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German Pages 240 [242] Year 2015
Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, Annemarie Matzke (Hg.) Improvisieren
2009-12-15 16-57-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cc228727965954|(S.
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Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, Annemarie Matzke (Hg.) Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren Kunst – Medien – Praxis
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Gedruckt mit Unterstützung des DFG-Sonderforschungsbereichs 447 »Kulturen des Performativen« und des Zentrums für Bewegungsforschung (Leitung: Gabriele Brandstetter) an der Freien Universität Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1274-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt Hans-Friedrich Bormann/ Gabriele Brandstetter/Annemarie Matzke Improvisieren: eine Eröff nung 7
Georg W. Bertram Improvisation und Normativität 21
Roland Borgards Gesetz, Improvisation, Medien. Improvisationsliteratur bei Thomas Mann (Der Bajazzo) und Hugo Ball (Flametti, »Cabaret Voltaire«) 41
Edgar Landgraf Eine wirklich transzendentale Buffonerie. Improvisation und Improvisationstheater im Kontext der frühromantischen Poetologie 65
Sandro Zanetti Zwischen Konzept und Akt. Spannungsmomente der Improvisation bei Quintilian und Andersen 95
Markus Krajewski Same Procedure as Every Year. Der Butler zwischen Regelvollzug und Improvisation 107
Kai van Eikels Collective Virtuosity, Co-Competition, Attention Economy. Postfordismus und der Wert des Improvisierens 125
Annemarie Matzke Der unmögliche Schauspieler: Theater-Improvisieren 161
Gabriele Brandstetter Selbst-Überraschung: Improvisation im Tanz 183
Friederike Lampert Improvisierte Choreographie – Rezept und Beispiel 201
Christopher Dell Subjekte der Wiederverwertung (Remix) 217
Autorinnen und Autoren 235
Improvisieren : eine Eröffnung Hans-Friedrich Bormann/Gabriele Brandstetter/ Annemarie Matzke
In der Geschichte der Künste nimmt die Improvisation einen wechselvollen Status ein: Seit der Antike folgt die künstlerische oder rhetorische Hervorbringung »ex improviso« unterschiedlichen ästhetischen Regeln und Bewertungskriterien. Lange war dabei die Freiheit des Improvisierens zugleich gebunden an ein komplexes Rahmen-Setting von Regeln zur Hervorbringung des Effekts von Spontaneität – etwa in der Rhetorik, in der Commedia dell’arte oder in der Vortragskunst der Improvisatoren des 17. und 18. Jahrhunderts. Die perfekte Simulation des Unvorbereiteten, die strategische Kontrolle des Nicht-Vorhergesehenen waren der besondere Ausweis des Improvisations-Virtuosen.1 Die in diesem Band versammelten Beiträge beschreiten einen anderen Weg. Sie folgen der Wortbedeutung von improvisus – unvorhergesehen, im Gegensatz zu providere: vorhersehen, Vorkehrungen treffen –, um über den prekären Status von Improvisation nachzudenken. Schließlich steht Improvisation, so verstanden, in einem Gegensatz zur Planung eines Verlaufs, seiner Kalkulation und der damit einhergehenden Kontrolle. Mit ihm ist der Gedanke einer radikalen Öff nung des Tuns verbunden, das sich auf Kontingenz und das Unvorhersehbare als Faktoren der Situation und der Ereignisse einlässt. Mit solcher »Fahrlässigkeit« und Risiko-Bereitschaft ist ein Konzept des Handelns verknüpft, das seine Kompetenz nicht auf das planerische Verfertigen eines (künstlerischen) Produkts richtet, sondern auf die ›extempore‹-Performance eines unwiederholbaren Prozesses. Der Emphase eines Werkes – wie es die autonomie-ästhetischen Konzepte genialer Kreativität debattieren – steht in der Improvisation die Emphase 1. Vgl. zur historischen Figur des Virtuosen und dem Diskurs der Virtuosität Gabriele Brandstetter: »Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002), S. 213-243.
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eines dem Augenblick verhafteten Spiels gegenüber. Es wäre zu fragen, ob nicht in historischen Situationen des politischen und ästhetischen Umbruchs, als ›Symptom‹ von Krise und Krisenbewusstsein, das Improvisatorische als Handlungsmodell seinen Platz behauptet – nicht als Form von Kontingenzbewältigung, sondern vielmehr als Kontingenz-EntfaltungsSpiel im Unvorhersehbaren eines Ausnahmezustandes. Derartige Konfliktszenarien ästhetischer und politischer Optionen des Handelns markieren auch Heinrich von Kleists Reflexionen improvisatorischen Handelns und kontingenter Ereignisse, etwa in dem Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« (1805/06)2. Ein anderes Beispiel ist die folgende Theater-Anekdote: »Herr Unzelmann, der, seit einiger Zeit, in Königsberg Gastrollen gibt, soll zwar, welches das Entscheidende ist, dem Publiko daselbst sehr gefallen: mit den Kritikern aber (wie man aus der Königsberger Zeitung ersieht) und mit der Direktion viel zu schaffen haben. Man erzählt, daß ihm die Direktion verboten, zu improvisieren. Herr Unzelmann der jede Widerspenstigkeit haßt, fügte sich in diesem Befehl: als aber ein Pferd, das man bei der Darstellung eines Stücks, auf die Bühne gebracht hatte, inmitten der Bretter, zur großen Bestürzung des Publikums, Mist fallen ließ: wandte er sich plötzlich, indem er die Rede unterbrach, zu dem Pferde und sprach: ›Hat dir die Direktion nicht verboten, zu improvisieren?‹ – Worüber selbst die Direktion, wie man versichert, gelacht haben soll.«3
Die Anekdote zieht ihre Pointe aus dem Widerspruch von Gesetz – nämlich dem Verbot zu improvisieren – und der Übertretung des Gesetzes als Improvisation. Menschliches Handeln in sozialen Kontexten ist durch Gesetze, Vorschriften, Normen gesteuert, dadurch wird ein Tun (oder »Lassen«) vorhersehbar, kontrollierbar und – in gewissem Rahmen – prognostizierbar. Improvisation hingegen ist – einer weiten Definition gemäß – ein Tun, das Unvorhersehbarem begegnet und dessen Verlauf selbst unvorhersehbar ist; ein Prozess, der nicht einem vorangestellten Plan folgt. Umgekehrt stellt sich jedoch die Frage: Wäre Improvisation überhaupt als solche fassbar, wenn es nicht gewisse Regeln des Handelns gäbe? Kann nicht Improvisation – für die Handelnden selbst und für die Zuschauer – als emergenter Akt erst vor dem Hintergrund von Ordnungsmustern, Regeln und (ästhetischen) Konventionen erscheinen? Anders gefragt: Wie 2. Siehe hierzu auch Edgar Landgraf: »Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis«, in: parapluie 17 (2003), www.parapluie.de/ archiv/improvisation/kunstproduktion vom 11. Mai 2009. 3. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner, München: Hanser 1983; Bd. 2, S. 270.
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viel »Gesetz« ist nötig, damit das Unvorhersehbare in seiner ästhetischen und emotionalen Qualität als spontane Abweichung, Überbietung, Aussetzung der Norm, als Überraschung hervortreten kann? Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass Improvisationen weder vollständig durch Regeln determiniert werden, noch gänzlich ohne Bezug auf Regeln oder Regelhaftigkeit denkbar sind. Vielmehr inauguriert Improvisation Prozesse an den Grenzen von Regeln, bis hin zum Regelbruch, der dann neue Formen und neue Spielräume des Handelns eröffnet. Das Besondere improvisatorischen Agierens hätte dann immer auch eine subversive Komponente: im Aussetzen oder Über-Spielen von Normen – ohne dass der Wert dieser Aktion schon ausgehandelt wäre (wie dies im Befolgen eines ästhetischen Konzepts oder einer Regel-Poetik der Fall ist). Es kann mithin auch etwas ästhetisch Zweifelhaftes herauskommen: z.B. Mist. 4 In Frage steht so stets die Bewertung einer Improvisation; ob sie also gelungen ist oder nicht, ob sie gut, schlecht, spannend oder langweilig war, lässt sich kaum durch objektive Kriterien bestimmen. Dabei steht nicht nur die improvisatorische Kompetenz des Ausführenden zur Debatte. Es geht immer auch um die Frage der Anerkennung einer Improvisation als einer »Leistung«, und das heißt: Die Wahrnehmung des Betrachters ist Teil der improvisatorischen Performance. Worin jedoch besteht die spezifische Aufmerksamkeits-Situation, worin die Responsivität 5 zwischen Improvisierendem und (involviertem) Publikum? Ein wesentlicher Aspekt ist sicherlich die (Mit-)Teilung des Genießens des improvisatorischen Handelns zwischen Akteuren und Publikum: die Überraschung durch unerwartete Aktionen, durch (unvorhersehbare) Reaktionen und Verlaufs-Effekte, das Spiel mit dem Zufall und unkonventionellen Lösungen – nicht zuletzt der Witz einer Situationsbewältigung: aufgefangen in einer blitzschnellen Aktion und aufgelöst im Lachen – wie in Kleists Theater-Anekdote. Die Situ4. Vgl. dazu die Notiz des improvisierenden Musikers Derek Bailey: »Improv is still rubbish«, zit.n. Ben Watson: Derek Bailey and the Story of Free Improvisation, London/New York: Verso 2004, S. 378. Siehe dazu auch: Hans-Friedrich Bormann: »›Improv is still rubbish.‹ Strategien und Aporien der Improvisation«, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E) Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007, S. 125-146. 5. Vgl. zum Begriff der Responsivität Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; ders.: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; sowie Dieter Mersch: »Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung«, in: Erika FischerLichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Wahrnehmung und Medialität (= Theatralität, Band 3), Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 273-299.
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ations-Komik ist freilich nur der theatrale Effekt dieser Szene. Zugleich exponiert der kleine Text – mit dem improvisatorischen Sprechakt – auch ein Paradox der Improvisation. Der improvisierende Einspruch des Schauspielers gegen das Anti-Improvisations-Gesetz der Theaterdirektion macht sich einen Zufall – einen »Unfall«: die Pferdeäpfel auf der Bühne – zunutze. Dieser wird zum Anlass des Einspruchs gegen die (neue) DarstellungsRegel: Ex improviso – an einer in der Rede des Schauspielers nicht vorgesehenen Stelle, den Verlauf der Handlung unterbrechend – zaubert der überraschende Geistesblitz aus dem Unfall des Pferde-Mists eine virtuose Pointe. Erfüllt der Schauspieler jedoch mit dieser unvorhergesehenen Aktion nicht gerade auch eine Erwartung? Denn als begnadeter Improvisator ist er ja bekannt. Der Bruch des Gesetzes – »Du darfst nicht improvisieren!« – durch den Akt einer Improvisation besteht in einer paradoxen Handlung. Indem Unzelmann nämlich das Gesetz demonstrativ befolgt, bricht er es zugleich: Er fällt aus dem Text – dem Zufall folgend –, er unterbricht seine (vorgeschriebene) Rede mit der Anrede an das Pferd, den Gesetzestext zitierend – »›Hat dir die Direktion nicht verboten, zu improvisieren?‹« – und improvisiert gerade damit, dass er durch das Zitat des Verbots, gleichsam mit dem Finger des Gesetzes, auf den Bruch hinweist und diesen – als Improvisation – vollzieht. *** Bis heute gilt das Theater, ebenso wie die Musik – besonders der Jazz mit seinen unterschiedlichen Spielarten, aber auch bestimmte Formen zeitgenössischer Musik – als ein bevorzugter Schauplatz der Improvisation. In beiden Fällen wird das Thema häufig in Form von praktischen Ratgebern abgehandelt, die auf die Kompetenz des Ausführenden abzielen und das Handeln so abermals bestimmten Regeln und Konventionen unterstellen. Allerdings liegen inzwischen auch einige Untersuchungen aus diesen Bereichen vor, die das problematische Moment des Improvisierens berücksichtigen.6 Weitere Ansätze dazu finden sich in der Philosophie und Lite6. Vgl. eine Auswahl der jüngeren Publikationen, die für eine Theorie der Improvisation von Bedeutung sind: Derek Bailey: Improvisation. Its Nature and Practice in Music. Revised Edition, New York: Da Capo 1992; Paul F. Berliner: Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, Chicago/London: University of Chicago Press 1994; Christopher Dell: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002; Sabine Feißt: Der Begriff ›Improvisation‹ in der neuen Musik, Sinzig: Schewe 1997; Susan Leigh Foster: Dances That Describe Themselves. The Improvised Choreography of Richard Bull, Connecticut: Wesleyan University Press 2002; Friederike Lampert: Tanzimprovisation. Geschichte,
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raturwissenschaft 7, in der Pädagogik8, in der Soziologie und Kulturwissenschaft9 und in kognitionswissenschaftlichen Forschungen10. Betrachtet man die gegenwärtige Konjunktur der Improvisation, also die programmatische Beschwörung der Improvisation als neuer Arbeits- und Lebensform im Bereich der Wirtschafts- und Organisationstheorie11, so fällt zweierlei auf. Zum einen dient immer wieder und fast ausschließlich der Jazz als Modell einer gelingenden (kollektiven) Produktivität der Improvisation – wobei zumeist unberücksichtigt bleibt, dass es sich dabei um keine einheitliche, zudem eine historisch sich ändernde und auszuhandelnde musikalische Kategorie handelt.12 Wichtiger scheint ohnehin Theorie, Verfahren, Vermittlung, Bielefeld: transcript 2007; Ingrid Monson: Saying Something. Jazz Improvisation and Interaction, Chicago/London: University of Chicago Press 1986; Cynthia J. Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1990; Peter Niklas Wilson: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik, Hofheim: Wolke 1999. Siehe auch die von Walter Fähndrich herausgegebene Reihe »Improvisation«, Winterthur: Amadeus 1992-2003; sowie die Zeitschrift Critical Studies in Improvisation, seit 2004, University of Guelph, Kanada, www. criticalimprov.com vom 08.08.2009. 7. Roland Borgards: »Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 268-286; sowie Maximilian Gröne et al. (Hg.): Improvisation. Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven, Freiburg i.Br.: Rombach 2009. 8. R. Keith Sawyer: Improvised Dialogues: Emergence and Creativity in Conversation, Westport/London: Ablex 2003. 9. Ronald Kurt/Klaus Näumann (Hg.): Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2009. 10. Gerhard Strube: »Modelling Motivation and Action Control in Cognitive Sytems«, in: Ute Schmid (Hg.), Mind Modelling: A Cognitive Science Approach to Reasoning, Learning and Discovery, Lengerich: Papst 1998, S. 89-108. 11. Vgl. exemplarisch die Ausgabe 10/2008 zum Thema Improvisation der wirtschaftsorientierten Kulturzeitschrift brand eins. 12. Vgl. Frank J. Barrett: »Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Implications for Organizational Learning«, in: Organisation Science 9, 5 (1998), S. 605-622; Mary Jo Hatch: »Exploring the Empty Spaces: How Improvisational Jazz Helps Redescribe Organizational Structure«, in: Organization Studies 20, 1 (1999), S. 75-100; dies.: »Jazz as a Metaphor for Organizing in the 21st Century«, in: Organisation Science 9, 5 (1998), S. 556-557; August-Wilhelm Scheer: Jazz-Improvisation und Management (= Veröffentlichungen des Insti-
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der zweite Aspekt zu ein: dass diese Sicht auf Improvisation am Beispiel des Jazz es erlaubt, ökonomisch bestimmtes Handeln mit Vorstellungen künstlerischer Kreativität auszustatten, und zugleich mit dem Glücksversprechen einer Befreiung von Regeln und Zwängen. Die zuvor an die Ausnahmeerscheinung des Genies, der singulären Figur des Virtuosen (hier im doppelten Sinne vom Künstler und Wissenschaftler) geknüpfte Wertschätzung wird auf das arbeitende Kollektiv übertragen, und damit auch die Wertschätzung, die aus der Überwindung von Widerständen und vermeintlich unlösbaren Schwierigkeiten sowie dem Umgang mit Rückschlägen resultiert. Wer improvisiert, so heißt es allerorten, nutze oder erlange ein größeres Maß an Freiheit als derjenige, der dem eigenen oder fremden Wissen, überlieferten Regeln oder vorgegebenen Mustern folgt, er betrete den Möglichkeitsraum eines freien Spiels 13, an dessen umfassendem und universellem Charakter kein Zweifel zu bestehen scheint. Dass dieses Freiheitsversprechen fraglos auch im Bereich der Ökonomie wirksam ist, ohne deren Funktionieren – im Sinne einer radikalen An-Ökonomie – in Frage zu stellen, verstärkt den Argwohn, dass es sich bei der Beschwörung universeller Kreativität wohl nur um einen weiteren »leeren Traum von Freiheit« handelt, den Foucault allen pauschalen und globalen Projekten politischer Veränderung unterstellt hat.14 Versteht man dagegen den Topos der Improvisation in seinem Bezug auf das Gesetz, gerät jener prekäre, problematische Status in den Blick, der – wie bereits am Beispiel der Theater-Anekdote Kleists deutlich wurde – auch die historische Perspektive bestimmt. Die Improvisation wurde und wird nicht nur haltlos gefeiert, sondern auch prinzipiell verworfen. Und ihre Verworfenheit ist ein erster Ansatz, über die spezifische Produktivität der Improvisation nachzudenken, die eben keine Strategie zur Lösung organisatorischer Probleme ist, sondern diese allererst hervor- und zur Entfaltung bringt. *** Wie also wäre das Verhältnis von Handlung und Handelndem unter den Bedingungen von Improvisation zu denken? In Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es: »Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner tutes für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes, Heft 170), Saarbrücken: Iwi 2002. 13. Vgl. Stephen Nachmanovitch: Free Play. Improvisation in Life and Art, New York: Tarcher/Putnam 1990. 14. Vgl. Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Frost/Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1990, S. 35-54, hier S. 49.
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Handlungen.«15 Die Vorstellung, dass sich Absicht und Wille an den Taten messen lassen müssen, ist ein Gemeinplatz – nicht nur der materialistischen Sichtweise auf Moral und Recht. Hegels Formulierung reicht weiter; sie wirft ein Licht auf die wechselseitige Konstitution von Subjekt und Handlung: Statt das Subjekt zur Voraussetzung bzw. zum Ausgangspunkt von Handlungen zu erklären, erscheint es als deren Effekt. So wenig die Handlungen vom Subjekt, so wenig kann das Subjekt von seinen Handlungen gelöst werden. Damit aber steht die Stabilität und die Substantialität des Subjekts als Ursprung ebenso in Frage wie die Verantwortbarkeit der Handlung selbst. Als Effekt einer Reihe ist das Subjekt einer (paradoxen) Zeitlichkeit unterworfen: Es ist, was es wird. Diese doppelte Verweis-Struktur ist geeignet, das Besondere des improvisierenden Handelns zu verdeutlichen. Denn auch die Improvisation lässt sich nicht auf einen sicheren (d.h., seiner selbst gewissen) Ursprung zurückführen. Sie bedarf vielmehr eines Impulses von außen: Dies kann eine manifeste Störung eines Vorhabens, ein Unfall, eine Krise sein; jedoch kann dieser Impuls auch dem Handelnden selbst zugeschrieben – genauer: nicht-zugeschrieben – werden. In aller Strenge ist ein Satz wie »Ich werde gleich improvisieren.« widersinnig: entweder man kann über das Kommende verfügen, es vorher-sehen (dann aber handelt es sich um keine Improvisation), oder man anerkennt, dass das, was nun folgt, un-vorherseh-bar ist (dann aber entzieht es sich jeder Planung). Richtiger wäre es wohl zu sagen, dass man nicht wissen kann, ob man überhaupt, ob man jemals improvisieren wird. Erst im Nachtrag – dann nämlich, wenn nicht mehr improvisiert wird, wenn die Improvisation beendet ist und nur noch als Erinnerung oder in Form einer medialen Aufzeichnung existiert – kann sich der Handelnde das, was er hervorgebracht hat, an-eignen, es zu seinem Eigenen machen – und wird dadurch zum Ursprung des Geschehens, zum Subjekt seiner Handlungen. Wer wirklich improvisieren will, muss darauf setzen, sich von seinem eigenen Tun überraschen lassen zu können, also zum Zuschauer und Zuhörer (s)einer Handlung und ihrer Konsequenzen zu werden. Damit sind nicht allein rechtliche, sondern ethische Fragen aufgerufen, die wenig mit einer Beschwörung von freier Kreativität und ihrem Glücksversprechen zu tun haben. Mit der Frage nach dem Ursprung von Improvisation ist die Frage nach der Notwendigkeit einer Verantwortung gestellt: Kann die Improvisation überhaupt zureichend in den Kategorien von Subjekt und Handlung beschrieben werden? Müssen Subjekt und Handlung nicht vielmehr zurücktreten, um einem (Unter-)Lassen, einem Nicht-Tun 15. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Werke, Band 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 233.
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Raum zu geben?16 Anders gefragt: Wer steht für die Konsequenzen ein, wenn sich etwas Unvorhersehbares zeigt?17 *** Am Beginn unserer Beschäftigung mit der Improvisation stand eine Formulierung, die in ihrer Mehrdeutigkeit geeignet ist, den prekären Charakter der Improvisation zu verdeutlichen: das Unvorhersehbare tun/das unvorhersehbare Tun. Von besonderem Interesse ist dabei, dass ihr Sinn in der mündlichen Wiedergabe unbestimmt bleibt. Anders gesagt: Er hängt von dem Wie der Artikulation ab, also von der performativen Dimension der Sprache – und damit von der Produktivität des (Miss-)Verstehens. Und auch wenn die Konventionen der Schrift-Sprache eine vermeintliche Eindeutigkeit und Verbindlichkeit hervorbringen, tun sie dies um den Preis einer Spaltung bzw. Verdopplung, welche diese Produktivität zurücknimmt. Es geht hier um jene scheinbar marginale, tatsächlich aber entscheidende Verschiebung, die sich auch im Titel dieses Bandes niedergeschlagen hat: Unsere Perspektive ist nicht allein die Improvisation – verstanden als ein wissenschaftliches Konzept, eine künstlerische Strategie, einen kulturellen Topos –, sondern das Improvisieren: eine Praxis des Umgangs mit dem notwendig und immer schon Unvorhersehbaren. Um seine Bedingungen zu erkunden, die Probleme und Paradoxien zu beschreiben und die Konsequenzen für eine künstlerische Praxis zu befragen, haben wir Beiträge aus verschiedenen Fächern versammelt. Denn gerade von den Rändern und jenseits der Grenzen der »klassischen« Disziplinen des Improvisierens und ihrer Praktiken sind Aufschlüsse über ihre problematische Dimension zu erwarten. Paradoxe, Widersprüche und unterschiedliche Formen (von Inszenierungen) des Improvisierens beschäftigen die Beiträge des vorliegenden Bandes, in verschiedensten Künsten, Medien und Handlungs-Konstellationen, die William Forsythe im Blick auf die – möglichen und nicht vorhersehbaren – Bewegungen seiner Tänzer als ein »Sich-selbst-Überraschen« bezeichnet hat. Georg W. Bertram stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Improvisation und Normativität aus philosophischer Sicht. Er geht von dem Befund aus, dass wir im Alltag durchaus über das Ge- und Misslingen von Improvisationen entscheiden können – obwohl sie ja gerade dort einsetzen, wo die Anwendung von Regeln und Normen in Frage gestellt ist. Unter 16. Vgl. Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008. 17. Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink 2002, bes. S. 355-423.
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Rückgriff auf Hegel und am Beispiel des Spiels einer Jazzcombo entwirft er das Konzept einer »Normativität ohne Norm«, die nicht vom Gesetz kontrolliert wird, sondern sich in Form einer Praxis der Anerkennung durch die Akteure selbst realisiert. Roland Borgards entwickelt grundlegende Fragen und Probleme der Improvisation aus der Perspektive literarischer Arbeiten vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel von Thomas Mann und Hugo Ball beschreibt er die kontinuierlichen Verschiebungen, die sich zwischen der Improvisation als Gegenstand literarischer Darstellung und der Improvisation als Ausgangspunkt von Schreib- bzw. Lektüreprozessen vollziehen. Die vermeintlich fest-geschriebenen Texte erweisen sich als dynamisch und flexibel; in den Blick rücken politisch-ästhetische Konfliktszenarien, in denen die Grenzen der Darstellbarkeit selbst reflektiert werden. Ausgehend von dem frühromantischen Konzept des »Universallustspiels« Adam Müllers macht Edgar Landgraf deutlich, dass die Praxis der Improvisation in der Commedia dell’arte ein wichtiger Bezugspunkt für die Entwicklung der modernen Autonomieästhetik war. Das Theater erscheint dabei als Schauplatz potentieller Grenzverschiebungen zwischen Autor und Text, Schauspieler und Figur, Bühne und Zuschauerraum. Damit ist ein Brückenschlag zwischen der romantischen Poetik und der Avantgarde des 20. Jahrhunderts möglich, und Gelegenheit, noch einmal über das Programm einer Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben nachzudenken. Sandro Zanetti diskutiert grundlegende Fragestellungen des Improvisierens zwischen Konzept und Akt im Rückgriff auf die antike Rhetorik zum einen und die Literatur der Romantik zum anderen. Deutlich wird dabei die historische Verschiebung des Improvisierens als Verfahren und Technik für den Sprechenden im Spannungsfeld zwischen Leidenschaft und Kalkül in der Rhetorik hin zur bewussten Herstellung von Unvorhersehbarkeit in der Romantik. Damit rückt er die Position des Rezipienten in den Blick sowie die Frage nach einem spezifischen »Modus der Lektüre« des Improvisierten: Der Leser wird selbst zum Improvisierenden. Anhand der Figur des Butlers und seiner Darstellung in dem bekannten Kurzfi lm Dinner for One analysiert Markus Krajewski das Verhältnis von Routine und Improvisation. Der Zwang und die Notwendigkeit, aufgrund einer Notlage innerhalb eines klar definierten Regelwerks zu improvisieren, eröff net, so die These, ein besonderes Spannungsfeld: zwischen der Aufrechterhaltung der Ordnung und einem Moment der Störung bestehender Hierarchien. In den Blick rückt ein dynamisches Modell zwischen dem festegelegten, repetitiven Rhythmus der Diensttätigkeit und
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einem Modus der Beweglichkeit des Butlers als Akt der Überschreitung im Regelvollzug. Die historischen Transformationen von Improvisationskonzepten im Bereich des Schauspiels als Form theatralen Produzierens zeigt Annemarie Matzke. Als Verfahren der Probenarbeit zur Hervorbringung schauspielerischer Darstellung zielt das Improvisieren auf einen spezifischen Eindruck von Unmittelbarkeit und verweist damit zugleich auf das Problem, wie jener Eindruck in der späteren Auff ührung reproduziert werden kann. Gerade in den Schauspieltheorien des 20. Jahrhunderts lassen sich so immer neue Verschiebungen im Spannungsfeld von Planung, Unmittelbarkeit, Wiederholbarkeit, in dem sich das schauspielerische Improvisieren bewegt, beschreiben. Spielarten und Möglichkeiten des Improvisierens im Tanz untersucht Gabriele Brandstetter anhand dreier Felder: Bewegungs(er)findung, Kompositionsverfahren und der Wahrnehmung und Wirkung von Improvisation. Der Topos des Neuen und des Regelbruchs, der eng mit dem Improvisieren verknüpft ist, eröff net im Bereich des Tanzes einen spezifischen Widerspruch, denn jedes (Er-)Finden von Bewegung muss auf bereits erlernte Körpertechniken zugreifen. Der Beitrag verdeutlicht, wie im Spannungsfeld von Lernen und Verlernen von Körpertechniken, von Regelbruch und kreativem Handeln, das Improvisieren im Sinne einer »Poiesis des Imperfekten« spezifische Effekte von Emergenz hervorbringt. Aus der Perspektive der künstlerischen Tanz-Praxis fragt die Tänzerin und Tanzwissenschaftlerin Friederike Lampert nach den konkreten Voraussetzungen des Improvisierens: Welcher Vorbereitungen, welchen Könnens, welcher Planung bedarf der Akt des Improvisierens im Tanz? Inwieweit werden in der künstlerischen Praxis »Rezepte« – als Theorien der Improvisation – entworfen, die bewusst das Unvorhergesehene hervorrufen sollen? Untersucht werden Verfahren der Contact Improvisation sowie Ausbildungsmodelle im Tanz, die das Improvisieren als Training des Tänzers begreifen. Kai van Eikels untersucht den Transfer zwischen der Improvisation als künstlerischer Praxis und aktuellen Organisationstheorien aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Improvisation erscheint hier als kollektives Geschehen, das auf die Integration des (Sich-)Genießens in den Arbeitsprozess abzielt und vom Paradigma der Virtuosität bestimmt wird. Das Gelingen hängt allerdings auch von jenen Disziplinierungseffekten ab, die durch die Internalisierung des Zeitdrucks und der wechselseitigen Bewertung hervorgerufen werden. Sein Beitrag macht nicht nur die Attraktivität der Jazzcombo als Modell für ein anderes Arbeiten verständlich, sondern auch jene Verschiebungen, die sich im Bereich des Ästhetischen selbst vollziehen. Der Beitrag von Christopher Dell ist zugleich ein persönliches Bekennt16
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nis zur Improvisation und eine virtuose Reflexion der vorangegangenen Beiträge. Als Musiker und Theoretiker erläutert Dell seine Sicht auf Improvisation als künstlerische Praxis und angewandte Theorie; er verknüpft dabei persönliche Erfahrungen mit der Lektüre ästhetischer und politischer Texte. Noch einmal erscheint die Improvisation hier als eine Praxis, die nicht nur eine Herausforderung für die Theorie darstellt, sondern – als (Er-)Öffnung des Denkens – selbst theoretische Relevanz besitzt. *** Der Impuls für die Tagung am 25. und 26. April 2008 im Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, die diesem Band zugrunde liegt, kam aus dem Projekt »Die Szene des Virtuosen« im DFG-Sonderforschungsbereich 447 Kulturen des Performativen. Wir danken den ProjektMitarbeiter/innen Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels, Christina Deloglu und Lucia Ruprecht für zahlreiche inhaltliche Anregungen und Hinweise. Für die Unterstützung bei der Vor- und Nachbereitung danken wir Inka Paul (Institut für Theaterwissenschaft) und Sabine Lange (Sfb 447 Kulturen des Performativen), dem Berliner Graphikbüro Fliegende Teilchen – Annette Stahmer und André Heers – für den Entwurf des Tagungsplakats und des Flyers, sowie Gerko Egert, Holger Hartung, Amaya Wang und Katja Weise für ihre Hilfe in allen organisatorischen Belangen. Für die redaktionelle Mitarbeit bei der Erstellung des Manuskripts danken wir Angela Alves. Die Publikation wurde ermöglicht durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Zentrums für Bewegungsforschung (Leitung: Gabriele Brandstetter) am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Berlin, im August 2009
Literatur Barrett, Frank J.: »Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Implications for Organizational Learning«, in: Organisation Science 9, 5 (1998), S. 605-622. Berliner, Paul F.: Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, Chicago/London: University of Chicago Press 1994. Borgards, Roland: »Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 268-286.
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Hans-Fr iedr ich Bormann/Gabr iele Brandstetter/Annemar ie Matzke
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Improvisation und Normativität Georg W. Bertram
Auf viele Dinge, die wir tagein tagaus zu bewältigen haben, sind wir nicht sonderlich gut vorbereitet: Auf der Straße begegnet uns jemand, der uns anspricht und sagt, es habe ja gerade noch gefehlt, dass er hier jemand treffe, der aussehe wie sein Großvater. Oder wir stehen morgens auf, und die Partnerin sagt, dass sie sich in einen anderen verliebt habe. Oder wir sitzen vor dem Bankberater und der sagt, dass unsere Aktien gerade um 60 Prozent gefallen sind, und er uns dringend rate, die Verluste zu realisieren. All solche Situationen und noch viele mehr sind so, dass wir nicht im Vorhinein haben lernen können, wie man sich in ihnen verhält. Man kann es so sagen: Das menschliche Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass einem innerhalb seiner viel Kontingentes begegnet. Da dies so ist, kann man gut verstehen, dass David Velleman ein menschliches Selbst mit einem improvisierenden Schauspieler vergleicht: Es sei »a bit like an improvisational actor, enacting a role that he invents as he goes«.1 Wir sind stets in Situationen, in denen wir uns neu zu erfinden haben, in denen wir neu gestalten müssen, wie wir weiter machen. Nun stellt sich allerdings die Frage, welchen Kriterien eine entsprechende Gestaltung folgt. Gibt es irgendetwas, das uns in den Prozessen unseres improvisierenden Selbsterfindens bindet? Ich will mit meinen Überlegungen einer Art und Weise nachgehen, auf diese Frage zu antworten. Diese Art und Weise ist durch folgende Beobachtung motiviert: Das improvisierende Selbsterfinden kann, wie alles Improvisieren, besser oder schlechter gelingen. Wenn man von dieser Beobachtung ausgeht, muss man Improvisationen als normative Geschehnisse begreifen. Wo Dinge gelingen oder misslingen können, ist man auf normativem Terrain. Dieses 1. David Velleman: »The Self as Narrator«, in: ders.: From Self to Self. Selected Essays, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2006, S. 203-223, hier S. 221.
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Terrain ist bei Improvisationen insofern besonders interessant, da man bei ihnen erst einmal nicht von einem normativen Geschehen wird sprechen wollen. Dies wiederum ist die Konsequenz einer einfachen grundsätzlichen Festlegung. Sie lautet: Wenn man auf normativem Terrain ist, sind Normen im Spiel. Aber genau das scheint bei Improvisationen in einer entscheidenden Art und Weise nicht der Fall zu sein. Auch wenn man sicherlich in allen improvisatorischen Geschehnissen irgendwelche Normen wird ausmachen können: Dass eine Improvisation gelingt oder misslingt, scheint nicht auf Normen zurückgeführt werden zu können. Man kann es so ausdrücken: Das Improvisatorische an Improvisationen ist unabhängig von Normen. Vielleicht mehr noch: Das Improvisatorische besteht in der Unabhängigkeit von Normen. Ein solcher Vorbegriff von Improvisationen geht aber meines Erachtens von einem falschen Begriff von Normativität aus. Es handelt sich um einen Begriff von Normativität, der diese auf Normen gründet. Mittels eines solchen Begriffs kann man die normative Dimension von Improvisationen nicht begreiflich machen. Und mehr noch: Dieser Begriff kann überhaupt Normativität nicht begreiflich machen. Dies liegt unter anderem daran, dass der Zusammenhang zwischen dem Normativen und dem Unabsehbaren nicht verständlich wird. Entsprechend geht es mir in den folgenden Überlegungen darum, einerseits das normative Moment von Improvisationen begreiflich zu machen, und damit andererseits einen plausiblen Grundbegriff von Normativität zu gewinnen. Es handelt sich um den Begriff einer Normativität ohne Normen, den ich skizzieren will. Um zu ihm zu gelangen, gehe ich folgendermaßen vor: Ich gehe im ersten Teil von einer kleinen Phänomenologie improvisatorischer Geschehnisse aus. Im zweiten Teil vollziehe ich dann nach, warum man normative Bindungen in Improvisationen nicht auf Normen zurückführen kann, die in einer Praxis etabliert sind. Das bringt mich dazu, im dritten und vierten Teil dem Vorschlag von Hegel zu folgen, normative Verhältnisse in Begriffen der Anerkennung zu fassen. Dabei lege ich zuerst dar, wie in Improvisationen Anerkennungsbeziehungen realisiert sind, und verfolge dann, warum verwirklichte Anerkennung auch und gerade in Improvisationen immer mit der Möglichkeit der Thematisierung von Anerkennungsbeziehung verbunden ist. Im abschließenden fünften Teil kann ich dann kurz andeuten, wie man mit dem entwickelten Begriff der Normativität ohne Normen die grundsätzlich improvisatorische Dimension des menschlichen Lebens zu fassen bekommen könnte.
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Improv isation und Normativ ität
1. Kleine Phänomenologie improv isator ischer Geschehnisse Betrachten wir ein Geschehen, das wir vortheoretisch als eine Improvisation bezeichnen würden: eine Jazz-Improvisation. Nehmen wir an, die Musiker eines Jazz-Quartetts haben sich auf einige Themenstrukturen und auf ein gewisses Harmonieschema geeinigt und beginnen mit einer nicht weiter festgelegten, also recht freien Improvisation. Wenn diese gelingt, wird es zu einem freien Zusammenspiel der unterschiedlichen Instrumente kommen. Dies bedeutet zum Beispiel, dass der Pianist bei einer Phrase des Saxophons mit seiner rechten Hand pausiert und dass er dann mit der rechten Hand auf genau diese Phrase antwortet – sei es, dass er die Tonfolge wiederholt, dass er sie transponiert, dass er einen Kontrapunkt spielt oder dass er noch einmal anders reagiert. In diesem Sinn spreche ich von einem freien Zusammenspiel. Charakteristisch für ein Zusammenspiel ist, dass die Instrumente bzw. die Musiker sich aneinander orientieren. Frei ist ein Zusammenspiel genau dann, wenn es nicht durch eine Partitur, durch einstudierte Pattern oder anderswie vorgegeben ist. Die Reaktion des Klaviers orientiert sich ohne irgendeine Vorgabe an der Phrase des Saxophons. Ich halte einen weiteren Schritt in der Beschreibung des Phänomens für wichtig. Wir können als Jazzkenner und auch als Laien, die nicht ganz musikunkundig sind, gute Reaktionen des Klaviers von schlechten unterscheiden. Je nachdem, welche Tonfolge und Rhythmik die Reaktion zum Beispiel aufweist, gilt sie uns als mehr oder weniger gelungen. Dass dies so ist, können wir in sehr unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen. Wir können zum Beispiel sagen, dass das Klavier eine interessante Weiterentwicklung des Saxophon-Themas gespielt hat; dass es aufregend war oder schlicht genau das, was hier hat gespielt werden müssen. Dass es im Rahmen der Improvisation zu einem freien Zusammenspiel im erläuterten Sinn kommt, heißt nicht nur, dass das Klavier irgendwie auf das Saxophon antwortet. Es gibt mehr oder weniger gelungene beziehungsweise – anders gesagt – gute oder schlechte Antworten. Und nicht nur das: Auch die Phrase, die den Ausgangspunkt bildet, kann mehr oder weniger gut gelingen. Betrachten wir noch ein anderes Beispiel: Wir alle kennen das Phänomen, dass wir sprachlich improvisieren. Das machen wir zum Beispiel, wenn wir in einem Gespräch etwas sagen, was wir so gar nicht sagen wollen. Nehmen wir an, Kurt spricht mit seiner Partnerin Maria, nachdem deren Mutter die beiden drei Tage besucht hat. Er will Maria sagen, dass er keine Probleme mit dem Besuch der Mutter hatte, auch wenn er im Vorfeld immer wieder genörgelt hat, will also schlicht sagen: »Es war schön mit 23
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Deiner Mutter.« Was aber geschieht? Kurt macht den Mund auf und hört sich sagen »Es war schrecklich mit Deiner Mutter.« Ihm wird klar, was er da sagt. Er hat allerdings keine Lust, einen Versprecher einzugestehen, weil er dann doch nur vorgehalten bekommt, dass es sich da ausgesprochen hat, dass er sich verraten habe, indem er sage, was er eigentlich denke, usf. So ergreift er schnell die Initiative und fährt fort: »Es war schrecklich, dass sie nur so wenig Zeit gehabt hat, mit uns an die Seen zu fahren. Es wäre so schön gewesen, wenn wir ihr die Gegend hätten zeigen können.« Sehen wir für den Moment davon ab, dass das möglicherweise nicht ganz aufrichtig ist. Günstigstenfalls ist es eine Rettung der Situation. Genau in diesem Sinn kann man wiederum sagen, dass die improvisierenden Aktionen im Fortgang des Sprechens mehr oder weniger gut gelungen sein können. Ich will die Beispiele nicht unnötig vermehren, sondern überlegen, wie sie sich verstehen lassen. Dass ein improvisierendes Tun in der Alternative steht, mehr oder weniger gut gelingen zu können, muss als Symptom dafür betrachtet werden, dass in einem solchen Tun normative Kräfte wirksam sind. Improvisationen zeigen sich als normative Geschehnisse. Es stellt sich nun die Frage, wie wir sie als ein solches begreifen können. Um in dieser Frage weiter zu kommen, will ich zuerst einen Aspekt von Improvisationen terminologisch fassen. Improvisationen lassen sich immer so beschreiben, dass in ihnen ein bestimmtes Tun einen Ausgangspunkt bildet. Ich spreche hier von Ausgangsaktionen. Mit jeder Ausgangsaktion stellt sich – formal betrachtet – die Frage des Antwortens. Das Antworten besteht in Praktiken. Ich bezeichne solche Praktiken als Anschlussaktionen. Eine Anschlussaktion in diesem Sinn ist das, was der Pianist auf die Phrase des Saxophons hin mit der rechten Hand spielt, und die Fortführung, die Kurt seiner Rede davon, es sei schrecklich gewesen, gibt. Vor dem Hintergrund dieser terminologischen Festlegung kann ich nun die Frage, um die es im Moment geht, folgendermaßen umreißen: Es gilt zu begreifen, inwiefern der Zusammenhang zwischen Ausgangsaktionen und Anschlussaktionen normativ strukturiert ist. Wie können wir eine entsprechende normative Struktur begreifen? Worin besteht die Bindung, die zwischen der einen und der anderen Aktion herrscht? Lässt sie sich auf Normen zurückführen? Und wenn dies gerade hier nicht der Fall ist, worauf basiert sie dann? Der Zusammenhang zwischen Ausgangsaktionen und Anschlussaktionen zeigt sich auch zum Beispiel bei Improvisationen auf der Bühne.2 Denken wir zum Beispiel an Fälle, in denen Dialoge oder körperliche Interaktionen improvisiert werden. Eine klassische Probensituation im Theater nimmt oft ihren Ausgang von einer solchen Improvisation. Zwei Schauspielerinnen spielen zum Beispiel eine Szene aus Maria Stuart, in der sie 2. Für Hinweise zum folgenden Beispiel danke ich Manuel Scheidegger.
