hamm dies unter Hinweis auf die grundsätzliche Ablehnung von Subventionen zurückwies, konkretisierte Borsig seine Vorstellung in einem Brief an Hamm; er schlug vor, daß öffentliche Betriebe wie die Reichsbahn, die Reichspost, die öffentlichen Elektrizitätswerke, die Preußische Bergwerks- und Hütten AG und das RWE Aufträge an private Unternehmen vergeben sollten. Bei Aufträgen in Höhe von mehr als 500 000 RM sei die Rückvergütung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erlauben. Die Golddiskontbank sollte auch für das Inlandsgeschäft großer Unternehmen Kredite gewähren. Desgleichen schlug er vor, daß die Reichsbahn für die von der ausländischen Konkurrenz stark bedrängten deutschen Güter einen Sondertarif gewähren solle. Schließlich regte er an, den Straßenbau durch die Erhebung einer Sonderabgabe auf Benzin und Benzol zu finanzieren. 85 Auch wenn die Vorschläge Borsigs vornehmlich auf die betriebswirtschaftlichen Interessen der Großunternehmen ausgerichtet waren, lagen ihnen auch volkswirtschaftliche Überlegungen zugrunde: "Da die Krise aber anscheinend von langer Dauer sein wird und von selbst nicht wieder eine Wendung zum besseren nehmen wird, so halte ich gerade den heutigen Zeitpunkt für gegeben, mit solchen Vorschlägen zu kommen. Ich glaube, wir müssen uns klar darüber sein, daß ohne Erfolge in der Arbeitslosenfrage ein partieller Zusammenbruch unserer Wirtschaft und des Staates eintreten wird".86 Damit distanzierte sich Conrad v. Borsig deutlich von der zentralen Grundannahme der Deflationspolitik, daß eine durch die "Selbstheilungskräfte" der Wirtschaft bedingte "Gesundschrumpfung" einen neuen Konjunkturaufschwung herbeiführen werde. Wie die ablehnende Reaktion Hamms bewies 87 , stellten die Vorstellungen Borsigs zu diesem Zeitpunkt noch eine Minderheitenposition dar; allmählich wurde jedoch bei den Beratungen der Spitzenverbände der Wirtschaft ein konjunkturpolitisches Umdenken immer deutlicher. Auch Hamm wies darauf hin, daß ein entscheidender Anstoß zur Überwindung der Krise vom Binnenmarkt notwendig sei. Eine Rückkehr zur völlig freien Wirtschaft, die über die Senkung der Löhne die Depression überwinden könne, sei undenkbar, da dann der Ausbruch von sozialen Unruhen zu befürchten sei. 88 Gleichwohl hielt er am Vorrang der Kostensenkung zur Überwindung der Krisensituation fest und lehnte eine aktivere Arbeitsmarktpolitik des Staates entschieden ab. Allenfalls begrüßte er die Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Dämpfung der Konjunkturschwankungen. In weiten Zügen den deflationistischen Grundideen verhaftet, bedeuteten die Vorstellungen Hamms doch insofern 84 Vgl. Protokoll über die Vorstandssitzung des DlHT vorn 5. 7. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 120b, S. 332. 85 Vgl. Conrad v. Borsig an Harnrn, 16. 8. 1930, Haniel Archiv, 40010123/25b. 86 Ebd. 87 Vgl. Harnrn an C. v. Borsig, 25.8. 1930, ebd. 88 Vgl. Verhandlungen des DlHT, Jg. 1930, H. 15, S. 85 f.

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III. Die konjunkturpolitische Diskussion vor der Bankenkrise

eine Weiterentwicklung, als er nicht nur Einzelrnaßnahmen, sondern die staatliche. Arbeitsbeschaffung grundsätzlich wohlwollend kommentierte und die Bedeutung der Binnennachfrage besonders hervorhob. Etwa seit dem Jahreswechsel 1930/31 wurde auch der RDI von dem Prozeß des konjunkturpolitischen Umdenkens erfaßt, wie die Stellungnahme des Bergwerkdirektors der Vereingten Stahlwerke, Eduard A. Hueck, bewies, in der sich zugleich der Stimmungsumschwung der westdeutschen Schwerindustrie spiegelte. 89 Nachdem die Bemühungen des RDI um zusätzliche Reichsbahnaufträge im Sommer 1930 hinsichtlich der relativ geringen Summe von 150 Mio. RM kaum als Erfolg gewertet werden konnten 9o , wurden diese Versuche Anfang 1931fortgesetzt. In der Sitzung der Ruhrlade vom 12. Januar 1931 einigten sich die Vertreter der Schwerindustrie, mit der Bitte um weitere Reichsbahnaufträge bei Reichsfinanzminister Hermann Dietrich vorstellig zu werden, der in der Ende Januar erfolgten Besprechung auf die Anregung von Vögler und Reichert recht positiv reagierte und seinerseits davon sprach, die Elektrifizierung der süddeutschen Reichsbahnstrecke in Angriff nehmen zu wollen. 9\ Kurz darauf wandten sich Vertreter des RDI und der VDA in dieser Angelegenheit an Brüning und wiesen auf die konjunkturelle Wirkung der Ausweitung der öffentlichen Aufträge auf die gesamte Wirtschaft hin. Sie bezeichneten die staatliche Arbeitsbeschaffung als einen "durchaus begrüßenswerten und wirksamen Weg zur Belebung der deutschen Wirtschaft".92 Im Unterschied zu der bisherigen Argumentation der Industrieverbände wurde die staatliche Arbeitsbeschaffung nicht mehr primär als Hilfsmaßnahme für einzelne Unternehmen bzw. Branchen, sondern als ein gesamtwirtschaftliches Instrument zur Konjunkturbelebung angesehen. Die neuen konjunkturpolitischen Ansätze traten seit Mitte Mai 1931 anläßlich des von der Brauns-Kommission präsentierten zweiten Teils des Gutachtens zur Überwindung der Arbeitslosigkeit noch deutlicher hervor. 93 Das Gutachten zielte trotz der ungelösten Finanzierungsfrage eindeutig auf eine Konjunkturbelebung, die über die Vergrößerung des gesamtwirtschaftlichen Auftragsvolumens durch Aufträge der öffentlichen Betriebe herbeigeführt werden sollte. 94 Mit den Vor89 Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des RDI vom 20.2. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.5. 90 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 180. 91 Vgl. Blank an Reusch, 27. 1. 1931; Reusch an Blank, 28. 1. 1931, Haniel Archiv, 4001012024/8a. 92 V gl. Besprechung der Reichsregierung mit Vertretern des RDI und der VDA vom 29. 1. 1931, AdR, Nr. 229, S. 823. An der Besprechung nahmen Kastl, Brauweiler, Blohm, Frowein, Dorfs (Generaldirektor des Krupp-Werks Rheinhausen) teil. Die Bemühungen der Schwerindustrie um die Reichsbahnaufträge führten zu keinen positiven Ergebnisse, bis Ende 1931 durch die Reichsbahnanleihe die Frage der Finanzierung gelöst wurde. Vgl. M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk, S. 244 f. 93 Zur Brauns-Kommission vgl. H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher. Grundsteinlegung für die Beschäftigungspolitik im Dritten Reich, Frankfurt / M 1974, S. 39 f.

2. Erste Ansätze einer expansiven Wirtschaftspolitik in der Industrie

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schlägen der Brauns-Kommission beschäftigte sich das Präsidium des RDI in seiner Sitzung am 20. Mai 1931. In der Berichterstattung über das Gutachten stellte Kastl grundsätzlich fest, daß der grundlegende Standpunkt der Kommission "ein völliges Abrücken von der bisherigen wirtschaftspolitischen Linie" bedeute. Wenngleich er einzelne Vorschläge des Gutachtens, etwa die landwirtschaftlichen Meliorationen, scharf verurteilte, brachte er seine Zustimmung unmißverständlich zum Ausdruck, indem er die Verbesserung des Straßennetzes als "tatsächlich erwünscht und notwendig" bezeichnete. 95 Während Hans Riepert, Vorsitzender der Fachgruppe Steine und Erden des RDI, Kastl beipflichtete, versuchte Müller-Oerlinghausen die Akzentverschiebung in der Haltung des RDI zur staatlichen Konjunkturpolitik, die sich in den Ausführungen Kastls und Rieperts andeutete, aufzuhalten. Er stellte die Frage, "ob es richtig sei, vor der als notwendig erkannten Erreichung der Senkung der Gestehungskosten große Mittel zu investieren", womit er das Präsidium des RDI an die bislang immer wieder betonte Priorität der Kostensenkung zu erinnern versuchte. Der Disput zwischen Kastl und Müller-Oerlinghausen mündete in eine "ausgedehnte Debatte" über die Frage, "ob und inwieweit während der Krise Investitionen (des Staates) empfehlenswert seien." Die Diskussion verlief ausgesprochen heftig und kontrovers und mußte in der Sitzung des Präsidial- und Vorstandsbeirates für allgemeine Wirtschaftspolitik am 17. Juni 1931fortgeführt werden. 96 In der Vorstands sitzung des RDI hielt Müller-Oerlinghausen am 19. Juni 1931 ein Referat zum Thema staatliche Konjunkturpolitik und faßte das Ergebnis der bisherigen Beschäftigung der verschiedenen Gremien mit der staatlichen Arbeitsbeschaffung zusammen. 97 Die Frage, ob es irgendeinen Punkt gebe, an dem die Überwindung der Depression "automatisch und ohne künstliche Maßnahmen möglich ist", beantwortete Müller-Oerlinghausen als "das A und 0 aller Überlegungen", auf die es mehrere Antworten gebe. Ohne die Möglichkeit der staatlichen Arbeitsbeschaffung näher zu untersuchen, gelangte er zu der Schlußfolgerung, Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik müsse weiterhin die Senkung der Löhne und Steuern sein. Müllers Referat war offenkundig dem Ziel verpflichtet, den deflationspolitischen Konsens wiederherzustellen. Trotz des aufkommenden Widerspruchs behielt schließlich der konjunkturpolitisch orthodoxe Kurs im Mai / Juni 1931 immer noch die Oberhand. Leider läßt sich nicht mehr detailliert bestimmen, wer in dieser Übergangsphase den bisherigen Kurs innerhalb des RDI in Frage zu stellen begann. Offensichtlich trat Kastl als Wortführer der expansiven Konjunkturpolitik auf: als Schäffer ihm Mitte September 1931 ein in Anlehnung an die Konzeption Wilhelm Lautenbachs 94 Vgl. Gutachten zur Arbeitslosenfrage, 11. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsbeschaffung, in: Mitteilungen der VDA, 12.5. 1931. 95 Vgl. Geschäftliche Mitteilungen des RDI, Jg. 13, 1931, 15.6.1931, S. 97; M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 380 f. 96 Vgl. Geschäftliche Mitteilungen des RDI, Jg. 13, 1931,26.6.1931, S. 106. 97 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 19. 6. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4.

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III. Die konjunkturpolitische Diskussion vor der Bankenkrise

entwickeltes Konjunkturprogramm vorstellte, entgegnete Kastl, er habe ähnliche Gedanken bereits im Juni im RDI unterbreitet. 98 Demgegenüber unterstützte neben Müller-Oerlinghausen vor allem Silverberg die traditionelle RDI-Linie. In einem Referat über die NotVO vom 5. Juni 1931 erklärte Silverberg, daß man das konjunkturpolitische Instrument der staatlichen Arbeitsbeschaffung und den auf die NotVO gestützten Krisenfonds bekämpfen müsse. Nach seiner Auffassung dürfe man nicht billigen, "daß das Subventionswesen, das schon so viel Unheil angerichtet hat, wieder die natürlichen Verhältnisse des Wirtschaftslebens stören darf'. 99 In der gleichentags abgehaltenen Hauptausschußsitzung drückte er diese Ansicht noch drastischer aus und kritisierte die "sogenannten Ankurbelungsexperimente, von denen wir wahrlich schon genug haben". 100 Bemerkenswert ist, daß Silverberg zur Geldpolitik eine völlig andere Haltung als zur Fiskalpolitik einnahm. In der nach dem "Tributaufruf' der Reichsregierung vom 5. Juni 1931 101 einsetzenden Kapitalflucht und dem Kreditabzug sah er info 1ge der verringerten Geldmenge die ernste Gefahr einer Deflation: "Das törichte Geschrei von der Inflation ist so hirnverbrannt wie nur möglich. Was uns drohen könnte, ist nicht Inflation, sondern eine deflationistische Bewegung, die für die Wirtschaft die größten Schäden brächte, nicht aber für die Markbesitzer und Rentenempfänger".102 Die wirtschaftspolitische Konsequenz aus diesem Standpunkt war die Erhöhung der Geldmenge. Am Beispiel Silverbergs, der für die Erhöhung der Geldmenge und gegen die staatliche Arbeitsbeschaffung votierte, wird exemplarisch deutlich, daß Mitte Juni 1931 eine völlig neue konjunkturpolitische Konzeption, nämlich die monetaristische Vorstellung einer konjunkturpolitischen Regeneration mithilfe der Geldmengensteuerung, sich in den Reihen der Industrievertreter durchzusetzen begann.

98 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 21. 9. 1931. IfZ, ED 93 / 14. Daß Kastls Einsatz für die expansive Konjunkturpolitik sich weder einem spontanen Sinneswandel noch politischem Kalkül zur Stärkung Brünings verdankte, zeigte schon seine Rede in der Mitgliedsversammlung des RDI vom 3. 9. 1926, in der er zur staatlichen Arbeitsbeschaffung Stellung genommen hatte: "Allerdings darf man die indirekten Wirkungen nicht übersehen, die darin bestehen, daß die Konsumkraft der einer Vollbeschäftigung zugeführten Arbeiter und Angestellten steigt, und daß die Vergrößerung des Auftragsbestandes für jedes Unternehmen die Möglichkeit schafft, auch für die Lieferung anderer Erzeugnisse leistungs- und konkurrenzfähiger zu werden. So wird in den letzten Ausstrahlungen eine Belebung auch in den Teilen der Wirtschaft eintreten, die nicht unmittelbar an den Aufträgen teilnehmen". Vgl. Veröffentlichungen des RDI, Heft 32 (1926), S. 29. 99 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 19.6. 1931, Bayer Archiv, 62/10.4. 100 Vgl. Referat Silverbergs in der Hauptausschußsitzung vom 19.6. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 242, S. 698; M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 379. 101 C. Horkenbach (Hrsg.), Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Jg. 1931, S. 194. 102 Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des DlHT vom 23.6.1931, in: Verhandlungen des DlHT, Jg. 1931, H. 7, S. 74.

3. Das Auseinanderbrechen des deflationspolitischen Konsenses

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Im Juni 1931 zeigten sich einige Vertreter des DIHT staatlicher Konjunkturpolitik gegenüber genauso gesprächsbereit wie der RDI. Allerdings zeigte sich zugleich, daß die Befürworter der staatlichen Arbeitsbeschaffung beim DIHT ebenfalls in der Defensive waren, denn im gleichen Atemzug schränkte Hamm sein Plädoyer für staatliche Arbeitsbeschaffung wieder ein: "Grundsätzlich aber muß die Privatwirtschaft mit folgerichtiger Bestimmtheit darauf halten, daß Subventionen ungeeignete Mittel sind, der Wirtschaft zu Hilfe zu kommen".I03 Hier sieht man deutlich, daß Hamm bereits Mitte Juni 1931 begann, zwischen zwei Lagern zu lavieren, denn seine Kritik bezog sich gerade auf die Bestimmung über den Krisenfonds in der NotVO vom 5. Juni 1931 104 , die er aber zugleich in seinem Referat im Grundsatz verteidigte. Hamm ließ sich also offenbar ebenso wie andere Industrievertreter von der Absicht leiten, die Option einer aktiven Konjunkturpolitik offenzuhalten, ohne vom bisherigen deflationspolitischen Kurs allzuweit abzuweichen. Die konjunkturpolitische Diskussion der Industrie im Mai / Juni 1931 zeigt, daß seit der Jahreswende 1930/31 der deflationspolitische Konsens aufzuweichen begann und vor der Bankenkrise bereits so weit fortgeschritten war, daß ein Übergang von der kontraktiven zu einer expansiven Konjunkturpolitik sich abzuzeichnen begann. Allmählich wurde die Industrie einer inneren Zerreißprobe ausgesetzt, wenngleich die Deflationisten zunächst noch die Oberhand behielten.

3. Das Auseinanderbrechen des deflationspoJitischen Konsenses innerhalb der Reichsregierung und die kreditpolitische Haltung Luthers Als Brüning kurz nach Übernahme der Kanzlerschaft den Kabinettsmitgliedern sein programmatisches Ziel erläuterte, die Wirtschaft in fünf Jahren zu sanieren 105, stand noch die Sanierung der öffentlichen Finanzen und der Sozialversicherungen im Zentrum der Überlegungen. Trotzdem schrieb Brüning der öffentlichen Arbeitsbeschaffung eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Wenn er ihr auch keine entscheidende Wirkung hinsichtlich eines konjunkturellen Umschwunges zumaß, erwartete er davon eine materiell entlastende 106 und eine psychologisch bedeutende Wirkung auf den Konjunkturverlauf. 107 Darüber hinaus versprach er sich davon Vgl. ebd, S. 43. Ähnlich äußerte sich auch Reusch; vgl Protokoll über die Vorstandssitzung des DIHT vom 22.6. 1931, Haniel Archiv, 40010123 /33a. 105 Vgl. Ministerbesprechung vom 30. 4. 1930, AdR, Brüning, Nr. 21, S. 66. 106 Vgl. Ministerbesprechung vom 19. 5. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37, S. 141. 107 Vgl. Boslers Bericht über die Ausführung Brünings in dem Reichsrat Ende Juni 1930. Bosler (württembergischer Gesandte im Reichsrat) an das württembergische Staatsministerium, 28. 6. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 102, S. 266. 103

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III. Die konjunkturpolitische Diskussion vor der Bankenkrise

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politische Vorteile für die Reichsregierung, da er befürchtete, daß die Parteien, insbesondere die Sozialdemokratie, die Arbeitsbeschaffung propagandistisch für sich auszunützen imstande seien. 108 Aus diesem Grunde drängte der Reichskanzler die zuständigen Ministerien seit dem Sommer 1930 zur Ausarbeitung und Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 109 Die Kabinettsmitglieder stimmten darin überein, daß die Arbeitslosigkeit am effektivsten mit der Förderung der öffentlichen Bautätigkeit bekämpft werden könne, da die Bauindustrie von der anhaltenden Rezession besonders schwer getroffen wurde. Dieser Konsens konnte jedoch über die Differenzen der Finanzierung nicht hinweghelfen. Bezüglich des Wohnungsbaus lehnte Moldenhauer den Vorschlag Stegerwalds, die normalen Etatmittel einzusetzen, wie auch die Anregung Dietrichs, den erhöhten Beitragsanteil der Arbeitslosenversicherung zu verwenden, ab, so daß als letzte Alternative nur noch die Aufnahme von Auslandskrediten in Frage kam. 110 Dies wiederum setzte eine positive Mitwirkung Luthers voraus, der diesem Schritt jedoch unter Hinweis auf die ungünstige Lage auf den internationalen Kapitalmärkten seine Zustimmung versagte. lll Tatsächlich bestand sein Hauptmotiv aber in seinen Vorbehalten gegenüber der öffentlichen Arbeitsbeschaffung; selbst als Stegerwald einen Auslandskredit durch die Vermittlung der Bau- und Bodenbank in Aussicht stellte, blieb er bei seiner ablehnenden Haltung. 112 Angesichts dieses Widerstands sah Moldenhauer sich gezwungen, 100 Mio. RM zum Kleinwohnungsbau aus dem Reichshaushalt zur Verfügung zu stellenY3 Bei einem anderen Vorschlag zur Belebung des Baumarktes, nämlich dem Autobahn- bzw. Straßenbau, war der Reichskanzler selbst die treibende Kraft. 114 Bereits in der ersten Kabinettsberatung über den Straßenbau Mitte Mai 1930 konnte sich Brüning so weit durchsetzen, daß Justizminister Joel mit der schnellen Klärung der Frage der Enteignung der erforderlichen Grundstücke beauftragt wurde. 115 Gut Vgl. Ministerbesprechung vom 19.5. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37, S. 138. Vgl. detailliert R. Meister, Die große Depression. Zwangslagen und Handlungsspielräume der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Deutschland 1929-1932, Regensburg, 1991, S.196ff. 110 Der Grund für die ablehnende Haltung Moldenhauers lag zunächst in der prekären finanziellen Situation des Reiches und der Arbeitslosenversicherung, aber auch in seiner grundSätzlichen Einstellung gegen die staatliche Wirtschaftstätigkeit. V gl. Ministerbesprechung vom 19.5. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37, S. 138 f. 111 Ebd, S. 143. 112 Vgl. Kabinettssitzungen vom 5. und 13. 6. 1930, AdR, Brüning, Nr. 46 u. 47, S. 188 f. u. 195. 113 Stegerwald und Moldenhauer erwogen, die Hauszinssteuer um 5% zu erhöhen und das Steueraufkommen ausschließlich dem Wohnungsbau zuzuführen, aber das Kabinett lehnte in seiner Mehrheit diesen Vorschlag ab. Vgl. Kabinettssitzungen vom 27. Mai u. 3. u. 5. Juni 1930, AdR, Brüning, Nr. 41,45 u. 46, S. 166, 180 u. 190. 114 Vgl. Gottfried R. Treviranus, Das Ende von Weimar. Heinrich Brüning und seine Zeit, Düsse1dorf 1968, S. 191 f. 108 109

3. Das Auseinanderbrechen des deflationspolitischen Konsenses

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zwei Wochen später konnte Verkehrminister Guerard im Kabinett berichten, daß es ihm gelungen sei, gemeinsam mit den Ländern eine Karte für den Ausbau eines einheitlichen deutschen Straßennetzes anzufertigen. Er rechnete schon im Rechnungsjahr 1931 mit dem Baubeginn, wenn die Aufnahme von Auslandskrediten gelingen würde. 116 Trendelenburg, Schätzel und Stegerwald sprachen sich ebenfalls für die alsbaldige Inangriffnahme des Vorhabens aus. Erneut kam es auf die Zustimmung Luthers an, der sich ein weiteres Mal querstelIte und den Straßenbau als unproduktiv bezeichnete. 117 Die Reichsregierung überging Luthers Veto und nahm Verhandlungen mit den verschiedenen Kreditinstituten, namentlich der Deutschen Girozentrale, der Deutschen Landesbankzentrale und der Bau- und Bodenbank, auf, die ihrerseits die Bereitschaft der Gewährung eines Zwischenkredits in Höhe von 300 Mio. RM sogar ohne eine Bürgschaftsübernahme seitens des Reiches signalisierten. In einer Ressortsbesprechung vom 3. Juli 1930 wurde die Reichsbank erneut zur Mitwirkung aufgefordert. Dieser Vorstoß blieb vergebens 118, da Luther offensichtlich befürchtete, die Sache aus der Hand geben zu müssen; in der Chefbesprechung vom 12. Juli 1930 erhob er den Anspruch der Reichsbank auf die alleinige Zuständigkeit für Auslandsanleihen und veranlaßte Brüning, daran festzuhalten, "daß grundsätzlich mit ausländischen Geldgebern nur im Einvernehmen mit der Reichsbank, oder, falls die Reichsbank es wünscht, durch Vermittlung der Reichsbank Fühlung genommen werden dürfe".119 Am 16. Juli 1930 lud Luther die Vertreter der zuständigen Ministerien und der öffentlichrechtlichen Kreditinstitute zu einer Sitzung in die Reichsbank ein, um seinem ablehnenden Standpunkt unter Hinweis auf den Kapitalbedarf der öffentlichen Hand im laufenden Jahr Nachdruck zu verieihenYo Die Reichsregierung ließ sich von ihrem Vorhaben jedoch nicht abbringen. Guerard führte mit Luther eine heftige briefliche Auseinandersetzung darüber, ob der Straßenbau produktiv sei oder nicht l21 , während Brüning gegenüber dem RDI erklärte, daß für die Verzögerung des Projekts allein Luther verantwortlich sei. 122 Vgl. Ministerbesprechung vom 19.5. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37, S. 142. Vgl. Kabinettssitzung vom 5. 6.1930, AdR, Brüning, Nr. 46, S. 191. 117 Vgl. Kabinettssitzung vom 13. 6. 1930, AdR, Brüning, Nr. 47, S. 195; Tagebucheintragung Schäffers vom 13.6. 1930, HZ, NL Schäffer, ED 93 / 9. 118 Vgl. Bericht über die Ressortbesprechung im Reichsverkehrministerium vom 3.7. 1930 betreffend die Arbeitsbeschaffung durch die Finanzierung des Straßenbaus mit Anleihe, BAP, 25,01 /6573. 119 Chefbesprechung vom 12.7. 1930, AdR, Brüning, Nr. 73, S. 297. 120 Vgl. Ergebnis der am 16.7. 1930 in der Reichsbank stattgefundenen Besprechung betr. Feststellung des Kreditsbedarfs der öffentlichen Stellen, BAP, 25.01 /6480. Dabei waren Luther, Trendelenburg, Schäffer, Sautter und Vertreter der Preußischen Staatsbank, der Rentenbank-Kreditanstalt, der Reichsbahn und der Deutschen Bau- und Bodenbank AG anwesend. Vgl. auch Luther an Guerard, 26. 7.1930, BAK, R 43 1/898. 121 Vgl. Luther an Guerard am 16.9. 1930; ebd. Statistische Abteilung der Reichsbank, Zu der vom Reichsverkehrminister beabsichtigten Aufnahme einer 300 Mio. RM-Anleihe für Straßenbauzwecke, 4. 8. 1930, BAP, 25.01 /6573 u. 6633. 115

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III. Die konjunkturpolitische Diskussion vor der Bankenkrise

Es spricht viel dafür, daß die starre Haltung Luthers aus seinem Selbstverständnis als "Finanzberater des Kabinetts" resultierte; er wollte offensichtlich nicht zulassen, daß die deflationspolitische Disziplin der Reichsregierung wegen der Aufnahme der Auslandskredite nachließ, da er davon ausging, "daß der Kredit des Deutschen Reiches im Ausland ausschlaggebend davon abhänge, daß das Gleichgewicht im Reichshaushalt aus eigenen Kräften hergestellt und erhalten werde".123 Der Reichsbankpräsident folgte also konsequent der in der tagespolitischen Auseinandersetzung bewährten Strategie, die wirtschaftspolitische Diskussion des Reichskabinetts auf den finanzpolitischen Standpunkt zu reduzieren und gleichzeitig nachzuweisen, daß ohne die Reichsreform weder die Haushaltssanierung noch eine Verbesserung der Wirtschaftslage herbeigeführt werden könne. Die intransigente Haltung Luthers gegenüber der staatlichen Arbeitsbeschaffung beruhte auf der Annahme, daß die Reichsreform nur bei der Fortsetzung des wirtschaftsliberalen deflationspolitischen Kurses gelingen könne. Luther begriff die Konjunktur stets als "ein ganz natürliches Geschehen", ein "Ein- und Ausatmen"124 und lehnte jeden Staatsinterventionismus strikt ab. Stattdessen sollte der Staat den deflatorischen Gesundungsprozeß unterstützen, indem er die öffentlichen Ausgaben senke und ein politische Klima schaffe, in dem das Vertrauen in die wirtschaftspolitische Entwicklung wieder wachse. Um sein wirtschafts liberales Kredo zu popularisieren, scheute er auch vor simplifizierenden Naturmetaphern nicht zurück: "Auch im Wirtschaftsleben ist es so, daß auf Sonnenschein stets Regen folgt". 125 Erst am 24. September 1930 ließ Luther seinen Widerstand gegen den Auslandskredit für den Straßenbau fallen 126, aber seine Zustimmung kam zu spät. Denn nach dem Kreditabzug infolge der Septemberwahlen stand der Auslandskredit nicht mehr zur Verfügung, und die Reichsregierung beschäftigte sich nicht mehr mit der Arbeitsbeschaffung. Es ist charakteristisch, daß Brüning nach den Septemberwahlen kein Wort mehr zu der staatlichen Konjunkturpolitik verlor; offenbar trat die Wirtschaftspolitik Brünings nach den Septemberwahlen in eine neue Phase. 122 Vgl. Besprechung Brünings mit Vertretern des RDI vorn 4. 8. 1930, AdR, Brüning, Nr. 93, S. 357. 123 Kabinettssitzung vorn 13.6. 1930, AdR, Brüning, 47, S. 194. 124 Vgl. H. Luther, Von Deutschlands eigener Kraft. Versuch einer gemeinverständlichen Darstellung unserer Lage in der Weltwirtschaft, Berlin 1928, S. 14. Das Buch wurde vorn Lutherbund finanziert und von Reusch sorgfältig redigiert. Zur Stellungnahme Reuschs zum Entwurf des Buches, Reusch an Luther, 20. 3. 1928, samt der Stellungnahme der Abteilung Wirtschaft der GHH, Haniel Archiv, 400101290/ 29a. 125 Ebd., S. 53. Ähnlich bei einern Aufsatz von ihm, der als Sondernummer des "Heimatdienstes" im August 1930 erschienen war. Dort bezeichnete Luther es als "ein Trost", daß "die Natur selbst Heilungsmöglichkeiten darbietet". Vgl. H. Luther, Kredit und Zins im Zeichen der Krise, BAK, NL Luther, 414. 126 Vgl. Kabinettssitzung vorn 24. 9. 1930, AdR, Brüning, Nr. 117, S. 445. Der Grund, warum Luther nun der Reichsregierung entgegenkam, lag offensichtlich in der Änderung seiner Haltung zum Kabinett Brüning nach den Septemberwahlen. Bis dahin schien er gehofft zu haben, daß das Kabinett Brüning über die desolate Finanzsituation stolpere, was in seinen Augen der Chance gleichgekommen wäre, die Kanzlerschaft zu übernehmen. Das Ergebnis

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Wahrend die Deflationspolitik bislang die Doppelfunktion übernommen hatte, sowohl für die allgemeine Krisenbewältigung als auch für die Revision der Reparationsverpflichtungen eine wirtschaftspolitische Grundlage zu schaffen, reduzierte er sie nun völlig auf die reparationspolitischen Zielsetzungen. 127 Die Unterordnung aller finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen unter den Primat der Reparationspolitik trat seit dem Jahreswechsel 1930/31 schließlich immer deutlicher hervor. Der deflationspolitische Konsens innerhalb der Reichsregierung begann gerade zu dem Zeitpunkt abzubröckeln, als Brüning seine Politik auf die Reparationsfrage fixierte. Am frühesten distanzierte sich der neue Reichsfinanzminister Hermann Dietrich, der für die Haushaltssanierung verantwortlich war, von der deflationistischen Krisenpolitik. Bereits im Mai 1930 hatte er sich durch sein Plädoyer für eine aktive Industriepolitik von den übrigen Reichsministern exponiert. In einer Ministerbesprechung, die sich mit den Maßnahmen zur Entlastung des Arbeitsmarktes beschäftigte, legte er dar, welche finanziellen Belastungen die Stillegung eines Großunternehmens und der zahlreichen Zulieferunternehmen aufgrund der anfallenden Arbeitslosenunterstützung bedeuten würde. Demgegenüber gab Dietrich der staatlichen Unterstützung eines von dem Konkurs bedrohten Unternehmens den Vorzug, provozierte damit jedoch die Kritik Moldenhauers, daß es sich dabei um "eine hemmungslose Subventionspolitik" handle. 128 In der Hauptausschußsitzung des RDI trug Dietrich dann am 19. September 1930 seine Gedanken über die Ursachen der Depression und deren Überwindung hohen Industrievertretern vor. Aus dem Exportanstieg von 1925 bis 1929 um 50% und dem Verharren des Ausfuhrvolumens auf diesem Niveau im Jahre 1930 schloß er, daß die deutsche Depression auf einem inländischen Absatzrückgang beruhe. Da Dietrich die Hochkonjunktur 1926 bis 1929 im wesentlichen mit dem Kapitalimport Verbindung brachte, erblickte er wiederum in dem Abbruch der Kapitaleinfuhr das "Hauptstörungsmoment" der deutschen Volkswirtschaft. Daraus zog er die Schlußfolgerung, daß der Konjunkturumschwung durch die "Kapitalbeschaffung" herbeigeführt werden könne. Wie weit Dietrich vom deflations politischen Kurs der Reichsregierung abrückte, zeigte die Reaktion Müller-Oerlinghausens. Dieser meldete sich zu Wort, "damit es nicht so erscheint, als ob wir uns hier in der Betrachtung der Dinge, so, wie wir sie seit Jahren hier vertreten, umgestellt hätten". 129 Trotz dieser Differenzen war auch Dietrich ein Anhänger der Deflationspolitik, wie seine praktischen finanzpolitischen Maßnahmen vielfach belegen. 1930 hielt der Reichsfinanzminister am Ziel des Haushaltsausgleichs fest, und das Wirtschafts- und Finanzreformprogramm vom 30. September 1930, das die deflationider Septemberwahl änderte aber die Machtkonstellation schlagartig. Luther mußte eingesehen haben, daß seine Chance in die Ferne gerückt war. 127 Vgl. H. Sanmann, Daten und Alternativen, S. 121; G. Plumpe, Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise, S. 339. 128 Vgl. Ministerbesprechung vom 19.5. 1930, AdR, Brüning, Nr. 37, S. 140. 129 V gl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des RDI vom 19. 9. 1930, Bayer Archiv, 62 / 10.5. 6 Kim

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stische Wirtschaftspolitk der Reichsregierung mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck brachte, wurde in seinem Ministerium ausgearbeitet. Erst Anfang 1931 schwenkte Dietrich offenbar endgültig auf eine expansive Konjunkturpolitik ein. Im Januar 1931 stieß er mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit, für einen begrenzten Zeitraum Privatunternehmen einen staatlichen Zu schuß zu den Lohnkosten für jeden zusätzlich beschäftigen Arbeiter zu gewähren. Er ging davon aus, daß die Konjunktur langfristig belebt werden könne, wenn man diese Arbeiter nach der Beendigung der staatlichen Zuschußgewährung nicht wieder entlassen, sondern zur Befriedigung der inzwischen gestiegenen Nachfrage weiter beschäftigen würde. 130 Im Kern lief diese Vorstellung auf eine nachfrageorientierte Konjunkturpolitik hinaus. Anfang März 1931 begann sich schließlich die endgültige Abkehr Dietrichs von dem bislang unumstrittenen Prinzip der Finanzpolitik, nämlich dem Haushaltsausgleich, abzuzeichnen. In einer Besprechung über die Finanzlage der preußischen Gemeinden führte er aus, er halte es für gefährlich, die Frage des Haushaltsausgleichs allzu formal zu betrachten und unter allen Umständen darauf auszugehen, schon jetzt den Ausgleich für das Haushaltsjahr mechanisch herbeizuführen: "Es könne sonst dahin kommen, daß man durch zu früh einsetzende Vorsorge die sich möglicherweise anbahnende Besserung in verhängnisvoller Weise hemme". 131 Anfang Mai 1931 war Dietrich so weit gekommen, sich von der finanzpolitischen Priorität des Haushaltsausgleiches völlig zu distanzieren. Er wies seinen Staatssekretär Schäffer wiederholt darauf hin, daß "Haushaltsersparnisse krisenfördernd wirken".132 Schäffer, der als der für den Etat zuständige Staatssekretär über die Ansichten Dietrichs besorgt war, setzte umgehend Hermann Pünder, den Staatssekretär in der Reichskanzlei, und Fritz Dreyse, den Vizepräsidenten der Reichsbank, davon in Kenntnis; Pünder gegenüber berichtete er, daß sein Minister "sich jetzt vor der Deckung scheut, weil die Einschränkungen die Krise vergrößerten".133 In einer Chefbesprechung vom 7. Mai 1931, die sich mit der Reparationsfrage beschäftigte, ging Dietrich noch einen Schritt weiter: "Deutschland gerate in einen Schrumpfungsprozeß, aus dem es keinen Ausweg gebe. Wir müßten noch einmal einen scharfen Einschnitt machen, aber er werde nicht endgültig zum Ziele führen. Aus dieser Lage müsse man eben mit anderen Mitteln herauszukommen trachten".134 Etwa eine Woche später konkretisierte er, was er mit den "anderen Mitteln" meinte. In einer Besprechung bei Brüning, an der Stegerwald, Trendelenburg und Pünder teilnahmen, betonte er "mit großem Nachdruck", "daß man nicht durch 130 Vgl. Besprechung der Reichsregierung mit den Vertretern des RDI und der VDA vom 19. 1. 1931, AdR, Brüning, Nr. 229, S. 823; M. Grübler, S. 370. 131 Vgl. Besprechung vom 2.3.1931, AdR, Brüning, Nr. 253, S. 921. 132 Vgl. Schäffers Tagebucheintragung vom 1. 5. 1931, HZ, ED 93 /10. Über die konjunkturpolitischen Konsequenzen hinaus befürchtete Dietrich politische Auswirkungen der deflatorischen Finanzpolitik. Er verband die Verschärfung der Krise durch die Ausgabenersparnisse mit der Gefahr einer möglichen Kursschwenkung der Reichsregierung nach rechts. Vgl. Schäffers Tagebucheintragung über die Besprechung mit Brüning vom 6. 5. 1931, ebd. 133 Vgl. Schäffers Tagebucheintragung vom 1. 5. 1931, HZ, ED 93 /10. 134 Besprechung vom 7.5.1931, AdR, Brüning, Nr. 291, S. 1057.

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Einsparungen die Schrumpfung vergrößern, sondern im Gegenteil durch Beschaffung (der Arbeitsgelegenheiten die Wirtschaft) ankurbeln müsse".135 Dietrich war also nicht nur der Ansicht, daß die deflationistische Finanzpolitik die Wirtschaftskrise verschärfe, sondern wollte darüber hinaus die Arbeitsbeschaffung bewußt als das Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft einsetzen. Schäffer distanzierte sich nun ebenfalls von einer deflationistischen Krisenpolitik, allerdings nicht so stark wie Dietrich. Er hielt die Krise im Grunde für die normale Abschwungphase der konjunkturellen Entwicklung, vertraute jedoch dieses Mal nicht auf die Selbstheilung der Wirtschaft. Nachseiner Diagnose fehlte es sowohl an der Investitionsgüternachfrage, die die Konjunktur 1927/28 wieder belebt hatte, als auch an der Konsumgüternachfrage, weil die finanzkräftige Mittelschicht, deren Einkommen bei sinkenden Preisen zur Überwindung der Krise hätte beitragen können, nicht mehr stark genug sei. 136 Also hielt Schäffer einen äußeren Anstoß zur Konjunkturbelebung für notwendig und konzipierte im Mai 1931, als Dietrich sich bereits für die Konjunkturankurbelung durch die Arbeitsbeschaffung aussprach, "ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm".137 Im Unterschied zu der Auffassung Dietrichs glaubte Schäffer allerdings nicht an die krisenverschärfenden prozyklischen Auswirkungen einer deflatorischen Finanzpolitik. Der entscheidende Unterschied zwischen Dietrich und Schäffer bestand in der Beurteilung der Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Gläubigermächten und damit in der Frage der Reparationspolitik. Bei einer Besprechung mit Dreyse Anfang Mai 1931 führte Schäffer aus: "Die gelegentlich vom Minister geäußerte Auffassung, daß Haushaltserspamisse krisenfördernd wirken, müsse dennoch bekämpft werden, weil unser ganzes Wirtschaftsleben nur durch fremdes Geld in Bewegung gesetzt werden könne, und dieses komme nur bei einem vollkommen gedeckten Haushalt". 138 Schäffer setzte in erster Linie auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Gläubigermächten, vor allem mit Frankreich. So könne sich Deutschland das Auslandskapital besorgen, das zur Arbeitsbeschaffung notwendig sei. Demgemäß begegnete Schäffer der Absicht Brünings, alsbald eine Revisionsinitiative in der Reparationsfrage zu ergreifen, mit großer Skepsis. 139 Dietrich ver135 Mitteilung Pünders an Schäffer über die Besprechung vom 15.5. 1931. Vgl. Schäffers Tagebucheintragung vom 16.5. 1931, HZ, ED 93 /10. 136 Vgl. Schäffers Tagebucheintragung über die Besprechung mit Luther vom 15.9. 1930, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 134, S. 380. 137 Vgl. Schäffers Tagebucheintragung über eine Unterredung mit Dreyse vom I. 5.1931, HZ, ED 93 / 10. 138 Ebd. 139 Anfang April 1931 machte Schäffer in einer Denkschrift seine Einstellung deutlich, daß die Reichsregierung ohne größtmögliche Sicherung der inneren finanziellen Grundlagen die Reparationsfrage nicht aufrollen durfte. Seit Januar 1931 hielt er die Umwandlung der Barannuitäten in Sachleistungen für einen sinnvollen Weg, die Reparationslasten zu reduzieren und zugleich zu einer deutsch-französichen Verständigung zu kommen. Vgl. Denkschrift Schäffers über die Reparationsfrage, 9. 4. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 205a, S. 583 ff.; W. Glashagen, Die Reparationspolitik, S. 388; G. Schulz, Reparationen

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sprach sich hingegen wenig von der Verständigungspolitik mit den Gläubigermächten ; da er eine Herbeiführung der Transferkrise als die beste Taktik zur Beendigung der Reparationen ansah 140, wollte er so wenig wie möglich Auslandskredite aufnehmen, zumal er deren konjunkturelle Wirkung ohnehin für aussichtslos hielt: "Wir dürfen uns nicht auf die Hoffnung versteifen, von außen her saniert zu werden".141 Die Skepsis gegenüber einer Verständigungspolitik mit den Gläubigermächten, gleichzeitig aber die von ihm wahrgenommene Gefahr einer Deflationsspirale führte Dietrich zum Plädoyer für eine binnenwirtschaftlich akzentuierte Konjunkturpolitik. Die anderen wichtigen Ressortschefs des Kabinetts, namentlich Trendelenburg und Stegerwald, blieben noch der konventionellen Krisentheorie verhaftet. Trendelenburg betrachtete die Konjunkturfrage als eine Vertrauensfrage. Der Zustrom ausländischen Kapitals, von dem der konjunkturelle Umschwung im wesentlichen abhänge, könne gelingen, wenn sich die Reichsregierung um die Haushaltssanierung bemühe, und damit das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft wachsen würde. 142 Stegerwald war ähnlicher Auffassung; er glaubte, zur Milderung der Arbeitslosigkeit keine großen Finanzmittel einsetzen zu dürfen. Die Wiederkehr und Stärkung des Vertrauens, von der man die Milderung der Arbeitslosigkeit erwarten könne, müsse "von anderer Seite kommen, nicht von der Arbeitslosenseite her".143 Anfang Juni 1931 präzisierte es seine Auffassung: er habe "seit je her gesagt, daß das Notprogramm der Regierung dreierlei umfassen müsse: 1. ein Opferprogramm, 2. die erforderlichen Maßnahmen zur staatspolitischen Vereinfachung, Verbilligung und Zusammenfassung der Staatsgewalt, 3. die Reparationsfrage".144 Daran war abermals deutlich zu erkennen, daß Stegerwald ebenso wie Luther in der Verknüpfung von Deflationspolitik und Reichsreform die einzige Chance zur Überwindung der Krise sah. Brüning brachte im Frühjahr 1931 wiederholt seine Skepsis gegenüber dem wirtschaftlichen Erfolg der Deflationspolitik zum Ausdruck: "Je mehr wirtschaftliche Maßnahmen eingeführt würden, je geringer würden die Einnahmen der öfund Krisenprobleme nach dem Wahlsieg der NSDAP 1930. Betrachtungen zur Regierung Brüning, in: VSWG 67 (1982), S. 208. 140 In der Chefbesprechung vom 28. 10. 1930 führte Dietrich aus: "Man kann transferieren nur entweder aus Ausfuhrüberschüssen oder aus Borgen. Haben wir Ausfuhrüberschüsse nicht, so kommt es nur auf Borgen an. Wenn die Finanzen ausgeglichen sind, braucht die öffentliche Hand nicht mehr zu borgen. Die Privaten bekommen ohnedies nichts mehr geborgt. Dann werden Transferschwierigkeiten eintreten ohne Aufbringungsschwierigkeiten. Das ist der rechte Augenblick für eine Revision". Schäffers Tagebucheintragung vom 28. 10. 1930, HZ, ED 93/9. 141 Besprechung vom 7.5.1931, AdR, Brüning, Nr. 291, S. 1057. 142 Vgl. ebd, S. 1054. 143 Vgl. Ministerbesprechung vom 27.3.1931, AdR, Brüning, Nr. 272, S. 989. 144 Luthers Aufzeichnung über die Ministerbesprechung vom 3. 6. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 221a, S. 645.