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sich als rivalisierende Königinnen gegenüber stehen. Ohne Text versuchen sie, sich ihre gegenseitige Verachtung zu verstehen zu geben. Eine Schauspielerin beginnt vielleicht damit, dass sie naserümpfend die Frisur ihrer Kollegin nachbessert. Ihre Kollegin lässt es mit sich geschehen, bis sie das Werk am Schluss höhnisch zerstört und genüsslich ihre Unabhängigkeit von äußeren Dingen heraushängen lässt. Wieder ist die Kollegin zu einer neuen Reaktion herausgefordert. Es kommt auch hier unter anderem dazu, dass eine Schauspielerin etwas improvisierend macht und eine andere Schauspielerin ihr antwortet. Und wiederum können hier Ausgangsaktionen und Anschlussaktionen unterschiedlich gut gelingen. So steht auch hier die Frage nach der normativen Struktur des Zusammenhangs von Ausgangsaktionen und Anschlussaktionen im Raum.
2. Improv isierende Praxis und Gepflogenheiten In der sprachphilosophischen Diskussion der Gegenwart sind Fragen einer in der Praxis begründeten Normativität immer wieder im Anschluss an Wittgenstein diskutiert worden. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoll, den entsprechenden Diskussionen ein wenig zu folgen, um zu schauen, ob sich an ihnen Einsichten in Bezug auf Improvisationen gewinnen lassen. Bei Wittgenstein sind die besagten Fragen mit dem Begriff des Regelfolgens und mit dem Problem verbunden, letzteres zu verstehen. Dieses Problem hat Wittgenstein unter anderem im Paragraphen 185 seiner Philosophischen Untersuchungen folgendermaßen exponiert: »Wir lassen nun den Schüler einmal eine Reihe (etwa ›+2‹) über 1000 hinaus fortsetzen, – da schreibt er: 1000, 1004, 1008, 1012. Wir sagen ihm: ›Schau, was du machst!‹ – Er versteht uns nicht. Wir sagen: ›Du solltest doch zwei addieren; schau, wie du die Reihe begonnen hast!‹ – Er antwortet: ›Ja! Ist es denn nicht richtig? Ich dachte, so soll ich’s machen.‹ […] Wir könnten in so einem Falle etwa sagen: Dieser Mensch versteht von Natur aus jenen Befehl, auf unsre Erklärungen hin, so, wie wir den Befehl: ›Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc.‹«3
Das Problem, das Wittgenstein hier skizziert, ist ein skeptisches: Wie kann ich sicher sein, dass ein anderer einer bestimmten Regel folgt? Oder noch grundlegender: Wie ist es überhaupt möglich, Regeln zu folgen? Wittgen3. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 336 [§ 185].
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stein argumentiert, dass auch im Falle kalkulierbarer Zeichensysteme, wie den natürlichen Zahlen oder der Sprache, das Regelfolgen nicht auf ein explizites Lernen von Regeln zurückgeführt werden kann. Wollte man es auf ein solches explizites Lernen begründen, dann käme es zu einem Regress: Jede Erklärung einer Regel muss ihrerseits wieder als ein regelhaftes Geschehen betrachtet werden. So sagt man zum Beispiel Dinge wie: »Die Regel ›plus 2‹ bedeutet, dass Du von einer beliebigen Zahl in der Reihe der natürlichen Zahlen zwei Zahlen aufwärts gehst.« Aber eine solche Aussage ist ihrerseits eine Sache regelhaften Sprachgebrauchs. Sie muss also ihrerseits durch Regelerklärungen eingeführt werden. Diese neuen Regelerklärungen werden aber wieder eine Sprache verwenden. Auch diese Sprache wiederum muss durch Regelerklärungen eingeführt werden. Es ist leicht zu sehen, dass man in einen infiniten Regress gerät. Einen entsprechenden Regress kann ich auch noch einmal in Bezug auf Formen des Improvisierens erläutern: Es ist nicht möglich, das normative Gebundensein improvisierten Tuns durch den Rahmen zu erklären, der im Vorhinein explizit abgesteckt worden ist. Das kann man sich ganz praktisch vorstellen: Man stelle sich die Probe eines Jazz-Quartetts vor, in der der Saxophonist der Schlagzeugerin sagt: »Den Rhythmus, den Du gerade gespielt hast, haben wir noch nicht geregelt. Wir müssen für unser Stück noch folgende Regelung treffen.« Wenig später wird es erneut zu einer noch ungeregelten Situation kommen. Und so fort. Das Gelingen des improvisierenden Tuns lässt sich nicht auf explizite Rahmenregelungen für dieses Tun zurückführen. Wie lässt sich Regelhaftigkeit aber dann erklären? Im Anschluss an Wittgenstein ist intensiv diskutiert worden, welche Lösung Wittgenstein im Auge hat. Textlich ist der Fall klar. Wittgenstein schreibt: »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« 4 Ich will mich nicht mit Details zur Deutungskontroverse um diese These auf halten.5 Überzeugend scheint mir eine Deutung, die Wittgenstein eine entspannte Ansicht zuschreibt. Entspannt ist sie in dem Sinne, dass es ihm darum geht, die Suche nach einer Begründung regelhaften Tuns im strengen Sinn aufzugeben. Sein Verweis auf die Praxis ist dann folgendermaßen zu verstehen: Regeln funktionieren in einer Praxis, in Gepflogenheiten und Institutionen, die im Rahmen von Gemeinschaften etabliert sind. Wer nach einer weiteren Begründung fragt, fragt so verstanden nach etwas, nach dem man nicht sinnvoll fragen
4. Ebd., S. 345 [§ 202]. 5. Vgl. dazu insgesamt meine Darlegungen in: Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Velbrück 2006, Kapitel III.1.
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kann.6 Der Rekurs auf Gepflogenheiten und Institutionen, die im Rahmen von Gemeinschaften etabliert sind, führt folgendermaßen zu einer Erklärung von Regeln: Die Regel »plus 2« ist in einer Gemeinschaft etabliert. Der Schüler lernt, diese Regel zu beherrschen, indem er in die Gemeinschaft initiiert wird.7 Es ist insofern falsch, die Beherrschung der Regel in einer einzelnen Lernsituation erläutern zu wollen. Sie lässt sich vielmehr nur in Bezug auf eine gemeinschaftliche Praxis insgesamt begreiflich machen. Als Partizipant an dieser gemeinschaftlichen Praxis wird der Schüler die Regel beherrschen. Es ist also in Bezug auf die Regeln des Sprechens und Verstehens sprachlicher Ausdrücke, Wittgenstein zufolge, falsch danach zu fragen, was es heißt, diese Regeln in einzelnen Situationen zu verstehen und ihnen in diesem Sinn zu folgen. Das Regelverstehen und -folgen muss in Bezug auf die Gepflogenheiten des Umgangs mit sprachlichen Ausdrücken in einer Gemeinschaft erläutert werden. Ungünstigerweise kommt man mit diesem entspannten Verständnis regelgeleiteten Tuns gerade mit Improvisationen nicht weiter. Wenn ich frage, wodurch ein improvisierendes Tun gelingt, hilft die Antwort nicht weiter, die besagt, dass das an der Praxis, an der Gepflogenheit etc. liegt. Improvisationen sind ja als ein unvorhersehbares Tun zu verstehen. Und für ein solches Tun gilt, dass eine Praxis nicht auf dieses Tun eingerichtet ist, dass ein solches Tun nicht auf eine Gepflogenheit gestützt werden kann. Oder sollte man hier doch auf Gepflogenheiten rekurrieren können? Wenn man an eine Jazz-Improvisation denkt, gilt sicherlich, dass Musiker vielfältig auf Situationen vorbereitet sind. Sie haben Pattern gelernt, verstehen sich auf harmonische Zusammenhänge und vieles andere mehr. Die Beherrschung entsprechender Pattern lässt sich gut mit Wittgenstein begreifen: Sie basiert auf der eingespielten Praxis im Rahmen einer Gemeinschaft – in diesem Fall einer Gemeinschaft von Jazzmusikern eines bestimmten Stils. Die eingespielte Praxis erklärt allerdings nicht das Gelingen einer Improvisation. Für jede einigermaßen spezifische Interaktion im Rahmen einer Improvisation gilt, dass sie Pattern nicht in einer eingespielten Art und Weise, sondern in irgendeiner besonderen Prägung darbietet – sofern sie sich überhaupt auf Pattern stützt. Bei aller Vorbereitung, die möglicherweise in eine Improvisation eingeht: Sie stellt keine Pattern bereit, durch deren Aktualisierung eine Improvisation gelingt oder misslingt. Der Zusammenhang zwischen einzelnen Ausgangs- und Anschluss-
6. Ich stütze mich mit meinen knappen Hinweisen insbesondere auf die Deutung von John McDowell: »Wittgenstein on Following a Rule«, in: Synthese 58 (1984), S. 325-363. 7. Vgl. John McDowell: Geist und Welt, Paderborn: Schöningh 1998, S. 107.
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aktionen lässt sich also nicht auf Gepflogenheiten, die in einer Gemeinschaft etabliert sind, fundieren.
3. Normativ ität qua Anerkennung Es scheint mir aus diesem Grund erforderlich, sich an anderer Stelle nach Antworten auf die Frage nach dem Gelingen eines improvisierenden Tuns umzusehen. Dafür kann man sich an eine philosophische Position wenden, die der Fragestellung Wittgensteins und seinen Antworten in gewisser Hinsicht nahe ist. Es handelt sich um die Position Hegels. Hegel interessiert sich, genauso wie Wittgenstein, für die Frage, wodurch ein Tun in gemeinschaftlichen Zusammenhängen normative Orientierung erlangt. Dabei geht Hegel wie Wittgenstein davon aus, dass die Antwort nicht in dem Sinn intellektualistisch ausfallen darf, dass man auf das subjektive Regelverstehen eines einzelnen Individuums rekurriert. So sieht sich auch Hegel dazu genötigt, in seiner Erklärung von gemeinschaftlichen Zusammenhängen auszugehen. Er überlegt, ob es möglich ist, die normativen Strukturen zwischen einzelnen Praktiken auf Gepflogenheiten zurückzuführen, die in einer Gemeinschaft etabliert sind. Anders als Wittgenstein und einige seiner Interpreten entfaltet Hegel allerdings in der Phänomenologie des Geistes eine direkte Argumentation gegen diese Möglichkeit.8 Ich bezeichne das Argument Hegels als Argument von der Freiheit normativen Tuns.9 Dieses Argument geht davon aus, dass überall dort, wo wir in normativen Verhältnissen agieren, etwas gelingen oder misslingen, etwas richtig oder falsch laufen kann. Das setzt voraus, dass jemand, der normativ gebunden agiert, Dinge auch anders machen kann. Wenn nun das jeweilige Tun von einzelnen auf Gepflogenheiten beruht, die in einer Gemeinschaft etabliert sind,10 ist genau dies aber nicht der Fall: Es kommt 8. Vgl. zu einer Rekonstruktion der entsprechenden Übergänge in der Phänomenologie des Geistes insgesamt: Georg W. Bertram: »Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die Phänomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56. Jg., Heft 6 (2008), S. 877-898. 9. Dass Hegels Explikation von Normativität auf Freiheit zielt, hat besonders betont: Robert Pippin: »What is the Question for Which Hegel’s Theory of Recognition is the Answer?«, in: European Journal of Philosophy 8 (2000), S. 155-172. 10. Hegel diskutiert eine Praxis, die auf Gepflogenheiten beruht, unter dem Begriff der »Sittlichkeit«: Es handelt sich um eine Praxis, die von »Sitten und Gesetzen« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes
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dann nur dazu, dass ein einzelner den etablierten Gepflogenheiten blind folgt.11 Bei einem solchen blinden Folgen kann allerdings nichts Falsches herauskommen. Insofern handelt es sich bei einem Tun, das bloß Gepflogenheiten realisiert, nicht um ein normatives Tun. Normativität ist erst dort realisiert, wo einzelne die Freiheit haben, sich zu dem, was sie in der Welt und mit anderen machen, zu verhalten.12 Dies wiederum ist nach Hegels Verständnis erst dort gegeben, wo wechselseitige und reflexive Anerkennungsbeziehungen etabliert sind: Einzelne müssen sich wechselseitig in ihrem Tun anerkennen, und müssen die Anerkennung, die sie erfahren, ihrerseits anerkennen, um sich zu dem, was sie in der Welt und mit anderen machen, verhalten zu können.13 Inwiefern eine solchermaßen reziproke und reflexive Anerkennungspraxis Freiheit begründet, lässt sich knapp folgendermaßen sagen: Einzelne sind dann frei, sich zu dem, was sie mit anderen machen, zu verhalten, wenn erstens ihr bestimmtes Tun von anderen als bestimmt behandelt wird und wenn sie zweitens als solche behandelt werden, die sich zu dem, wie andere sie behandeln, Stellung zu nehmen vermögen. Knapp gesagt: Die von Hegel analysierte Anerkennungsstruktur ist dann realisiert, wenn einzelne in der Lage sind, Anerkennung für das, was sie tun, einzuklagen.14 Mit solchermaßen reflexiven Praktiken in Bezug auf wechselseitige Anerkennungsverhältnisse konstituiert sich Freiheit. Mit dieser wiederum [= Theorie-Werkausgabe, Band 3], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 266) geleitet wird. In der Phänomenologie des Geistes geht es Hegel darum, die Defizite einer sittlichen Praxis in Bezug auf ein Verständnis von Normativität aufzuzeigen. In späteren Texten hat er wiederum ein Verständnis, das den besagten Defiziten Rechnung trägt, seinerseits unter dem Begriff der Sittlichkeit präsentiert (besonders in den Grundlinien der Philosophie des Rechts). Ich stütze mich hier auf die Phänomenologie des Geistes, um das Argument Hegels gegen ein Verständnis von Normativität in Begriffen von Gepflogenheiten herauszuarbeiten. 11. Genau das kommt bekanntlich auch in Wittgensteins Erläuterungen vor: »Ich folge der Regel blind.« (L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 351 [§ 219]). 12. Bei Hegel heißt es entsprechend, »das Selbstbewusstsein [sei] noch nicht in seinem Rechte als einzelne Individualität aufgetreten […]« (G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 342). 13. Für Hegel ist entsprechend der »reine Begriff der Anerkennung« zu begreifen: »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.« (G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 147). 14. Vgl. dazu Georg W. Bertram: »Anerkennung und beschädigtes Selbstverständnis«, in: Steffen K. Herrmann/Hannes Kuch (Hg.), Philosophien sprachlicher Gewalt, Weilerswist: Velbrück (i. Ersch.).
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wird aus Hegels Perspektive Normativität verständlich. Wenn einzelne sich wechselseitig in bestimmter Weise auf ihre jeweiligen Praktiken beziehen und gleichzeitig die wechselseitigen Bezugnahmen thematisieren können, dann können ihre Praktiken als solche begriffen werden, die mehr oder weniger zu gelingen vermögen. Wenn Anerkennungsbeziehungen reziprok und reflexiv realisiert sind, dann können Praktiken als gut oder schlecht begriffen werden. Für Hegels Begriff der Normativität durch Anerkennung ist charakteristisch, dass er nicht auf Gepflogenheiten oder anderen geteilten Formen einer Praxis beruht. Er beruht vielmehr auf der Entwicklung einer komplexen interaktiven Praxis. So kann man nun überlegen, ob sich mit Hegels Begriff ein Verständnis der normativen Strukturen in Improvisationen gewinnen lässt. Dem ersten Augenschein nach ist das problemlos möglich. Man kann schlicht sagen: Einfache Beziehungen der Anerkennung begründen normative Strukturen improvisierenden Tuns. Es kann immer dazu kommen, dass einzelne Aktionen im Rahmen einer Improvisation Anerkennung erfahren. Damit gewinne ich vorerst eine einfache Erklärung für das Gelingen oder Misslingen improvisierenden Tuns. Sie lautet schlicht: Ein solches Tun gelingt dann, wenn es von anderen anerkannt wird. Und: Ein solches Tun misslingt dann, wenn es von anderen nicht anerkannt wird. Wodurch kommt allerdings eine entsprechende Anerkennung zustande? Auch auf diese Frage fällt die Antwort leicht: Es handelt sich um Anschlussaktionen. Anschlussaktionen in einer Improvisation lassen sich als Praktiken begreifen, mittels derer Ausgangsaktionen anerkannt werden. Wenn eine Schauspielerin improvisierend spricht, steht stets in Frage, ob andere an ihre Äußerungen anschließen werden. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es immer darum geht, dass sie auf diese Äußerung hin ihrerseits etwas zu sagen wissen. Anschlüsse können sehr unterschiedlich ausfallen. Dennoch lassen sie sich zu einem praktischen Kriterium von Anerkennung machen. Eine Ausgangsaktion wird demnach dann von anderen anerkannt, wenn sie an sie anschließen. Nicht anerkannt wird sie, wenn niemand an sie anschließt. Das Gelingen und Misslingen improvisierenden Tuns lässt sich somit darauf zurückführen, dass Improvisierende sich durch Anschlussaktionen wechselseitig Anerkennung zollen beziehungsweise sich eine solche verweigern. Normative Bindungen in Improvisationen kommen, so gesehen, durch die Interaktion von Improvisierenden mittels Ausgangs- und Anschlussaktionen zustande.15 15. Ein analoges interaktives Verständnis in Bezug auf sprachliches Verstehen hat Donald Davidson entwickelt (besonders aufschlussreich ist diesbezüglich: Donald Davidson: »Eine hübsche Unordnung von Epitaphen«, in: Eva Picardi/
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Nun kann man an diesem Punkt einwenden, dass Improvisationen oftmals nicht zwischen mehreren stattfinden. Wie ist es zum Beispiel im Falle eines Pianisten, der alleine improvisiert? Hier kommt keine wechselseitige Anerkennung durch Anschlussaktionen jeweils anderer zustande. Vielleicht kann man erst einmal folgendermaßen sagen: Dieser Pianist bindet sich durch eigene Anschlussaktionen. Er weist bestimmte Momente seines Spiels als gelingend oder misslingend dadurch aus, dass er an sie anschließt oder nicht. Allerdings scheint es mir wichtig zu beachten, dass auch im Fall einer einsamen Improvisation an irgendeinem Punkt andere ins Spiel kommen. Das Improvisieren des Pianisten hat Anschlussaktionen nicht nur in Momenten seines aktuellen Spiels. Anschlussaktionen sind auch die Praktiken der anderen Musiker, mit denen er einige Tage später wieder über ein ähnliches Thema improvisiert. So kommen doch Anschlussaktionen anderer ins Spiel. Dies gilt genauso für die einsame Improvisation eines Pantomimen. Hier sind zum Beispiel die Reaktionen eines Publikums als Anschlussaktionen zu verstehen. In diesem Sinn kann ich also erst einmal festhalten: Anschlussaktionen entscheiden darüber, ob eine Ausgangsaktion anerkannt wird oder nicht. In dieser Weise kann Anerkennung die normativen Bindungen zwischen einzelnen unabhängig von geteilten Normen erklären. Das Gelingen oder Misslingen einer Ausgangsaktion wird dadurch erklärt, dass dieses Tun durch Anschlussaktionen anerkannt wird oder nicht.16
4. Anspruch und unbedingte Anerkennung Nun klingen meine bisherigen Erläuterungen so, als sei es ganz ins Belieben der Mitspieler, Zuschauer oder Rezipienten gestellt, ob eine AusgangsJoachim Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 203-227). Davidson betont dabei den improvisatorischen Aspekt sprachlichen Verstehens, indem er geltend macht, dass »Gefühl, Glück und Geschicklichkeit« (Donald Davidson: »Kommunikation und Konvention«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 372-393, hier S. 393) wesentlich sind, um das Sprechen anderer zu verstehen und seinerseits mit den eigenen sprachlichen Äußerungen für andere verständlich zu werden. 16. Der soweit entfaltete Begriff der Normativität durch Anerkennungsbeziehungen lässt sich in gewisser Weise auch mit Wittgenstein artikulieren. Bei ihm heißt es: »Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.« (L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 287 [§ 83]).
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aktion gelingt oder nicht. Das aber läuft unseren Intuitionen zuwider, die sicher besagen, dass zuweilen die Mitspieler, Zuschauer oder Rezipienten unaufmerksam sind oder unsensibel oder was auch immer. Aus diesem Grund kann die Erläuterung an diesem Punkt noch nicht zu Ende sein. Es muss einsichtig gemacht werden, inwiefern Ausgangsaktionen auch unabhängig von faktischen Anschlussaktionen als gelingend begriffen werden können. Um dies zu leisten, muss die normative Bindung auch in gewissermaßen umgekehrter Richtung expliziert werden. Sie geht nicht nur von Anschlussaktionen aus, sondern immer auch von einer initialen Ausgangsaktion. Eine solche Ausgangsaktion stellt von sich aus einen Anspruch an nachfolgende Anschlussaktionen. Sie fordert solche Anschlussaktionen in bestimmter Weise. Wiederum kann man sich das an musikalischen Improvisationen verdeutlichen. Eine bestimmte Linie des Saxophons fordert die Mitspieler, in bestimmter Weise darauf einzugehen. Sie können die Linie auch in ihren Anschlussaktionen verfehlen. Wenn das richtig ist, dann gehen normative Bindungen nicht nur von faktischen Anschlussaktionen aus. Sie gehen genauso von einer Ausgangsaktion dadurch aus, dass diese bestimmte Anschlussaktionen fordert. Das führt nicht zu der Konsequenz, dass Anschlussaktionen immer festgelegt sind. In einem improvisierenden Geschehen ist das ja gerade nicht der Fall. Alle Anschlüsse haben einen Spielraum. Dennoch ist der Spielraum bestimmt und nicht beliebig. Den Anspruch, den jedes improvisierende Tun mit sich bringt, kann man unter anderem mittels der fundamentalethischen Begrifflichkeit von Emmanuel Lévinas fassen. Lévinas hat in seinem Denken durchweg den Gedanken verfolgt, dass intersubjektive Bindungen sich nicht auf ein faktisches von Normen geleitetes Geschehen reduzieren lassen.17 Er vertritt die These, dass man intersubjektive Bindungen von der unersetzlichen Individualität einzelner her begreifen muss.18 Die unersetzliche Individualität einzelner tritt anderen gegenüber als Anspruch auf, was sich wiederum 17. In der Begrifflichkeit von Lévinas heißt das unter anderem folgendermaßen: Intersubjektive Bindungen lassen sich nicht als Aspekte einer »Totalität« begreifen (vgl. z.B. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exterorität, Freiburg/München: Alber 1987, S. 43). Nur in der Entgegensetzung von Totalität und Unendlichkeit wird demnach der irreduzibel intersubjektive Aspekt normativen Gebundenseins begreiflich. 18. Lévinas fasst die Einzigartigkeit des anderen unter anderem mit dem Begriff der Anarchie: »So ist die Nähe auf anarchische Weise Beziehung zu einer Einzigartigkeit ohne die Vermittlung irgendeines Prinzips, irgendeiner Idealität.« (Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Alber 1992, S. 222.)
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darin niederschlägt, dass die anderen diesem Anspruch gerecht werden müssen.19 Eine Individualität, der andere gerecht werden müssen, ist in improvisierenden Geschehnissen par excellence exemplifiziert. Hier tritt ein improvisierendes Tun anderen gegenüber immer als Anspruch auf: Sie müssen ihm in ihren Reaktionen gerecht werden. Um es so zu sagen, muss man nicht unbedingt auf die unersetzliche Individualität einzelner rekurrieren. Es reicht, von der spezifischen Gestalt einer Äußerung, einer musikalischen Phrase, einer Geste oder von etwas anderem auszugehen. Jedes konkrete improvisierende Tun ist als solches in unersetzbarer Weise individuell. Genau das bindet andere. So kann man sagen, dass es in improvisatorischen Praktiken zu einem Wechselspiel von Anspruch und Anerkennung kommt. Damit sind normative Bindungen nicht mehr nur eine Frage von faktischen Anschlussaktionen. So erfreulich dieses Zwischenergebnis ist, es ist insofern etwas ungünstig, als dass es die bislang gegebene Erklärung für das Gelingen oder Misslingen improvisierenden Tuns wirkungslos werden lässt. Ich habe oben die schlichte These vertreten, dass ein solches Tun dann gelingt, wenn es in Anschlussaktionen anerkannt wird. Das kann ich nun nicht mehr sagen, da ich ja nun zugestehe, dass mit den Anschlussaktionen etwas schief gehen kann, ohne dass damit gleich das Gelingen einer Ausgangsaktion hinfällig wird. Ist damit alles, was ich bislang zu normativen Bindungen gesagt habe, ad acta zu legen? Ich hoffe, diese Konsequenz vermeiden zu können, indem ich noch einen weiteren Schritt gehe. Stellen wir uns nochmals die Jazzmusiker vor. Wenn der Saxophonist mit seinen Kollegen unzufrieden ist, kann er auch schlicht innehalten und ausrufen: »Kriegt Ihr denn überhaupt nicht mit, was ich spiele?« »Habt Ihr gar nicht verstanden, was ich wollte?« Oder: »Ihr seid so eingefahren in Euren Pattern, dass Ihr überhaupt nicht in der Lage seid, auf mich zu reagieren. Ein bisschen Flexibilität bitte!« Das kann er sagen. Vielleicht gehen die anderen danach in Sack und Asche und spielen nicht mehr ihre eingefahrenen Pattern. Es kann aber auch dazu kommen, dass die Schlagzeugerin die Sache nicht auf sich sitzen lässt. »Wie sollen wir denn reagieren, wenn Du so einen Mist spielst?« Oder: »Ich habe das nicht verstanden. Es war einfach nicht zu verstehen, was Du wolltest.« Ich mache nun den Vorschlag, eine solche Konversation als zum improvisatorischen Geschehen zugehörig zu erachten. Das mag verwundern. Wir sind vortheoretisch vermutlich geneigt zu sagen, dass die Improvisation eine bloße Praxis ist, eine Praxis des Miteinander-Musizierens, des 19. Bei Lévinas heißt es entsprechend: »Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich.« (Emmanuel Lévinas: »Die Spur des Anderen«, in: ders.: Die Spur des Anderen, Freiburg/München: Alber 1983, S. 209-235, hier S. 225.)
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Stegreif-Theaterspiels und so weiter und so fort. Diese Einschätzung ist allerdings von einer – wie mir scheint – problematischen Opposition von Theorie und Praxis und von einem intellektualistischen Begriff der Reflexion geprägt. Wenn man diese problematischen Voraussetzungen fallen lässt, kann man verständlich machen, inwiefern Konversationen über das improvisatorische Geschehen ein Teil der Improvisation sind. Ich halte es für richtig, die Klassifi kation genau in dieser Weise zu ändern. Erst damit gewinnt man eine Möglichkeit, das Gelingen improvisatorischen Tuns zu erklären: Improvisatorisches Tun steht dadurch in der Alternative, zu gelingen oder zu misslingen, dass die Interaktionen von Ausgangs- und Anschlussaktivitäten in Kommentaren thematisiert werden können. Vielleicht ist es diesbezüglich hilfreich, noch einmal kurz an die oben angedeutete Probensituation auf dem Theater zu denken. In der Person der Regisseurin findet sich ja gerade jemand, die in den Prozess der Improvisation mit ihren Kommentaren immer wieder lenkend einzugreifen vermag. In entsprechenden Kommentaren werden unter anderem die normativen Potentiale und Bindungen improvisierender Geschehnisse als solche explizit gemacht. Die Kommentare etablieren das Gelingen oder Misslingen von Ausgangs- und Anschlussaktionen dadurch, dass sie es absichern. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann man nun die Szenerie des gemeinsamen improvisierenden Musizierens auch noch einmal umzeichnen: Wenn der Saxophonist den Eindruck gewinnt, dass die Mitspieler seiner Phrase nicht gerecht werden, kann er sie auch noch einmal wiederholen, kann bestimmte Momente seines Spiels wie eine Intervallfolge oder eine rhythmische Struktur hervorheben. Eine Thematisierung von Ansprüchen und Anerkennungsverhältnissen ist also nicht allein mittels sprachlicher Äußerungen möglich. Auch in den unterschiedlichen Medien der Improvisation selbst können thematisierende Formen und Praktiken eingesetzt werden, um Ansprüche auf Anerkennung geltend zu machen etc. Die normative Struktur improvisatorischer Geschehnisse muss nach diesen letzten Überlegungen noch einmal umgezeichnet werden: Es handelt sich nicht nur um ein Ineinander von Ansprüchen und Anerkennungen. Vielmehr wird jetzt deutlich, dass ein improvisatorisches Geschehnis immer damit verbunden ist, dass die an ihm Teilnehmenden imstande sind, sich kommentierend zu einzelnen Aktionen zu verhalten und diese damit als gelingend oder misslingend auszuweisen. Improvisationen sind damit verbunden, dass die Teilnehmenden sich wechselseitig als solche behandeln, die sich kritisch zum jeweiligen Verlauf der Praktiken äußern können. Eine solche Form des wechselseitigen Umgangs miteinander lässt sich gut in Begriffen der Anerkennung fassen. Anerkennung erfährt aber hier nicht nur ein bestimmtes Tun oder ein Individuum, das in bestimm34
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ter Weise charakterisiert werden kann. Die Anerkennungsstruktur der jetzt erweitert gefassten improvisatorischen Praxis sieht anders aus: Anerkannt wird eine Teilnehmerin in unbegrenzter Weise. Anerkannt wird das Tun der Teilnehmerin insgesamt, in all den für die anderen unabsehbaren Aspekten. Diese unbegrenzte Anerkennung lässt sich von den Haltungen der Anerkennenden her begreifen: Was auch immer die unbegrenzt Anerkannte improvisierend oder kommentiert hervorbringt, die anderen werden darauf eingehen. Mit einer an Hegel anschließenden Perspektive kann man hier von Verhältnissen unbedingter Anerkennung sprechen. Improvisationen sind normativ dadurch gebunden, dass die an ihnen Teilnehmenden in Beziehungen unbedingter Anerkennung zueinander stehen. Unbedingt ist die Anerkennung, da nicht nur ein bestimmtes Tun in Anschlussaktionen oder Kommentaren Anerkennung erfährt, sondern eine Teilnehmerin unabhängig von allem konkreten Tun anerkannt wird: Teilnehmer sind als solchermaßen anerkannte in der Lage, sich über Anerkennungen zu verständigen, sie zu kritisieren, aber sich auch kritisch gegen eine Kritik zu wenden. Ich komme zu der Auffassung, dass solchermaßen unbedingte Anerkennung die Basis der normativen Bindung in Improvisationen ist. Ich bin damit bei einer Explikation der normativen Struktur von Anerkennung angelangt, die alle Elemente von Hegels Anerkennungsbegriff, wie ich sie oben knapp angedeutet habe, ins Spiel bringt: Ein improvisierendes Tun ist demnach dadurch normativ strukturiert, dass Anschlussaktionen Anerkennung gewähren, wobei das Tun und die Anerkennungsverhältnisse jederzeit innerhalb der Improvisation thematisiert werden können. Zwei Aspekte hinsichtlich meines Rekurses auf Hegels Begriff der Normativität scheinen mir besonders wichtig zu sein: Erstens zeigt sich, dass das Moment der Freiheit für ein Verständnis improvisierenden Tuns wesentlich ist. Ich habe oben betont, dass Hegels Explikation von Normativität das Moment der Freiheit als irreduzibles Moment geltend macht: Genau dieses Moment hat sich nun als wesentlich für ein Verständnis von Improvisationen erwiesen. Die normativen Bindungen improvisierender Praktiken sind dadurch etabliert, dass die Improvisierenden in ihren wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander Freiheit gewinnen. Die Bindungen resultieren aus dem Spielraum, den einzelne in improvisatorischen Geschehnissen durch ihre wechselseitige und reflexive Anerkennung haben. Gerade in Improvisationen ist, so würden wir sicherlich auch vortheoretisch sagen, der Spielraum des Tuns besonders groß. Es lässt sich nun begreifen, inwiefern dies genau ein Aspekt der normativen Struktur von Improvisationen ist. Zweitens aber weicht meine Explikation der Normativität in Improvisationen in einem entscheidenden Punkt von der Anerkennungs-Dialektik 35
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Hegels ab: Für Improvisationen ist es wesentlich, dass nicht nur ihr jeweiliger Verlauf, sondern auch reflexive Stellungnahmen innerhalb ihrer unabsehbar sind. Wann und wie der Saxophonist möglicherweise auf einer Phrase beharrt, steht niemals fest. Die Praktiken der Thematisierung sind somit jeweils spezifisch und individuell. Hegel geht hingegen davon aus, dass Praktiken der Thematisierung allgemein und geteilt sind. Er vertritt die These, dass Kunst, Religion und Philosophie als Selbstverständigungspraktiken substantiell geteilt werden. Damit ist Hegel bekanntlich zu einer überaus klassischen Auffassung von Kunst gekommen. Klassisch ist sie unter anderem aus dem Grund, dass sie mit partikularen Praktiken von Kunst nichts anzufangen weiß.20 Insofern muss Hegel eine moderne künstlerische Praxis als ein Abfall vom Ideal der Kunst erscheinen. Das gilt insbesondere für Praktiken der Improvisation: In ihnen zeigt sich die partikulare Praxis von Kunst intern als Praxis, die sich jeweils aufs Neue in Anschlussaktionen entscheidet.
5. Improv isation und Normativ ität ohne Normen Am Anfang meiner Überlegungen bin ich davon ausgegangen, dass wir unser Leben vielfältig als von Improvisationen geprägt verstehen können. Der Mensch ist als das nicht festgestellte Tier (Nietzsche) ein improvisierendes Tier. Er ist ein Tier, dem Unvorhergesehenes in dem Sinne geschehen kann, als er darauf einzugehen vermag. Das Unvorhersehbare ist demnach für den Menschen nicht nur etwas, das ihn in seiner Existenz kausal affiziert. Es ist selbst ein Moment seiner Existenz. Das improvisierende Tier ist in einer doppelten Art und Weise auf Unvorhersehbares bezogen: Einerseits ist es durch die Konstitution von Freiheit auf Unvorhersehbares eingerichtet. Als frei ist der Mensch in der Lage, jenseits eingespielter Pattern zu agieren. Andererseits kann man auf Unvorhersehbares nicht eingerichtet sein. Das Unvorhersehbare ist konstitutiv dasjenige, worauf man nicht vorbereitet ist. Das improvisierende Tier ist so als ein Tier zu verstehen, das von Unvorhersehbarem getroffen werden kann. Nur wer in 20. Dies hält zentral der Satz vom Ende der Kunst fest: Dass die Kunst »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung« an ein Ende gekommen sei (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (= Theorie-Werkausgabe, Band 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 126), betrifft Kunst als einer allgemeinen und geteilten Form. Kunst nach dem Ende der Kunst wäre entsprechend als eine solche zu begreifen, die in ihren Thematisierungen spezifisch und individuell ist.
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Anschlusspraktiken frei auf Geschehnisse zu reagieren vermag, kann in dieser Weise die Erfahrung von Unvorhersehbarem machen. So zeigt sich in grundsätzlicher Weise ein Zusammenhang zwischen Improvisationen und Unabsehbarem. Gerade weil Improvisationen normative Geschehnisse sind, ist innerhalb ihrer die Erfahrung von Unabsehbarem möglich. Das Normative und das Unvorhersehbare stehen nicht, wie man vielfach denkt, gegeneinander. Sie hängen systematisch zusammen. Wenn man den Menschen so in Analogie zu improvisierenden Schauspielern begreift, dann stellt sich, wie in diesen Ausführungen betrachtet, die Frage der Normativität. Wer improvisiert, ist nicht einfach Spielball der Wechselfälle des Lebens. Es ist jemand, der die Wechselfälle des Lebens in je neuer und spezifischer Weise aufzunehmen versucht. Das menschliche Leben verläuft, so gesehen, in Anschlussaktionen. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Explikation von Normativität, die ich in Auseinandersetzung mit Improvisationen gegeben habe, verallgemeinert werden muss. Ich halte es, wie angekündigt, für aufschlussreich, eine solche Verallgemeinerung unter den Titel einer Normativität ohne Normen zu stellen.21 Dass das menschliche Leben immer wieder in der Alternative verläuft, dass Dinge gelingen oder schief gehen können, basiert demnach grundsätzlich nicht auf Normen. Wenn man es auf Normen gründen will, so hat sich gezeigt, kann man die Freiheit improvisatorischen Tuns nicht verständlich machen. Man begreift dann das Richtige und das Falsche als etwas, das festliegt.22 Wenn man hingegen von einer Normativität ohne Normen ausgeht, dann lässt sich die normative Bindung menschlichen Tuns eingedenk der Wechselfälle des Lebens begreifen. Normativität basiert insofern nicht auf Normen, als sie in komplexen interindividuellen Interaktionen konstituiert ist. Wenn in einem improvisatorischen Spiel eine Teilnehmerin auf eine andere reagiert, dann sind ihre Praktiken Gegenstand der Anerkennung der jeweils anderen. Anerkennung basiert dabei auf Anschlussaktionen und kann grundsätzlich jederzeit als solche thematisiert werden. Immer kann es sein, dass eine Improvisierende eine Reaktion der anderen zurückweist. Und auch diese Zurückweisung kann ihrerseits Zurückweisung erfahren. In einer solchermaßen interindividuell interaktiven Praxis ist das menschliche Tun norma21. Vgl. dazu nochmals insgesamt meine Ausführungen in G.W. Bertram: Die Sprache und das Ganze, Kapitel III. 22. Dem kann man auch nicht dadurch abhelfen, dass man die Normen als solche begreift, die dezidiert als ›unsere‹ Normen in Praktiken etabliert werden – wofür ich an dieser Stelle nicht argumentieren kann. Vgl. zu einem entsprechenden Verständnis Robert B. Brandom: »Freedom and Constraint by Norms«, in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), S. 187-196.
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tiv gebunden. Dazu ist es erforderlich, dass die Praxis komplex entwickelt ist. Nicht nur wechselseitige Interaktionen im Sinne von Ansprüchen und Anerkennung gehören dazu, sondern auch Praktiken der Thematisierung. Die Explikation einer solchermaßen komplexen Praxis macht verständlich, wie ein improvisatorisches Tun gelingen oder misslingen kann – und dies auch dort, wo diejenigen, die improvisieren, nicht auf das vorbereitet sind, was geschieht.
Literatur Bertram, Georg W.: »Anerkennung und beschädigtes Selbstverständnis«, in: Steffen K. Herrmann/Hannes Kuch (Hg.), Philosophien sprachlicher Gewalt, Weilerswist: Velbrück (i. Ersch.). Bertram, Georg W.: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Velbrück 2006. Bertram, Georg W.: »Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die Phänomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56. Jg., Heft 6 (2008), S. 877-898. Brandom, Robert B.: »Freedom and Constraint by Norms«, in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), S. 187-196. Davidson, Donald: »Eine hübsche Unordnung von Epitaphen«, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 203-227. Davidson, Donald: »Kommunikation und Konvention«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 372-393. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (= TheorieWerkausgabe, Band 3), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I (= Theorie-Werkausgabe, Band 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Lévinas, Emmanuel: »Die Spur des Anderen«, in: ders.: Die Spur des Anderen, Freiburg/München: Alber 1983, S. 209-235. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Alber 1992. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exterorität, Freiburg/München: Alber 1987. McDowell, John: Geist und Welt, Paderborn: Schöningh 1998. McDowell, John: »Wittgenstein on Following a Rule«, in: Synthese 58 (1984), S. 325-363.