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fentlichen Hand. Dieser Ring könne nur gesprengt werden durch die Erleichterung auf dem Gebiet der Reparationen, oder durch hereinströmendes Auslandskapital. Andere Maßnahmen, selbst solche drakonischen Charakters, würden kaum zu praktischen Resultaten führen".145 Wenngleich diese Ausführungen nicht primär konjunkturpolitisch, sondern reparationspolitisch motiviert waren 146, zeichnete sich damit doch implizit ab, daß Brüning sich der Gefahren einer Deflationsspirale immer deutlicher bewußt wurde. In einer Chefbesprechung am 20. Mai 1931 stellte Brüning erneut klar, "daß der Prozeß der Schrumpfung nur bis zu einem gewissen Grade getrieben werden könne; darüber hinaus werde es ein Unding sein, weitere Maßnahmen zu treffen". 147 Daß sich Brüning der krisenverschärfenden Konsequenzen seiner Finanzpoltik bewußt war, trat auch in den Gesprächen mit seinen Vertrauten hervor. Als Schäffer ihn am 6. Mai 1931 von der Auffassung Dietrichs zur deflatorischen Finanzpolitik in Kenntnis setzte, schwieg er zunächst. Erst als er hörte, daß Dietrich befürchtete, Brünings Deflationspolitik könne eine parteipolitische Kurswende nach rechts hervorrufen, reagierte der Reichskanzler erbost, wie Schäffer in seinem Tagebuch festhielt: "Ich erklärte seine Zurückhaltung, (durch Einsparungen die Krise zu verschlimmern und durch Vornahme unpopulärer Maßnahmen eine Kursschwenkung nach rechts zu erleichtern). Als ich den letzen Gesichtspunkt erwähnte, fiel Brüning mir ins Wort und sagte, daß eine solche Furcht ganz unbegründet sei, was ihn selbst anlange". 148 Zehn Tage später, als Dietrich in einer Unterredung mit dem Reichskanzler seine Haltung bekräftigte und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Mittel zur Konjunkturbelebung forderte, bestand Brüning zwar auf der vollen Deckung des Haushaltes, aber: "Der Kanzler habe aber ande145 Besprechung vom 7.5. 1931, AdR, Brüning, Nr. 291, S. 1053. Ähnlich in einer Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 2. 6. 1931, in: AdR, Brüning, Nr. 320, S. 1164. 146 Brüning stieß im Frühjahr 1931 mit seinem Entschluß, die Reparationsfrage wieder aufzunehmen, auf schwere Bedenken der Ministerialbürokratie. Luther, Schäffer, Trendelenburg, Hans Ronde, Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium, Otto Nathan, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, Karl Ritter, Ministerialdirektor im Reichsaußenministerium und Herbert Dom, Ministerialdirektor im Reichsfinanzministerium, betrachteten die Initiative Brünings mit Skepsis. Nur Dietrich und Hugo F. Berger, Reparationsreferent im Reichsfinanzministerium, der zu Brüning guten Kontakt hatte, standen vollkommen auf der Linie Brünings. Angesicht dieser negativen Einstellung der Ministerialbürokratie sah sich Brüning wohl veranlaßt, die hohen Beamten davon zu überzeugen, daß die Wiederaufnahme der Reparationsfrage nicht nur innenpolitisch, sondern auch konjunkturpolitisch unumgänglich war. Zur Einstellung von Luther und Trendelenburg vgl. Ministerbesprechung vom 30. 5. 1931, AdR, Brüning, Nr. 316, S. 1144 f.; zur Einstellung der übrigen Ministerialbeamten vgl. ihre Stellungnahmen zur Denkschrift Schäffers über die Reparationsfrage, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 205 abis f, S. 597 ff. Vgl. auch die ausführliche Darstellung über den reparationspolitischen Willensbildungsprozeß und den internen Konflikt der Reichsregierung bei W. Glashagen, Die Reparationspoltik, S. 380-415. 147 Besprechung vom 20.5. 1931, AdR, Brüning, Nr. 300, S. 1081. 148 Klammerung im Original. Schäffers Tagebucheintragung über ein Gespräch mit Brüning vom 6. 5. 1931, IfZ, ED 93 /10.

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rerseits Dietrichs Ankurbelungsidee nicht abgelehnt". 149 Offenbar stand auch Brüning der Möglichkeit staatlicher Arbeitsbeschaffung angesichts des ausbleibenden Erfolgs der Deflationspolitik nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Von den bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen maßgebenden Regierungsmitgliedern haben sich Dietrich, Schäffer und auch Brüning bereits in der ersten Jahreshälfte 1931 konzeptionell von der orthodoxen Konjunkturpolitik abzuwenden begonnen; der Reichskanzler wäre in dieser Situation durchaus in der Lage gewesen, einen wirtschaftlichen Kurswechsel größeren Stils einzuleiten. Damit ist nicht gesagt, daß sich die staatliche Arbeitsbeschaffung bereits zu diesem Zeitpunkt als eine politisch tragfähige Alternative zur Deflationspolitik anbot, sondern daß Brüning bereits zu diesem Zeitpunkt das Kabinett erfolgreich auf eine expansive Konjunkturpolitik hätte vorbereiten können, um auf dieser Basis die offene Auseinandersetzung mit Luther zu wagen und eine breitere gesellschaftliche Diskussion über die Wirtschaftspolitik herbeizuführen - wenn er es denn beabsichtigt hätte. 150 Statt dessen wies Brüning selbst der Brauns-Kommission hauptsächlich die Aufgabe zu, gegenüber der Öffentlichkeit die geringfügigen Maßnahmen der Reichsregierung in Bezug auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu verteidigen und unterband eine breite öffentliche Diskussion über die Wirtschaftspolitik. 151 Das Ausbleiben einer konstruktiven Diskussion innerhalb der Reichsregierung über den konjunkturpolitischen Kurs verdankte sich der Entscheidung Brünings, der Beendigung der Reparationen absolute Priorität einzuräumen. Das Handeln des Reichskanzlers stand dabei nicht im Widerspruch zu dessen wirtschaftspolitischen Überzeugungen; eher muß man davon ausgehen, daß er angesichts der aufkommenden Diskussion über die Sachgemäßheit der Deflationspolitik gegenüber seiner eigenen Strategie verunsichert worden war, ohne jedoch sein Hauptziel aus dem Blick zu verlieren: die Wirksamkeit seiner konjunkturpolitischen Konzeption war für ihn nur von untergeordneter Bedeutung, da die Wirtschaftspolitik - pointiert gesprochen - nur ein Instrument seiner reparationspolitischen Strategie war. Ungeachtet der sonstigen konjunkturpolitischen Differenzen gegenüber Brüning blieb selbst Dietrich dieser Strategie verpflichtet. Diese Loyalität mag mit ein Grund dafür gewesen sein, daß Dietrich sich in der Praxis zu wirtschaftspolitischen Zugeständnissen bereitfand, wie der Kompromißcharakter der NotVO vom 5. Juni 1931 zeigte. 152

149 Mitteilung Pünders an Schäffer; vgl. Schäffers Tagebucheintragung vom 16.5. 1931, HZ, ED 93 / 10. 150 Es ist zweifellos im Nachhinein schwer rekonstruierbar, wie eine expansive Konjunkturpolitik der Reichsregierung in dieser Phase konkret hiitte.gestaltet werden können. Während Schäffer am Prinzip des Haushaltsausgleichs festhielt, war Dietrich bereit, davon abzugehen, falls die Entscheidung für die große Arbeitsbeschaffungspolitik gefallen wäre. 151 Vgl. M. Grübler, Die Spitzenverbände, S. 354 u. 363. 152 Vgl. Besprechung vom 20. 5. 1931, AdR, Nr. 300, S. 1084.

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Da die Reichsregierung trotz der neuen Denkansätze Dietrichs an der Deflationspolitik festhielt, hatten Luther bzw. die Reichsbank keinen besonderen Anlaß, in die Diskussion des Reichskabinetts zu intervenieren. Der in Gang gekommene Prozeß des konjunkturpolitischen Umdenkens innerhalb der Spitzenverbände der Wirtschaft war ebenfalls noch nicht weit genug gediehen, um eine grundsätzliche konjunkturpolitische Wende herbeizuführen. Es waren vielmehr die neuen Strömungen innerhalb der Nationalökonomie, insbesondere die Diskussion über den möglichen Nutzen einer monetären Konjunkturpolitik, die die Reichsbank zur internen Beschäftigung mit der expansiven Konjunkturpolitik veranlaßte. Die Reichsbank wies alle theoretischen Ansätze zurück, die die Depression auf die Verknappung der Geldmenge zurückführten. Die Statistische Abteilung bezeichnete die Geldtheorie von Gustav Cassel, die den Goldstandard grundsätzlich in Frage stellte und die Lenkungsmacht der Notenbanken über die Geldmenge und das Preisniveau hervorhob, als "absurd". Der Anteil des Giralgelds an der gesamten Geldmenge sei so erheblich gestiegen, daß die Notenbank nicht mehr die Geldmenge kontrollieren könne. 153 Am Vorabend der Bankenkrise, als sich der Abzug der Auslandskredite bereits deutlich bemerkbar machte, hielt die Statistische Abteilung die Charakterisierung der Depression durch den Frankfurter Wirtschaftsprofessor L. Albert Hahn als "Deflationskrise" noch für bloßes "Gerede".154 Die Deflation sei "nur eine Folge und Symptom der Krise", die auf die wirtschaftliche Stockung und die dadurch entstandene Schrumpfung der Kreditnachfrage zurückzuführen sei. Mit der Zurückweisung monetärer Krisenursachen war zugleich die Ablehnung konkreter Maßnahmen zur Kreditausweitung verbunden. L. Albert Hahn, der die Kreditexpansion als "conditio sine qua non der Konjunktur" bezeichnete, ISS hielt eine drastische Senkung des Diskontsatzes der Reichsbank, und zwar eine "ganz energisch(e)" Unterbietung der Sätze des freien Marktes, für die beste Maßnahme zur Kreditexpansion und damit zur Konjunkturbelebung. 156 Die Statistische Abteilung gab zwar im Prinzip zu, daß die Herabsetzung des Diskontsatzes wirtschaftspolitisch und psychologisch eine günstige Wirkung ausüben könne l57 , 153 Vgl. St. Abt., Mangelhafte Zahlungsmittel versorgung, 29. 4. 1931, BAP, 25.01/6484; G. Cassel, The monetary character of the present crisis, in : Journal of the Institute of Bankers, 1931. Die Verteidigung des Goldstandards war für die Reichsbank so wichtig, daß sich die Statistische Abteilung mit der Casselschen Theorie von Juli 1930 bis Juli 1931 fünfmal auseinandersetzte. 154 Vgl. St. Abt., Haben die Notenbanken in der gegewärtigen Krise versagt? 30. 6. 1931, BAP, 25.01/6574; L. Albert Hahn, Kredit und Krise, Tübingen 1931, ein Vortrag, gehalten vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft der Universität Erlangen am 19. 6. 1931. 155 Vgl. L. Albert Hahn, Volkswirtschaftliche Theorie des Bankkredits, 3. Auflage, Tübingen 1930, S. 145. 156 Vgl. L. Albert Hahn, Kredit und Krise, S. 19. 157 In der Tat senkte die Reichsbank den Diskontsatz kontinuierlich: am 25. März 1930 von 5,5% auf 5% und am 20. Mai 1930 auf 4,5%, d. h. zum ersten Mal seit der Stabilisierung der Währung sank er unter die 5%-Grenze. Am 21. Juni 1930 senkte die Reichsbank den Satz sogar auf 4%. Dadurch war die Zins spanne zwischen den deutschen einerseits und englischen sowie amerikanischen Diskonsätzen andererseits auf 1% bzw. 1,5% geschrumpft, während

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jedoch sei von einem niedrigen Diskontsatz kein entscheidender Impuls zu erwarten, da der Konjunkturumschwung nicht so sehr am geringen Kreditvolumen scheitere, sondern an der "Stauung" von langfristige Anlagen suchendem Kapital, die nicht von der Notenbank geschaffen werden könnten. Die Abteilung plädierte trotzdem für einen möglichst niedrigen Diskontsatz, damit sich die Reichsbank nicht dem Vorwurf aussetze, "nicht alles getan zu haben, was in ihrer Macht stand".158 Dahinter stand wohl auch die Hoffnung, die Wirkungslosigkeit der neuen Ansätze einer expansiven Konjunkturpolitik verdeutlichen zu können. Diese Maßnahmen gingen einigen Wirtschaftsexperten nicht weit genug. A. Lansburgh, Herausgeber der Zeitschrift "Die Bank", hielt die Zinspolitik allein konjunkturpolitisch für völlig unwirksam. Nach seinem Vorschlag müsse die Reichsbank im Einvernehmen mit den privaten Banken den Inhabern von Patenten, die aus Kapitalmangel bisher nicht ausgenutzt werden konnten, Kredite zur Verfügung stellen und auf diese Weise das Kreditvolumen ausdehnen. 159 Auch diesen, auf eine gezielte Industriepolitik seitens der Reichsbank hinauslaufenden Vorschlag, den Notenbankkredit nicht nur zur kurzfristigen Finanzierung des Umsatzes, sondern zur Finanzierung langfristiger Investitionen zu nutzen, lehnte die Statistische Abteilung der Reichsbank als regelwidrig ab. 160 Hans Neisser vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel hielt ebenfalls die Diskontpolitik der Reichsbank zur Initiierung eines Konjunkturumschwungs für unzureichend. Die Diskontierung der Handelswechsel spiegele zwar den augenblicklichen Umfang der Produktion und des Umsatzes, aber nicht die Möglichkeit ihrer Erweiterung. Infolgedessen fand er in der Offenmarktpolitik ein Instrument, der Wirtschaft ein größeres Kreditvolumen zu ermöglichen. Er schlug eine Änderung der Bankgesetze vor, die es der Reichsbank erlauben sollte, über den Effektenhandel mit dem Publikum selbst in Verbindung zu treten. 161 Die Statistische Abteilung sah darin jedoch einen Bruch mit den klassischen Grundsätzen der Notenbankpolitik: da die Offenmarktpolitik nur bei der Autbringung beträchtlicher Mittel konjunkturell stimulierend wirken könne, würden von der Reichsbank direkt oder indirekt regelwidrig große Beträge langfristig festgelegt. 162 Obwohl die Statistische Abteilung die Auffassung Neissie sich in der Regel auf 2,5% gegen New York und 2% gegen London belief. Vgl. G. Hardach, Weltmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 19241931, Berlin 1976, S. 119; Luther in der Zentralratssitzung der Reichsbank vom 20. 6. 1930, BAK, R 43 1/637. 158 Vgl. St. Abt., Was kann die Reichsbank zur Behebung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise tun? 28. 12. 1930, BAP, 25.01 /6483; St. Abt., Haben die Notenbanken in der gegenwärtigen Krise versagt? 30. 6. 1931, BAP, 25.01/6574. 159 Vgl. A. Lansburgh, Welt-Krisis, in: Die Bank, 12.7.1930. 160 V gl. St. Abt., die oben genannten Schriften vom 28. 12.1930 u. 30. 6. 1931. 161 Vgl. H. Neisser, Die Reichsbank als konjunkturpolitischer Faktor, Magazin der Wirtschaft, 27. 3. 1931; St. Abt., Die Reichsbank als konjunkturpolitischer Faktor. Von Dr. Hans Neisser, 10.4. 1931, BAP, 25.01/6484. 162 Vgl. St. Abt., Haben die Notenbanken in der gegenwärtigen Krise versagt? 30. 6. 1931, BAP, 25.01 /6574.

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sers ablehnte, schenkte sie der Offenmarktpolitik, die in den USA längst zum Instrumentarium der Notenbank gehörte, dennoch erhöhte Aufmerksamkeit, die in zwei Abhandlungen ihren Niederschlag fand. Würdigte sie am 10. April 1931 die grundsätzliche konjunkturpolitische Bedeutung der Offenmarktpo1itik l63 , so ging sie in der Schrift vom 21. April 1931 noch einen Schritt weiter und konzipierte selbst Wege, wie ohne eine formelle Änderung der Bankgesetze, konkret, ohne den Einsatz von Reichsbanknoten, eine Offenmarktpolitik möglich sei. 164 Wenngleich die Reichsbank nachdrücklich betonte, daß es sich nicht um alsbald umzusetzende Vorschläge handelte, wird daraus doch deutlich, daß die der Offenmarktpolitik nicht ablehnend gegenüberstand, ohne daß dies zugleich die Bereitschaft zur Kreditausweitung signalisierte. Rückblickend ist von besonderem Interesse, daß der letzte Vorschlag, einen Teil der Geldmenge von der Deckungspflicht der Reichsbank zu befreien, einen zentralen Aspekt des späteren Wagemann-Planes vorwegnahm. Die Reichsbank leugnete nicht, daß eine Kreditausweitung eine vorübergehende Belebung der Konjunktur herbeiführen könne, da die Nachfrage sowohl bei den Investitionsgütern als auch bei den Konsumgütern vermutlich steigen werde. Setze die Nachfragesteigerung jedoch bei einem hohen Preisniveau ein, seien inflatorische Wirkungen unvermeidlich, die dem Export wiederum schaden könnten. An der Kluft zwischen Inlandsund Exportpreisen war für die Reichsbank das ohnehin hohe Preisniveau Deutschlands ablesbar. Sie glaubte zudem weiterhin, daß eine künstliche Konjunkturbelebung die ohnehin fällige Angleichung des Binnenmarktes an das Weltpreisniveau nur hemme; damit werde die Krise nicht beendet, sondern nur hinausgeschoben. 165 Ende Mai 1931 versuchte die Statistische Abteilung, aus einer Untersuchung früherer Wirtschaftskrisen Lehren für die Überwindung der aktuellen Krisensituation zu gewinnen 166 und gelangte zu dem Ergebnis, daß der Aufschwung jeweils hauptsächlich durch verstärkte Investitionen in der Produktionsmittelindustrie initiiert worden war und dies sowohl zur Erschließung neuer Märkte als auch zu infrastrukturellen und technischen Fortschritten geführt habe. Da der Erschließung neuer Märkte Anfang der 30er Jahre keine außerordentliche Bedeutung mehr zukam, gelangte die Untersuchung, abgesehen von dem Hinweis auf die Stärkung des politischen Selbstbewußtseins durch die Lösung der Reparationsfrage, zu dem Urteil, 163 Vgl. St. Abt., Die Reichsbank als konjunkturpolitischer Faktor, 10. 4. 1931, BAP, 2501/6484. 164 Der erste Vorschlag zielte darauf, den Umlauf von Rentenbankscheinen zur Schaffung der Manipulationsreserve vorübergehend zu erhöhen und nach Tilgung des gegenwärtigen Umlaufs die neu geschaffenen Rentenbankscheine in untilgbare Reichskassenscheine zu verwandeln, die als dauernde Krisenreserve zu gelten hätten. Ihr zweiter Vorschlag lautete, die kleinen Notenabschnitte (10 RM-Noten) durch Scheidemünzen oder andere Geldzeichen, "die keinen Deckungsvorschriften unterliegen", zu ersetzen; vgl. St. Abt., Unbetitelte Ausarbeitung, 21. 4.1931, BAP, 25.01 /6484. 165 Vgl. die oben ernannten Ausarbeitungen der St. Abt. vom 28. 12. 1930 u. 30. 6. 1931. 166 Vgl. St. Abt., Die Motive der Wirtschaftsbelebung bei früheren Krisen und ihre Bedeutung für die Gegenwart, 30. 5. 1931, BAP, 25.01 /6574.

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daß nurmehr technische Innovationen den Aufschwung herbeizuführen in der Lage seien. Da auch dies äußerst unrealistisch war, blieb wiederum nur das Eingeständnis, daß der Aufschwung überhaupt nicht gezielt herbeigeführt werden könne. Bedeutsamer als die verschiedentlich zum Ausdruck gebrachte grundsätzliche Ablehnung einer expansiven Konjunkturpolitik war jedoch, daß die Statistische Abteilung den Ausbau bereits bestehender Kapitalanlagen, beispielsweise der Eisenbahnnetze und der Wasser- und Landstraßen, für konjunkturbelebend hielt. Sie führte Beispiele aus der Frühphase des Deutschen Kaiserreichs von 1871 an, bei denen die Aufträge der öffentlichen Hand zum Konjunkturumschwung beigetragen hatten. Dann führte sie aus: "Für die Gegenwart dürfte aus diesen Überlegungen der Schluß zu ziehen sein, daß, solange die private Unternehmerinitiative ( ... ) ausgeschaltet ist, diese durch die Initiative der öffentlichen Hand, d. h. also, durch die Vergebung öffentlicher Arbeiten in größerem Ausrnasse, wenigstens zum Teil, ersetzt werden könnte".167 Die Abteilung verlieh dieser Überlegung insofern besonderen Nachdruck, als sie im Schlußteil ihrer 21-seitigen Schrift neben der Milderung des Steuerdrucks und der Schaffung des psychologisch besseren Klimas die Einführung staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als eine der drei zentralen Voraussetzungen für die Konjunkturbelebung hervorhob. Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, daß die Reichsbank der staatlichen Arbeitsbeschaffung gegenüber im Vergleich zur monetären Konjunkturpolitik eine durchaus positive Haltung einnahm. Es ist auffallend, daß ein Teil sowohl der Kabinettsmitglieder als auch der Großindustrie und des Verwaltungsstabes der Reichsbank im Mai 1931 die Arbeitsbeschaffung ernsthaft in Betracht zogen und sich teilweise dafür einsetzten. Die Vermutung liegt nahe, daß der zweite Teil des Gutachtens der Brauns-Kommission, der Anfang Mai 1931 veröffentlicht wurde, hierfür einen entscheidenden Denkanstoß gab. Insofern ist das in der Fachliteratur gängige Urteil über die Arbeit der Brauns-Kommission, das mit dem Hinweis auf ihren Vorschlag zur Finanzierung der Arbeitbeschaffung, nämlich durch die Aufnahme von Auslandskrediten, ihre Bedeutung sehr gering einschätzt, revisionsbedürftig. 168 Gleichfalls zu modifizieren ist die sowohl von Borchardt wie auch von Holtfrerich vertretene These, daß erst nach der Bankenkrise vom Juli 1931 wirtschaftspolitische Alternativen zu Brünings Deflationskurs an Bedeutung gewannen. 169 Es ist unbestritten, daß die Befürworter der expansiven Konjunktur167

Ebd.

Vgl. exemplarisch M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik?, Berlin 1977, S. 65. Nach einer späteren Angabe von Eduard Heimann, der anfangs der Brauns-Kommission angehörte, gab die Brauns-Kommission das Konzept der Finanzierung der Arbeitsbeschaffung durch die Kreditschöpfung der Reichsbank auf, weil sich die Kommissionsmitglieder dem Druck des Vizepräsidenten der Reichsbank, Fritz Dreyse, beugten, sich mit der Frage nicht näher auseinanderzusetzen. Vgl. Ausführung Heimanns auf der Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft am 16.9. 1931, BAK, NL Luther, 454. 169 Vgl. K. Borchardt, Wachstum, S. 169 f. c.-L. Holtfrerich, Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik, S. 619. 168

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politik vor der Bankenkrise einer Minderheit angehörten; diese meldeten sich jedoch immer deutlicher zugunsten einer aktiven, expansiven Konjunkturpolitik zu Wort, so daß sich die Reichsregierung einem heftigen internen Konflikt um ihren wirtschaftspolitischen Kurs ausgesetzt sah, während die Industrie wegen der neuen Denkansätze allmählich in eine innere Zerreißprobe geriet. Schließlich erkannte ein internes Papier der Reichsbank die fiskalische Konjunkturpolitik des Staates als geeignetes Mittel zur Überwindung der Depression an. Die Berücksichtigung dieser Gesamtentwicklung im Vorfeld der Bankenkrise erlaubt es erst, die konjunkturpolitische Diskussion während und nach der Bankenkrise angemessen nachzuvollziehen und zu beurteilen.

IV. Die Auseinandersetzungen um eine expansive Konjunkturpolitik im Umfeld der Bankenkrise während des Sommers 1931 1. Die Haltung Luthers während der Bankenkrise Auf der Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 wies Hans Luther mit Nachdruck darauf hin, daß er als Reichsbankpräsident keine "öffentliche" Zusage für die Finanzierung eines Milliardenprojekts zur staatlichen Arbeitsbeschaffung geben dürfe. I Diese Aussage, die eigentlich eine abwehrende Reaktion auf das Arbeitsbeschaffungsprogramm Wilhelm Lautenbachs, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, war, deutete Luther in seinen Memoiren als Hinweis darauf, daß er "stillschweigend, ohne Verkündung großer Programme, unorthodox" die Kreditausweitung habe vornehmen wollen 2 ; Beweis dafür seien die Finanzwechsel, welche die Reichsbank für die Bewältigung der Bankenkrise, die Finanzierung der sog. "Russengeschäfte" und die Hilfeleistung für die Landwirtschaft rediskontierte. 3 Harold James hat in seiner Dissertation diese These übernommen und führte aus, Luther habe im Rahmen eines "Generalprogramms" bewußt eine "geheime Reflation" betrieben,4 die vom Mai 1931 bis zum Jahresende zu einer Zunahme des "high-powered money", also des im Umlauf befindlichen Bargelds und der Reserveeinlagen der Banken bei der Reichsbank, um rund 10% führte. 5 Als Belege für die gezielte Reflationspolitik der Reichsbank führte er ebenso wie Luther die mit der Unterschrift der Akzeptbank versehenen Finanzwechsei, die "Russenwechsel" und landwirtschaftliche Wechsel beim Wechselportfolio der Reichsbank an. Indem James eine von der bislang geläufigen Vorstellung einer starrsinnigen kreditpolitischen Orthodoxie der Reichsbank weit abweichende Interpretation der Reichsbankpolitik in der Weltwirtschaftskrise vorgelegt und Hans Luther als einen monetaristischen Expansionisten charakterisiert hat, gelangte er zu einer im Hinblick auf die Borchardt-Debatte völlig neuen Deutung der 1 Vgl. Niederschrift über die Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft vom 16. und 17.9. 1931, BAK, NL Luther, 337. 2 Vgl. Hans Luther, Vor dem Abgrund 1930-1933. Reichsbankpräsident in Krisenzeiten, Berlin 1964, S. 249. 3 Vgl. ebd., S. 252 f. 4 Vgl. H. James, The Reichsbank and Pub1ic Finance in Germany 1924-1933: A Study of the Politics of Economics during the Great Depression, Frankfurt / M. 1985, S. 304, 327, 328 u. 332; derselbe, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Darmstadt 1988, S. 309. 5 Vgl. H. James, The Reichsbank, S. 293 u. 366 f.; derselbe, Deutschland, S. 285.

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deutschen Wirtschaftspolitik in der Großen Depression, deren Gehalt hier näher untersucht werden soll: Mit welchem Konzept versuchte Luther der Bankenkrise entgegenzutreten, aus welchen Gründen entschloß sich Luther bzw. die Reichsbank zur Hereinnahme der Finanzwechsel, und welche Konsequenzen ergaben sich daraus für die Konjunkturpolitik? Dabei ist nicht nur die kreditpolitische Vorstellung Luthers, sondern auch der konjunkturpolitische Spielraum der Reichsbank von Interesse, der sich in starker Abhängigkeit zu ihrem Bestand an Finanzwechseln befand. Der ausländische Kreditabzug und die deutsche Kapitalflucht begannen bekanntlich mit dem "Tributaufruf' der Reichsregierung anläßlich der NotVO vom 5. Juni 1931. Vom 26. Mai bis 11. Juni 1931 verlor die Reichsbank 700 Mio. RM an Devisen,6 da das Publikum eine Moratoriumserklärung der Reichsregierung als möglichen nächsten Schritt erwartete. Zugleich drohte das Kabinett Brüning zu stürzen, als sich die DVP und die SPD aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der NotVO für die Einberufung des Reichstages entschieden. Da der Sturz Brünings mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Run auf die Banken geführt hätte, stellte Luther seine Ambitionen auf die Kanzlerschaft erneut zurück und unterstützte die Rettung des Kabinetts; er bat die Abgeordneten der DVP zu sich, um auf die Währungsgefahr hinzuweisen und richtete offiziell als Reichsbankpräsident an die DVP den Appell, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Schließlich schaltete er sogar Reusch ein und brachte die DVP zum Einlenken.? Die Rettung des Kabinetts Brüning trug jedoch zur Entschärfung der Krise wenig bei. Da die Kapitalflucht anhielt, lag die Notendeckung durch Gold und Devisen am 19. Juni 1931 nur noch 100 Mio. RM über dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestsatz. 8 Trotz der sich anbahnenden Krise wurde Luther kreditpolitisch nicht aktiv. Er setzte zwar den Diskontsatz am 13. Juni von 5 auf 7% herauf, gab aber dem Drängen von Schäffer, Warburg, Samuel Ritscher (Reichskreditgesellschaft), Rudolf Löb (Bankhaus Mendelssohn) und Oskar Wassermann (Dedi-Bank) nicht nach, im Ausland um einen Rediskontkredit nachzusuchen. 9 Einen Tag nach dem Beschluß des Ältestenrates, den Reichstag nicht einzuberufen, unterbreitete Luther dem Reichskanzler sein Konzept zur Überwindung der Krise: Er wolle die Deckungsgrenze herabsetzen, wenn der Transferaufschub erklärt werde: "alle Gefahr aus dem Transferaufschub würde sehr vermindert sein, wenn große politische Aktion deutsche -preußisches) Konzentrationskabinett" einleiten würde. 10 Luther wollte al6

Vgl. Tagebucheintragung Luthers vom 11. 6.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft,

Nr. 223, S. 654.

7 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 12. 6. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 225, S. 655 f. 8 Vgl. K. E. Born, Die deutsche Bankenkrise 1931, München 1967, S. 76. Vom I. bis zum

17. Juni 1931 gab die Reichsbank für 1,4 Mrd. RM Devisen und Gold ab. Der Bestand der Reichsbank an Gold und Devisen hatte Ende Mai noch 2,58 Mrd. RM betragen. Vgl. ebd., S.74. 9 Vgl. Tagebucheintragungen Schäffers vom 16. u. 18. Juni 1931, ItZ, ED 93 /11.

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IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931

so die drohende Verschärfung der wirtschaftspolitischen Krisensituation zur Realisierung seiner Reichsreformidee nutzen. 11 Brüning konnte den Wunsch des Reichsbankpräsidenten, der zum Überleben des Kabinetts einen großen Beitrag leistete, nicht einfach zurückweisen, obwohl er zu dem Zeitpunkt ein Aufrollen der Reichsreformfrage weder für angebracht noch für möglich hielt. 12 Deshalb arrangierte er eine Teestunde zwischen Luther und dem Vorsitzenden der Zentrumspartei, Ludwig Kaas. 13 Da Luther trotz der Einwände der Zentrums führung nicht einlenkte, suchte Brüning am 19. Juni Otto Braun auf, um diesem die Auffassung Luthers mitzuteilen. 14 Erst als sich mit· der Ablehnung Otto Brauns sein Vorstoß als aussichtslos erwies, bat Luther die ausländischen Zentralbanken um einen Rediskontkredit und leitete zugleich die Kreditrestriktion ein. 15 Dies zeigt, daß Luther bis dahin keine kreditpolitische Konzeption gegen die Kapitalflucht und die bedrohliche Lage der Privatbanken besaß 16, vielmehr erst auf Betreiben des Reichsbank-Direktoriums und der amerikanischen Notenbank tätig wurde. 17 Wenn eine solche Konzeption bei ihm überhaupt existierte, so war sie allenfalls ein Instrument der Reichsreform, von der er sich eine psychologisch beruhigende Wirkung auf die Öffentlichkeit versprach. 18 Als diese Strategie scheiterte, zeigte er sich zu10 Vgl. Tagebucheintragung Luthers vom 17. 6. 1931, I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 239b, S. 691; G. Schulz, Reparationen und Krisenprobleme, S. 209. 11 In diesen Tagen wurde Luther von seinem neokonservativen Umfeld, z. B. Heinrich v. Gleichen, zur Distanzierung von dem Kabinett Brüning und zum Einsatz für die Reichsreform gedrängt. Vgl. Heinrich v. Gleichen an Luther, 15. 6. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 235, S. 679 f. Gleichen schwebte vor, zunächst die "sozialistische Regierung" in Preußen zu stürzen, ein gemeinsames Kabinett Brüning-Bracht im Reich und in Preußen zu bilden und dann Luther als Reichskommissar für die Reichsreform einzusetzen. Der Volksparteiler Carl Christian Schmid, der ebenfalls als Vertrauensmann der Schwerindustrie galt, führte sein Votum für die Einberufung des Reichstages auf die Hoffnung zurück, "ein deutsch-preußisches Konzentrationskabinett" bilden zu können. Vgl. Tagesbericht Luthers vom 12.6. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 225, S. 658. 12 Vgl. Aktenvermerk Weltziens über den Gesetzentwurf des Reichsinnenministers Wirth über die Reichsreform, BAK, R 43 I/ 1882. Abgesehen von seiner persönlichen Auffassung war Brüning sich unsicher, "wie der alte Herr (Hindenburg) sich dazu stellen wird". Vgl.Tagebucheintragung Schäffers vom 21. 6. 1931, IfZ, ED 93 / 11. 13 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 290. 14 Vgl. ebd; Tagebucheintragung Schäffers vom 21. 6.1931, HZ, ED 93/11. 15 Am 19. 6. 1931 bat Luther den englischen Notenbankpräsidenten Norman um den Rediskontkredit. Am nächsten Tag begann die Reichsbank mit der Kreditkrestriktion. Vgl. Born, Die deutsche Bankenkrise, S. 77. 16 Im Juni 1931 verloren die Danat-Bank 40,9% ihrer Einlagen, die Dresdner 10,7%, die Dedi 8,2%, die Compri 8,1% und die Berliner Handelsgesellschaft 8,6%. Vgl. H. James, The Reichsbank, S. 186. 17 "Luther ist offenbar etwas gehandicapt, da das ganze Reichsbankdirektorium für die Restriktion zu sein scheint". Tagebucheintragung Schäffers vom 21.6. 1931, IfZ, ED 93 / 11. Zum Druck des Präsidenten der Notenbank von New York, George Harrison, vgl. H. James, The Reichsbank, S. 188. 18 Bei dem Gespräch mit Brüning vom 17.6. 1931, in dem die Verbindung des Transferaufschubs mit der Reichsreform besprochen wurde, sagte Luther: "Solche große Aktion

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nächst völlig ratlos. Nach einem zweistündigen Gespräch, das Brüning mit ihm Ende Juni 1931führte und in dem der Reichskanzler den Reichsbankpräsidenten definitiv fragte, welche Maßnahmen er im Falle eines Runs ergreifen werde, lautete die Antwort: "Keine !,,19 Erst Anfang Juli 1931, nachdem der Kreditabzug seit dem 27. Juni auf Grund der zögernden Haltung Frankreichs gegenüber dem Hoover-Moratorium erneut in Gang gesetzt20 und die Lage der Danat-Bank infolge ihres Engagements in dem Konzern "Nordwolle" kritisch wurde, legte Luther ein Konzept gegen den Kreditabzug und den Run vor. Allgemein wurden bereits manche Konzeptionen zur Verhinderung bzw. Eindämmung eines Runs diskutiert, wobei sich herauskristallisierte, daß die Stützung des vom Abzug der Kreditoren geplagten deutschen Bankensystems auf jeden Fall über die Diskontierung der Finanzwechsel durch die Reichsbank erfolgen mußte, falls diese nicht imstande wäre, im Ausland eine große Anleihe zu zeichnen. Es ging faktisch nur noch darum, in welcher Form sich diese Maßnahme vollziehen sollte. Einige Bankiers dachten an die Gründung einer Akzeptbank, die die Finanzwechsel der Banken in nur formal rediskontfähige Wechsel umwandeln sollte. Am 2. Juli besprachen earl Josef Melchior und Hans Schäffer die Gründung der Akzeptbank,21 tags darauf suchten Melchior und Walther Frisch (Dresdner Bank) mit der gleichen Konzeption unabhängig voneinander Luther auf. 22 In einer Besprechung bei Franz v. Mendelssohn am 5. Juli, an der Luther, Dreyse, Jakob Goldschmidt, Franz Urbig, Vögler, Silverberg und Flick teilnahmen, wurde derselbe Vorschlag unterbreitet. 23 Die Konzeption war jedoch selbst unter den Bankiers umstritten; insbesondere lehnte sie die Dedi-Bank definitiv ab. 24 So kam das Konzept auch in der Besprechung vom 5. Juli nicht zum Tragen, weil die Banken die Offenlegung ihrer schlechten Bilanzen, also einen "Kassensturz", scheuten, der für die Umsetzung erforderlich war. 25 Luther verhielt sich der Gründung einer Akzeptbank gegenüber ebenfalls skeptisch, obwohl man davon ausgehen muß, daß er wie viele andere die Unausweichlichkeit der Diskontierung der Finanzwechsel durch die Reichsbank erkannte. Den diesbezüglichen Vorschlag von Walther Frisch bezeichnete er als einen Gedanken, würde dem Volk auch Phantasie zeigen". Tagebucheintragung Luthers vorn 17.6.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 239b, S. 691. 19 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 299. Nach seiner Angabe fand das Gespräch am 28.6.1931 statt. 20 Im Jahre 1931 wurden ausländische Kredite in Höhe von 4,0 bis 4,5 Mrd. RM von Deutschland abgezogen oder zurückgezahlt. Vgl. G. Hardach, Weltmarktorientirung, S. 140. 21 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vorn 2. 7. 1931, HZ, ED 93 / 11. 22 Vgl. Tagesbericht Luthers vorn 3. 7. 1931, BAK, NL Luther, 365. 23 Vgl. M. Poh1, Die Liquiditätsbanken von 1931, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 27 (1974), S. 929. 24 Vgl. Tagesbericht Luthers über ein Gespräch mit Eduard Mosler (Dedi-Bank) vorn 4.7.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 252, S. 732. 25 Vgl. M. Pohl, Die Liquiditätsbanken, S. 929.

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der "in dieser Form sicher keinen Inhalt" habe?6 Offensichtlich wollte er nur diejenigen Finanzwechsel hereinnehmen, die eine über das Giro der Banken hinausgehende Deckung aufwiesen. Luther griff deshalb einen Vorschlag aus dem Direktorium der Reichsbank auf, eine zentrale Stelle zu schaffen, die gegenüber dem Ausland "die Kredite der Banken zusammenfassen" sollte. 27 Daraus entstand am nächsten Tag der Plan zur Bildung eines Garantieverbandes, der der Industrie und den Banken eine Ausfallbürgschaft für die Auslandskredite auferlegte. Allerdings ergänzte Luther dieses nach außen gerichtete Konzept dahingehend, daß die Bürgschaft auch nach innen wirken konnte. Die Klausel 5 des Entwurfs dieser Garantieaktion, den Luther am 6. Juli abfaßte, lautete nämlich: "Solange der Garantieverband besteht, ist es sowohl denkbar, daß er seinerseits Wechsel diskontiert, die dann bei der Reichsbank rediskontiert werden, wie es auch umgekehrt denkbar ist, daß die Reichsbank Wechsel, die sie in ihrem Portefeuille hat, beim Garantieverband rediskontiert".28 Daß Luther mit der Gründung des Garantieverbandes den Banken einen Reichsbankkredit zu gewähren beabsichtigte, ging auch aus seinem Brief an Reusch vom 24. Juli 1931 hervor, mit dem der Reichsbankpräsident sein Handeln während der Bankenkrise verteidigte: "Ich legte immer größeres Gewicht auf die durch die Garantieübernahme der Wirtschaft aus eigener Kraft geschaffene neue Grundlage, mir dabei offenhaltend, wie die Ausnutzung sich später ergeben würde", ohne damit jedoch auf Gegenliebe bei der Industrie und den Banken gestoßen zu sein?9 In einer am gleichen Tag erfolgten Besprechung drängte Luther die zögernden Bankiers zur Gründung der Akzeptbank und erinnerte sie daran, "daß der Vorschlag der Reichsbank, an dessen Stelle nachher die Garantieerklärung für die Golddiskontbank getreten war, eine allgemeine Haftungserklärung der Banken und Wirtschaft in Gestalt einer Ausfallbürgschaft für die Banken vorgesehen" habe, die "man damals ja im Prinzip abgelehnt" habe. 3D Der Unterschied des Konzeptes über den Garantieverband von dem der Akzeptbank lag darin, daß die Reichsbank, wenn es nötig sein sollte, auf die Bürgschaft der Privatwirtschaft zurückgreifen, die Diskontierung der Finanzwechsel dadurch ausgleichen konnte und damit ihren finanziellen Status nicht übermäßig verschlechtern mußte. Der Versuch Luthers, für den Reichsbankkredit eine Deckung zu schaffen, erschreckte jedoch Industrie und Banken, so daß sie sich dagegen aussprachen. Die Taktik Luthers, mit einer nach außen gerichteten Ausfallbürgschaft den Banken indirekt Rediskontkredite zu gewähren, trug selbst zum Scheitern des Konzeptes bei. Denn es war so verhüllt übermittelt, daß die private Wirtschaft es nicht 26 Tagesbericht Luthers über ein Gespräch mit Walther Frisch vom 3. 7. 1931, BAK, NL Luther,365. 27 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 3. 7. 1931, BAK, NL Luther, 365. 28 Plan Luthers für eine Kreditaktion der deutschen Privatwirtschaft, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 253, S. 733. 29 Vgl. Luther an Reusch, 24. 7. 1931, in. I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 270, S.787. 30 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 24. 7. 1931, BAK, NL Luther, 365.

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ernsthaft in Betracht zog, da die Frage der Rediskontkredite der Reichsbank in der Diskussion der westdeutschen Schwerindustrie über den Garantieverband überhaupt keine Rolle spielte. 31 Vernebelt durch die Unklarheit des Konzeptes und durchlöchert von den Einwänden der Wirtschaft, zeigte der durch eine Notverordnung gebildete Garantieverband schließlich keine Wirkung. In der späteren Diskussion über die Stützung der Banken griff niemand auf den Garantieverband der Wirtschaft zurück?2 Die ausländischen Kreditoren waren ebenfalls vom Garantieverband nicht überzeugt; vielmehr spitzte sich der Kreditabzug wegen der anschließenden spektakulären Kreditreise Luthers nach London, Paris und Basel dramatisch ZU. 33 Als seine Aktion zur Krisenbekämpfung erneut gescheitert war, zog sich Luther ratlos auf die kreditpolitische Orthodoxie des Reichsbankdirektoriums und der ausländischen Notenbanken zurück. In einer Besprechung vom 11. Juli, an der fast alle maßgebenden Bankiers teilnahmen, wiederholte Luther nur den Glaubenssatz, daß die Reichsbank ihren finanziellen Status für die Stützung der Banken nicht gefährden dürfe und deshalb die Kreditrestriktion verschärfen müsse, während die Reichsregierung und die Bankiers über die Stützungsmaßnahmen für die Danat-Bank diskutierten. 34 Als mehrere Teilnehmer, namentlich Dietrich, Hilferding und Curt Joseph Sobernheim (Compri-Bank), den Reichsbankpräsidenten aufforderten, mit der Auszahlung aller Forderungen dem Run entgegenzuwirken, blieb Luther stur und fragte, ob die Reichsbank dadurch nicht "einfrieren" würde. 35 Angesichts der intransigenten Haltung der Reichsbank, den Banken keine Hilfe anbieten zu wollen, unterbreiteten die Bankiers geschlossen den Vorschlag, wieder die Rentenmark als Ersatzgeld auszugeben. 36 Diese Idee erfreute sich auch bei der Industrie großer Beliebtheit; sowohl der RDI als auch der DIHT sprachen sich dafür aus. 37 Die Hauptursache dieser Übereinstimmung formulierte der BDI so: "Maßgebend für die Einstellung des Präsidiums war auch der Umstand, daß dieser Weg dem anderen Weg, nämlich dem der Vermehrung der Umlaufsmittel durch vorübergehende Senkung des Deckungsverhältnisses für Reichsmark, der mit einer 31 Vgl. Notiz Springorums über die Diskussion zur Gründung des Garantieverbandes vom 9.7. 1931, Hoesch Archiv B 1 a 51. 32 Nach dem Stillhalteabkommen übernahm die Golddiskontbank, gestützt von der Ausfallbürgschaft des Garantieverbandes, die Garantie für einen Teil der prolongierten kurzfristigen Auslandskredite. Vgl. K. E. Born, Die deutsche Bankenkrise, S. 141. 33 Vgl. Born, Die deutsche Bankenkrise, S. 92. 34 Vgl. Chefbesprechung vom 11. 7.1931, AdR, Brüning, Nr. 376, S. 1324 f. 35 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 11. 7. 1931, HZ, ED 93 / 11. Viele Bankiers sprachen sich auch für das Moratorium aus. 36 Vgl. Chefbesprechung vom 11. 7. 1931, AdR, Brüning, Nr. 376, S. 1324 f. Bis auf Solmssen sprachen sich alle fünfzehn an der Besprechung vom 11. Juli beteiligten Bankiers, darunter Wassermann, MeIchior, Friedrich Reinhart (Compri-Bank), Sobernheim, Frisch, Ernst Kleiner (Girozentrale) und Eduard Mosler (Dedi-Bank), dafür aus. 37 Am 13. Juli befürwortete eine Abordnung des RDI bei Brüning die Wiederausgabe der Rentenmark. Vgl. Brüning, Memoiren, S. 322 f.; Rundschreiben des RDI vom 16.7. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 262, S. 759 f.; Rundschreiben des DIHT vom 15.7.1931, Haniel Archiv, 40010123/33a.