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Pippin, Robert: »What is the Question for Which Hegel’s Theory of Recognition is the Answer?«, in: European Journal of Philosophy 8 (2000), S. 155-172. Velleman, David: »The Self as Narrator«, in: ders.: From Self to Self. Selected Essays, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2006, S. 203223. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.
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Gesetz, Improvisation, Medien. Improvisationsliteratur bei Thomas Mann (Der Bajazzo) und Hugo Ball (Flametti, »Cabaret Voltaire«) Roland Borgards
1. Qu’est-ce qui arr ive (Jacques Derr ida, 1997) Im Juli 1997 wäre ich gerne in Paris gewesen. Auf dem La Villette Jazz Festival trafen dort und damals Improvisation und Dekonstruktion aufeinander, und dies in Personen, die berufener für diese Performance kaum hätten sein können, ein All-Star-Duo sozusagen: an der Improvisation der Altsaxophonist Ornette Coleman, an der Dekonstruktion der Philosoph Jacques Derrida. »Coleman blows while Derrida reads«,1 Coleman bläst, während Derrida liest, so ist dieser Auftritt beschrieben worden. Zwei Medien also sind von Anfang an im Spiel: Musik und Text. Nimmt man das ›blowing‹ und das ›reading‹ der Beschreibung hinzu, lässt sich dies im Sinne einer medialen Opposition zuspitzen: eine nicht notierte, nur vom Augenblick des Atems getragene Musik auf der einen Seite; auf der anderen Seite ein festgeschriebener, dem Anblick eines buchstabenbedeckten Papiers entnommener Text: Zeit gegen Raum, Atem gegen Schrift, Ohr gegen Auge, Performativität gegen Textualität. Doch nichts könnte falscher sein, als der Verführungskraft dieser ein-
1. Sara L. Ramshaw: »Deconstructin(g) Jazz Improvisation. Derrida and the Law of the Singular Event«, in: Critical Studies in Improvisation 2,1 (2006), http:// gir.uoguelph.ca/index.php/csieci/article/view/81/179 vom 11. Mai 2009.
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fachen Opposition zu erliegen. Denn so einfach stehen die Dinge nicht, zumal bei dieser Besetzung. Auf der Bühne spricht Derrida Folgendes: »Vous voyez, vous, j’ai là une sorte de partition écrite, vous croyez que je ne l’improvise pas, eh bien vous vous trompez. Je fais semblant de ne pas improviser, I just pretend, je joue à lire, mais en improvisant.«2
Es gibt also einen Text, und dies ist auch mit den Augen zu sehen: »Vous voyez, vous, j’ai là une sorte de partition écrite«. Doch was genau ist zu sehen, was genau bekommt das Publikum zu Gesicht? Es sieht zwar, dass es Text gibt, es sieht aber nicht, was da geschrieben steht. Das Publikum sieht einen Lesenden, es kann aber nicht mitlesen; es sieht genau genommen keinen Text, sondern bloße Textualität; es sieht nur das Medium selbst, nicht aber dessen konkreten Inhalt. Doch schon diese bloße Schrift, diese unbestimmte Textualität produziert, so vermutet Derrida wohl nicht zu unrecht, auf Seiten des Publikums die Überzeugung, dass das, was im Augenblick zu hören ist, genau dem entspricht, was sich dem Anblick der schriftlichen Partitur auch entnehmen lässt, dass die mündliche Rede nichts weiter ist als die performative Exekution der Schrift, das Nach-Sprechen eines Vor-Geschriebenen. Die Anwesenheit der Schrift evoziert die Abwesenheit der Improvisation: »vous croyez que je ne l’improvise pas«. Dies jedoch erweist sich als Trugschluss: »eh bien vous vous trompez.« Die Schrift ist das Medium der Täuschung, sie ist als Medium Täuschung. Der Hinweis auf diese Täuschung ist Ent-Täuschung im Wortsinn und wird von Derrida mit einer schriftfernen Redefloskel eingeführt: »Eh bien«. Denn Derrida spielt nur, dass er nicht improvisiert, er gibt es vor, er tut so. Das scheinbar Gelesene ist in Wahrheit improvisiert; es ist eine nur vom Augenblick des Atems getragene Rede: ›Coleman blows while Derrida blows too.‹ Oder, wenn ich nun meinerseits ins Spiel einsteige und mit zu bedenken gebe, dass Colemans Improvisation auf einen theoretischen Entwurf, auf sein »concept of Harmolodics« rückbezogen ist, zugleich auf einer bewusst angewandten und virtuos beherrschten musikalischen Technik aufruht, und dass zudem die Bambusblätter, über die am Saxophonmundstück der Atem streicht und an denen der Ton entsteht, ihrerseits auf Englisch »reeds« heißen, dann lässt sich die ursprüngliche Be2. Jacques Derrida: »Joue – le prénom«, in: Les Inrockupibles 11 (1998), S. 41- 43, hier S. 41. Siehe hierzu auch die Performance von Elisa Barth, die die zitierte Stelle übersetzt: »Sie sehen, ich habe hier eine Art schriftliche Partitur. Sie glauben, dass ich sie nicht improvisiere. Tja, Sie täuschen sich. Ich spiele, als würde ich nicht improvisieren. I just pretend. Ich tue, als würde ich lesen, improvisiere aber.« (http://www.formatlabor.net/derrida vom 12. Februar 2009.)
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schreibung der Performance gänzlich umkehren: ›Coleman reeds while Derrida blows.‹ Doch auch diese einfache Umkehrung – von Zeit und Raum, Atem und Schrift, Ohr und Auge, Freiheit und Gesetz, Performanz und Text – erfasst noch nicht die Reichweite des dekonstruktiv-improvisatorischen Arrangements, für das ich gerne nach Paris gereist wäre. Denn wer sich selbst als Täuscher beschreibt, als ein Betrüger, ein Trickser, dem sollte man an keiner Stelle uneingeschränkt trauen – auch dort nicht, wo er sein eigenes Handeln selbst als Täuschung denunziert: »I just pretend.« Nichts kann sicherstellen, dass nicht ausgerechnet in diesem Satz die größte aller Pretentionen verborgen liegt; dass nicht gerade das Eingeständnis der Täuschung die eigentliche Täuschung darstellt: Vielleicht spielt Derrida nur, dass er nicht liest; vielleicht behauptet er nur, dass er improvisiert, liest aber. Auf diese Weise entsteht ein Artefakt, das weder einfach der Rede, noch einfach der Schrift zugerechnet werden kann, das zwei mediale Zustände der Sprache einander entgegensetzt und zugleich ineinander überführt und genau als ein solch dritter Medienzustand überhaupt die Möglichkeit eröffnet, mit der improvisierten Musik Ornette Colemans auf gleicher Spielhöhe zu bleiben. Verbunden mit dieser medialen Zwischenstellung zwischen Schrift und Rede ist zugleich eine Zwischenstellung zwischen Norm und Anomie, zwischen Gesetz und Ereignis, zwischen Vorschrift und Redefreiheit. In einem Interview, das Derrida anlässlich seines Auftrittes mit Coleman gegeben hat, formuliert er dies folgendermaßen: »Il y a, dans l’improvisation, des règles de la répétition et de l’événement. L’œuvre improvisée est une étrange alliance de répétition d’une préparation et d’exposition à ce qui vient. […] Mais ce qu’il y a d’intéressant, qu’il s’agisse de jazz, ou de parole philosophique, c’est l’événement qui arrive malgré la préparation.«3 Die Improvisation produziert Ereignisse, die trotz einer Vorbereitung, trotz einer Vorschrift, trotz einer vorgängigen Norm eintreten, mithin solche Ereignisse, die zwar nicht als Erfüllung der Norm oder des Gesetzes erscheinen, die aber ohne die Norm, von der sie abweichen, nicht als Ereignisse erscheinen würden. Die Improvisation bestätigt die Regel, der sie entkommt; sie braucht das Gesetz, das sie bricht. Man kann und muss dies noch weiter denken, wenn man die Improvisation nicht einfach mit dem Zufall, der Kontingenz gleichsetzen will. Kontingenz und Improvisation sind zwar darin einander verwandt, dass sie als eine Bewegung weg vom Vorgegebenen, weg vom Erwartbaren, weg vom Gesetz, von der Norm zu verstehen sind. Die Improvisation aber 3. Jacques Derrida – improvisation with Ornette Coleman – interview France Culture, zit.n. www.flickr.com/photos/jef_safi/2335324990 vom 11. Mai 2009.
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kommt nicht nur vom Gesetz her, das sie brechend bestätigt. Sie ist auch – anders als der Zufall – auf ein neues Gesetz hin ausgerichtet. Jedes gelungene Improvisieren hat in seiner Abwendung vom überkommenen Gesetz die Tendenz, sich selbst als ein neues Gesetz einzusetzen: »Il faut bien improviser,« sagt Derrida, »il faut bien improviser.«4 Gut ist eine Improvisation vielleicht dann zu nennen, wenn sie sich selbst ihr eigenes Gesetz gibt (das erinnert nicht von ungefähr an Kants Definition des Genies, in dessen Natur sich die Kunst selbst die Regel gibt), allerdings so, dass dieses Gesetz über den Augenblick seiner Einsetzung hinaus keine absolute Geltung beansprucht (und das wäre mit Kants Genie-Definition wiederum in keiner Weise vereinbar). Diese Konstellation lässt sich auch in den Begriffen einer politischen Theorie formulieren: Wenn es politisch-juridische Handlungen gibt, die für sich die Kraft eines Gesetzes beanspruchen, ohne de jure ein Gesetz zu sein – das paradigmatische Beispiel sind hier polizeiliche Verordnungen, mit Derrida zu schreiben als Gesetzeskraft –, dann lassen sich komplementär hierzu solche Handlungen denken, die die Form eines Gesetzes haben, ohne für sich die Kraft eines Gesetzes zu beanspruchen – und genau hierfür wäre das Konzept der Improvisation einzusetzen, geschrieben: Gesetzeskraft. Damit ist der einzelne improvisatorische Akt doppelt auf das Gesetz bezogen: Auf das Gesetz, von dem er sich absetzt, und auf das Gesetz, das er einsetzt. Und beide Bezüge haben die Form eines Bruches: ein akuter Bruch des überkommenen Gesetzes und ein kommender Bruch der eigenen Setzung. Das Verhältnis von Improvisation und Gesetz ist offenbar kompliziert. Diese Komplikationen wiederholen sich im Verhältnis von Improvisation und Schrift. Derrida zitiert Coleman, der erzählt habe, dass er erst dort mit einer wirklich freien Improvisation begonnen habe, wo er die Schrift, das Schreiben als deren konstitutive Voraussetzung begriffen habe: »I started writing before I started playing.«5 Dem stimmt Derrida natürlich zu, auch in einem Gespräch, das Coleman und Derrida anlässlich des Konzertereignisses miteinander geführt haben: »Je ne suis pas un ›expert en Ornette Coleman‹, mais si je traduis ce que vous faites dans un domaine que je connais mieux, celui de la langue écrite, l’événement unique, qui ne se produit qu’une fois, est néanmoins répété dans sa structure même. Il y a donc une répétition, dans le travail, intrinsèque à la création initiale – ce qui compromet ou complique le concept de l’improvisation. La 4. J. Derrida: »Joue – le prénom«, S. 41. 5. »›La langue de l’autre‹. Ornette Coleman et Jacques Derrida«, in: Les Inrockuptibles 11 (1998), S. 37-40, hier S. 38.
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répétition est déjà dans l’improvisation: donc quand les gens veulent vous piéger entre l’improvisation et le préécrit, ils ont tort.«6
Improvisation ist demnach nicht als einfacher Gegensatz zum Gesetz zu verstehen, sondern als ein dekonstruktiv zwischen Gesetz und Gesetzesbruch gespanntes Handeln; nicht als einfacher Gegensatz zur Schrift, sondern als das konstitutiv auf Schrift bezogene Ereignis einer Stimme; nicht als einfacher Gegensatz zur Wiederholung/Probe, sondern als ›l’événement malgré préparation/répétition‹. Mit den folgenden Beispielen von Thomas Mann und Hugo Ball möchte ich nun zweierlei sichtbar machen: zum einen, inwiefern auch literarische Improvisationstexte der Gesetzesproblematik (zudem in unterschiedlichsten Spielarten) verpflichtet sind; zum anderen, wie diese Texte ihrerseits mit Strategien der Intermedialität auf die komplizierte Lage reagieren, die sich zwischen Literatur und Improvisation im Medium der Schrift ergibt.
2. Der Bajazzo (Thomas Mann, 1897) Im September 1897, genau hundert Jahre vor dem Coleman-Derrida-Auftritt in Paris, erscheint in der Neuen Deutschen Rundschau Thomas Manns Novelle Der Bajazzo. Ein Bajazzo, das ist ein Possenreißer, eine einfallsreiche, wendige Figur, immer im Spiel begriffen, immer an der Grenze zum Grotesken, ein talentierter Spaßmacher. Thomas Mann freilich erzählt die triste Geschichte eines dreißig Jahre jungen Mannes, der an seiner »Bajazzobegabung« (B 127, B 132)7 zu verzweifeln droht, und der in seiner Verzweiflung zur Feder greift: »Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine ›Geschichte‹ darin zu erzählen: warum eigentlich? Vielleicht um überhaupt etwas zu thun zu haben? Aus Lust am Psychologischen vielleicht und um mich an der Notwendigkeit alles dessen zu laben? Die Notwendigkeit ist so tröstlich!« (B 120)
Zwei gegensätzliche Schreibimpulse werden hier erwogen. Zum einen, die Möglichkeit, dass es um das Schreiben als Handlung geht, darum, »über6. Ebd. 7. Hier und im Folgenden im Text mit der Sigle B in Klammern zitiert nach: Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering/Eckhard Heftrich u.a.; Bd. 2.1: Frühe Erzählungen. 1893-1912. Hg. und kritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Frankfurt a.M.: Fischer 2004.
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haupt etwas zu thun zu haben«. Nicht was geschrieben wird, wäre demnach von Interesse, sondern lediglich, dass geschrieben wird. Das Schreiben reduziert sich hier auf seine reine Performanz. Entscheidend für die Improvisation ist dabei die Distanzierung vom Inhalt, von der Bedeutung, vom Signifikat. Genau darin, im signifizierten Inhalt, liegt der zweite mögliche Schreibimpuls. Hier geht es um die Erforschung der eigenen Person, um die Entfaltung der eigenen Geschichte. Während das Schreiben als Handlung sich im Augenblick erschöpft, greift das Schreiben als Bedeutungsproduktion in die Vergangenheit zurück: Wie ich wurde, was ich bin. Entscheidend ist hier der Begriff der Notwendigkeit, der in einem starken Spannungsverhältnis zum Begriff der Improvisation steht. Und doch – oder gerade deswegen – ist sie für den Ich-Erzähler genau das, worauf sich seine letzten Hoffnungen richten: »Die Notwendigkeit ist so tröstlich!« Die beiden gegensätzlichen Schreibimpulse sind Elemente einer Oppositionsserie, die Manns Erzählung durchweg strukturiert: Handlung gegen Bedeutung, »Zufall[]« (B 147) gegen »Notwendigkeit« (B 120), »Ordnung« (B 140) gegen »Unordnung« (B 155); Spiel (B 126), »bunte[r] Unsinn« (B 125), »Narrenspossen« (B 126), »Clownerie und Blague« (B 128), »Chaos« (B 130), Provisorisches (B 130) und »Vorläufiges« (B 136), »Veränderungen, Überraschungen und Glück« (B 144) auf der einen Seite, auf der anderen Seite das »Patrizierhaus[]« (B 121), das Generationen »überdauert« (B 121), die »Schulbank« (B 129), die Kaufmannslehre (B 128), ein »ungestörtes und beschauliches Dasein« (B 135), die »Regelmäßigkeit« (B 137), »die endgültige Unabänderlichkeit« (B 138). Für den Ich-Erzähler formiert sich dieser Gegensatz ein erstes Mal in seinem Leben in den Figuren von Mutter und Vater. Die Mutter sitzt im Wohnzimmer, spielt träumerisch Klavier und erzählt Märchen; der Vater – vom Erzähler adversiv eingeführt: »Mein Vater aber« (B 122) – ist ein »mächtiger Mann« (B 122) in öffentlichen Angelegenheiten, »glattrasiert« (B 122), »zwei tiefe senkrechte Falten« (B 122) auf der Stirn. Und zwischen beiden der Sohn: »Ich saß in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter, wie als ob ich wählte zwischen beiden und mich bedächte, ob in träumerischem Sinnen oder in That und Macht das Leben besser zu verbringen sei. Und meine Augen verweilten am Ende auf dem stillen Gesicht meiner Mutter.« (B 123)
Genauer lässt sich kaum formulieren: »wie als ob ich wählte«. In dieser Wendung vereinen sich Notwendigkeit und Zufall. Das Kind spielt die Wahl, die es ernsthaft nicht hat: »I just pretend.« Dem Erzähler ist alles Spiel; und zugleich hat er nicht den geringsten Spielraum. Darin besteht 46
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das Dilemma dieses Bajazzos von der traurigen Gestalt. Sein Leben scheint auf den ersten Blick frei zu sein, hat er doch, wie er selbst schreibt, »mit der ›Gesellschaft‹ gebrochen und auf sie verzichtet, als ich mir die Freiheit nahm, ohne ihr in irgend einer Weise zu dienen, meine eigenen Wege zu gehen« (B 139). Auf den ersten Blick glaubt man, dass dieser Mensch sein Leben improvisiert. Aber – »eh bien« – das täuscht. Dabei hat der Ich-Erzähler einiges an improvisatorischer Praxis erprobt. Schon als Kind besitzt er »ein großes und wohlausgestattetes Puppentheater, […] um die merkwürdigsten Musikdramen darauf zur Auff ührung zu bringen.« (B 123) Ganz allein übernimmt er dabei alle Instrumente, alle Schauspieler, die gesamte Theatermaschinerie und die Rolle des Kapellmeisters: »Das Haus war in der That nicht übel besetzt, und ich gab mir das Klingelzeichen zum Beginn der Vorstellung, worauf ich den Taktstock erhob und ein Weilchen die große Stille genoß, die dieser Wink hervorrief. Alsbald jedoch ertönte auf eine neue Bewegung hin der ahnungsvoll dumpfe Trommelwirbel, der den Anfang der Ouvertüre bildete, und den ich mit der linken Hand auf der Pappschachtel vollführte, – die Trompeten, Klarinetten und Flöten, deren Toncharakter ich mit dem Munde auf unvergleichliche Weise nachahmte, setzten ein, und die Musik spielte fort, bis bei einem machtvollen crescendo der Vorhang emporrollte und in dunklem Wald oder prangendem Saal das Drama begann. Es war vorher in Gedanken entworfen, mußte aber im Einzelnen improvisiert werden, und was an leidenschaftlichen und süßen Gesängen erscholl, zu denen die Klarinetten trillerten und die Pappschachtel grollte, das waren seltsame, volltönende Verse, die voll großer und kühner Worte steckten und sich zuweilen reimten, einen verstandesmäßigen Inhalt jedoch selten ergaben.« (B 124)
Gewiss handelt es sich hier um ein talentiertes Spiel, das im Einzelnen die Freiheiten der Improvisation auszuschöpfen vermag und im performativen Vollzug die für die Improvisation typische Distanzierung von einem jeden »verstandesmäßigen Inhalt« vollzieht. Im Ganzen aber folgt diese Szene natürlich überdeutlich einer Vor-Schrift, ist sie nach-geschrieben, abgeschrieben, unterwirft sie sich der größten aller denkbaren Autoritäten für die Bildungsgeschichte eines Kunstwilligen, zur Kunst jedoch letztlich nicht fähigen Kaufmannssohnes: Goethes Wilhelm Meister. Selbst das kindliche Spiel ist keine Original-Improvisation, sondern eine kleinliche Bildungs-Kopie. Nicht viel besser steht es um eine zweite erzählte Improvisationsszene, zu der es auf einer Europareise des mittlerweile erwachsenen Erzählers »im Salon der Pension Minelli zu Palermo« kommt:
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»In einem Kreise von Franzosen verschiedenen Alters hatte ich am Pianino von ungefähr begonnen, mit großem Aufwand von tragischem Mienenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden Harmonieen ein Musikdrama ›von Richard Wagner‹ zu improvisieren, und ich hatte soeben unter ungeheurem Beifall geschlossen, als ein alter Herr auf mich zueilte […]. Er ergriff meine beiden Hände und rief mit Thränen in den Augen: ›Aber das ist erstaunlich! […] Ah, Sie gestatten, daß ich Ihnen aus vollem Herzen danke, nicht wahr! Aber es ist nötig, daß Sie Schauspieler oder Musiker werden!‹ Es ist wahr, daß ich bei solchen Gelegenheiten etwas von dem genialen Übermut eines großen Malers empfand, der im Freundeskreise sich herbeiließ, eine lächerliche und zugleich geistreiche Karrikatur auf die Tischplatte zu zeichnen.« (B 134)
Problematisch ist hier nicht in erster Linie das Vorbild, nach dem improvisiert wird, denn dieses wird schlicht als Ausgangsmaterial qualifiziert. Problematisch allerdings ist der Status, welcher der Improvisation für die Kunst zugeschrieben wird. Denn das Improvisieren ist hier nicht schon selbst Kunst, es erscheint lediglich als Vorbereitung auf die und Vorstufe zur Kunst. Der Erzähler improvisiert jetzt; Schauspieler oder Musiker (oder Maler) aber muss er erst noch werden. Improvisation ist nicht Kunst, sondern Vor-Kunst. Deshalb kann derjenige, der zu improvisieren vermag, sich seines Status als Künstler noch keineswegs sicher sein. Entsprechend räsoniert der Erzähler: »Wie, wenn ich in der That ein Künstler wäre, befähigt, mich in Ton, Wort oder Bildwerk zu äußern – am liebsten aufrichtig gesprochen, in allem zu gleicher Zeit?« (B 141) So wird der improvisatorische Spielraum des Ich-Erzählers nach zwei Seiten hin eingeengt: Entweder unterliegt das scheinbar frei Improvisierte dem Kopierzwang einer vorgängigen Autorität. Oder das tatsächlich Improvisierte ist keine Kunst, sondern nur deren Vorschein. In der Improvisation liegt für den Lebensweg des Protagonisten also keine Lösung, sondern ein Teil des Problems. Denn eingespannt zwischen der Freiheit der Improvisation und dem Zwang des Gesetzes gelingt ihm weder die Wahl für eine der beiden Positionen noch deren ausgleichende Vermittlung. So endet er zerrissen zwischen Fluglust und Schwerkraft: »Ich höre auf zu schreiben, ich werfe die Feder fort – voll Ekel, voll Ekel! – Ein Ende machen: aber wäre das nicht beinahe zu heldenhaft für einen ›Bajazzo‹? Es wird sich ergeben, fürchte ich, daß ich weiter leben, weiter essen, schlafen und mich ein wenig beschäftigen werde und mich allgemach dumpfsinnig daran gewöhnen, eine ›unglückliche und lächerliche Figur‹ zu sein.« (B 158)
»Ich höre auf zu schreiben« – das ist, im Präsens geschrieben, ein sich selbst widersprechender Satz. Selbst dort, wo der Bajazzo aus dem Spiel 48
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auszusteigen vorgibt, bleibt er im Spiel. »I just pretend«: Ich tue, als würde ich die Feder fortwerfen, lasse sie aber weiter schreibend über das Papier gleiten – und sei es auch nur, »um mich ein wenig zu beschäftigen«, sei es auch nur der bloßen Handlung willen. Damit ist der Ich-Erzähler nach der langen Erkundung seiner eigenen Geschichte, nach der Erforschung der tröstlichen Notwendigkeit, wieder bei der ersten Schreiboption angelangt: beim Schreiben als Handlung, als Vollzug; bei einem Schreiben, dessen Handlung nicht nur losgelöst, unabhängig vom geschriebenen Inhalt ist, sondern diesem sogar widerspricht. »Ich höre auf zu schreiben.« Dies ist ein Satz, dessen Gehalt sich auf den bloßen Vollzug des Schreibens reduziert – und genau auf diese Weise mit einer fundamental improvisatorischen Haltung berührt.
3. Flametti (Hugo Ball, 1918) Im April 1918 erscheint Hugo Balls furioser Varieté-Roman Flametti oder vom Dandysmus der Armen, verfasst 1916, im Geburtsjahr des Dadaismus. Der Titelheld und Varieté-Chef Flametti steckt in Schwierigkeiten. In der »Haupt- und Betriebskasse« (F 8)8 des Ensembles befinden sich nur noch »Neun Franken vierundfünzig Vermögen« (F 8), die unter Vertrag stehenden Künstler lümmeln lustlos und ohne Engagement in Flamettis Wohnung und auf Flamettis Kosten vor sich hin, ein so gesetzesbrecherischer wie vielversprechender Drogendeal ist gerade geplatzt, und vor allem fehlt zur dringend notwendigen Belebung des Geschäfts »ein unerhörtes, ein buntes, nie dagewesenes Gesangstableau« (F 50). Flametti befindet sich also an der Grenze zum ökonomischen und ästhetischen Ruin. Genau in dieser Situation lässt Ball nun die Improvisation einspringen, indem er einen improvisierenden Dichter ins Spiel bringt: »Stanislaus Rotter, Schnelldichter und Conférencier – man hatte ihn seine Schmonzes vortragen hören; seinen redegewandten Improvisationen nicht ohne Gewinn gelauscht. Er war es, von dem Flametti das Heil erwartete. […] Ein gutes Ensemble von ihm, exotisch, wild, mit der Streitaxt, brutal – und alles wäre in Ordnung.« (F 49f.)
Der Roman assoziiert Rotters improvisatorisches Talent mit Streit und Wildheit und setzt es so gegen den Raum des Regulären und Geregel8. Hier und im Folgenden im Text mit der Sigle F in Klammern nach dem Zitat zitiert nach: Hugo Ball: Flametti oder Vom Dandyismus der Armen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975.
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ten ab. Damit eröffnet Ball die Möglichkeit, die Improvisationsästhetik in einen politisch-juridischen Analysehorizont zu rücken. Denn im Kern einer jeden Improvisation steckt auch aus Balls Perspektive ein Moment der Irritation des Gesetzes, liegt ein denormierender Impuls: ohne Streitaxt keine Improvisation. Flametti begibt sich nun mit dem »Conférencier und Improvisator« (F 52) als ästhetischem Kapital zwecks Engagementverhandlungen zum renomiertesten Lokal Zürichs – mit Rotter als Trumpf im Ärmel: »Aus Flamettis Hand, zeremoniös umschlossen, stieg eine Photographie in Postkartenformat, darstellend einen Herrn in den mittleren Jahren, mit englisch gestutztem Schnurrbart, Schillerkragen und Künstlerkrawatte. ›Das ist doch der – Rotter!‹ rief der Wirt. ›Jerum, der Rotter!‹ rief er erstaunt seiner Frau zu und beugte sich näher, um über Flamettis Schulter hinweg die Photographie zu betrachten.« (F 51)
Betrachtet wird hier eine Photographie, wo eigentlich von einem Improvisator die Rede sein soll. An die Stelle der Improvisation rückt der Roman so ein Spiel mit Medien. Damit eröffnet Ball die Möglichkeit, die literarische Improvisation in einen medientheoretischen Analysehorizont zu rücken. Der politisch-juridischen Minimaldefinition der Improvisation im Allgemeinen – Improvisation als Irritation des Gesetzes, als »événement malgré préparation« – lässt sich mithin eine spezifizierende, mediensensible Charakterisierung der literarischen Improvisation im Besonderen hinzufügen: Literarische Improvisationstexte inszenieren mit einer erklärungsbedürftigen Regelmäßigkeit neben politisch-juridischen Konflikten auch mediale Irritationen. Der produktive Kampf um die Norm wird in Balls Varieté-Roman in zwei Bereichen durchgespielt: einem ästhetischen und einem polizeilichen. Die ästhetische Dimension des Problems zeigt sich zum Beispiel in Flamettis gespanntem Verhältnis zur Probenarbeit. Gemeinhin ist die Probe der Ort, an dem das zunächst Ungefähre und Ungefügte eine feste Form gewinnt. Nicht so bei Flametti: »Proben? Jawohl! Aber mit Maß und Ziel. […] Man ist doch nicht beim Kommiß! Artisten sind keine Studiermaschinen. […] Flamettis Proben waren unberechenbar. […] Das Ganze blieb mehr der Inspiration, dem persönlichen Einfall und Zufall belassen. Extempores? Prachtvoll! Er selbst war ein Extempore von Kopf bis zu Fuß. Vielseitig, unberechenbar, auch in seinem Repertoire. Nur kein festes Programm! Nichts langweiliger als das.« (F 24)
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Zweierlei ist hier von Bedeutung: zum einen, dass Flametti den Zufall in den künstlerischen Produktionsprozess einführt, zum anderen, dass dieses Moment der Kontingenz nicht nur für den Verlauf der Produktion, sondern auch für das fertige Produkt von konstitutiver Bedeutung bleibt. Extemporiert wird hier wie dort, in der Probe wie auf der Bühne. So dient die Improvisation nicht einfach als ein kreatives, der Präsentation vorgelagertes Produktionsmittel, sondern kommt selbst als zu präsentierende Aktion zur Darstellung. Hier geht Balls Flametti einen entscheidenden Schritt weiter als Manns Bajazzo. Bei Mann bliebt die Improvisation VorKunst; bei Ball wird die Improvisation zur Kunst selbst. Eröff net ist damit ein normendistanzierter Raum, in welchem die freie Entscheidung mehr gilt als die korrekte Anwendung einer Regel und in welchem vom Zufall mehr erwartet wird als vom Zwang, ein Raum für ›événements malgré préparation‹. Ball stellt Flamettis Improvisationsästhetik in unmittelbaren Zusammenhang mit dem von Flametti angestellten Künstlerpersonal: »Flamettis Personal war: interessant. […] Mochte das Talent einen Knacks haben, die Stimme einen Knacks, die Figur einen Knacks. […] Flametti hatte einen Blick für die gebrochene Linie. […] Deklassierte Menschen, gerempelte Personnagen sind die gebornen Artisten. […] Gefängnis, Skandal, Freudenhaus, Fahnenflucht waren kein Einwand. Artisten kommen aus einer anderen Welt. Sind keine Bürger.« (F 25)
In Flamettis Blick für die gebrochene Linie kreuzt sich das ästhetische mit dem polizeilichen Widerspiel von Norm und Anomalie. Ganz wie sich die künstlerische Improvisation keiner vorab festgeschriebenen ästhetischen Regel unterstellt, so steht auch der improvisierende Künstler in einer grundsätzlichen Distanz zum Gesetz. Bei Ball ist dies durchaus im Sinne einer politischen Theorie zu verstehen. In seinem Aufsatz über Preußen und Kant beschreibt Ball den pflichtunterworfenen Bürger als Korrelat eines »stillschweigenden Vertragsverhältnisses […] zwischen dem Fürsten und seinem Untertanen«.9 Der Artist hingegen sei aus diesem Vertragsverhältnis ausgenommen und fühle sich deshalb, so Ball mit Blick auf Die junge Literatur in Deutschland, »ohne Schutz«. 10 Der kulturelle Ort der 9. Hugo Ball: »Preußen und Kant«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 180-183, hier S. 180. 10. Hugo Ball: »Die junge Literatur in Deutschland«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 32-35, hier S. 34.
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Improvisation ist die soziale Peripherie. Hierin sind sich Manns Bajazzo und Balls Flametti einig, weiß sich doch auch Manns Ich-Erzähler »im Kontor so fremd und abwesend wie ehemals in der Schulbank« (B 129), haftet ihm »etwas Oppositionelles und Extravagantes« (B 131) an, hat er »mit der ›Gesellschaft‹ gebrochen« (B 139), betreibt »dieses Für-Sich-Sitzen, diese Zurückgezogenheit und Außerhalbstellung« (B 140), fühlt sich »ausgeschlossen, hors ligne, deklassiert, Paria« (B 151), ist »ein Fremder, Unberechtigter, Unzugehöriger« (B 155), und wird, nichts ist konsequenter als das, »aus irgendeinem gleichgültigen Grund für militäruntüchtig erklärt« (B 132). Vergleichbar dicht inszeniert auch Balls Roman mit großer Beharrlichkeit eine Kampfzone um die Frage der Norm, der Regel und des Gesetzes, eine Kampfzone, in der ästhetische und politische Zugriffe aufeinander treffen. Mann und Ball stehen damit in einer Traditionslinie, deren Genealogie zurückreicht bis zum aufgeklärten Kameralisten und Medizinalpolizisten Joseph von Sonnenfels, auf dessen Initiative 1770 in Wien über das theatrale Stegreifspiel die Strafe des Berufsverbots verhängt wird. 11 Genau für diese Traditionslinie lässt sich die Minimaldefinition der Improvisation formulieren, die letztlich einem politisch-juridischem Modell folgt: Die Improvisation rührt an die Grenzen des Gesetzes. Balls Roman, das ließe sich an vielen weiteren Stellen zeigen, inszeniert mit großer Beharrlichkeit eine Kampfzone um die Frage der Norm, der Regel und des Gesetzes, eine Kampfzone, in der ästhetische und politische Zugriffe aufeinandertreffen. Eine ähnliche Kombinatorik von politischen und ästhetischen Fragen findet sich zu gleicher Zeit auch bei Carl Schmitt, dem Hugo Ball in den frühen 20er Jahren zunächst mit einem einverständigen Briefwechsel und einer zustimmenden Rezension von Schmitts Politischer Theologie zugewandt ist. Als Voraussetzung für diese nahe Auseinandersetzung Balls mit Schmitt gilt gemeinhin Balls Abkehr vom dadaistischen Ästhetizismus und seine Wende hin zu einem asketischen Katholizismus. Doch es lassen sich, schon ausgehend vom dadaistischen Jahr 1916, Nähe und Distanz zwischen dem improvisationsfreudigen Ball und dem rechtskonservativen Schmitt bestimmen, und dies zweifach. Zum einen verhandeln sowohl Ball als auch Schmitt das Ästhetische und das Politische als komplementäre Grenzfragen. Daher eine erste Nähe zwischen Ball und Schmitt. Allerdings gehen sie diese Grenze von ent11. Vgl. hierzu Roland Borgards: »Improvisation, Verbot, Genie. Zur Improvisationsästhetik bei Sonnenfels, Goethe, Spalding, Moritz und Novalis«, in: Markus Dauss/Ralf Haeckel (Hg.), Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in den Künsten um 1800 und 1900 (erscheint Würzburg: Königshausen & Neumann 2009).
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gegengesetzten Seiten her an. Denn Ball bezieht mit der Parteinahme für die »gebrochene Line« eine politisch-ästhetische Position, die sich deutlich gegen Schmitts Dreiklang zwischen dem Klassischen, der Dezisionen und dem Souverän abgrenzen lässt. Ein treffendes Emblem für diesen Schmitt’schen Dreiklang ist gerade die geschlossene Linie, ist die klare Umrisslinie als klassische Formentscheidung des souveränen Künstlersubjekts. Wer einen Blick für die gebrochene Linie hat, steht nicht auf der Seite von Schmitts Klassischem. So ist schon mit dem Flametti-Roman vorbereitet, dass dort, wo Schmitt sich der souveränen Entscheidung über den Ausnahmezustand jede Unordnung letztlich von der Ordnung her denkt, Ball hingegen mit der Betonung des Widerstandsrechts Unordnung als Unordnung zu denken in der Lage ist. Festzuhalten ist also zunächst eine Verwandtschaft zwischen Improvisation und Widerstandsrecht, für die sich in der Geschichte der Improvisationsästhetik übrigens eine Vielzahl von Belegen finden ließe. Zum anderen treffen Ball und Schmitt sich nicht erst im Katholizismus, sondern schon in ihrem Interesse für die Dezision. Denn jeder Improvisation eignet ein dezisionistisches Element, insofern sie die Entscheidung vor dem Gesetz privilegiert. Daher eine zweite Nähe zwischen Ball und Schmitt. Anders jedoch als die Formentscheidung des klassischen Künstlers und die politische Entscheidung des Souveräns, wie Schmitt sie denkt, bleibt die improvisatorische Entscheidung, wie Ball sie denkt, auf den Augenblick, auf das Hier und Jetzt der Entscheidung beschränkt. Für Schmitt gibt es eine Zäsur zwischen der Zeit vor und der Zeit nach der Dezision. Für Ball (und die Improvisationsästhetik) ist nach der Entscheidung immer schon wieder vor der Entscheidung. Der dezisionistische Akt der Improvisation entwirft ein Gesetz ohne Geltung (›Gesetzeskraft‹); der dezisionistische Akt des Souveräns instituiert dagegen eine Geltung ohne Gesetz (›Gesetzeskraft‹). Festzuhalten ist deshalb auch eine untergründige Beziehung der Improvisation zu dem, was Walter Benjamin in Abgrenzung zur rechtserhaltenden und rechtsetzenden Gewalt die reine Gewalt genannt hat. 12 Auffallend an literarischen Improvisationstexten ist nun, dass diese politisch-juridischen Grenzkämpfe der Improvisation immer wieder mit Medienfragen verknüpft werden. Dies zeigt sich schon bei Mann, ist doch der Bajazzo ein wahres Multimedia-Talent, der am liebsten in Wort, Bild und Ton zugleich improvisieren würde. Auch Balls Roman verknüpft die politischen Implikationen der Improvisation eng mit medialen Komplika12. Zu einem Improvisationstext Benjamins vgl. Roland Borgards: »Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 268-286.
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tionen, indem er die soziotopischen Grenzverhandlungen immer wieder mit der Inszenierung medialer Anordnungen durchsetzt, so etwa, wie schon gesehen, mit der Photographie des Improvisators, oder, an anderer Stelle, in der Beschreibung des Varietéabends, mit der Musik: »Los ging die Musik, dass die Schwarten knackten. ›Ptuhh dada dada da, umba, umba!‹ bließ die Baßtrompete in idealer Konkurrenz mit Pauke und Schrummbaß.« (F 91)
Das Medium der Musik verbindet hier nicht nur intern die verschiedenen Instrumente in »idealer Konkurrenz« miteinander, sondern steht auch selbst im Gesamtzusammenhang der Varietéauff ührung in idealer Konkurrenz zu anderen Medien, zu Tanz, Sprache und Malerei, und bildet so ein Monumentalkunstwerk. Der Begriff des Monumentalkunstwerkes bedarf der Erläuterung. In Anlehnung an Kandinsky versteht Ball unter einem »Monumentalkunstwerk«13 eine Medienkompilation, deren ästhetischer Wert gerade aus den medialen Differenzen hervorgeht. Das Monumentalkunstwerk ist eine »Konstruktion oder Komposition auf der Bühne, die jede der einzelnen Künste als selbstständiges Darstellungsmaterial gelten läßt«. 14 Gegen Richard Wagners Konzeption eines Gesamtkunstwerkes, das für Ball und Kandinsky vor allem auf die Harmonisierung der beteiligten Medien angelegt ist und deren je spezifische Qualitäten sich deshalb auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren müssen, arbeitet das Monumentalkunstwerk mit den produktiven Effekten der medialen Dissonanz. In diesem Sinne ist der in Balls Roman beschriebene Varietéabend ein Monumentalkunstwerk, in welchem unterschiedliche Medien in einer dissonanten Ordnung konstelliert werden. Nun wird die mediale Dissonanz im Flametti-Roman zunächst nur beschrieben, nicht ausgeführt. Denn auf der Ebene der Darstellung arbeitet der Roman eben nur mit einem einzigen Medium: dem literarischen Text. Aber dennoch schlägt das dargestellte Spiel mit verschiedenen Medien auf das Darstellungsmedium durch, insofern die Improvisation für den literarischen Text zum Anlass wird, die eigene mediale Basis aus dem Hintergrund der impliziten Voraussetzung in den Vordergrund einer thematischen Präsentation treten zu lassen. Hierfür zwei Beispiele. Ein erstes Mal geschieht dies dort, wo Frau Schnabel, die Wirtin des ›Krokodils‹, 13. Hugo Ball: »Kandinsky. Vortrag, gehalten in der Galerie Dada«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 41-53, hier S. 52. 14. Ebd.