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außerordentlichen Erhöhung des Reichsbankdiskonts und des Lombardzinsfußes verbunden sein und der notwendigerweise für die Wirtschaft sehr starke Erschütterungen bringen muß, vorzuziehen war".38 Sie erwarteten also von der Wiederausgabe der Rentenmark die Beibehaltung eines niedrigen Diskontsatzes. Auf der Regierungsseite setzte sich Trendelenburg am energischsten für die Wiederausgabe der Rentenmark ein. Vor dem Hintergrund seiner kreditpolitischen Haltung verwundert es kaum, daß Luther schnell bereit war, sich der Forderung der Bankiers nach Wiederausgabe der Rentenmark anzuschließen. Offensichtlich erhoffte er sich davon einen positive psychologischeWirkung auf die weitverbreitete Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung und zugleich die Chance, die lästige Kreditrestriktion zu umgehen. Luther setzte sich damit über die mit der Wiederausgabe der Rentenmark, also die Einführung einer Doppelwährung, verbundenen möglichen Folgen einer Destabilisierung der Währung leichtfertig hinweg: "Wenn Zahlungsmittel gebraucht würden, die die Reichsbank nicht liefern könne, so sei eine zusätzliche Währung besser als eine Gefährdung der Reichsmark. Unter keinen Umständen dürfe an Grundlagen der Reichsmark geTÜttelt werden,,?9 Die Konsequenzen einer Doppelwährung für das gesamte Währungssystem deckten sich mit den Einwänden der hohen Beamten der Reichsregierung und der Reichsbank gegen die Wiederausgabe der Rentenmark. Trenne man kursmäßig die Reichsmark und die Rentenmark, müsse es in einigen Tagen zum Kursverlust der Rentenmark um 30-50% kommen. Diejenigen, die die Rentenmark behielten, müßten dann einen entsprechenden Einkommensverlust hinnehmen, was dazu führe, daß niemand diese Rentenmark beibehalten wolle. Setze man die beiden Währungen aber gleich, dann müsse es, so das Argument Schäffers, zur DTÜckung des Kurses der Reichsmark kommen. Ein solcher Zustand dürfe unter keinen Umständen länger als 14 Tage bestehen, weil dann ein Zusammenbrechen der Währung zu befürchten sei. 40 In der Tat waren es die hohen Beamten, namentlich Hans Schäffer, Fritz Dreyse, Vizepräsident der Reichsbank, Hermann Pünder und Friedrich Ernst, Reichsbankenkommissar seit September 1931, die sich energisch gegen die Wiederausgabe der Rentenmark sträubten. BTÜning und Dietrich nahmen zwar anfangs ebenfalls eine ablehnende Haltung ein, ließen sich aber am 12. bzw. 14. Juli umstimmen. Die Einwände Schäffers, aber auch des amerikanischen Botschafters Frederic M. Sackett veranlaßten schließlich Luther, auf die Wiederausgabe der RenRundschreiben des RDI vom 16.7. 1931, ebd., S. 762. Vgl. Chefbesprechung vom 1l. 7. 1931, AdR, Brüning, Nr. 376, S. 1332. Luther verzerrte in seinen Memoiren diesen Sachverhalt: Er verheimlichte seine Befürwortung der Wiederausgabe der Rentenmark und schilderte nur seine späteren Argumente gegen die Rentenmark. Vgl. Luther, Vor dem Abgrund, S. 198. H. James folgte den Ausführungen Luthers. Vgl. H. James, Deutschland, S. 304. 40 V gl. Schäffer, Möglichkeit und Grenzen eines Behe1fszahlungsmittels, 14. 7. 1931, IfZ, ED 93 I 31; H. Pünder, Gestaltung der außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Lage seit Sonntag, den 5. Juli 1931, in: H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei. Aufzeichnungen aus den Jahren 1929-1932, herausgegeben von T. Vogelsang, Stuttgart 1961, S. 163 f. 38

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tenmark zu verzichten. 41 Am 14. Juli führte Luther aus, daß die Rentenmark "mit einem zwangsläufigen Wert" ausgestattet werden müsse, sonst würde solches Geld "nach 14 Tage zusammenbrechen".42 Dies war' eben das Argument, das Schäffer bis dahin unentwegt vertreten hatte. Luther berücksichtigte also erst spät die möglichen Konsequenzen der Wiederausgabe der Rentenmark. Darüber hinaus wurde sich der Reichsbankpräsident nunmehr bewußt, daß die Reichsbank, wenn das Ersatzgeld einmal in den Umlauf gebracht worden sei, die währungs- und kreditpolitische Kontrolle verlieren würde. Dazu trat die Befürchtung, daß bei einer lockeren Geldpolitik der finanzielle Druck auf die Länder wegfallen würde. 43 Angesichts der Lutherschen Wende ließ die Reichsregierung daher den bereits ausgearbeiteten Entwurf einer Notverordnung für die Wiederausgabe der Rentenmark fallen und entschied sich schließlich für eine Garantieerklärung zugunsten der Danat-Bank. Die erhoffte Wirkung blieb jedoch aus. Am 13. Juli 1931 setzte der Run ein. Nun blieb Luther und den Banken nichts anderes übrig, als auf den Vorschlag, die Akzeptbank zu gründen, zurückzugreifen. So wurde am 28. Juli die Akzept- und Garantiebank AG gegründet, die die eigenen Akzepte und Debitorenkredite der Banken mit ihrer Unterschrift versah und dadurch die Finanzwechsel rediskontfähig machte. Die über die Akzeptbank an die Reichsbank gelangten Finanzwechsel hatten folgende Volumina: 44 31. 08.1931: 31. 10. 1931: 31. 12. 1931: 28. 02. 1932: 30. 04. 1932: 31. 12. 1932: 30.04. 1933:

631 (Mio. RM) 1319 1577 1260 1112 1152 831

Die schwankende Wechselhöhe verdeutlicht, daß die Reichsbank 1932 keine besonderen Kreditaktionen über die Akzeptbank ergriff, sondern die Kredite, die sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 den Banken und Sparkassen bereitgestellt hatte, allmählich zurückzog. Dies hing aufs engste mit der geldpolitischen Haltung Luthers zusammen, sich ohne eine übermäßige Beeinträchtigung des finanziellen Status der Reichsbank über den Run hinwegretten zu wollen. Bis kurz vor dem Run nahm Luther weder den Vorschlag der Banken, wonach die Reichsbank die 41 Vgl. Schäffer, Die Geheimgeschichte der Bankenkrise, in: 1. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 279c, S. 831. 42 Vgl. Chefbesprechung vom 14.7.1931, AdR, Brüning, Nr. 385, S. 1357. 43 Luther führte in einer Sitzung des Reichsbankdirektoriums vom 18. 7. 1931 aus: "Alle Sanierungswünsche den Ländern gegenüber, besonders wegen der übersteigerten Kulturaufgaben, würden wirkungslos werden", wenn das Ersatzgeld in Umlauf gebracht würde. Tagesbericht Luthers vom 18.7. 1931, in: 1. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 266, S. 777. 44 Statistische Abteilung der Reichsbank, Gestaltung des Portfeuilles der Reichsbank seit Beginn der Krise, 7.6. 1933, Anlage: Die Herkunft der ausgewiesenen Inlandswechsel der Reichsbank, BAP, 25.01 /602.70% dieser Finanzwechsel stammte aus den Sparkassen. Vgl. Born, Die deutsche Bankenkrise, S. 118.

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von den Berliner Großbanken der Danat-Bank zur Verfügung gestellten Finanzwechsel in Höhe von 250 Mio. RM rediskontieren sollte,45 noch den Vorschlag, alle Forderungen auszuzahlen, an. Als der Krisenverlauf die Unterstützung des Bankensystems durch die Reichsbank unausweichlich machte, gewährte er zwar den Banken Rediskontkredite der Reichsbank, ließ sein Handeln aber nicht von der Absicht leiten, der Schrumpfung der Geldmenge entgegenzuwirken, sondern davon, die Vermehrung der Reichsbanknoten möglichst klein zu halten. Am 28. Juli 1931, als die Akzeptbank gegründet wurde, bestand Luther sogar darauf, daß die Länder und Gemeinden innerhalb von vier Tagen ihre Haushalte ausgleichen, um inflationäre Tendenzen infolge der von der Reichsbank zur Stützung der Sparkassen zur Verfügung gestellten Wechselkredite auszuschließen. 46 Nach der Normalisierung des Zahlungsverkehrs stellte Luther zudem klar, daß er die Banken während der Bankenkrise nur widerwillig gestützt habe. Gegenüber Curtius führte er am 25. August 1931 aus: "Man müsse weiter den Weg der Deflation beschreiten. Die wirklichen Verhältnisse würden auf diesem Konkurswege klar zum Ausdruck kommen. Das habe er auch immer für richtig gehalten. Deswegen hätte er, wenn es nach ihm gegangen wäre, die beiden Großbanken nicht gestützt. Vielleicht werde man auch im November bei einer neuen wirtschaftlichen Katastrophe, und zwar auch wiederum von der Finanzseite, angelangt sein. Man muß dann die Löhne noch senken, die Beamtengehälter abbauen und alles, was nicht wirtschaftlich feststehe, verfallen lassen".47 Der Wechselbestand der Reichsbank an mit dem Giro der Akzeptbank versehenen Finanzwechseln ist folglich nicht als ein Beweis für eine gezielte Reflationsstrategie Luthers anzusehen. Vielmehr war Luther bzw. die Reichsbank durch den Verlauf der Krise schließlich zur Erhöhung der Geldmenge gezwungen worden, die sie so lange als möglich nicht nur aus kreditpolitischen, sondern auch aus reformpolitischen Grundsätzen zu verhindern gesucht hatten.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank Dem "Russengeschäft", den mit einer Ausfallbürgschaft der Reichsregierung abgesicherten Lieferungen in die Sowjetunion, kommt sowohl handelspolitisch wie auch kreditpolitisch eine große Bedeutung innerhalb der Wirtschaftskrise zu. Der Anteil des Exports in die Sowjetunion am gesamten Exportvolumen Deutschlands erhöhte sich von 2,6% im Jahre 1929 auf 10.9% im Jahre 1932, während das ge45 Vgl. Denkschrift der Danat-Bank über die Juli-Ereignisse im Bankgewerbe, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 279 d, S. 851; Luther, Vor dem Abgrund, S. 189. 46 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Sitzung des Wirtschaftsausschusses der Reichsregierung vom 28. 7. 1931 und über ein Gespräch mit Luther vom 31. 7. 1931, HZ, ED 93/12. 47 Curtius gab in einer Unterredung mit Schäffer vom 26. 8. 1931 Äußerungen Luthers vom Vortage wieder. Tagebucheintragung Schäffers, HZ, ED 93/13.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

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samte Exportvolumen Deutschlands in diesem Zeitraum um ca. 57% zurückging. Desgleichen stieg im Investitionsgüterbereich der Anteil des Exports in die Sowjetunion an der gesamten Ausfuhr im gleichen Zeitraum von 4,6% auf 25,7%.48 Damit wurde die Sowjetunion neben den Niederlanden der wichtigste Handelspartner Deutschlands während der Krise. Die russischen Wechsel, die die deutschen Lieferanten im Handel mit der Sowjetunion erhielten, wiesen im Wechsel bestand der Reichsbank hinter den Wechseln der Akzeptbank den zweitgrößten Posten illiquider Wechsel auf. Des weiteren stellte die Finanzierung des "Russengeschäftes" die wichtigste Maßnahme dar, die die Reichsbank zur Erhöhung des Auftragsvolumens der Wirtschaft ergriff. Trotz des in letzter Zeit verstärkten wissenschaftlichen Interesses an diesem "Exportventil" während der Großen Depression49 blieb die Mitwirkung der Reichsbank an dieser außergewöhnlichen Exportförderung bislang weitgehend unklar. Das "Russengeschäft" erfolgte in drei Stufen: zuerst die sowjetische Bestellung, dann die staatliche Garantieerteilung und schließlich die Diskontierung der Wechsel. Diese Stufen waren zwar eng miteinander verbunden, sie stellten aber bei näherer Betrachtung voneinander getrennte Vorgänge dar. Der komplizierte Vorgang des "Russengeschäftes" hatte seine Ursache in der ungewöhnlich langen Einlösungsfrist der russischen Wechsel, die sich auf ein bis vier Jahre belief. Da diese Wechsel schwer auf den Kapitalmärkten unterzubringen waren, wünschten sich die deutschen Lieferanten die Absicherung der Geschäfte durch eine Ausfallbürgschaft des Staates. 50 Den ersten Anstoß für die umfangreichen "Russengeschäfte" gab die Entscheidung der Reichsregierung für die Zusicherung staatlicher Garantien im Jahre 1926, die für 60% des gesamten Auftragsvolumens von 300 Mio. RM gewährt wurden. 51 Im Gefolge dieser ersten Garantieaktion entwickelten sich die "Russengeschäfte" wie folgt: 52

48 Vgl. J. Schiemann, Die deutsche Währung in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933, Stuttgart 1980, S. 308; F. Blaich, Der Schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, München 1985, S. 89. 49 Vgl. M. Pohl, Geschäft und Politik. Deutsch-russisch / sowjetische Wirtschaftsbeziehungen 1850-1988, Mainz 1988; H.-J. Perry, Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Ost-West-Handels, München 1985; H.-W. Niemann, Die Russengeschäfte in der Ära Brüning, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 72. Bd. (1985), S. 153 ff. 50 Vgl. E. M. Shenkmann, Die Finanzierung des russischen Außenhandels, in: WeItwirtschaftliches Archiv, 33. Bd. 1931(1), S. 109 f. 51 Vgl. M. Pohl, Geschäft und Politik, S. 80 f. Die Garantien wurden auf das Reich und die Länder mit jeweils 35% und 25% verteilt. 52 Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium vom 20.6. 1931, BAP, 31.01 / 19635.

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IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931 Entwicklung der "Russengeschäfte" (Mio. RM)

Garantien

Kaufpreis

Reich

Länder

zusammen

Ende 1927:

127

91

218

370

Ende 1929:

74

53

127

215

Ende 1930:

172

108

280

450 53

Mit der staatlichen Ausfallbürgschaft löste sich jedoch das Finanzierungsproblem nicht. Kapitalstarke Lieferfirmen konnten zwar die russischen Wechsel bei ihren Hausbanken diskontieren oder auf den internationalen Kapitalmärkten unterbringen, aber kleine Firmen mußten sie manchmal unter Inkaufnahme eines nicht unerheblichen Disagios verkaufen. Deshalb benötigten sie ein Bankenkonsortium, das die russischen Wechsel hereinnahm. Im Jahre 1926 wurde das sog. Kreditkonsortium Rußland 1 gegründet, das eine Kreditsumme in Höhe von 180 Mio. RM zur Verfügung stellte, wovon allerdings weniger als 100 Mio. RM in Anspruch genommen wurden. 54 Die Konsortialbanken konnten ihrerseits die Wechsel bis zur Hälfte bei der Preußischen Seehandlung rediskontieren. 1930 wurden drei weitere Konsortien gebildet, deren Kreditvolumen sich allerdings nur auf insgesamt 45 Mio. RM belief. Seit Ende 1930 diskontierte auch die Golddiskontbank die russischen Wechsel, nachdem sie mit der NotVO vom 1. Dezember 1930 in eine Exportkreditbank umgewandelt worden war, so daß sie nun nicht nur wie bisher kurzfristige Kredite, also die Diskontierung der Dreimonatswechsel, sondern auch mittelfristige Kredite gewähren konnte. Die Golddiskontbank diskontierte die russischen Wechsel in Höhe von 100 Mio. RM, die das Ende Februar 1931 gebildete Kreditkonsortium 5 eingereicht hatte. Hinzu kam die Diskontierung von russischen Wechseln in Höhe von weiteren 100 Mio. RM, die nicht über das Konsortium 5 liefen, so daß sich das Volumen des Rediskontkredits der Golddiskontbank bis Mitte 1931 auf 200 Mio. RM belief. 55 Die Golddiskontbank und die Preußische Seehandlung konnten ihrerseits die russischen Wechsel bei der Reichsbank rediskontieren, allerdings nur in einem für die Reichsbank akzeptablen Rahmen. Der Bestand an russischen Wechseln bei der Reichsbank entwickelte sich wie folgt: 56 53 Zu den mit staatlichen Garantien ausgestatteten Aufträgen kamen offensichtlich weitere Geschäfte in Höhe von über 100 Mio. RM hinzu. Denn die Statistische Abteilung der Reichsbank bezifferte das Geschäftsvolumen für 1930 auf 557 Mio. RM. Vgl. St. Abt., Welche Kredite sind an Rußland und an Länder mit schwacher Valuta gegeben worden? 27. 9. 1932, BAP, 25.01 /6501. 54 Vgl. M. Pohl, Geschäft und Politik, S. 89. 55 Vgl. Tätigkeitsbericht des Rußlandauschusses der Deutschen Industrie für 1931 vom 1. 1. 1932, BAK, NL Silverberg, 334; Referat Kraemers in der Vorstands sitzung des RDI vom 23. 4. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank 7.08. 1929: 7.08. 1930: 7.03. 1931: 7.06.1931: 7.08.1931: 7.12.1931:

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4,919 (Mio. RM) 16,530 97,879 138,391 204,673 242,375 57

Es ist leicht zu erkennen, daß die Finanzierung und damit die Abwicklung der "Russengeschäfte" in einem erheblichen Maße von der Bereitschaft der Reichsbank abhing, die russischen Wechsel hereinzunehmen. Der zweite Schub für den deutschen Export in die Sowjetunion setzte bekanntlich im Zuge des sog. Pjatakoff-Abkommens im April 1931 ein. 58 Die westdeutsche Schwerindustrie, die bereits im Mai 1930 im zusätzlichen Export in die Sowjetunion ein Exportventil sah,59 intensivierte im Januar 1931 ihre diesbezüglichen Kontakte mit der Reichsregierung. Es folgte die Reise einer deutschen Industriedelegation nach Moskau vom 28. Februar bis 9. März 1931 und im Anschluß daran wurden rege Verhandlungen mit der Reichsregierung über eine neue Garantieaktion geführt. Obwohl das Reichskabinett die außenpolitischen Vor- und Nachteile der Lieferungen in die Sowjetunion sorgfältig abwog und intern keineswegs Einstimmigkeit herrschte,60 hatte die Reichsregierung faktisch keine andere Wahl, als sich mit dem Abschluß des Pjatakoff-Abkommens einverstanden zu erklären, da sie von der Industrie praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. 61 Luther brachte der staatlichen Garantieaktion für die Lieferungen in die Sowjetunion große Skepsis entgegen. Aber seine Stellungnahmen waren äußerst inkonsequent: Einmal fand er das Geschäft außenpolitisch schädlich, reparationspolitisch aber vorteilhaft, ein anderes Mal hielt er es für reparationspolitisch bedenklich. Er beurteilte die russische Haltung günstig, konstatierte aber gleichzeitig, daß die Zahlungsfähigkeit der russischen Regierung nicht einwandfrei festgestellt werden könne. Seine Bedenken gegen das Geschäft gründeten auf der nicht unverständlichen Befürchtung, daß die garantierten russischen Wechsel schließlich in dem 56 St. Abt., Welche Kredite sind an Rußland und an Länder mit schwacher Valuta gegeben worden? BAP, 25.01 /6501. 57 Hierbei sind die Ifago-Wechsel, also die Wechsel, die die Reichsbank von den Konsortialbanken direkt hereinahm, nicht eingeschlossen. 58 Vgl. H.-I. Perry, Der Rußlandausschuß, S. 144 f. 59 Vgl. Klöckner an K. Lange, 14.5.1930, Hoesch Archiv, F 1 K 1. 60 Trendelenburg war der energischste Verfechter des Geschäftes, während sich Dietrich, Curtius und Stegerwald sehr skeptisch äußerten. Zu den Einstellungen der einzelnen Kabinettsmitglieder vgl. H.-W. Niemann, Die Russengeschäfte in der Ära Brüning, S. 153 f. 61 Diesen Sachverhalt brachte Curtius pointiert zum Ausdruck, als er sagte, "er habe sich von vornherein an den Russenverhandlungen der Industrie desinteressiert. Ihr Scheitern hätte die politische Lage nicht verschlechtert. Wenn die deutsche Regierung jetzt Garantien ablehne, so würde allerdings die Wirkung tiefergehend sein". Ministerbesprechung vom 20.3.1931, AdR, Brüning, Nr. 268, S. 973.

94

IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931

Portfolio der Reichsbank landen könnten. Aus diesem Grunde forderte er die Reduktion des garantierten Anteils des Auftragsvolumens. 62 Luther machte deshalb in der ersten Besprechung der Reichsregierung mit den Industriellen nach ihrer Moskaureise unmißverständlich klar, daß die Reichsbank nur die DreimonatswechseI diskontieren dürfe und deshalb die Diskontierung der Russenwechsel bei der Reichsbank nicht in Frage komme, desgleichen, daß die Golddiskontbank ebenfalls nicht eingeschaltet werden könne, da sie bereits allzu stark mit den russischen Wechseln belastet sei. 63 Mit dieser Aussage begann das langwierige Tauziehen zwischen Reichsbank und Industrie über die Finanzierung des zusätzlichen Exports in die Sowjetunion. Anfangs gaben sich die Industriellen optimistisch und bemühten sich durch entgegenkommendes Verhalten um eine Verständigung: "Das Risiko der Finanzierung würden die Industriellen selbst tragen, wenn der Reichsbankpräsident und die Banken die Sache im Rahmen der deutschen Wirtschaft nicht für möglich halten. Jeder einzelne muß sich überlegen, ob er stark genug ist und bei den ihm befreundeten Banken diskontieren kann".64 In einer Besprechung mit der Reichsbank vom 2l. März 1931 65 beteuerten die Industriellen, daß die Finanzierung bei den Großfirmen gesichert sei und daß die Golddiskontbank nur für die Finanzierung der Geschäfte der kleinen und mittleren Unternehmen mit einem Gesamtvolumen von maximal 100 Mio. RM eingeschaltet werden müßte. In Wirklichkeit stellte sich die Lage völlig anders dar, weil jene Großfirmen, die sich einer eigenen Finanzierung rühmten, ihre russischen Wechsel selbst in großem Maße bei der Golddiskontbank einreichten. 66 Da Luther auf den Kompromißvorschlag nicht einging, blieb die Finanzierung zunächst ungelöst, obwohl die Reichsregierung Ende März 1931 beschloß, staatliche Garantien für ca. 70% des Auftragsvolumens mit einem Gesamtumfang von 300 Mio. RM zu gewähren. 67 Mittlerweile hatte die sowjetische Nachfrage ständig zugenommen, und die Industrie verfiel langsam in Ratlosigkeit, weil die Privatbanken im Juni 1931 unter dem Eindruck der schleichenden Liquiditätskrise erklärten, auf die Bildung eines Kreditkonsortiums nur dann eingehen zu können, wenn die Golddiskontbank ihnen den für die Diskontierung der russischen Wechsel erforderlichen Rediskontkredit zur Verfügung stellen würde. 68 Auf eine 62 Vgl. Ministerbesprechungen vom 16. u. 20. 3. 1931, AdR, Brüning, Nr. 262, 268 u. 269, S. 950, 973 u. 975; Besprechung der Wirtschaftsressorts mit Industriellen in der Reichsbank vom 21. 3. 1931, BAP, 31.01 / 19634. 63 Vgl. Besprechung mit Industrie über Russengeschäft vom 11. 3. 1931, AdR, Brüning, Nr. 259, S. 937. 64 Tagebucheintragung Schäffers vom 11. 3.1931, HZ, ED 93 /10. 65 Diese Besprechung war zustandegekommen, weil Brüning vor der Entscheidung über die neue Garantieaktion Klarheit über deren Finanzierung wünschte. An der Besprechung nahmen Köttgen (Siemens), Sempell (Vst. AG), Kraemer und O. Wolff teil. Vgl. Ministerbesprechung vom 20.3. 1931, AdR, Brüning, Nr. 269, S. 977; Besprechung in der Reichsbank vom 21. 3.1931, BAP, 25.01/19634. 66 Vgl. Kraemer in der Vorstands sitzung des RDI vom 23.4. 1931, Bayer Archiv, 62/10.4. 67 Vgl. Ministerbesprechung vom 24. 3. 1931, AdR, Brüning, Nr. 270, S. 980 f.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

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Initiative des Reichswirtschaftsministeriums kamen zwar die Vertreter des "Rußlandausschusses der Deutschen Wirtschaft" und der Privatbanken Mitte Juni 1931 mit der Golddiskontbank zweimal hintereinander zusammen, aber die ablehnende Haltung der Golddiskontbank erwies sich als unumstößlich. 69 Auch Luther beharrte auf dem Standpunkt, daß sich die Lieferfirmen die Finanzierungsmittel privat beschaffen müßten. 70 Die Reichsbank stellte bekanntlich erst Anfang September 1931 den Rediskontkredit von 150 Mio. RM für die russischen Wechsel zur Verfügung, womit die über den Export nach Rußland laufende Kreditausweitung der Reichsbank begann. Luthers Kehrtwendung zeichnete sich aber bereits nach einer Besprechung mit Vogler, Silverberg, Krupp, Bücher und Kraemer am 23. Juli 1931 ab. 71 Die Ursachen dafür lagen zunächst in den aus den Rußland-Geschäften resultierenden Sachzwängen: Die deutschen Aufträge aus der Sowjetunion beliefen sich bis Ende September 1931 auf 817 Mio. RM 72, sollten sich bis Ende 1931 auf 919 Mio. RM erhöhen und im ersten Halbjahr 1932 immerhin weitere 233 Mio. RM betragen. 73 Die Lieferfirmen verkauften ohne die Kredite eines Bankenkonsortiums die staatlich garantierten russischen Wechsel mit einem Disagio von 16-18%, in vielen Fällen sogar von 25%.74 Hier mußte dringend Abhilfe geschaffen werden. Des weiteren war die zunehmende Kritik der Großindustrie gegnüber Luther von entscheidender Bedeutung für dessen Sinnes wandel. Solmssen verlangte in einer Besprechung mit Pünder vom 15. Juli 1931 im Auftrag des RDI und des CDBB (Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes) die Ablösung Luthers durch Schacht. 75 Schlimmer noch war für Luther, daß sich selbst die westdeutsche Schwerindustrie, eigentlich die politische Stütze des Reichsbankpräsidenten, unter Führung Vöglers von ihm abwandte. 76 Schon um seine weitere Isolierung zu verhindern, 68 Vgl. Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium über eine Mitteilung Kraemers vom 11. 6.1931, BAP, 31.01/19671. 69 Vgl. Rundschreiben des Rußlandausschusses vom 19.6. 1931, BAK, NL Silverberg, 334; Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium über die Besprechungen vom 18. u. 20. 6. 1931, BAP, 31.01 / 19671. Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft war eine im Jahre 1928 vom RDI eingesetzte Organisation, die gegenüber dem monopolisierten sowjetischen Handel die Interessen der deutschen privaten Wirtschaft vertrat. Vgl. H.-J. Perry, Der Rußlandausschuß, S. 62 ff. 70 Vgl. Aufzeichnung über eine Besprechung zwischen Luther und Pjatakoff vom 30.5.1931, BAK, NL Luther, 365. 71 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 23. 7. 1931, BAK, NL Luther, 365. 72 Vgl. Kraemer in der Vorstandssitzung des RDI vom 25.9. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4. 73 Vgl. St. Abt., Welche Kredite sind an Rußland und an Länder mit schwacher Valuta gegeben worden? 27.9. 1932, BAP, 25.01/6501. 74 Vgl. Mitteilung Kraemers in der Besprechung im Reichswirtschaftsministerium über das Rußlandgeschäft vom 20. 6. 1931, BAK, NL Silverberg, 334; Mitteilung Dreyses in der Chefbesprechung vom 6. 8. 1931, AdR, Brüning, Nr. 433, S. 1531. 75 Vgl. H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 165; 76 Vgl. Rosenberger (Ring-Kreis) an Luther, 28. 7. 1931, BAK, NL Luther, 336. Meissner, Erich v. Gilsa, Dingeldey, die "Deutsche Bergwerkszeitung", Trendelenburg und später auch

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IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931

mußte Luther handeln, und von den Forderungen, die die Industrie Luther vorlegte - die Finanzierung der Arbeitsbeschaffung, die Wiederausgabe der Rentenmark und die Diskontierung der russischen Wechsel -, war die Finanzierung der Lieferungen in die Sowjetunion für die Industrie, insbesondere für die Schwerindustrie, am dringendsten und für die Reichsbank am leichtesten zu bewältigen. Zusätzlicher Druck kam schließlich von seiten der Reichsregierung. Am 22. Juli 1931 erklärte der für die Garantieerteilung zuständige interministerielle Ausschuß, für die im Rahmen des Pjatakoff-Abkommens laufenden weiteren Aufträge nur dann die Ausfallbürgschaft zu erteilen, wenn die Finanzierung gesichert sei. 77 Damit drohten die bereits abgeschlossenen Kaufverträge zu platzen, während die Industriellen zu diesem Zeitpunkt die Reichsregierung bereits zu einer neuen Garantieaktion für Lieferungen in die Sowjetunion im Umfang von etwa 200 bis 250 Mio. RM drängten. 78 Die.dadurch herbeigeführte Entscheidung Luthers, den Forderungen der Industrie entgegenzukommen, wurde allerdings nicht unverzüglich in die Tat umgesetzt. Dies lag nicht an den technischen Problemen, die langfristigen russischen Wechsel in die bei der Reichsbank diskontfähigen Dreimonatswechsel umzuwandeln,79 sondern am Widerstand des Reichsbankdirektoriums, das die Handelswechsel mit außergewöhnlich langer Laufzeit nicht hereinnehmen wollte und sich erst in einer direkten Verhandlung mit den Industriellen vom 14. August umstimmen KastI waren ebenfalls für den Rücktritt Luthers. Silverberg war seit eh und je ein Gegner Luthers. Über Meissner in der Tagebucheintragung von R. Quaatz vom 15. 7. 1931, in: Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer Republik, hrsg. von H. Weiß, München 1989, S. 139; über Trendelenburg in der Tagebucheintragung Schäffers vom 1. 8. 1931, IfZ, ED 93 /11; über Kastl in seinem Brief an Silverberg vom 26. 12. 1931, in: 1. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr.397, S. 1197 f.; über Dingeldey in seinem Brief an Brüning vom 15.7. 1931, BAK, NL Dingeldey, 36; über die "Deutsche Bergwerkszeitung" im Brief Luthers an Reusch vom 24. 7. 1931, in: 1. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 270, S. 786 f.; über Gilsa in seinem Brief an Reusch vom 25. 7.1931, in: 1. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 272, S. 792. Die Gegner Luthers sahen in Schacht eine ernstzunehmende Alternative, während Brüning dessen Eigenständigkeit fürchtete und an Luther festhielt und den Reichsbank-Präsidenten angesichts der Rücktrittsforderungen warnte, "doch nicht Selbstmord begehen" zu wollen. Vgl. Tagesbericht Luthers vom 25.7. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 273, S. 794. 77 Vgl. Rundschreiben des Rußlandausschusses vom 28.7. 1931, BAK, NL Silverberg, 334. 78 Vgl. Poensgen an Dietrich, 11. 8.1931; Poensgen an Brüning, 12.8.1931, BAP, 31.0\ / 19673; Aktennotiz über die Besprechung von Kastl und Kraemer mit Pjatakoff vom 14.8. 1931, BAK, NL Silverberg, 334; Besprechung von Vögler, Poensgen, Reusch, Springorum und Klöckner mit Brüning vom 18. 8. 1931, AdR, Brüning, Nr. 447, S. 1597. Brüning lehnte den Vorschlag aus reparationspolitischen Erwägungen ab. 79 Die Reichsbank konnte auf die frühere Praxis der Finanzierung der Russengeschäfte zurückgreifen. Die Lieferfirmen reichten die Russenwechsel bei der Ifago (Industrie Finanzierungsgesellschaft Ost), die zur Leistung des Akzepts und zur Vermittlung zwischen Industrie und Bankenkonsortium Mitte Juli 1926 gegründet wurde, ein und zogen auf die Ifago Dreimonatswechsel. Die Russenwechsel diente also nur als Sicherheit der Dreimonatswechsel. Die Konsortialbanken nahmen die Dreimonatswechsel an, versahen sie mit ihrem Giro und ließen sie dann von der Reichsbank rediskontieren. Vgl. M. Pohl, Geschäft und Politik, S. 97.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

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ließ,80 nachdem das Reichswirtschaftsministerium neun Tage zuvor vergebens dasselbe versucht hatte 8l - ein Hinweis darauf, daß Luther im Verlauf der Bankenkrise nicht nur bei Bankiers und Industriellen, sondern auch in seinen eigenen Reihen an Autorität verlor. So stellte die Reichsbank im September 1931 einem Bankenkonsortium den Rediskontkredit in Höhe von 150 Mio. RM zur Verfügung. 82 Allerdings galt die Kreditzusage der Reichsbank ausschließlich für die russischen Wechsel, die bis zum 30. Juni 1933fällig waren. 83 Kaum war das Kreditkonsortium Rußland 6 zustandegekommen, liefen die Industriellen gegen diese Fälligkeitsklausel Sturm. Insbesondere die Maschinenbauindustrie, aber auch die Schwerindustrie beklagten, daß der neue Rediskontkredit ihnen wenig nütze, da ihre Geschäfte über das in der Fälligkeitsklausel vorgesehene Datum hinausreichten. 84 Seit Mitte September 1931 wurde Luther von den Industriellen beinahe wöchentlich auf unterschiedlichem Wege - persönlich, über Stegerwald oder mithilfe von Eingaben - zur Verlängerung der Ablauffrist und der abermaligen Kreditzusage gedrängt. 85 Schließlich beschloß das Reichsbankdirektorium Anfang Oktober 1931, die Ablauffrist der im Rahmen des alten Rediskontkredits zu diskontierenden Wechsel bis zum 31. Januar 1934 auszudehnen und den gewünschten neuen Rediskontkredit zur Verfügung zu stellen. 86 Da sich der neue Kredit wegen der skeptischen Haltung des Reichsbankdirektoriums aber nur auf 50 Mio. RM belief, begann die Großindustrie abermals, Luther zu einer erneuten Kreditgewährung zu drängen, obwohl nicht einmal ein Bankenkonsortium für den bereitgegestellten Kredit von 50 Mio. RM gebildet wurde. 87 Die Forderung Kastls, den neuen Rediskontkredit um 60 bzw. 90 Mio. RM zu erhöhen 88 , beschied die Reichsbank negativ; ein weiteres Entgegenkommen könne Vgl. Kastl an Luther, 12. u. 15.8.1931, BAP, 31.01/19671. Vgl. Reichswirtschaftsministerium an Auswärtiges Amt, 6. 8. 1931, BAP, 31.01 19671. 82 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 28.8. 1931, BAK, NL Luther, 365. 83 Vgl. Rundschreiben der Ifago vom 5. 9. 1931, BAK, NL Silverberg, 334. 84 Vgl. K. Lange an Luther, 28. 9.1931, BAP, 31.01/19673. 85 Die Bemühungen sind in folgenden Niederschriften dokumentiert: Tagesbericht Luthers vom 4.9. 1931, BAK, NL Luther, 366; Stegerwald an Warmbold, 8.10. 1931, BAP, 31.011 19673; Blank an Reusch, 29. 9. 1931, Haniel Archiv, 40010120241 9; Kastl an Luther, I. 10. 1931, BAP 31.011 19673; Tagesbericht Luthers vom 8. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366; Reusch an Poensgen, 19. 10. 1931, Haniel Archiv, 400101290 1 32a. 86 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 2. 10. 1931, BAK NL Luther, 366. Am 2. 10. 1931 beschloß das Reichsbankdirektorium nur, die Diskontierung der Russenwechsel flexibel zu handhaben. Erst Ende Oktober setzte die Reichsbank Bedingungen und Volumen des neuen Rediskontkredits fest. 87 Das Kreditkonsortium Rußland 7 kam erst Mitte Dezember 1931 - für ein Kreditvolumen von 45 Mio. RM - zustande. Vgl. Dedi-Bank an Warmbold, 11. 12. 1931, BAP, 31.01 1 19674. 88 Vgl. Blank an Reusch, 24. 11. 1931, Haniel Archiv, 400 1012024/9; Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium vom 25. 11. 1931; Kastl an Warmbold, 5. 12. 1931, BAP, 80 81

31.01/19675.

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IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931

Proteste des Auslands hervorrufen, da die Reichsbank allzu stark mit den russischen Wechseln belastet sei. 89 Angesichts der strikt ablehnenden Haltung der Reichsbank versuchte die Großindustrie, die Reichsregierung einzuschalten. 9o Am 5. Dezember 1931 ersuchte Kastl im Namen des RDI Warmbold um "tatkräftige Unterstützung", weil unter den herrschenden Umständen, so Kastl, "auch die Zentralbank gezwungen ist, auf Gebieten eine Hilfe zu leisten, die ihr unter normalen Verhältnissen nicht zugemutet werden darf,.91 In einer Ressortbesprechung vom 8. Januar 1932, an der die Vertreter des Finanz-, Wirtschafts-, Landwirtschaftsund Außenministeriums des Reiches teilnahmen, wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, sich bei der Reichsbank für die Erhöhung des Rediskontkredits auszusprechen. 92 In dieser Situation stimmte Luther in der Chefbesprechung vom 2. März 1932 zu, einen weiteren Rediskontkredit in Höhe von 120 Mio. RM zur Verfügung zu stellen. 93 Bis Mai 1932 stellte die Reichsbank einen neuen Rediskontkredit in Höhe von 140 Mio. RM bereit. 94 Dieses Tauziehen wiederholte sich bis zum Jahresende 1932 noch dreimal. Die Reichsbank stellte im August, im September und Dezember 1932 Rediskontkredite in Höhe von jeweils 15 Mio., 110 Mio. und 60 Mio. RM zur Verfügung. 95 Das Engagement der Reichsbank in der Finanzierung des "Russengeschäfts" spiegelte sich in ihrem Wechselbestand wider: 96 "Russenwechsel" im Wechselbestand der Reichsbank (Mio. RM) darunter Ifago-Wechsel 31.12. 1931:

340,574

103,867

7.02. 1932:

377,379

135,040

7.04. 1932:

408,247

167,579

7.06. 1932:

469,588

241,320

7.08. 1932:

491,186

288,688

89 Vgl. Reichsbankdirektorium an Warmbold, 4. 11. 1931; Kastl an Warmbold, 5. 12. 1931, BAP,31.01/19675. 90 Vgl. Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium über die Eingabe Kastls vom 29.12.1931, BAP, 31.01/19675. 91 Kastl an Warmbold, 5.12.1931, BAP, 31.01/19675. Anfang Januar 1932 drängte Kastl Warmbold zum dritten Mal, auf die Reichsbank einzuwirken. Vgl. Kastl an Warmbold, 8.1. 1931, BAP, 31.01/19675. 92 Vgl. Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium, 8. 1. 1932, BAP, 31.01/19675. 93 Vgl. Kabinettssitzung vom 2. 3. 1932, AdR, Brüning, Nr. 691, S. 2348 f.; Chefbesprechung vom 2. 3. 1932, Aktenvermerk im Reichswirtschaftsministerium, 3. 3. 1932, BAP, 31.01/19675. 94 Vgl. M. Pohl, Geschäft und Politik, S. 98. 95 Vgl. ebd., S. 99. 96 St. Abt., Welche Kredite sind an Rußland und an Länder mit schwacher Valuta gegeben worden? BAP, 25.01/6501.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

99

Aus den bisherigen Ausführungen lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen. Erstens, das kreditpolitische Entgegenkommen Luthers gegenüber den Forderungen der Industrie ergab sich stets aus der vehementen politischen Einflußnahme der Industrievertreter. Luther ergriff niemals selbst die Initiative, über die Finanzierung der "Russengeschäfte" eine Vergrößerung der Kreditmenge und des gesamtwirtschaftlichen Auftragsvolumens herbeizuführen. Von einer bewußten Strategie der Reflation kann deshalb keine Rede sein. Zweitens ist auffallend, daß Luther in diesem langwierigen Tauziehen eine umso größere Kooperationsbereitschaft zeigte, je mehr Zeit verging. Seit etwa Oktober 1931 kämpfte er mehr gegen sein Direktorium als gegen die Industrie. Er handelte zwar niemals aus eigener Initiative, aber seine zunehmend flexible Haltung gegenüber zusätzlichen Exporten in die Sowjetunion ist unverkennbar. Diese Haltung läßt darauf schließen, daß sein unbedingtes Festhalten an der Deflationspolitik im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 1931 nachließ und er bereit war, die bewährten Einzelrnaßnahmen der Kreditausweitung in einem beschränkten Umfang mitzutragen, gegebenenfalls auch, um sich weiterhin der Unterstützung der Industrie zu versichern. Drittens entzog sich das Reichsbankdirektorium im Verlauf der Bankenkrise zunehmend dem Einfluß seines Präsidenten. Auf Grund des Widerstands des Reichsbankdirektoriums in kreditpolitischen Fragen konnten die Lieferungen in die Sowjetunion nur schrittweise finanziert werden. Dies bedrohte wiederum gleichzeitig die Autorität Luthers gegenüber den Bankiers und den Industriellen. Einen weiteren wichtigen Posten der illiquiden Wechsel im Wechselportfolio der Reichsbank stellten die landwirtschaftlichen Wechsel dar. Im Zusammenhang mit der Frage, ob dieser Posten Indizien für die bewußte Reflationsstrategie Luthers liefern kann, ist von Bedeutung, daß der sich am 31. Dezember 1931 auf 441 Mio. RM belaufende Bestand der Reichsbank an illiquiden Landwirtschaftswechseln nicht auf die während und nach der Bankenkrise ergriffenen Sonderrnaßnahmen zurückzuführen ist. 440 der 441 Mio. RM waren zwar über die Preußenkasse in die Reichsbank gelangt, doch bereits vor der Bankenkrise hatte die Reichsbank über die Preußenkasse illiquide Landwirtschaftswechsel hereingenommen, weil deren prekäre Lage dies notwendig machte. Der Bestand dieser über die Preußenkasse in die Reichsbank gelangten Wechsel belief sich am 7. Juni 1931 auf 361 Mio. RM, am 7. Juli 1931 auf 478 Mio. RM und am 7. August 1931 war er wieder leicht auf 455 Mio. RM zurückgegangen. Danach blieben die Wechsel konstant zwischen 400 und 460 Mio. RM. 97 Nach dem Bankenkrach und vor allem nach der Norrnalisierung des Zahlungsverkehrs Anfang August 1931 liefen also keine be97 Vgl. St. Abt., Gestaltung des Portefeuilles der Reichsbank seit Beginn der Krise. Entwicklung der Beträge und des Prozentsatzes der eigentlichen guten Handelswechsel im strengen Sinne. Weiche langfristigen Engagements befinden sich im Portefeuille? Inwieweit sind Zusagen für weitere Finanzierungen langfristiger Art gegeben? 7.6. 1933, BAP, 25.01/6502; St. Abt., Bestand der Reichsbank an illiquiden Wechseln, abgefaßt Anfang 1933, BAP, 25.01/ 6503. Im übrigen betrug dieser Rediskontkredit der Reichsbank rund die Hälfte der gesamten Passiva der Preußenkasse. Vgl. Geschäftsbericht des Preussischen Zentralgenossenschaftsrates 1931, Berlin 1932.

100

IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931

sonderen Kredite der Reichsbank über die Preußenkasse. Deshalb sind diese Kredite nicht als Maßnahmen zu bewerten, die der Schrumpfung der Geld- und Kreditmenge entgegengesetzt wurden. Die Reichsbank bewilligte zwar des weiteren die Sonderkredite in Höhe von 200 Mio. RM für die Osthilfe, sie wurden aber bis März 1933 kaum in Anspruch genommen. Der Bestand der Reichsbank an Osthilfeablösungsscheinen belief sich im Dezember 1932 auf 400.000 RM. Nur die einzelnen Sonderkredite für die Osthilfe, die außerhalb des Osthilfeprogramms liefen, wurden in Höhe von etwa 40 Mio. RM beansprucht. Außerdem wurden die Sonderkredite für Ernte und Magazinierung zwar bis zum Ende 1932 in Höhe von 47 Mio. RM in Anspruch genommen, aber die Reichsbank selbst führte diese Wechsel nicht als illiquide Wechse1. 98 Alles in allem kann man in Bezug auf die Landwirtschaft kaum von einer bewußten Kreditausweitung der Reichsbank sprechen. H. James hat dargelegt, daß die nominale Geldmenge zwischen Juli 1931 und Dezember 1932 nur um 12,4% zurückging, obwohl allein der Abzug ausländischer Kredite eine Geldmengenschrumpfung von 20,5% hätte bewirken können. 99 Wenn man aber wie James die teilweise gelungene Abfederung der Geldmengenschrumpfung im Sog der Bankenkrise auf die bewußt betriebene Reflationspolitik Luthers zurückführt,100 ist unverständlich, warum das high-powered money 1932, wie aus der von James selbst erstellten Statistik deutlich zu ersehen ist, kontinuierlich, insgesamt etwa um 11 % abnahm, nachdem es in der zweiten lahreshälfte 1931 im gleichen Umfang zugenommen hatte. 101 Daß die nominale Geldmenge im Jahre 1932 trotz des derartigen Rückgangs des high-powered money nur um 5,7% abnahm, war nicht auf die Offenmarktpolitik der Reichsbank, sondern, wie auch James einräumt,102 auf die konstant gebliebenden Bankeinlagen zurückzuführen. Die Schwankung des Geldangebots der Reichsbank seit Mai 1931 wird verständlich, wenn man die Reflationsstrategie Luthers nicht überbewertet und sein Handeln stärker von der jeweiligen kreditpolitischen und allgemeinpolitischen Konstellation her interpretiert. Das high-powered money nahm in der zweiten Jahreshälfte 1931 zu, als Luther durch den Verlauf der Bankenkrise gezwungen wurde, die vom Run erfaßten Banken durch die Hereinnahme der Finanzwechsel notgedrungen zu stützen. Aber seit Anfang 1932 nahm das Geldangebot ab, als er diesen Wechselkredit zurückzog und zugleich keinen genügenden Ausgleich dafür schaffte. Luther finanzierte zwar die "Russengeschäfte" und leistete der Landwirtschaft finanzielle Hilfe, aber diese durch die Großwirtschaft erzwungenen Hilfeleistungen mußten aufgrund der Widerstände des Reichsbankdirektoriums und der kreditpolitischen Orthodoxie des Reichsbankpräsidenten selbst begrenzt ausfallen. Vgl. ebd. Vgl. H. James, Deutschland, S. 310. 100 Vgl. H. James, Gab es eine Alternative zur Wirtschaftspolitik Brünings?, in: VSWG 70 (1983), S. 535. 101 Vgl. H. James, The Reichsbank, S. 366 f. 102 Vgl. H. James, Deutschland, S. 310. 98 99

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

101

Die Kreditpolitik Luthers ist deshalb nicht nur von der Konzeption, sondern auch von den tatsächlich vogenommenen Maßnahmen her nicht als eine bewußte Reflation, auch nicht als eine "leise" Kreditausweitung zu bewerten. Es ist aber nicht zu leugnen, daß Luther während und nach der Bankenkrise seine kreditpolitische Haltung allmählich umzuorientieren begann und daß die notgedrungen vorgenommenen Maßnahmen der Reichsbank eine weitere Abnahme der Geldmenge verhinderten, die ein unbedingtes Festhalten an den überlieferten Regeln der Kreditpolitik der Notenbank bewirkt hätte. Aber der Preis, den die Reichsbank für diese Maßnahmen zu zahlen hatte, war ebenso groß wie die dadurch verhinderten Schäden der Wirtschaft. Das Wechselportfolio der Reichsbank wies nämlich einen großen Anteil illiquider Wechsel auf. Bestand der Reichsbank an illiquiden Wechseln (Mio. RM)103 1931 Wechsel der Akzeptbank (einschl.aller Debitorenziehungen) Wechsel der Preußenkasse

29.2.

30.6.

7.10.

31.12.

1682

1350

1214

1066

1152

440

410

397

420

330

10

46

44

10

Osthi1fenotwechsel Russenwechsel

1932

31.12.

104

149

265

301

365

Sonstiges

30

30

33

32

32

Insgesamt

2257

1949

1955

1863

1889

Anteil der illiquiden Wechsel am gesamten Inlandswechselbestand (in %) 48,2

50,1

55,0

55,0

57,1

Die Gewährung dieser Wechselkredite hatte eine zeitweilige Zunahme der umlaufenden Reichsbanknoten zur Folge, die bei der Kapitalflucht natürlich eine Verschlechterung der Deckung der Noten bewirkte.

103 Die Statistische Abteilung der Reichsbank, Bestand der Reichsbank an illiquiden Wechseln, abgefaßt Anfang 1933, BAP, 25.01/6503.

102

IV. Die Auseinandersetzungen im Umfeld der Bankenkrise 1931 Umlauf und Deckung der Reichsbanknoten (Mio. RM/ 04 Reichsbanknoten

Gold u. Devisen

Deckung (%)

Mai

4299

2576

59,9

Juni

4295

1721

40

September

4609

1440

31,2

Dezember

4776

1156

24,2

4268

1077

25,2

Ende d. Monats 1931

1932 Februar Juli

3967

894

22,5

Dezember

3560

920

25,8

Die tiefgreifende Unterschreitung der Deckungsgrenze und die "Illiquidierung" der Reichsbank gab nicht nur ungenügende Impulse für den konjunkturellen Umschwung, sondern hatte auch äußerst negative Konsequenzen für die Konjunkturpolitik generell. Wegen des Finanzwechselbestands sah sich die Reichsbank außerstande, auf die Konjunktur expansiv einzuwirken. Vielmehr drängte die Statistische Abteilung der Reichsbank darauf, alle "Milliardenprojekte", die "die Wirtschaft aufpulvern wollen" und die Depression "durch interne Geldfälschung wie durch einen Zaubertrick" beseitigen wollten, offen zu bekämpfen. 105 Sie befürchtete, daß der Druck des Konjunkturabschwungs auf die Preise und in Richtung auf die Abstoßung unrentabler Anlagen, kurzum der konjunkturelle Gesundungsprozeß, auf Grund ihrer gelockerten Geldpolitik ausblieb. Sie sah in der forcierten Preis senkung und Exportoffensive den einzigen Weg, den Konjunkturablauf zu "normalisieren" und ihren Devisenbestand aufzustocken. Etliche interne Papiere der Reichsbank legten nahe, die unkonventionelle Praxis der Gewährung der Rediskontkredite aufzugeben, die über die Akzeptbank gewährten Wechselkredite wieder einzuziehen und die mittlerweile aufgehobene Kreditrestriktion wieder in Gang zu setzen. 106 "Ohne eine gewisse Verknappung der Reichsmark", so ihr Resume, "wird deshalb nicht auszukommen sein". 107 104 Gesamtwechselumlauf und Wechselbestand der Reichsbank und der Kreditinstitute, BAK, NL Luther, 358. 105 Vgl. St. Abt., Vorschläge zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise, 12. 9. 1931, BAP, 25.01/6493. 106 Vgl. ebd.; St. Abt., Welche sofortigen Maßnahmen erfordert die augenblickliche Situation der Reichsbank? 5.10.1931, BAP, 25.01/6493; St. Abt., Preisniveau, Kredit- und Wirschaftsvolumen in Deutschland, 9. 10. 1931, BAP, 25.01 /6574; St. Abt., Maßnahmen zur Begrenzung der Inanspruchnahme der Reichsbank, 25. 11. 11931, BAP, 25.01 /6494.

2. Die Finanzierung des "Russengeschäfts" durch die Reichsbank

103

Luther nahm in diesen wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen eine ambivalente und unsichere Haltung ein. Wie bereits dargelegt, stand er seit Oktober 1931 der Finanzierung der "Russengeschäfte" durch die Reichsbank nicht mehr strikt ablehnend gegenüber. In einem Gespräch mit F. Oppenheimer, Mitglied des Zentralausschusses der Reichsbank, sagte er Ende September 1931 sogar, "daß eine gewisse Kreditausweitung, soweit sie ohne Inflation möglich sei, auch mit der Reichsbank gemacht werden kann". 108 Zugleich übernahm er bei der Auseinandersetzung über den kreditpolitischen Spielraum der Reichsbank die Argumente der Reichsbankbürokratie. Der allzu große Anteil illiquider Wechsel im Wechselportfolio der Reichsbank mache, so die Auffassung Luthers, die Reichsbank so unbeweglich, daß sie im Fall des erneuten Auftretens einer währungspolitisch kritischen Situation nicht hinreichend effizient eingreifen könne. Eine restriktive Maßnahme könne bloß auf die nur etwa 50% des Wechselbestandes der Reichsbank betragenden liquiden Handelswechsel wirken. Deshalb sei eine straffe Geldpolitik geboten. 109 Zu der konzeptionellen Unsicherheit kam die politische Zwangslage hinzu, in der sich Luther nach der Bankenkrise befand. Nachdem er während der Bankenkrise als verantwortlicher Reichsbankpräsident seinen Rückhalt bei der Industrie weitgehend einbüßte, wurde die politische Unterstützung durch den Reichskanzler für ihn immer wichtiger, so daß es zu einer Annäherung an seinen einstigen Rivalen kam. Daraus ergaben sich auch Konsequenzen für seine Kreditpolitik: Einerseits mußte er den Forderungen der Industrie möglichst entgegenkommen, um seine Stellung als Vertrauensmann der Industrie wiederzugewinnen; andererseits mußte er den kreditpolitischen Wünschen Brünings Rechnung tragen; darüber hinaus mußte er schließlich weiterhin dafür Sorge tragen, daß bei allen Konzessionen gegenüber den Forderungen der Interessenverbände und Brünings eine Gefährdung der Währungsstabilität unterblieb. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der kreditpolitischen Orthodoxie des Reichsbankdirektoriums, den Forderungen von seiten der Industrie und Brünings nach Hilfeleistungen der Reichsbank, dem Postulat der Sicherung der Währung und dem strategisch-politischen Ziel Luthers, nämlich der Reichsreform, bestimmte seit der Bankenkrise im Sommer 1931 dessen kreditund konjunkturpolitische Haltung.

107

6493.

St. Abt., Vorschläge zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise, 12.9. 1931, BAP, 25.01 /

Vgl. Tagesbericht Luthers vom 29. 9. 1931, BAK, NL Luther, 366. Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Ministerbesprechung vom 2. 10. 1931, HZ, ED 93/14. 108 109

8 Kim

v. Die konjunkturpolitische Diskussion von der Bankenkrise bis zur Pfundabwertung 1. Die Forderung der Industrie nach einer aktiven Konjunkturpolitik der Reichsregierung Die Bankenkrise im Sommer 1931 leitete die zweite Phase der Großen Depression in Deutschland ein. I Sie machte aus einer Anpassungskrise, die zum Abbau der in der Hochkonjunktur entstandenen Überkapazitäten der Wirtschaft führte, eine Strukturkrise, in der der konjunkturelle Abschwung sich kumulativ verschärfte. Die gewerbliche Gütererzeugung lag im ersten Quartal 1932 um mehr als 21 % unter der des Frühjahrs 1931; die Kapazitätsauslastung der Industrie, die sich im letzen Quartal 1930 noch auf 56% belief, sank bis zum ersten Quartal 1932 auf 41 %; die Arbeitslosenquote erhöhte sich von 25,3% im Frühjahr 1931 auf 39,4% im ersten Quartal 1932? Das Ausmaß der Verschärfung der Depression im Strudel der Bankenkrise tritt noch deutlicher hervor, wenn man berücksichtigt, daß sich im Frühjahr 1931 eine konjunkturelle Erholung abgezeichnet hatte: Die Industrieproduktion hatte sich um 1,7% erhöht, die Arbeitslosenzahl war von 4,9 Millionen auf knapp unter 4 Millionen zurückgegangen und der Preisrückgang war mit 1,3% im zweiten Quartal 1931 sichtbar verlangsamt worden 3 - Anzeichen einer konjunkturellen Erholung, die auch von vielen Zeitgenossen wahrgenommen wurden. 4 Diese Entwicklung wurde von der Bankenkrise abrupt unterbrochen und der Liquiditätsmangel zum prägenden Element der Großen Depression. Die nominale Geldmenge ging vom September 1930 bis zum Mai 1932 um 24,6% zurück. 5 Die Bankenkrise prägte nicht nur den Verlauf der Großen Depression, sondern beeinflußte auch die konjunkturpolitische Diskussion in Deutschland nachhaltig. Im Strudel der Bankenkrise vollzog sich besonders in der westdeutschen SchwerI Vgl. H. James, Deutschland, S. 275. Die beste Darstellung über die Bankenkrise ist die Dissertation von H. James, The Reichsbank und Public Finance in Germany 1924-1933: A Study of the Politics of Economics during the Great Depression, Frankfurt a.M. 1985. 2 Vgl. G. Plumpe, Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise, S. 338, 341 u. 346; G. Hardach, Weltmarktorientierung, S. 123. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. K. Borchardt, Wachstum, S. 168 f.; Trendelenburg in der Ministerbesprechung vom 7.5. 1931, AdR, Brüning, Nr. 291, S. 291; Kastl in der Vorstandssitzung vom 23.4. 1931, Bayer Archiv, 62 / 10.4; Franz von Mendelssohn in der Vollversammlung vom 25. 3. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 3, S. 31. 5 Vgl. H. James, The Reichsbank, S. 366 f.

1. Forderung der Industrie nach einer aktiven Konjunkturpolitik

105

industrie ein Paradigmenwechsel. Am 15. Juli 1931, dem zweiten Bankfeiertag, trafen Albert Vögler, Fritz Thyssen, Ernst Poensgen, Oskar Sempell, Peter Klöckner, Ernst Brandi, Arthur Klotzbach, Ernst v. Borsig, Max Schlenker und Jakob' Reichert zu einer Unterredung über die Frage der Preissenkung der Roheisenprodukte in Berlin zusammen. 6 Auf das vorgesehene Thema kamen sie jedoch kaum zu sprechen, da sie gemeinsam der Auffassung waren, daß weitere Preissenkungen zu keiner Absatzsteigerung führten. "Jede Preissenkung", so Klöckner, "würde verpuffen und uns nur schaden". Sie wandten sich deshalb gleich der "wichtigsten" Frage zu, nämlich "wie es mit dem Zahlungsmittel wird", und stimmten darin überein, daß der Zahlungsmittelumlauf unbedingt erhöht werden müsse. Bedenken, daß die neu eingebrachten Geldmittel möglicherweise gehamstert würden oder ein Ersatzgeld, z. B. die Rentenmark, einer erheblichen Entwertung ausgesetzt werden könnte, wurden kurzerhand zurückgestellt. Es war Klöckner völlig gleichgültig, "ob dieses Geld nachher billiger ist, das würde nichts schaden". Vögler hielt den Glauben, daß Deutschland "noch eine Goldwährung hat", schlichtweg für eine "Fiktion". Die Diskussion spitzte sich darauf zu, ob man für die Vermehrung der Geldmenge eine "neue Währung" schaffen oder die alte Rentenmark wieder ausgeben sollte7 ; daß es eine Erhöhung der Geldmenge geben mußte, war mittlerweile unzweifelhaft. Vögler schwebte sogar vor, bei dieser Gelegenheit eine Korrektur der bestehenden Parität der Reichsmark, also eine Abwertung, vorzunehmen. 8 Darüber hinaus hielt er die Einführung einer Doppelwährung, d. h. "eine Differenzierung zwischen der sogenannten Binnenmark und der Außenmark", für "selbstverständlich". Diese Auffassung wurde von Sempell mit dem Hinweis auf das Beispiel Rußlands unterstützt. Thyssen glaubte, bei einer dreißigprozentigen Senkung des Wertes der Binnenmark das normale Beschäftigungsniveau der Unternehmen erhalten zu können. Er regte weiter an, darüber nachzudenken, ob die "Russenwechsel" als Sicherung für das neue Geld benutzt werden könnten. Die Anwesenden erwarteten also von einem geldpolitischen Kurswechsel, der eventuell eine Währungsreform einschließen mochte, einen Ausgleich bzw. eine Ausweitung der geschrumpften Geldmenge, um so einen konjunkturellen Umschwung herbeizuführen. Doch Vogler ging sogar noch einen Schritt weiter. Er plädierte für "produktive Arbeiten" im Straßen- und Eisenbahnbau, deren Umfang er auf I bis 2 Mrd. RM veranschlagte. Thyssen, Sempell, Klöckner und Klotzbach stimmten dieser Auffassung zu, wobei Klotzbach von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Höhe von I Mrd. RM eine NeueinsteIlung von 400000 Beschäftig6 Vgl. Aktenvennerk über eine Besprechung im Hause der Vereinigten Stahlwerke zu Berlin am 15.7.1931, BAK, R 131/602. 7 Vogler hielt die Wiederausgabe der Rentenmark für die einfachste Lösung. Vgl. ebd. 8 Vögler führte aus, man müsse einsehen, "daß wir zu einem Umbau der Währung kommen müssen, um den Fehler von 1923 zu revidieren, etwa in der Richtung, daß man aus 3 M 5 Schilling macht. Dieser Gedanke spiele auch in Arbeitskreisen eine Rolle. Wenn der Augenblick hierzu jetzt nicht ergriffen werde, so werde er überhaupt nicht wieder kommen". Ebd.

8*

106

V. Die konjunkturpolitische Diskussion bis zur Pfundabwertung

ten erwartete. Thyssen rechnete damit, daß die Neubeschäftigung von 1 Million Menschen die Einstellung von einer weiteren Million Menschen nach sich ziehen würde. Der Gedanke einer Initialzündung durch die Arbeitsbeschaffung war ein unmißverständlicher Beleg dafür, daß die Arbeitsbeschaffung keineswegs bloß als eine vorläufige Hilfeleistung für die notleidenden Branchen, sondern als eine langfristig wirkende konjunkturpolitische Maßnahme angesehen wurde. Um die Forderung nach einem konjunkturpolitischen Kurswechsel durchsetzen zu können, schoben die Schwerindustriellen sogar das Hauptziel ihrer bisherigen Interessenpolitik, die Beseitigung des staatlichen Schlichtungswesens, zunächst in den Hintergrund. In einem Gespräch mit Trendelenburg warnte Poensgen den stellvertretenden Reichswirtschaftsminister davor, die Beseitigung des Schlichtungswesens und die Aufhebung der Kartelle in den Mittelpunkt der Bemühungen zu stellen: "Es sollen vielmehr die wichtigsten Fragen in Angriff genommen werden, nämlich die Unklarheit bezüglich der Zahlungsmittel und der Kreditfrage zu bereinigen". Am gleichen Tag suchten Vogler und Thyssen den Reichskanzler auf und drängten ihn zur Ausgabe von Notgeld und zu einer Initialzündung durch die Arbeitsbeschaffung. 9 Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der an der Berliner Unterredung vom 15. Juli nicht beteiligt war, deutete am 18. Juli 1931 in einem Brief an Vogler an, daß er deren währungs- und geldpolitische Auffassung teile lO und informierte ihn, daß er aus London ein Schreiben erhalten habe, das die gemeinsamen währungspolitischen Vorstellungen bestätige. Krupp wollte sich zwar seine Stellungnahme vorbehalten, bis er die Ansicht der Geschäftsführung des RDI kannte. Aber allein die Tatsache, daß er dieses Schreiben an die Verbandsführung des RDI und an Vogler weiterleitete, zeigte doch seine Sympathie gegenüber der Einstellung Voglers. Silverberg schließlich, der an der Berliner Unterredung ebenfalls nicht teilgenommen hatte, war gleichfalls einer der engagiertesten Protagonisten füJ;: eine monetäre expansive Konjunkturpolitik. Die überwiegende Mehrheit der Schwerindustriellen an der Ruhr trat nach der Bankenkrise also offenkundig für eine expansive Konjunkturpolitik ein. 11 Dieser dominierenden Auffassung gegenüber kristallisierte sich jedoch rasch ein Gegenpol innerhalb der westdeutschen Schwerindustrie heraus, den Paul Reusch einnahm. Er hob sich zunächst dadurch von den übrigen Schwerindustriellen ab, daß er an seiner politischen Unterstützung des allseits angegriffenen Reichsbankpräsidenten Luther kein Zweifel ließ. Acht Tage nach ihrer gemeinsamen Unterredung besuchten Vogler, Silverberg, Bücher, Krupp und Hans Kraemer den Reichsbankpräsidenten Hans Luther, der die wirtschaftspolitischen Pläne der Industrievertreter jedoch ablehnte; ein schlechtes Notgeld werde, so Luther, die "gute Reichsmark" verdrängen, und damit werde der "Inflationsdruck" steigen. Zur Fi9 10 11

Vgl. H. James, Deutschland, S. 304. Vgl. Krupp an Vögler, 18.7. 1931, Krupp Archiv, FAH 4 E 915. Über die Vorstellung Springorums ist den gesichteten Akten leider nichts zu entnehmen.

1. Forderung der Industrie nach einer aktiven Konjunkturpolitik

107

nanzierung der Arbeitsbeschaffung kam nach Luthers Auffassung nur eine "fiktive" Anleihe, die durch die Reichsbank vorfinanziert werden müsse, in Frage. Aber sie werde ebenfalls den Inflationsdruck steigern, weil die gehamsterten Zahlungsmittel bei einer Beruhigung der Krisensituation der Banken sofort wieder in Umlauf kommen würden. 12 Um die Haltung des Reichsbankpräsidenten zu stützen, veranlaßte Reusch in verschiedenen Zeitungen eine Zurückweisung der Kritik gegenüber Luther. 13 Seine konjunkturpolitische Vorstellung skizzierte Reusch in einem Brief an Luther vom 24. Juli 1931: "Nach meiner Ansicht ist der Zeitpunkt gekommen, wo dem Reichskanzler klar gemacht werden muß, daß die Währungsfrage nicht unabhängig von der Gesamtpolitik des Kabinetts gelöst werden kann".14 "Auch der kleinste Mann im Volke wird verstehen", fuhr Reusch fort, "daß die Höhe des Einkommens jedes Einzelnen zusammenhängt mit der Höhe des Zahlungsmittel umlaufs, und daß wenn alle Einkommen beispielsweise auf die Hälfte reduziert werden, auch der Zahlungsmittelumlauf eine ganz erhebliche Einschränkung erfährt und damit die Währungsschwierigkeiten beseitigt werden". Ihm schwebte also als Krisenkonzept eine radikale deflationistische Anpassung der Löhne und Gehälter an die reduzierte Geldmenge vor. 15 Offensichtlich hatte sich Reusch in der Sitzung der Ruhrlade vom 27. Juli 1931 mit seiner Auffassung durchsetzen können l6 , denn gleich nach der Sitzung faßte er einen Brief an Brüning ab, sammelte in großer Eile die Unterschriften der schnell erreichbaren Industriellen und schickte ihn am 30. Juli an den Reichskanzler. 17 Dieser Brief war ein unmißverständliches Bekenntnis zur Deflationspolitik. Die Anpassung der Kosten an den konjunkturellen Abschwung müsse, so die Kernaussage, derart beschleunigt werden, "daß sie der weiteren Entkräftung der Wirtschaft zuvorkommt".18 Das sei Vgl. Tagesbericht Luthers vom 23. 7. 1931, BAK, NL Luther, 365. Vgl. Luther an Reusch, 24. 7. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr.270, S. 786 f.; Reusch an Luther, 26. 7. 1931, Haniel Archiv, 400101290/ 30a. Reusch schickte den Artikel, der den Brief Luthers vom 24. Juli einfach wiedergab, an die Redaktion der Deutschen Bergwerkszeitung, des Schwäbischen Merkurs und des Fränkischen Kuriers, die ihn auch tatsächlich abdruckten. 14 Reusch an Luther, 24. 7.1931, Haniel Archiv, 400101290 / 30a. 15 Sein Vertrauensmann, der Reichstagsabgeordnete der DVP, Erich v. Gilsa, entwickelte ähnliche Gedanken. Die Reichsbank sollte zur Behebung der Geldknappheit zunächst Noten für etwa 2 Mrd. RM herausgeben, und gleichzeitig sollten bei den Etats von Reich, Ländern und Gemeinden etwa 2,5 bis 3 Mrd. RM gestrichen werden. Die so erzielten Ersparnisse sollten dann restlos der Reichsbank zugeführt werden, die ihrerseits die ausgegebenen Noten wieder aus dem Verkehr ziehen und damit die Inflation verhindern sollte. Vgl. Gilsa an Reusch, 3. 8.1931, Haniel Archiv, 400101293 /4b. 16 Diese Sitzung wurde wegen der wirtschaftspolitischen Dringlichkeit vom ursprünglichen Termin, dem 3. August, auf den 27. Juli vorverlegt. Kurz zuvor bat Reusch den Reichsbankpräsidenten um Informationen über die bevorstehenden Maßnahmen der Reichsbank. Reusch wollte mit den Informationen die anderen Industriellen "beruhigen". Vgl. Reusch an Luther, 25. 7. 1931, Haniel Archiv, 400101290/ 30a; Reusch an Springorum, 8. u. 24. 7. 1931, Hoesch Archiv, F 1 i 3. 17 Vgl. Deutsche Industrielle an Brüning am 30. 7.1931, AdR, Brüning, Nr. 422, S. 1470 f. 12 13

108

V. Die konjunkturpolitische Diskussion bis zur Pfundabwertung

auch der allein wirksame Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Als effektivste Mittel zur Beschleunigung dieses Anpassungsprozesses nannte er die Auflokkerung des Tarifrechts, die Beseitigung der staatlichen Zwangs schlichtung, den Verzicht auf das Versicherungsprinzip bei der Arbeitslosenfürsorge und die Verwaltungs- und Reichsreform, durch die die Privatwirtschaft von der "planlosen Zwangswirtschaft" des Weimarer "Versorgungsstaates" befreit werden sollte. Es ist bemerkenswert, daß der Brief nicht nur von Krupp, v. Borsig, Springorum, Bücher und v. Siemens, sondern auch von Industriellen wie Vogler, Silverberg, Klöckner unterzeichnet wurde, die sich eine Woche zuvor für eine expansive Konjunkturpolitik eingesetzt hatten. 19 Wegen der Eile hatte Reusch keine Zeit gehabt, Erich Fickler, Karl Haniel, Klotzbach, Poensgen, Thyssen und Fritz Winkhaus um ihre Unterschrift zu bitten, während F. Flick bewußt keine Unterschrift leistete. Das änderte aber wenig daran, daß der Brief die Haltung der gesamten Schwerindustrie an der Ruhr repräsentierte. Denn mit Vögler, Springorum, Krupp, Reusch und Silverberg waren alle bedeutenden Firmen vertreten. Diese auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Haltung vieler Industrieller, die noch kurz zuvor eine Gegenposition zu den konjunkturpolitischen Vorstellungen Reuschs eingenommen hatten und die Reusch in seinem Brief mit keinem Wort würdigte, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß die gewerkschaftsfeindlichen und antiparlamentarisch-zentralistischen Forderungen in der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik mittlerweile zwar in den Augen der meisten SchwerindustrielIen ihre frühere Dringlichkeit eingebüßt hatten, aber weiterhin das Denken der Industriellen beeinflußten, so daß Reusch die Unterschriften trotz unterschiedlicher konjunkturpolitischer Vorstellungen erhielt. 2o So schien mit dem Brief Reuschs vom 30. Juli 1931 bei oberflächlicher Betrachtung der deflationistische Konsens der westdeutschen Schwerindustrie zunächst wiederhergestellt, doch bereits beim Empfang bei Brüning am 18. August 1931 trat die Gegensätzlichkeit der konjunkturpolitischen Konzeptionen wieder deutlich hervor. Reusch und Vögler waren sich zwar einig, daß die Belebung des Binnenmarktes die Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik sei, ihre Auffassungen gingen jedoch weit auseinander hinsichtlich der Frage, mit welchen Instrumenten der Binnenmarkt angekurbelt werden sollte. Vogler sprach "im Namen der erschienenen Vertreter" der Schwerindustrie "die dringende Bitte" aus, "daß von der Reichsregierung - insbesondere auch im Wege der Arbeitsbeschaffung - energische Maßnahmen in Angriff genommen" werden sollten, "um einen Zusammenbruch der Industrie im Westen zu vermeiden".21 Hervorhebung im Original. Vgl. Reusch an Fickler, Anfang August 1931, Haniel Archiv, 400101293/11; R. Neebe, Großindustrie, S. 97, Anmerkung Nr. 67. 20 Es ist irreführend, den Brief Reuschs als einen Beweis dafür anzusehen, daß die westdeutsche Schwerindustrie insgesamt nach der Bankenkrise weiterhin an der Deflationspolitik festhielt. Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 97 f.; B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln", S. 313. 18

19

I. Forderung der Industrie nach einer aktiven Konjunkturpolitik

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Demgegenüber hielt Reusch unentwegt an der Auffassung fest, daß die Löhne und Gehälter gesenkt werden müßten. Er fügte hinzu, daß der "gegenwärtige Zustand der Gesetzgebung" die große Anzahl der Arbeitslosen verursache. Anlaß für den Besuch der SchwerindustrielIen bei Brüning waren eigentlich die Bemühungen um zusätzliche Reichsbahnaufträge und die Absicherung neuer "Russengeschäfte". Vor allem die Finanzierung der Reichsbahnaufträge, mit der sich die Reichsregierung und die Schwerindustrie seit Mai 1931 beschäftigten, war bislang ungelöst,22 zumal in der Schwerindustrie selbst Uneinigkeit herrschte. Als der Stahlwerksverband kurz nach der Besprechung mit Brüning vereinbarte, sich noch einmal an den Reichskanzler zu wenden,23 reagierte Reusch zornig. An Poensgen schrieb er: "Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen offen zum Ausdruck zu bringen, daß ich erhebliche Bedenken gegen die beabsichtigte Form der Verhandlungen mit der Regierung bzw. mit dem Reichskanzler habe". "Wir sollten uns davor hüten, die Hilfe der Regierung für die Durchführung einzelner Geschäftsarten in Anspruch zu nehmen, vielmehr unser Augenmerk lediglich darauf richten, daß eine gesunde Wirtschaftspolitik gemacht wird und daß die in Aussicht genommenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen es uns ermöglichen, frei und unabhängig sowie unbeeinflußt ohne besondere Unterstützung der Regierung unser Geschäft zu betreiben".24 Daran wurde deutlich erkennbar, daß es sich bei dem Meinungsstreit zwischen Reusch und der Führung der Vereinigten Stahlwerke um die Grundsatzfrage handelte, welche Rolle der Staat bei der Bewältigung der Depression spielen sollte. Wenngleich die Einstellungen von Reusch und Vogler zur staatlichen Konjunkturpolitik scharf miteinander kollidierten, so waren beide doch um einen Ausgleich bemüht. Die Denkschrift, die Vogler am 27. August 1931 an den stellvertretenden Reichswirtschaftsminister Trendelenburg sandte, bildete das Ergebnis des Annäherungsversuchs der beiden Industriellen 25 und deckte sich nach den Worten Voglers "im allgemeinen mit den Anschauungen meiner Freunde hier im Revier", auch wenn sie noch ein Gemenge von zwei grundverschiedenen Auffassungen darstellte. Zunächst stellte Vogler fest, daß der Absatz der Unternehmen nicht durch die "Betriebseinschränkung", sondern "nur durch die Arbeitsbeschaffung" gestei21 Besprechung Brünings mit den westdeutschen SchwerindustrielIen vorn 18. 8. 1931, AdR, Brüning, Nr. 447, S. 1577. 22 Vgl. M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk, S. 242 ff. 23 Vgl. Reusch an Poensgen, 27. 8. 1931, Haniel Archiv 400101290 / 32a. Die Besprechung fand am 24. 8. 1931 statt. 24 Ebd. Das Festhalten Reuschs an der Deflationspolitik erstreckte sich auch auf die Geldpolitik. Anders als die meisten westdeutschen SchwerindustrielIen hielt er das Handeln Luthers nach der Bankenkrise für "richtig und zweckmäßig". Vgl. Reusch an Luther, 15.8.1931, Haniel Archiv, 400101290 / 30a. 25 Vgl. Reusch an Poensgen, 27. 8. 1931, Hanie1 Archiv, 400101290/ 32a. Am 26. August rief Vögler wegen der Reichsbahnaufträge Reusch an. Die bei den vereinbarten, nicht die Regierungsvertreter aufzusuchen, sondern lediglich einen Brief an Trendelenburg zu richten. An dem tatsächlich abgefassten Brief ist jedoch erkennbar, daß sich das Telefonat auch auf die allgemeine Wirtschaftspolitik erstreckte.

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gert werden könne, wobei er zu den sinnvollen Arbeitsbeschaffungsprojekten die Reichsbahnaufträge, das Russengeschäft, den Wohnungs- und Straßenbau und den Ausbau der Ferngasversorgung zählte?6 So entschieden er für die staatliche Arbeitsbeschaffung eintrat,27 so sehr kehrte er bei der Darlegung der gegen die Arbeitslosigkeit zu ergreifenden sozial- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Orthodoxie zurück und forderte zur Dämpfung der Kostenexplosion eine Senkung der Produktionskosten mithilfe der Auflockerung des Tarifrechts,28 der Aufhebung des Schlichtungswesens, einer sparsamen Finanzpolitik und der Reform des Sozial versicherungssystems. "Ich bin der festen Überzeugung, daß in den obigen Maßnahmen (den verschiedenen Reformen) die alleinige Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liegt. Wenn damit zu gleicher Zeit große wirtschaftlich richtige Arbeitsgebiete (die verschiedenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) in Angriff genommen werden", fuhr Vögler fort, "so wird der Erfolg unschwer eintreten". Daraus ging deutlich hervor, daß die zwei gegensätzlichen Vorstellungen über die Konjunkturankurbelung in einer Denkschrift vertreten wurden, als wären sie problemlos miteinander zu vereinbaren: die Forderungen einer antizyklischen und expansiven Konjunkturpolitik zusammen mit dem Verlangen nach einer prozyklischen und kontraktiven Konjunkturpolitik; die Forderung nach dem Staatsinterventionismus zusammen mit dem Postulat der Befreiung der Wirtschaft von staatlichen Eingriffen. Letztlich beruhten die Widersprüche der Denkschrift wohl hauptsächlich darauf, daß Vogler mit der Umsetzung der gewerkschaftsfeindlichen und antiparlamentarischen Reformvorstellungen in den Bereichen der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik die Chance erblickte, ohne große politische Widerstände zugleich einen konjunkturellen Aufschwung in Gang zu setzen, ohne daß er selbst über ein geschlossenes wirtschaftspolitisches Konzept verfügte. Bei anderer Gelegenheit, etwa in den Besprechungen mit Brüning am 31. Juli 29 und am 18. August 1931, forderte er nicht nur eine expansive Konjunkturpolitik, sondern, wenn auch mit unverkennbar geringerem Nachdruck, eine radikale Lohnsenkung. Brüning versicherte in seinen Memoiren, daß Vogler verschiedene Ziele gleichzeitig verfolgt habe: "Durch Inflation Senkungen der inneren Schulden und durch Einstellung der Zinszahlung nach außen praktische Streichung der Auslandsschulden". "Deshalb wurde Geld hinausgeworfen für die Rechtsparteien", fuhr Brüning fort, "um eine Regierung zu schaffen, die beides durchführen und gleichzeitig die Arbeiter völlig entrechten

Vgl. Vögler an Trendelenburg, 27.8. 1931, Krupp Archiv, FAH 4 E 915. Um seiner Forderung nach Arbeitsbeschaffung Nachdruck zu verleihen, berief Vögler sich auf die Äußerungen des Reichsfinanzministers Dietrich. Vgl. ebd. 28 In Bezug auf die Auflockerung des Tarifrechts unterbreitete Vögler einen konkreten Vorschlag. Er regte an, für eine befristete Übergangszeit von etwa drei Jahren neben einem Tariflohn, der höchstens 60% der derzeitigen Lohnsätze betragen sollte, weitere Lohnzuschläge in freier Vereinbarung auf einzelbetrieblicher Ebene festzulegen. Vgl. ebd; B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln", S. 313. 29 Vgl. Besprechungen mit Wirtschafts sachverständigen vom 31. 7. 1931, AdR, Brüning, Nr. 424, S. 1483 f.; Tagebucheintragung Schäffers vom 31. 7. 1931, HZ, ED 93 /12. 26 27

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sollte".3o Daraus wird ersichtlich, daß Vogler und andere Schwerindustrielle eine autoritäre Lösung der Regierungskrise befürworteten. 31 Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise, am 15. und 16. Juli 1931, trat das Präsidium des RDI dreimal hintereinander zu Sondersitzungen zusammen. 32 Neben den Fragen des Moratoriums der Inlands- und Auslandsschulden und des Devisenverkehrs stand im Mittelpunkt der Gespräche die Frage, wie man die "ganz außerordentliche Deflation" bekämpfen solle. 33 Die Auffassung der Führung des RDI verdeutlichte Silverberg in der gemeinsamen außerordentlichen Sitzung des Präsidiums und des Vorstands vom 29. Juli 1931. 34 Zunächst sprach er sich in seinem Referat dafür aus, das Problem der Hamsterung des Geldes und die Bekämpfung der Deflation durch die Ausweitung der Geldmenge anzugehen, "bis sie wieder mit der eigenen Volkswirtschaft ins Gleichgewicht gebracht worden ist". Die Geldpolitik der Reichsbank sollte sich also nicht bloß auf einen Ausgleich der Schrumpfung der Geldmenge beschränken, sondern einen konjunkturellen Impuls auf dem Gütermarkt auslösen. Diese monetaristische Auffassung fand auch Eingang in die Eingabe, die der RDI am 25. Juli 1931 gemeinsam mit den anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft an die Reichsregierung richtete. 35 Darin stellte man die Erhöhung der Geldmenge, die "im Wege der Anwendung aller durch das Bankgesetz gegebenen Möglichkeiten" angestrebt werden solle, als Mittel dar, um gefährdete Betriebe zu retten und die Arbeitslosigkeit in Schach zu halten. 36 Als Pünder die Forderungen nach Erhöhung der Geld- und Kreditmenge als ein inflationistisches Verlangen brandmarkte 37 , entgegnete ihm KastI, daß die Vorstellung der Wirtschafts verbände dahin gehe, "die leistungsfähigen Arbeitsstätten zu erhalten, um die vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten nicht einzuschränken, sondern auszuweiten,,?8 Ausgehend von den Erörterungen der verschiedenen Gremien des RDI vom Juli 1931 verfaßte Kastl Mitte August eine Denkschrift, die am 19. August 1931 an 30 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 443. Vgl. zu dem von der westdeutschen Schwerindustrie im September 1931 forcierten Kampf gegen das Tarifrecht im Ruhrbergbau, der u.a. von Reusch, Vögler, Krupp, Klotzbach, Poensgen und Ernst Brandi unterstützt wurde, R. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1919-1933 Berlin 1986, S. 409 ff. 31 Vgl. R. Neebe, Die Großindustrie, S. 131 f. 32 Vgl. Geschäftsmitteilung des RDI, 21. 7. 1931. 33 Das Präsidium des RDI sprach sich für ein vorübergehendes Auslandsmoratorium aus; über Sinn und Ausgestaltung eines Innenmoratoriums waren die Meinungen geteilt. Vgl. Rundschreiben des RDI, 16.7. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 262, S. 262 f. 34 Vgl. Aufzeichnung über das Referat Silverbergs in der Präsidial- und Vorstandssitzung vom 29. 7. 1931, BAK, NL Silverberg, 32. 35 Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 112 f.; R. Meister, Die große Depression, S. 322. 36 Vgl. ebd.; Die gemeinsame Eingabe des RDI, CVDB, DIHT, HDGB, 25.7. 1931, BAK, R 43 1/2372. 37 Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 113; Pünder an Kasti, 6.8. 1931, ebd. 38 Vgl. ebd; Kastl an Pünder am 14. 8. 1931, ebd.

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Brüning geschickt wurde. Anlaß ihrer Entstehung war offenbar das Erfordernis einer klaren Linie der Verbandsführung für eine mittelfristige Perspektive der Wirtschaftspolitik,39 zumal nach der Normalisierung des Zahlungsverkehrs eine Festlegung der nächsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen durch die Reichsregierung in absehbarer Zeit erwartet wurde. Außerdem ist davon auszugehen, daß Kastl in dieser Denkschrift die wirtschaftspolitischen Konzeptionen, die in den bisherigen internen Diskussion des Verbandes vertreten worden waren, ohne große Verzerrung wiederzugeben versuchte. Da das gute Verhältnis zwischen Reichsregierung und Großindustrie, das während der Bankenkrise entstanden war, noch anhielt, mußte er auf das Kabinett Brüning keine besondere Rücksicht nehmen. Kastl bezeichnete die Denkschrift als ein "Programm der deutschen Selbsthilfe".4o Diese Kennzeichnung deutete auf eine primär binnen wirtschaftliche Orientierung hin. Zu Beginn stellte Kastl fest, daß der Schrumpfungsprozeß der deutschen Wirtschaft "nicht mehr auf einem natürlichen Ausleseprozeß" beruhe und daß der Erfolg des "Selbsthilfeprogramms" davon abhänge, "die Arbeitsstätten zu erhalten und zu vermehren". Deshalb sei eine weitere Verschärfung der Deflationspolitik sinnlos. Stattdessen solle eine aktive Konjunkturpolitik betrieben werden, die vor allem "eine verständnisvolle Erhaltung und Ausweitung der Kreditmöglichkeiten für die private Wirtschaft" zum Inhalt haben müsse. Dieser Aspekt trat in einer Besprechung der Verbandsführung mit Brüning am 18. September 1931 noch deutlicher hervor, in der Frowein gegenüber dem Reichskanzler den Anlaß für die Ausarbeitung der Denkschrift Kastls erläuterte. Er drückte unmißverständlich aus, "daß durch entsprechende innerwirtschaftliche Maßnahmen, die bei Gott nicht den Charakter inflatorischer Art haben dürften, das Kreditvolumen erweitert werden müsse".41 Ohne die Kreditausweitung verkümmere die Wirtschaft, und der Schrumpfungsprozeß nehme ein Ausmaß an, "das in keiner Weise durch die Konjunkturlage begründet sei". Frowein erklärte lapidar, daß "ein deutsches Selbstprogramm" ohne die Erhöhung der Geldmenge unmöglich sei. In der Denkschrift vom 19. August 1931 zählte Kastl zum aktiven Konjunkturprogramm auch die Arbeitsbeschaffung. Neben dem Wohnungsbau sollten vor allem Aufträge der öffentlichen Betriebe wie der Reichsbahn und der Reichspost das gesamtwirtschaftliche Auftragsvolumen erhöhen. Kastl stand dabei der multiplikatorische Effekt der Arbeitsbeschaffung deutlich vor Augen. Er glaubte, daß die für die Arbeitsbeschaffung erforderlichen Summe nicht hoch sein müsse, "weil sich die Wirkung erweiterter Bestellungen an die private Wirtschaft automatisch vervielfältigt". In vielen Industriezweigen müsse "eine geringe Verminderung" der Kapazitätsauslastung wegen 39 Kastl bezeichnete die Denkschrift als "ein Programm für die nächsten 6 Monate". Vgl. Aufzeichnung über die Stellungnahme des RDI zu der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschafts lage, Kastl an Brüning, 19. 8. 1931, BAK, R 43 1/2373. Zur Denkschrift vgl. auch Meister, Die große Depression, S. 324 f. 40 Vgl. ebd. 41 Niederschrift über die Besprechung vom 18.9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 317, S. 969.