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auf die Photographie des Improvisators Stanislaus Rotters zunächst nur mit einem »›So so!‹« (F 52) reagiert, dann ihre skeptische Äußerung wiederholt und der Roman dies zu einem Verweis auf seine eigene mediale Struktur nutzt: »›So so!‹ lächelte Frau Schnabel wie oben« (F 53) – »wie oben«: Das ist eine räumliche, textuelle Kategorie. Hier spricht der Roman von seinem eigenen Medium.15 Ein zweites Mal kommt es zu einer entsprechenden Medienthematisierung dort, wo der literarische Text sich die musikalische Phrase als Sprechakt einverleibt und diesen Medientransfer mittels Anführungs- und Ausrufungszeichen eigens hervorhebt – und dabei ganz nebenbei »dada« sagt: »Dadadadada umba, umba, um!« (F 91) Für die improvisatorischen Anteile von Balls Varietéroman Flametti gilt deshalb: Die ideale Konkurrenz ist die mediale Konkurrenz.
4. »Als ich das Cabaret Voltaire gründete« (Hugo Ball, 1916) Als Geburtsort des Dadaismus gilt das von Hugo Ball gegründete »Cabaret Voltaire« in Zürich, dessen im Februar 1916 beginnende Soiréen einige Ähnlichkeit mit Flamettis Varieté-Abenden aufweisen. Auch hier werden die Zuschauer mit veritablen Monumentalkunstwerken konfrontiert. Dies geht aus dem Text hervor, den Hugo Ball als eine Art editorischen Vorbericht seinem Cabaret Voltaire betitelten Recueil littéraire et artistique beigegeben hat: »Als ich das Cabaret Voltaire gründete« (vgl. Abbildung 1). An diesem Text lässt sich die sukzessive Konstruktion eines multimedialen Ereignisses nachzeichnen. Ihren Anfang nimmt diese Konstruktion mit einer äußerst basalen Geste: »›Bitte, Herr Ephraim, geben Sie mir Ihren Saal. Ich möchte ein Cabaret machen.‹ Herr Ephraim war einverstanden und gab mir den Saal.«
Voraussetzung für jedes multimediale Ereignis ist es, dass es überhaupt einen Raum gibt, in den die verschiedenen Medien eingestellt werden können. Ist solch ein Raum einmal geschaffen, kann er gefüllt werden. Im Falle Balls kommen zunächst Bilder und sodann Musik, Poesie und Tanz: »Und ich ging zu einigen Bekannten und bat sie: ›Bitte geben Sie mir ein Bild, eine Zeichnung, eine Gravüre.‹ […] Und man gab mir Bilder […]. Da hatten wir 15. So macht es Manns Erzählung sehr lapidar mit dem Titel, der nicht »Mein Leben als Bajazzo« heißt, sondern eben »Der Bajazzo« und damit das gesamte Gefälle von Autor und Erzähler ins Spiel bringt.
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am 5. Februar ein Cabaret. Mde. Hennings und Mde. Leconte sangen französische und dänische Chansons. Herr Tristan Tzara rezitierte rumänische Verse. Ein Balaleika-Orchester spielte entzückende russische Volkslieder und Tänze.«
Abbildung 1: Hugo Ball: »Als ich das Cabaret Voltaire gründete« Das »Cabaret Voltaire« ist im Wortsinne ein Multimediaevent, ein Vielvermittlungsereignis. Dies ließe sich nun auch von einem Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners sagen. Doch zielt die Auff ührung in der Zürcher Meierei dezidiert nicht auf die Einheit, sondern den Unterschied im »Darstellungsmaterial«16 der beteiligten Künste. Genauer muss man also formulieren: Das »Cabaret Voltaire« ist ein differentielles Medienereignis, ein Raum dissonanter Medien. Ein anschauliches Beispiel eines solchen differentiellen Medienereignisses gibt die berühmte Photographie, die Hugo Ball im kubistischen 16. H. Ball: Kandinsky, S. 52.
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Kostüm bei der Lesung seines Lautgedichts Karawane zeigt (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Hugo Ball Sie zeigt den Teppich, der den Grundriss des Raumes markiert, und Vorhang und Vorhangschiene, welche den Raum nach der Seite hin begrenzen. Sie zeigt des Weiteren einen Sprachartisten, der fast gänzlich hinter einem der bildenden Kunst entlehnten Kostüm verschwindet. Und sie zeigt, vor allem, zwei Notenständer, die den zu lesenden Text tragen: »Vous voyez, vous, j’ai là une sorte de partition écrite.« Mit dieser inszenatorisch ausgestellten Geste gelingt es Ball, Text und Musik ununterscheidbar zu machen und so – nimmt man das Kostüm noch hinzu – den Raum mit drei kubistisch verkanteten Medien zu füllen. 57
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Wenn auf diese Weise Differenz und Dissonanz zum Ordnungsprinzip erhoben werden, dann hat das einen unmittelbaren Effekt auf die Rezipienten des Kunstwerkes, auf die Mediennutzer. Dieser Effekt besteht vor allem darin, dass die konventionalisierten und habitualisierten Standardkopplungen zwischen Medium und Nutzer durch Überforderung gesprengt werden. Gegenüber einem Monumentalkunstwerk muss sich das rezipierende Subjekt in jedem Augenblick neu positionieren. Hier berührt sich das differentielle Medienereignis mit der Ästhetik der Improvisation. Denn wenn in der Improvisation die Entscheidung vor dem Gesetz privilegiert wird, dann bedeutet dies zugleich eine massive Privilegierung des gegenwärtigen, des instantanen Augenblicks. Mit diesem Augenblick muss das rezipierende Subjekt stets auf der gleichen temporalen Höhe bleiben, mit jeder neuen Entscheidung, mit jedem neuen Zufall, in jedem neuen Augenblick. Nimmt man diese beiden Momente zusammen, das differentielle Medienereignis zum einen und dessen improvisatorische Ausgestaltung zum anderen, dann lässt sich vielleicht die Wucht der Verstörung ermessen, die von den Auff ührungen im »Cabaret Voltaire« ausgegangen sein muss. Als Ball sich dazu entschließt, die Soiréen des »Cabaret Voltaire« in einem Recueil littéraire et artistique zu dokumentieren, steht er also vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen geht es darum, die mediale Vielfalt der Abende zu integrieren; zum anderen gilt es, einen Bezug zum improvisatorischen Privileg des Augenblicks und zur improvisatorischen Verzahnung von Norm und Gesetz, von Text und Performanz, von Schrift und Stimme zu wahren. Die Frage ist dabei vor allem, wie man die Effekte des Auff ührungsmediums, in dessen Vollzug Entscheidungen unumkehrbar sind, in das atemporale Dokumentationsmedium überträgt, bei dessen Produktion Entscheidungen noch umkehrbar bleiben. Wie, so lautet die zentrale Frage literarischer Improvisation, wie vermittelt man das Ereignis der Improvisation mit der Struktur eines Textes? Eine Antwort auf diese Frage findet Ball in intermedialen Darstellungsstrategien. Dies möchte ich an einem Beispiel vorführen, und zwar nochmals an Balls eigenem, zwei mediale Kipppunkte in Szene setzendem Beitrag »Als ich das Cabaret Voltaire gründete«. Der erste Kipppunkt ergibt sich aus einer offenen Abwendung von der Schrift ins Bild. Er ist dort situiert, wo das erste in den Text eingefügte Bild zugleich eine Unterbrechung des Textflusses provoziert, und dies an einer bezeichnenden Stelle. Es handelt sich hierbei um die sechste Zeile (vgl. hierzu nochmals Abb. 1). Diese sechste Zeile birgt einiges an Raffinement. Erstens inszeniert sie einen Medienwechsel; das Lesen wird von einem Schauen unterbrochen; dies entspricht Flamettis »Blick für die gebrochene Linie«. Zweitens verunsichert diese sechste Zeile die von ihr selbst gesetzte 58
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Grenze zwischen den Medien, indem sie auf die Schriftseite der medialen Grenze einen Doppelpunkt setzt, mithin ein exponiert graphisches Zeichen, das keine klare Referenz zu einem Laut der gesprochenen Sprache hat. Mit diesem Doppelpunkt, der auf der Seite der Schrift steht, aber zugleich am Bildlichen partizipiert, wird klar, dass die markierte Grenze zwischen Schrift und Bild nicht stabil ist. Dieser Bildlichkeit der Schrift entsprechen drittens die schriftlichen Anteile des Bildes, auf dem die Initialen »M J« und der Buchstabenzug »Emmy Hennings« als Bild gegeben sind. Auch von Seiten des Bildes her ist also die Grenze zur Schrift hin nicht dicht. Viertens wird zwar nach dem Doppelpunkt ein Bild gegeben, aber erst nach dem Bild erfolgt die Aufforderung »Bitte geben Sie mir ein Bild«. So verliert die Aufforderung ihren Sinn, insofern ihr im Textfluss schon nachgekommen wird, bevor sie überhaupt ausgesprochen wurde. Und fünftens schließlich wird das Bild, bleibt man in der Logik dieser sechsten Zeile, fast ausschließlich als bloßer Bilduntergrund ohne Motiv gegeben, als reine Medialität. So also lässt sich der erste mediale Kipppunkt in Balls Beitrag beschreiben: Das Bild im Text macht den Text zum Bild. Und der Rezipient weiß nicht mehr, ob er lesen oder schauen soll. Der zweite Kipppunkt ergibt sich aus einer dezidierten Konzentration auf die Schrift. Ich lese Ihnen die entsprechenden Zeilen vor, die nicht von ungefähr in der Nähe des recht groß geratenen Ohres von Hugo Ball platziert sind: »Am 26. Februar kam Richard Huelsenbeck aus Berlin und am 30. März führten wir eine wundervolle Negermusik auf (toujours avec la grosse caisse: boum boum boum boum – drabatja mo gere drabatja mo bonoooooooooooo –)«
Auch im Flametti-Roman gibt es mit dem »dada umba, umba, um!« (F 91) einen vergleichbaren Medientransfer von Musik in Schrift. Aber doch passiert hier noch etwas anderes, das deutlich über die Vertextung der Basstrommel in ein »boum boum boum boum« hinausgeht: eine fundamentale Desorientierung des Blicks. Denn das sich in die Länge ziehende »bonoooooooooooo« ist in einem sehr konkreten Sinn nur für das Auge da und zugleich vom Auge nicht stabil zu erfassen. Es ist nur für das Auge da, insofern sich diesem Schriftzug ganz offenbar keine klare Bedeutung zuordnen lässt. Wie weiter oben der Bilduntergrund, so gibt sich hier die Schrift als reine Medialität. Zugleich jedoch gelingt es auch nicht ohne weiteres, die Summe der o-Zeichen durch eine Zählung zu stabilisieren. Diese Folge von o-Zeichen vollzieht ganz nebenbei auch ein verunsicherndes Wahrnehmungsexperiment. Und schließlich verliert ein o, wenn es nur oft genug wiederholt wird, seinen klaren Bezug zur Schrift, es wird zur Null, es wird zum Kreis, es wird, kurz gesagt, zum Bild. 59
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Balls Beitrag zum Receuil ist also weder Bild noch Text. Er präsentiert sich vielmehr als ein dritter Medienzustand, der die Position des Rezipienten in eine nicht still zu stellende Vibration versetzt. Geleistet ist damit ein Doppeltes: Zum einen entspricht eine so nachträgliche intermediale Dokumentation, wie sie der Réceuil vornimmt, dem vorhergehenden differentiellen Medienereignis, als das sich die dadaistische Soirée präsentiert. Und zum anderen provoziert die flackernde, kippende, vibrierende Konstellation eine Privilegierung des Augenblicks, dank der die ereignishafte Kraft der Improvisation in der aufgebrochen-sukzessiven Struktur des Textes einen Widerhall finden kann.
5. Gesetz, Medien Literarische Improvisationstexte inszenieren mit einer erklärungsbedürftigen Regelmäßigkeit sowohl politisch-juridische Konflikte als auch mediale Irritationen. Dies gilt für die kleinen improvisatorischen Momente etwa in Karl Philipp Moritz‹ Tagebuch eines Deutschen in Italien wie für die großen Improvisationsromane des frühen 19. Jahrhunderts, Madame de Staels Corinne und Andersens Der Improvisator, das gilt für die frühromantische Sprachimprovisationstheorie des Novalis wie für Hoffmanns spätromantische Prinzessin Brambilla, und dies gilt in ganz eminenter Weise für das mediengeschichtlich dichte 20. Jahrhundert, von Thomas Manns Bajazzo über Balls Flametti, Döblins Radioimprovisation, Benjamins Auf die Minute, Krakauers Das Schreibmaschinchen, Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. bis hin zu den neueren Produkten der Pop-Literatur und einem so wunderbaren literarischen Ereignis wie Peter Kurzecks 290 Minuten währende, improvisierte autobiographische Erzählung Ein Sommer, der bleibt. Diese Texte, in denen allerorten improvisiert wird, verhandeln zum einen immer wieder Grundsatzfragen des Politischen: Es wimmelt in ihnen von Delinquenten und Polizisten, Gewalttätern und Detektiven, sozialen Subordinationen und gesellschaftlichen Ausgrenzungen, Herrschaftsansprüchen und Widerstandsszenarien, Rechtsansprüchen und Randexistenzen. Und diese Texte betreiben zum anderen ein inszenatorisches Spiel mit medialen Raum- und Denkordnungen: Es wimmelt in ihnen nur so von Tanz- und Theaterauff ührungen, Rundfunksendern und Kassettenrecordern, Photo- und Filmapparaten, Schreibmaschinen und Textverarbeitungsprogrammen, Musikinstrumenten und Mal-Utensilien. Ausgehend von diesem Befund sind, so denke ich, zwei analytische Zugänge zur literarischen Improvisation nötig, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Zunächst einmal gilt es, so etwas wie eine provisorische
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Theorie der Improvisation zu entwerfen. 17 Provisorisch muss diese Theorie bleiben, weil es, wie immer wieder von all denen betont wird, die über Improvisation schreiben oder Improvisation betreiben oder das Schreiben und das Betreiben miteinander verbinden, weil es also etwas in der Improvisation gibt, das sich einer Theoretisierung versperrt. Improvisieren, das ist in erster Linie eine Tätigkeit, eine Praxis. Wenn man wissen will, was Improvisieren bedeutet, dann muss man es tun. Versuchsweise, provisorisch aber kann man es auch sagen. Unter diesem Vorbehalt also steht der erste Zugang: der Entwurf einer Improvisationstheorie. Im Zentrum steht hier das Verhältnis von Improvisation und Gesetz. Die Improvisation ist doppelt auf das Gesetz bezogen (auf das, von dem sie sich absetzt, und auf das, das sie einsetzt), und dieser Bezug ist in beiden Fällen einer des Bruchs (ein vollzogener und ein kommender). Der zweite Zugang liegt nicht auf der Ebene einer allgemeinen Improvisationstheorie, sondern konzentriert sich auf den Spezialfall der literarischen Improvisation. Im Zentrum steht hier das Verhältnis von Improvisation und Medien. Mit Verlässlichkeit nehmen literarische Improvisationstexte eine intermediale Wendung. Sie integrieren andere Medien in ihre Darstellung; sie thematisieren ihre eigene mediale Verfasstheit; und sie bilden zusammen mit anderen Medien dissonante Monumentalkunstwerke. Im Raum der literarischen Improvisation wird so die Spannung zwischen Gesetz und Gesetzesbruch, zwischen Plan und Außer17. Vgl. z.B. Björn Alterhaug: »Improvisation on a triple theme: Creativity, Jazz Improvisation and Communication«, in: Studia Musicologica Norvegica 30 (2004), S. 97-118; C. B. Davis: »Aus Gewohnheit spontan. Das Paradigma der Improvisation im Jazz und in der Komödie«, in: parapluie 17 (2003), http:// parapluie.de vom 11. Mai 2009; Edgar Landgraf: »Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis«, in: parapluie 17 (2003); Angela Oster: »Die MachArt der Popstarisierung oder: Gibt es richtige Improvisation im Falschen?«, in: parapluie 17 (2003); Derek Bailey: Improvisation. Kunst ohne Werk, Hofheim: Wolke 1987; Christopher Dell: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002; Peter Niklas Wilson: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik, Hofheim: Wolke 1999; Friederike Lampert: »Kommunikation in der Gruppenimprovisation. Verschlüsselte Verständigung beim Ballett Freiburg Pretty Ugly«, in: Antje Klinge/Martina Leeker (Hg.), Tanz – Kommunikation – Praxis (= Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 13), Münster/Hamburg/London: LIT 2003, S. 7790; Friederike Lampert: »Tanzimprovisation auf der Bühne. Entdeckung von NichtChoreographierbarem«, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tanz – Theorie – Text (= Jahrbuch Tanzforschung Bd. 12), Münster/Hamburg/London: LIT 2002, S. 445-456; Barbara Damm: »›Dann singen wir doch erstmal was.‹ Christoph Marthaler oder die Kunst des Improvisierens«, in: parapluie 17 (2003).
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Roland Borgards
planmäßigem, zwischen Absehbarem und Unvorhersehbarem, zwischen Norm, Denormierung und Renormierung noch verschärft und zugleich übertragen in den Konflikt zwischen einer performativen, am Spiel orientierten Dimension der Improvisation einerseits und einer textuellen, am Gesetz orientierten Dimension der Literatur andererseits. In der Ästhetik literarischer Improvisation wird mithin ein Problem ausgetragen, von dem Literatur grundsätzlich durchzogen ist, und das an den Bruchkanten des Gesetzes und der Medien zu leuchten beginnt.
Literatur »›La langue de l’autre‹. Ornette Coleman et Jacques Derrida«, in: Les Inrockuptibles 11 (1998), S. 37-40. Alterhaug, Björn: »Improvisation on a triple theme: Creativity, Jazz Improvisation and Communication«, in: Studia Musicologica Norvegica 30 (2004), S. 97-118 Bailey, Derek: Improvisation. Kunst ohne Werk, Hofheim: Wolke 1987. Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Ball, Hugo: »Die junge Literatur in Deutschland«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit (1984), S. 32-35. Ball, Hugo: Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Ball, Hugo: »Kandinsky. Vortrag, gehalten in der Galerie Dada«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit (1984), S. 41-53. Ball, Hugo: »Preußen und Kant«, in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit (1984), S. 180-183. Borgards, Roland: »Improvisation, Verbot, Genie. Zur Improvisationsästhetik bei Sonnenfels, Goethe, Spalding, Moritz und Novalis«, in: Markus Dauss/Ralf Haeckel (Hg.), Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in den Künsten um 1800 und 1900 (erscheint Würzburg: Köningshausen & Neumann 2009). Borgards, Roland: »Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 268-286. Damm, Barbara: »›Dann singen wir doch erstmal was.‹ Christoph Marthaler oder die Kunst des Improvisierens«, in: parapluie 17 (2003), http:// parapluie.de vom 11. Mai 2009. Davis, C. B.: »Aus Gewohnheit spontan. Das Paradigma der Improvisation im Jazz und in der Komödie«, in: parapluie 17 (2003), http://parapluie. de vom 11. Mai 2009. 62
Gesetz, Improv isation, Medien
Dell, Christopher: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002. Derrida, Jacques: »Joue – le prénom«, in: Les Inrockupibles 11 (1998), S. 41-43. Lampert, Friederike: »Kommunikation in der Gruppenimprovisation. Verschlüsselte Verständigung beim Ballett Freiburg Pretty Ugly«, in: Antje Klinge/Martina Leeker (Hg.), Tanz – Kommunikation – Praxis (= Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 13), Münster/Hamburg/London: LIT 2003, S. 77-90. Lampert, Friederike: »Tanzimprovisation auf der Bühne. Entdeckung von Nicht-Choreographierbarem«, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tanz – Theorie – Text (= Jahrbuch Tanzforschung Bd. 12), Münster/Hamburg/London: LIT 2002, S. 445-456. Landgraf, Edgar: »Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis«, in: parapluie 17 (2003), http://parapluie.de vom 11. Mai 2009. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering/Eckhard Heftrich u.a.; Bd. 2.1: Frühe Erzählungen. 1893-1912. Hg. und kritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Frankfurt a.M.: Fischer 2004. Oster, Angela: »Die MachArt der Popstarisierung oder: Gibt es richtige Improvisation im Falschen?«, in: parapluie 17 (2003), http://parapluie. de vom 11. Mai 2009. Ramshaw, Sara L.: »Deconstructin(g) Jazz Improvisation. Derrida and the Law of the Singular Event«, in: Critical Studies in Improvisation 2,1 (2006). Wilson, Peter Niklas: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik, Hofheim: Wolke 1999.
Abbildungsnachweis Alle Abbildungen aus: DADA Zürich. Dichtungen, Bilder, Texte. Zürich/ Hamburg: Arche 1988.
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Eine wirklich transzendentale Buffoner ie. Improvisation und Improvisationstheater im Kontext der frühromantischen Poetologie Edgar Landgraf
»Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend oder Genialität: im Äußeren, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.«1 Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragment Nr. 42
In seiner 1806 entstandenen, im Mai 1808 im Phöbus wieder abgedruckten Vorlesung »Ironie, Lustspiel, Aristophanes« entwirft Adam Müller die Theorie eines »Universallustspiels«, das die moralästhetischen Prämissen der Auf klärung (spezifisch Johann Georg Sulzer wird genannt) überwinden und wieder lernen soll, »dreist und mutwillig in das wirkliche Leben«
1. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler, Paderborn u.a.: Schöningh 1967; Bd. 2, S. 152.
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(Müller I 233)2 einzugreifen. Den Schlegelschen Ironiebegriff umsetzend, würde das Universallustspiel die »göttliche Freiheit des Menschen« (Müller I 234) offenbaren und zu einer Demokratisierung von Theater und Gesellschaft führen. Müller findet die Möglichkeit der Verwirklichung dieses ambitiösen Projekts in einer Neuauflage des Improvisationstheaters: »Ja, ich kann mir eine Zeit denken, sie kommt vielleicht noch, wo das wirkliche Leben im Parterre und das idealische Leben auf der Bühne so einig sind, von dem Geiste derselben Ironie so gleichmäßig beseelt, wo eines das andre so versteht, daß die Schauspieler nur die Tonangeber eines großen Dialogs sind, der zwischen dem Parterre und der Bühne geführt wird, wo z.B. improvisierende Wortführer des Publikums mit Witz und Grazie eingreifen in das Werk des Dichters und andere Improvisatoren auf der Bühne mit Kunst das Werk des Dichters wie ihre Festung verteidigen, wo endlich das wirkliche Leben im Parterre und das idealische Leben auf der Bühne, wie König und Narr in meiner obigen Darstellung, jedes unüberwunden und jedes gekrönt zurückbleibt und die Dichter im Parterre gemeinschaftlich mit dem Dichter auf der Bühne dem ganzen Hause und jedem Schauspieler und Zuschauer offenbaren die unsichtbare Gegenwart eines höheren Dichters, eines Geistes der Poesie, eines Gottes.« (Müller I 244f.)
Die Art, wie »das Wiener Publikum seine eignen komischen Charaktere, seinen Kasperl, Tadädl, Tinterl sich gebildet und erzogen hat«, liest Müller als Indiz dafür, dass »Deutschland wirklich dereinst ein solches Universallustspiel, als ich beschrieben habe, zugetraut werden könne.« (Müller I 245) Müllers Erörterungen zum Universallustspiel und dessen Gleichsetzung mit dem Improvisationstheater verdienen besondere Aufmerksamkeit angesichts der Häufigkeit, mit der Roman und romantisches Lustspiel Charaktere, Masken und Motive der Commedia dell’arte und des volkstümlichen Improvisationstheaters, das Müller an dieser Stelle zitiert, aufgreifen und Improvisation und improvisiertes Tun thematisieren und auf der Bühne inszenieren. Seine beiden Vorlesungen zum Thema – die zweite trägt den Titel »Italienisches Theater, Masken, Extemporieren« und entstand ebenfalls im Jahre 1806 – gehören zu den wenigen Beispielen, welche das Interesse der Romantik an Improvisation und Improvisationstheater mit Bezug auf frühromantische Theoreme explizieren und im Improvisationstheater die Möglichkeit einer modellhaften Verwirklichung zentraler Prämissen der frühromantischen Poetologie erkennen. Insofern lesen sich 2. Hier und im Folgenden mit Band- und Seitenzahlangabe im Text zitiert nach: Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hg. von Walter Schroeder/Werner Siebert, Neuwied: Luchterhand 1967.
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Müllers zwei Vorlesungen wie eine Explikation des berühmten LyceumsFragments Nr. 42 (1797), in dem Schlegel die romantische Ironie mit Hinweis auf die Commedia dell’arte-Tradition als »wirklich transzendentale Buffonerie« definiert.3 Müller führt aus, wie das Improvisationstheater Prämissen der frühromantischen Transzendentalpoesie bezüglich des Repräsentationsgegenstandes, der Produktionsbedingungen und der gesellschaftlichen Funktion von Kunst auf der Bühne realisiert. Ich möchte im Folgenden diesen drei von Müller erörterten Aspekten nachgehen und das romantische Interesse an Improvisationstheater und improvisiertem Tun vor dem Hintergrund der frühromantischen Theoriebildung lesen. Meine These ist, dass sich in der Romantik bereits die erst im 20. Jahrhundert (wieder) wahrgenommene Möglichkeit abzeichnet, Improvisation als eine (im Kontext der Autonomieästhetik) legitime Kunstform bzw. als einen legitimen Kunstproduktionsprozess anzuerkennen. Dabei lässt sich vor dem Hintergrund der frühromantischen Poetologie ein höchst differenziertes Bild gewinnen von der komplexen Struktur improvisierten Tuns, von der Rekodierung des Theaterraums, welche die Improvisation ermöglicht und welche die gesellschaftliche Funktion von Kunst und Theater ausweitet, sowie von den Herausforderungen an den kreativen Akt, denen sich die Kunst in der Moderne, d.h. unter der Bedingung der Autonomisierung des Kunstsystems, zu stellen hat und welche künstlerische Produktivität mit improvisiertem Tun engführt.
Repräsentationsrahmen Im Mittelpunkt von Müllers Modellierung des Universallustspiels nach dem Paradigma des Improvisationstheaters steht der Dialog zwischen Bühne und Parterre. Müller sieht in der dialogischen Form ein Gattungsmerkmal, welches das Lustspiel vom »monologischen« Trauerspiel unterscheidet: »[…] Im Lustspiel [wird] alles mit direkter Beziehung, im Trauerspiel hingegen mit indirekter Beziehung auf das Publikum gesagt […], und so ist das Lustspiel mehr dialogischer, demokratischer Natur.« (Müller I 244) Dialogizität definiert die Form des Improvisationstheaters in drei3. Bernhard Greiner weist darauf hin, dass Schlegel nicht die Rückkehr zur Commedia dell’arte propagiert, sondern von einer spezifisch romantischen Form ironischer Durchdringung ausgeht. (Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen: Francke 1992, S. 262f.) In seiner Studie zur Komödie geht Greiner aber weder in seinem Kapitel zur Commedia dell’arte noch in seinen Ausführungen zu Schlegels Ironiebegriff und Tiecks Lustspielen auf das Thema Improvisation ein.
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erlei Hinsicht. Sie bestimmt die Temporalität des Lustspiels, dessen Gegenwartsbezogenheit und dessen Augenblicksemphase; sie markiert den künstlerischen Produktionsprozess, die Beziehung zwischen Dichter und Schauspieler bzw. zwischen Dichter, Schauspieler, Publikum und Werk; und sie führt zu einer Rekodierung des Theaterraums. Alle drei Aspekte hängen zusammen. Die Hinwendung zum Publikum sowie die Anforderung, unmittelbar auf Anstöße aus dem Publikum zu reagieren, bestimmen dessen Zeitlichkeit. Indem das Improvisationstheater Bühne und Parterre kommunikativ verbindet, werden zugleich die Darstellungs-, Beobachtungs- und Produktionsverhältnisse reversibel. Das Publikum, figuriert zugleich als Produzent, die Produzenten auf der Bühne als Rezipienten. Müller weitet die Bedeutung des Dialogs zwischen Bühne und Parterre im Sinne der romantischen Forderung nach einer Poetisierung der Welt aus. Die Rekodierung des Theaterraums betrifft nicht nur die Darstellungs- und Produktionsverhältnisse des Theaters, sie soll darüber hinaus das »idealische« Leben der Theatervorstellung mit dem wirklichen Leben des Publikums verbinden. Dabei geht Müller allerdings nicht von einer Synthese der sich gegenüber stehenden Seiten, nicht von einer eigentlichen Überwindung der Gegensätze aus, wie man sie vielleicht im Karneval oder im Ritual beobachten kann, sondern von einer Wechselwirkung, welche beide Seiten bestärkt und erhebt (»jedes unüberwunden und jedes gekrönt«). Dialog und gegenseitige Erhebung sind selbst nicht Ziel der Vorführung, sondern bilden erst die Voraussetzung für das Erscheinen von Poesie. Der Dialog zwischen Bühne und Parterre wird also als Prozess verstanden, der nicht nur transformativ wirkt, sondern auch emergent: Aus dem Dialog soll etwas Neues, Eigenes, von seinen konstitutiven Teilen (Bühne und Parterre) Unabhängiges entstehen. Erst in der Bildung eines in diesem Sinne autonomen Werkes offenbart sich »die unsichtbare Gegenwart eines höheren Dichters, eines Geistes der Poesie, eines Gottes.« Mit dem sich im Wechselspiel zwischen Bühne und Parterre offenbarenden Geist der Kunst bezeichnet Müller folglich nicht die Darstellung von etwas (auch nicht im Sinne der symbolischen Darstellung eines Übersinnlichen im Sinnlichen), sondern das Erscheinen künstlerischer Produktivität selbst. Das Universallustspiel antizipiert diesbezüglich die Verschiebung des Repräsentationsgegenstandes in der modernen Performancekunst, wonach, wie Erika Fischer-Lichte das beschreibt, das Theater »nicht länger als Repräsentation einer fiktiven Welt begriffen [wird], die der Zuschauer beobachten, deuten und verstehen soll, sondern als Herstellung eines besonderen Verhältnisses zwischen Akteuren und Zuschauern.« 4 4. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 26. Gabriele Brandstetter weist mit Blick auf Marcel Duchamps In-
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Müller weitet das besondere Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern auf den Produktionsprozess aus. Aus dem Dialog soll sichtbar etwas Neues entstehen, etwas, das über das von den Beteiligten Intendierte und Intendierbare hinausgehen und in diesem Sinne im-provisio, unvorhersehbar sein muss. Ich werde auf den Produktionsgedanken im Kontext der frühromantischen Poetik unten zurückkommen. Zuerst möchte ich auf die neue Perspektivierung des Theaterraums, auf die Müllers »Geist der Poesie« hinweist, eingehen. Diese beinhaltet, dass mit der Darstellung künstlerischer Produktivität im Theater eine Beobachterposition errichtet wird, von der aus die Wechselbeziehungen zwischen Produziertem und Produzierendem, Produzent und Rezipient und allgemeiner zwischen Bedingtem und Bedingendem zur Darstellung kommen. Müller spricht dem Improvisationstheater also die Fähigkeit zu, einen »transzendentalen Standpunkt« im Sinne Schlegels5 einzurichten, eine Beobachterposition, welche die Zuschauer zugleich als Teilnehmer und als distanzierte Beobachter des Theatergeschehens verortet. Den Ausgangspunkt für die Rekodierung des Theaterraums bildet der Dialog zwischen Bühne und Publikum. Dieser hat in der Geschichte des Improvisationstheaters eine lange Tradition. Müller weist daraufhin, dass die Figur des Harlekins auf der Bühne des italienischen Improvisationstheaters schon immer als Repräsentant des Publikums angesehen wurde. Er sieht diese Tradition in den Lustspielen Ludwig Tiecks weiter entwickelt. Tieck bringt nicht nur einzelne, das Publikum repräsentierende Figuren auf die Bühne, sondern errichtet auf der großen Bühne noch eine zweite, kleinere Bühne mit einem eigenen, kleineren Publikum. Müller sieht darin eine »kluge Veranstaltung des Dichters«, mit der das Publikum unmerklich in die Ironie »hineingezogen wird«.6 Die Verdopplung Frage-Stellung des traditionellen Kunstbegriffs darauf hin, dass die Frage nach der Performanz eine Frage nach dem Gegenstand der Darstellung beinhaltet. In der Performancekunst ist »die Kategorie der Darstellung selbst zum Gegenstand geworden: Kunst als Darstellung des Aktes, als Akt des Aktes und als Inszenierung von Inszenierung.« (Gabriele Brandstetter: »›Fälschung wie sie ist, unverfälscht.‹ Über Models, Mimikry und Fake«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.), Mimesis und Simulation, Freiburg i.Br.: Rombach 1998, S. 419-449, hier S. 424.) 5. Ernst Behler sieht die Bedeutung Schlegels darin, den transzendentalen Standpunkt aus der Philosophie auf die Dichtung und auf die Frage nach dem künstlerischen Schaffensprozess übertragen zu haben. (Vgl. Ernst Behler: Klassische Ironie, Romantische Ironie, Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 86.) 6. Die »gangbaren falschen und beschränkten Kunsturteile des größeren
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von Bühne und Parterre auf der Bühne können wir mit Bezug auf eine von George Spencer-Brown entwickelte Begrifflichkeit als Reentry der Form des Theaters beschreiben.7 Die für das Theater maßgebliche Unterscheidung ist die zwischen Bühne und Parterre. Über den Reentry dieser Unterscheidung auf der Bühne wird die Form, d.h. die Einheit dieser Unterscheidung beobachtbar. Etwas traditioneller ausgedrückt bedeutet das, dass sich das Theater seiner eigenen Form, der es konstituierenden Unterscheidung zwischen Bühne und Parterre bewusst wird. Die Reflexion dieser Reentry-Figur provoziert die uns aus der romantischen Poetologie (und aus der romantischen Reflexion der Transzendentalphilosophie, besonders der Thesen Fichtes) wohl bekannten Beobachtungsparadoxien, wie etwa die eines Schauspielers, der innerhalb seiner Rolle seine Doppelexistenz als Schauspieler und Rolle wahrnimmt bzw. diskutiert, eines Publikums, das zugleich sich und nicht sich auf der Bühne wiederfindet, oder, philosophisch gewendet, eines Ich, das zugleich Ich und Nicht-Ich, Gesetztes und (Sich-)Setzendes ist etc. Der Reentry der Form des Theaters geht über die einfache Repräsentanz des Publikums auf der Bühne hinaus. Das romantische Lustspiel verleiht damit dem Publikum nicht nur eine Stimme, sondern macht die den Theaterraum bestimmende Unterscheidung zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Schauspieler und Publikum bzw. zwischen »idealischem« und »wirklichem« Leben auf der Bühne sichtbar. Besonders die frühen Lustspiele Tiecks und Clemens Brentanos entfalten sich über diese Perspektivierung des Theaterraums.8 Sie führt zu einer Verschiebung der Beobachterposition bzw. des RepräsentationsgegenstanPublikums legt [Tieck, E.L.] dem kleineren in den Mund, so daß das größere Publikum seine eigene Einseitigkeit und Geschmacklosigkeit in der Flamme der Lust und des Komischen verzehren sieht und so durch die kluge Veranstaltung des Dichters in seine Ironie unmerklich hineingezogen wird.« (Müller I 244) 7. Siehe George Spencer-Brown: Laws of Form, New York: Dutton 1979. Mit Form bezeichnet Spencer-Brown die (paradoxe) Einheit einer Unterscheidung. Jedes Beobachten (= Konstruieren) einer Welt bedingt das Treffen von Unterscheidungen. Ein Reentry findet statt, wenn eine Unterscheidung noch einmal auf einer ihrer beiden Seiten wiederholt wird. Wir bedienen uns dieser Begrifflichkeit, weil sie ermöglicht, die unterschiedlichen Paradoxa der Selbstreflexion, welche die Frühromantik beobachtet, zu formalisieren. 8. »Die romantische Ironie ist somit vor allem eine bewußte und selbstbewußte Haltung, eine ästhetische Durchdringung des Stoffs und eine Form der Perspektivierung aller Positionen in einem Stück, das dabei zu einem Spiel der Bedingungen seiner Möglichkeiten wird.« (Ruth Petzoldt: Albernheit mit Hintersinn. Intertextuelle Spiele in Ludwig Tiecks Romantischen Komödien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 93.)
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des des Theaters, nämlich von der Objektebene auf die Beobachtungs- und Konstruktionsebene des Repräsentierten. Der Wechsel des Repräsentationsrahmens, man könnte auch vom Übergang und Oszillieren zwischen Beobachtungen erster und Beobachtungen zweiter Ordnung sprechen, stellt ein zentrales Motiv der Romantik dar. Nach Niklas Luhmann setzt sich die Romantik dabei mit dem Unterschied auseinander, den es macht, wenn in der realen Welt noch einmal zwischen realer und fi ktiver Welt unterschieden und diese Unterscheidung thematisiert wird.9 Das ironisch-reflexive Potential solcher Ebenenverschränkungen liegt auf der Hand. Sie bilden ein oft besprochenes Strukturelement des romantischen Lustspiels, für das emblematisch Tiecks Der gestiefelte Kater steht. Tieck selbst rezipiert die Dopplung der Bühne bereits, wenn er sie in seinem Lustspiel Die verkehrte Welt – das bezüglich seiner Charaktere und dem Spiel mit der Maske umfänglich die Commedia dell’arteTradition zitiert – noch einmal potenziert und eine dritte Bühne ins Stück einführt. Was Scävola, der bereits ganz am Anfang des Stückes die Bühne verlässt und sich (ohne seine Rolle als Narr dabei aufzugeben) unter die Zuschauer mischt, etwa mit den Worten kommentiert: »Es ist gar zu toll. Seht, Leute, wir sitzen hier als Zuschauer und sehn ein Stück; in jenem Stück sitzen wieder Zuschauer und sehn ein Stück, und in jenem dritten Stück wird jenen Akteurs wieder ein Stück vorgespielt.«10 Clemens Brentano reflektiert den besagten Reentry in Überlegungen, die er seinem 9. »Das ambivalente Verhältnis des Kunstwerks zur ›Realität‹ ist nichts anderes als der Effekt ihrer Form: sie spaltet die Realität in reale und fiktionale Realität.« (Niklas Luhmann: »Weltkunst«, in: Niklas Luhmann/F.D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld: C. Haux 1990, S. 7-45, hier S. 12) Zur Formparadoxie des modernen Romans siehe auch David Roberts: »Die Paradoxie der Form in der Literatur«, in: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 22-44. Roberts weist darauf hin, dass solche Formen der Selbstreflexion in der Romantik, welche er als Demonstration der Autonomie des Romans in seinem Verhältnis zur Welt liest, erst über die Fiktionalisierung der Literatur im 17. und 18. Jahrhundert erlangt werden konnten. Mit Blick auf Bachtins Arbeiten zum Roman versteht Roberts dabei die »Helden der freien Improvisation« als Vorläuferfiguren des Romans. Die komische Maske biete »für die exotopische Erzählhaltung des Romanautors ein evolutionär wichtiges Modell an.« (David Roberts: »Zur Genealogie der Literatur. Überlegungen zur Selbstbeobachtung in stratifizierten Gesellschaften«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München: Fink 1996, S. 292-309, hier S. 306f.) 10. Ludwig Tieck: Schriften, Berlin: de Gruyter 1966 (Nachdruck); Bd. V, S. 372.
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Lustspiel Ponce de Leon voranstellte. Das Auftreten des Komischen heute bedinge, dass man »sich den Zuschauer und das Schauspiel zusammen nimmt, um über Beyde zu lachen«.11 Wie Müller setzt sich auch Brentano explizit von der Harlekin-Tradition ab bzw. stellt den Harlekin als eine Figur dar, die nicht mehr zeitgemäß sei. Anlass für sein Lustspiel sei nämlich die Beobachtung eines erfahrenen Harlekins gewesen, der unerwartet auf der Bühne erstarrte, weil er »zum ersten Mal atheistische Zweifel an dem Daseyn eines Publikums«12 bekommen habe. Brentano schließt daraus, dass der Zuschauer seiner Zeit das Komische nicht mehr sehen könne und auch von der Kunst nicht mehr fordern würde, weil es nur mehr im Zuschauer selbst zu finden sei. Also müsse man eigentlich den Zuschauer auf die Lustspielbühne bringen; da dieser das aber nicht wolle, da er ja bezahlt habe, um unterhalten zu werden, müsse man sich eben »beyde zusammen« vorstellen. Brentano ironisiert hier nicht nur das Pathos eines bürgerlichen Publikums, das seinen Ernst aus dem Ernst des Dargestellten und den Ernst der Darstellung aus seiner eigenen Ernsthaftigkeit ableitet; die »atheistischen Zweifel« am Dasein des Publikums und das damit assoziierte Schweigen artikuliert eine grundlegendere Kritik der Konzeptualisierung des Theaterraums nach dem Guckkastenprinzip, wonach sich die »Göttlichkeit« des Publikums aus der Strukturierung des Theatersaals ergibt und das Publikum auf der Bühne alles beobachten, die Bühne das Publikum aber scheinbar nicht sehen kann. Die Beobachtungsstruktur des Guckkastentheaters ist nicht mit der romantischen Forderung nach Reflexion kompatible, die »Beyde« in den Blick bekommen will. Häufiger noch als mit Bezug auf die Dopplung des Theatergrabens thematisiert und inszeniert das romantische Lustspiel die Reentry-Figur in der ironischen Auseinandersetzung mit der Maske und der Parekbase im Sinne Schlegels, dem Sprechen der Rolle über die eigene Rolle. Nach Peter Szondi zielt die Parabase bei Tieck auf das Sichtbarmachen der »dramaturgischen Bedingtheit der eigenen Existenz« und realisiert damit das »ironische Weltverhältnis« der Frühromantik, die »Verbindung des In-der-Welt-Seins mit dem Über-der-Welt-Stehen«.13 Was Tiecks und Brentanos Lustspiele parallel und z.T. noch vor den Schlegelschen Ausführungen zur Ironie auf der Bühne inszenieren bzw. zu inszenieren hoff ten, ermöglicht eine Neubewertung des Improvisa11. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1982; Bd. 12/1, S. 355. 12. Ebd., S. 354. 13. Peter Szondi: »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Komödien«, in: ders.: Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 5-24, hier S. 21f.
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tionstheaters, die in mehrfacher Hinsicht auf Entwicklungen vorausweist, welche erst im 20. Jahrhundert auf der Bühne verwirklicht und ästhetisch weiter entwickelt werden. So wird über den Reentry der Form des Theaters nicht nur die Theaterillusion aufgehoben (zerstört und hervorgehoben), sondern zugleich die Wirklichkeit der Darstellung gegenüber der Wirklichkeit des Dargestellten emanzipiert. Bernhard Greiner beschreibt diesen Effekt mit Bezug auf Tiecks Lustspiele als Umkehrung des Blicks aufs Theater: »Theater steht nicht als Ort des Bedeutens zur Debatte, sondern […] in seiner eigenen Wirklichkeit.«14 Diese Aufwertung des Performativen wird weiter verstärkt über die Hervorhebung des Produktionsprozesses in und als Teil der Theatervorstellung. Tiecks Verkehrte Welt liefert dafür das Paradebeispiel. Es ist ein Lustspiel über die Entstehung eines Lustspiels. Es thematisiert im Prozess seiner Gestaltung den Prozess seiner Gestaltung.15 Man könnte diesbezüglich von einer Form inszenierter Performance sprechen. Das gilt nicht nur für das Stück insgesamt, sondern auch für die einzelnen Rollen, Schauspieleridentitäten, Handlungsstränge etc., von denen gezeigt wird, wie sie erst situativ entstehen bzw. erst in der dialogischen Entfaltung ihre Identität gewinnen. Anders ausgedrückt: Die Reflexionsfigur des Reentry wird als generatives Prinzip dargestellt.16 Es wird vorgeführt, wie in der Perspektivierung, im Aus-der-Rolle-Fallen, im Überschreiten der eigenen Identität eine neue, höhere Identitätssetzung angestrebt bzw. ein Identitätssetzungsprozess in Gang gesetzt wird, der generativ wirkt. Das einmal Gesetzte, die einmal getroffenen Unterscheidungen können immer wieder Anlass für neue Setzungen, für neue Entwicklungen, für neue Entscheidungen und Perspektivierungen geben, 14. B. Greiner: Die Komödie, S. 267. 15. Lisa Galaski bemerkt zu Tiecks Verkehrter Welt: »Dieses Stück stellt sich romantisch in seinem Werden dar.« (Lisa Galaski: »Romantische Ironie in Tiecks Verkehrter Welt: Zum Verständnis einer artistischen Theaterkomödie aus der Berliner Frühromantik«, in: Recherches Germaniques 14 (1984), S. 23-57, hier S. 26.) 16. Werner Hamacher erkennt in der Parabase das für Schlegels poetologische Umsetzung der Transzendentalphilosophie Fichtes zentrale generative Prinzip: »Die Parabase des Romans wäre mithin als diejenige Form zu bezeichnen, in der, vermittels der Reflexion, aber über die Reflexion hinaus, die unabschließbare Darstellung des Absoluten als Generierung des unbedingten Grundsatzes in Gang ist (cf. LN 137, 383, 395, 461). Parabase ist die Form der Generierung der Gattung. Sie ist der performative Akt, mit dem sich das Projekt eines unbedingten, unendlichen Satzes des Setzens entwirft.« (Werner Hamacher: »Der Satz der Gattung: Friedrich Schlegels poetologische Umsetzung von Fichtes unbedingtem Grundsatz«, in: MLN 95 (1980), S. 1155-1180, hier S. 1174.)
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die das zuvor Gesetzte als kontingent – als auch anders möglich, als auch anderes bedeutend etc. – ausweisen. Müller sieht dieses selbstreferentielle, generative Spiel mit der eigenen Form im Improvisationstheater verwirklicht.
Inszenier te Improv isation In seinen beiden Vorlesungen zum Thema unterscheidet Adam Müller nicht deutlich zwischen den Tieckschen Lustspielen, welche Improvisation und den Dialog zwischen Bühne und Parterre (wenn sie denn aufgeführt wurden, zumeist wurden sie nur gelesen) inszenieren, und dem Volkstheater bzw. der Commedia dell’arte-Tradition, welche wie das Universallustspiel Improvisation im Dialog mit den Zuschauern tatsächlich praktiziert. Vor dem Hintergrund der angesprochenen poetologischen Überlegungen überrascht dieser blinde Fleck in der Argumentation Müllers nicht. Denn das romantische Lustspiel will ja über die Perspektivierung des Theaterraums auch die Unterscheidung zwischen inszenierter (»idealischer«) und praktizierter (»wirklicher«) Improvisation produktiv machen und sowohl das Inszeniert-Sein »wirklicher« Spontaneität als auch die Wirklichkeit inszenierter Spontaneität hervorkehren. Der Versuch zwischen beiden strikt zu unterscheiden würde der Aufgabe der Kunst widersprechen, im und mit dem Theater einen transzendentalen Standpunkt zu errichten, der die Schauspieler und Zuschauer mit »dem Geiste derselben Ironie« beseelte. Die romantische Perspektivierung der Darstellung fördert ein grundlegenderes Problem der Beobachtung von improvisiertem Tun zu Tage, nämlich die Frage nach der Authentizität von Improvisation. Zumindest für die Zuschauer, die ein auf künstliche Verwirrung zielendes Schauspiel nicht schon im Voraus gelesen oder schon einmal aufgeführt sahen, ist es während der Auff ührung tatsächlich unmöglich, mit Sicherheit zwischen geplanten Handlungen und solchem Tun zu unterscheiden, das vielleicht doch Resultat einer unmittelbaren Eingabe oder einer »Verwirrung« der Schauspieler oder des Publikums ist. Wenn das romantische Lustspiel diese Frage unentscheidbar halten kann,17 dann weist es darauf hin, wie sich 17. Die Authentizität improvisierten Tuns mag auf jeden Fall als Inszenierungsproblem angesehen werden. Zum Problem der Inszenierung von Authentizität siehe die von Fischer-Lichte herausgegebene Anthologie mit diesem Titel und darin insbesondere die Beiträge von Eleonore Kalisch und Hans-Friedrich Bormann et.al. Kalisch kann mit Blick auf Karl Philipp Moritz, der die »Actor-Spectator-Beziehung« in seiner Erkundung der Aporien pietistischer Selbstinspektion auf die Selbstbeobachtung überträgt, zeigen, wie Darstellung immer schon als
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Authentizität und insbesondere eine für die Vermittlung des Eindrucks authentischer Improvisation zentrale Kategorie, nämlich die der Spontaneität inszenieren lässt. Denn genau darauf zielt das selbstreflexive Brechen mit der Theaterillusion. Es vermag Spontaneität, Unmittelbarkeit und Ungeplantheit in Szene zu setzen. Das In- und Gegeneinanderführen von Bühne und Parterre sowie die Parabase leben ja davon, dass die Schauspieler den Eindruck vermitteln, sie folgten jetzt nicht mehr dem Text, sondern sprächen Impromptu. Die Selbstthematisierung vermittelt den Eindruck, das Lustspiel entstehe aus den spontanen Reaktionen und Idiosynkrasien der eigenwilligen Akteure. Tieck verstärkt den dabei vermittelten Eindruck des Ereignishaften der Vorführung, wenn er Poeten, Dichter und Regisseure in seinen Lustspielen als höchst hilflos wirkende, träumerische Figuren vorführt, die sich nicht einmal gegen die Interessen und Wünsche der Maschinisten durchsetzen können. Solche sich aus der selbstreferentiellen Struktur der Stücke, Rollen und Handlungen ergebenden Wirkungen weisen darauf hin, dass Selbstreferentialität nicht nur als »eines der Merkmale des Performativen«18 zu verstehen ist, sondern als höchst effektives Mittel seiner Konstruktion.19 konstitutives Moment von Authentizitätsbekundungen verstanden werden muss. (Vgl. Eleonore Kalisch: »Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung«, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 31-44.) Bormann et al. argumentieren, dass der Gegensatz zwischen Authentizität und Inszenierung eine begriffliche Konstruktion darstellt, Inszenierung aber als »unhintergehbare Voraussetzung der Wahrnehmung, Authentizität [als] ihr Effekt« verstanden werden muss (Hans-Friedrich Bormann/Gabriele Brandstetter/Michael Malkiewicz/ Nicolai Reher: »Freeing the Voice. Performance and Theatralisation«, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen/ Basel: Francke 2000, S. 47-58. hier S. 56). 18. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 338. Fischer-Lichte weist an zitierter Stelle darauf hin, wie die von ihr beschriebenen »selbstreferentiellen Phänomene und Prozesse offensichtlich in besonderer Weise imstande [sind], im Zuschauer starke physiologische und affektive Wirkungen auszulösen und ihm die Erfahrung von Intensität zu ermöglichen.« (Ebd.) 19. Ruth Petzoldt hält diesen Effekt spezifisch mit Bezug auf Tiecks Verkehrte Welt fest: »Diese Selbstthematisierung der Sprache, des Sprechens und des Sprechers rückt die performative Dimension des In-Szene-Setzens ins Bewusstsein des Publikums, des mitspielenden Rezipienten, der seine Rolle verdoppelt vor sich auf der Bühne sieht. Damit betont die romantische Komödie sich selbst als umfassendes Kommunikationsmodell zwischen Produzenten und Rezipien-
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Mit Blick auf ihren Umgang mit Oppositionen weist die romantische Transzendentalpoesie auf ein weiteres Problem hin, welches die Beantwortung der Frage nach der Authentizität von Improvisationen kompliziert. Vor dem Hintergrund des Schlegelschen Ironiebegriffs und Müllers (daraus abgeleiteter) Lehre vom Gegensatze darf das Improvisationstheater nicht auf der Negativseite des Strebens der Klassik nach Harmonie, Geschlossenheit und Vollendung verortet werden, wie das Walter Hincks Studie zum romantischen Lustspiel und seiner Beziehung zur Commedia dell’arte-Tradition etwa noch tut.20 Müller liest Improvisation nicht als Regelbruch, Planlosigkeit, Offenheit, Chaos, oder sonst als eine Form ungeregelter Kreativität, sondern als spielerischen Kampf. Die Schauspieler haben die Aufgabe das Werk des Dichters gegen die willkürlichen Eingriffe des Publikums wie eine Festung zu verteidigen (siehe Zitat oben). Diese aleatorisch-agonale Struktur weist auf Konzipierungen improvisierten Tuns voraus, wie sie in den Texten Heinrich von Kleists immer wieder reflektiert und narrativ zugespitzt werden. Bei Kleist steht der Kampf geradezu emblematisch dafür, wie man im Leben, in Gesprächen, in Notsituationen etc. »nach bloßen augenblicklichen Eingebungen« zu verfahren habe.21 Der Kampf geht von einer Auseinandersetzung von Oppositionen ten, die sich selbst potenziert als Mitspieler auf der Bühne wiedertreffen. Dies markiert die deutliche Distanz zum Projekt des klassischen Dramas um 1800.« (Ruth Petzoldt: »Das Spiel spielt sich selbst. Ludwig Tiecks Verkehrte Welt«, in: Stephan Jaeger/Stefan Willer (Hg.), Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 171189, hier S. 182.) 20. So etwa Walter Hinck, wenn er schreibt, die Improvisation verabsolutiere »den augenblicksentsprungenen künstlerischen Einfall ohne Rücksicht auf übergeordnete, organische Zusammenhänge« und seine Eigenbewegung sei einer »dem Streben nach Harmonie, Geschlossenheit und Vollendung entgegengesetzten Schaffenstendenz wesensgemäß und insofern ein Ausdrucksmittel der Romantik, das ihre polare Stellung zur Klassik sehr klar betont.« (Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie (Commedia dell’arte und Théâtre italien), Stuttgart: Metzler 1965, S. 392.) 21. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner, München: Hanser 1965; Bd. II, S. 338. Das Zitat stammt aus dem kleinen Text »Von der Überlegung. Eine Paradoxe«. Der Text versteht emblematisch das Leben als »Kampf mit dem Schicksal« und sieht das ungeplante, unvorhergesehene Ringen mit dem Augenblick – eine Figur, auf welche sich die narrativen Texte Kleists immer wieder zuspitzen – als Voraussetzung dafür, dass man sich in einem Gespräch, einer Schlacht oder im Leben durchsetzen kann. In diesem Sinne setzt Kleist eine improvisierte Rede sogar an den Anfang der französischen Revoluti-
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aus, davon, dass auf der Seite der Ordnung (Dichter, Bühne) noch einmal zwischen Ordnung und Chaos unterschieden wird. Das Universallustspiel ist entsprechend als paradoxes Zugleich von Ordnung und Unordnung, Planung und Überraschung, Regel und Regelverstoß, Wille und Intuition, Intention und Zufall etc. konzipiert. Strukturell gilt das für jede Improvisation. Wer improvisiert oder wer ein Tun als Improvisation beobachten und schätzen will, muss ein zumindest intuitives Verständnis davon haben, was als Regel, Planung, Ordnung oder Wiederholung erkannt und deshalb von der Improvisation ausgeschlossen bleiben bzw. variiert, perspektiviert oder als zitiert hervorgehoben werden muss. Insofern orientiert sich die Improvisation notwendig an der Regel bzw. schließt diese immer schon als Ausgeschlossenes in sich ein.22 Das simultane Involviert-Sein solcher Gegensatzseiten macht es nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Künstler, Improvisatoren, Darsteller und Theoretiker schwer, die Grenzen der Improvisation – wo diese beginnt, wo sie auf hört – eindeutig zu bestimmen. Jede »authentische« Improvisation ist immer schon von dem gezeichnet, was sie als »nicht-authentisch« auszuschließen hat.
Produktionsparadigma Auch in seiner Konzipierung des Produktionsprozesses aus der Konfrontation von Gegensätzen folgt Müller den Vorgaben Schlegels.23 Müller sieht in Schlegels Ironiebegriff »das ganze Geheimnis des künstlerischen Lebens in seiner wahren ursprünglichen Gestalt« (Müller I 234) ausgedrückt und die »Offenbarung der Freiheit des Künstlers oder des Menschen.« (Müller I 234) Er spezifiziert im Folgenden die Freiheit der Ironie im Sinne einer on, als das, was Mirabeau zur allmählichen Verfertigung seiner (die Ordnung der Dinge umstoßenden) Gedanken verhilft. (Siehe dazu ausführlicher Edgar Landgraf: »Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis«, in: parapluie 17 (2003), http://parapluie.de/archiv/improvisation/kunstproduktion vom 11. Mai 2009. 22. Auch dieses Eingeschlossen-Sein des Ausgeschlossenen stellt eine Reentry-Figur dar. Derart formalisiert könnte man noch einmal zwei Formen der Improvisation von einander unterscheiden, nämlich solche, die wie das Universallustspiel auf der Seite der Ordnung, Planung und Regel die Unterscheidung von Ordnung/Chaos wieder einführen, Ordnung also mit Unordnung, Kontingenz etc. anreichern; und solchen Improvisationen, die in umgekehrter Richtung chaotische Zustände mit Ordnung, Regeln, Strukturen versehen. 23. Nach Behlers Einschätzung findet bei Müller die romantische Ironie »ihre allgemeinverständliche Darstellung« (E. Behler: Klassische Ironie, S. 103).
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distanzierten Beobachterhaltung, also analog zum Repräsentationsraum des Theaters mit Bezug auf das Verhältnis von Vorstellung einerseits und Beobachtung andrerseits. Vom ironischen Bewusstsein wird gefordert, dass es sich »im Genuss des Schönen über das Schöne erheben« (Müller I 235) kann. Der Hermeneutik der Identifi kation stellt Müller eine der kritischen Reflexion gegenüber: »Du sollst nicht versinken!« (Müller I 235) Müller definiert Ironie daraufhin als das Vermögen: »gegen alles Bestimmteste, was du glaubst, gegen jede Erfahrung, gegen jeden Grundsatz zu protestieren, aber nicht in der gemeinen Absicht, nicht um die elende Satisfaktion deines Verstandes oder deiner Kraft, daß du so ernste, heilige Dinge zerstören kannst, wie es manchem Revolutionär dieser Zeit widerfahren, sondern in der Absicht, um höheren Glauben, höhere Erfahrungen, einen höheren Grundsatz, kurz das Bessere an ihre Stelle zu setzen.« (Müller I 242)
Die Distanzierung vom Dargestellten ist nicht genug. Es muss zugleich ein Identifi kationsprozess eingeleitet werden, der das Bestimmte, von dem man sich distanzierte, mit etwas Neuem, mit einem Besseren ersetzt. Das beinhaltet, dass das Bessere, das an die Stelle des Bestimmtesten gerückt ist, selbst wieder durch ein Noch-Besseres ersetzt und dieser Prozess ad infinitum fortgesetzt wird. Der implizierte Regress stellt eine Variation des Darstellungsproblems dar, das Müller in seiner Lehre vom Gegensatze24 zur Grundlage seiner Theorie macht. Demnach ist jede Beobachtung nur dann systematisch, wenn sie zugleich den Standpunkt des Beobachtenden mit in die Beobachtung einbezieht, was aber wieder einen neuen zu berücksichtigenden Standpunkt impliziert, der nun wiederum bei seiner Beobachtung
24. Jochen Marquardt sieht in Müllers Lehre vom Gegensatze eine »universelle Methode entwickelt, die er [Adam Müller, E.L.] – mit vielfältigen Modifikationen – auf die verschiedensten Gebiete des Lebens und des Wissens anwandte, mit denen er sich im Laufe seines Lebens beschäftigte.« (Jochen Marquardt: ›Vermittelnde Geschichte.‹ Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Heinrich Müller, Stuttgart: Heinz Akademischer Verlag 1993, S. 39). Marquardt sieht hinter der für Müller so wichtigen Denkfigur ein besonderes Verständnis der Form der Synthese: »Müller war davon ausgegangen, dass sich die Synthese nicht durch Vernichtung der Gegensatzpole vollziehen könne; sondern das lebendige Wechselspiel der Antipoden selbst sei Synthese.« (Ebd., S. 46) Wir vermeiden den Begriff der Synthese, weil er es, auch wenn als Wechselspiel gefasst, schwer macht, das Moment der Emergenz, das Erscheinen eines von seinen Teilen unabhängigen Neuen, das im Zentrum der Überlegungen Müllers steht, in den Blick zu bekommen.
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einen weiteren Standpunkt schaff t usw.25 Regina Ogorek hat gezeigt, wie Müller im infiniten Regress reflexiven Denkens den Gegensatz als universales Erklärungsprinzip etabliert. Für Müller gibt es »keine Erscheinung, kein Handeln, kein Motiv, keinen Wert schlechthin, alles wird erst durch das Mitdenken seines Gegensatzes erfassbar.«26 Der Blick auf das Improvisationstheater ermöglicht es Müller, den infiniten Regress nicht nur als Beobachterposition, sondern als Produktionsprinzip (des Universallustspiels) vorzustellen. Im kämpferischen Dialog, im aleatorisch-agonalen Spiel zwischen Bühne und Publikum realisiert das Improvisationstheater den frühromantischen Reflexionsbegriff als Produktionsprinzip. Für die Verschränkung der Repräsentations- mit der Produktionsebene von Kunst ist die temporale Struktur der Improvisation bedeutend. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Spontaneität. Nach Müller ist die Gegenwartsbezogenheit ein zentrales Strukturelement des Lustspiels, das dieses von der Tragödie unterscheidet und die Aufhebung des Theatergrabens erst ermöglicht. Müller argumentiert, dass Bühne und Publikum in der Tragödie streng voneinander geschieden seien, weil Vergangenheit und Geschichte die Gegenstände ihrer Darstellung sind. Die temporale Struktur des Trauerspiels ist also re-präsentierend im Sinne einer narrativ bedingten Nachträglichkeit. Der Hauptgegenstand des Lustspiels dagegen ist präsentierend, ist »die Zukunft, dessen Wesen daher freies Spiel mit der Gegenwart, freies Gestalten und Umgestalten der Dinge ist.« (Müller I 243f.) In seiner zweiten, der Improvisation gewidmeten Vorlesung mit dem Titel »Italienisches Theater, Masken, Extemporieren« koppelt Müller diese 25. »Die Beschreibung aber ist nur insofern eine richtige, als auf diese Weise das Beschreibende und das Beschriebene in vollständiger, beständiger Wechselwirkung einander entgegenstehen, als die ganze Beschreibung aus Ansicht und Rücksicht gewoben erscheint. Das Beschreibende selbst wird freilich in der Beschreibung nie dargestellt und erreicht, weil es, indem es beschrieben wird, zum Beschriebenen wird, dem ein höheres Beschreibendes wieder entgegensteht, das in der fortgesetzten Beschreibung wieder zum höheren Beschriebenen für das immer weiter steigende, immer unerreichbare Beschreibende wird, und so ins Unendliche fort.« (Müller II 202) 26. Regina Ogorek: »Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas«, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 96125, hier S. 107. Nach Ogorek gibt Kleist dem Müllerschen Gegensatzdenken eine pessimistische Wende. Die zitierte Stelle zeigt deutlich, wie Müller die in der ironischen Perspektivierung erkannte Kontingenz der Welt (dass eben alles auch anders bzw. besser sein kann), indem er sie in einen fortschreitenden Prozess einbindet, teleologisch einzuholen sucht. Bei Kleist führen solche Regresse entweder zu Augenblicken der Unentscheidbarkeit oder in die Katastrophe.
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temporale Struktur des Lustspiels und die Möglichkeit der Überwindung des Theatergrabens unmittelbar an die Notwendigkeit des Improvisierens auf der Bühne: »[E]s ist zweckmäßig, daß der Dichter, der bei der Auff ührung nicht gegenwärtig oder wenigstens nicht allgegenwärtig sein kann, dem Schauspieler Raume lasse, sein Werk dem Augenblick und der Stimmung des Augenblicks noch mehr anzupassen.« (Müller I 280) Die Gegenwartsbezogenheit des Lustspiels bedingt einen tief greifenden Einschnitt in das Verhältnis zwischen Dichter und Werk, der nicht nur den Werkbegriff in Frage stellt, sondern zugleich die Auflösung des auktorial-kausalen Verhältnisses zwischen Künstler und Kunstwerk bzw. zwischen Autor und Schauspieler bedingt (ohne dabei jedoch den Autor mit dem Schauspieler gleich zu setzen). Was in den romantischen Lustspielen Tiecks und Brentanos immer wieder thematisiert bzw. inszeniert wird – Autoren, Poeten, Dichter, deren Autorität von den Schauspielern und Zuschauern in Frage gestellt und deren Werk sich viel mehr aus den unmittelbaren Zwängen des Gewerbes ergeben als aus der Planung und Inspiration des Dichters –, das erfüllt das Improvisationstheater gewissermaßen vorab. Das in der improvisierten Auseinandersetzung mit dem Publikum entstehende Lustspiel kann nicht mehr allein Ausdruck des Autors, seiner Intentionen und auch nicht allein Ausdruck der Geschicklichkeit bzw. des Genies der Darsteller sein. Es geht vielmehr erst aus der dialogischen Auseinandersetzung mit dem Publikum hervor. Diese sich an der frühromantischen Poetik orientierende Darstellung des Kunstproduktionsprozesses widerspricht der im 18. Jahrhundert geläufigeren (und manchmal auch kritisierten) Identifi kation der Improvisatoren und deren Talente mit dem Geniegedanken, die an einer Subjektzentrierung festhalten und das Göttliche der Kunst in der besonderen Beschaffenheit des Künstlers bzw. des künstlerischen Bewusstseins lokalisieren. So sind Bewunderung und Kritik der Improvisatoren, wie wir sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa bei Lessing, Karl Philipp Moritz und Goethe finden, durchweg noch mit Bezug auf genieästhetische Prämissen formuliert. Das bringt Carl Ludwig Fernows Über die Improvisatoren (1801), die erste umfassende Studie der italienischen Improvisationstradition in deutscher Sprache, auf den Punkt. Fernow liest die Geschichte der Improvisation in Italien mit Bezug auf genieästhetische Prämissen und subsumiert Improvisation unter die Enthusiasmuslehren.27 27. Ein weiteres Beispiel dieser zeitgenössischen Sichtweise liefert Christoph Kochs Musikalisches Lexikon von 1802, der sogar von einem Kausalverhältnis zwischen Improvisation und Genie ausgeht, wonach sich das Improvisieren als Methode zur Inspiration des (Musiker-)Genies eigne: »Improvisiren […] kann sehr oft für den Tonsetzer ein Mittel werden, die Thätigkeit seines Genies zu
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Entsprechend schenkt er dem Phänomen Improvisation in seiner Eigenart und insbesondere im Hinblick auf dessen spezifische Modellierung des künstlerischen Produktionsprozesses kaum bzw. nur mit Bezug auf die Fertigkeiten der Improvisatoren (und die die dichterische Improvisation angeblich begünstigenden Qualitäten der italienischen Sprache und Kultur)28 Aufmerksamkeit. Die Identifi kation und Spannungen zwischen Genieästhetik und Improvisationstheater hat Angela Estherhammer in verschiedenen komparatistischen Arbeiten genauer dargestellt.29 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welchen Einschnitt Adam Müllers Figuration des Improvisationsprozesses darstellt. An Stelle der Überhöhung künstlerischer Genialität macht er die Abwesenheit des Autors zur strukturellen Bedingung dafür, dass sich »jedem Schauspieler und jedem Zuschauer
reitzen, oder sich in denjenigen Zustand zu versetzen, den man die Begeisterung nennet.« (Zit. nach Martin Pfleiderer: »Improvisieren – ästhetische Mythen und psychologische Einsichten«, in: improvisieren… (= Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung 8), Darmstadt: Jazzinstitut 2004, S. 81-99, hier S. 82.) 28. »Diese besondere Anlage und Empfänglichkeit für den hier beschriebenen höchsten Grad dichterischer Begeisterung, welche das Talent zur improvisierenden Dichtkunst begründet, scheint dem Italiener mehr als den übrigen Nazionen Europens eigen zu seyn […], weil die fisischen Bedingungen seiner Natur sie vorzüglich begünstigen […]; wie er sie denn bekantlich auch an Lebhaftigkeit und Tiefe des Gefühls, also auch an Affekt und Leidenschaft übertrift.« (Carl Ludwig Fernow: »Über die Improvisatoren«, in: ders.: Römische Studien, Zürich: Gessner 1806, S. 303-416, hier S. 406f.) Auch die italienische Sprache begünstige die dichterische Improvisation, denn es sei »in keiner Sprache das Reimen so leicht, als in der italienischen, da in ihr die Wörter auf Vokalendungen ausgehen, und die meisten den Tonfal auf der vorletzten und vorvorletzten Silbe haben […].« (Ebd., S. 412.) 29. Siehe besonders Angela Esterhammer: »The Cosmopolitan Improvvisatore: Spontaneity and Performance in Romantic Poetics«, in: European Romantic Review 16 (2005), S. 153-65, und Angela Esterhammer: Spontaneous Overflows and Revivifying Rays. Romanticism and the Discourse of Improvisation. The 2004 Garnett Sedgewick Memorial Lecture, Vancouver: Ronsdale 2004. Mit Blick auf das Verhältnis von Text und Aufführung siehe auch Roland Borgards: »Literatur und Improvisation. Benjamins Auf die Minute und die Geschichte der literarischen Improvisationsästhetik«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 268-286, sowie ders.: »Improvisation, Verbot, Genie. Zur Improvisationsästhetik bei Sonnenfels, Goethe, Spalding, Moritz und Novalis«, in: Markus Dauss/Ralf Haeckel (Hg.), Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in den Künsten um 1800 und 1900 (erscheint Würzburg: Königshausen & Neumann 2009).
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offenbare […] die unsichtbare Gegenwart eines höheren Dichters, eines Geistes der Poesie, eines Gottes.« (Müller I 245) Hinter Müllers divinatorischer Rhetorik steckt ein Aspekt des romantischen Kunstverständnisses, das dieses entscheidend von der Genieästhetik unterscheidet und zugleich eine ganz andere Wertschätzung des Improvisationstheaters ermöglicht. Es geht um unterschiedliche Figurationen des Kunstproduktionsprozesses. Winfried Menninghaus spricht diesbezüglich von der Verschiebung der »Autopoiesis-Theoreme von der Aktor- auf die Systemperspektive«30 und von der »Dezentralisierung der genialen Produktionskraft«31 in der Romantik. Die Romantik verankert den Kunstproduktionsprozess nicht mehr anthropozentrisch, sondern versucht, das Werden des Kunstwerks als sich selbst leitenden Prozess zu erfassen. Müller erkennt, wie das Improvisationstheater ein konkretes Modell für die romantische Verschiebung der Autopoiesis-Theoreme auf die Systemebene bietet. In ihrer dialogischen Struktur zeigt Improvisation, wie ein Kunstwerk in einem sich selbst leitenden, sich selbst reflektierenden Prozess entstehen und dabei – über die Intentionen der Beteiligten hinausgehend – eigene, originelle und unvorhersehbare Formen ausbilden kann. Die Verschiebung der Autopoiesis-Theoreme auf die Systemebene bringt einen sich im Zuge der Autonomieästhetik neu artikulierenden Anspruch an Kunst zum Ausdruck, der auch heute noch aktuell ist. Es geht darum, dass sich Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts als eine eigene Kommunikationsform ausdifferenzierte, die ihrer eigenen Logik, ihren eigenen Gesetzen, ihren eigenen Codes und Programmen folgt bzw. diese in jedem Kunstwerk jeweils wieder neu definieren muss, um dem Originalitätsanspruch, dem sie sich stellt, gerecht werden zu können.32 Man könnte dies30. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 224f. 31. Ebd., S. 226. 32. Ich folge an dieser Stelle Überlegungen Niklas Luhmanns, der mit Bezug auf die Konsequenzen der Ausdifferenzierung eines gesellschaftlich autonomen Kunstsystems von der notwendig gewordenen »Selbstprogrammierung« moderner Kunst spricht. Selbstprogrammierung heißt, dass das Kunstwerk in seiner Entstehung erst das für es gültige Programm entwirft bzw. die für es gültigen Selektionskriterien bestimmt. Vor allem das Neuheitspostulat führte dazu, dass sich Künstler seit dem 18. Jahrhundert bei den Selektionskriterien nicht mehr auf Bestehendes, auf Regeln oder Erfahrungen verlassen können, sondern dass jetzt das werdende Kunstwerk selbst Selektionskriterien zur Verfügung stellen musste, welche bei der Auswahl möglicher Anschlussoperationen darüber informieren, ob oder inwiefern die Wahl dem Positiv- oder Negativwert des Codes
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bezüglich auch von künstlerischer Legitimierungsnot sprechen. Im Zuge der Autonomieästhetik kann sich ein Werk nicht mehr auf kunstexterne Faktoren berufen, um sich als Kunst zu legitimieren. Das heißt, dass ein Kunstwerk im strikten Sinne auch nicht auf die zeitlich und räumlich externen Intentionen des Künstlers zurückgreifen kann, ohne seinen Autonomieanspruch in Frage zu stellen. Seit dem 18. Jahrhundert muss ein Kunstwerk also, um als Kunst Anerkennung finden zu können, nicht nur sich selbst setzen, sondern im Gesetzten zugleich ein eigenes Gesetz mitartikulieren, welches das Gesetzte als künstlerisch legitim (also als originell, neu, überraschend, interessant und einmalig und doch, Kant würde sagen: als einer von ihm selbst gesetzten, einmaligen »Regel« folgend) ausweist.33 Gemäß der romantischen Verschiebung der Autopoeisis-Theoreme auf die Systemebene muss davon ausgegangen werden, dass sich Gesetz und Gesetztes erst in der konkreten Ausführung entwickeln können, d.h. ganz empirisch, wenn es darum geht, welche Farben, Formen, Töne, Figuren, Worte, Laute etc. denn nun aneinander gereiht und aufeinander bezogen werden sollen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Künstler nicht schon im Voraus inhaltliche, materielle, technische oder andere Entscheidungen, welche das Kunstwerk strukturieren sollen, treffen können; nur, dass die Selektion und Anordnung der Elemente am Ende originell und stimmig erscheinen müssen und dass diese Stimmigkeit nun vom Werk selbst muss nahe gelegt werden (und also z.B. nicht mehr vom dargestellten Gegenstand und dessen Bedeutung oder vom Willen des Künstlers aus bestimmt werden kann). Ich habe an anderer Stelle versucht zu zeigen, wie die Genieästhetik auf diese sich aus der Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems ergebenden Anforderungen mit der Entwicklung paradoxer Bewusstseins-
zuzurechnen ist (siehe Kapitel 5: »Selbstorganisation: Codierung und Programmierung«, in: Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 301-340). Die Begrifflichkeit Luhmanns ist für diese Untersuchung hilfreich, weil sie zum Ausdruck bringt, inwiefern Kunst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also Kunst, die dem Anspruch nach Autonomie, Originalität und Neuheit nachkommen will, nicht mehr im Voraus planbar und in diesem Sinne im-provisio ist. 33. Kant argumentiert allerdings immer noch subjektzentristisch, geht also davon aus, dass es das Genie ist, welches dem Werk die (einmalige) Regel gibt, an welcher sich die ästhetische Urteilskraft in der Beurteilung der »Dinge« orientiert. (Siehe besonders Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Kants Werke, Bd. 5). Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Reimer 1913, S. 165-485 [§49].)
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modelle reagiert.34 Die Frühromantik reflektiert das Problem dagegen am deutlichsten in sprachtheoretischen Überlegungen, welche der Sprache ein Eigenleben unabhängig von den Intentionen des Sprechers beimessen. Novalis bringt das etwa in seinem berühmten Monolog mit Hinweis darauf zum Ausdruck, dass es mit dem »Sprechen und Schreiben eine närrische Sache«, das rechte Gespräch »ein bloßes Wortspiel« sei, denn die Sprache mache wie die mathematischen Formeln »eine Welt für sich« aus.35 Nur unabhängig von den Intentionen des Sprechers könne die Sprache poetisch wirksam werden und eine ihr eigene Welt ausdrücken. Noch deutlicher und häufiger kommt diese »närrische Sache« – die Heteronomie von Sprecher und Sprache, subjektiver Intention und Kommunikation – in den romantischen Reflexionen zu Witz und Ironie und in den Wortspielereien des romantischen Lustspiels zur Darstellung. Versprecher, Wortspiele, Witze etc. weisen immer wieder auf die genannte Heteronomie hin, darauf, wie Schlegel bemerkt, »dass die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden«.36 Spezifisch im situationsbezogenen Sprachwitz offenbart sich dabei die Nähe zur Improvisation. Witz und Wortspiel setzen Spontaneität voraus, müssen überraschen, ungeplant und unvorhergesehen wirken.37 »Trägt man zu viel 34. Ich habe den Zusammenhang zwischen Autonomieästhetik und der Entwicklung moderner (i.e. paradoxer) Bewusstseinsmodelle ausführlicher mit Bezug auf die ästhetischen Schriften von Karl Philipp Moritz entwickelt (siehe Edgar Landgraf: »The Psychology of Aesthetic Autonomy. The Signature of the Signature of Beauty«, in: Anthony Krupp (Hg.), Karl Philipp Moritz. Signatures of Thought (erscheint Amsterdam: Rudopi 2009). 35. »Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. […] Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. […] Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.« (Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1965, S. 672f.) 36. F. Schlegel, Kritische Ausgabe, S. 364. 37. André Jolles sieht in eben dieser Aufhebung der »mitteilenden Absicht der Sprache« die Besonderheit des Wortspiels und ein Strukturmerkmal des Witzes: »So entsteht hier nicht, wie wir es bei dem Rätsel in der Sondersprache gesehen haben, Vieldeutigkeit, sondern es entsteht: Doppelsinn, das heißt, die mitteilende Absicht der Sprache wird aufgehoben, die Sprache wird in ihrer Ver-
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Absicht und Vorsatz hinein«, reflektiert Tieck im ersten Paragraphen von Die verkehrte Welt, »so ist es gar leicht um den wahren Ernst, so wie um die wahre Lustigkeit geschehen.«38 Sie leben vom Verweisungsüberschuss der Worte, an den sie immer wieder anschließen, und machen damit aus der Vieldeutigkeit der Sprache, daraus, dass Aussagen immer wieder neu kontextualisiert werden können, eine Tugend. Selbst die einfache Wiederholung von Wörtern durch eine andere oder die gleiche Person kann sich als Variation erweisen, ironisch wirken, die ursprüngliche Aussageintention in Frage stellen. David Wellbery hat in einem Aufsatz zur Poetologie Schlegels den Bezug des Ironiebegriffs zur Struktur des sprachlichen Zeichens, wie es Derrida entwickelt, ausgeführt. Bedingung der Ironie ist die Möglichkeit der Zitier- und Wiederholbarkeit, der immer ein Moment der Veränderung eingeschrieben ist, welche die Unabhängigkeit des sprachlichen Zeichens von der »Herrschaft des reflektierenden Subjekts« ausdrückt.39 Im Vokabular der Systemtheorie könnte man davon sprechen, dass in der Romantik Kunst die Inkommensurabilität von Bewusstseins- und Kommunikationssystem wahrnimmt. Jede Äußerung stellt eine Entäußerung an das Kommunikationssystem dar, das vom individuellen Bewusstsein nicht nur nicht mehr gesteuert werden kann, sondern das im Moment der Entäußerung schon ständlichkeit gelöst, die Bindung im Verhältnis des Redenden zum Hörenden wird augenblicklich entbunden. Gerade aber diese Lösung beabsichtigt das Spielen mit Worten, das Wortspiel.« (André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen: Niemeyer 1982, S. 248.) 38. L. Tieck, Schriften; Bd. V, S. 285. 39. »Schlegels Ironiebegriff nimmt die Dynamik des gesamten Textualitätssystems in sich auf und wiederholt sie. Denn einerseits tendiert die Ironie als potenzierte Reflexion auf das Sich-Innewerden des Geistes im System; andererseits führt sie in ein Spiegelkabinett der Vervielfältigung hinein, das vom Labyrinth des unendlichen Lebens nicht zu unterscheiden ist. Schließlich ist der Ironie die Paradoxie des Buchstabens eingezeichnet; ihr Erfolg hängt wesentlich von ihrem Scheitern ab. […] Die Bedingung der Möglichkeit der Ironie ist die Zitierbarkeit bzw. Wiederholbarkeit des Buchstabens. Diese iterabilité jedoch zeitigt eine Bewegung, die sich der Herrschaft des reflektierenden Subjekts sowie der Agilität des spielenden Subjekts entzieht. Auch die Ironie kann – und durch diese Möglichkeit wird sie allererst konstituiert – der mechanischen Repetition anheimfallen.« (David E. Wellbery: »Rhetorik und Literatur. Anmerkungen zur poetologischen Begriffsbildung bei Friedrich Schlegel«, in: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 161-173, hier S. 172.)