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der dementsprechenden Erhöhung der fixen Kosten zur Stillegung der Betriebe führen, während "eine geringe Vermehrung" des Beschäftigungsgrades der Anlagen nicht nur zur Aufrechterhaltung der Betriebe, sondern auch zur "allgemeinen Belebung" der Wirtschaft führen könne. Die Arbeitsbeschaffung sollte also den konjunkturellen Umschwung wesentlich initiieren. Es ist jedoch irreführend, wenn man die Denkschrift Kastls nur als Programm einer expansiven Konjunkturpolitik interpretiert. Denn es findet sich in seiner Schrift ein ebenso klares Bekenntnis zur Deflationspolitik bzw. zu den sozial- und finanzpolitischen Prioritäten. Kastl sah "die primäre Aufgabe" der deutschen Selbsthilfe in der Preis- und Lohnsenkung. In der Besprechung mit Brüning am 18. September 1931 legte auch Frowein ein deflationistisches Glaubensbekenntnis ab: "Dasjenige Land, das am ersten aus dem internationalen Preisverfall nicht bloß in den eigenen Preisen, sondern auch in der Gestaltung seiner Selbstkosten die Konsequenzen ziehe, das Land werde auch am ehesten in der Lage sein, dem Verfall zu entgehen und eine gesunde Grundlage für die zukünftige Wirtschaftsgestaltung zu schaffen".42 Kastl formulierte in seiner Denkschrift die deflationistischen, antigewerkschaftlichen und zentralistischen Reformforderungen konkreter als zuvor. Eine Ausgabensenkung der öffentlichen Hand in Höhe von 2 Mrd. RM sei das Mindestmaß, dementsprechend sei die Wirtschaft steuerlich zu entlasten. Die Reichs- und Verwaltungsreform müsse, wenn sie nicht im Wege einer Notverordnung zustande zu bringen wäre, durch entsprechende Verträge zwischen dem Reich und den Ländern vorbereitet werden. Desgleichen sei es dringend geboten, von der Reichsebene aus eine Finanzordnung für die Kommunen zu schaffen, die zwingende Bestimmungen über die Finanzkontrolle der Gemeinden enthalten müsse. Überdies sei das Versicherungsprinzip bei der Arbeitslosenversicherung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch die Lockerung des Tarifrechts sollten einzelbetriebliche Lohnvereinbarungen ermöglicht und schließlich auch das staatliche Schlichtungswesen beseitigt werden, um die Selbstkosten der Betriebe weiter zu flexibilisieren. Bei der Denkschrift Kastls findet man also dieselbe Ambivalenz, die die Denkschrift Vöglers charakterisierte, allerdings diesmal stärker unter deflationspolitischem Vorzeichen. Dies ergab sich wohl aus der Notwendigkeit, die verschiedenen Vorstellungen innerhalb des RDI zusammenzufassen. In der Tat hob die Geschäftsführung des RDI in einem Rundschreiben vom 20. August 1931 hervor, daß die Denkschrift alle Forderungen enthalte, die bis dahin intern vertreten worden seien 43 und kann somit als Zusammenfassung der verschiedenen verbandsinternen Auffassungen angesehen werden. Kastl hatte die Denkschrift offenbar zwar aus eigener Initiative verfasst, erhielt aber nachträglich die Billigung durch das Präsidium in der Sitzung vom 2. September 1931. 44 Ebd. Vgl. Rundschreiben des RDI, 20. 8. 1031, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 293, S.916. 44 Über den Verlauf dieser Sitzung ist in den gesichteten Akten lediglich eine Bemerkung Springorums zu fil1den, daß die Sitzung "wieder mit endlosen Erörterungen über Dinge" ver42

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Kurz darauf, am 21. September 1931, führte Kastl ein Gespräch mit Hans Schäffer über dessen in enger Anlehung an die keynesianisch orientierten Auffassungen Wilhelm Lautenbachs entstandenen Denkschrift, deren Grundgedanken er als "zutreffend" bezeichnete. 45 In seinem Referat auf der Vorstands sitzung des RDI am 25. September 1931 ging Kastl dann relativ ausführlich auf Lautenbachs Auffassungen ein und würdigte besonders die darin enthaltenen Forderungen einer staatlich induzierten Nachfragebelebung. 46 Neben dieser grundsätzlichen Zustimmung fielen die Unterschiede in der Frage der Finanzierung der Arbeitsbeschaffung Kastl regte eine steuerfreie Reichsanleihe an, während Lautenbach eine Inanspruchnahme der Reichsbank in Aussicht stellte - kaum ins Gewicht. Dies verdeutlicht, daß Kastl in einer expansiven Konjunkturpolitik die Chance eines konjunkturellen Umschwungs sah. Daß er trotzdem in seiner Denkschrift den deflationistischen Auffassungen eine genauso große Bedeutung wie den expansiven Ansätzen zuteil werden ließ, war schließlich auf seine Taktik zurückzuführen, einen konjunkturpolitischen Kurswechsel einzuleiten, ohne die Deflationisten in den eigenen Reihen zu brüskieren oder eine öffentliche Auseinandersetzung zu provozieren. Gegenüber Schäffer, der eine positive Umsetzung seines Konjunkturprogramms bezweifelte, da man den Plan bereits als inflationistisch gebrandmarkt habe, verriet Kastl seine Taktik: Man müsse "die Sache tun, ohne sie zu verkünden".47 Der Aufbau seiner Denkschrift folgte dieser Taktik, indem Elemente der expansiven Konjunkturpolitik in eine deflationistische Argumentation eingebettet worden waren. 48

So wurde die Kreditausweitung als Element zur Senkung der Kreditkosten, die Belebung des Wohnungsbaumarktes als Ergebnis der Beseitigung der Hauszinssteuer und selbst der Silverberg-Plan als Bestandteil der Gemeindepolitik dargestellt. Deshalb erweckte die Denkschrift den Eindruck, bloß die bekannten deflationistischen Vorstellungen zu wiederholen. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch dabei um neuen Wein in alten Schläuchen. Ein sorgfältiger Leser wie Gilsa konnte schnell herauslesen, worum es sich handelte. Seinem Gewährmann Reusch berichtete er, daß Kastl durch die Kreditausweitung und die öffentliche Arbeitsbeschaffung "die Schäden der derzeitigen Deflation abschwächen" wolle. 49 Diese Zielsetzung konnte auch der Reichregierung nicht verborgen bleiben.

lief, "die im Augenblick nicht zu ändern sind". Trotzdem kann man von einer nachträglichen Billigung ausgehen, weil aus dem Kommentar Springorums auf eine Grundsatzdebatte des Präsidiums über den wirtschaftspolitischen Kurs zu schließen ist, und weil keine Kritik an der Denkschrift Kastls erwähnt worden ist. Vgl. Springorum an Winkhaus, 4. 9. 1931, Hoesch Archiv, B 1 a 51. 45 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 21. 9.1931, HZ, ED 93/14. 46 Vgl. Niederschrift über die Vorstadssitzung des RDI vom 25.9. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4. Kastl ließ unklar, ob er die Denkschrift Lautenbachs oder Schäffers meinte, als er auf eine "Denkschrift eines höheren Ministerialbeamten" hinwies. 47 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 21. 9. 1931,112, ED 93/14. 48 Kastl betonte in seiner Denkschrift ausdrücklich, daß sein "Selbsthilfeprogramm" mit den Wirtschaftsprogrammen des RDI von 1925 und 1929 in einer Kontinuität stehe. 49 Vgl. Gilsa an Reusch, 27. 8.1931, Haniel Archiv, 400101293/4b.

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Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise plädierte auch der DIHT für die Wiederausgabe der Rentenmark 50 und unterbreitete zugleich den Vorschlag, Scheidemünzen in Höhe von 1 Mrd. RM in Umlauf zu bringen. 51 Die Verbandsführung glaubte, die Erhöhung der Geldmenge aufgrund der Verlangsamung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verantworten zu können. 52 So eindeutig die Befürwortung der Erhöhung der Geldmenge durch den DIHT ausfiel, so sehr sah sich der Verband nach der Normalisierung des Zahlungsverkehrs einem heftigen internen Disput über den konjunkturpolitischen Kurs ausgesetzt. Am 26. August 1931 traf der Kreditausschuß des DIHT zu einer Sitzung zusammen. Der Sitzungsverlauf zeigte, daß die Mehrheit der Ausschußmitglieder, allen voran Bernhard Grund, der Vizepräsident des DIHT, Heinrich Jucho, der Präsident der IHK Dortmund und der Kasseler Unternehmer Pfeiffer für eine expansive Geldpolitik optierte. Jucho unterbreitete den Vorschlag, über den Weg der Umschuldung der "privaten Schulden" Obligationen auszugeben, mit denen die Banken sich bei der Reichsbank Geld beschaffen sollten, was sicherlich zu einer erheblichen Geldmengenerhöhung hätte führen können. 53 Die Einwände gegen die Geldmengenerhöhung fielen jedoch genauso deutlich wie die Plädoyers dafür aus. Georg Solmssen von der Dedi-Bank lehnte den Vorschlag Juchos kategorisch ab und forderte, daß sich die Wirtschaft der gesunkenen Geldmenge anpassen solle. Diese Einstellung unterstützte Joachim Tiburtius von der IHK Berlin, als er betonte, "nichts wäre verkehrter", als von einer allgemeinen Kreditausweitung zu sprechen. 54 Da sich die Deflationisten und die Expansionisten mit einem kleinen Übergewicht der Befürworter der Kreditausweitung in etwa die Waage hielten, war Hamm gefordert, die Meinungen des Kreditausschusses auf die von der Verbandsführung gewünschte Linie zu bringen. Beiden Lagern gleichermaßen Rechnung tragend, machte er indes aus seiner Sympathie für die Expansionisten keinen Hehl, als er die Reichsbank aufforderte, die Geldpolitik nicht bloß von dem Umfang der in Umlauf befindlichen Reichsbanknoten, sondern "überwiegend" von der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, der Hortung der Noten und vom Volumen der Gütererzeugung abhängig zu machen. Das Beratungsergebnis des Kreditausschusses übermittelte Hamm an die Reichsregierung und die Reichsbank55 und arbeitete auf dessen Grundlage zugleich eine "Stellungnahme zur gegenwärtigen Wirtschaftslage und den wirtVgl. Rundschreiben des DIHT, 15.7. 1931, Haniel Archiv, 40010123/33a. Vgl. Protokoll über die Vorstandssitzung des DIHT vom 21. 7. 1931, BAK, NL Silverberg, 640. 52 Vgl. DIHT an Dietrich, Trendelenburg und Luther, undatiert, vermutlich die zweite Hälfte des Monats Juli 1931. BAK, NL Silverberg, 640. 53 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Kredit-, Geld- und Bankwesen vom 26.8. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 8, S. 20. 54 Vgl. ebd., S. 23. 55 Vgl. Hamm an die Reichsregierung und die Reichsbank, 27. 8. 1932, BAK, R 43 I / 659. 50 51

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schaftspolitischen Erfordemissen,,56 für die Vorstands sitzung und die Hauptausschußsitzung des DIHT vom 10. September 1931 aus. Daß Hamm dabei gezielt auf eine Parteinahme des DIHT für die expansive Konjunkturpolitik hinarbeitete, ist auch aus der ungewöhnlich harten Kritik Reuschs an dem Entwurf der Stellungnahme zu schließen. An dem vorsichtigen Stil, der sich aus dem Lavieren zwischen den gegensätzlichen Fronten ergab, bemängelte Reusch, daß Hamm allzu milde Worte gebraucht habe. Reusch drängte Hamm, der Reichsregierung nahezulegen, "daß der starke Schrumpfungsprozeß der Wirtschaft als ein vorläufiger Dauerzustand betrachtet werden muß und infolgedessen Reich, Länder und Stadt in ihren Aufgaben und Organisationen diesen Schrumpfungsprozeß in vollem Maße mitmachen müssen".57 Unbeeindruckt legte Hamm dem Vorstand einen nur geringfügig veränderten neuen Entwurf vor. 58 Der Hauptunterschied zu seinen früheren Äußerungen lag darin, daß Hamm nun die Ausweitung der öffentlichen Aufträge besonders hervorhob und sich diesbezüglich auf die Denkschrift von Wilhelm Lautenbach berief, der ebenfalls den Effekt der Initialzündung staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen betonte. 59 Obgleich Hamm in der Hauptausschußsitzung vom 10. September 1931 den Deflationisten Rechnung trug, indem er jegliche "Währungskunststücke" ablehnte, für Preissenkungen eintrat und die antigewerkschaftlichen und zentralistischen Reformen in der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik befürwortete, zeigte sich doch, daß er der Arbeitsbeschaffung Vorrang einräumte. Die Arbeitsbeschaffung betrachtete er als die gegenwärtige Hauptaufgabe, während er die sozial- und finanzpolitischen Reformen als "einen langwierigen Weg" zur Senkung der Arbeitslosigkeit ansah. 60 Als sich die Aussprache im Anschluß an das Referat Hamms auf die Zurückweisung der Finanzierung der Arbeitsbeschaffung durch die Kreditschöpfung der Reichsbank zuspitzte, bediente sich Hamm nochmals Lautenbachs Argument, daß nur ein kleiner Teil der der Arbeitsbeschaffung zugeführten Zahlungsmittel nach Abschluß der Arbeitsbeschaffungsvorhaben weiterhin im Umlauf bleiben werde und daß relativ kleine Finanzmittel zur Initialzündung ausreichten und von der Arbeitsbeschaffung daher keine Gefahr für die Währung drohe. 61 Obwohl Hamm selbst in einem Brief vom 12. September 1931 die Reichsregierung aufforderte, einen Schlußstrich unter die Deflationspolitik zu 56 Zur gegenwärtigen Wirtschafts lage und den wirtschaftspolitischen Erfordernissen, 29. 8. 1931, Haniel Archiv, 400 10123/ 25b. 57 Reusch an Hamm, 2. 9.1931, Haniel Archiv, 40010123 /25b. 58 Vgl. Hamm an Reusch, 7. 9. 1931, ebd. 59 Hamm erwähnte Lautenbach nicht namentlich, sondern legte bloß dar, daß "von beachtlicher Seite" der Vorschlag gemacht worden sei. Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des DIHT vom 10.9.1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 9, S. 23 60 Hamm führte aus: "Viel näher scheint es zu liegen, produktive Arbeitsgelegenheit unmittelbar zu schaffen. Man sieht Arbeitskraft, ja Arbeitshunger, Sachbedarf, Rohstoffe nebeneinander vorhanden. Wie sollte es nicht möglich sein, das zu produktiver Arbeit zusammenzuführen? Ist es wirklich unvermeidbar, daß das an nichts anderem als an Mangel an Geld, also einem von der Rechtsordnung geschaffenen Hilfsmittel scheitern muß?" Vgl. ebd., S. 45. 61 Vgl. ebd., S. 72.

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ziehen und "den toten Punkt" des konjunkturellen Abschwungs durch staatliche Maßnahmen zur Wirtschaftsbelebung zu überwinden,62 zeichnete sich in dem Verlauf der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 10. September 1931 deutlich ab, daß dieser sich im Vergleich zum RDI und der westdeutschen Schwerindustrie gegenüber einer expansiven Konjunkturpolitik Zurückhaltung auferlegte, was wohl auf die Zusammensetzung des Verbandes zurückzuführen war. Für die Banken, den Handel und die mittelständischen Unternehmen, die im DIHT überdurchschnittlich vertreten waren, stellte die Stabilität der Währung aufgrund ihrer Auslandskontakte und ihrer Erfahrung mit der Hyperinflation von 1923 die wichtigste Grundlage für ihre Geschäfte dar. Trotz der Zurückhaltung des DIHT trat die Industrie in dem Zeitabschnitt von Juli bis Mitte September 1931 in ihrer überwiegenden Mehrheit für eine expansive Konjunkturpolitik ein. Da der Liquditätsmange1 zu dieser Zeit die prägende Erscheinung der Depression war, kreisten die konjunkturpolitischen Vorstellungen der Industrie in erster Linie um eine expansive Geldpolitik, wobei die Aufrechterhaltung einer stabilen Währung, abgesehen von den Wahrungsexperimente nicht scheuenden Schwerindustriellen, die unerläßliche Voraussetzung für die Geldmengenerhöhung bildete. Anders als die westdeutsche Schwerindustrie, die seit Mitte Juli 1931 staatlicher Arbeitsbeschaffung ebenso großes Gewicht wie monetärer Expansion beimaß, stellten die Führungen des RDI und des DIHT seit Ende August 1931 die Arbeitsbeschaffung in den Vordergrund ihrer konjunkturpolitischen Überlegungen, wobei die Denkschrift Lautenbachs als theoretische Grundlage diente. Der sich allmählich in den Reihen der Industrie durchsetzende wirtschaftspolitische Kurswechsel von der kontraktiven zur expansiven Konjunkturpolitik konterkarierte das Konzept des Reichskanzlers, dessen konjunkturpolitische Vorstellungen und politische Prioritätensetzung durch die Bankenkrise im Sommer 1931 kaum beeinflußt wurden. Die Bankenkrise bestärkte Brüning vielmehr in der Überzeugung, daß die deutsche Wirtschaftskrise eine Folgeerscheinung der vorherigen Aufblähung der Wirtschaft sei. Er wies mehrmals darauf hin, daß die Wirtschaft zum großen Teil "auf Sand gebaut" und "überkapitalisiert" sei. 63 Folgerichtig beharrte er darauf, daß die Deflationspolitik fortgeführt werden müsse, bis das Preisniveau seinen Tiefstand erreiche und der Konsum wieder zu wachsen beginne. 64 Zugleich hielt er jedoch an der von ihm bereits vor der Bankenkrise vertretenen Auffassung fest, daß bei der Deflationspolitik ab einem gewissen Punkt "haltgemacht" werden müsse, weil sie sonst bloß zur Schrumpfung der Einnahmen der öffentlichen Hand und zur Zurückhaltung bzw. Einschränkung des Konsums führe. Deshalb lautete die wirtschaftspolitische Devise der Reichsregierung nach der NorVgl. Hamm an Brüning, 12.9.1931, BAK, R 2/13412. Vgl. Besprechung Brünings mit Vertretern des RDI vom 18.9.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 317, S. 971; AdR, Brüning, Nr. 475, S. 1700 f; Besprechung mit Wirtschaftssachverständigen vom 31. 7.1931, AdR, Brüning, Nr. 424, S.1483 f. 64 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über eine Besprechung mit den Wirtschaftssachverständigen vom 31. 7.1931, HZ, ED 93/12. 62 63

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malisierung des Zahlungsverkehrs: "organische Gestaltung der Deflation in der gesamten privaten und staatlichen Wirtschaft bis zu einem gewollten Punkt".65 Die Absicht Brünings, die Deflationspolitik nur "bis zu einem gewollten Punkt" fortzuführen, diente weniger dem Ziel, die Wirtschaftskrise zu überwinden, als der Realisierung seiner politischen Ziele, nämlich die Streichung der Reparationen und die Reichsreform. In der Tat fanden seine Bemühungen, durch die Aufnahme von Auslandsanleihen oder das Prolongieren der kurzfristigen Auslandsschulden die Liquditätsknappheit der Wirtschaft zu beheben, ihre Grenze in der Reparationspolitik: Brüning machte Ende Juli 1931 gegenüber der französichen Regierung unmißverständlich klar, die dringend benötigten Anleihen auf keinen Fall mit dem Verzicht auf die Revision des Young-Plans erkaufen zu wollen;66 er nahm trotz der ausdrücklichen Warnungen Luthers Lücken bei dem Stillhalteabkommen über die Auslandsschulden bewußt in Kauf,67 um die Position Deutschlands in der Reparationsfrage zu stärken. 68 Desgleichen stellte Brüning die Deflationspolitik in den Dienst der Reichsreform: Die Notwendigkeit des Etatausgleichs bot sich als Vorwand an, mit der Dietramszeller NotVO vom 24. August 1931 in die verfassungsrechtliche Struktur der Länder einzugreifen;69 das mit der Sparkassen-NotVO vom 5. August 1931 den Sparkassen auferlegte Verbot der Kreditgewährung an die Gemeinden wurde gleichfalls mit dem Zwang zur Ausgabensenkung gerechtfertigt. 7o 65 So lautete der erste Tagesordnungspunkt der Ministerbesprechung vom 3. 8. 1931, an der Vertreter der preußischen Regierung, der Banken und der Industrie teilnahmen. V gl. AdR, Brüning, Nr. 427, Anm. 2, S. 1503. 66 V gl. H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 397. 67 Luther wünschte sich mit Rücksicht auf den Devisenbestand der Reichsbank, die ab 13. Juli 1931 fälligen Kredite in das Stillhalteabkommen einzuschließen, während die Vertreter der ausländischen Gläubiger den Stichtag auf den 31. Juli 1931 setzen wollten, was die Rückzahlung von I Mrd. RM bedeutete. Außerdem wurden nach dem Wunsch der Gläubigervertreter die kurzfristigen Schulden der öffentlichen Hand und die Saisonkredite von der Stillhaltung ausgeschlossen. Luther ließ sich letzen Endes durch das reparationspolitische Argument Brünings überreden. Vgl. K. E. Born, Die deutsche Bankenkrise, S. 147. 68 Das Wiggin-Komitee machte die Unterzeichnung seines Berichts, der die Unmöglichkeit, nach dem Ablauf des Hoover-Moratoriums den Young-Plan wieder voll in Kraft zu setzen, klar herausstellte, von der deutschen Zustimmung zum Stillhalteabkommen abhängig. Trotz einiger Lücken bot das Stillhalteabkommen der Reichsregierung das Mittel an, die ausländischen privaten Schulden gegen die Reparationsschulden auszuspielen. Brüning schrieb in seinen Memoiren, daß das Prolongieren der ausländischen Schulden eine "stärkere Waffe als eine Million Reichswehrsoldaten" gewesen sei. Vgl. W. Helbich, Die Reparationen, S. 70 u. 85; H. Brüning, Memoiren, S. 492; H. Mommsen, Die verspielte Freiheit, S. 398 f. 69 Vgl. H. Mommsen, Staat und Bürokratie, S. 107; H. Brüning, Memoiren, S. 372. 70 Die Taktik Brünings, durch dieses Kreditverbot den finanzpolitischen Spielraum der Gemeinden einzuengen, wurden von Luther tatkräftig unterstützt. Dieser machte die Rediskontzusage der Reichsbank an die in die Illiquidität geratenen Sparkassen vom Erlaß der Sparkassen-Notverordnung abhängig. Vgl. Aufzeichnung über die Sitzung des Reichsbankdirektoriums vom 4. 8. 1931, BAK, NL Luther, 336; RGBI, 1931 (I), S. 429. Die Strategie Brünings, die Länder durch die finanzielle Aushöhlung zum Verzicht auf ihre Souveränitat zu zwingen, erwies sich als wirkungsvoll. Ende September 1931 schlug die hessische Regierung

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Um die Deflationspolitik zielstrebig fortzuführen, hielt es Brüning für notwendig, sich gegen die Forderungen der Industrie nach Kreditausweitung und Arbeitsbeschaffung zu wehren bzw. diese zu neutralisieren. Dafür wandte er die Taktik an, die er sich in den Verhandlungen mit den Bankiers und den Industriellen während der Bankenkrise angeeignet hatte, nämlich die Industriellen gegeneinander auszuspielen, wie er es in seinen Memoiren geschildert hat: "Wenn man die Leute reden ließ, konnte man durch eine geschickt geführte Debatte den Anwesenden vordernonstrieren, daß sie alle überhaupt keine Pläne hatten".71 Ende Juli und Anfang August 1931 bot Brüning Industriellen und Vertretern der preußischen Regierung an, ihre Meinungen zur Wirtschaftspolitik zu äußern,n wobei er nicht Vertreter der Industrieverbände einlud, sondern Einzelpersonen, die ihm politisch besonders nahestanden und zugleich einflußreich waren. So beteiligten sich Albert Vogler, Paul Silverberg, Hermann Schmitz, Hermann Warmbold, Hermann Bücher, Carl Josef Me1chior, Bernhard Dernburg, Otto Braun, Carl Severing, Hermann Höpker-Aschoff und Rudolf Hilferding an den Besprechungen vom 31. Juli und 3. August 1931, die den Charakter einer Generaldebatte über die bevorstehenden wirtschaftspolitschen Entscheidungen trugen und die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Industrievertretern und dem Reichskanzler bestätigten. Die überwiegende Mehrheit der beteiligten Industriellen optierte für eine expansive Konjunkturpolitik: Schmitz verlangte eine binnenmarktorientierte Konjunkturpolitik, die in erster Linie geldpolitisch zu bewerkstelligen seC 3 ; Me1chior stimmte einer binnen wirtschaftlichen Orientierung zu, solange ein Zeitraum von etwa 3 bis 6 Monaten nicht überschritten werde; Vogler teilte ebenfalls die Auffassung Schmitz' hinsichtlich einer notwendigen Akzentverschiebung der Wirtschaftspolitik auf den Binnenmarkt und glaubte, die Überkapazitäten der Unternehmen durch die Arbeitsbeschaffung verringern zu können; Dernburg betrachtete dem Reich vor, das Land Hessen zu übernehmen, woraufhin Schäffer einen Notverordnungsentwurf für die Übernahme des Landes abfaßte. Dies scheiterte an Brüning, der abwarten wollte, bis sich die Entparlamentarisierung der Länder vollzog. Vgl. Tagebucheintragungen Schäffers vom 21. u. 30. 9. 1931, HZ, ED 93 / 14; Tagesbericht Luthers vom 26. 9. 1931, BAK, NL Luther, 366; H. Mommsen, Staat und Bürokratie, S. 107. 71 Brüning, Memoiren, S. 457. 72 Diese Besprechungen zwischen der Reichsregierung, der preußischen Regierung und den Industriellen sind ein Zeugnis für den ,,Alleingang" Brünings als Kennzeichen seiner Regierungspraxis. Schäffer rätselte über die Absicht Brünings. In seiner Tagebucheintragung vom 31. Juli schrieb er: "Was will der Kanzler mit der ganzen Sache? 1) Entweder einen Kandidaten für das Wirtschaftsministerium ? 2) Oder Annäherung zwischen der Wirtschaft und Otto Braun? 3) Oder beweisen, daß alle Diktaturpläne Unsinn sind? 4) Oder sich nachweisen lassen, daß man sich mit Frankreich verständigen muß? 5) Oder alles zusammen? 6) Oder etwas ganz anderes?" IfZ, ED 93 / 12. Zum Regierungsstil Brünings siehe H. Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler: Das Scheitern eines politischen Alleingangs, in: K. Holl (Hg.), Wirtschaftskrise und liberale Demokratie, Göttingen 1978, S. 16 f. 73 Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Akten der Reichskanzlei, Brüning, Nr. 424 u.427, S. 1483 f. u. 1503 f. und den Tagebucheintragungen Schäffers vom 31. Juli und 3. August 1931, IfZ, ED 93 /12 u. 13. 9 Kim

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wie Schmitz die Erhöhung der Geldmenge als geeignete Maßnahme zur Bekämpfung der Depression. Aus seiner Sicht sei eine "Mäßigung der Deflation durch eine gewisse Inflation" kein Fehler. Warmbold unterbreitete den Vorschlag, das Lagerscheinsystem, wie es in der Landwirtschaft üblich war, auf die Industrie anzuwenden, um das Kreditvolumen zu vergrößern. Auf die Waren, die innerhalb eines Jahres verbraucht würden, seien Lagerscheine auszugeben, auf die man von den Banken Kredite erhalten könne. Von den Beteiligten beharrten nur Bücher und Hilferding auf der Fortführung der Deflationspolitik. Nach Auffassung Büchers sollte in erster Linie "die Aufblähung der Wirtschaft" beseitigt werden. 74 Silverberg stellte seinerseits einen Plan vor, der die Erhöhung der Geldmenge mit der kommunalen Umschuldung und einer Kontrolle der Gemeindefinanzen durch eine Zentralstelle auf Reichsebene verband. Die Banken sollten die bei ihnen eingefrorenen kommunalen Schulden in Höhe von 2 Mrd. RM an das Reich übertragen, und zwar gegen Reichsschatzanweisungen mit einer Laufzeit von fünf Jahren und der Verlängerungsmöglichkeit von weiteren drei Jahren, die zunächst nur als Deckung für die Schöpfung des Giralgeldes dienen sollten. Während sich alle Diskussionsteilnehmer über die Notwendigkeiten einer antizyklischen Konjunkturpolitik grundsätzlich einig waren, differierten ihre Meinungen in Fragen der konkreten Umsetzung erheblich. Das Ansinnen von Schmitz, eine von Wirtschaftskommissaren kontrollierte Planwirtschaft aufzubauen, stieß auf den heftigen Widerspruch von Bücher, Me1chior, Dernburg und Brüning. Dem Plädoyer etlicher Industrieller für eine wirtschaftspolitische Belebung des Binnenmarktes widersprach Dernburg: Deutschland könne auf Grund seiner Verflechtung mit der Weltwirtschaft nicht allein aus der Depression herauskommen. Er legte zwar nahe, daß eine geringe Inflation zur Überwindung der Krise führen werde, vertrat aber zugleich die Auffassung, daß dies auf internationaler Ebene durch diplomatische Verhandlungen herbeigeführt werden solle. Vogler befürwortete zwar die Arbeitsbeschaffung, bestand aber zugleich auf einer erheblichen Senkung der Löhne, was sofort auf Einwände von Otto Braun und Brüning stieß. Der Plan Silverbergs erwies sich ebenfalls nicht als konsensfähig. 75 Um den Eindruck zu vermeiden, daß sein Plan ein Inflationsprojekt darstelle, bestand Silverberg darauf, daß ein Handel mit Reichsschatzanweisungen, die für die eingefrorenen Gemeindeschulden an die Banken auszuhändigen seien, nur beschränkt zugelassen werden 74 In seinen Memoiren bezeichnete Brüning Hermann Bücher als denjenigen Industriellen, dessen Anschauungen er am nächsten stand. Vgl. Brüning, Memoiren, S. 370. 75 Der Silverberg-Plan stieß weder bei der Reichsregierung noch bei den Banken auf Gegenliebe. Schäffer sah in dem Plan den Beginn einer Zwangswirtschaft. Die Banken waren ihrerseits nicht bereit, den von der Realisierung des Silverbergschen Konzepts erwarteten Zinsverlust hinzunehmen. Trotzdem wurde der Plan in die Denkschrift des RDI vom 19. August 1931 eingebaut und galt in der Folgezeit als der Umschuldungsplan'des RDI. Vgl. Aufzeichnung über die Stellungnahme des RDI zu der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftslage, Kastl an Brüning, 19. 8. 1931, BAK, R 43 1/2373; Tagebucheintragungen Schäffers vom 8. u. 14.9. 1931, JfZ, ED 93 114; Erinnerung Kastls in der Vorstandssitzung des RDI vom 19.2.1932, BAK, NL Silverberg, 265.

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sollte. Zu dieser Einschränkung kommentierte Demburg: "Silverberg mobilisiert erst, um dann zu immobilisieren", woraufhin Silverberg entgegnete, daß die Schatzanweisungen ,,keine liquiden Forderungen, wohl aber mobile" seien, da man sie nur als Deckung für die Schaffung von Giralgeld benutzen könne. Da es zwischen den beiden Formen jedoch faktisch keinen Unterschied gab, bezeichnete Hilferding den Plan als ein Inflationsprojekt, da es den bedenklichen Versuch unternehme, die kommunalen Schulden durch eine Inflation zu beseitigen. Diesen Bedenken schloß sich Demburg an. Des weiteren stieß das im Silverberg-Plan enthaltene Konzept über die Kontrolle der Gemeindefinanzen durch eine Zentralstelle auf den Widerspruch Brauns und Severings?6 Da die Beteiligten trotz der generellen Tendenz zu einem konjunkturpolitischen Kurswechsel über die zu ergreifenden konkreten Maßnahmen zu keiner Übereinkunft gelangten, konnte Brüning die Besprechungen zu seinen Gunsten nutzen: Unter Hervorhebung der Krisenanfälligkeit der privaten und öffentlichen Wirtschaft und der Verflechtung der deutschen Volkswirtschaft mit der Weltwirtschaft gelang es ihm, seine Deflationspolitik zu verteidigen; mit dem Hinweis auf die krisenverschärfende Wirkung von Lohnsenkungen machte er mit Unterstützung Brauns und Severings den Industriellen zugleich deutlich, daß der Lohnabbau eine Mindestgrenze nicht unterschreiten dürfe; des weiteren wußte er den preußischen Vertretern deutlich vor Augen zu führen, daß nicht nur die Reichsregierung, sondern auch die Industrie eine deutliche Senkung oder gar die Aufhebung der Hauszinssteuer als eine Voraussetzung für Mietsenkungen verlange. Mit Genugtuung über den Verlauf der Debatte am 3l. Juli 1931 vertraute er Schäffer an: "Wenn Wirtschaftler über Allgemeines sprechen, kommt meistens Unsinn heraus" und fügte ironisch hinzu, Schäffer solle "die 'Ergebnisse' der Besprechung in eine Notverordnung bringen".77 Brüning hoffte offenbar, die Industriellen gegeneinander ausspielen und die Forderungen der Großindustrie nach einer expansiven Konjunkturpolitik und schnellen Realisierung der sozial- und finanzpolitischen Reformvorstellungen bis zum Zusammentritt des Reichstages am 13. Oktober hinhalten zu können. 78 Abgesehen von der Antwort Pünders zur gemeinsamen Eingabe der Wirtschaftsverbände vom 25. Juli 1931, reagierte Brüning bzw. die Reichsregierung nicht auf die zahlreichen Eingaben der Wirtschaftsverbände in diesen Monaten. Wenn Brüning durch den Besuch einer Industriedelegation direkt mit ihren 76 In einern Ende August 1931 erschienenen Aufsatz änderte Silverberg sein Konzept dahingehend, daß die Entscheidung bezüglich des Handels mit Reichsschatzanweisungen abgewartet werden solle. Des weiteren konkretisierte er die Finanzkontrolle gegenüber den Gemeinden. Die Gemeinden sollten die Kassenkredite auf insgesamt 5 RM pro Kopf der Einwohner beschränken und die kommunalen Unternehmen privatisieren. Das Reich sollte seinerseits die von den Gemeinden übernommenen Schulden durch eine einheitliche 4,5%ige steuerfreie Reichsanleihe begleichen. Vgl. P. Silverberg, Konsolidierung der öffentlichen Schulden, in: Der Deutsche Volkswirt vorn 28. 8. 1931. 77 Hervorhebung im Original. Tagebucheintragung Schäffers vorn 31: 7. 1931, IfZ, ED 93 / 12. 78 Vgl. Wilmowsky an Krupp, 12.9. 1931, Krupp Archiv, FAH 23 / 505.

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Forderungen konfrontiert wurde, umging er eine grundsätzliche Aussprache über die Wirtschaftspolitik durch die geschickte Erörterung von Detailfragen. 79 Die weitgehende Ignorierung der Vorstellung der Großindustriellen und die scheinbare Untätigkeit Brünings in der Wirtschaftspolitik führte in diesen Monaten zu einer Entfremdung zwischen Industrie und Reichsregierung. Reusch, Springorum, Vögler und Ernst Brandi wandten sich zusehends vom Reichskanzler ab. 8o Auch wenn Krupp und Silverberg zu Brüning hielten, vertiefte sich die Kluft zwischen der westdeutschen Schwerindustrie und Brüning im Herbst 1931 immer mehr: "Im Augenblick scheint mir die Atmosphäre in der Reichskanzlei - soweit die rheinisch-westfälische Wirtschaft in Betracht kommt - schlechter denn je zu sein".8! Wegen der Taktik Brünings, anstelle offener sachbezogener Auseinandersetzungen mit den Wirtschafts verbänden einzelne Industrielle in vertraulichen Gesprächen an sich zu binden, sah sich die Führung des RDI von der Reichsregierung arg vernachlässigt. Seit Ende August 1931 hatte Kastl - nachdem seine Denkschrift vom 19. August 1931 in der Reichskanzlei keine Reaktion hervorgerufen hatte - vergeblich versucht, einen Tennin für eine Unterredung mit Brüning zu erhalten. Der Empfang der Führung des RDI bei Brüning vom 18. September 1931 kam erst zustande, nachdem Kastl mit einem Ultimatum gedroht hatte, das Memorandum durch die Presse bekanntzugeben. 82 So war die harsche Kritik Kastls aus Sicht der Wirtschaftsvertreter nur zu berechtigt: "Die Regierung sei nach seiner Auffassung durch die weitgehende Ausschaltung der politischen Parteien auf die Mitwirkung der einzelnen Wirtschaftsstände angewiesen. Dazu sei aber notwendig, daß man sie höre und ihnen Gelegenheit gebe, ihre Ansicht zu sagen. Es sei bedenklich und falsch, heute diesen und morgen jenen Ratgeber aus diesem und jenem Lager zu hören und zu glauben, daß die dabei vertretenen Ansichten die Ansicht der Gesamtindustrie seien".83 "Es sei für die Verbände nicht zu ertragen", fuhr Kastl fort, "wenn so und so oft die Presse Mitteilungen über Empfänge und Beratungen mit Einzelpersonen aus der Wirtschaft bringe und der Anschein erweckt werde, als ob hier eine Beratung aus der Wirtschaft stattfinde". Brüning brachte jedoch unmißverständlich klar zum Ausdruck, daß er den Anspruch der RDI-Führung auf eine stärkere Beteiligung an der wirtschaftspolitischen Willensbildung der Reichsregierung nicht billige: "Er werde sich von niemandem, auch von Parteien nicht, von seinem Wege abbringen lassen".84 Desgleichen erklärte er: "Ich mache kein Programm. Ich lehne ab".85 79 Vgl. Besprechung Brünings mit den westdeutschen SchwerindustrielIen vom 18. 8. 1931, AdR, Brüning, Nr. 447, S. 1577 f. 80 Vgl. R. Neebe, Die Großindustrie, S. 100 u.103; Brüning, Memoiren, S. 443. 81 Schlenker an Reusch, 21. 9. 1931, Haniel Archiv, 400101221/11b. 82 Vgl. R. Neebe, Die Großindustrie, S. 100 f. 83 Niederschrift über die Besprechung vom 18. 9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 317, S. 975. 84 Bericht Blanks über die Unterredung vom 18.9. 1931 an Reusch, 18.9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 318, S. 976.

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Das Dilemma der RDI-Führung lag darin, daß sie zu Brüning keine personelle Alternative zu haben glaubte. 86 So wich sie vor Brünings Warnungen bezüglich der politischen Konsequenzen seines Sturzes bzw. Rücktritts zurück und verzichtete auf eine Grundsatzdiskussion zur Wirtschaftspolitik der Reichsregierung. 87 Vielmehr sprachen Duisberg und Kastl dem Reichskanzler ihr Vertrauen aus, und Kastl setzte sich kurz darauf für die weitere Unterstützung der Reichsregierung durch den Verband ein. 88 In dem Zeitabschnitt von Mitte Juli bis Mitte September 1931 hielt Brüning den Forderungen der Industrie nach einem konjunkturpolitischen Kurswechsel mithilfe seiner Verzögerungstaktik und der geschickten Ausnutzung der in Einzelheiten divergierenden Auffassungen der Industriellen stand. Als diese Taktik mit der Zeit ihre Wirkung verfehlte, setzte er seine Deflationspolitik mithilfe der Rücktrittsdrohung durch. Die RDI-Führung billigte ihrerseits aus allgemeinen politischen Überlegungen und mangels einer personellen Alternative die deflationistische Wirtschaftspolitik Brünings. Während die politische Rücksichtnahme gegenüber Brüning zu einem entscheidenden Faktor für die konjunkturpolitische Willensbildung des RDI und des DIHT und deren Kompromißbereitschaft geworden war, wandten sich die westdeutschen Schwerindustriellen jedoch, teils aufgrund der fehlenden gewerkschaftsfeindlichen, antiparlamentarisch-zentralistischen Reformen in der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik und teils wegen der ausbleibenden antizyklischen Maßnahmen, von Brüning ab.

2. Die konjunkturpolitischen Auseinandersetzungen auf der Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 Die Reichsregierung, die mit der Gründung der Akzeptbank und mit einer von liquiditätssichernden Maßnahmen begleiteten Reorganisierung der Banken dem deutschen Kreditsystem über die akute Krise hinweghalf, nahm Ende Juli 1931 die von der Bankenkrise unterbrochene konjunkturpolitische Diskussion wieder auf, um ihren wirtschaftspolitischen Kurs mittelfristig festzulegen, zumal die Devisenbewirtschaftung und das Stillhalteabkommen mit den ausländischen Gläubigem Sicherungen gegen einen nochmaligen umfangreichen Kreditabzug gewährten. Obwohl die Festlegung Brünings auf die Deflationspolitik den Kabinettsmitgliedern keinen großen Spielraum für die Durchsetzung einer antizyklischen Konjunkturpolitik erlaubte, bot der Absturz der Konjunktur im Zug der Bankenkrise den Reformern innerhalb der Reichsregierung eine günstige Gelegenheit, KorrekturTagebucheintragung Schäffers vom 18.9.1931, HZ, NL Schäffer, ED 93/14. Kastl an Reusch, 11. 9.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 307, S. 950. 87 Vgl. R. Neebe, Die Großindustrie, S. 101. 88 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 25.9. 1931, Bayer Archiv, 62/10.4 85

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vorschläge an dem deflationistischen Kurs Brünings anzubringen. Ebenso wie vor der Bankenkrise warb Dietrich gegenüber der starren Haltung Brünings und Luthers für einen Expansionskurs und sprach sich gegen jede weitere Senkung der Löhne und Gehälter aus: "Eine weitere Deflation ruiniert alles".89 Er glaubte, durch eine Kombination der erhöhten Silbermünzenprägung, der Senkung des Diskontsatzes und der Vermehrung der Wechselkredite der Akzeptbank die Geldmenge erhöhen und so der Steigerung des Geldwerts entgegensteuern und die öffentlichen Aufträge in der Bau- und Verkehrswirtschaft finanzieren zu können. 90 Luther hielt dagegen unbeirrt an der Deflationspolitik fest. Die Verluste der Unternehmen sollten nach seiner Auffassung ,,realisiert" werden, d. h. die in die Krise geratenen Unternehmen sollten ihre konkurrenzunfähigen Betriebsteile abstoßen oder in Konkurs gehen, weil die Krise auf die "Überkapitalisierung" der gesamten Wirtschaft zurückzuführen und diese nicht durch "äußere Mittel" wie Kreditausweitung oder Gewährung staatlicher Aufträge zu beheben sei. 91 Zum Entsetzen der Kabinettsmitglieder brachte er diese Auffassung wiederholt pointiert zum Ausdruck: "alles, was nichts taugt", müsse man "fallen lassen,,92 und "die Krise ausbrennen lassen",93 da die Gesundung der Wirtschaft nur "auf diesem Konkurswege" herbeigeführt werden könne94 und die Deflation eine zwangsläufige Folge der Weltwirtschaftskrise sei95 , die Krise deshalb nicht kreditpolitisch bewältigt werden könne, da die Kreditpolitik bloß der Bewegung im Gütermarkt folge. 96 Was die konjunkturpolitischen Divergenzen innerhalb der Reichsregierung von der Situation vor Ausbruch der Bankenkrise unterschied, war die bereits kurz angedeutete veränderte Haltung Hans Schäffers. Der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, der noch in der ersten lahreshälfte 1931 der konjunkturpolitischen Einstellung Dietrichs gegenüber Distanz gewahrt hatte, konzipierte nach der Bankenkrise gemeinsam mit Dietrich konkrete Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung. 97 Sein Positionswechsel war insofern bedeutsam, als er mit den Reformern der Na89 Tagebucheintragung Schäffers über eine Unterredung mit Dietrich und Schwerin von Krosigk (Ministerialdirektor im Reichsfinanzministerium) vom 31. 8. 1931, IfZ, ED 93 /13. 90 Vgl. ebd; Wirtschaftsausschußsitzung der Reichsregierung vom 27. 7. 1931, AdR, Brüning, Nr. 409, S. 1427; Tagebucheintragung Schäffers über eine Unterredung mit Dietrich und Arthur Zarden (Ministerialdirektor im Reichsfinanzministerium) vom 13. 8. 1931, IfZ, ED 93 /13. 91 Vgl. Wirtschaftsausschußsitzung der Reichsregierung vom 27.7. 1931, AdR, Brüning, Nr. 409, S. 1427. 92 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über eine Unterredung mit Luther vom 12.9. 1931, IfZ, ED 93 /14. 93 Vgl. Schäffer an Luther, 28. 9. 1961, BAK, NL Luther, 375. 94 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 26.8.1931, IfZ, ED 93 /13. 95 Vgl. Wirtschaftsausschußsitzung der Reichsregierung vom 22. 8. 1931, AdR, Brüning, Nr. 453, S. 1606. 96 Vgl. Tagesbericht Luthers über die Wirtschaftsausschußsitzung der Reichsregierung vom 22.8.1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 294, S. 919. 97 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 31. 8.1931, IfZ, ED 93 /13.