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nicht mehr das ist, was es im Bewusstsein noch war. Jede Kommunikation – jeder Dialog, jedes Gespräch – unterliegt somit einer nicht kontrollierbaren und also im strikten Sinne auch nicht vorhersehbaren Veränderung ihres Gehalts. Sie (re-)konstituiert sich im sozialen Raum der Kommunikation anders als im individuellen Bewusstsein. Improvisationstheater und romantisches Lustspiel machen aus dem kommunikativen Kontrollverlust eine Tugend, nehmen dessen Produktivität wahr, indem sie an das Gesagte anknüpfen, es ausführen, wiederholen, variieren, ungeahnte Bedeutungsaspekte auskundschaften, von Fremdreferenz auf Selbstreferenz umschalten etc. Für den Witz ist dabei der Eindruck der Spontaneität genauso bedeutend wie das sichtbare Unterwandern der Sprecherintention. Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug – das mit der Gerichtsverhandlung ebenfalls ein zweites Theater im Theater errichtet, welches idealisches Leben (Gericht) und wirkliches Leben (Kläger und Angeklagte, die zugleich als Zuschauer der Selbstinkrimination Adams fungieren) engführt – hebt die Eigendynamik der Kommunikation auf paradigmatische Weise hervor. Die öffentliche Verhandlung zwingt Adam zur Improvisation, zum Reagieren auf den Augenblick. Seine Ausreden führen jedoch jeweils nur zu neuen Widersprüchen, Versprechern und doppeldeutigen Aussagen, auf die er wiederum reagieren muss, nur um mit jeder Ausflucht erneut den Strick um seinen Hals enger zu ziehen.
Gesellschaf tliche Funktion Die frühromantische Verschiebung der Autopoiesis-Theoreme von der Aktor- auf die Systemperspektive, welche künstlerische Produktivität jenseits des Plan-, Intendier- oder Vorhersehbaren lokalisiert, weist auf Improvisationspraktiken voraus, die erst im 20. Jahrhundert auf der Bühne umgesetzt werden. In seinen Untersuchungen »improvisierter Dialoge«, wie sie seit den 70er Jahren besonders in Chicagos progressiver Theaterszene gepflegt wurden und mit der Sendung Whose Line Is It Anyway im britischen und amerikanischen Fernsehen am Ende des 20. Jahrhunderts große Popularität erlangten, kann R. Keith Sawyer zeigen, wie improvisierte Dialoge innert kürzester Zeit Kontexte, Charaktere, Handlungen, Emotionen, Ereignisse etc. schaffen, die nicht handlungstheoretisch, psychologisch oder sonst mit Bezug auf subjektzentrierte Theorien erklärt werden können. Sawyer beruft sich auf die soziologischen Studien Erving Goffmans und spricht von kollaborativer Emergenz (»collaborative emergence«), um das Entstehen kommunikativer Rahmen zu beschreiben, welche rückwirkend erst Bedeutung und Funktion des Gesagten, die Identität
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der Sprecher sowie Ort und Zeitpunkt der Sprechhandlungen definieren. 40 Wir haben es also mit reflexiven Prozessen zu tun, die sich erst im Vollzug der Kommunikation ausbilden und erst nachträglich – über die Antworten und Reaktionen Alters, die wiederum von den Entscheidungen Egos mitdeterminiert werden – die Handlungen, Inhalte und auch Intentionen der Gesprächspartner definieren (wobei der Dialog schon sehr schnell eine gewisse Stabilität entwickelt und sich Strukturen ausbilden, die für den Fortgang des Dialogs bindend wirken). Müllers Ausführungen zu Dialog und Improvisation weisen darauf hin, dass die von Sawyer beobachteten Strukturen sozialhistorisch kontextualisiert werden müssen. Nach Müller soll das Universallustspiel ja nicht nur gefallen, bilden oder unterhalten, sondern die »göttliche Freiheit des Menschen« (Müller I 234) offenbaren und zu einer Demokratisierung der Gesellschaft führen. Wie Schlegels Ironiebegriff von der Parodie ist dabei Müllers Freiheitsgedanke von der »Narrenfreiheit« der Commedia dell’arte-Tradition zu unterscheiden. Die Commedia dell’arte reagiert auf die Stratifizierung der Gesellschaft und ihre zunehmende Orientierung an festen Verhaltensmustern, Rollenspielen, Hierarchien etc. mit Kritik, ohne dabei jedoch das deterministische Weltbild der Renaissancekultur selbst in Frage zu stellen. Der Gebrauch der Maske bringt das paradigmatisch zum Ausdruck. In der Commedia dell’arte steht die Maske repräsentativ für bestimmte Persönlichkeitstypen und Handlungsmuster, die als bekannt vorausgesetzt werden. Die Kunst des (improvisierenden) Schauspielers besteht darin, diese Charaktere darzustellen und vielfältig zu variieren. 41 Das gilt auch noch für das Alt-Wiener Volkstheater, auf das sich Adam Müller in den eingangs zitierten Zeilen bezieht. Beatrix 40. »Improvised dialogue results in the creation of a dramatic frame, which includes all aspects of the performance: the characters enacted by each actor, the motives of those characters, the relationship among those characters, the joint activity in which they are engaged, the location of the action, the time period and genre, the overall plot, and the relation of the current joint activity to that plot. […] The emergence of the frame cannot be reduced to actor’s intentions in individual turns, because in many cases an actor cannot know the meaning of his or her own turn until the other actors have responded. […] In improvised dialogues, many actions do not receive their full meaning until after the act has occurred; the complete meaning of a turn is dependent on the flow of the subsequent dialogue.« (R. Keith Sawyer: Improvised Dialogues: Emergence and Creativity in Conversation. Westport/London: Ablex 2003, S. 41-43.) 41. Dahinter steckt, wie Hinck bereits festhält, noch ein ganz anderes Verständnis von Kunst: »Nicht Originalität, sondern Variation des Bekannten gilt als Kunst.« (W. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 6.)
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Müller-Kampel präsentiert eine lange Liste der wiederkehrenden Figuren, Masken, Gesten, Kostüme, Handlungen und Geschichten, auf welche die Improvisationskünstler im 18. und frühen 19. Jahrhundert zurückgreifen konnten. Beide Traditionen sind Abkömmlinge der Renaissancekultur. Ihr Umgang mit Masken zielt auf Parodie und Travestie, also prinzipiell noch auf die Nachahmung bzw. Nachäff ung bestehender Rollen, Typen, Figuren und Handlungsmuster. Dabei werden blinde Flecke bestimmter Beobachterpositionen oder auch bestimmter Diskurse sichtbar gemacht, allerdings ohne die Kontingenz der Unterscheidung bzw. der bestehenden sozialen Hierarchien selbst in Frage zu stellen. 42 Mit Bachtin könnte man sagen, dass auch die Commedia dell’arte-Tradition noch von der Differenz zwischen offizieller und volkstümlicher, zwischen autoritärer und (im Sinne Bachtins) »lachender« Kultur lebt. 43 Müller-Kampel weist darauf hin, dass man dabei das kritische Potential des Improvisationstheaters nicht überbewerten sollte, dass der systematische Regelverstoß z.B. von Hanswurst und Bernardon zwar ein Gegenbild zur barock-fürstlichen Gestik darstelle, sich aber »eben darin ihr barockes Profil« 44 zeigt. Von solchen Negationen, welche die Hierarchie selbst nicht gefährden, sind die romantischen Reflexionsfiguren zu unterscheiden. Sie gehen von der Kontingenz des Gegebenen aus – dass es immer auch anders, besser sein könnte – und machen aus dieser Beobachterposition ein Produktionsprinzip. Müller findet dieses Produktionsprinzip nicht nur im Improvisationstheater verwirklicht. In seinen Vorlesungen zur Beredsamkeit räumt er dem einfachen Gespräch die gleichen Spannungsverhältnisse zwischen Notwendigkeit und Spiel, Planung und Zufall, Illusion (Täuschung) und Wirklichkeit ein wie der Theaterimprovisation: 42. Eckehard Catholy hält fest, dass Tieck die Intention der Commedia dell’arte aufgibt, durch Masken, Verhalten und Identitäten festzulegen. »So erscheint das Lustspiel Ponce de Leon zwar noch als ›Triumph der Improvisation‹ [Hinck, E.L.] und das heißt als Trimuph der italienischen Masken, zugleich aber doch schon als deren Aufhebung.« (Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung bis zur Romantik, Stuttgart: Kohlhammer 1982, S. 265.) 43. In seinem Aufsatz »Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur« weist Bachtin darauf hin, dass sich die »höfisch-festliche Kultur der Maskerade« (zit.n. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 59), die sich in der Renaissance auszubilden beginnt, eine ganze Reihe karnevalistischer Formen und Symbole in sich aufnehme, wertet dies dann aber negativ, als nur mehr von dekorativem Charakter. Der Karneval besitze hier »keine gattungsbildende Kraft mehr« (ebd., S. 60). 44. Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 177.
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»Wenn ich unter allen Genüssen und Ergötzlichkeiten des Lebens dem Gespräch die unbedingt erste Stelle einräume, so habe ich gewiß alle Stimmen in dieser hochgeachteten Versammlung für mich. In allen den Beschäftigungen, die der Mensch dem ernsthaften und notwendigen Gange seines Lebens entgegensetzt und die er Spiele genannt hat, wird dem Zufall, dem Schicksal, kurz einer gewissen unbekannten Macht Raum gegeben: mit diesem freiwillig anerkannten Zufall, mit diesem selbst geschaffenen Geheimnis wetteifert der Mensch im Spiele, und es erzeugt sich eine gewisse wohltätige Spannung zwischen dem Spieler und jenem unbekannten Wesen, eine anmutige Reihe von sehr verschiedenartigen Gemütsbewegungen, von Hoffnungen und Besorgnissen, von Täuschungen und Erfüllungen, in denen sich die Seele wohlgefällt, weil sie weiß, daß der Zufall, mit welchem sie spielt, von ihr abhängig ist, daß sie ihn auf den Thron erheben und nach Belieben wieder absetzen kann.« (Müller I 310)
Bereits in seiner Lehre vom Gegensatze geht Müller von der Gesprächssituation aus und bestimmt entsprechend das Verhältnis von Subjekt und Objekt neu, nämlich als reversible Positionen, die sich ständig gegenseitig setzen und bedingen. 45 Die Dynamik des Gesprächs überträgt Müller schon in dieser frühen Schrift auch auf die Rezeption von Kunst: »[…] in dem wahren Beschauer liegt der wahre Bildner, der wahre Bildner enthält den wahren Beschauer; wie der handelnde Mensch den spekulierenden, der spekulierende den handelnden; Betrachten und Handeln, wie Zeugen und Gebären, sind eins, ohne das andre nicht möglich.«46 (Müller II 232)
Die Verwandtschaft von Improvisation und Gespräch wird immer wieder bemerkt. Gundel Mattenklott etwa schreibt: »Improvisation ist dem Gespräch verwandt – entsteht im Prozess der Kommunikation, ist offen für Unerwartetes, hat nicht einen Urheber; vielmehr schaffen alle Beteiligten ein gemeinsames Geflecht von Ideen, Vorstellungen, Geschichten. Ein
45. Marquardt weist daraufhin, dass Müller das Verhältnis von Subjekt und Objekt neu bestimmt, indem er von der Redesituation ausgeht und beschreibt, wie »Sprecher- und Hörerstandpunkt in der Kommunikationssituation ständig wechseln, sich gegenseitig setzen und bedingen« (J. Marquardt: ›Vermittelnde Geschichte‹, S. 33.). 46. Marquardt kommentiert besagte Stelle analog: »Eine so gefasste Dialektik von Subjekt und Objekt konkretisiert Müller in der künstlerischen Rezeptionssituation, indem er den Vorgang expliziert, in welchem ein Beschauer sich mit einer antiken Statue beschäftigt und hier die Standpunkte des aktiven Schöpfers und des passiven Betrachters ständig wechseln.« (Ebd.)
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Wort gibt das andere – so auch in der Improvisation.« 47 Die Ausführungen Müllers zeigen, dass die Verhältnisse auch umgekehrt werden dürfen und Improvisation gerade im Kontrast zu vormodernen Gesellschaften als wichtiger Bestandteil des Gesprächs verstanden werden muss. Im Gegensatz zu den hoch stilisierten Konversationsformen vormoderner, aristokratischer Gesellschaften gilt in der Moderne, dass selbst beim belanglosen Gespräch mit einer vertrauten Person, soll es zu einem Gespräch und nicht zur Manipulation, Agitation oder sonstiger (z.B. pädagogischer) Nötigung kommen, beide Gesprächspartner für einander und für sich selbst undurchsichtig und unberechenbar bleiben müssen. Zum Gespräch, das diesen Namen im modernen Sinne verdient, kommt es erst, wenn die Beteiligten bereit sind, (verbal) unvermutet, unvorbereitet und unvorhergesehen zu handeln – im Sinne einer transzendentalen Buffonerie: wirklich bereit sind, sowohl den Standpunkt der Gesprächspartner wie den eigenen Standpunkt jeweils wieder neu und in unvorhergesehener Art und Weise zu perspektivieren. Mit Bezug auf die romantische Engführung eines solchen Freiheits- bzw. Reflexionsbegriffs mit Kreativität stellt sich darüber hinaus sogar die Frage, ob Improvisation in der Moderne nicht als Bedingung für all jene Tätigkeiten und Begegnungen Anerkennung finden muss, die produktiv sein wollen, die über die Wiederholung von Bekanntem hinauszugehen streben. Zumindest mit Bezug auf all jene sozialen Ordnungen (Systeme), die irritierbar und zur Emergenz neuer Formen fähig sind, könnte Improvisation entsprechend als ein Phänomen gefasst werden, das notwendig den sozialen Horizont der Moderne – verstanden als eine lernfähige, sich über die Offenheit ihrer Zukunft bestimmende Gesellschaftsform – bestimmt. 48 Die Romantik, insbesondere Adam Mül47. Gundel Mattenklott: Literarische Improvisation, Berlin: Pädagogisches Zentrum 1991, S. 7. Ein sehr schönes Beispiel dieser Analogisierung von Improvisation und Gespräch liefert der Jazz-Schlagzeuger Max Roach (siehe Paul F. Berliner: Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, Chicago/London: Chicago University Press 1994 S. 192). 48. Man darf das als gesellschaftlich-evolutionäre Errungenschaft betrachten. Friedhelm Guttandin hat Improvisation als Denk- und Handlungsmuster in seiner sozialtheoretischen Studie bis auf Homer zurückgeführt. Er sieht in der Odyssee die Geburtsstunde moderner Rationalität und in Odysseus den ersten, modernen Improvisator, welche sich im Überlebenskampf listig improvisierend durch die Welt schlägt. »Der modernen Rationalität sieht man auf den ersten Blick nicht an, dass sie aus dem Geist der subversiven, vorläufig sich listig anpassenden Improvisation geboren wurde.« (Friedhelm Guttandin: Improvisationsgesellschaft. Provinzstadtkultur in Südamerika, Pfaffenweiler: Centaurus 1996, S. 14.) Mit Bezug auf Norbert Elias weist Guttandin darauf hin, dass sich erst in
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ler, hat dies für und zum Teil schon über das gesellschaftliche Funktionssystem Kunst hinaus erkannt und als produktives Prinzip, wenn nicht zu implementieren dann doch wenigstens zu beschreiben versucht.
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Zwischen Konzept und Akt. Spannungsmomente der Improvisation bei Quintilian und Andersen Sandro Zanetti
In seiner Poetik begreift Aristoteles die Improvisation als reine Vorstufe zur Dichtung, und zwar historisch wie individuell: Improvisation ist gut und nötig, aber nur für Anfänger, Fortgeschrittene sollen sich von ihr emanzipieren, so wie die Dichtung sich auch historisch allmählich von ihren improvisatorischen Ursprüngen gelöst haben soll.1 Improvisation ist in dieser Perspektive der Weg, Dichtung das Ziel. Genau umgekehrt verläuft die Wertung der Improvisation in Quintilians Institutio oratoria, seinem Lehrbuch der Redekunst: Hier ist die Improvisation nicht der Weg, sondern das Ziel. Der volle Ertrag des Studiums zeige sich in der Fähigkeit zur Improvisation, und diese Fähigkeit solle ihrerseits nicht etwa durch freies Ausprobieren, sondern durch harte Übung erreicht werden.2 Man improvisiert nicht, um die Regeln der Kunst allmählich besser zu beherrschen, sondern übt sich in der Befolgung von Regeln, um letzten Endes besser improvisieren zu können. Die Vorzeichen sind also, wenn man so will, vertauscht. Der Unterschied mag sich zu einem guten Stück daraus erhellen, dass Aristoteles und Quintilian unterschiedliche Genres im Sinn haben: Dem einen geht es um Dichtung, und diese soll bestimmten Regeln folgen, dem anderen geht es um öffentliche Redeakte überhaupt, vor allem aber um die 1. Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch-Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1991, S. 12-13, auch S. 14-15 (= 1448b [20]). 2. Vgl. Quintilian [Marcus Fabius Quintilianus]: Institutio oratoria X/Lehrbuch der Redekunst, 10. Buch. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Franz Loretto, Stuttgart: Reclam 2000, S. 115.
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Gerichtsrede, und diese soll sich dadurch auszeichnen, dass auch unerwarteten Einwürfen und Argumenten in angespannten Situationen rhetorisch flink und situationsgerecht begegnet werden kann. Die Grenzziehungen zwischen den beiden Genres, Dichtung und Gerichtsrede, werden jedoch sofort brüchig, wenn man sich die weiteren Stationen in der Geschichte der Konzepte zu vergegenwärtigen versucht, mit oder aus denen heraus Improvisation gedacht und – das ist aufgrund der Quellenproblematik schwieriger zu beurteilen – auch praktiziert worden ist. So erfährt die Improvisation in der Romantik als Herz und Ziel der Dichtung eine außerordentliche Aufwertung, wohingegen die Rhetorik gerade im Bereich der Jurisdiktion mehr und mehr darauf abzielt, Unvorhergesehenes durch standardisierte Verfahren auszuschließen, wodurch auch der Spielraum und die Notwendigkeit von Improvisationen kleiner wird – oder sich auf eine andere Bühne verlagert: diejenige des Lebens, in dem ein Übermaß an Voraussetzungen wiederum Unvorhersehbarkeit provozieren und somit improvisatorische Fähigkeiten beflügeln kann. Improvisationen sind flüchtige Ereignisse. Zwar gibt es die Möglichkeit, Improvisationskonzepte zu benennen und deren Geschichte zu untersuchen. Aber was sich als Improvisation in actu aus diesen Konzepten heraus oder auf sie zu bewegt, wird stets noch etwas anderes gewesen sein als das, was sich davon konzeptuell fassen lässt. Etwas an dieser Spannung zwischen Konzept und Akt dürfte wohl mitverantwortlich dafür sein, dass die Bewertungen der Improvisation im Laufe der Geschichte immer wieder so unterschiedlich ausgefallen sind: Wer sich auf eine starre Konzeptualisierbarkeit versteifte, musste stets damit rechnen, vom Aktscharakter überrascht zu werden, und wer ganz auf die Gunst des Augenblicks setzte, musste sich ertappt dabei fühlen, immer wieder mit ganz geläufigen Mustern konfrontiert zu werden. Dieser Sachverhalt legt eine Re-Evaluation des Improvisationsbegriffs nahe, die es möglich macht, die Spannung zwischen Konzept und Akt gerade als Grundlage von improvisatorischen Prozessen anzuerkennen. Gesteht man denjenigen Prozessen, die man mit Gewinn und im Sinne einer konstruktiven Setzung als ›Improvisationen‹ bezeichnen möchte, zu, dass sie die Spannung zwischen Konzept und Akt nutzen, um das eine durchs andere überraschen zu lassen, dann wird auch verständlich, warum man in den historisch unterschiedlichen Bewertungen der Improvisation nicht unbedingt das jeweils gefällte Urteil als solches ernst nehmen sollte, sondern die Tatsache, dass Improvisationsprozesse offenbar eine prinzipielle Schwierigkeit ihrer Beurteilbarkeit implizieren und auf diese Weise Beurteilungsprozesse provozieren, die auf sich selbst und ihre Bedingungen zurückgelenkt werden. Denn in der Artikulationsform des improvisatori-
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schen Tuns finden diese Bewertungsprozesse, das wäre die Vermutung, keine Anhaltspunkte zur Überprüfung ihrer eigenen Prinzipien. Letztlich bleibt in einem Improvisationsakt stets ein blinder Fleck bestehen zwischen der expliziten oder impliziten Behauptung, ungeplant (und somit der Sphäre des Urteils, zumindest momentan, entzogen) zu sein, und der Möglichkeit, ganz und gar einstudiert (und somit Teil einer auf Planbarkeit und Zurechenbarkeit beruhenden Welt) zu sein. Die diesem blinden Fleck entspringende Spannung macht jedoch gerade den Witz von Improvisationen aus: Wären sie vollständig geplant und planbar, könnten sie nicht als Improvisationen gelten, gäbe es hingegen gar keinen Bezug zur Sphäre von Verfahren und Regeln, wären sie als Improvisationen nicht erkennbar. Diese Spannung begleitet die Reflexionen über Improvisationen von Anfang an – und hält sie auch in Schwung. Sie hat Teil an einer ganzen Reihe von Ambivalenzen, die das Nachdenken über Improvisationen ebenso wie konkrete Improvisationspraktiken immer wieder nachhaltig bestimmt haben. Versucht man, sich einen Überblick über die Theorien der Improvisation – angefangen mit den Zeugnissen aus der Antike – zu verschaffen, dann lässt sich ein permanentes Wechselspiel zwischen dem Setzen auf Regeln, Kalkül, Gedächtnis einerseits und auf Genialität, Intuition, Enthusiasmus andererseits beobachten. Improvisation scheint dieses Wechselspiel oder, anders gesagt, die Unentschiedenheit und die daraus resultierende Spannung bereits vom Wort her zu implizieren. Das ›Improvisierte‹ ist wörtlich das ›Nicht-Vorhergesehene‹. Wird dieses aber in der Artikulationsform eines Tuns intendiert oder auch nur strukturiert, wie das Wort ›Improvisation‹ zumindest nahelegt, dann stellt sich die Frage, mit was für einem Tun man es im Falle der Improvisation zu tun hat. Was passiert mit dem Unvorhergesehenen, wenn es zur Grundlage, zum Bestandteil oder gar zum Ziel eines Handelns genommen wird? Und was passiert umgekehrt mit dem Handeln, wenn es sich der Unvorhersehbarkeit aussetzt? Dass die erwähnte Spannung zwischen Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit, Planbarkeit und Unplanbarkeit bereits in den Überlegungen eines einzigen Autors eine ganze Reihe von Irritationen erzeugen kann, zeigen die Ausführungen von Quintilian, die ausdrücklich darauf aus sind, die Erlernbarkeit der Improvisation durch Übung hochzuhalten, während sie faktisch nicht darum hin kommen, die Unplanbarkeit zumindest punktuell einräumen zu müssen. Für Quintilian steht außer Zweifel, dass die »schriftstellerische Begabung«, wie er sie nennt, in der Improvisation, in der Stegreifrede zu ihrem Höhepunkt gelangt. Nur wer improvisieren kann, ist außerdem in der Lage, seine »bürgerlichen Pflichten« wahrzunehmen. Denn es »ergeben sich doch«, wie Quintilian im 10. Buch seines Lehrbuchs schreibt, »ganz plötzlich unzählige Situationen, die ein 97
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unverzügliches Auftreten, sei es vor den Behörden, sei es bei unvorhergesehenen Gerichtsverhandlungen, erfordern«.3 In diesen Situationen ist Talent, Mut, Übung und Schnelligkeit gefragt. Unvorhergesehene Situationen verlangen die Fähigkeit, sich auf Unvorhersehbarkeit einzustellen, um sie für den eigenen Vorteil nutzen zu können. Dabei geht es Quintilian nicht darum, Unvorhergesehenes selbst zu produzieren oder zu provozieren, sondern bloß darum, eine Umgangsform damit zu finden. Diese Umgangsform ist für ihn die Improvisation. Es handelt sich im Kern um ein Problemlösungsmodell. Voraussetzung für improvisatorisches Handeln ist eine Notlage. Ohne Notlage gibt es für Quintilian keinen Grund zu improvisieren. In dieser Hinsicht verfolgt Quintilian also ein ganz und gar pragmatisches Anliegen. Inmitten dieser Pragmatik gibt es allerdings eine Reihe von Störungsmomenten, die sich nicht ohne Weiteres aus der Welt schaffen lassen. Große Verachtung hegt Quintilian denen gegenüber, die beim Reden die Regeln und den Anstand vergessen: »Denn in meinen Augen«, schreibt er, »ist jemand, der nicht wohlgeordnet, kunstvoll und ausdrucksreich spricht, kein Redner, sondern ein Schwätzer.« 4 Quintilian schätzt die Improvisationskunst zwar im Unterschied zu Aristoteles als die höchste Fähigkeit sprachlicher Artikulation ein, aber er ist mit ihm ansonsten darin einig, dass jegliches Handeln Regeln erfordert, und diese sollen auch benannt werden dürfen. Zu vermeiden gilt es Quintilian zufolge allerdings nicht nur einen allzu lockeren Umgang mit den Regeln der Kunst, wofür die Unerfahrenen als Feindbild einstehen. Auch ein allzu gewitzter Umgang damit, wofür die Sophisten stehen, soll vermieden werden. Quintilian betont entsprechend immer wieder, dass zur Kunst der Improvisation nicht nur Talent gehört, das sicherlich auch, im Übrigen aber sind vor allem Regeln und ein maßvoller Umgang damit gefordert. Die Regeln sollen in Form von Übungen dabei helfen, im rechten Moment etwas Passendes sagen zu können. Einige Versatzstücke an rhetorischen Floskeln müssen stets bereit sein, sie helfen bei der Überbrückung von Momenten der Ratlosigkeit, bis der Schwung der Rede wieder mit neuen Gedanken und Gesichtspunkten einsetzen kann. Gefragt ist eine gleichschwebende Aufmerksamkeit. Ebenso soll man sich darin üben, das Ziel einer Rede nie aus den Augen zu verlieren. Der Gedankengang soll antizipiert werden, die eingeübten Redemuster durch Gedächtnisübungen möglichst automatisch abgerufen werden können. So bleibt Raum und Zeit für die wirklich neuen und wichtigen Gesichtspunkte, die es ins Spiel zu bringen und zu bearbeiten gilt. 3. Ebd., 115. 4. Ebd., 121.
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Für all diese Verfahren und Teilverfahren gibt Quintilian Hinweise, wie sie eingeübt werden können. Gleichzeitig weiß Quintilian darum, dass all diese Verfahren und Teilverfahren nicht in Bewegung kommen und somit gar nicht zum Tragen kommen können, wenn es für sie keine Antriebskräfte gäbe. Der Hauptgrund, warum Improvisationen überhaupt in Gang kommen, ist gleich zu Beginn der Ausführungen dadurch benannt, dass ihnen eine Notlage vorausgegangen sein muss. Diese Notlage bildet das stärkste Motiv für Improvisationen und ist zugleich die wichtigste der Antriebskräfte. Droht die Rede zu erlahmen, müssen weitere Kräfte mobilisiert werden: Affektive Regungen können helfen, aber auch Gestik und Mimik, schließlich die stimulierende Wirkung eines Publikums und die Aussicht darauf, bei diesem Publikum – und über dieses Publikum hinaus – Gefallen zu finden und in puncto Ehrgefühl belohnt zu werden. Quintilian metaphorisiert diese Kräfte mit dem Wind, das ein Segelschiff benötigt, um von der Stelle zu kommen. Die Übungen hingegen und die Regeln finden ihr Pendant in der Art und Weise, wie das Segel gesetzt und wie gesteuert wird. Dass es auch zu viel Wind geben kann und dass man selber auch gleichsam ›zu viel Wind machen‹ kann, etwa durch wildes Gestikulieren, ist die Gefahr, die Quintilian im Blick und in Schach zu halten versucht. Bloßer Wind ist gefährlich, aber ebenso gefährlich kann es sein, überhaupt keinen Wind mehr im Rücken zu verspüren. Denn dann bewegt sich gar nichts mehr. Damit kommt dem Wind in den Ausführungen Quintilians der Status des Unberechenbaren und seinerseits Unvorhersehbaren zu. Die Möglichkeit ist zwar vorgesehen, sich selbst durch Antriebssteigerungen in die Lage des Bewegtseins und Bewegtwerdens zu versetzen. Doch muss im Verbund mit dem rechtmäßigen Setzen der Segel vor allem auch zugelassen werden, dass Wind unabhängig vom eigenen Willen aufkommen kann. Es ergeben sich somit mehrere Unwägbarkeiten, auf die Quintilian zugleich setzen und von denen er sich absetzen können muss, damit die Improvisation einen glücklichen Verlauf nehmen kann. Zu viele Antriebskräfte und affektive Anteilnahmen am Geschehen vereiteln die Improvisation als Verfahren, das bei Quintilian noch ganz dem Vorsatz folgt, Herr der Lage zu sein. Ein Zuviel an Übung und Vorbereitung hingegen kann dazu führen, dass die Improvisation gar nicht in Gang kommt. Begeisterung und Leidenschaft sind also gefragt, aber sie sollen nicht überborden. In Quintilians Worten, die von einem misogynen Grundton durchzogen sind, liest sich das wie folgt: »Ich werde niemals einen improvisierten Redeschwall bewundern, den wir auch bei schimpfenden Weibern bis zum Überdruss beobachten können, obgleich es nicht selten vorkommt«, und jetzt kippt die Argumentation, »daß eine sorgfältige Vorbereitung den Erfolg einer von Leidenschaft und Begeisterung getragenen Stegreifrede nicht erreichen kann. Ein Gott sei bei einem solchen 99
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Ereignis zugegen gewesen, pflegten nach den Worten Ciceros die alten Redner zu sagen, doch der Grund dafür liegt klar auf der Hand. Denn tief empfundene Gefühle und unmittelbare Vorstellungen werden von einem nicht abreißenden Schwung getragen, sie erkalten hingegen«, wenn »unglückselige Wortklauberei dazukommt und der Lauf bei jedem Schritt stecken bleibt«: Dann jedenfalls »kann die Rede keinesfalls die nötige Durchschlagskraft erzielen«.5 Leidenschaft und Begeisterung sind in diesem Modell also als notwendige Voraussetzungen für die Wirkungskraft einer Rede kenntlich gemacht. Doch kaum hat Quintilian dies gesagt, muss er auch schon im eigenen Text das Steuer wieder in die Hand nehmen und ein Loblied auf die Vorsichtsmaßnahmen anstimmen, die im Verbund mit der Erfahrung des Redners verhindern sollen, dass das Talent durch Leidenschaft und Begeisterung ins Schlingern kommt. Gegen Ende seiner Ausführungen zur Improvisation reformuliert Quintilian das Spannungsverhältnis zwischen Leidenschaft und Kalkül noch einmal am Beispiel der Frage, ob und inwieweit improvisierte Reden überhaupt, und zwar im Medium der Schrift, vorbereitet sein dürfen. Bleibt im Vorfeld Zeit für Notizen, so sollen diese nicht zu ausführlich formuliert werden, denn dann könne es vorkommen, »daß uns der Gedanke zum ausgearbeiteten Entwurf zurückruft und uns nicht gestattet, einem glücklichen Einfall des Augenblicks zu folgen«6. Mit dem »glücklichen Einfall des Augenblicks« ist die in der Antike geläufige Zeitkategorie des Kairos, des rechten Moments und der günstigen Gelegenheit – im Unterschied zu Chronos und Aion – aufgerufen, und es ist wohl auch kein Zufall, dass die mythologische Figur des Kairos, der jüngste Sohn des Zeus, über den griechischen Dichter Poseidippos bekannt wurde durch den Ausspruch: »Ich fliege wie der Wind.«7 Quintilian spricht das selbst nicht deutlich aus, aber so wie Aristoteles den Enthusiasmus der Dichter ebenso fürchtete, wie er darum wusste, dass es ganz ohne auch nicht geht, so bringt der »glückliche Einfall des Augenblicks« in Quintilians Überlegungen tatsächlich ein Moment des Unvorhersehbaren und Unverfügbaren – etwas Windiges – in sein eigenes Bestreben hinein, inmitten einer schwierigen, unwägbaren Situation Ordnung zu schaffen. Quintilian hat es also genau genommen mit mindestens zwei Unwägbarkeiten zu tun: 1. derjenigen, die von außen kommt (und die durch die zu 5. Ebd., S. 121-123. 6. Vgl. ebd., S. 131. 7. Vgl. hierzu näher: Lucia Prauscello: »Sculpted Meanings, Talking Statues: Some Observations on Posidippus 142.12 A-B (= XIX G-P) Και εν Προθυροις Θηκε Διδασκαλιην«, in: American Journal of Philology, 127, 4 (2006), S. 511-523, bes. S. 513.
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bewältigende Notlage bestimmt ist), und 2. derjenigen, die das eigene Verfahren des Umgangs mit dieser Notlage (also die eigene Improvisation) betriff t und bestimmt. Letztere nimmt in der Art und Weise, wie der Diskurs über Improvisation historisch weitergeführt wird, eine immer dominantere Stellung ein. Zwar findet man auch in späteren Überlegungen zur Improvisation immer wieder Hinweise auf den besonderen Stellenwert von Notlagen, durch die Improvisationen motiviert werden. Aber je mehr sich die Improvisation unter dem Vorzeichen der Autonomie der Künste als eine rein ästhetische Kunstform durchzusetzen beginnt, oder so zumindest den Diskurs zu bestimmen beginnt, desto mehr verlagert sich die Aufmerksamkeit auf das, was in der Improvisation als Verfahren und als Artikulationsform selbst unplanbar und überraschend bleibt. An der Geschichte der Commedia dell’arte lässt sich dieser Wechsel sehr genau verfolgen: Zuerst waren es Wandertruppen, die durch ihr Schauspiel (auch) ihre eigene physische Notlage zu mindern versuchten, Gaukler und Spieler. Doch je mehr deren Spiel auch eine ökonomische Absicherung bot, desto mehr rückte der Kult um einzelne Schauspieler und deren Genialität in den Vordergrund. Während die Commedia dell’arte im 18. Jahrhundert als Kunstform nahezu wieder verschwindet und durch Verschriftlichung ihrer Stücke gleichsam mumifiziert wird, entsteht als eine Art Gegenfigur der Improvisator als besonders begnadeter Alleinunterhalter, der auf Zuruf von Stichworten ganze Balladen ad hoc oder eben all’improviso zum Besten gibt. Doch auch diese – wie die Commedia dell’arte – zuerst fast ausschließlich in Italien kultivierte und erst durch Gastauftritte in anderen Ländern allmählich auch über Italien hinaus bekannt gewordene Improvisationsform erfährt eine eigenartige Transformation, die mit ihrer Verschriftlichung zu tun hat, diesmal aber in Form von Romanen und Erzählungen, die ihre eigene Ästhetik oder Poetik an der Figur des Improvisators zu reflektieren beginnen. Das ist die Geburtstunde romantischer Begeisterung für den Improvisator als Figur. Meist sind es Schriftsteller aus dem Norden, die sich vom Talent der Improvisatoren aus dem Süden, es sind eigentlich immer Italiener, angesprochen fühlen und die, wie Hans Christian Andersen, ihr ›Italienerlebnis‹ haben. Angela Esterhammer zeigte in ihren Forschungen zur Improvisation in der Literatur der Romantik (dazu gehören neben Andersen auch Puschkin oder Odoevskij), dass der Improvisator als literarische Figur just in dem Moment zur Blüte kommt, als Italien im Zuge der Napoleonischen Kriege gar nicht mehr so leicht zu bereisen war und die Überprüfung vor Ort also mehr und mehr ihrerseits schon auf Erzählungen angewiesen war.8 8. Angela Esterhammer: »The Cosmopolitan Improvvisatore: Spontane-
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Wie sehr also die Schilderungen von Improvisationen ihrerseits bereits auf Fiktionalisierungen beruhen, wird eine Auseinandersetzung mit diesen Schilderungen stets zu berücksichtigen haben. An Hans Christian Andersens Roman Der Improvisator (dän. Improvisatoren) von 1835 lässt sich sehr deutlich beobachten, wie Andersen die Figur des Improvisators nutzt, um an ihr sein eigenes Kunst- und Literaturverständnis zu profi lieren. Der Improvisator ist Andersens erster Roman. Verarbeitet sind darin Erlebnisse seiner eigenen Italienreise, die im Roman allerdings einer kräftigen Klischierung unterzogen werden. Diese Klischierung steht in einer gewissen Spannung zur Begeisterung für das Naturhafte, Geniale und Ungekünstelte, das Andersen an dem Protagonisten und Ich-Erzähler des Romans, Antonio, seinem alter ego, herauszustellen versucht. Die Notlage kommt auch hier wieder als Bewegrund der Improvisation ins Spiel. Antonio stammt aus ärmlichen Verhältnissen, wie könnte es anders sein, nur durch sein Naturtalent gelingt es ihm, gesellschaftlich aufzusteigen. Es ist eine Aufsteigergeschichte – mit tragischem Ende: Antonio lernt schon früh, Geschichten zu erzählen, und merkt, wie die anderen Leute an ihm Gefallen finden. Durch diese Wertschätzung fühlt er sich berufen, seinen Gesang, seine Erzählkunst und sein Gitarrenspiel als Begabung zu verstehen, die er zu seinem Beruf im Wortsinn machen kann. Das tut er und feiert damit unglaubliche Erfolge, wäre er nur nicht unglücklich verliebt und von vornherein dazu bestimmt, als tragische Künstlerfigur in der Welt letztlich fremd zu bleiben. Folgende Passage gibt einen Eindruck davon, wie und mit welchen Klischees Andersen gerade das Moment des Unplanbaren und Ungekünstelten in den Improvisationen von Antonio zu verdeutlichen versucht. Besonders gut kommt in dieser Passage die Spannung zwischen Genialität und Kalkül zum Ausdruck, die – wenn auch unter vertauschten Vorzeichen – bereits bei Quintilian zu beobachten war. Eingeleitet wird die Passage durch die Anspornung eines Freundes von Antonio, der allen erzählt, wie gut Antonio improvisieren könne. Am Anfang steht der Auf bau eines sozialen Erwartungsdrucks. Im Verbund mit der Anspornung des Publikums und der Anwesenheit der geliebten Frau, Annunziata, wird die angespannte Situation von Antonio allerdings als Chance begriffen: Die notwendigen Affekte sind mobilisiert, die »Seele« in »Bewegung«, die Improvisation kann beginnen.
ity and Performance in Romantic Poetics«, in: European Romantic Revue 16,2 (2005), S. 153-165. Zu Puschkin und Odoevskij zudem: Wiktor Weintraub: »The Problem of Improvisation in Romantic Literature«, in: Comparative Literature 16,2 (1964), S. 119-137.
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»Und nun erzählte er allen, ich besäße ein weiteres Talent, ich sei auch Improvisator und solle sie nun damit erfreuen, ihnen eine Kostprobe zu geben. Meine Seele war in Bewegung. Wegen des Beifalls für meinen Gesang geschmeichelt und meiner eigenen Kraft ein wenig sicherer, bedurfte es nur noch der Bitte Annunziatas, und zum ersten Mal seit Jahren war ich so kühn zu improvisieren. Ich griff nach ihrer Gitarre, sie gab mir ein Stichwort vor: Unsterblichkeit. Ich überdachte dieses umfangreiche Thema, griff ein paar Akkorde und begann nun mit meinem Gedicht, als werde es von meiner Seele geboren. Mein Genius führte mich über das schwefelblaue Mittelmeer zu den wilden, üppigen Tälern Griechenlands, Athen lag in Schutt, wilde Feigen wuchsen aus geborstenen Säulen, und der Geist seufzte […]. Und als mein Genius die Trümmer Athens beweinte, holte man aus der Erde herrliche, von Künstlerhand geschaffene Bilder, mächtige Göttinnen schlummerten in Marmorkleidern, und mein Genius sah die Töchter Athens, die zur Göttlichkeit erhobene und für kommende Geschlechter auf ewig in weißem Marmor bewahrte Schönheit. Unsterblich, so sang mein Genius, ist die Schönheit […].«9 Das ist reichlich dick aufgetragen. Interessant an dieser Stelle ist jedoch die merkwürdige Verknüpfung der Behauptung einer als unmittelbar gedachten Seelenbewegung mit einem an abgegriffenen Bildern kaum zu überbietenden Schwall von Worten: ein Geklimper von Bildungsversatzstücken sondergleichen. Auch wenn ein Vergleich mit Quintilian an dieser Stelle nicht nur deshalb nicht statthaft erscheinen mag, weil der eine Gerichtsreden, der andere improvisierten Kunstgesang im Sinn hat, sondern auch deshalb, weil der eine ein Lehrbuch, der andere einen Roman in Ich-Form geschrieben hat, so bleibt doch ein Strukturzusammenhang bedenkenswert, der als solcher Beachtung verdient: Während Quintilian als Folge seines hochgehaltenen Anspruchs, Regeln für ein fachgerechtes Beherrschen der Improvisation zu finden, permanent damit konfrontiert ist, diejenigen Faktoren gleichwohl mitberücksichtigen zu müssen, die sich ihrer Formalisierbarkeit entziehen, führt Andersen, womöglich ebenso unfreiwillig, vor, was passiert, wenn umgekehrt der Akzent ganz auf das Unvorhergesehene im Akt der Improvisation gelenkt wird, denn dieses entdeckt sich nun plötzlich als das ganz und gar Erwartbare. Man hat es hier also mit einem merkwürdigen Kräfteverhältnis zu tun, dessen Vektoren jeweils gerade verstärkt in den Bereich zu zeigen scheinen, der auf der programmatischen Ebene nicht wirklich vorgesehen ist: Und erweist sich nicht diese Unvorhersehbarkeit für eine mögliche Konzeptualisierung von Improvisationsprozessen als besonders aufschlussreich? 9. Hans Christian Andersen: Der Improvisator. Roman in zwei Teilen. Aus dem Dänischen von Jörg Scherzer, Cadolzburg: Ars Vivendi 2004, S. 129f.
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In Andersens Roman kehrt die Kippfigur zu der an Antonios Improvisation deutlich werdenden Ambivalenz selbst wieder, und zwar in Form eines Gesprächs, das Antonio mit einem anderen Improvisator führt. Dieser, genannt Santini, vertritt die genaue Gegenposition zur Auffassung von Antonio. Man könne letztlich alles auswendig lernen, es gebe Tricks und Finten, wie man die Zuhörer überlisten kann, alles könne durch Vernunft und ein paar Kunstgriffe eingeübt werden. Nicht zufällig heißt es von Santini, er sei »Professor für die französische Sprache«. Das angeblich Natürliche macht auf diesen Professor keinen Eindruck, er glaubt dieses als Effekt eines durch und durch künstlichen Kalküls durchschauen zu können. Im Gespräch ergreift zuerst Santini das Wort. Er spricht Antonio an, weil er ihn für einen Auftritt als Improvisator gewinnen möchte. Er erklärt kurz das Prozedere, dann schweift er ab und kommt auf seine eigenen Erfahrungen als Improvisator zu sprechen: »›Wir werden Ihnen ein Thema geben‹, sagte Santini, ›o ja, eine harte Nuß! Aber es wird schon gutgehen! Ich weiß noch, wie ich bebte, als ich zum ersten Male auftreten sollte, aber es ging gut, ich hatte meine Tricks, meine kleinen, unschuldigen Kunstgriffe, wie einem dies die Vernunft gebietet. Ein paar kleine Stücke über die Liebe, das Altertum, die Schönheit Italiens, über Poesie und Kunst kann man auswendig und weiß sie anzubringen, außerdem einige bekannte Gedichte, aber das ist doch selbstverständlich!‹ Ich versicherte, ich sei gänzlich unvorbereitet. ›Ja, ja, das sagt man immer‹, sagte er lächelnd, ›gut, gut. Sie sind ein vernünftiger junger Mann, das wird glänzend verlaufen.‹«10
Santini glaubt also Antonio schlicht nicht. Er glaubt nicht, dass dieser unvorbereitet sei. Ja, mehr noch, er wertet Antonios Aussage gar als besonders listigen Trick, um die Zuhörerschaft in die Irre zu führen, er vermutet in diesem Trick eine besonders raffinierte Form von Vernunft, die so weit geht, sogar noch zu leugnen, dass alles einstudiert und also vernünftig in diesem Sinne ist. Das Überraschende an dieser Szene ist sicherlich dies, dass ausgerechnet Santini, der alles auf Kalkül anlegt, in den Roman eine wirkliche Überraschung, etwas wirklich Neues und, wenn man so will, Unvorhergesehenes hineinträgt. Erneut hat man es also mit dem eben angesprochenen Kräfteverhältnis zu tun, dessen Vektoren gleichsam in die verkehrte Richtung schießen. Ähnlich wie bei Quintilian lässt sich bei Andersen beobachten, dass die Improvisation, die scheinbar nur als Thema vorgesehen ist, offenbar dazu verleitet, auch eine Irritation in den Prozess ihrer Thema10. H. C. Andersen: Der Improvisator, S. 235.
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tisierung hineinzutragen, und zwar so, dass die Thematisierung selbst von improvisatorischen Elementen durchzogen zu sein scheint. Bei Andersen lässt sich diese Dynamik bereits als eine spezifisch literarische Dynamik ausfindig machen. Er hat sie jedoch keineswegs zum Programm erhoben, eher hat man den Eindruck, dass sie sich en passant eingestellt hat. Verlängert man das Programm, das bei Andersen mit Santini erst angedeutet, aber immerhin schon angedeutet ist, dann kommt man zu einer Poetik, die darauf abzielt, Unvorhersehbarkeit durch eine ganz und gar kalkulierte Anordnung gerade herzustellen. Eine solche hergestellte Unvorhersehbarkeit fügt sich in ein Produktionskalkül, das Improvisation nicht mehr, oder nicht mehr allein, als Bestandteil der Produktion begreift, sondern als Kunst von Seiten der Rezeption einfordert. Im Falle der Literatur ist Improvisation dann ein Modus der Lektüre, und zwar einer, in dem das Rezeptionsprogramm erst entworfen werden muss, weil dieses weder dem gelesenen Text noch sonst einer Vorgabe bereits entnommen werden kann. Die gezielte Provokation eines produktiv werdenden Improvisationsprozesses, der in der Rezeption stattfinden soll, wäre als ›postgeniale Improvisationspoetik‹ zu bezeichnen. Eine solche Poetik, die beispielsweise bei Kleist zu entziffern ist, würde sich entsprechend dadurch auszeichnen, dass sie darauf angelegt ist, die künstlerisch produktiven improvisatorischen Momente in den Akt der ihrerseits produktiv werdenden Rezeption zu verlagern.11 Für das 19. Jahrhundert ließe sich zeigen, dass ›postgeniale Improvisationspoetik‹ mehr und mehr darin besteht, in einer Welt, die zunehmend als geplant und planbar erscheint bzw. so empfunden wird, Momente von Unplanbarkeit zu erzeugen, die einem ethischen Impuls folgen: dem Streben nach Freiheit bei gleichzeitigem Wissen um die Macht von Strukturen. Fluchtlinien einer solchen literarischen Auseinandersetzung mit Freiheit, deren Kehrseite freilich im Zwang zur Improvisation besteht, wären etwa bei Dostoevskij und Kafka weiterzuverfolgen. Ferner wären die Aktionen aus dem Umkreis der Situationisten als Folgeerscheinungen einer ›postgenialen Improvisationspoetik‹ zu begreifen. Denn auch dort geht es darum, inmitten einer als festgelegt empfundenen Welt Unvorhersehbarkeit zumindest für einen überschaubaren Kreis von Rezipienten zu ermöglichen. All diese Fluchtlinien markieren den Beginn einer anderen, nicht mehr dem Talent- und Geniegedanken folgenden Geschichte der Improvisation. 11. Diese abschließenden Überlegungen wurden im Sommersemester 2007 zusammen mit Sylvia Sasse anlässlich des gemeinsam geleiteten Seminars »Improvisation. Texte und Theorien zum Unvorhersehbaren« an der HumboldtUniversität zu Berlin entwickelt. Eine Ausarbeitung dieser Überlegungen ist im Rahmen der Aktivitäten des wissenschaftlichen Netzwerkes »Improvisation und Invention« vorgesehen.
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Ihren Anfang könnte die Erzählung einer solchen Geschichte nehmen in der Beobachtung Derridas, dass Improvisation »das Schwierigste überhaupt« sei:
»Improvisation ist nicht einfach. Sie ist das Schwierigste überhaupt. Selbst wenn man vor einer Kamera oder einem Mikrofon improvisiert, so gleicht man einem Bauchredner oder überläßt es einem anderen, die Schemata oder Sprache wiederzugeben, die bereits da sind. Viele Vorschriften sind in unseren Köpfen, unserer Kultur vorgeschrieben. Alle Namen sind bereits vorprogrammiert. Allein die Namen hindern uns daran, jemals richtig zu improvisieren. Man kann nicht alles sagen, was man will. Man ist im Grunde verpflichtet, den stereotypen Diskurs zu reproduzieren. Und deshalb glaube ich an die Improvisation. Und ich kämpfe dafür. Aber immer in dem Glauben, daß sie unmöglich ist.«12
Literatur Andersen, Hans Christian: Der Improvisator. Roman in zwei Teilen. Aus dem Dänischen von Jörg Scherzer, Cadolzburg: Ars Vivendi 2004. Aristoteles: Poetik. Griechisch-Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1991. Esterhammer, Angela: »The Cosmopolitan Improvvisatore: Spontaneity and Performance in Romantic Poetics«, in: European Romantic Revue 16,2 (2005), S. 153-165. Prauscello, Lucia: »Sculpted Meanings, Talking Statues: Some Observations on Posidippus 142.12 A-B (= XIX G-P) Και εν Προθυροις Θηκε Διδασκαλιην«, in: American Journal of Philology 127, 4 (2006), S. 511523. Quintilian [Marcus Fabius Quintilianus]: Institutio oratoria/Lehrbuch der Redekunst. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Franz Loretto, Stuttgart: Reclam 2000. Weintraub, Wiktor: »The Problem of Improvisation in Romantic Literature«, in: Comparative Literature 16,2 (1964), S. 119-137.
Film Derrida (USA 2002). Regie: Kirby Dick/Amy Ziering Kofman.
12. Jacques Derrida, aus einem Interview von 1982, zitiert nach dem Film Derrida (USA 2002, Regie: Kirby Dick/Amy Ziering Kofman).
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»Mit dem Stadtplan von London den Harz durchwandern« Alexander Kluge
Im kollektiven Gedächtnis einer Nation vor dem Bildschirm besitzt jene 10-minütige Filmsequenz, die vermutlich jeder Deutsche von klein auf kennt und nicht nur ein Mal zu sehen die Gelegenheit gehabt hat, einen prominenten Platz, zumal wenn es um Butler geht. Es ist eine Filmaufnahme, die angeblich keinem echten Briten auch nur die Augenbraue zu heben Veranlassung geben könnte. Auf der Insel, so heißt es, könne man über dieses allzu teutonische Lachen über ein Abendessen anlässlich eines 90. Geburtstags gar nicht lachen, das unter dem Titel Dinner for One zu jedem Jahresende im deutschen Fernsehen zu betrachten ist. Der große Vorteil, über einen Film zu schreiben, den jeder kennt, besteht darin, ihn nicht mehr zeigen zu müssen, weil er vor dem inneren Auge jederzeit abruf bar ist. Daher sei das Augenmerk der Erinnerung zuvor noch auf einen bestimmten Abschnitt gelenkt, um den es im Folgenden geht, genauer gesagt, auf ein bestimmtes Wegstück in der Szenerie, jenem Speisesaal von Miss Sophie, und zwar auf die kurze Strecke zwischen Abendtafel und Büfett, die der Butler ein ums andere Mal durchqueren muss, um die vorgesehenen Gerichte und Getränke aufzutragen. Worauf es dabei ankommt, ist die Routine, und zwar im doppelten Sinne, also einerseits in ihrer wörtlichen Bedeutung, das heißt, den kürzesten Weg zu wählen. Andererseits umfasst der Begriff der Routine in seiner übertragenen Semantik bekanntermaßen die eingespielten Handlungsabläufe, über die nicht zuletzt 107
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ein Butler verfügen muss, um wie gewohnt seinen Dienst zu verrichten.1 Die Routine genügt, so die hier zu entwickelnde These, einer besonderen Praktik, die es historisch zu verorten und systematisch als Gegenstück der Improvisation zu analysieren gilt. Bei einer genaueren Betrachtung dieser Routine lässt sich nämlich ein Verhaltensmodus ablesen, der in spezifischer Weise Anlass gibt zur Improvisation, der diese Momente überhaupt erst ermöglicht und zugleich als ihr Gegenstück zu werten ist. Doch bevor auf diese Denkfigur näher eingegangen sei, müssen noch zwei Sätze vorangeschickt werden, einer zur Fernsehsendung selbst und ein anderer zur historischen Figur des Butlers.
Das Stück Im Gegensatz zu seiner inzwischen gut durchleuchteten Rezeptionsgeschichte2 ist über die Entstehungsbedingungen des hierzulande berühmtesten Einakters wenig bekannt. Selbst von seinem britischen Autor, einem gewissen Morris Laurence Samuelson, der unter dem Künstlernamen Lauri Wylie zahlreiche kleine Sketche für Varietés und Revuen sowie Operetten und darüber hinaus einige Adaptionen für Musicals schrieb, sind kaum literarhistorische Eckdaten überliefert. Allein sein Geburtstag kann zuverlässig auf den 25. Mai 1880 datiert werden, doch schon sein exaktes Todesdatum verliert sich im Rauschen der Geschichte und wird mit 1951 angegeben. Wann Wylie das Dinner for One verfasste, ist dementsprechend unklar. Die Urauff ührung des Stücks findet jedenfalls im März 1948 in einem Londoner Theater statt, eingebettet in eine Revue-Show mit dem schlichten Titel Four, Five, Six!. Die englische Theaterkritik hebt in die1. Vgl. dazu den Trendsetter Samuel und Sarah Adams: The Complete Servant. Being a Practical Guide to the Peculiar Duties and Business of all Descriptions of Servants […] with Useful Receipts and Tables, London: Knight & Lacey, 1825, sowie als einschlägiger Ratgeber Anonym: The Butler. His Duties, and How to Perform Them, London: Houlston’s Industrial Library 1877, und Isabella Mary Beeton: Mrs Beeton’s Book of Household Management, London: Ward Lock & Co. 1861/1888; des Weiteren aus einer neueren Perspektive: Steven M. Ferry: Butlers & Household Managers: 21st Century Professionals, Charleston: BookSurge Publishers 2003, sowie im historischen Längsschnitt Ernest Sackville Turner: What the Butler Saw. Two Hundred and Fifty Years of the Servant Problem, London: Michael Joseph 1962. 2. Siehe etwa Stefan Mayr: ›Dinner for one‹ von A – Z. Das Lexikon zum KultVergnügen; erstmals mit Originaltext und Regieanweisungen, Frankfurt a.M.: Eichborn 2002.
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sem Reigen vor allem den Einakter lobend hervor als »eine schöne kleine Studie eines alten Dieners, der sich leise, ungewollt und heftig betrinkt«3. Unter wechselnder Besetzung erfährt das Stück bis 1954 in England und sogar am Broadway (unter anderem unter Mitwirkung von Harry Belafonte) zahlreiche Auff ührungen. 1954 wird es von einem unbekannten Kleinkunstdarsteller mit dem Künstlernamen Freddie Frinton in sein Repertoire aufgenommen, das er in den 50er Jahren vorzugsweise in nordenglischen Seebädern präsentiert. Mit seiner Freddie Frinton Show tingelt der Komiker jahrelang über englische Bühnen, wo er 1962 im Wintergarden in Blackpool wieder einmal den besoffenen Butler mimt. Unter den Zuschauern befinden sich auch zwei nachkriegsdeutsche Fernsehmacher, Heinz Dunkhase und Peter Frankenfeld, die Frinton und sein Stück auf der Stelle für die Fernsehsendung Guten Abend, Peter Frankenfeld engagieren. Im März 1963 führen Frinton und seine Partnerin May Warden daher das Stück zunächst live in der besagten Sendung auf. Wegen fehlender Aufzeichnungsmedien muss der NDR jedoch eine erneute Darbietung vereinbaren, die wenige Wochen später mit einem eilig herbeigerufenen Publikum aus rekrutierten Mitarbeitern der Sendeanstalt im Hamburger Theater am Besenbinderhof in der bis heute ausgestrahlten Fassung produziert wird. Doch es dauert noch fast ein Jahrzehnt, bevor diese Aufzeichnung nach zwischenzeitlich viermaliger Ausstrahlung zu verschiedenen Terminen und einer weitestgehend unbeachteten Latenzzeit ihren festen Sendeplatz am letzten Tag des Jahres erhält. Erst Silvester 1972, einer der beiden Hauptdarsteller ist bereits verstorben, wird die Sendung an jenem Sendeplatz positioniert, von wo sie ihren Siegeszug durch die Dritten Programme bis hin zur Prime Time im Hauptprogramm antritt, um sich, mit Ausnahme von England selbst, ein immer größeres Publikum in Europa und Übersee zu verschaffen und schließlich jenen bis heute unangefochtenen Status der am häufigsten wiederholten Fernsehsendung überhaupt erfolgreich zu verteidigen. Zahllose Parodien der inzwischen zum geflügelten Wort avancierten Frage-Antwort-Phrase »same procedure« sowie zahlreiche Adaptionen des Stückes in verschiedenen Mundarten hierzulande gehen damit einher, von Bayrisch bis Plattdeutsch, von Hessisch bis Kindisch, sofern man dieses Attribut dem neben der Thüringer Bratwurst bekanntesten Exportschlager des Freistaats, nämlich Bernd das Brot, zuschreiben darf. Soviel zu den mediengeschichtlichen Eckdaten des Einakters, der zudem als klassisches – oder wohl eher ›drittklassiges‹ – Theaterstück infolge seiner alljährlichen Wiederholungsschleife eine höchst ungewöhnliche Karriere im Medium Fernsehen reklamieren kann. Diese unzweifelhafte 3. So die Daily Mail, zit.n. S. Mayr: ›Dinner for one‹ von A – Z, S. 116.
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Erfolgsgeschichte wird umso erklärungswürdiger, wenn man das Stück jenseits der Gesetzmäßigkeit der Serie sowie der Logik von Wiederholungen, die zwischen bekannten Erwartungen und vergessenen Details oszilliert, auf seine Wirksamkeit hin befragt. Worin mag der Reiz liegen, der dazu führt, dass die deutschen Zuschauer nicht müde werden, Jahr für Jahr ein mittlerweile vollkommen unzeitgemäßes Stück Varieté-Theater samt des genretypischen hysterischen Hintergrundlachens mit immer noch steigenden Einschaltquoten zu goutieren? Und wenn dieses Stück einen Anachronismus darstellt, der nicht allein durch jahresendzeitbedingte Nostalgie der TV-Konsumenten zu erklären ist, so muss zunächst danach gefragt werden, welcher Epoche das Stück überhaupt angehört, scheint es doch seinerseits einer seltsamen Zeitlosigkeit zu genügen. Das etwas überladene Interieur des Speisezimmers ebenso wie das Geburtsjahr seines Autors Lauri Wylie (1880) lassen auf eine zeitliche Verortung des Geschehens im späten viktorianischen Zeitalter schließen, vielleicht just zum Jahrhundertwechsel. Zeichen, die eine genauere epochale Einordnung erlaubten, sind rar. Die Beleuchtung des Speisezimmers scheint noch nicht elektrifiziert zu sein, was für eine gewisse Fortschrittsskepsis spricht. Unabhängig davon, ob die Haushaltstechnik unter dem Dach von Miss Sophie als fortschrittlich oder eher konservativ zu gelten hat, verweist die Anstellung eines Butlers auf eine gewisse Rückständigkeit und eine Selbstverständlichkeit zugleich. Einerseits wäre es undenkbar, dass Miss Sophie ohne Bedienstete auskäme, auch wenn sich die genaue Anzahl der von ihr beschäftigten Dienstboten nicht unmittelbar erschließt. Andererseits lässt sich der Butler James jedoch als Zeichen einer Schwundstufe verblichener (bürgerlicher) Repräsentation begreifen, ist doch auch in England um 1900 die Rationalisierung der Haushalte soweit vorgedrungen, dass ein ›Mädchen für alles‹ die zuvor noch zahlreiche Dienstbotenschar zu ersetzen begonnen hat. 4 In jedem Fall verweist der Einsatz eines Butlers also auf eher konservative Gepflogenheiten, zumal männliche Bediente im Fin de Siècle längst eine Rarität darstellen. Um diese Figur nun etwas genauer einordnen zu können, ist ein zweiter Satz oder ein neuer Ansatz erforderlich.
4. Vgl. Dorothee Wierling: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin u.a: Diez 1987.
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Der Butler Die Funktion des Protagonisten James scheint eindeutig zu sein, weil schon in der Vorrede zum Stück vom einleitenden Kommentar durch den Fernsehansager Heinz Piper klar benannt: Er dient Miss Sophie als Butler. Obwohl das Aufgabenspektrum dieser Funktionsbezeichnung bereits durch seinen stereotypen Namen ›James‹ sowie die unzweideutige Berufsbezeichnung scheinbar offenkundig ist, sei es noch kurz von anderen den Domestiken eigenen Dienstfunktionen abgegrenzt. Insbesondere gilt es, den Butler streng vom Kammerdiener oder valet zu unterscheiden. Beide Dienertypen lassen sich letztlich als zwei bis in bürgerliche Kontexte durchgereichte Nachkommen einer Gruppe von Höflingen verstehen, die sich jeweils aus einem der vier mittelalterlichen Erzämter am Königshof ableiten. Während der Kammerdiener auf den Kämmerer und dessen Sorge um Schatulle und Garderobe des Souveräns, also letztlich auf den Verantwortungsbereich des Schlafzimmers zurückgeht, leitet sich die Funktion des Butlers aus dem Mundschenk und seinem Herrschaftsbereich innerhalb von Küche und Keller her. Der Begriff Butler wird im 12. Jahrhundert als anglisierte Form des hochmittelalterlichen bouteillier aus dem Französischen importiert und am englischen Hof eingemeindet, verbunden mit der ehrenvollen Aufgabe, den Herrscher exklusiv an der Tafel mit Wein, geistigen Getränken und Speisen zu versorgen. Nur folgerichtig kommt James im Dinner for one genau diesem Dienst geflissentlich nach. Im Laufe des 19. Jahrhunderts unterliegt das englische Dienstbotenwesen einem tiefgreifenden Strukturwandel. Während zur Jahrhundertmitte in großbürgerlichen Haushalten die Dienstfunktionen noch überwiegend in Händen männlicher Bedienter liegen und Herrschaften von Stand oder mit Aspirationen nach höherem Ansehen auf männliche Diener keineswegs verzichten können, erfahren diese prestigeträchtigen Funktionen, nicht zuletzt infolge der Absorptionskraft industrieller Beschäftigungsmöglichkeiten in der zweiten Jahrhunderthälfte, einen umfassenden Gender-Wechsel. Der Trend entwickelt sich einerseits dahingehend, die zuvor auf zahlreiche Akteure verteilten Dienstaufgaben – dazu zählen neben Butler, Kutscher, Koch und Aufwärter noch der Reitknecht, Pförtner, die Zofe, Hausmagd, Küchenmagd, Wäscherin und Haushälterin sowie das Zimmermädchen, Milchmädchen, Kindermädchen, von der Amme oder Gouvernante ganz zu schweigen5 – zu bündeln und an eine einzige Person, das dogsbody, maid of all work oder ›Mädchen für alles‹ zu delegieren. Andererseits geht infolge dieser Rationalisierung der vorwiegende Teil der 5. Vgl. Jonathan Swift: »Regeln für Dienstboten« [1745], in: ders., Satiren und Streitschriften, Zürich: Manesse 1993, S. 369-458.
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Aufgaben von männlichen Dienern auf weibliche über. Verstärkt wird diese Tendenz durch eine Steuer, die, in kurzen Abständen angehoben, jeden männlichen Bedienten mit einer besonderen Abgabe belegt.6 Kurzum, gegen Ende des viktorianischen Zeitalters ist der männliche Diener längst am Vorabend seines endgültigen Verschwindens angelangt, und die Beschäftigung eines Butlers ist gleichermaßen ein Symbol für eine gewisse Anhänglichkeit an vergangene Zeiten sowie das letzte Zeichen einer auf repräsentative Vornehmheit bedachten Noblesse, die sich längst im Niedergang befindet. In der sozialen Hierarchie eines Haushalts besetzt der Butler als head servant – nur selten ergänzt durch den noch ranghöheren house steward bzw. Gutsverwalter – eine entscheidende Position, die an der Schaltstelle zwischen Herrschaft und Dienerschaft angesiedelt ist. Seine Rolle ist die eines Übersetzers, der die Kommunikation zwischen beiden Welten regelt, indem er die Befehle der Herrschaft empfängt, sich dabei sogleich vom Befehlsempfänger und Subalternen zum befehlenden Herrn verwandelt, um die Anordnungen sodann an seine Untergebenen weiterzureichen. Äußeres Merkmal dieser kommunikativen Scharnierstelle ist das Fehlen einer Livree. Im Gegensatz zu den uniform gewandeten Bedienten darf sich der Butler in der Mode seiner Zeit kleiden. Dezenz ist dabei selbstverständlich, die jedoch durch besondere Akzente und Distinktionsmerkmale gebrochen, mitunter sogar durch kleine Geckenhaftigkeiten oder bewusste Makel wie auff ällige Krawatten oder unpassende Hosen konterkariert wird.7 Bereits in dieser Hinsicht kommt dem Butler eine gewisse Freiheit zugute, die er zur Ausnahme von der Regel zu nutzen verstehen kann. Zum primären Aufgabenbereich des Butlers gehören neben dem Empfang von Gästen das Öffnen der Haus- und Zimmertüren für die Herrschaften, die Sorge um die rechte Beleuchtung, also Lichtputzen oder Kerzen arrangieren. Allen voran jedoch ist er für das Präsentieren der Speisen und die Versorgung mit Getränken zuständig. Er wacht nicht nur über das gesamte ihm unterstellte Personal, sondern auch über den Weinkeller, schützt ihn vor unautorisiertem Zugriff, führt Buch über die Bestände, füllt den Wein vom Fass auf Flaschen, versteht sich zuweilen gar aufs Bierbrauen und trägt Sorge, dass die Herrschaften weder ein leeres noch ein beschmutztes Glas haben. Dabei gelten Reinlichkeit und Sparsamkeit als die höchsten Tugenden, wie sie etwa Jonathan Swift 1745 in ironischer Verkehrung neben zahlreichen anderen Kunstgriffen den Butlern seiner Zeit empfiehlt: »Wascht die Gläser in dem Wasser, das Ihr selbst gelöst 6. Pamela Horn: The Rise and Fall of the Victorian Servant, Dublin u.a.: Gill and Macmillan 1975, S. 25f. 7. Ebd., S. 77.
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habt, damit Ihr das Salz Eures Herrn sparsam verwendet.«8 In diesem Verantwortungsbereich, der von höchstem Vertrauen seitens der Arbeitgeber geprägt ist und nicht unbedingt durch eine allzu rationelle Verwendung von Urinbädern getrübt werden sollte, garantiert der Butler den verlässlichen und keineswegs verschwenderischen Umgang mit den alkoholischen Ressourcen. Sowohl die in einem Haushalt gültige, nicht selten schriftlich fi xierte Dienstbotenordnung als auch die gängigen zeitgenössischen Ratgeber sparen nicht mit Hinweisen, wie der Dienst eines Butlers vorteilhaft zu versehen ist. Noch einmal Swift: »Schenkt niemandem ein, bevor man Euch nicht mindestens dreimal gerufen hat. Das bewirkt, dass Euch die einen aus Zurückhaltung, andere, weil sie nicht mehr daran denken, weniger häufig rufen; auf diese Weise wird der Keller Eures Herrn geschont.«9 Indem er für gewöhnlich auf Zuruf seiner Gäste und Herrschaften reagiert – nach ihm wird, auch dies ein Privileg, nicht geklingelt, sondern nur gerufen –, ist der Butler demnach einerseits ein Befehlsempfänger und an seine technischen Gerätschaften, den Weinkeller und die Küche gebunden. Andererseits ist er auch Autorität und Befehlender gegenüber den anderen Dienstboten, zumal ihm im Laufe seiner Entwicklung mehr und mehr Supervisionsaufgaben zuteil geworden sind, die ihn schließlich zum unangefochtenen Oberaufseher der untergeordneten Domestiken, gleichsam zu einem facility and maintenance manager des Haushalts befördern. Der Butler besetzt die Schnittstelle zwischen upstairs und downstairs, er ist der kommunikative Knotenpunkt, der das versorgungstechnische Reich im Souterrain von den lichtdurchfluteten Salons oberhalb trennt. Und manchmal gerät er dabei sogar – wie im Topos der verkehrten Welt vielfach durchgespielt – zum eigentlichen Herrn im Haus, ohne den wenig geht und dem zugleich weitgehende Entscheidungsbefugnisse zugebilligt werden. Mit einem Wort: »In all establishments it is the butler’s duty to rule.«10 Wie sehr, nebenbei bemerkt, diese Herrschaft über die Beletage dem Butler unterliegt, zeigt sich auch im Dinner for One. Hier sind die anderen Bereiche des Hauses vollständig ausgeblendet, unterdessen möglicherweise gar ebenso ausgestorben wie der Freundeskreis von Miss Sophie. Jedenfalls bleiben sie bar jeder Andeutung den Blicken der Zuschauer entzogen. Die Speisen sind bereits angerichtet, stehen inzwischen erkaltet auf dem Büfett, und es liegt nahe anzunehmen, dass bei diesem moribunden Pärchen auf der Bühne längst schon (nichts und) niemand mehr im Unter-
8. J. Swift: Regeln für Dienstboten, S. 389. 9. Ebd., S. 384. 10. P. Horn: The Rise and Fall of the Victorian Servant, S. 77.
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grund kocht. Zumindest in der einen Hinsicht wird der Zuschauer am Ende eines Besseren belehrt. Während der Butler nur folgerichtig seinen Dienst an der Flasche verrichtet, leiten sich die Aufgaben des valet, Kammerdieners oder persönlichen Assistenten von der königlichen camera, also vom Schlafzimmer her, in dem sich neben den Kleidern und persönlichen Gegenständen des Intimbereichs auch die Schatulle des Herrschers befindet. Das Spektrum seiner Dienste reicht demnach von der Buchführung und Verwaltung der Finanzen bis hin zur Organisation des täglichen Auftritts. Dazu zählt seit alters her die Hilfe beim An- und Auskleiden des Herrn, gilt der Kammerdiener doch als Experte für Garderobenfragen ebenso wie für das Ausrichten von Festen.11 Bereits im Umfeld der habsburgischen Kaiser in Spanien, verstärkt jedoch noch am französischen Königshof, schwillt das Dienstpersonal seit dem 15. Jahrhundert immer weiter an. Ludwig XIV. schließlich beschäftigt nicht weniger als 32 persönliche Kammerdiener, die ihm beständig aufwarten, zusätzlich dazu stehen vier privilegierte, mit einer besonderen Vertrauensposition ausgezeichnete valets zur Verfügung, die nicht nur als Schatzmeister die geheime Kasse des Souveräns verwalten, sondern abwechselnd zu seinen Füßen mit ihm das königliche Bett teilen. Nicht von ungefähr kommt dem Kammerdiener dabei eine besondere Rolle zu, agiert er doch bevorzugt als Vermittler, indem er den Herrscher immer wieder mit – wie es heißt – ›liebenswürdigen Gegenständen‹, zu gut französisch also: mit Mätressen, zu versorgen hat.12 Die Vervielfältigung des Amtes, das in der Folge seiner Entwicklung zunehmend auch durch verdiente, nicht-adelige Personen besetzt wird, führt einerseits dazu, dass neben den tatsächlichen Subalternen die Bezeichnung als Auszeichnung an zu ehrende Subjekte vergeben wird. Diese Titularkammerdiener unterliegen der Befehlsgewalt und dem Hofzeremoniell nur bedingt, insofern sie keiner realen Aufgabe im Hofstaat nachkommen. Sie verfügen über größtmögliche Handlungsfreiheit. Dieses erweiterte Aktionspotential kommt jedoch andererseits auch den echten Kammerdienern zu, weil ihr auf zahlreiche Personen vervielfältigtes Amt dem jeweiligen Inhaber, insbesondere zu Zeiten der Abwesenheit des Herrschers, nahezu unbeschränkte Freiheit lässt, sich ökonomisch zu betätigen. Im Gegensatz zum Butler besitzt der Kammerdiener also am Hofe gleichermaßen wie im bürgerlichen Haushalt einen Handlungsspielraum beziehungsweise eine unternehmerische Freiheit, die ihn zum schöpferi11. Hermann Kellenbenz: »Der Kammerdiener, ein Typus der höfischen Gesellschaft«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 72, 4 (1985), S. 476-507, hier S. 503. 12. Ebd., S. 488, 495, 498.
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schen Entrepreneurtum befähigt. Er verfügt ungeachtet limitierender Vorschriften und frei von determinierenden Beschränkungen über eine spezifisch liberalisierte Handlungsmacht, die es erlaubt, sich in den Dienst der eigenen Sache zu stellen und dabei – zumindest temporär – weisungsungebunden, spontan und ohne Rückfrage gleichsam aus dem Stegreif zu agieren. Bei allen Unterschieden zwischen valet und Butler bleiben beide Ämter jedoch vor allem eines: Subalterne, die zum Wohl ihrer Herrschaft jederzeit zur Verfügung stehen. Demgemäß unterliegen beide Figuren auch den universalen Merkmalen eines Dieners, die sich in mindestens drei Positionen zusammenfassen lassen. Erstens, die unbedingte Einordnung in das Machtgefüge, die jeder Anweisung umstandslos Folge zu leisten erfordert. Jegliche Insubordination bleibt untersagt. Zweitens sind die an ihn ergehenden Befehle nicht nur als rein mechanische Pfl ichterfüllung zu verstehen, sondern ebenso als Problemlösungen, die nicht selten eines festgelegten Handlungsablaufs ermangeln. Ein Diener befindet sich stets in einem Möglichkeitsraum, der sich zwischen vorgeschriebenen Aktionen und autonomen Handlungsoptionen aufspannt, die er in ungewöhnlichen Situationen abzuwägen und je nach Lage zu entscheiden hat. Mit anderen Worten, ein Diener muss über eine gehörige Portion Kreativität verfügen, um den wechselnden Anforderungen seiner Pfl ichterfüllung gerecht werden zu können. Und schließlich genügt der Diener, drittens, dem paradoxen Gebot zur allgegenwärtigen Unsichtbarkeit, die ihn zugleich in die Position eines privilegierten Beobachters versetzt. Denn zur Prämisse eines tadellosen Dieners gehört es nicht zuletzt, die ihm zugeteilten Aufträge erledigen zu können, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Er genügt dem Paradox, anwesend zu sein, um seine Befehle zu erhalten, wobei er sich dabei gleichzeitig wie abwesend zu verhalten hat. Um nicht zur Störung im Ablauf der herrschaftlichen Geschäftigkeit zu geraten, bleibt seine eigenmächtige Intervention strikt untersagt und dennoch insgeheim erwünscht, etwa wenn es gilt, Peinlichkeiten zu antizipieren. Diese seltsame Konstellation von körperlicher Präsenz und geistiger Absenz spiegelt sich zudem ebenso in der diskursiven Überlieferung wider. Wenn zur Funktion des Subalternen gehört, seinen Dienst möglichst unauff ällig und unbemerkt vom eigentlichen Handlungsgeschehen zu versehen, so korrespondiert diese erwünschte Unsichtbarkeit mit einer praktischen Leerstelle in der historischen Überlieferung des Dieners aus erster Hand. Als Autor tritt der Bediente nämlich vor ersten zaghaften Versuchen im Laufe des 19. Jahrhunderts praktisch nicht in Erscheinung. Eine Beschreibung seiner Funktionen lässt sich also nicht unmittelbar destillieren. Man ist dabei vielmehr exklusiv auf eine Vermittlungsinstanz angewiesen, und dieses Medium ist die Literatur im emphatischen Sinne, sei es als Prosa 115
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oder sei es in dramatischer Form. Zumindest für die Epochen bis zum 19. Jahrhundert gilt, dass sich vor allem mit einer Durchmusterung des literarischen Motivs des Dieners Rückschlüsse auf seine Anforderungen und Eigenschaften erlangen lassen. Eingedenk des Umstandes, dass zwischen den realhistorischen Gegebenheiten und ihrer künstlerischen Bearbeitung eine Kluft besteht, die durch literarische Konventionen, rhetorische Strategien und erzählerische Topoi von der ›verkehrten Welt‹ über den ›naiven Bedienten‹ bis zum ›weisen Hanswurst‹ bestimmt ist, folgt das Motiv des Dieners in der Literatur also bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Strategien, die keineswegs deckungsgleich sind mit dem tatsächlichen Dienst innerhalb einer historischen Epoche. Nichtsdestoweniger kommt dem Diener als besonderer Gestalt in der Literatur wie auf der Bühne eine privilegierte Beobachterposition zu. Stellt er doch durch seine vorzüglichen Kenntnisse des Geschehens ein Bindeglied zwischen der Handlung und dem Rezipienten dar.13 Er spielt eine doppelte Rolle, einerseits wie vorgesehen in dem Stück, andererseits besitzt er durch seine intime Kenntnis der Herrschaften und ihrer Belange die Möglichkeit, den Leser oder Zuschauer direkt zu adressieren, um ihm – gleichsam aus einer Metaperspektive des privilegierten Wissens – den Gang der Dinge zu erläutern. Die privilegierte Position eines Subalternen findet sich bei James im Dinner for One nun in gleich zweifacher Weise bestätigt. Einerseits spielt der Butler im Stück nicht nur eine Rolle, sondern mindestens fünf, neben seiner Dienstfunktion bekanntermaßen noch die Herren Pommeroy, Winterbottom, Admiral von Schneider und Sir Toby. Andererseits bestätigt James die Eigenschaften eines virtuosen Butlers in seiner Kunst des Verschwindens, indem er im Rollenwechsel zwischen einem der Herren und seiner selbst stets unbemerkt zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit changiert. Allerdings erfolgt dieser ständige Wechsel ganz entgegen der Etikette und Gewohnheit, sind es doch die vier Gäste, die unsichtbar bleiben und nicht wie gewöhnlich der Butler, durch den sie allenfalls momenthaft in einer jeweils charakteristischen Weise in Erscheinung treten. Seitdem die Herren verschieden sind, kommt der Diener allein durch individuelle Trinksprüche und mehr oder weniger ostentative Gesten – »Skål!« – seiner über viele Jahre bestehenden Dienstanweisung nach, indem er die unsichtbaren Gäste durch ein stets leicht variiertes und dennoch unverwechselbares Handlungsmuster markiert. Welcher Logik dieser Topos der Unsichtbarkeit letztlich folgt und wo13. Rüdiger van den Boom: Die Bedienten und das Herr-Diener-Verhältnis in der deutschen Komödie der Aufklärung (1742-1767), Frankfurt a.M.: Haag + Herchen 1979, S. 77.
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mit dieser virtuos vollzogene personale Wechsel korrespondiert, sei nun abschließend anhand der jahrelang erprobten Gewohnheit analysiert, mit der aus dem Dinner for One ein Stück für zwei wird.