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tionalökonomie, namentlich neben Wilhelm Lautenbach mit Gerhard Colm und Hans Neisser, beide Privatdozent an der Universität Kiel, sowie mit Hans Gestrich, seit Herbst Pressereferent der Reichsbank, Kontakt aufnahm98 und sich zugleich intensiv mit den Reformvorstellungen von Keynes, dem Macmillan-Report,99 CasseI und Heinrich Rittershausen, IOD Privatdozent an der Universität Frankfurt, beschäftigte; 101 vor allem Lautenbach und Rittershausen beeinflußten das von Schäffer Anfang September 1931 konzipierte Programm zur Krisenbekämpfung. 102 Schäffer richtete dabei sein Augenmerk auf die Tatsache, daß die deflationistischen Maßnahmen der Preis-, Lohn- und Ausgabensenkung aufgrund des allzu niedrigen Auslastungsgrades der Industrieanlagen ihren Zweck, nämlich die Senkung der Kosten, völlig verfehlten und eine Kostenerhöhung bewirkten. Die Kostensenkung sei eher von der Erhöhung der Investionsnachfrage im Zuge der Gewährung öffentlicher Aufträge zu erwarten, wobei Schäffer die staatliche Arbeitsbeschaffung in Höhe von etwa 2,5 Mrd. RM als konjunkturelle Initialzündung für nötig hielt. Im übrigen brauche die Reichsbank, die nach der Auffassung Schäffers die Arbeitsbeschaffung vorfinanzieren sollte, eine inflationäre Wirkung der Geldschöpfung nicht zu befürchten, weil der Großteil der gesamten Summe, etwa 2 Mrd. RM, für Löhne aufgewandt würde und die Lohngelder rasch in die Reichsbank zurückströmten. Schäffer rechnete mit einer Erhöhung des Zahlungsmittel umlaufs um 200 bis 250 Mio. RM. Allerdings müßten nach seiner Auffassung Vorkehrungen dagegen getroffen werden, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer die anfängliche Verbesserung der Konjunktur zu Lohn- und Preiserhöhungen ausnutzten, da sonst kein multiplikatorischer Effekt der Konjunkturmaßnahmen zu erwarten sei. Schäffer versuchte für sein Programm Ministerialbeamte wie Trendelenburg, Friedrich Soltau, Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium, Karl Durst, Oberregierungsrat im Reichsarbeitsministerium und Bemhard Wilhelm von Bülow, Staatssekretär iin Reichsaußenministerium, Industrievertreter wie Kastl und Hamm,103 den Berliner Bankier Rudolf Löb und den konservativen Nationalökomen Moritz Julius Bonn zu gewinnen. 104 Des weiteren bemühte er sich, Luther von der Notwendigkeit und Durchführbarkeit seines Krisenprogramms zu überzeu98 Vgl. K. Borchardt, Wirtschaftspolitische Beratung in der Krise: Die Rolle der Wissenschaft, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933: Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 117. 99 Zum Macmillan-Report siehe G. Bornbach (Hrsg.), Der Keynesianismus III, Berlin, 1981, S. 240 f. 100 Heinrich Rittershausen, Am Tag nach dem Zusammenbruch, Berlin 1931. 101 Vgl. Tagebucheintragungen Schäffers vorn 26. u. 28. August und 7. September 1931, IfZ, ED 93/13 u. 14. 102 Vgl. Denkschrift zur Krisenbekämpfung, 2. 9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 299, S. 933 f. 103 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vorn 14. u. 21. 9. 1931, IfZ, ED 93/14. 104 Vgl. Tagebucheintragungen Schäffers über einen Telefonat mit Bonn vorn 10. 9. 1931 und eine Unterredung mit diesem vorn 11. 9. 1932, IfZ, ED 93 / 14.

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gen. Als sich Luther in einer Unterredung zunächst auf keine bestimmte Position festlegte,105 schickte Schäffer dem Reichsbankpräsidenten seine Denkschrift. In seiner Stellungnahme vermied Luther eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundgedanken und ging weder auf den Effekt der Kostendegression und der konjunkturellen Initialzündung durch die staatliche Arbeitsbeschaffung noch auf deren Wirkung auf den Zahlungsmittelumlauf ein. Stattdessen beharrte er auf der Reichsreform als Voraussetzung einer effektiven aktiven Konjunkturpolitik. Wolle der Staat LS. Schäffers die Versuche der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, ihrerseits die Besserung der Wirtschaftslage auszunutzen, wirksam verhindern, so Luther, sei "eine zusammengefaßte Staatsgewalt, wie sie auf dem Weg einer richtigen Reichsreform erzielt werden kann," unverzichtbar. 106 Der Versuch Luthers, den Vorstoß von Schäffer zu blockieren, mißglückte, da Lautenbach seinerseits die konjunkturpolitische Erörterung mit jungen Wissenschaftlern wie Hans Neisser und Walter Eucken intensivierte und am 9. September 1931 eine eigene Denkschrift ausarbeitete. 107 Gegenüber der Denkschrift von Schäffer baute Lautenbach zwei "Sicherungen" gegen eine eventuelle Verminderung der Devisenbestände der Reichsbank in sein Programm ein: Lautenbach hielt die Auflockerung der Preis- und Lohnbindung für notwendig, um der Verminderung des Exports als Folge der Senkung des Preisniveaus der ausländischen Produkte und der Steigerung des Importes im Zuge des Produktionszuwachses entgegenzuwirken. Diese "Sicherungen" widersprachen zweifellos seinem theoretischen Ansatz, demzufolge er die Stabilisierung der Preisniveaus als "condito sine qua non jedes Konjunkturanstieges" bezeichnete. Die Lohnsenkung um 5%, die er als Folge der Auflockerung der Tarifrechts erwartete, bedeutete in ihrer Konsequenz eine Verminderung der Nachfrage. Aufgrund dieser Widersprüche handelte sich Lautenbach von earl Landauer, einem Mitarbeiter Gustav Stolpers im "Deutschen Volkswirt", den Spott ein, daß seine Konzeption nichts anderes sei, als ob "ein Pferd vor und ein Pferd hinter den Wagen gespannt wird". 108 Ohne Zweifel war sich Lautenbach der Inkonsistenz seines Vorschlangs bewußt. Die zwei "Sicherungen" waren zunächst auf dessen Taktik zurückzuführen, den Anschauungen der konservativen Nationalökonomen und Wirtschaftspolitiker entgegenzukommen. Er hob hervor, daß diese "Sparmaßnahmen" als Einzelmaßnahmen völlig "zwecklos" seien und "lediglich etwas Subsidiäres, gewissermaßen nur 105 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über eine Unterredung mit Luther vom 31. 8. 1931, IfZ, ED 93 / 13. 106 Außerdem begründete Luther seine ablehnende Stellungnahme mit dem reparationspolitischen Argument. Vgl. Luther an Schäffer, 4. 9. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 300, S. 940. 107 Vgl. K. Borchardt, Wirtschaftspolitische Beratung, S. 118; W. Lautenbach, Defizitpolitik? Reichsbankzusage als Katalysator? Der Verzweiflungsweg - ohne Auslandskapital, in: derselbe, Zins, Kredit und Produktion, hrsg., von W. Stützei, Tübingen 1952, S. 137 f. 108 earl Landauer, Ankurbelung oder Inflation? in: Der Deutsche Volkswirt vom 18.9.1931.

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eine Versicherung gegen Überspannung oder Übertreibung, zugleich eine Versicherung gegen unliebsame psychologische Reaktion, ein Palliativ gegen die törichte Inflationspsychose" darstellten, während die Investitionen und die Kreditausweitung dagegen "in jeder Hinsicht das Primäre" seien. 109 Zum anderen befreite sich Lautenbach offenbar nicht vollständig von der Disproportionalitätenlehre der klassischen Konjunkturtheorie. In seinem Expose begründete er den notwendigen Einbau der zwei Vorkehrungen: "Bedenklich wäre jedoch, wenn bei uns durch die Intervention der öffentlichen Hand Verschiebungen in den Preisrelationen hinangehalten würden, die im Interesse einer wirklichen Gesundung und zur Erreichung eines natürlichen Gleichgewichts notwendig sind"Yo Die Widersprüche in der Argumentation Lautenbachs gaben Luther die Möglichkeit, den Vorstoß der Reformer mit der gleichen Waffe, nämlich mit den Theorien der Nationalökonomie, zum Scheitern zu bringen, zumal selbst prominente Reformer wie Gerhard Colm der Auffassung waren, daß man über die Senkung des Preis- und Lohnniveaus zunächst den konjunkturellen Tiefpunkt erreichen müsseYl Ähnlich dachte auch Trendelenburg. ll2 Von den argumentativen Schwächen der Reformer ermutigt, regte Luther am 11. September 1931 an, im Hause der Friedrich-List-Gesellschaft eine Währungskonferenz abzuhalten, deren Vorstand er angehörte. 113 Die Auswahl der Teilnehmer, die Luther im Einvernehmen mit Schäffer und Saemisch vornahm, und andere Vorbereitungen waren zügig erfolgt. So hielt die Friedrich-List-Gesellschaft am 16. und 17. September 1931 eine große Konferenz über die "Möglichkeiten einer aktiven Konjunkturbelebung durch Investitionen und Kreditausweitung" ab, an der 29 Nationalökonomen, Publizisten und Ministerialbeamte teilnahmen. Am 15. September, also einen Tag vor dem Konferenzbeginn, trafen sich Luther, Edgar Salin, Professor an der Universität Basel, und der Reichssparkommissar Ernst Saemisch, der als stellvertretender Vorsitzender der Friedrich-List-Gesellschaft die Konferenz leiten sollte, zu einer Vorbesprechung. 114 Das Eröffnungsreferat Salins vom ersten Konferenztag machte deutlich, daß er sich in Luthers Taktik hatte einbinden lassen, indem er als wortgewandter und keineswegs klassischer Ökonom die theoretische Argumentation der Reformer in Frage stellte. Salin hatte Vgl. W. Lautenbach, Defizitpolitik? S. 148. Ebd, S. 147. Vgl. K. Borchardt, Zur Ausarbeitung der Vor- und Frühgeschichte des Keynesianismus in Deutschland. Zugleich ein Beitrag zur Position von W. Lautenbach, in : Jahrbücher für die Nationalökonomie und Statistik, 197 / 4 (1982), S. 367 f.; H. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 326. 111 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 7. 9. 1931, BAK, NL Luther, 366. 112 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über seine Besprechung mit Trendelenburg, Luther und Saemisch vom 12.9. 1931, HZ, ED 93 /14. 113 Vgl. ebd. Zur Friedrich-List-Gesellschaft siehe H. Brügelmann, Politische Ökonomie in kritischen Jahren. Die Friedrich-List-Gesellschaft e.V. von 1925-1935, Tübingen 1956. 114 Vgl. Eröffnungsbemerkung Saemischs. Niederschrift über die Konferenz, BAK, NL Luther, 454. Die folgende Darstellung stützt sich auf diese Niederschrift. 109

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V. Die konjunkturpolitische Diskussion bis zur Pfundabwertung

bereits 1928 den Verzicht auf den monetären Eingriff zur Krisenbewältigung mit dem Handeln eines Arztes verglichen, der "um der gewiß auf die Dauer wichtigeren Stärkung des kranken Organismus willen von der Heilung einer akuten Krankheit völlig absähe".l15 Jetzt stellte er zur Diskussion, wie weit die Reichsbank den Kredit künstlich erweitern dürfe, ob durch die Kreditausweitung allein eine Sonderkonjunktur herbeigeführt werden könne und ob überhaupt eine liberalere Kreditpolitik der Reichsbank als die bisherige denkbar sei. Die skeptische, ja negative Einschätzung der Auswirkungen einer monetären Intervention der Reichsbank, die das Referat Salins implizierte, wurde von Rudolf Hilferding noch deutlicher formuliert. Hilferding, der sich auf den Standpunkt der klassischen Disproportionalitätenlehre stellte,116 bezeichnete die bei der Bewältigung der Bankenkrise gehandhabte Praxis, die Finanzwechsel in formal rediskontfähige Wechsel umzuwandeln, als "Wechselreiterei" und erklärte die Fortsetzung dieser Praxis als "das verderblichste, was geschehen könnte". Das Programm Lautenbachs impliziere den "klassischen Fall der Inflation". Zu den zwei "Sicherungen" Lautenbachs kommentierte Hilferding: "Also ich senke Zölle, ich hebe die Kartelle auf, habe infolgedessen soundso viel Deflation gemacht und kann infolgedessen auf der anderen Seite soundso viel Inflation ohne Gefahr machen. Ich kenne kein stärkeres Argument gegen alle Phantasien von Indexwährung, wie sie in der Darlegung sind". Von den Ausführungen Salins und Hilferdings beeindruckt, bezeichnete auch Rudolf Löb die Kreditausweitung durch die Reichsbank als "schädlich", und das Insistieren auf den Gefahren einer monetären Expansion entfaltete langsam eine Sogwirkung, die sogar einen prominenten Reformer wie Wilhelm Röpke, Professor an der Universität Marburg, erfaßte. Röpke, der zur Vermittlung zwischen Traditionalisten, d. h. den Vertretern der klassischen Theorie, und Reformern die Depression in die Phasen der "primären Depression", in der sich der konjunkturelle Reinigungsprozeß vollziehe, und der "sekundären Depression", in der die Krise eine Eigendynamik entfalte, unterteilte,1l7 zeigte sich durch die Ausführungen der Vorredner, vor allem die Frage Salins nach der Möglichkeit eines konjunkturpolitischen Alleingangs Deutschlands, zutiefst verunsichert. Er beharrte zwar darauf, daß Deutschland sich bereits in der "sekundären Depression" befand, aber er 115 Vgl. E. Salin, Theorie und Praxis staatlicher Kreditpolitik der Gegenwart, Tübingen 1928, S. 13. 116 Vgl. Rudolf Hilferding, Ein Irrweg. Die Inflation - das Interesse der Sozialreaktion, in: Vorwärts vom 4.10.1931. 117 Obwohl Röpke den Begriff der "Initialzündung" prägte, sich in der Brauns-Kommision engagierte und für die Realisierung der in dem zweiten Teilgutachten der Kommission nahegelegten Vorschläge eintrat, verließ er nie die Grundlage der klassischen Konjunkturtheorie. Er war fest davon überzeugt, daß jeder Versuch, die Konjunktur vor der Erreichung des konjunkturellen Tiefpunktes anzukurbeln, "nicht nur ergebnislos und kostspielig" sei, sondern den Reinigungsprozeß verschob, und daß sich Deutschland nicht allein aus der Krise retten könne. Vgl. W. Röpke, Praktische Konjunkturpolitik. Die Arbeit der Brauns-Kommision, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 34 (1931 11), S. 427 u. 450.

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wandte sich, durch zahlreiche Zwischenfragen Luthers zusätzlich irritiert, von seinem bisherigen Stan.dpunkt ab und führte aus, daß der Spielraum einer isolierten Kreditausweitung Deutschlands "verhältnismäßig eng wird, so eng, daß eine positive Konjunkturbelebung in Deutschland, glaube ich, nicht möglich ist, daß im besten Falle vielleicht ein Anhalten dieses kumulativen Niedergangsprozesses, in dem wir uns heute befinden, denkbar ist". In dieser Formulierung war von seiner bis zur Konferenz vertretenen Befürwortung der staatlichen Konjunkturpolitik nicht mehr viel übrig. Aber selbst diese zurückhaltende Äußerung Röpkes wurde heftig attackiert, und zwar von einem anderen Reformer. Gerhard Colm bezweifelte die Diagnose Röpkes, daß sich die deutsche Volkswirtschaft in der sekundären Depression befinde. Nach seiner Ansicht sei der konjunkturelle Verlauf zwar bereits in die Phase der sekundären Depression eingetreten, aber die Phase der primären Depression sei noch nicht abgeschlossen. Des weiteren kritisierte Colm die Argumentation Röpkes, bezüglich der Möglichkeiten einer Kreditausweitung: "Röpke hat sich hier eigentlich widersprochen, wenn er sagt, er will nur die jetzt leider im Gang befindliche Kontraktion auffangen, dann kann er eigentlich nicht die Hoffnung haben, daß hieraus so etwas wie Initialzündung entstehen kann". Demnach lautete seine Schlußfolgerung, daß jeder Schritt einer expansiven Konjunkturpolitik von Maßnahmen begleitet sein müsse, "die den Bereinigungsprozeß nicht aufheben, sondern fortsetzen". Als Colm bei aller Kritik an Röpke und trotz seiner Bedenken gegen den konjunkturpolitischen Alleingang Deutschlands nahelegte, im für die Reichsbank akzeptablen Rahmen die Kreditausweitung vorzunehmen, setzte sofort die Kritik Luthers ein, daß Colm wie Röpke widersprüchlich argumentiere. Luther fragte, wie man die Überwindung der sekundären Depression versuchen könne, bevor die primäre Depression überhaupt beendet sei. Ähnlich erging es einem anderen Reformer, Eduard Heimann, renommierter sozialdemokratischer Professor an der Universität Hamburg. Er stimmte zunächst den unterschiedlichen Auffassungen Röpkes, Colms und Hilferdings zu, sprach sich für die staatliche Arbeitsbeschaffung aus und verlangte von der Reichsbank eine aktive "Notenbankpolitik". Auf Luthers Einwand, wie denn die Reichsbank mehr als bisher leisten solle, nahm Heimann den Ausdruck "Notenbankpolitik" zurück und legte nahe, zur Finanzierung des Lautenbachschen Programmes nicht die Reichsbank, sondern die privaten Banken einzuschalten. Auf die Gegenfrage Luthers, ob die Banken ohne die Rediskontzusage der Reichsbank die staatliche Arbeitsbeschaffung zu finanzieren bereit wären, wich er einen weiteren Schritt zurück und erwog, Auslandsschulden aufnehmen, obwohl kein Zweifel daran bestand, daß die Aufnahme der Auslandschulden zu diesem Zeitpunkt aussichtlos war. Da sich selbst die Reformer nur mit Vorbehalt für die Kreditausweitung aussprachen und sogar gegenseitig kritisierten, endete der erste Konferenztag mit einem klaren Sieg der Traditionalisten. Walther Eucken, Professor an der Universität Freiburg, Erich WeIter, Redakteur der Frankfurter Zeitung und Ernst Stern, Berater der Reichskreditgesellschaft, sprachen sich gegen eine expansive Konjunkturpolitik aus. Rittershausen trug seine Vorstellung vor, die aber mit dem der Diskussion

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V. Die konjunkturpolitische Diskussion bis zur Pfundabwertung

gestellten Thema wenig zu tun hatteYs Einzig Hans Neisser verteidigte die Konzeption Lautenbachs. Er bezeichnete einen leichten Preisanstieg, der bei der Kreditausweitung zu erwarten sei, als ,,kein Unglück". Aber seine Parteinahme für das Programm Lautenbachs reichte nicht aus, um den Verlauf der Diskussion im Sinne Lautenbachs zu ändern. In seinem Tagesbericht notierte Luther mit Zufriedenheit, "daß alle Redner sich dafür ausgesprochen hätten, daß wir noch nicht am untersten Punkte des Deflationsvorgangs angekommen sind".1l9 Der zweite Konferenztag begann mit einem Referat Lautenbachs. Wohl mit Rücksicht auf den Verlauf des vorigen Tages nahm er dabei gegenüber der ursprünglichen Fassung zwei Modifikationen vor. Zum einen reduzierte er den Finanzbedarf für die Arbeitsbeschaffung von 3 Mrd. RM auf 1,5 Mrd. RM. Zum anderen stellte er die zwei Sicherungen gegen den Schwund der Devisenbestände, nämlich die Auflockerung der Preis- und Lohnbindungen, in den Vordergrund seiner Darlegung. Er bezeichnete sie als "absolut wesentlich, entscheidend und primär", wobei er ihnen allerdings nur in Verbindung mit der Arbeitsbeschaffung einen Sinn zuwies. Abgesehen davon trug er seine zentralen theoretischen Auffassungen, sei es der multiplikatorische Effekt der Arbeitsbeschaffung, ihre Finanzierung oder ihre Wirkung auf die Erhöhung der Geldmenge und auf den Status der Reichsbank, unverändert vor. Rittershausen, der ein Korreferat hielt, stand ihm zur Seite. Er habe nach der Lektüre von Keynes seine Meinung dahingehend geändert, daß den öffentlichen Aufträgen ebenso große konjunkturpolitische Bedeutung wie der Geldmengenerhöhung beizumessen sei. Das Referat Lautenbachs rief bei den Konferenzteilnehmern abermals einen grundsätzlichen Meinungsumschwung hervor. Rudolf Löb hielt die Argumentation Lautenbachs anders als am Tag vorher für "im wesentlichen richtig". Erich WeIter, der am ersten Konferenztag das Lautenbachsehe Programm für "überflüssig" erklärte, fand es nun "absolut stichhaltig". Eucken erschienen die Ausführungen Lautenbachs ebenfalls "grundsätzlich richtig", und Heimann, Colm, Röpke und Neisser schlossen sich dieser Haltung an. 120 Allerdings knüpften sie an die Zustimmung zum Programm Lautenbachs die Bedingung, daß die zwei kompensatorischen Maßnahmen, nämlich die Auflockerung der Preis- und Lohnbindungen, tatsächlich ins gesamte Programm eingebaut würden. Exemplarisch dafür war die Interpretation der Lautenbachsehen Konzeption durch Walther Eucken, "daß hier die 118 Rittershausen hielt die staatliche Arbeitsbeschaffung für ein Inflationsprojekt und erwartete die Konjunkturbelebung in erster Linie von einer monetären Expansion. Nach seiner Vorstellung sollte die Reichsbank zunächst den Diskontsatz auf 2% herabsetzen und des weiteren den Banken ermöglichen, den Unternehmen einen "Antizipationskredit", nämlich den Akzeptkredit für die Investitionsprojekte, zu gewähren. Vgl. H. Rittershausen, Am Tag nach dem Zusammenbruch, Berlin 1931, S. 12 f. u. 56 f. 119 Tagesbericht Luthers vom 16.9. 1931, BAK, NL Luther, 366. 120 Der Stimmungs umschwung ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß viele Beteiligte das Expose Lautenbachs erst am Konferenztag erhielten. Sie verstanden erst nach dem Vortrag Lautenbachs, worum es sich dabei eigentlich handelte.

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Kräfte des Kapitalismus zur Selbstheilung mobilisiert werden sollen". Eucken deutete also die Konzeption Lautenbachs aus der Sicht der klassischen Nationalökonomie. 121 Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer stimmte dem Kompromiß Löbs zu, daß sich die Reichsbank zwar in den Dienst der staatlichen Arbeitsbeschaffung stellen, aber nicht von vornherein auf eine bestimmte Summe festlegen solle. Sie solle die Arbeitsbeschaffung "abtastend" finanzieren, damit sie die Schritte der aktiven Bekämpfung der Depression eventuell bremsen oder beschleunigen könne. Diese Vorbehalte konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die meisten Beteiligten die zentralen Grundgedanken der Lautenbachschen Konzeption anerkannten. Die Konzeption Lautenbachs unterschied sich, so WeIter, von der seinigen "nur in der Reihenfolge, in der Nuancierung und Psychologie". Eucken betonte, daß man die Unterschiede zwischen seiner und Lautenbachs Vorstellung in den Einzelpunkten nicht dahingehend verstehen dürfe, daß er die gesamte Konzeption Lautenbachs ablehne. 122 Edgar Salin, Johannes Popitz und Alfred Lansburgh verhielten sich zwar immer noch distanziert bis ablehnend, aber ihre Argumentation vermochte nicht die wirtschaftstheoretische Substanz der Konzeption Lautenbachs zu entkräften. Lansburgh insistierte auf den Selbstheilungskräften der Wirtschaft und unterstellte Lautenbach inflationistische Absichten, ohne sich mit dessen Gegenargumenten hinsichtlich der zu erwartenden geringen Geldmengenerhöhung auseinanderzusetzen. Popitz verteidigte ebenfalls die klassische wirtschaftsliberale Auffassung, daß sich der Staat von der Wirtschaft fernhalten solle. Der Stimmungsumschwung im Verlauf der Tagung war so gravierend, daß Luther seine Taktik änderte. Er erkannte nun die Konzeption Lautenbachs als "grundsätzlich richtig" an, vor allem akzeptierte er dessen Argument, daß zusätzliche Aufträge die private Wirtschaft letzten Endes in die Lage versetzen würden, ihre illiquiden Wechsel bei der Reichsbank einzulösen. Er stellte aber die Frage, ob die Reichsbank verkünden dürfe, daß sie ein umfangreiches Arbeitsbeschaffungsprogramm finanziere. Als deutlich wurde, daß Luther die Argumentation Lautenbachs grundsätzlich in Frage zu stellen vermochte, versuchte Salin vergeblich, den Verlauf der Diskussion zugunsten des Reichsbankpräsidenten umzulenken l23 , was aus 121 Hier sieht man deutlich, daß die Verknüpfung des Keynesianismus mit der klassischen Nationalökonomie, die später als die klassische Synthese des Keynesianismus formuliert werden sollte, bereits Mitte 1931 im Ansatz existierte. 122 K. Borchardt hob mit besonderem Nachdruck hervor, daß die Konferenz die "Aufgabe" nicht erfüllt habe, die für eine Initialzündung notwendige und hinreichende Summe der Arbeitsbeschaffungsprojekte zu nennen. Diese Feststellung wäre nur dann zutreffend, wenn ein konkretes und konsensfähiges Programm zur Arbeitsbeschaffung zu jener Zeit bereits existiert hätte. Vgl. K. Borchardt, Wirtschaftspolitische Beratung, S. 132. 123 Die Intransigenz, mit der Salin gegen die Konzeption Lautenbachs opponierte, läßt vermuten, daß Salin und Luther vorher vereinbarten, die Tagung im Sinne Luthers zu führen, zumal Salin selbst in einem 1928 erschienen Aufsatz eine Beeinflussung der Konjunktur durch die Zentralbank in der Krise noch als unausweichlich erklärt hatte. Daß Salin in dem Aufsatz Bedenken gegen eine alleinige Konjunkturpolitik der Zentralbank eines finanziell

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V. Die konjunkturpolitische Diskussion bis zur Pfundabwertung

der Sicht Rittershausens nicht zuletzt daran scheiterte, daß gegen die Konzeption Lautenbachs "nicht in erster Linie ein theoretischer Einwand" erbracht worden sei, sondern eher grundsätzliche wirtschaftspolitische Bedenken. In der Schlußbemerkung zur gesamten Tagung entwickelte Luther dann auch im Vergleich zu seiner bisherigen Einstellung eine revidierte Sichtweise, die zugleich seine Verunsicherung verriet. Er sei sich darüber sehr ungewiß, ob die Kräfte der Selbstheilung in dieser Krise tatsächlich wirksam wären, ob die Überwindung einer großen Depression vielmehr durch "das Exogene" eingeleitet werden müsse,124 ob die Kreditausweitung "das Kausale für die Überwindung der Krise" sei, ob die restriktiven Maßnahmen der Reichsbank "diesmal nicht sowohl das Kranke als vielmehr das Gesunde treffen" und ob man sich eher "schützend vor die kranken großen Gebilde" stellen solle. Luther bat die beteiligten Ökonomen sogar darum, diese Fragen wissenschaftlich zu klären. Ebenso bedeutend wie die Tatsache, daß sich die überwiegende Mehrheit der Tagungsteilnehmer mit den zentralen Auffassungen Lautenbachs einverstanden erklärte, war der Verlauf der Konferenz, nämlich der Umstand, daß die meisten Teilnehmer ihre Position gleichsam über Nacht änderten. Dies zeugt von der theoretischen Unsicherheit der deutschen Nationalökonomie während der Weltwirtschaftskrise. Ihre Vertreter waren offensichtlich zerrissen zwischen der Selbstheilungslehre der klassischen Konjunkturtheorie auf der einen und der Herausforderung einer historisch beispiellosen Depression auf der anderen Seite, was aus den Darlegungen Röpkes, Heimanns und Colms deutlich hervorging. Sie gaben sich deshalb schließlich mit dem unzulänglichen Kompromiß zufrieden, daß die Reichsbank "abtastend" an eine aktive Bekämpfung der Depression herangehen und daß die staatliche Arbeitsbeschaffung mit der Senkung der Preise und Löhne kombiniert werden solle. Die Entscheidung für oder gegen die expansive Konjunkturpolitik hing angesichts dieser Unsicherheit und Unentschlossenheit von der Reichsbank und der Reichsregierung ab, wenngleich man der Nationalökonomie eine beratende Funktion im wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß zuwies. Aber Luther selbst befand sich in großer Unsicherheit. Angetreten mit dem Ziel, den Vorstößen Lautenbachs und Schäffers auf der Konferenz die theoretische Grundlage und politische Unterstützung zu entziehen, mußte er den konjunkturpolitischen Forderungen der Expansionisten zumindest teilweise nachgeben. Allerdings konnte er seine kreditpolitische Praxis nunmehr auf den Formelkompromiß der Konferenz stützen, den jeweiligen Projekten, sei es die Arbeitsbeschaffung, die Osthilfe oder das "Russengeschäft", nur innerhalb des von der finanziellen Situation der Reichsbank erlaubschwachen Landes äußerte, kann nicht hinreichend seine Haltung erklären, weil er von einer Geldmengenerhöhung in der konjunkturellen Abschwungphase generell keinen unmittelbaren Einfluß auf das allgemeine Preisniveau erwartete. Vgl. E. Salin, Theorie und Praxis staatlicher Kreditpolitik der Gegenwart, Tübingen 1928, S. 10 f. 124 Dabei stützte sich Luther auf die oben in Kapitel III behandelte Ausarbeitung der Statistischen Abteilung der Reichsbank vorn Mai 1931.

2. Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft 1931

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ten Rahmens die Rediskontzusage zu erteilen. Hinsichtlich der Frage der konjunkturpolitisehen Optionen war zunächst von Bedeutung, daß die Industrie in ihrer überwältigenden Mehrheit für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel von der kontraktiven zur expansiven Konjunkturpolitik eintrat. Obwohl die Errichtung eines autoritären Staates, die Entmachtung der Gewerkschaften und die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben immer noch die strategischen Ziele der Großindustrie in der Krise blieben, vollzog sich bei der Industrie insofern ein konjunkturpolitischer Paradigmenwechsel, als Teile der Großindustrie erkannten, daß es sich bei der Depression nicht mehr um eine Kostenkrise, sondern um eine Absatzkrise handelte. Sie verlangten offen eine Geldmengenerhöhung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und bei einigen Industrievertretern trat die Durchführung ihrer gewerkschaftsfeindlichen und antiparlamentarisch-zentralistischen Reformvorstellungen in der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik aufgrund der veränderten Prioritätenskala in den Hintergrund. Die Stellung der Reformer innerhalb der Reichsregierung wurde dadurch gestärkt, daß Schäffer eindeutig für eine expansive Konjunkturpolitik votierte. Von ebenso großer Bedeutung war die Tatsache, daß Schäffer eine gemeinsame Frontbildung der Reformer innerhalb der Regierung, der Wissenschaft und der Wirtschaft zu bilden versuchte, was im Hinblick auf die Präsentation der Konzeption Lautenbachs durch Kastl und Hamm auf den großen Versammlungen der Wirtschaftsverbände und auf den Verlauf der Währungskonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft zumindest teilweise als erfolgreich anzusehen ist. Luther war demgegenüber stark verunsichert: Sein Festhalten an der Deflationspolitik war auf die Angst vor der Gefährdung der Währungsstabilität und dem weiterhin starr verfolgten politischen Ziel der Reichsreform zurückzuführen. Trotz des vielseitigen Drängens nach einem konjunkturpolitischen Kurswechsel hielt Brüning seinerseits mithilfe seiner Verzögerungstaktik und dem geschickten Ausspielen der Industrievertreter gegeneinander an seiner Deflationspolitik fest, wobei die Beendigung der Reparationen und die angestrebte Reichsreform ebenso wie vor der Bankenkrise als Richtschnur seiner wirtschaftspolitischen Maßnahmen fungierten.

VI. Der Verlauf der konjunkturpolitischen Diskussion von der Pfundabwertung bis zum Jahresende 1931 1. Der konjunkturpolitische Immobilismus der Industrieverbände Die Pfundabwertung vom 20./21. September 1931, genauer, der Beschluß der britischen Regierung, sich von der Goldeinlösungspflicht des Pfundes zu lösen, stellte währungs-, handels- und konjunkturpolitisch eines der größten Ereignisse der Zwischenkriegszeit dar.! Mit der Aufgabe des Goldstandards durch England,2 der die meisten zum Sterlingblock gehörenden Länder folgten, gingen das bis Mitte der zwanziger Jahren mit Mühe wiederhergestellte internationale Währungssystem mit festen Wechselkursen und die Ära der mit dem Goldautomatismus verbundenen liberalen Handelspolitik zu Ende. Die Aufgabe des Goldstandards ebnete einer eigenständigen Konjunkturpolitik den Weg, da mit der Loslösung von der Goldparität die Geldschöpfung nun jeweils dem wirtschaftspolitischen Konzept der einzelnen Länder oblag. Die dadurch ermöglichte expansive Geldpolitik im Zuge von Währungsabwertungen erwies sich rückblickend, wie am Beispiel von England, Schweden und Japan zu erkennen ist, als das wirksamste Instrument für die konjunkturelle Erholung in den frühen dreißiger Jahren. 3 Das Deutsche Reich war ebenfalls vom Goldstandard im engeren Sinne weit entfernt, seitdem die starre Mindest-Notendeckung und der freie Devisenverkehr im Juli 1931 faktisch aufgehoben worden waren. Jedoch blieb der konjunkturpolitische Spielraum der Reichsregierung und der Reichsbank immer noch eng, weil ohne die Freigabe des Wechselkurses der Reichsmark der Exportverlust und der Importanstieg aus einem durch die Geldmengenerhöhung ausgelösten Preisanstieg nicht abgefangen werden konnten. Diese außenwirtschaftliche Problematik einer 1 Zum internationalen Währungssystem in der Nachkriegszeit und dessen Auflösung siehe D. H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre: Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 3, München 1978; R. Nurske, International Currency Experience, Lessons of the Interwar Period, hrsg. von League ofNations, Genf 1944. 2 Der Beschluß der englischen Regierung führte zu einem sofortigen Wertverlust des Pfundes um rund 18%; bis zum Jahresende 1931 waren es 30%. Vgl. S. Pollard, Wege aus der Arbeitslosigkeit - Großbritannien und Schweden, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 53 (1984), S. 52. 3 Vgl. ebd, S. 52 f. u. 58 f.; V. Hentschel, Wege aus der Arbeitslosigkeit - USA, Frankreich, Japan, ebd., S. 66 f.; Charles S. Maier, Die Nicht-Determiniertheit ökonomischer Modelle, S. 292; B. Eichengreen and J. Sachs, Exchange Rates and Economic Recovery in the 1930s, in: Journal ofEconomic History 45 (1985), S. 925 ff.

1. Der konjunkturpolitische Immobilismus der Industrieverbände

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monetären Expansion war für die konjunkturpolitische Diskussion von besonderer Bedeutung, weil es die Reformer mit Rücksicht auf die negativen Folgen für die Handelsbilanz für notwendig hielten, parallel zur Kreditausweitung deflationistische Ergänzungsmaßnahmen zu ergreifen; die Deflationisten nutzten ihrerseits diese "Schwäche" der Expansionisten konsequent aus, um dem Drängen der Reformer auf einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel Einhalt zu gebieten. Demgegenüber hätte die Pfundabwertung für Reichsregierung und Reichsbank eine Gelegenheit sein können, durch die im Anschluß an den währungspolitischen Schritt Englands vorgenommene Freigabe der Reichsmark die außenwirtschaftliche Problematik einer monetären Expansion zu lösen. Allerdings hing es davon ab, ob die führenden Wirtschaftspolitiker und die Interessenverbände die Pfundabwertung als eine solche Chance wahrnahmen oder nicht, und von welchen währungs-, wirtschafts- und außenpolitischen Konzeptionen sie sich leiten ließen. 4 Am Tag vor der Pfundabwertung hatte die Geschäftsführung des RDI das Präsidium und den Vorstand zum 25. September 1931 einberufen, auf dessen Tagesordnung die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung und ein Bericht über die Unterredung der Verbandsführung mit Brüning vom 18. September 1931 standen. Als die Industriellen zusammentrafen, rückten die ursprünglichen Themen rasch in den Hintergrund; die Pfundabwertung beherrschte die Sitzungen, wobei die Frage im Vordergrund stand, ob die Reichsregierung dem englischen Beispiel folgen sollte bzw. welche Gegenmaßnahmen zu treffen seien, falls die Reichsmark nicht abgewertet werden sollte. Der Vorstand des RDI war sich rasch darin einig, daß eine Freigabe der Reichsmark nicht in Frage kam. 5 Dies wurde vor allem mit der Inflationserfahrung begründet, die, so Frowein, "dem Volke noch zu sehr im Gedächtnis und im Blut" sitze. Müller-Oerlinghausen bezeichnete die Loslösung des Pfundes vom Gold schlichtweg als einen "inflatorischen Weg". Des weiteren sahen sich die Industriellen aufgrund der fehlenden Devisenrücklage der Reichsbank, die zum Aufbalten des Floatens hätte eingesetzt werden können, veranlaßt, eine Abwertung der Reichsmark zu verwerfen. Schließlich hoben sie hervor, daß sich die Auslandsschulden für den Fall einer Markabwertung um 20% von 20 Mrd. RM auf 24 bis 25 Mrd. RM erhöhen würden, da drei Viertel der deutschen Auslandsschulden keine Pfundanleihen waren. Die Ablehnung einer Markabwertung durch die RDIFührung war um so bemerkenswerter, als Silverberg, der sich bis dahin am konsequentesten für eine monetäre Expansion eingesetzt hatte, sowohl im Präsidium als auch im Vorstand als Wortführer gegen die Freigabe der Reichsmark auftrat. Zu 4 Zur Diskussion über die Frage der Abwertung der Reichsmark siehe J. Schiemann, Die deutsche Währung in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933. Währungspolitik und Abwertungskontroverse unter den Bedingungen der Reparationen, Stuttgart 1980; K. Borchardt, Zur Frage der währungspolitischen Optionen Deutschlands in der Weltwirtschaftskrise, in: derselbe, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume, S. 206 ff.; Charles S. Maier, Die Nicht-Determiniertheit, S. 292 f. 5 Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 25. 9. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4.

10 Kim

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VI. Der Verlauf der Diskussion bis zum Jahresende 1931

Beginn seiner Ausführungen erklärte er, "Währungsexperimente" jeglicher Art seien für Deutschland auszuschließen. Eine Devalvation der Reichsmark sei "so gefährlich, daß es das wirklich nicht sehr stabile Gebäude, das heute in Deutschland noch besteht, in seinen Grundfesten erschüttern würde". Ebenso wie Müller-Oerlinghausen bezeichnete Silverberg die Loslösung der Reichsmark vom Gold als "den Weg einer Inflation". Auch Kastl schloß sich dieser Auffassung an und reagierte später entsetzt auf eine Mitteilung Rudolph Dalbergs, daß Luther dessen Devalvationsplan zustimmend gegenüberstehe. Er beruhigte sich erst, als Luther diese Nachricht als verzerrt zurückwies. 6 earl Köttgen und Edmund Pietrkowski machten gegenüber Schäffer ebenfalls ihre ablehnende Einstellung deutlich, den Kurs der Reichsmark an den des Pfundes "anzuhängen".7 Schließlich sprach sich auch die Handelspolitische Kommission des RDI in ihrer Sitzung vom 9. Oktober 1931 gegen eine Markabwertung aus. 8 Die wirtschaftspolitische Antwort der Reichsregierung auf die Pfundabwertung konnte, wenn von einer Abwertung der Reichsmark abgesehen, zugleich aber keine Verschlechterung der Handelsbilanz hingenommen werden sollte, nur in einer Preissenkung bestehen, die den Preisvorteil Englands aus der Devalvation des Pfundes wettmachte, was wiederum eine Verschärfung der Deflationspolitik als zwingend notwendig erscheinen ließ. Dies brachte Silverberg auf der Vorstandssitzung vom 25. September 1931 besonders deutlich zum Ausdruck: "Jeder Tag, um den ein energisches Eingreifen auf diesem Gebiet verzögert wird, ist eine nicht wieder gut zu machende Sünde am deutschen Volk". Silverberg appellierte an die anwesenden Unternehmer, alle geldpolitischen "Ausweichmöglichkeiten" gegenüber dem Postulat der Kosten- und Preissenkungen zu verwerfen: "Es gibt nur eine Möglichkeit: die Beweglichmachung der deutschen Selbstkosten, die Elastizität der deutschen Selbstkosten,,9, d. h. in der Konsequenz, die Aufhebung des Tarifrechts. Der Kehrtwendung Silverbergs schloß sich Kastl an, indem er versuchte, den konjunkturpolitischen Teil seines "Selbsthilfeprogramms" herunterzuspielen. Die staatliche Arbeitsbeschaffung stelle, so Kastl, einen "volkswirtschaftlich und organisch vielleicht nicht ganz richtigen Eingriff' dar. 10 Die deflationistische Auffassung wurde auch von Frowein, Müller-Oerlinghausen, Köttgen 11 und der Handelspolitischen Kommission einhellig unterstützt. 12

Vgl. Tagesbericht Luthers vom 16. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366. Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über ein Gespräch mit Köttgen und Pietrkowski auf der Abschiedsfeier für C. Duisberg vom 25. September 1931, IfZ, ED 93/14. 8 Vgl. Rundschreiben des VDESI, 10. 10. 1931, Hoesch Archiv, F 1 b 5. 9 Niederschrift über die Vorstandssitzung des RDI vom 25. 9. 1931, Bayer Archiv, 62/ 10.4. \0 Vgl. ebd. 11 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über ein Gespräch mit Köttgen vom 25. 9. 1931, IfZ, ED 93/14. 12 Vgl. Rundschreiben des VDESI, 10. 10. 1931, Hoesch Archiv, F 1 b 5. 6

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Nach der Vorstandssitzung vom 25. September 1931 nahm die Geschäftsführung des RDI mit den anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft Kontakt auf, aus denen die "Gemeinsame Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände" vom 29. September 1931 hervorging. Die Erklärung der 11 Spitzenverbände der Wirtschaft 13 machte deutlich, daß der mit der Bankenkrise zerstörte Konsens der Wirtschaftsverbände über die Deflationspolitik mit der Pfundabwertung wiederhergestellt worden war. Der Abbau der staatlichen Auf- und Ausgaben, die Durchführung der Reichsreform und eine "individuelle Lohngestaltung" durch die Beseitigung der Verbindlichkeitserklärungen seien "gerade jetzt um so notwendiger, als die Vorgänge in England neue schwere Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft mit sich bringen". Kennzeichnend für die deflationspolitische Neuorientierung der beteiligten Wirtschaftsverbände ist, daß sie auf die Arbeitsbeschaffung mit keinem Wort eingingen. Es fiel auf, daß die Erklärung nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch dem Brief Reuschs an Brüning vom 30. Juli 1931 ähnelte und verwundert deshalb nicht, daß Reusch, der Exponent der Deflationspolitik in der westdeutschen Schwerindustrie, die "Gemeinsame Erklärung" "ausgezeichnet" fand. 14 Die DIHTFührung ließ durch ihre Unterschrift unter die "Gemeinsame Erklärung" zwar keinen Zweifel daran, daß sie wie die RDI-Führung unter dem Schock der Pfundabwertung auf die Deflationspolitik einschwenkte, registrierte jedoch knapp drei Wochen nach der Pfundabwertung die positive Entwicklung der Konjunktur in England. Harnm konnte sein Erstaunen kaum unterdrücken, daß in England das Preisniveau, die Löhne und die Frachttarife stabil blieben, wo doch seiner Ansicht nach der Anstieg von Preisen und Löhnen entsprechend der Währungsentwertung hätten erfolgen müssen. Desgleichen räumte Franz Heinrich Witthoeft ein, daß eine Währungsabwertung zu einer "kurzlebigen" Konjunkturverbesserung führen könne. 15 13 Gemeinsame Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände, 29. 9. 1931, AdR, Brüning, Nr. 496, S. 1764 f. Unterzeichner waren der RDI, der DIHT, der CDBB, der Hansa-Bund, die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, der Reichsgrundbesitzerverband, der Reichsverband des Deutschen Handwerks, der Reichsverband des Deutschen Groß- und Überseehandels, der Reichsverband der Privatversicherung und die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. 14 Vgl. Reusch an Kastl, 30. 9. 1931, Haniel Archiv, 400101220/ llb. R. Neebe interpretiert die "Gemeinsame Erklärung" als "Generalangriff gegen Brüning und sein Regierungssystem" und hielt die Bemerkung Brünings, genauer, den im Namen des Kanzlers gegebenen Kommentar Pünders, daß "das große Manifest der deutschen Wirtschaftsverbände nicht als eine Kampfansage an das Kabinett, sondern als eine weitgehende Unterstützung der Regierungspolitik" zu betrachten sei, für eine "Flucht nach vom". Die Interpretation Neebes, der sich andere Historiker anschließen, trifft zwar auf die deflationistischen Hardliner wie Reusch zu, aber keineswegs auf die Führungen des RDI und DIHT, die trotz divergierender konjunkturpolitischer Auffassungen Brüning unterstützten. Diese Industrievertreter kündigten mit der "Gemeinsamen Erklärung" keineswegs ihre Unterstützung für den Reichskanzler auf, sondern signalisierten, daß sie nun auch wirtschaftspolitisch die Linie Brünings unterstützten. Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 102; B. Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln", S. 315; R. Meister, Die große Depression, S. 243.

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Dennoch glaubten auch Hamm und Witthoeft, eine Abwertung der Reichsmark verwerfen zu müssen. Für ein "inflationserfahrenes Volk" wie das deutsche sei eine Währungsdevalvation "unmöglich". 16 Die DIHT-Führung erblickte die konjunkturpolitische Konsequenz der ausbleibenden Devalvation ebenso wie die RDI-Führung in der Verschärfung der Deflationspolitik, mit den Worten Hamms, in dem "mühe- und opfervollen Weg der Kostensenkung auf der ganzen Linie".1? Die Arbeitsbeschaffung, für die er einen Monat zuvor an gleicher Stelle energisch plädiert hatte, bezeichnete er nun als "zunächst durchaus undurchführbar". Über die Stellung der westdeutschen Schwerindustrie zur Abwertungsfrage lassen sich in den Akten nur wenige Hinweise finden. In seinem Tagesbericht vom 26. September 1931 notierte Luther: ,,zum Frühstück war Reusch bei mir, der sich ganz fest in der Markfrage zeigte. Was mir der Kanzler gesagt hatte, muß also reines Gerücht gewesen sein". 18 Daraus ist zu schließen, daß Brüning ihn über die bei der Abschiedsfeier für earl Duisberg am 25. September 1931 bekannt gewordene Einstellung der westdeutschen Schwerindustriellen in Kenntnis gesetzt hatte. Obwohl Luther den Hinweis Brünings, daß die westdeutschen Schwerindustriellen einer Abwertung der Reichsmark zugeneigt seien, für ein Gerücht hielt, ist davon auszugehen, daß zumindest die Führung der Vereinigten Stahlwerke für eine Markabwertung eintrat, zumal Vogler bereits in der Besprechung vom 15. Juli 1931 im Verwaltungsgebäude der Vereinigten Stahlwerke die Abwertungsfrage angeschnitten hatte und sein eindringliches Plädoyer für eine Devalvation bei den anwesenden Schwerindustriellen auf keinen Einwand gestoßen war. 19 Andererseits ist bemerkenswert, daß der von dem Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke, Poensgen, geleitete VDESI in seinem Rundschreiben vom 10. Oktober 1931 die Ablehnung der Freigabe der Reichsmark durch die Handelspolitische Kommission des RDI ohne Kommentar mitteilte. 2o Vermutlich hatte sich Vogler kurz nach der Pfundabwertung zunächst für eine Markabwertung ausgesprochen, sich dann im Verlauf der Diskussion aber mit der auf große Ablehnung stoßenden Forderung nach einer Devalvation zurückgehalten. In der Tat versicherte Brüning in seinen Memoiren, daß Vogler in grundlegenden Fragen an einem Tag zwei- bis dreimal seine Meinung gewechselt habe 21 und daß er etwa Mitte Oktober 1931 "von einem grenzenlosen Optimismus" erfaßt worden sei, und zwar aufgrund eines kurzfristigen starken Anstiegs des deutschen Exportes nach England, der aus einem vorvergelegten Import der englischen Händler wegen der bevorstehenden Erhöhung der 15 Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des DIHT vom 8. 10. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 10, S. 12 u. 60. 16 Vgl. ebd., S. 12. 17 Vgl. ebd., S. 64. 18 Tagesbericht Luthers vom 26. 9.1931, BAK, NL Luther, 366. 19 Zur Forderung der Schwerindustrie nach einer Abwertung der Reichsmark vgl. auch H. Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler, S. 24. 20 Vgl. Rundschreiben des VDESI, 10. 10. 1931, Hoesch Archiv, F 1 b 5. 21 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 371.

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englischen Importzölle resultierte. Da die deutsche Ausfuhr beispielsweise von Walzeisen von 185.000 Tonnen im August 1931 auf 276.000 Tonnen im Oktober 1931 anstieg und erst im Dezember 1931 auf 173.000 Tonnen zurückging,22 ist davon auszugehen, daß sich Vogler im Oktober und November 1931 bei seiner Forderung nach einer Devalvation der Reichsmark eine gewisse Zurückhaltung auferlegte. Anders als Vogler stand Reusch einer Markabwertung strikt ablehnend gegenüber. Er lehnte den Vorschlag von Pierre Quesnay, Direktor der Banque de France und Generaldirektor der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich), ab, mit einer weltweiten Änderung der Wahrungsparität gegenüber dem Gold auf die Pfundabwertung zu reagieren. 23 Den Vorschlag Kastls, durch die Ausgabe von Goldbons seitens der BIZ die in geldpolitische Schwierigkeiten geratenen Länder zu unterstützen, hielt Reusch ebenfalls für aussichtslos?4 Es ist bemerkenswert, daß die Pfundabwertung kaum etwas an der konjunkturpolitischen Haltung der westdeutschen Schwerindustrie änderte. Die überwiegende Mehrheit stand immer noch auf dem Standpunkt, daß einerseits die Geldmenge erheblich erhöht und andererseits die Löhne radikal gesenkt werden müßten. In den Worten Brünings sahen die Schwerindustriellen gegen Ende Oktober 1931 "kein anderes Mittel" mehr, "als immer weiter die Löhne zu senken bzw. einen gewaltsamen Umschwung mit nachfolgender Inflation durch starke finanzielle Unterstützung der NSDAP herbeizuführen".25 Die "Frankfurter Zeitung" hatte bereits am 11. Oktober unter der Überschrift "Das Komplott" berichtet, daß die Industrie, insbesondere die Schwerindustrie, Brüning zu inflationären Maßnahmen dränge. Kastl legte zwar bei der Berliner Redaktion der Zeitung Protest ein, konnte aber nicht verhindern, daß ein großer Teil der Zeitungen diesen Artikel übernahm. 26 Die Geschäftsstelle des Christlichen Metallarbeiterverbandes Deutschlands richtete an den Vorsitzenden des VDESI, Poensgen, sogar eine briefliche Aufforderung, ein öffentliches Dementi gegen den Inflationsverdacht zu veranlassen. 27 Ein offizieller Widerruf blieb jedoch aus. Die in der Öffentlichkeit verbreitete Auffassung, daß die westdeutsche Schwerindustrie eine inflationäre Lösung der Krise anstrebe, schien einen konjunkturpolitischen Vorstoß völlig unmöglich gemacht zu haben. In dem wirtschaftspolitisch Vgl. Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 224. Vgl. Reusch an Luther, 1. 10. 1931, Hanie1 Archiv, 400 101290/ 30a. Zum Vorschlag Quesnays vgl. K. Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume, S. 212 f. 24 Vgl. Kastl an Reusch, 10. 10. 1931; Reusch an Kastl, 14. 10. 1931, Haniel Archiv, 40010 1220 / 11 b. Kastl versuchte offensichtlich, auf diesem Weg aus der geld- und konjunkturpolitischen Klemme nsch der Pfundabwertung herauszukommen. 25 Brüning, Memoiren, S. 442. Vgl. auch S. 366. 26 Vgl. Geschäftsmitteilung des RDI, 21. 10. 1931, S. 205. 27 Vgl. Hauptgeschäftsstelle des CMVan E. Poensgen, 15. 10. 1931, Hoesch Archiv, F I d 6. In diesem Brief wurde Poensgen über die folgenden Vorwürfe gegen die Schwerindustrie in Kenntnis gesetzt: die Währung zu bedrohen, die Sozialversicherung verwerfen, das Tarifrecht beseitigen, die Löhne um 20% senken sowie die Gewerkschaften zerschlagen zu wollen und vorbehaltslos für einen politischen Systemwechsel einzutreten. 22 23

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bedeutsamen Zeitabschnitt vom Ausbruch der Bankenkrise im Juli 1931 bis zum Herbst 1931 wurde keine Tagung des Langnamvereins abgehalten; erst am 13. November 1931 trafen Vorstand und Hauptausschuß wieder zusammen. Obwohl die Vorwürfe gegen die Schwerindustrie angesprochen wurden und das Thema "Staat und Banken in der Wirtschaftskrise" auf der Tagesordnung der Hauptausschußsitzung des Vereins stand, brach die Geschäftsführung diesmal mit der bislang eingehaltenen Regel, alsbald nach der Tagung das Sitzungsprotokoll in den Geschäftsmitteilungen zu veröffentlichen. Erst in der Geschäftsrnitteilung vom Dezember 1932 wurde eine zweiseitige Notiz veröffentlicht. 28 Offenbar wollte die westdeutsche Schwerindustrie von ihren konjunktur- und geldpolitischen Vorstellungen möglichst wenig bekannt werden lassen, obwohl der gegen sie erhobene "Inflationsvorwurf' nach einer öffentlichen Stellungnahme verlangte. Zu dieser konjunkturpolitischen Lähmung der westdeutschen Schwerindustrie trug auch ihre konzeptionelle Zerrissenheit bei. Anders als die Führung der Vereinigten Stahlwerke widersetzte sich Reusch, trotz seines Rücktritts vom Vorsitz noch immer der mächtigste Mann in der Führung des Langnamvereins, jeglichem Vorstoß für eine expansive Konjunkturpolitik. 29 In seinen Augen ging Brüning die deflationistische Gesundung der Wirtschaft und die gewerkschaftsfeindlichen und antiparlamentarisch-zentralistischen Reformen in der Sozial-, Finanz- und Verwaltungspolitik nicht radikal genug an, so daß er die Wirtschaftsverbände zu einem offenen Kampf gegen das Kabinett Brüning und die Gewerkschaften drängte, die seit Kriegsende die tatsächliche Macht im Staate ausübten. Es entsprach dieser Auffassung, daß Reusch den einzigen Mangel der "Gemeinsamen Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände" vom 27. September 1931 in der fehlenden Kampfansage an die Gewerkschaften erblickte. Er warf den Wirtschaftsverbänden "Feigheit" vor und kündigte an, daß die westdeutsche Industrie eigene Wege beschreiten werde. 3o Da die feindliche Haltung Reuschs gegen das Kabinett Brüning von den SchwerindustrielIen an der Ruhr weitgehend geteilt wurde,3l versuchte Brüning auf seiner Oktober-Reise im Ruhrgebiet, sie mit einem Hilfsangebot für die Umschuldung der Stahlkonzerne wieder stärker an sich zu binden. Dieser Versuch scheiterte aber völlig. 32 Demgegenüber unterstützten die Führungen des RDI und des DIHT weiterhin das Kabinett Brüning. Dies wurde durch die Pfundabwertung Vgl. Mitteilung des Langnamvereins, Jg. 1932, Nr. 1, S. 76 f. Die Wirtschaftspolitische Abteilung der GHH hieß eine Eingabe der Bauindustrie an Brüning, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Bautätigkeit plädierte, vom ökonomischen Standpunkt her zwar gut, aber sie hielt solche Eingaben für wertlos, solange die Regierung Brüning an der Macht war, die nicht in der Lage sei, "gegen alle Widerstände auf der ganzen Linie unserer Notlage gemäß wirklich zu ,regieren' ". Vgl. Scherer an Reusch, 22.9. 1931, Haniel Archiv, 400101220 / llb; Die Verbände der deutschen Bauwirtschaft an Brüning, 14.8. 1931, ebd.; Kastl an Brüning, 11. 11. 1931, BAK, R43 1/2375. 30 Vgl. Reusch an Kastl, 30. 9. 1931, Haniel Archiv, 400101220/ llb. 31 Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 100. 32 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 443. 28

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zweifellos erleichert, weil die Reformer innerhalb der Verbände unter dem Schock der Freigabe des Pfundes vor einer monetären Expansion zurückschreckten. Vergleicht man die Vorstandssitzung des RDI vom 25. September 1931 mit der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 8. Oktober 1931, fallt aber auf, daß eine Devalvation um so nüchterner betrachtet und der von der Pfundabwertung ausgelöste Schock um so schwächer wurde, je mehr Zeit nach der Pfundabwertung verstrich. Es war Silverberg, der der nach der Pfundabwertung versteiften konjunkturpolitischen Diskussion einen neuen Impuls gab, als er den Wirtschaftsbeirat beim Reichspräsidenten, den Brüning Ende Oktober 1931 zur Vorbereitung der vollends deflationistisch orientierten NotVO vom 8. Dezember 1931 einberufen hatte, dazu benutzte, das Postulat der Kreditausweitung gegen die Auffassung des Reichsbankpräsidenten zu verteidigen. Luther sah das Ziel der Kreditpolitik der Reichsbank darin, Wirtschaftstätigkeiten an die geschrumpfte Geldmenge anzupassen, bzw. "die Wirtschaft im Rahmen des Kreditvolumens einzuspannen,,?3 Demgegenüber bezweifelte Silverberg "die Richtigkeit der von Luther vertretenen klassischen Geldtheorie,,34; die Verknappung der Geldmenge würde die Schrumpfung der Wirtschaft "bis zu einem Punkt" führen, "von dem aus ein Aufschwung nicht mehr möglich" sei. Parallel zu dieser Auseinandersetzung über die Grundsatzfrage, ob ein konjunktureller Aufschwung von der Güterseite oder von der Kreditseite her möglich sei, unterbreitete Silverberg einen Plan zur Kreditausweitung. Zunächst skizzierte er seine Gedanken am 29. Oktober 1931 in einem Gespräch mit Luther, um dann in der Beiratssitzung vom 10. November 1931 sein Vorhaben vorzustellen. Silverberg regte an, eine Diskontbank zu gründen, welche die den Erfordernissen des Wechselkredits der Reichsbank nicht entsprechenden Forderungen mobilisieren sollte, um den Wechselkredit der Reichsbank um 2 Mrd. RM zu erhöhen. Die neue Bank sollte berechtigt sein, gegen die Finanzwechsel Verrechnungsschecks zum Zinssatz von 4% auszugeben, die innerhalb der Laufzeit der eingereichten Wechsel als Zahlungsmittel fungieren sollten. 35 Als Luther verlangte, den Plan schriftlich vorzulegen,36 korrigierte Silverberg das Konzept dahingehend, daß der Diskontbank statt der Finanzwechsel die Handeiswechsel erster Klasse eingereicht werden sollten. 37 Der Wirtschaftsbeirat 33 Vgl. Sitzung des Wirtschaftsbeirates vom 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 550, S. 1945. 34 Vgl. Sitzung des Wirtschaftsbeirates vom 11. 11. 1931, ebd., Nr. 551, S. 1950. 35 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 29. 10. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 352, S. 1082; Sitzung des Wirtschaftsbeirats vom 10. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 547, S. 1934 f. Nach den Angaben Hermann Schmitz' gab es bereits drei Monate vorher ein "Vorprojekt" für den Silverberg-Plan. Vgl. Tagesbericht Luthers vom 16.11. 1931, BAK, NL Luther, 367. 36 Vgl. Sitzung des Ausschusses 11 des Wirtschaftsbeirates vom 10. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 547, S. 1935. 37 Vgl. Plan Silverberg, Anlage der AdR, Brüning, Nr. 554, S. 1963 f.; M. Wolffsohn, Industrie und Handwerk, S. 173 f.; R. Neebe, Großindustrie, S. 114; R. Meister, Die große Depression, S. 326.

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lehnte den Vorschlag ab und formulierte in der Schluß sitzung am 23. November 1931 wirtschaftspolitische Leitsätze, die vollkommen auf der deflationspolitischen Linie Brünings lagen. 38 Indessen beschäftigte sich der RDI in der Präsidialsitzung vom 29. Oktober 1931 mit den Beratungen des Wirtschaftsbeirats?9 Es ist davon auszugehen, daß Silverberg das höchste Gremium des RDI über seinen Plan in Kenntnis setzte, da er an diesem Tag Luther sein Konzept unterbereitete. Auf der Präsidialsitzung des RDI vom 26. November 1931 trat Silverberg als Berichterstatter über die Beratungsergebnisse des Wirtschaftsbeirats autO und unterrichtete wohl bei dieser Gelegenheit das Gremium darüber, wie der Wirtschaftsbeirat zur Ablehnung seines Plans und zur Aufstellung der deflationistischen Leitsätze gekommen war. Es ist bemerkenswert, daß das Präsidium des RDI in dieser Sitzung beschloß, von einer Entschließung zu den Beratungsergebnissen des Beirats Abstand zu nehmen. Desgleichen nahm der Vorstand des RDI in seiner Sitzung vom 27. November 1931 den Bericht Silverbergs über die Beiratsberatungen "ohne Aussprache" zur Kenntnis. 41 Die außergewöhnliche Haltung der beiden Gremien des RDI, zu dem so wichtigen Ereignis wie der Schlußverlautbarung des Beirats keine Entschließung zu fassen und diese nicht einmal zur Diskussion zu stellen, war zunächst darauf zurückzuführen, daß sowohl der Silverberg-Plan als auch die Leitsätze des Wirtschaftsbeirats in den Führungsgremien des RDI umstritten waren. Denn in der Präsidialsitzung vom 26. November 1931 traten nicht nur Silverberg, sondern auch Borsig und Wittke auf, die sich bei den Beiratssitzungen völlig auf den deflationistischen Standpunkt gestellt hatten. 42 Des weiteren war die Zurückhaltung der RDI-Führung der politisch motivierten Absicht zuzuschreiben, Brüning für die seit langem erwarteten deflationistischen Maßnahmen der bevorstehenden Notverordnung völlig freie Hand zu lassen. Die RDI-Führung ließ ihre konjunkturpolitische Haltung also weniger von wirtschaftspolitischen Überzeugungen als von politischen Rücksichtnahmen gegenüber der Reichsregierung leiten, da nicht nur Silverberg, sondern auch der Vorsitzende des RDI, Krupp, selbst einer expansiven Konjunkturpolitik zuneigte. Deshalb hatte Brüning ihm gegenüber Ende Oktober 1931 angekündigt, eine Aussprache zwischen der Industrie und dem Direktorium der Reichsbank zu arrangieren, um wirtschaftspolitische Meinungsunterschiede auszuräumen. 43 Kennzeichnend für das Dilemma des Industrieflügels, der sich politisch gegenüber Brüning loyal verhielt, obwohl er konjunkturpolitisch im Gegensatz zu ihm stand, war der Vortrag Silverbergs in der Hauptausschußsitzung des DIHT vom 3. Dezember 1931. Silverberg versuchte zunächst, die Enttäuschung der deflationi38 Vgl. Verlautbarung über die Schluß sitzung des Wirtschaftsbeirats vom 23. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 564, S. 1993 f. 39 Vgl. Rundschreiben des RDI, 23. 10. 1931, Krupp Archiv, FAH 4 E 176a. 40 Vgl. Geschäftsmitteilungen des RDI, 8. 12. 1931. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. Sitzung des Wirtschaftsbeirats vom 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 550, S. 1944. 43 Vgl. Krupp an Kastl, 31. 10. 1931, Krupp Archiv, FAH 4 E 176a.

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stisch orientierten Industriellen über die alsbald zu erlassende Notverordnung im voraus zu beschwichtigen. Er richtete an die Anwesenden die "Bitte", ein günstiges Urteil "für die Angeklagten" zu fällen,44 da man die Notverordnung nicht allein "nach wirtschaftspolitischer Logik" bewerten dürfe. Desgleichen warnte Silverberg davor, die Fehler, die 12 Jahre gemacht worden waren, "über Nacht" "mit einem Schlag" "revolutionär" beseitigen zu wollen. Solche Erwartungen seien "vermessen",45 weil es für eine solche strukturelle Fehlentwicklung keine Patentlösung gebe. Schließlich setzte sich Silverberg mit den einzelnen Reformwünschen der Industrie auseinander: Die Sparmaßnahmen der Reichsregierung, insbesondere auf dem Gebiet der Beamtenbesoldung, hätten bereits die für ein geordnetes Staatswesen erträgliche Grenze überschritten; es erschien ihm "recht zweifelhaft", ob die Durchführung der Verwaltungs- und Reichsreform ,jetzt zeitgemäß" sei; das Tarifvertragswesen, das sich in 12 Jahren eingespielt habe, könne nicht "von heute auf morgen" beseitigt werden; die Aufhebung des Tarifvertragswesens würde lediglich das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung erheblich erschüttern; man spreche zwar kritisch von der Verbindlichkeitserklärung, eine Anzahl von Tarifverträgen sei jedoch vollkommen freiwillig zwischen den Tarifparteien zustandegekommen. 46 Silverberg verteidigte zunächst die aus der Sicht des radikalen Industrieflügels unzureichenden Maßnahmen der Reichsregierung, indem er sich gegen die Instrumentalisierung der Depression zur Realisierung der gewerkschaftsfeindlichen und antiparlamentarisch-zentralistischen Reformvorstellungen in der Sozial-, Verwaltungs- und Finanzpolitik aussprach und damit gegen die Fortsetzung der Deflationspolitik durch die Reichsregierung und deren reparationspolitische Prämissen votierte, die doch gerade in der von ihm grundsätzlich befürworteten Notverordnung ihren Höhepunkt erreichen sollte: "Es wird uns aber wirklich gut gehen, wenn es nicht nur uns gut geht, sondern wenn es auch unseren Kontrahenten gut geht; dann allein ergibt sich die beste Basis zur ruhigen Aufwärtsbewegung".47 Diese ambivalente Haltung spiegelte weniger Silverbergs widersprüchliche wirtschaftspolitische Vorstellungen, als vielmehr den grundsätzlichen Zwiespalt der Industrievertreter zwischen allgemeinpolitischen und konjunkturpolitischen Überlegungen wider. Hinsichtlich der Konjunkturpolitik erklärte Silverberg dezidiert, "daß für mich das A und 0 für die Wiederankurbelung der Wirtschaft die Erhöhung des Kreditvolumens ist".48 Die Investitionen der Industrie könnten in erheblichem Umfang gesteigert werden, wenn die seit zwei Jahren zurückgestellten Investitionsbedürfnisse für die Erneuerung der Anlagen befriedigt würden. Dies könne aber nur erfolgen, wenn das Kreditvolumen der Wirtschaft erhöht werde. Um diesem Argument Nachdruck zu verleihen, setzte er sich über die deflationistische 44 Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des DIHT vom 3. 12. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, 19. 1931, H. 12, S. 27. 45 Vgl. ebd., S. 28. 46 Vgl. ebd., S. 32 ff. 47 Ebd., S. 40. 48 Ebd., S. 38.

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Konsequenz der Pfundabwertung hinweg. Er bezeichnete die internationale Währungslage nach der Pfundabwertung als "vorübergehend", so daß sich die deutsche Wirtschaftspolitik darauf nicht "definitiv" festlegen dürfe. Auf das Plädoyer Silverbergs für eine monetäre Expansion entgegnete Luther zwar mit gewohnten, aber mit Rücksicht auf die Zusammensetzung des DIHT wirkungsvollen Argumenten, indem er die kreditpolitische Abhängigkeit Deutschlands vom Ausland, die Bedeutung einer "völligen Unverletzlichkeit" der Währung für den Aufbau der Wirtschaft und die Erfahrung der Bevölkerung mit der Hyperinflation hervorhob. 49 Als Silverberg daraufhin einräumte, daß sein Konzept gewissermaßen "eine autarke Maßnahme" sei,5o war der Ausgang des Rededuells zwischen ihnen entschieden. Die nach der Auseinandersetzung verzeichneten Wortmeldungen stützten die Position Luthers. Friedrich Bernhard Übel, Präsident der IHK Plauen, führte aus, daß es für die Depressionsbekämpfung kein besseres Mittel gebe, als "alles zu tun, um die Produktionskosten zu senken und alles zu vermeiden, was diesem Grundsatz direkt entgegenwirkt".51 Hamm vertrat ebenfalls die Auffassung, daß die sozialund finanzpolitischen Reformen, die Silverberg gern auf die lange Bank geschoben sehe, gerade in Krisenzeiten durchgeführt werden müßten. Daß diese Versteifung der konjunkturpolitischen Haltung der DIHT-Führung nicht nur auf die kreditpolitische Orthodoxie der Mitgliederschaft des Verbandes, sondern auch auf die politische Absicht, den bevorstehenden Maßnahmen der Reichsregierung nicht im Wege zu stehen, zurückzuführen war, trat auch in der Presseverlautbarung deutlich hervor, die den Vortrag Silverbergs verzerrt wiedergab. 52 Während die Führungen des RDI und des DIHT vor allem aufgrund der politischen Rücksichtnahme gegenüber dem Kabinett Brüning dem konjunkturpolitischen Immobilismus anheimfielen und die wirtschaftspolitische Willens bildung völlig der Reichsregierung überließen, verharrte die westdeutsche Schwerindustrie auch aufgrund ihrer Abwendung von Brüning weiterhin in einer konjunkturpolitischen Lethargie. Seit Mitte August 1931, als Vogler eine Denkschrift an Trende-· lenburg geschickt hatte, war keine Eingabe oder sonstige Stellungnahme zur Wirtschaftspolitik an die Reichsregierung gerichtet worden, obwohl sich doch gerade die Schwerindustrie von einem konjunkturpolitischen Kurswechsel der Reichsregierung die Verbesserung der Wirtschaftslage erhoffte. Dies trat in den Ausführungen Franz Reuters, einem der beiden Herausgeber der unter der Obhut der Schwerindustrie stehenden "Deutschen Führerbriefe",53 gegenüber Schäffer hervor: "Au49 Zum Rededuell zwischen Silverberg und Luther vgl. auch R. Neebe, Großindustrie, S. 114; R. Meister, Die große Depression, S. 328. 50 Vgl. ebd., S. 48. 51 Ebd., S. 52. 52 Vgl. R. Neebe, Großindustrie, S. 114. Kennzeichnend für die schwache Einflußnahme der Wirtschaftsverbände auf die Wirtschaftspolitik Brünings ist das Bedauern Hamms darüber, daß das Parlament aus dem politischen Entscheidungsprozeß ausgeschaltet worden sei, da der Parlamentarismus nicht nur den Parteien, sondern auch den Interessenverbänden Raum gewähre, sich an der Gesetzgebung zu beteiligen. Vgl. Niederschrift über die Hauptausschußsitzung des DIHT vom 8. 10. 1931, in: Verhandlungen des DIHT, Jg. 1931, H. 10, S. 67.

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ßerdem zittert die ganze Wirtschaft davor, daß er durch seine Politik den Frühlingsaufschwung zuschanden machen wird. Die Wirtschaft hält es nicht bis zum Sommer oder gar Herbst aus".54 Schäffer wies aber die Bitte Reuters zurück, Brüning die Sorge der Industrie zu übermitteln, daß die Fortführung seiner reparationspolitisch bedingten Deflationspolitik die Depression lediglich verschärfen würde. Inzwischen verschlechterte sich die Wirtschaftslage an der Ruhr zunehmend. Vogler teilte Schäffer mit, daß die Kapazitätsauslastung bei den Vereinigten Stahlwerken nur noch 20% betrage. 55 Gegenüber Luther beklagte Reusch die "trostlosen" Verhältnisse in der Wirtschaft; er sehe "sehr trübe in die Zukunft".56 Trotz der schwierigen betriebs wirtschaftlichen Lage fanden die westdeutschen Schwerindustriellen keine gemeinsame wirtschaftspolitische Linie, sondern blockierten sich offenbar gegenseitig. Es ist davon auszugehen, daß Silverberg in der Sitzung der Ruhrlade vom 2. November 1931 seinen Plan über die Ausgabe von Verrechnungsschecks erläuterte, denn nach einer Notiz Reuschs beschäftigte sich die Ruhrlade an diesem Tag mit den Beratungen des Wirtschaftsbeirates. 57 Im Wirtschaftsbeirat selbst wurde Silverberg jedoch von keinem Industrievertreter unterstützt. Vogler trat gegenüber der Reichsregierung mit dem eigenen Vorschlag auf, die Löhne der Arbeitnehmer und die Preise der Eisenprodukte jeweils um 15% zu senken. Im Gegenzug sollten sich die Arbeitgeber verpflichten, keine Entlassungen mehr vorzunehmen und die Arbeitnehmer am Gewinn zu beteiligen. 58 Reusch lehnte diesen Vorschlag ab. 59 In der Sitzung der Ruhrlade vom 11. Januar 1932 stellte Silverberg zwar die Kreditpolitik der Reichsbank zur Diskussion, aber die anderen Industriellen beschäftigten sich mit dem Vorschlag Thyssens, die gesamte Eisenindustrie an der Ruhr quer durch die einzelnen Konzerne in zwei Gruppen aufzuteilen und abwechselnd je einen Monat arbeiten zu lassen, um den Druck der Fixkosten zu mildem, woraufhin Klotzbach erklärte, daß dies für Krupp überhaupt nicht in Frage komme. 6o Reusch verharrte weiterhin in der deflationistischen Auffassung, daß "nur volle Freiheit der Wirtschaft" "uns wieder zur Gesundung bringen" könne. 6l Vgl. H. A. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg HitIers, Berlin 1985, S. 360. Tagebucheintragung Schäffers über ein Gespräch mit Reuter vom 16. 1. 1932, IfZ, ED 93/17. 55 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über ein Gespräch mit Vögler vom 15. 1. 1932, IfZ, ED 93 /17. 56 Reusch an Luther, 15. 11. 1932, Haniel Archiv, 400101290 /30a. 57 Notiz Reuschs über die Sitzung der Ruhrlade vom 2.11.1931, Haniel Archiv, 40010124/ 14. 58 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Sitzung des Wirtschaftsausschusses der Reichsregierung vom 18.11. 1931, in der Stegerwald das Konzept Voglers erläuterte, IfZ, ED 93/15; Ausführung Stegerwalds in der Chefbesprechung vom 24. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 568, S. 2007 f. 59 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 1. 12. 1931, BAK, NL Luther, 367. 60 Vgl. K. Haniel an Reusch, 12. 1. 1932, Haniel Archiv, 40010124/14; Tagebucheintragung Schäffers über ein Gespräch mit Vögler vom 15. 1. 1932, IfZ, ED 93/17. 61 Vgl. Reusch an Kastl, 21. 12. 1931, Haniel Archiv, 400101220/11c. 53

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Reusch hielt "die restlose Vernichtung des Kollektivismus", "d. h. Auflösung aller Verbände, Syndikate, Preisverbindungen, Arbeitgebervereinigungen, Gewerkschaften" für den "einzigen Weg zur grundsätzlichen Wiedergesundung" der Wirtschaft, doch er war sich bewußt, daß er mit dieser Vorstellung völlig isoliert war. 62 So erwiesen sich die Vorschläge der Schwerindustriellen zur Verbesserung der Konjunktur entweder als nebensächlich, nicht konsensfähig oder als wirtschaftspolitisch unrealisierbar. Die wirtschaftspolitische Haltung der Industrie von Mitte September 1931 bis zum Jahresende läßt sich als konjunkturpolitischer Immobilismus bezeichnen. Die Pfundabwertung brachte die Reformer innerhalb des RDI und des DIHT zunächst zum Einlenken auf die deflationistische Linie Brünings. Als der Schock aus der Pfundabwertung verblaßte, stieß Silverberg mit einem neuen Konzept der monetären Expansion hervor, doch änderte dies nichts an der Haltung der Führungen der beiden größten Wirtschaftsverbände, die ihren Anspruch auf eine Beteiligung an der wirtschaftspolitischen Willensbildung der Reichsregierung praktisch aufgaben, um die deflationistischen Schritte und das politische Überleben des Kabinetts Brüning nicht zu gefährden. Die westdeutsche Schwerindustrie, die sich von der Pfundabwertung in ihrer konjunkturpolitischen Einstellung nicht beeinflussen ließ, war wegen interner Meinungsunterschiede, ihrer politischen Distanzierung vom Kabinett Brüning und des öffentlichen Verdachtes, inflationäre Maßnahmen zu befürworten, zu einem weiteren Vorstoß zur Herbeiführung eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels unfähig. Sie konzentrierte ihre Bemühungen auf die Erwartung, daß mit der Bildung einer Rechtsregierung eine konjunkturpolitische und konjunkturelle Wende herbeigeführt werden könne. 63

2. Der Vorstoß Warmbolds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats Brüning, der spätestens seit den Septemberwahlen 1930 die Innen- und Außenpolitik vom reparationspolitischen Dogma her betrachtete, sah die Pfundabwertung, nach der Auffassung Trendelenburgs "das größte wirtschaftliche Ereignis seit dem Friedensschluß",64 nicht als eine Gelegenheit an, unter den veränderten au62 Ebd. Reusch schrieb an Kastl: "Ich weiß, daß ich bei meinen radikalen Anschauungen auf diesem Gebiet in der Wirtschaft selbst keine Gefolgschaft finde". 63 Während die Führung der Vst. AG, wie aus den Erinnerungen Brünings zu erkennen ist, sich von einer Rechtsregierung eine monetäre und fiskalische Expansion zusammen mit der Durchführung der sozial- und finanzpolitischen Reformen erhoffte, versprach sich Reusch von dem Machtwechsel, neben der Realisierung der verschiedenen Reformvorstellungen, die Wiederherstellung des Vertrauens in die Politik, die nach seiner Ansicht der privaten Wirtschaft einen entscheidenden Ansporn zu erhöhten Investitionen geben werde. V gl. Reusch an Kastl, 21. 12. 1931, ebd. 64 Vgl. Ministerbesprechung vorn 2.10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 502, S. 1785.

2. Der Vorstoß Warrnbolds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats

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ßenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen über den konjunktur- und währungspolitischen Kurs der Reichsregierung und der Reichsbank kritisch nachzudenken, obwohl der Reichskanzler bereits im Dezember 1930 geplant hatte, nach der Streichung der Reparationen eine Devalvation der Reichsmark um 20% vorzunehmen. 65 Die ablehnende Haltung Brünings gegen eine Markabwertung war so definitiv, daß darüber im Kabinett keine nennenswerte Diskussion stattfand. Als Luther, der wegen Urlaubs am 20. September 1931 nicht in Berlin war, am folgenden Tag in der Reichskanzlei eintraf, war der Beschluß des Kabinetts, die Reichsmark nicht an den Pfund "anzuhängen", bereits getroffen. 66 Obwohl Luther sich damit einverstanden erklärte, nachdem sich das Reichsbankdirektorium bereits am 20. September in seiner Abwesenheit gegen eine Abwertung der Reichsmark ausgesprochen hatte,67 zeigte sich der Reichsbankpräsident unsicher, als der sog. Quesnay-Plan unterbreitet wurde und führte einen hektischen Meinungsaustausch mit den Reichsbankdirektoren Franz Hülse und Wilhelm Vocke und mit Schäffer, Trendelenburg und Edgar Salin. 68 Obgleich sich Schäffer und Trendelenburg gegenüber dem Vorschlag Quesnays positiv äußerten, Salin den Reichsbankpräsidenten aufforderte, zusammen mit einer Abwertung der Reichsmark den Plan Lautenbachs zu realisieren und Luther selbst die "innere Schlüssigkeit der Gedankengänge" des französischen Planes, alle Währungen im gleichen Prozentsatz zu devalvieren, anerkannte,69 sprach sich Luther schließlich gegen den Plan aus, als Brüning mit dem Hinweis auf die Konsequenzen für die Reparationspolitik jede Diskussion über eine Abwertung von sich wies. 7o Luther erinnerte sich in seinen Memoiren, daß die Ausführungen Salins "Brünings reparationspolitisches Argument nicht zu erschüttern" vermochten. 71 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 221. Vgl. Luther, Vor dem Abgrund, S. 155. 67 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 21. 9. 1931, BAK, NL Luther, 366; St. Abt., Die währungspolitische Maßnahme Englands und die Frage ihrer Anwendbarkeit auf Deutschland, 24. 9. 1931, BAP, 25.01 / 6493. Die Ablehnung einer Devalvation wurde von Brüning, der Reichsbank und dem Reichsfinanzministerium stets mit den gleichen Argumenten begründet: Eine Abwertung der Reichsmark würde die nicht auf englische Pfund ausgestellten Auslandschulden automatisch vermehren; die günstige Einwirkung der Abwertung auf den Export würde nur solange dauern, als die Geldentwertung nocht nicht alle Güter und Dienstleistungen erfaßte; die Abwertung würde des weiteren letzten Endes eine Inflation herbeiführen. 68 Vgl. Ferngespräch Luthers mit dem Reichsbankdirektor Franz Hülse, Delegierter der Reichsbank bei der BIZ, vom 26.9. 1931, BAK, NL Luther, 366; Unterredung Luthers mit Salin vom 3. 10. 1931, ebd.; Unterredung Luthers mit Schäffer vom 26.9. u. 4. 10. 1931, ebd. u. HZ, ED 93 /14; Hülse an Luther, 30. 9. 1931, BAK, R 431 / 2437; Wilhelm Vocke an Karl Blessing, 2. 10. 1931, ebd; Salin, Einleitung der Memoiren Luthers, Vor dem Abgrund, S. 23; K. Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume, S. 213. 69 Vgl. Tagesbericht Luthers über ein Ferngespräch mit Hülse vom 26. 9. 1931, ebd. 70 Vgl. Luther, Vor dem Abgrund, S. 23. Nach anfänglichen Unsicherheiten setzte sich Luther bis zum Ausscheiden aus dem Amt konsequent gegen eine Abwertung der Reichsmark ein. 71 Vgl. ebd., S. 155. 65

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VI. Der Verlauf der Diskussion bis zum Jahresende 1931

Mit der Konsensfindung zwischen Reichsregierung und Reichsbank über die Ablehnung jeglicher Abwertungspläne verhärtete sich der deflationistische Kurs der Reichsregierung, wie eine Aussage Dietrichs verdeutlicht: "Er habe bisher stets auf dem Standpunkt gestanden, daß eine ständig fortgesetzte Deflationspolitik zu praktisch unmöglichen Ergebnissen führen werde. Durch die Pfundkrise sei die Situation sehr wesentlich verändert". Er glaube, daß man "im gegenwärtigen Zustand der Dinge zum Endkampf in der Reparationsfrage werde vorgehen können". "Wenn man entschlossen sei, den Kampf auf der ganzen Linie aufzunehmen, so sei er bereit, eine derartige Politik mitzumachen, d. h., wenn man bereit sei, gleichzeitig an das Preisniveau, an die Mieten, an die Gehälter, an die Sozialgesetzgebung und an das Zinsniveau heranzugehen".72 Trendelenburg, Stegerwald, Schiele, Treviranus, Wirth, Luther und Brüning waren gleicher Auffassung. Obwohl die Pfundabwertung angesichts der Prioritätensetzung Brünings den konjunkturpolitischen Spielraum der Reformer innerhalb der Reichsregierung mehr denn je verengte, sahen sich Brüning und Luther wiederholt mit Vorstößen innerhalb des Reichskabinetts zugunsten einer monetären und fiskalen Expansion konfrontiert. Dietrich beklagte sich kurz vor der Ministerbesprechung vom 2. Oktober 1931, in der er das oben zitierte unmißverständliche Bekenntnis zur Deflationspolitik ablegte, gegenüber Schäffer, daß die Reichsbank und die Reichsbahn den Sinn seiner Vorschläge zur Arbeitsbeschaffung nicht erkannt hätten und deshalb von seinen Anregungen lediglich die Siedlung übrig geblieben sei: "Wenn er aufgefordert würde, in einem Kabinett des Standrechts mitzuwirken, so würde er die Mitwirkung davon abhängig machen, daß ihm erlaubt würde, das Reichsbankdirektorium und die Hauptverwaltung der Reichsbahn abzusetzen".73 Dies verdeutlicht, daß Dietrich im wesentlichen wegen der reparationspolitischen Priorität auf die konjunkturpolitische Linie Brünings einlenkte und erklärte auch, warum er in den Kabinettssitzungen wiederholt gegensätzliche konjunkturpolitische Auffassungen vertrat: "Die unproduktiven Teile der Wirtschaft müßten verkleinert, die öffentlichen Verwaltungs- und Soziallasten verringert werden". Desgleichen wies er aber darauf hin, daß die Preis senkung "auf dem inneren Markte keine Belebung bringen,,74 könne und aufgrund des zunehmenden Protektionismus der Industrieländer keine auch nennenswerte Steigerung des Exportes zu erwarten sei. 75 Als seine Anregung, trotz der deflationistischen Linie der Reichsregierung die Depression durch die Vergabe öffentlicher Aufträge in der Bauwirtschaft sowie die Exportförderung abzumildern, bei Brüning, Luther und Trendelenburg auf Ablehnung stieß,76 versuchte Dietrich, den Wirtschaftsbeirat beim Reichspräsidenten zu Ministerbesprechung vom 2.10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 502, S. 1794. Tagebucheintragung Schäffers vom 2. 10. 1931, HZ, ED 93/14. 74 Ministerbesprechung vom 2. 10. 1931, AdR, Briining, Nr. 503, S. 1795. 75 Dietrich führte aus: "Alle Länder suchten sich gegeneinander industriell abzusperren. Die Bewegung werde wachsen, je mehr Deutschland die anderen Länder unterbiete". Ebd. 76 Brüning setzte der Auffassung Dietrichs die altbekannten Argumente entgegen: Die Arbeitsbeschaffung sei nur eine Vorwegnahme der künftigen Arbeiten, und Deutschland könne 72

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2. Der Vorstoß Warmbolds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats

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aktivieren, um seiner konjunkturpolitischen Auffassung Geltung zu verschaffen. Im Ausschuß des Wirtschaftsbeirats für die Kreditfrage engagierte sich der Reichsfinanzminister für eine expansive Geldpolitik, nachdem sein Vorschlag, einen Arbeitsausschuß für die Arbeitsbeschaffung beim Wirtschaftsbeirat zu bilden, an den Einwänden Brünings gescheitert war. 77 Dem Argument Luthers, daß die Geldmenge nur auf Veränderungen der Warenmenge reagieren könne, setzte Dietrich die Auffassung entgegen, "Kapital könne nicht entstehen, wenn nicht die Produktion durch Kapital in Gang gesetzt werde".78 Die Fortführung der reaktiven Geldpolitik in einer Deflation müsse nach der Auffassung des Reichsfinanzministers zu einem völligen Zusammenbruch der Wirtschaft führen. Sein Widerstreben gegen die Deflationspolitik brachte ihn schließlich dazu, die derzeitige Losung der Brüningschen Wirtschaftspolitik, nämlich die Verschärfung der Deflation als Antwort auf die Pfundabwertung, grundsätzlich in Frage zu stellen: "Die Wirtschaftspolitik könne sich nicht nach dem Kurs des englischen Pfundes richten".79 Aber auch in den Beratungen des Wirtschaftsbeirates blieb Dietrich weithin erfolglos in seinen Bemühungen. In der oben erwähnten Sitzung des Kreditausschusses vom 11. November 1931 trug er eine seinem Plädoyer für eine expansive Konjunkturpolitik diametral entgegengesetzte Auffassung vor: "Wenn das Reich seine Ausgaben kürzen und seine Einnahmen weiter steigern müsse, dann werde Tiefpunkt der Entwicklung bald erreicht sein. Der Binnenmarkt müsse sich dann heben".8o Brüning legte offensichtlich den Kabinettsmitgliedern, die die Ausschußsitzungen leiteten, die Direktive auf, die Beratungen in Richtung der Deflationspolitik zu lenken und konnte so offenbar auch Dietrich zu seinen Gunsten beeinflussen, der zwar von allen Kabinettsmitgliedern am konsequentesten und klarsten die Folgen der Deflationspolitik und mögliche Wege zu ihrer Überwindung sah, wegen seiner reparationspolitischen Haltung aber dennoch ein widerwilliger Mitläufer der Brüningschen Deflationspolitik blieb. Während sich Dietrich hauptsächlich von einer fiskalischen Expansion einen Konjunkturaufschwung versprach, die ihn in der Frage der Finanzierung der Arohnehin nicht allein aus der Depression herauskommen. Trendelenburg vertrat das ebenfalls gängige Argument, daß die Arbeitsbeschaffung erst dann Wirkung zeigen könne, wenn der konjunkturelle Abschwung die Talsohle erreiche. Dietrich wurde zwar von Stegerwald untersützt, der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aber nicht wirtschaftspolitisch, sonder sozialpolitisch betrachtete, um die sozialen Härten der Deflationspolitik abzumildern. Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Ministerbesprechung vorn 2. 10. 1931, ItZ, ED 93 114. Ende Oktober 1931 kommentierte Luther die Auffassung Dietrichs mit den Worten: "Er lebt eben in völlig binnenwirtschaftlichen Gedankengängen". Tagesbericht Luthers vorn 28. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366. 77 Vgl. Ministerbesprechung am 28.10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 524, S. 1853. 78 Sitzung des Ausschusses 11 des Wirtschafts beirats vorn 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 551, S. 1955. Diese Auffassung bezeichnete Luther als "inflationistisch". Vgl. Tagesbericht Luthers vorn 11. 11. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 356, S. 1093. 79 Chefbesprechung am 24.11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 568, S. 2006. 80 Sitzung des Ausschusses 11 des Wirtschafts beirats vorn 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 551, S. 1955.

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VI. Der Verlauf der Diskussion bis zum Jahresende 1931

beitsbeschaffungsmaßnahmen in Konflikt mit Luther geraten ließ, und seine Angriffe auf den konjunkturpolitischen Kurs Brünings halbherzig blieben, erwartete ein anderer Reformer innerhalb des Reichskabinetts, der neue Reichswirtschaftsminister Hermann Warmbold, ausschließlich von einer monetären Expansion einen konjunkturellen Aufschwung. Er führte die sich verschärfende Depression auf den Zusammenbruch des deutschen Kreditsystems und auf die Schrumpfung der Geldund Kreditmenge zurück. Da Warmbold aber zugleich am Goldstandard festhielt,81 mußte er zwischen den Desideraten Kreditausweitung und Bewahrung der Parität der Reichsmark lavieren, so daß sich seine Reformvorschläge auf die Deckungsfrage der Reichsbanknoten, die Umgestaltung des gesamten Kreditsystems und die Frage der Devisenbewirtschaftung erstreckten. Aufgrund solch weitreichender kreditpolitischer Reformvorstellungen wurde der Reichswirtschaftsminister unvermeidlich zum Hauptkontrahenten des Reichsbankpräsidenten Luther im zweiten Kabinett Brüning. Warmbold schlug zunächst vor, nach englischem Vorbild die umlaufenden Zentralbanknoten auf zweifachem Wege zu decken. In Höhe von 2 Mrd. RM sollte Geld für Konsumzwecke in Form von Scheidemünzen und ohne Deckung durch Gold und Devisen in Umlauf gebracht werden, während das Geld für die Produktionssphäre durch Gold und Devisen gedeckt werden sollte. Warmbold hielt die Deckung des lediglich auf dem Binnenmarkt verwendeten Konsumentengeldes durch Gold und Devisen für überflüssig, weil die Notwendigkeit der Golddeckung von der Verbindung der Volkswirtschaft mit dem Ausland herrühre, so daß für das Konsumentengeld die Deckung durch eine Schuld des Reiches gegenüber der Reichsbank ausreichend sei. Wenn Bargeld in Höhe von 2 Mrd. RM immerhin ein Drittel der seinerzeit umlaufenden Reichsbanknoten - der Golddekkung entbehre, könne sich die prekäre Deckungslage der Reichsbank schlagartig verbessern und dadurch die Reichsbank über einen entsprechend größeren Spielraum für die Kreditgewährung verfügen. Warmbold glaubte, auf diese Weise das Volumen des Reichsbankkredits um 2 Mrd. RM - die zu dieser Zeit magische Zahl bzw. Summe schlechthin - erweitern zu können, ohne eine inflationäre Wirkung aus der Dualisierung der Notendeckung befürchten zu müssen. 82 Als Warmbold den Vorschlag, der nichts anderes als den erst Mitte Januar 1932 in die Öffentlichkeit gelangenden Wagemann-Plan zum Inhalt hatte, am 28. Oktober 1931 im Reichskabinett unterbreitete, sah Luther das Refonnkonzept keineswegs als inflationistisch an. 83 In seinen Augen drohe die Inflation aber, weil das von der Reichsschuld gedeckte Konsumentengeld der Kontrolle der Reichsbank entzogen sein und der Verantwortung der Reichsregierung und gegebenenfalls dem Reichstag, also der Politik, überlassen werde, kurzum weil das "Reichsgeld", wie es Schäffer nannte,84politisiert werden könne. Gegenüber Warmbold erklärte LuVgl. Ministerbesprechung am 27.10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 523, S. 1845. Vgl. Wirtschaftsausschuß des Reichskabinetts am 28. 10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 525, S. 1857; G. Schulz, Von Brüning zu Hitler, S. 617. 83 Luther, Tagesbericht, 28. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366. 81

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2. Der Vorstoß Warmbo1ds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats

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ther deshalb dezidiert: "Jedenfalls bleibt mein Hauptgesichtspunkt, daß die Dinge nicht aus der Hand der Notenbank herausgegeben werden dürften".85 Also waren die Bedenken Luthers gegen eine Dualisierung der Notendeckung nicht primär auf die Inflationsgefahr, sondern auf seine Befürchtung zurückzuführen, daß der Reichsbank dann die geldpolitische Kontrolle aus der Hand gleiten würde. Des weiteren schwebte Warmbold eine umfassende Umschuldung der Kredite und Schulden der Banken vor. Er regte zunächst an, die eingefrorenen Bankenkredite durch die Emission neuer Schuldverschreibungen zu liquidieren. Luther, der von dem Vorschlag ebenfalls keine Gefahr für die Währung befürchtete, machte gegenüber Warmbold indes klar, daß von der Umschuldung, auch wenn der Vorschlag Warmbolds realisiert würde, keine monetäre Expansion zu erwarten sei. Die Lombardierung der neuen Schuldscheine durch die Reichsbank könne nur zu den Kosten normaler Lombardkredite erfolgen,86 so daß das Volumen der Lombardkredite unverändert bliebe. Warmbold schlug weiter vor, die Forderungen der Bankengläubiger zum Teil in "pfandbriefartige Ansprüche" umzuwandeln. 87 Diese Idee, deren Realisierung wegen der vorhersehbaren Kurseinbußen der neuen Papiere auf eine Abwertung von Forderungen hinauslaufen mußte, hielt Luther zwar im Prinzip für richtig und erinnerte an einen ähnlichen Vorschlag, den er selbst anläßlich des Normalisierung des Zahlungsverkehrs Anfang August 1931 gemacht hatte. Jedoch lehnte Luther den Vorschlag mit dem Hinweis auf die Gefahr eines erneuten Runs auf die Sparkassen und Banken ab. Es sei davon auszugehen, so Luther, daß die Gläubiger sich die von der Umwandlung ausgeschlossenen Forderungen sofort auszahlen lassen wollten. Schließlich erstreckten sich die Reformvorstellungen Warmbolds auf eine Umstrukturierung des Kreditsystems der Reichsbank. Allerdings waren seine Ideen diesbezüglich sehr vage, wie seine Äußerungen in den Kabinettssitzungen bewiesen. 88 In einem Brief an Luther von Mitte November 1931 beurteilte er die "Ge1dschöpfung" der Reichsbank als "nicht günstig".89 Dieser Satz kam Luther so "seltsam" vor, daß er den Brief sofort mit Dreyse besprach. 9o In seiner Antwort an Warmbold erklärte Luther dezidiert, daß er weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit einer grundlegenden Reform des Kreditsystems der Reichsbank sehe, gleichgültig, was sich Warmbold dabei vorstelle. Luther betonte, daß er jede psychologische Erschütterung der Währung vermeiden wolle, die mit einer grundlegenden Reform des Kreditsystems "unvermeidlich" verbunden Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 28. 10. 1931, HZ, ED 93/14. Luther, Tagesbericht, 4. 11. 1931, BAK, NL Luther, 366. 86 Vgl. Wirtschaftsausschuß des Reichskabinetts vom 28. 10.1931, AdR, Brüning, Nr. 525, S. 1858. 87 Vgl. Luther, Tagesbericht, 28. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366. 88 Vgl. Wirtschafts ausschuß des Reichskabinetts vom 28. 10.1931, AdR, Brüning, Nr. 525, S. 1857; Tagebucheintragung Schäffers über die Kabinettssitzung vom 18.11. 1931, HZ, ED 93/15. 89 Vgl. Warmbo1d an Luther, 20. 11. 1931, BAK, NL Luther, 338. 90 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 20. 11. 1931, BAK, NL Luther, 367. 84 85

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VI. Der Verlauf der Diskussion bis zum Jabresende 1931

sei. 91 Obwohl Warmbold angesichts dieser unmißverständlichen Stellungnahme des Reichsbankpräsidenten nicht mehr den Gedanken der Reichsbankreform aufgriff und konkretisierte, liegt die Vermutung nahe, daß Warmbold dabei die Offenmarktpolitik und die Kontrolle des Giralgeldes durch die Reichsbank im Auge hatte, die sich später auch als Bestandteile des Wagemann-Plans herauskristallisieren sollten. Nicht nur Luther, sondern auch Schäffer verhielt sich den Vorschlägen Warmbolds gegenüber sehr ablehnend92 , während Stegerwald davor warnte, "mit Währungsspielerei zu beginnen".93 Warmbold gab trotz der Frontbildung der Kabinettsmitglieder gegen sein Konzept die Absicht nicht auf, eine monetäre Expansion in Gang zu setzen. Die eklatante Widersprüchlichkeit der mit der bevorstehenden Notverordnung beabsichtigten Maßnahmen der Reichsregierung schien für die Wiederaufnahme der Diskussion geeignet: Das Reichskabinett sah sich aufgrund der vorhersehbaren Etatdefizite gezwungen, die Umsatzsteuer von 0,85% auf 2% zu erhöhen, was dem Ziel der Senkung des allgemeinen Preisniveaus zuwiderlief, auf die alle anderen Maßnahmen, die Zinskonvertierung, die Mietsenkung, die Lohnsenkung und die direkten Eingriffe in die gebundene Preise, ausgerichtet waren. Warmbold legte Brüning zunächst nahe, einen defizitären Haushalt der konjunkturschädigenden Umsatzsteuererhöhung vorzuziehen. Nach der Vorstellung Warmbolds sollte die Reichsbank Etatdefizite, die, selbst wenn man mit der Umsatzsteuererhöhung einen ausgeglichenen Haushaltsplan aufstellen würde, wegen der konjunkturbedingten Einnahmeausfälle unvermeidlich auftreten müßten, überbrücken. 94 Als Luther dies erwartungsgemäß ablehnte, schlug Warmbold eine Zwangsanleihe auf Vermögen vor, die auf die einhellige Ablehnung des Reichskabinetts stieß. Unter andern sprachen sich Brüning, Luther, Dietrich, Schäffer, Arthur Zarden (Ministerialdirektor im Reichsfinanzministerium), Arthur Norden (Ministerialdirigent im Reichsfinanzministeriuin) und Schwerin von Krosigk dagegen aus. 95 Die Undurchführbarkeit einer Zwangsanleihe begründete Schäffer folgendermaßen: Die meisten Eigentümer nennenswerter Vermögen, nämlich Unternehmer, Grundstücks- und Hausbesitzer, müßten aufgrund des Liquiditätsmangels von den Banken Kredite aufnehmen, um die Zwangsanleihe zahlen zu können; die Banken könnten die Kredite aber nicht gewähren, ohne ihre Liquidität zu verschlechtern, und wollten dies auch nicht, weil die Kredite nur an den Fiskus abgeführt würden und sie wüßten, daß diese Kredite eingefroren würden. 96 Diesen Ausführungen fügte Luther hinzu: "Letzten Endes 91 Vgl. Luther an Warmbold, 23. 11. 1931, BAK, NL Luther, 338. Drei Tage später schrieb Luther in seinem Tagebuch: "Zum Gespräch mit Warmbold. Geradezu grotesk. Eigensinniger Professor". BAK, NL Luther, 425. 92 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 28. 10. 1931, IfZ, ED 93 /14. 93 Vgl. Wirtschaftsausschuß des Reichskabinetts vom 28. 10.1931, AdR, Brüning, Nr. 525, S. 1859. 94 Vgl. Ministerbesprechung vom 4. 12. 1931, AdR, Brüning, Nr. 585, S. 2052; Tagebucheintragung Schäffers vom 4.12.1931, IfZ, ED 93 /16. 95 Vgl. ebd.

2. Der Vorstoß Warmbolds und die Beratungen des Wirtschaftsbeirats

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würde doch auch diese ganze Finanzierung wiederum bei der Reichsbank enden", da sie nach der Vorstellung des Reichswirtschaftsministers von der Zentralbank vorfinanziert werden sollte. In der Ministerbesprechung vom 6. Dezember 1931, die Brüning auf Drängen Warmbolds zur nochmaligen Beratung der Zwangsanleihe einberief, stellte dieser nochmals sein Konzept dar: "Die Erhöhung der Umsatzsteuer halte er nur für möglich, wenn der Reichsbankdiskontsatz gesenkt und das Kreditvolumen erweitert würde".97 Für Warmbold war also zweitrangig, ob man die Umsatzsteuer erhöhte oder eine Zwangsanleihe einführte, solange nur die Geldmenge erhöht werde. Das Kabinett entschied sich letzten Endes für die Umstatzsteuererhöhung, allerdings ohne sie mit einer monetären Expansion zu verknüpfen. 98 Da Warmbold die Steuererhöhung nicht mitzutragen bereit war, verlangte er am Abend des 7. Dezember 1931 von Brüning, der gerade auf dem Weg zu Hindenburg für die Unterschrift unter die Notverordnung war, seine bereits gegebene Unterschrift zurückzuziehen und reichte seine Demission ein 99 , ohne damit die Ausfertigung der vierten Notverordnung zur Sanierung von Wirtschaft und Finanzen verhindern zu können. So unermüdlich sich Warmbold für die Kreditausweitung einsetzte, war seine Haltung doch ebenso widersprüchlich wie diejenige Dietrichs. In der Ministerbesprechung vom 27. Oktober 1931 erläuterte er erstmals nach seinem Amtsantritt seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen: die Löhne, Tarife, Gebühren, Zinsen, Mieten müßten gleichzeitig gesenkt werden, damit die Preise herabgesetzt werden könnten. 100 Im Wirtschaftsausschuß des Reichskabinetts hob er dann am folgenden Tag die mangelnde Geldmenge als entscheidenden Grund für die Verschärfung der Krise hervor und unterbreitete die oben ausführlich dargestellten Reformvorschläge. Dieser Widerspruch ist, anders als bei Dietrich, nicht auf seine Übereinstimmung mit Brünings Reparationspolitik zurückzuführen, für die er sich kaum interessierte, sondern eher auf wirtschaftstheoretische Ungereimtheiten seiner Argumentation. Warmbolds konjunkturtheoretische Position schwankte zwischen Kontraktion und Expansion. Er hatte sich in der Besprechung mit Brüning am 96 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vorn 4. 12. 1931, ebd. Gegenüber Luther bezeichnete Schäffer den Vorschlag Warmbolds als ein Ansinnen, "den Stein der Weisen zu lombardieren". Vgl. Tagebuchaufzeichnung Luthers vorn 5.12.1931, BAK, NL Luther, 425. 97 Ministerbesprechung vorn 6.12.1931, AdR, Brüning, Nr. 591, S. 2072. 98 In der Kabinettssitzung vorn 8. 12. 1931 versuchte Dietrich, Warmbold Schützenhilfe zu leisten. Dietrich stellte die provozierende Frage, "ob Deutschland mit dem Deckungssystem der Bank von England sich helfen könnte". Da dies gerade den Kernpunkt der Vorschläge Warmbolds darstellte, bedeutete die Frage Dietrichs eine klare Parteinahme für Warmbold. Aber diese Unterstützung karn für Warmbold zu spät, da Brüning und Luther die Erörterung über diese Frage mit dem Hinweis auf den Zeitdruck blockierten. Vgl. Tagesbericht Luthers vorn 7. 12. 1931, BAK, NL Luther, 367. 99 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 479. Wegen der Weigerung Warmbolds, der NotVO seine Unterschrift zu geben, mußte Brüning schließlich alle Unterschriften außer seiner eigenen, Groeners und Dietrichs streichen. wo Vgl. Ministerbesprechung vorn 27. 10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 523, S. 1845.

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VI. Der Verlauf der Diskussion bis zum Jahresende 1931

3. August 1931 auf den Standpunkt gestellt, daß die aufgeblähte Wirtschaft "einmal bereinigt werden muß"lOI, aber zugleich hervorgehoben, daß die Belebung der Konjunktur nur durch Kreditausweitung herbeigeführt werden könne und die monetäre Expansion Vorrang genieße. Er setzte also die Priorität auf eine expansive Geldpolitik, ohne die Vorzüge der kontraktiven Preis-, Finanz- und Tarifp01itik abzulehnen. Der Widerspruch im Verhalten Warmbolds ist auf seine Taktik zurückzuführen, die kontraktive Konjunkturpolitik Brünings soweit es ihm möglich schien auch nach außen mitzutragen, sich aber intern für die expansive Geld- und Konjunkturpolitik einzusetzen. Die Doppelstrategie Warmbolds erklärte auch sein widersprüchliches Verhalten in den Beratungen des Wirtschaftsbeirats. In der Ausschußsitzung vom 11. November 1931 führte er einerseits aus, die Erhöhung der Ge1dund Kreditmenge werde einen "dynamischen" Prozeß des konjunkturellen Aufschwungs in Gang setzen. Sowohl die Konsumnachfrage als auch die Investitionsnachfrage und die Preise würden steigen, ohne daß es zur Inflation komme. Gegenüber Luther, der auf der Position beharrte, daß der konjunkturelle Aufschwung ausschließlich von der Güterseite her kommen könne, betonte er, daß man zumindest eine "Anlauffinanzierung" bereitstellen müsse, weil selbst die bereits erteilten Aufträge aufgrund des Mangels an Krediten nicht finanziert werden könnten. 102 In der gleichen Sitzung führte Warmbold aber andererseits aus, daß der Aufschwung erst dann einsetzen könne, wenn der konjunkturelle Abschwung den Tiefpunkt erreicht habe. In der Ausschußsitzung vom 16. November 1931, welche die Frage der Kreditausweitung abschließend behandelte, erklärte er, daß der Zeitpunkt für die Kreditausweitung nicht als gekommen angesehen werden könne lO3 , während er in einer Unterredung mit Luther bereits am 4. November 1931 behauptet hatte, daß sich die Konjunktur bereits auf der Talsohle befinde. 104 Offenkundig hat Warmbold seine Auffassung nicht zu jedem Zeitpunkt unverhüllt vertreten, sondern sich in der Öffentlichkeit der von Brüning geforderten Kabinettsdisziplin unterworfen und die stereotype Erklärung der Reichsregierung übernommen. Von Bedeutung ist, daß der Wirtschaftsbeirat unter maßgebender Beteiligung der Reformer innerhalb des Reichskabinetts, namentlich Warmbolds und Dietrichs, die deflationistischen Leitsätze aufstellte 105 und die beiden Reformer somit in die Deflationspolitik Brünings eingebunden wurden, da die Leitsätze für die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung hohe Verbindlichkeit besaßen. Es war ofVgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 3. 8. 1931, HZ, ED 93 /13. Vgl. Sitzung des Arbeitsausschusses lides Wirtschaftsbeirats vom 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 551, S. 1956; Tagesbericht Luthers vom 11. 11. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 356, S. 1093 f. 103 Vgl. Sitzung des Ausschusses II des Wirtschaftsbeirats vom 16. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 554, S. 1962. 104 Vgl. Tagesbericht Luthers vom 4. 11. 1931, BAK, NL Luther, 366. 105 Vgl. Verlautbarung über die Schlußsitzung des Wirtschaftsbeirats vom 23. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 564, S. 1993. 101

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fensichtlich ein taktischer Irrtum Warmbolds, es für möglich zu halten, die Reichsregierung durch partielle deflationspolitische Kooperation in Richtung einer expansiven Konjunkturpolitik lenken zu können. Dies schien nur realistisch, wenn Brüning denselben Weg zu gehen bereit gewesen wäre, und es ist nicht ausgeschlossen, daß Brüning Warmbold gegenüber zustimmende Andeutungen in diese Richtung gemacht hat, als er ihm im September 1931 den Ministerposten anbot. 106 Nach einem späteren Bericht Wagemanns, des Schwagers Warmbolds, sei Warmbold in der Tat unter der Bedingung in das Kabinett eingetreten, daß eine Reform des Währungs- und Kreditsystems erfolge. 107 Brüning wollte jedoch keine monetäre Expansion, bevor er die Streichung der Reparationen erreicht hatte. Das Scheitern des Warmboldschen Versuches, die Reichsregierung auf geldpolitischen Expansionskurs zu bringen, macht deutlich, daß die Bildung des Wirtschaftsbeirates ein Schachzug Brünings war, der sich nicht nur gegen die in dem Gremium vertretenen verschiedenen Berufsgruppen, sondern, wenn auch in unvergleichbar kleinerem Maße, gegen die Reformer im Kabinett richtete. Kaum schnitt Warmbold Ende Oktober 1931 die Frage der Reformen des Kreditsystems an, verteidigte der Wirtschaftsbeirat die Deflationspolitik Brünings in seinen Sitzungen vehement. Als Warmbold nach dem Abschluß der Beratungen des Wirtschaftsbeirates Ende November 1931 in der Diskussion über die Umsatzsteuererhöhung für die Kreditausweitung kämpfte, war seine Position aussichtslos, weil sich das Reichskabinett bereits in der Endphase der Beratungen für die NotVO vom 8. Dezember 1931 befand. Warmbold mußte sich schließlich mit dem Versprechen Brünings abfinden, seine Ideen zur Kreditausweitung im Februar 1932 zu prüfen. 108 Der Wirtschaftsrat wahrte zu den Besprechungen, die Brüning im Juli / August 1931 mit den sog. Wirtschaftssachverständigen geführt hatte, insofern Kontinuität, als der Reichskanzler die damals erfolgreich praktizierte Taktik nochmals anwandte, die Repräsentanten der verschiedenen Berufsgruppen als Einze1personen zu gemeinsamen Beratungen einzuberufen,109 miteinander reden zu lassen und ihnen zu verdeutlichen, daß sie über kein tragbares Konzept verfügten, damit schließlich die deflationspolitische Linie der Reichsregierung als das einzige politisch trag- und mehrheitsfähige Konzept durchgesetzt werden konnte. Diesen taktischen Überlegungen Brünings entsprach der tatsächliche Verlauf der Beratungen des Wirtschaftsbeirates, die rasch einen Konsens herbeiführten, daß die Währungsstabilität unter keinen Umständen gefährdet werden dürfe. Damit wurde eine wichtige Rahmenbedingung für die weiteren Beratungen geschaffen, die Brüning nur recht sein konnte. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer sprach sich zwar 106 Vgl. zur Umbildung des Reichskabinetts R. Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAp, S. 103 f. 107 Vgl. Erwin Respondek, Persönliche Notiz über die Aussprache mit Professor Wagemann, 29. 2.1932, BAK, NL Luther, 151. 108 Vgl. Brüning, Memoiren, S. 479. 109 Vgl. H. Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler, S. 20 ff.

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auch für die Belebung des Binnenmarktes aus,1I0 aber niemand außer Silverberg legte ein Konzept vor, das diese Forderung konkretisierte. Darüber hinaus verteidigten die Beteiligten die Einzelinteressen der jeweiligen Berufsgruppen und blokkierten sich gegenseitig, und zwar Arbeitgeber gegen Gewerkschaften, Handwerker gegen Großkonzerne, Industrie, Handel und Handwerk gegen die Landwirtschaft, so daß letzten Endes nur der von den Regierungsvertretern angesteuerte Minimalkonsens über die Verschärfung der Deflationspolitik übrigblieb. Unter diesen Bedingungen war Silverbergs Konzept zur Kreditausweitung im Wirtschaftsbeirat nicht durchsetzungsfähig. Die Erfolgschance des zweiten Silverberg-Plans war in doppelter Hinsicht von der Bereitschaft der Reichsbank abhängig, dem Sinn des Plans entsprechend die Geldmenge zu erhöhen. Der springende Punkt des Konzepts lag darin, zusätzliche Wechselkredite der Reichsbank neben dem bereits bestehenden Volumen zu schaffen. Die zusätzliche Kreditausweitung wäre jedoch auch bei der Realisierung des Plans nur dann möglich gewesen, wenn die Reichsbank das bestehende Volumen ihrer Wechselkredite wegen der neuen Kredite nicht reduzieren würde. Selbst wenn die Reichsbank sich auch so verhalten hätte, war die Realisierung des Plans nur dann sinnvoll, wenn die Reichsbank die Verrechnungsschecks als Geldmittel behandelte. Sonst erhöhte sich lediglich der Zinssatz der besten Handelswechsel, weil man diese Wechsel zum Zinssatz von insgesamt 12% (Diskontsatz von 4% bei der Diskontbank plus Diskontsatz von 8% bei der Reichsbank) verkaufen mußte. Die Reichsbank war jedoch nicht bereit, der Vorstellung Silverbergs entsprechend zu handeln. Sie dachte nicht daran, die besten Handelswechsel der neuen Diskontbank zu überlassen, weil sie eine daraus entstandene weitere "Illiquidierung" des Reichsbankportfolios nicht in Kauf nehmen wollte. Des weiteren setzte sie die Differenzierung des Diskontsatzes, den inhaltlichen Kernpunkt des Silverberg-Plans, mit einer Subventionierung der ohnenhin gut situierten Firmen, die die besten Handelswechsel ausstellen konnten, gleich. lI ! Außerdem befürchtete Luther, daß eine monetäre Expansion die Verwaltungs- und Reichsreform durchkreuzen werde. "Erwägungen über den Silverbergschen Plan lenken von den Maßnahmen ab, die ergriffen werden müßten, um das allgemeine Niveau der Ausgaben zu senken".112 Beim Ausschuß des Wirtschaftsbeirates für die Kreditfrage stieß der Silverberg-Plan auf geteilte Meinungen. Robert Pferdmenges und Hermann Schmitz sympathisierten mit dem Plan,113 wähIlO Vgl. Sitzungen des Wirtschaftsbeirates vorn 29. u. 30. 10. 1931. AdR, Brüning, Nr. 527 u. 531, S. 1866 f. u. 1881 f. III Die Statistische Abteilung der Reichsbank legte in ihrer Stellungnahme zum Silverberg-Plan der Reichsregierung nahe, sich "gegen alle Projekte zu stemmen, die auch nur entfernt ein weiteres Anschwellen des Zahlungsmittelumlaufs herbeiführen können". Vgl. St. Abt., Zum Silverbergschen Plan einer Diskontbank, 15. 11. 1931, BAP, 25.01/6494. 112 Sitzung des Ausschusses II des Beirats vorn 11.11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 551, S. 1954. 113 Vgl. Tagesbericht Luthers über die Beiratssitzung vorn 29. 10. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 352, S. 1083; Tagesbericht Luthers über die Ausschußsitzung für die Kreditfrage vorn 16. 11. 1931, BAK, NL Luther, 367.

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rend die Gewerkschafter Otto Suhr und Wilhelm Eggert sowie der Bankier Kurt Schmitt Bedenken äußerten. 114 Der Plan wurde schließlich von dem Ausschuß abgelehnt, weil sich Dietrich und Warmbold entsprechend dem Wunsch Brünings auf die Seite Luthers s~hlugen. 115 Wurde das im Wirtschaftsbeirat vorgelegte einzige Konzept, das den wirtschaftspolitischen Kurs der Reichsregierung fundamental in Frage stellte, zum Scheitern gebracht, stand Brüning nichts im Wege, die deflationistischen Leitsätze aufzustellen, die der Wirtschaftspolitik der Reichsregierung die Aufgabe zuwiesen, die Wirtschaftstätigkeit an die "Preisentwicklungen auf dem Weltmarkt und an die Vermögens- und Einkommenslage in Deutschland anzupassen". 116 Die Leitsätze des Wirtschaftsbeirates zeigten zwar, daß Brüning dieses semikonstitutionelle Gremium zur Durchsetzung seiner Deflationspolitik auszunutzen wußte. Dieser Erfolg war aber hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß der Reichskanzler den Aufgabenkreis des Beratungsgremiums, abgesehen von der Frage der Zinssenkungen und der Verlängerung des Stillhalteabkommens, ohnehin so allgemein faßte, daß keine intensive Beschäftigung mit den Einzelthemen zustandekommen konnte. Der Erfolg Brünings wurde allerdings mit der beschleunigten Entfremdung von den gesellschaftlichen Kräften erkauft,117 für die der Austritt der Repräsentanten der Landwirtschaft aus dem Wirtschaftsrat ein spektakuläres Beispiel gab. Kurz nach der Abschlußsitzung des Wirtschaftsbeirates wurde im Bundesausschuß des ADGB offen verlangt, mit der Tolerierung der Reichsregierung durch die Verbandsführung Schluß zu machenYs Kastl und Hamm betrachteten die Leitsätze ebenfalls mit SkepsisY9 Pünder stellte deshalb resignierend fest, daß man den Wirtschaftsbeirat besser nicht einberufen hätte. 120 Brünings Mißerfolg mit der Einsetzung des Wirtschaftsrates wurde auch in der Frage von Zinssenkungen registriert. Die Zwangskonvertierung der langfristigen Zinsen und die damit eng verbundene Herabsetzung des Diskontsatzes der Reichsbank stellten neben der Formulierung der deutschen Position hinsichtlich der Verlängerung des Stillhalteabkommens den Aufgabenkreis dar, in dem Brüning vom Wirtschafts beirat eine konkrete Beschlußfassung erhoffte. 121 Brüning wies in seinen Memoiren darauf hin, daß er in der gesamten Vorbereitungsphase für die NotVO vom 8. Dezember 1931 seine größten Anstrengungen 114 Vgl. Sitzung des Ausschusses II des Wirtschaftsbeirats vom 10 u. 11. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 547 u. 551, S. 1936,1949 u. 1956. 115 Vgl. Sitzung des Ausschusses II des Beirats vom 11. u. 16. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 551 u. 554, S. 1955 u. 1962. 116 Vgl. Verlautbarung über die Schlußsitzung des Wirtschaftsbeirats, AdR, Brüning, S. 1993. 117 Vgl. H. Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler, S. 20 f. 118 Vgl. G. Schulz, Von Brüning zu Hitler, S. 625. 119 Vgl. Blank an Reusch, 24. 11. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 366, S.1112f. 120 Vgl. G. Schulz, Von Brüning zu Hitler, S. 625.

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auf die Herbeiführung der Zinskonvertierung gerichtet habe. 122 Der Reichskanzler wies tatsächlich den Zinssenkungen eine Schlüsselrolle in seiner Bemühungen um die Herabsetzung des allgemeinen Preisniveaus zu, weil er glaubte, ohne die Mietsenkung, die wiederum nur mit der Zinsreduktion der Hypothekenpfandbriefe herbeigeführt werden konnte, den Arbeitern keine Lohnsenkung mehr zumuten zu können. 123 Die Bemühungen Brünings um die Zwangskonvertierung stießen aber nach der Pfundabwertung auf den heftigen Widerstand von Luther und der Bürokratie der Reichsbank: "Der erste, der absolut absprang, war Luther. Er wollte nicht mehr mitmachen". 124 Luther befürchtete, daß die Banken, wenn die verbilligten Wechselkredite der Reichsbank zur Verfügung stünden, die Reichsbankkredite, mehr als es derzeit der Fall war, in Anspruch nehmen würden, statt die Kreditlinie, also die ausländischen Remboursekredite, zu benutzen, was zur weiteren Schrumpfung des Devisenbestandes der Reichsbank führen müsse. 125 Die Statistische Abteilung der Reichsbank legte mit dem Hinweis auf die Gefahr eines erneuten Runs, die bei der Erschütterung des Vertrauens der Anleger und der Schrumpfung des Devisenbestandes drohe, nahe, den Diskontsatz nicht zu senken, sondern zu erhöhen. 126 Der Widerstand Luthers ließ nicht nach, obwohl das Reichskabinett fast geschlossen hinter Brüning stand, nach dessen Meinung "alle normalen Gesetze der Nationalökonomie in dieser außerordentlichen Periode außer Wirksamkeit gesetzt" 121 Auf der Eröffnungssitzung des Wirtschaftsbeirates bei Hindenburg am 29. Oktober 1931 erklärte Brüning, "daß alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf das Zinsproblem eingestellt werden müßten". AdR, Brüning, Nr. 526, S. 1863. 122 Brüning, Memoiren, S. 371. In der Tat wurden beinahe die ganzen Beratungen für die neue Notverordnung, von der Einsetzung eines geheimen Ausschusses über die zahlreichen Kabinettssitzungen bis zum Arbeitsausschuß des Wirtschaftsbeirates für die Kreditfrage, von der Frage der Zinskonvertierung beherrscht. Der geheime Ausschuß, von dem Brüning in seinen Memoiren sprach, war offenbar der Arbeitsausschuß, der sich aus Franz Schlegelberger (Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium), Hans Schippel (Treuhänder der DanatBank), Egbert Munzer (Ministerialbeamter im Reichswirtschaftsministerium) und Hans Gestrich (Pressereferent der Reichsbank) zusammensetzte und Mitte Oktober 1931 einen "Arbeitsplan für ein einheitliches Arbeitsprogramm" ausarbeitete. Vgl. Munzer an Trendelenburg, 15. 10. 1931, Arbeitsplan für eine einheitliches Wirtschaftsprogramm, BAK, NL Luther, 337; Tagesbericht Luthers über die Unterredung mit Brüning, Trendelenburg und Pünder vorn 26. 9. 1931, BAK, NL Luther, 366. 123 Der Zinssenkung schrieb Brüning auch eine eminent wichtige politische Bedeutung zu, weil die Landwirtschaft seit langem ein Moratorium für die Agrarkredite und sogar einen speziellen Diskontsatz für die Agrarwechsel verlangte. Vgl. Graf Kanitz an Brüning, 18. 10.1931, AdR, Brüning, Nr. 520; Tagesbericht Luthers über eine Unterredung mit Ka1ckreuth vorn 1. 8. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 280, S. 857. 124 Brüning, Memoiren, S. 419. 125 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Ministerbesprechung vorn 2. 10. 1931, IfZ, ED 93 / 14. Luther hielt den derzeitigen Diskontsatz von 8% für angemessen, weil die Zinssätze der Remboursekredite 6,5-7,5% betrugen. 126 Vgl. St. Abt., Zur Frage einer Herabsetzung des Zinsfußes für langfristige Anlagen durch Notverordnung, 26.9. 1931, BAP, 25.01 /6547; St. Abt., Gründe gegen eine Errnäßigung des Reichsbankdiskontsatzes, 29. 10. 1931, BAP, 25. 01/6494.

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würden. 127 Brüning konnte in dem sog. Ausschuß 11 des Wirtschaftsbeirates, den er zur Beratung der Zinsfrage installierte, ebenfalls keinen Durchbruch erzielen. Von seinen Mitgliedern sprachen sich nur Rudolf Pferdmenges (Kölner Bankier) und Hermann Holtmeier (Gustbesitzer) für die Zwangskonvertierung aus, während Silverberg, Kurt Schmitt (Allianz Versicherung), Albert Hackelsberger (Handwerksvertreter), Wilhe1m Eggert (Gewerkschaftsvertreter) und Otto Suhr (Angestelltengewerkschaft) den staatlichen Eingriff in die Zinsen ablehnten. In der Frage des Diskontsatzes erklärten sich Schmitt, Suhr und Eggert mit der Diskontpolitik der Reichsbank einverstanden, 128 so daß der Ausschuß bis zu seiner letzten Sitzung am 17. November 1931 keine Übereinstimmung erzielen konnte. Die am 23. November 1931 präsentieren Leitsätze faßte der Wirtschaftsbeirat deshalb dahingehend auf, daß die Reichsbank den Diskont "dann sofort" herabsetzen solle, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen geschaffen würden. Die Senkung der langfristigen Zinsen wurde zwar als "dringend erwünscht" bezeichnet, die Leitsätze registrierten aber offiziell, daß die Ansichten darüber "geteilt" waren. 129 Der hartnäckige Widerstand Luthers gegen die Zinssenkungen verdankte sich dem Umstand, daß er in der Zinsfrage ein Druckmittel gegenüber der Reichsregierung fand, die Reichsreform voranzutreiben. In der Ministerbesprechung vom 2. Oktober 1931 sagte er: "Ich lauere selbst darauf, wie ich der Wirtschaft die notwendige Erleichterung verschaffen kann", da die hohen Zinsen "äußerst gefahrlich wirken".13o Er begründete seine ablehnende Einstellung gegen die Zinssenkung mit der Wahrungsgefahr, und im gleichen Atemzug sagte er, daß die Wahrung gesichert sei, wenn die Reichs- und Verwaltungsreform durchgeführt werde. Desgleichen führte der Reichsbankpräsident in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses vom 28. Oktober 1931 aus: "In diesem Zusammenhang könne man vielleicht auch an die Zinsenfrage in vorsichtiger Form denken. Dann müsse aber eine ganz große und allgemeine Aktion vollzogen werden, die den Glauben des Volkes an sich selbst und der Welt an Deutschland wieder wach ruft, also einschließlich Reichsreform". 131 127 Vgl. Tagesbericht Luthers über die Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Kabinetts vom 28. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366. Zu den Einstellungen von Dietrich, Stegerwald, Treviranus und Schiele vgl. AdR, Brüning, Nr. 502, 503, 524 u. 525, S. 1781 f. u. 1851 f. Trendelenburg und Schäffer, der die Zwangskonvertierung als "das größte Unrecht seit der Inflation" bezeichnete, sprachen sich gegen die Zwangskonvertierung aus. Vgl. Tagebucheintragung Schäffers über die Ministerbesprechung vom 4. 12. 1931, IfZ, NL Schäffer, ED 93 / 16. 128 Vgl. Sitzungen des Wirtschaftsbeirats vom 29. u. 30. 10.1931; Sitzungen des Ausschusses 11 vom 10. u. Il.ll. 1931, AdR, Brüning, Nr. 527,531,547 u. 551, S. 1866 f., 1881 f., 1934 f. u. 1948 f. 129 Vgl. Verlautbarung über die Schlußsitzung des Wirtschaftsbeirats, Anlage der Schlußsitzung des Wirtschaftsbeirats vom 23.11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 564, S. 1995. 130 Vgl. Tagebucheintragung Schäffers vom 2. 10. 1931, IfZ, ED 93 / 14; AdR, Brüning, Nr. 503, S. 1791. 131 Tagesbericht Luthers vom 28. 10. 1931, BAK, NL Luther, 366.

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Die Strategie Luthers, das Streben Brünings nach Zinssenkungen zur Durchführung der Reichsreform zu nutzen, stieß jedoch beim Reichskanzler auf Ablehnung l32 : "Eine Reichsreform sei dringlich, aber würde Widerstände in allen Richtungen zur Folge haben, die ein geordnetes Arbeiten der Regierung unmöglich machen würden".133 Brüning befürchtete, daß ein Versuch, die föderative Struktur zu beseitigen, den zur Streichung der Reparationen erforderlichen Kraftakt der Reichsregierung, wie er mit der NotVO vom 8. Dezember 1931 durchgeführt werden sollte, vereiteln würde. Trotz dieser unmißverständlich ablehnenden Stellungnahme gab Luther nicht auf. In einer Unterredung am 7. November 1931, an der Warmbold, Schiele, Joel und Stegerwald anwesend waren, drängte Luther die Reichsminister, Brüning zur Reichsreform zu bewegen. 134 Kurz vor der Abschlußsitzung des Wirtschaftsbeirates richtete Luther offiziell als Reichsbankpräsident einen Brief an Brüning und forderte nochmals, daß das Reich die preußische Exekutive übernehmen solle. 135 Der Zusammenhang zwischen dem Einschwenken Luthers in die Zinspolitik Brünings Ende November 1931 136 und dem Schritt Brünings, durch die Ausnutzung des Bankrottzustandes Preußens die Verwaltungsreform zu erzwingen und die preußische Justizverwaltung sowie die Preußenkasse auf das Reich zu übertragen,137 läßt sich nicht lückenlos belegen. Es ist aber davon auszugehen, daß Luther mit der strategischen Konzeption Brünings einverstanden war, sich zunächst auf die Streichung der Reparationen zu konzentrieren und zugleich den finanziellen Druck auf Preußen zu steigern, bis das politische Klima nach der Beendigung der Reparationen die Übernahme des Landes ermögliche. Für das Entgegenkommen Luthers gegenüber der zins politischen Forderung Brünings war dessen fester Wille, die Hypothekenzinsen herabzusetzen, ebenso entscheidend wie die stillschweigende Übereinkunft über die Marschroute für die Reichsreform. Luther äu132 Luther wunderte sich darüber, daß Brüning, anders als früher, zu seinen Ausführungen über die Reichsreform in der Ministerbesprechung vom 2. Oktober 1931 einfach schwieg. Vgl. Tagesbericht Luthers vom 2.10. 1931, BAK, NL Luther, 366. 133 Sitzung des Wirtschaftsausschusses der Reichsregierung vom 28. 10. 1931, AdR, Brüning, Nr. 525, S. 1859. 134 Luther führte zunächst aus, daß es drei Wege gebe, weiter zu regieren: Der erste sei "die Traktätchen-Politik" wie bisher; der zweite sei die allgemeine Planwirtschaft; der letzte Weg sei der "eines Frontalangriffs zur Senkung aller Preise, und er gehe nicht ohne die Reichsreform". Dann erklärte er, daß die Politik "nur einer machen könne, aus staatsrechtlichen wie aus persönlichen Gründen, nämlich Brüning". Tagesbericht Luthers vom 7. 11. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 355, S. 1090. 135 Vgl. Luther an Brüning, 20. 11. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 363, S. 1107. 136 Vgl. Tagebuchaufzeichnung Luthers über die Unterredung mit Dreyse, Friedrich und Nordorff vom 30. 11. 1931, BAK, NL Luther, 425. 137 Vgl. Vermerk Pünders über eine Besprechung Brünings mit Braun und Klepper vom 23. 11. 1931, AdR, Brüning, Nr. 566, S. 2001; Tagesbericht Luthers über eine Besprechung mit Klepper vom 24. 11. 1931, BAK, NL Luher, 367; Brüning, Memoiren, S. 485; G. Schulz, Von Brüning zu Hitler, S. 743 f.

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ßerte gegenüber Schäffer Anfang Dezember 1931, "daß man ohne eine Senkung der Zinsen nicht auskommen wird, nicht um der Schuldner willen, sondern weil der Kanzler die Mietsenkung, die er mehrfach in Aussicht gestellt hat, auch durchführen müsse".138 Obendrein setzte Brüning den Reichsbankpräsidenten unter enormen Druck, indem er in der Ministerbesprechung vom 5. Dezember 1931 die zu erlassende Notverordnung unter der Voraussetzung zur Beratung stellte, daß die Reichsbank den Diskontsatz senken werde. 139 Ein weiterer Grund für das Einlenken Luthers in der Zinspolitik lag darin, daß der Reichsbankpräsident mittlerweile von einer notenbankpolitischen Orthodoxie weit entfernt war. Anfang Dezember 1931 lamentierte Luther bitter über die starrsinnige Orthodoxie des Reichsbankdirektoriums und dessen Unfähigkeit, die Geldmenge unbemerkt zu erhöhen, nachdem er mit Dreyse vergeblich Wege zur Überbrückung der Reichskassendefizite, die der Reichsregierung die konjunkturschädliche Umsatzsteuererhöhung ersparen sollten, besprochen hatte. 140 Seine zähen Widerstände gegen die Zinskonvertierung entsprangen, obwohl seine Besorgnis um die Währung nach der Pfundabwertung eine große Rolle spielte, also vor allem dem Interesse an der Reichsreform und beruhten auf der Haltung der Bürokratie der Reichsbank, die sich in internen Papieren Ende November 1931 gegen jegliche Lockerung der Geldpolitik aussprach. 141 Der Vorgang der Zinssenkung war typisch für die seit dem Ausbruch der Bankenkrise betriebene Kreditpolitik Luthers. Er stand einer monetären Expansion zwar nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, aber er handelte erst, als sich der auf ihn ausgeübte Druck unerträglich steigerte. Luther war weder ein halsstarriger Deflationist noch ein monetaristischer Expansionist. Er hielt zwar mit Rücksicht auf die Währungsstabilität an der orthodoxen Reichsbankpolitik fest, aber er war auch anpassungsfähig. Im Hinblick auf die konjunkturpolitischen Optionen im Zeitraum von Mitte September bis Ende 1931 spielte die Pfundabwertung eine bedeutende Rolle. Einer138 Tagebucheintragung Schäffers über eine Unterredung mit Luther vom 2. 12. 1931, HZ, ED 93 /16. 139 Vgl. Ministerbesprechung vom 5. 12. 1931, AdR, Brüning, Nr. 589, S. 2066. Durch die NotVO vom 8. 12. 1931 wurden sämtliche gebundenen Preise und Mieten um 10% gesenkt, Zinsen der langfristigen Schuldverschreibungen und Hypothekenbriefe allgemein um ein Viertel herabgesetzt sowie Tariflöhne und Gehälter auf den Stand vom 10. 1. 1927, höchstens um 15%, gesenkt. Vgl. RGBI, 1931 (I), S. 699 ff. 140 Vgl. Tagebucheintragung Luthers vom 2. 12. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 373, S. 1135. 141 Vgl. St. Abt., Maßnahmen zur Begrenzung der Inanspruchnahme der Reichsbank, 25. 11. 1931, BAP, 25.01 /6494; St. Abt., Ist eine Senkung des Reichsbanksatzes möglich? 28. 11. 1931, ebd. In der Direktoriumssitzung der Reichsbank vom 8. Dezember 1931 war es Luther nur nach einem schweren Kampf gegen seine Direktoriumsmitglieder gelungen, den Diskontsatz um 1%-Punkt auf 7% zu senken, und zwar denkbar knapp mit 4 Stimmen einschließlich seiner eigenen bei 8 Mitgliedern insgesamt und einer Enthaltung. In seinem Tagebuch schrieb Luther wörtlich; "Ich kämpfte, kämpfte". Tagebuchaufzeichnung Luthers vom 8. 12. 1931, in: I. Maurer, Politik und Wirtschaft, Nr. 384, S. 1165.

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seits verunsicherte die Loslösung Englands von dem Goldstandard die Reformer wie Schäffer und Silverberg, die zuvor für einen konjunkturpolitischen Kurswechsel eingetreten waren, so tief, daß diese ins deflationistische Lager zurückkehrten. Andererseits bestärkte sie Brüning in seinem Entschluß, eine engültige Streichung der Reparationen anzustreben, und überzeugte Luther, jegliche Vorschläge, die die W