Die Routine So wie James beständig changiert zwischen seiner Funktion als Butler und den jeweiligen Rollen der vier Herren am Tisch, die sich zu jedem Toast der Lady höflich erheben, um ihren individuellen Trinkspruch zu erwidern, so ändert sich der Verhaltensmodus von James ebenso von der zuverlässigen Diensterfüllung eines Butlers, der ebenso gefl issentlich wie unscheinbar seiner Aufgabe des Ausschenkens nachkommt, unbemerkt zugunsten einer prinzipiell offenen Reaktion des Gastes, mit der die Erwartung einher geht, das Tischgespräch ein wenig zu beleben. Mit anderen Worten, James befindet sich in einem fortdauernden Dilemma, einerseits dem Regelvollzug seines Aufwartens nachzukommen, das ihm gemäß der Dienstbotenordnung nur höchst beschränkten Spielraum, eigentlich jedoch keine Handlungsfreiheit ermöglicht. Andererseits darf Miss Sophie von ihren Gästen ein Mindestmaß an Unterhaltung oder Überraschung erwarten, sei es durch eine leichte Variation des erwiderten Zuprostens, sei es durch eine mehr als ein Wort – »Skål!« – umfassende Stegreifrede zum Lob der Jubilarin. Mit seinem unvermittelten Rollenwechsel zwischen Butler und Gast schaltet James seine Verhaltensweise jeweils um zwischen gehorsamem Regelvollzug und unbestimmter Improvisation. Er oszilliert oder schillert gleichsam in einem Interimsraum zwischen Dienstpflicht und Gastrecht; und er durchmisst diesen Raum zwischen lösungsorientierter Handlungsanweisung und spielerischer Improvisation anfangs noch sicheren, zusehends jedoch synkopierten Schrittes. Nun ließe sich zurecht einwenden, dass es mit den Improvisationsmöglichkeiten bei den eher blassen Gefährten von Miss Sophie nicht weit her ist. Zum einen scheint ihr Gebaren zu Tisch auf ein über die vergangenen 25 Jahre gefestigtes Verhaltensschema zu rekurrieren. Auch hier gilt: »Same procedure as every year.« Zum anderen zeichnen sich die Mitglieder der Tischgesellschaft zudem durch eine gewisse Wortkargheit aus. Verblichene reden für gewöhnlich wenig. Aus diesem Grund sieht sich James als dienstbarer Butler, dem es ein Anliegen ist, es seiner Herrschaft recht zu machen, vor ein Problem gestellt, das nur durch eine gezielte Abweichung von der Regel gelöst werden kann. James delegiert kurzerhand den von ihm erwarteten Spielraum, der den Geburtstag erst zu einem besonderen Ereignis werden lässt, an eine andere Instanz. Erst mit deren Hilfe wird es
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möglich, die jahrelang eingespielte ebenso wie die alltägliche Routine zu durchbrechen. Die ermüdende Routine zu interpellieren, um an ihrer Stelle etwas anderes oder etwas anders zu machen, also spontan auf eine Situation zu reagieren, eine unvorhergesehene Wendung zu vollziehen, kurz: zu improvisieren, ist die unausgesprochene Aufgabe oder Strategie, mit der James der Abendveranstaltung etwas mehr Glanz zu verleihen vermag. Die jährliche und tägliche Routine zu durchbrechen, ist dabei durchaus wörtlich zu verstehen. Routine ist das Diminutiv von Route und bezeichnet den kürzesten Weg, der zwischen zwei Orten einzuschlagen ist. Routine ist die Wegstrecke, die der Butler zwischen Tafel und Büfett jedes Mal, tagaus, tagein, Geburtstag für Geburtstag, Jahr um Jahr, Gang um Gang, von Mulligatawny-Suppe bis hin zu Obst und Portwein durchquert, um seinen mehrheitlich virtuellen Gästen aufzuwarten. Und genau auf dieser Wegstrecke liegt jenes Objekt, das corpus delicti, an dem sich die Aufhebung der Routine, ihre Unterbrechung ganz buchstäblich ereignet. Die Rede ist, man ahnt es längst, vom Tigerkopf (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Aufforderung zum Sprung In diesem schlechterdings herausragenden Objekt, jener stumm hingestreckten Großkatze, manifestiert sich das Gegenstück zum notorischen Einerlei der Dienstbotengänge. Es ist zugleich Hindernis und Zentralge118
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walt, als stiller Protagonist des gesamten Einakters verkörpert es mit dem Tiger eine der höchsten Hierarchiestufen in der Natur. Zugleich dient das Objekt in seiner erlegten Form als Sinnbild imperialer Ordnung vor unterlegenen Kolonialreichbewohnern sowie als Vanitasmotiv, das die Vergänglichkeit dieser Ordnung symbolisiert. Jedes Mal sieht sich James, von dem eigentlich anzunehmen ist, dass ihm auf diesem Gang längst schon keine unvorhergesehenen Gegebenheiten mehr erwarten, erneut vor ein Problem gestellt. Ein Problem, lateinisch für ›das Vorgelegte‹, auf das er jedes Mal – es ist keine Jungfernfahrt, »same procedure as every time«, neu zu reagieren hat. Der Tigerkopf determiniert und stört die Routine, er verkörpert den Handlungszwang gegen die oktroyierten Regeln, zwingt zur Improvisation oder zur Beachtung. Nebenbei bemerkt, ein Reiz der Inszenierung durch Freddie Frinton liegt ohne Zweifel darin, dass James ein ums andere Mal überrascht scheint, den Tiger dort anzutreffen. Scheinbar weiß er nicht um seine Existenz und sieht sich in einem holprigen Lernprozess gezwungen, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Ist es die Amnesie des Alters oder kalkulierte Strategie, im Tiger ein gefundenes Fressen als Unterhaltungsfaktor vorzufinden?
Abbildung 2: James, levitierend Insgesamt 14 Mal quert James die kurze Wegstrecke zwischen Büfett und Tafel, wo der Tiger lauert. Sechsmal stolpert er über ihn, beim siebten Mal 119
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weicht ihm der Butler geschickt aus, um gleich darauf beim Rückweg erneut zu stolpern. Dann viermal: »same procedure as usual«. Beim elften Mal steigt er anmutig über ihn hinweg, um gleich beim nächsten Mal so heftig dagegen zu stoßen, dass der noch unangetastete Braten gegen die Wand schleudert. Nach einem kurzen Intermezzo der Normalität, anlässlich dessen James beim dreizehnten Mal ›ganz gewöhnlich‹ stolpert und spätestens damit einen buchstäblichen Running Gag geschaffen hat, erfolgt der große Schlusssatz (vgl. Abb. 2). Indem der Butler anhebt zum beidbeinigen Sprung über die Katze, zur kürzesten Verbindung, welche die Routine aufhebt, indem er also ansetzt zum eleganten Katzensprung, verschaltet er zugleich die zwei Handlungsweisen der Domestiken, überbrückt er die Kluft zwischen den beiden Grundtypen dienerischer Existenz, die in diesem Systemwechsel miteinander kurzgeschlossen werden. Die improvisierte Aktion wandelt ihn vom Butler zum Kammerdiener. Denn die Grazie dieser Bewegung adelt ihn gewissermaßen zum persönlichen Vertrauten, der Miss Sophie derart überrascht, dass er daraufhin von ihr zu den regulären Dienstfunktionen eines Kammerdieners bedenkenlos herangezogen werden kann. Vom Kämmerer zum Mundschenk, vom Kammerdiener zum Butler ist es auf der Schwundstufe domestikaler Beschäftigungen nur noch ein Katzensprung. Das gesamte Entfaltungspotential liberalisierter Handlungsautonomie beschränkt sich auf den Interimsraum im Dazwischen. Im Sprung selbst liegt die Kraft, so zu handeln wie es keine Regel im strengen Zeremoniell der Hof- wie Haushaltsordnung vorsieht. Erst in der scheinbaren Außerkraftsetzung des festgefügten Regelwerks entfaltet sich des Dieners Kunst, nach seiner Façon zu handeln, wenn er trotz Trunkenheit sich mit leichtem Fuße über die gravitätischen Regeln, verkörpert im dahin gestreckten Tiger, gleichsam in einem Anflug von Levitation hinwegsetzt. So wie James unmerklich die Positionen im Spiel mit den vier unsichtbaren Gästen wechselt, gelingt es ihm wie nebenbei, seine Position auf den Rangstufen der Domestiken zu verbessern. Er springt souverän zwischen den Ordnungen des Hauses, indem er im gezielten Satz über den Tiger unmerklich eine Hierarchiestufe bezwingt. Und dieses unvorhergesehene Tun, diese aus dem Moment heraus geborene Überwindung der Dienstordnung erhebt ihn nicht nur, sondern befördert ihn gleich auf eine andere Stufe der Domestiken, mehr noch: Sie befördert ihn gleich mehrere Stufen hinauf bis hinein ins Bett seiner Herrin. Nach all der Routine, die sich einstellt, insofern man das Stück jahraus, jahrein als Jahresendritual betrachtet, mag man sich fragen, warum der Einakter eigentlich (immer noch) komisch wirkt. In seiner berühmten Analyse über Das Lachen hat Henri Bergson die Umstände einer solchen 120
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Situation wie folgt bestimmt: »Das Komische an einem Menschen ist das, was an ein Ding erinnert. Es ist das, was an einen starren Mechanismus oder Automatismus, einen seelenlosen Rhythmus denken läßt.« 14 Zieht man demnach in Betracht, dass ein spezifischer Anteil der Komik nicht allein aus der Wiederholung und ihrer Variation resultiert, sondern vor allem aus der Bestimmung des Butlers als Ding, das den Gesetzen der Mechanik folgend sein Tun in reiner Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit absolviert, so liegt es nahe, einen weiteren Aspekt von Routine zu berücksichtigen, der innerhalb der ebenso determinierten wie begrenzten Handlungsweisen des Domestiken für ein Überraschungsmoment sorgt. Denn die Routine bezeichnet den kürzesten Weg nicht nur im Kontext von Kartographie, Navigation und Logistik, sondern die Routine steht auch am Anfang einer Geschichte des Computers. Mittelalterliche Rechenmaschinen wie der Abakus, vor allem aber das Kalkül auf Basis des Stellenwertsystems der indo-arabischen Ziffern und der Null sind ein Effekt der Routine. Ihre medienhistorische Urschrift setzt mit jenen zwei Traktaten ein, die arabische Ziffern und das Rechnen mit dem Stellenwert über die Handelsrouten von der Levante im Hochmittelalter nach Europa bringen. Namentlich sind dies das Liber Abbaci von Fibonacci Pisano von 1202 und Die älteste Schrift über das indische Rechnen nach al-Hwarizmi aus dem frühen 9. Jahrhundert. Und es ist letztere Schrift, die das darin diskutierte Verfahren, also das »regelgeleitete […] Operieren mit Zeichen in der Fläche«15, dank ihres Autornamens auf den Begriff Algorithmus bringt. »Wegbeschreibungen stehen am Anfang einer Geschichte der Routinen.« Und sie bilden damit zugleich den »Anfang einer Geschichte symbolischer Maschinen«.16 Nicht nur die einzelnen Handlungen eines Butlers, die sich jeweils fügsam den Dienstregularien zu unterwerfen haben, lassen sich als ein Algorithmus begreifen. Jegliches Tun, das einem festgelegten Regelschema folgt, fällt in diese Kategorie, die ihrerseits dem Prinzip einer klassischen Trias aus communication, command & control genügt. Dieses Prinzip des Regelvollzugs erlaubt für gewöhnlich keine Improvisation. Und doch ist für den Ausnahmefall, für die Auf hebung der Routine, für den Wechsel im Stellenwert oder den Kollaps der Regel vorgesorgt. Auch ein Algorithmus kann fehlgehen, gleichsam aus dem Takt geraten. Und es ist diese Störung 14. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen [1900], Frankfurt a.M.: Luchterhand 1991, S. 62. 15. Gloria Meynen: »Routen und Routinen«, in: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin: Diaphanes 2003, S. 195219, hier S. 210. 16. Vgl. ebd.
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im Getriebe des festgelegten Ablaufs, an der sich die Möglichkeit zur Improvisation eröff net, die eine unvorhergesehene Aktion aus dem Stegreif nachgerade erzwingt.17 Aus der notorischen Wiederholungsschleife, aus dem »same procedure as every year« kann der Butler James nur ausbrechen, indem er seinen eigenen Handlungsprozess, die eingespielte Routine unterbricht, das heißt, indem er seinem kürzesten Weg zwischen Tafel und Büfett eine kleine ›Pirouette‹ hinzufügt. »Same procedure« ist die Chiffre für die täglich befolgten Algorithmen der Diener.18 Und es ist ganz buchstäblich eine Übersprungshandlung von James, die ihn gezielt über den Tigerkopf hinwegsetzt 19, und mit der er die Routine aufhebt, um sich selbst einen neuen Spielraum zu eröff nen. Mit diesem Tigersprung durchmisst der Butler die beiden Pole seiner Seinsweise. Die These lautet demnach: Der Butler oszilliert gleichsam zwischen seelenlosem Rhythmus, in den ihn das starre Handlungsgerüst seiner Diensttätigkeit algorithmisch zwingt, und einem Modus besonderer Beweglichkeit, in den ihn der Moment der Störung zeitweise versetzt. Und dieser Modus übersteigt die üblichen Grenzen der Determination, indem er den Butler in einen Zustand erhebt, der ebenso mannigfaltige wie unscharf umrissene Handlungsoptionen freisetzt. Mit einem Wort: Im Gegensatz zum starren Algorithmus herrscht hier die fuzzy logic. Kaum nötig zu erwähnen, dass diese fuzzy logic nicht zuletzt bei der Entwicklung von Robotern zu Haushaltsdiensten vorzugsweise ihren Einsatz findet (vgl. Abb. 3). Wenngleich noch etwas ungelenk, wird künftig nur der elektronische Butler uns exklusiv aufwarten. Sein Handeln wird bestimmt durch ein Verhaltensmuster, das neben den vorhersehbaren Aktionen ebenso vielfältige Überraschungsmomente bereithält, das infolge seines oder fremden unvorhersehbaren Tuns zum Service und mithin zur Unterhaltung seiner Herrschaften dienen mag. Doch solche Akteure mögen die Zukunft der Robotik sein, noch sind sie
17. In modernen Programmiersprachen ist für diesen Fall ebenfalls vorgesorgt: Die Catch-Anweisung fängt die Störung mit Hilfe einer Exception zuverlässig auf. 18. »Same procedure« ist derweil ebenso, informatisch gedacht, der Aufruf derselben procedure in der procedure selbst, mit anderen Worten: eine Rekursion. Übertragen heißt das: Mit dem unsichtbaren Positionswechsel von James spielt Freddie Frinton ein Stück im Stück. 19. Vgl. zum historischen Zusammenhang von Tiger und symbolischen Kalkül nicht etwa nur die Bezeichnung einer Mac OS X-Variante, sondern auch Friedrich Kittler: »Ein Tigertier, das Zeichen setzte. Gottfried Wilhelm Leibniz zum 350. Geburtstag«, vgl. http://hydra.humanities.uci.edu/kittler/tiger.html vom 28. August 2009.
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ein Produkt der Zukunft. Noch holt die Schwerkraft den Butler James stets zuverlässig auf den Boden der zu befolgenden Tatsachen zurück.
Abbildung 3: Armar an den Armaturen
Literatur Adams, Samuel/Adams, Sarah: The Complete Servant. Being a Practical Guide to the Peculiar Duties and Business of all Descriptions of Servants […] with Useful Receipts and Tables, London: Knight & Lacey, 1825. Anonym: The Butler. His duties, and how to perform them, London: Houlston’s Industrial Library 1877. Beeton, Isabella Mary: Mrs Beeton’s book of household management, London: Ward Lock & Co. 1861/1888. Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen [1900], Frankfurt a.M.: Luchterhand 1991. Boom, Rüdiger van den: Die Bedienten und das Herr-Diener-Verhältnis in der deutschen Komödie der Aufklärung (1742-1767), Frankfurt a.M.: Haag + Herchen 1979. Ferry, Steven M.: Butlers & Household Managers: 21st Century Professionals, Charleston: BookSurge Publishers 2003. Horn, Pamela: The Rise and Fall of the Victorian Servant, Dublin u.a.: Gill and Macmillan 1975.
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Kellenbenz, Hermann: »Der Kammerdiener, ein Typus der höfischen Gesellschaft«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 72, 4 (1985), S. 476-507. Kittler, Friedrich: »Ein Tigertier, das Zeichen setzte. Gottfried Wilhelm Leibniz zum 350. Geburtstag (1996)«, vgl. http://hydra.humanities.uci. edu/kittler/tiger.html vom 28. August 2009. Mayr, Stefan: ›Dinner for one‹ von A – Z. Das Lexikon zum Kult-Vergnügen; erstmals mit Originaltext und Regieanweisungen, Frankfurt a.M.: Eichborn 2002. Meynen, Gloria: »Routen und Routinen«, in: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich, Berlin: Diaphanes 2003, S. 195-219. Swift, Jonathan: »Regeln für Dienstboten« [1745], in: ders., Satiren und Streitschriften, Zürich: Manesse 1993, S. 369-458. Turner, Ernest Sackville: What the Butler Saw. Two Hundred and Fifty Years of the Servant Problem. London: Michael Joseph 1962. Wierling, Dorothee: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin u.a: Diez 1987.
Abbildungsnachweis Abbildung 1: Film-Still aus Dinner for One, Deutschland 1963. Abbildung 2: Film-Still aus Dinner for One, Deutschland 1963. Abbildung 3: Vgl. http://wwwiaim.ira.uka.de/index.php?id=188 vom 28. August 2009.
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Collective Vir tuosity, Co-Competition, Attention Economy. Postfordismus und der Wer t des Improvisierens Kai van Eikels
»We sort of play. But it’s all hypothetical, somehow. Even the ›we‹ is theory: I never get quite to see the distant opponent, for all the apparatus of the game.« David Foster Wallace, Infinite Jest
1. Das postfordistische Votum für die Improv isation Zu jener Liberalisierung der Arbeit, der man den Namen Postfordismus gegeben hat, gehört es, dass zu einer bestimmten Zeit der Begriff der Improvisation in der Organisationstheorie auftaucht. Improvisieren entwickelt – so ein gemeinsamer Nenner der Definitionen – die menschliche Fähigkeit, auf ungeplante, so nicht vorhergesehene Situationen zu reagieren, zu einem eigenen Prinzip. ›Improvisation‹ steht für eine besondere Einstellung des Handelns, für besondere Handlungsformen und -techniken, für eine besondere Weise, Handeln wahrzunehmen, und ein besonderes Verständnis dessen, was Handeln ist – alles gewonnen aus der Beziehung zum Unvorhersehbaren, die das Reagieren auf Unvorhergesehenes eingeht.
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Die Unternehmen brauchen die improvisational skills ihrer Mitarbeiter in dem Maße, wie sie ihr Produzieren insgesamt als ein schnelles und flexibles Reagieren auf eine Marktsituation verstehen, die Erwartungen und Prognosen jederzeit Lügen strafen und sich überraschend wandeln kann. Wer an deregulierten Märkten agiert, improvisiert immer schon mehr oder weniger. Doch mindestens so wichtig wie dieses Umschalten von langfristiger Planung auf kurzfristige Anpassung an ein wechselhaftes komplexes Geschehen scheint die Überzeugung, das Improvisieren sei eine lustvolle Tätigkeit, etwas Spielerisches, das im selben Moment produktiv ist, in dem es den Agierenden erlaubt, sich in ihrem Agieren selbst zu genießen, ja dessen Produktivität ein Effekt des Selbstgenießens im Spiel ist. In dieser Effektivität des Spiels, das mit der Kraft des Selbstgenießens eine quasi unerschöpfliche Ressource verspricht, besteht für die Organisationstheorie ein Mehrwert des Improvisierens. Man ist sich durchaus im Klaren, dass Improvisation im Arbeitprozess keineswegs konstant gute, funktionale Lösungen erbringt. Man weiß, dass ein kluger Plan, stringent in die Tat umgesetzt, allemal zuverlässigere Resultate liefert als ein ausprobierendes Herumspielen mit Ideen oder Materialien. In Situationen, die für planvolles Vorgehen nicht die nötigen Voraussetzungen bieten (weil der Markt zu turbulent ist, zu wenig oder zu viele Informationen vorliegen, um planerische Entscheidungen zu treffen), könne sich improvisatorisches Vorgehen als der bessere Weg erweisen, heißt es. Aber das steht nicht fest, und eindrucksvolle Beispiele aus der Unternehmensgeschichte liegen bei aller Euphorie bislang nicht in ausreichender Zahl vor, um daraus Wahrscheinlichkeiten abzuleiten.1 Die Workflow-Designer des Postfordismus nehmen schließlich auch den engen Zusammenhang zwischen Improvi1. Ein Beispiel von nahezu mythischem Rang, das zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Improvisation in Unternehmen erwähnen, ist »der HondaFall«: Der japanische Hersteller plante in den 1990ern den Einstieg in den amerikanischen Markt für Schwermotorräder. Das Team, das in die USA geschickt wurde, fand den Markt von amerikanischen Herstellern nahezu vollständig besetzt, entdeckte aber, dass die Leichtmotorräder, die Mitarbeiter zum eigenen Gebrauch mitgenommen hatten, bei den Amerikanern auf großes Interesse stießen. Honda änderte daraufhin spontan die Strategie und hatte mit leichten Motorrädern in den USA großen Erfolg. Die ERP-Software R/3 von SAP, die als begrenztes System für mittelständische Unternehmen an technischen Problemen zunächst scheiterte und infolge der Änderungen zu einem weltweit erfolgreichen System für Großunternehmen wurde, ist ein weiteres Beispiel. Vgl. u.a. August-Wilhelm Scheer: Jazz-Improvisation und Management (= Veröffentlichungen des Institutes für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes, Heft 170), Saarbrücken: Iwi 2002, S. 1f.
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sation und Krisensituation wahr, die prekäre Nähe von glücklicher Hand und drohender Katastrophe selbst bei den historischen Erfolgsfällen wie Apollo 13. »[I]t is necessary to recognize improvisation as not inherently good or bad«, lautet daher eine Einsicht. 2 Oder, freiwillig oder unfreiwillig pointiert, die Bestimmung von Improvisation als »engaging in creative acts, regardless of whether the outcomes are novel, useful, or creative«.3 Wenn es in der organisationstheoretischen Literatur dennoch zu einem emphatischen Votum für die Improvisation kommt, und am Ende die Idealisierung über die Skepsis triumphiert, so erfolgt diese Idealisierung nicht auf der Ebene des Produkts oder Outputs, sondern im Zusammenhang einer Neubestimmung des Arbeitens durch etwas, was man als die innere Harmonie des Arbeitenden mit dem Prozess des Produzierens selbst ausgibt. Improvisation, an sich weder gut noch schlecht, ist nicht nur zu begrüßen, sie ist im Grunde längst unverzichtbar, weil sie einer Verschiebung des ökonomischen Wertes, ja der Dynamik von Wertschöpfung überhaupt entspricht – und einer Veränderung der Zeit, in der Bewertung sich vollzieht, durch diese Wertverschiebung. Die Formel dafür ist: Umstellung von einer auf die Fertigstellung des Produkts bezogenen Zeit auf eine Prozess-bezogene Zeit. Was das heißt, findet indes auch der organisationstheoretische Diskurs nur in experimentellen, mehr oder weniger glücklichen FormulierungsBricolagen heraus, deren Material er der ästhetischen Theorie und verschiedenen Kunst-Diskursen entnimmt. Improvisation »needs to be evaluated by the aesthetics of imperfection«, wird etwa gefordert. 4 Eine Relativierung des Vertrauens in das Produkt stülpt sich gleichsam um in ein Mehr an Vertrauen in den Prozess: »Improvisation is not about doing one right thing (output view), but about continuously doing right things (process view).«5 Die Lust am Austüfteln und an der Reflexion soll in einem Milieu, das Improvisieren begünstigt, der Lust am Experimentieren weichen: »An experimental culture is one that promotes action (as opposed to reflec-
2. Dusya Vera/Mary Crossan: »Theatrical Improvisation: Lessons for Organisations«, in: Organization Studies 25, 5 (2004), S. 727-749, hier S. 729. 3. Robert Drazin/Mary Ann Glynn/Robert Kazanjian: »Multilevel Theorizing about Creativity in Organizations: A Sensemaking Perspective«, in: Academy of Management Reviews 24, 2 (1999), S. 286-307, hier S. 287. 4. D. Vera/M. Crossan: »Theatrical Improvisation«, S. 738. Vgl. dazu Karl E. Weick: »The Aesthetic of Imperfection in Orchestras and Organizations«, in: Miguel Pina e Cunha/Carlos Alves Marques (Hg.), Readings in Organization Science: Organizational Change in a Changing Context, Lissabon: ISPA 1999, S. 541-564. 5. D. Vera/M. Crossan: »Theatrical Improvisation«, S. 738.
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tion) as a way to understand and deal with reality.« 6 Rationale Kriterien, folgert man, treten als Leitlinien des Handelns zurück gegenüber einem intuitiven Richtungssinn, wobei Intuition jedoch wiederum mehr sein müsse als ein bloßes Aus-dem-Bauch-heraus-Entscheiden, denn es geht nicht allein darum, was im Einzelfall entschieden wird (und ob es richtig oder falsch ist), sondern beim »continuously doing right things« auch um das Wie und das Wann des Entscheidens, um den Takt oder Flow einer Reihe von Entscheidungen, darum, ob sie miteinander und mit anderen Reihen zusammenstimmen. Bei der Intuition, der Schlüsselkompetenz für das Improvisieren im Arbeitsprozess, handelt es sich um ein Sensorium für das Zusammenhängen vieler Vorgänge in der spezifischen Gegenwart des Prozesses, um einen sense of synchronicity, der den Mitarbeiter befähigt, in accordance mit den anderen zu agieren, weil er sensibel ist für deren unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsrhythmen. »[T]hrough the effective use of improvisational processes, individuals and groups in organizations cope with and coordinate the conflicting demands of coexisting time perspectives.«7 Im Hinblick auf die Fragen nach dem guten, effektiven, gelingenden Improvisieren, die sich die Organisationstheoretiker stellen, verbindet sich so eine Bestimmung der Zeit im Zeichen forcierter Gegenwärtigkeit mit einer Bestimmung von Kollektivität. Die turbulente Zeit des Improvisierens verschränkt zwei Qualitäten von Gegenwärtigkeit: die Gegenwart eines ständig angeregten Zustands, der quasi pausenlos ein emergentes Mehr hervorzubringen bereit ist; und die volle, da sozusagen rückhaltlose Präsenz eines Sich-selbst-Genießens. Die Zeit des Improvisierens bei der Arbeit ist bloße Gegenwart, insofern diese Art zu arbeiten nicht darauf vertrauen kann, dass sich für das gerade Anstehende irgendetwas Maßgebliches aus der Vergangenheit ableiten lässt. Erfahrung und sogar Routine spielen durchaus eine Rolle, aber sie zählen nur insofern, als jede gelungene Aktion in der Vergangenheit einen Erfolg im Kampf gegen das Unvorhersehbare bedeutet, und man aus der Wiederholung solcher Erfolge lernen kann, wie man den Zufall mit sich selbst überwältigt. (Es gibt hier eine Vorstellung von Souveränität, die der Improvisierende erlangt, indem er seine Unterwerfung unter den Zufall in eine Figur des Heroischen wendet, als Knecht des Zufalls in die Selbständigkeit umkehrt, um mit Hegel zu reden – was aber niemals dadurch zu glücken vermag, dass er in unterschiedlichen Situationen nach demselben Schema verfährt: »To a partly 6. Mary Crossan/Miguel Pina e Cunha/Dusya Vera/João Cunha: »Time And Organizational Improvisation«, in: Academy of Management Review 30, 1 (2005), S. 129-145, hier S. 136. 7. Ebd., S. 129.
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novel situation the response is necessarily partly novel, else it is not a response.« 8) Und diese Zeit des Improvisierens ist ebenso bloße – oder man sollte hier vielleicht sagen: nackte – Gegenwart, insofern sie die Lust nicht aufschiebt, um sie tauschen zu können, wie Hegel dies als wesentlich für die Arbeit erachtete9 , sondern sich selbst als ein unverzügliches Genießen entblößt. Aus dieser Zeitbestimmung ergibt sich für die Arbeitenden die Notwendigkeit, die bloße/nackte Gegenwart als Ursprung, Wirklichkeit und Wirkungsmedium ihres Zusammenarbeitens zu erkennen. Mit dem Plan entfällt auch die Option eines geregelten Nacheinander, einer mechanisch stetigen Sequenzierung der Arbeit in ›Schritte‹ oder ›Vorgänge‹, die auf absehbaren Wegen von einem Mitarbeiter zum anderen wandern. Die kompakte und komplexe Gleichzeitigkeit einer unvorhergesehenen Situation und eines nicht aufgeschobenen Genießens ist beim Improvisieren alles, was die Beteiligten teilen. Vorher und Nachher; die Richtung von Abhängigkeiten; die Zerlegung längerer Abläufe in Phasen und deren Verteilung auf Zuständige; die Funktionshierarchien, die sich daraus ergeben; die Art und Weise, wie das die Beziehungen der Arbeitenden, ihre Autoritäten und ihren Status beeinflusst – das alles vertraut die Improvisation der Gegenwart an, in der sie selbst stattfindet (und begrenzt es darauf). Daher betonen sämtliche organisationstheoretischen Studien zu dem Thema, wie wichtig es sei, Improvisieren als kollektive Dynamik aufzufassen. Und zwar als eine kollektive Dynamik, die ihrerseits nicht auf vorgegebene Modelle davon bauen kann, was das Kollektiv ist, wie es aussieht und wie es strukturiert wird. Die kollektive Organisation (von Kollektivität) gehört 8. Stephen Leybourne/Eugene Sadler-Smith: »The Role of Intuition and Improvisation in Project Management«, in: International Journal of Project-Management 24 (2006), S. 483-492, hier S. 484. 9. Von aufgeschobener Lust zu sprechen, integriert den alten Topos von Arbeit als ponos, als Mühe und Plage und also Erfahrung extremer Unlust, in die Architektur eines bürgerlichen Subjekts, das in der Arbeit nicht mehr primär eine fremdbestimmte Notwendigkeit, sondern ein Element seiner Selbstbestimmung erkennen soll. Das Vorenthalten-Bekommen von Genuss wird zu dessen zeitlichem Verschieben, das der Arbeitende selbst autorisiert. Und er entschließt sich zur Arbeit nicht zuletzt, weil dadurch die flüchtige unmittelbare Lust des müßigen Lebens (die Hegel mit der ihm eigentümlichen Präzision des Widerwillens als »Wiederherstellung der Indifferenz und Leere des Subjekts« beschreibt) einem dauerhaften, relativ zeitbeständigen Besitz an Genussoptionen weicht, der es zudem erlaubt, Genüsse gegen andere zu tauschen. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »System der Sittlichkeit«, in: ders.: Frühe politische Systeme, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1974, S. 13-102, hier S. 20.
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zu den Leistungen, die Improvisation zum größten Teil erst zu erbringen hat, ohne dass eine andere Zeit dafür zur Verfügung steht als die des Improvisierens. Man kann Verabredungen treffen (und tut es in der Regel auch); aber was diese Abmachungen wert sind, ob sie gelten, ob man sie modifizieren oder sogar bewusst brechen muss, entscheidet sich erst im Vollzug. Improvisieren in einem postfordistischen Arbeitsmilieu verlangt von den Beteiligten, einen Sinn für die kollektive Dimension eines jeden Augenblicks zu entwickeln. Jemand, der auf Kosten anderer improvisiert, weil er nur seinem ›Bauch‹ folgt, nützt dem Prozess letztlich nichts, auch wenn seine Entscheidungen hinsichtlich der Marktsituation oder anderer ökonomischer Parameter sinnvoll sein sollten. Die Organisationstheorie zitiert Begriffe wie »attuning« oder »entrainment« (die der Synchronisierung zugrunde liegende Kopplung von Rhythmen). Und sie hebt die Bedeutung der Emotionen und Affekte hervor. 10 Das Sichöffnen der Arbeitenden füreinander wird nur gelingen, wenn es im Modus einer affektiven Selbstberührung, eines Genießens geschieht. Ich kann auf diese kaum von Regeln geleitete Weise gar nicht kommunizieren, sofern ich das Miteinander nicht genieße, sofern ein glückendes Ineinandergreifen unserer Aktionen mir nicht Lust bereitet, eine zusammen gefundene Überraschungslösung in einem zeitlichen Engpass oder einer heiklen Situation mich nicht zumindest ein wenig euphorisiert – und diese Euphorie im Team »überspringt«, »ansteckend« wirkt, von den anderen geteilt wird. 11
10. »As influence and persuasion replace authority as avenues for getting things done in de-layered organizations, relationships shift away from their former dependence on rationality towards emotional bases such as liking and interpersonal attraction. However, the importance of the emotional aspects is perhaps even more significant on the level of interactions than at the level of relationships. This would be particularly true for organizations that depend upon constant refiguration of project teams or that indulge in temporary alliances, networks, and other highly flexible, new organizational forms.« (Mary Jo Hatch: »Exploring the Empty Spaces: How Improvisational Jazz Helps Redescribe Organizational Structure«, in: Organization Studies 20, 1 (1999), S. 75-100, hier S. 89.) 11. Wer einmal ohne eigenen Wunsch an Improvisationsübungen teilgenommen oder versucht hat, beim Improvisieren eine skeptische, distanziert-abwartende Haltung zu bewahren, wird diesen Zwang zum (Mit-)Genießen erfahren haben: Nicht-Genießen blockiert die gesamte Dynamik.
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2. Improv isieren und kollektive Vir tuosität In den 1990er Jahren adaptiert die Organisationstheorie noch einen anderen Begriff, der zu dem der Improvisation in einer engen Beziehung steht: Virtuosität. Bei den Phänomenen, die im Lauf der Jahrhunderte unter den Begriff des Virtuosen gefallen sind, geht es um die Exzellenz eines Handelns in seiner Ausführung. Mit dem Virtuosen eröffnet sich im Handeln eine Perspektive der Steigerung, und zwar einer potenziell unendlichen Steigerbarkeit (denn während die herstellende Tätigkeit bis zur modernen Techno-Logik ständiger Perfektionierung von Produkten als eine endliche gedacht wird, die ihr Genügen in der Tauglichkeit des hergestellten Gegenstandes finde, nimmt man beim performativen, vollbringenden Handeln schon in der Antike das schlechthin Unbegrenzte seines »höchsten Gutes« wahr12). Dabei präsentiert sich diese virtuose Steigerung in einem irregulären und daher irritierenden Sinne als Mehr. Man kann sie nicht bündig auf die sozialen, kulturellen und technologischen Bedingungen zurückführen, die sie möglich gemacht haben. Der Virtuose erfüllt nicht zunächst geltende Standards, ehe er sie überschreitet, sondern er geht von der Überschreitung, von einem primären Mehr aus, überspringt das Solide und kommt auch niemals darauf zurück. In der virtuos vollführten Handlung gibt es einen Exzess des Wirklichen über das Mögliche bzw. Für-möglichGehaltene. Und dieses Exzessiv-Wirkliche ist es, was Zeugen virtuoser Performances oft als deren »wunderbare Leichtigkeit« beschreiben. Der Begriff der Improvisation stellt eine Möglichkeit dar, diesen Exzess des Wirklichen sprachlich, also rhetorisch zu technisieren, um aus einer rhetorischen Technizität Techniken abzuleiten, die das virtuose Mehr in einen Produktionsprozess einzugliedern erlauben. In diesem Sinne haben Virtuosität und Improvisation Phasen einer gemeinsamen Geschichte. In der europäischen Musik z.B. ist das Improvisieren auf der Grundlage (oder auch innerhalb) von vorgegebenen Strukturen spätestens seit der Renaissance eine prominente Form des Performens, durch die Virtuosität als solche in Erscheinung tritt. Andererseits enthält jede virtuose Performance ein improvisatorisches Moment, insofern der Virtuose von einer Freiheit des Vollziehens Gebrauch macht, die in vollem Maße (bzw. voller Unmäßigkeit) nur im Augenblick des Performens gegeben ist. Virtuosität führt in die abendländischen Konzepte des Handelns eine Ökonomie des Effekts ein: Wie immer es um die Grundlagen einer Handlung bestellt 12. Vgl. etwa die Unterscheidung von poiein, dem Herstellen, und prattein, dem Vollziehen, bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1140a2 und ff.). Dem Handeln, das nach einem solchen höchsten Gut strebt, eignet deshalb stets eine gewisse hybris, ein Sich-selbst-Überheben des Menschen.
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sein mag, gewisse Effekte davon lassen sich gemäß einer ökonomischen Dynamik der Handlungstechnik, des How-to-perform verstärken, vermehren, vervielfältigen und verfeinern. Und die Größe des Virtuosen zeigt sich dort, wo diese ökonomische Dynamik sich von den Determinierungen des Handelns durch Vorschriften, Vorlagen, Modelle oder Programme emanzipiert. 13 Die Ökonomik des Virtuosen selbst als Grenz-Figur einer unbedingten, sich verselbstständigenden Steigerung eignet sich also der Improvisation zu, denn das Ausgesetztsein des improvisatorischen Agierens in der Gegenwart der aktuellen Performance, die Suspendierung der Vorlagen und Pläne für die Ausführung verschaff t die Art von Freiheit, mit der Virtuosität sich identifiziert. Das Virtuose scheint dabei auch genau die angesprochene Verschränkung von zwei Aspekten emphatischer und dabei bloßer/nackter Gegenwärtigkeit zu antizipieren, die das postfordistische Votum für das Improvisieren bestimmen: die unverhältnismäßige Steigerung, die Erzeugung eines Mehr, das sich als irregulärer Effekt aus den Wiederholungen und regulären Steigerungen der technischen Routiniertheit ergibt; und zugleich die augenblickliche (und im Augenblick als solche ausgestellte) Konsumption dieses Mehr in Form eines Selbstgenießens durch den Performer in seiner Präsentation: Der Virtuose genießt vor den Augen seines Publikums die eigene Brillanz. Dieses Selbstgenießen ist im 19. Jahrhundert, der Blütezeit des Star-Virtuosen, die Quelle seines Charismas, seiner Kraft, die Leute im Publikum zu begeistern, sie in Aufruhr zu versetzen und in seinen Bann zu schlagen. Der eigentümlichen Verbindung von Selbstdisziplin und Selbstgenießen entspringt die Kraft des Virtuosen zu verführen. Und – was die Organisationstheorie auf den Virtuosen aufmerksam werden lässt – auch seine Kraft zu führen. Diese Führungskraft kommt, in einer bemerkenswerten Engführung von Kunst, Politik und Ökonomie, in der Figur des virtuosen Dirigenten zur Erscheinung, der um 1880 die Szene der musikalischen Performance 13. Die Freiheit des Virtuosen ist weder die Freiheit des Schöpfers (obgleich die Ästhetiken des 19. Jahrhunderts sich bemühen, den Virtuosen zu einem Performer-Doppel des genialen Schöpfers umzudeuten, um Virtuosität ästhetisch akzeptabel zu machen), noch handelt es sich um die Freiheit der Interpretation. Wo der Virtuose etwas produziert, was neu wirkt, tut er es inmitten einer Ausführungssituation. Und wo er mit dem, was er für seine Performance heranzieht, eigenwillig verfährt, ist diese Eigenwilligkeit nicht die der Interpretation eines Werkes (die stets dessen Integrität als Organon respektiert, sie höchstens ergänzt), sondern eine wesentlich organisatorische Willkür, die das Herangezogene nur als ein Arrangement von Teilen begreift und diese Teile nach Belieben weiter und anders teilt, statt sie ›werkgetreu‹ zusammenzusetzen.
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betritt und nicht mehr nur den Takt schlägt, sondern mit einer Vielzahl expressiver Gesten das Orchester beherrscht und zu einer zuvor offenbar nie gehörten klanglichen Präsenz treibt. Dieser neue Typ des Künstler-Dirigenten, der zugleich als ein narzisstischer Selbstdarsteller agiert und eine musikalische Produktionsgemeinschaft managt, avanciert in den späten 1970er und 1980er Jahren für Organisationstheorie und Management-Diskurse zum Ideal des Unternehmensführers. Das sog. Leadership by Enchantment legt es Managern nahe, ihre Untergebenen ebenso zu begeistern wie ein Dirigent seine Musiker und dabei auch die eigene Autorität von einer Frage der Hierarchie in »Charisma« zu verwandeln.14 Mitte der 1990er Jahre kündigt sich jedoch ein Paradigmenwandel an: vom Leadership by Enchantment zu Leadership as Collective Virtuosity – und damit vom Dirigismus zur kollektiven Improvisation. »Virtuosity is in such a context no longer a property of the aesthetically skillful individual, but the emergent property of the interaction of many aesthetically skillful individuals in an organization«, schreiben Mark Marotto, Bart Victor und Johan Roos, die ihre Vision des virtuosen Ensembles am Beispiel einer Chorprobe erläutern, wo in einer kritischen Situation, nachdem der Dirigent mehr oder weniger resigniert hat, die Sängerinnen und Sänger selber die Musik organisieren. John Kao, August-Wilhelm Scheer, Frank Barrett, Mary Jo Hatch u.v.a. schlagen vor, kollektive Improvisationstechniken wie das Jamming oder freiere Formen von Jazz als Inspiration für die »kreative Zusammenarbeit« im Unternehmen zu nutzen. 15 Ein anderer Bezugspunkt ist das improvisatorische Theater, besonders die Commedia dell’ arte. 16 Unter den performativen Künsten wählt die Organisationstheorie 14. Vgl. das sog. »neo-charismatic leadership paradigm«, das unmittelbar an die Thesen Max Webers zum Charisma anschließt, bei: Robert R. House: »A 1976 Theory of Charismatic Leadership«, in: James G. Hunt/Lars L. Larson (Hg.), Leadership: The Cutting Edge, Carbondale: Southern Illinois University Press 1977, S. 189-207; James M. Burns: Leadership, New York: Harper & Row 1978; Bernard M. Bass: Leadership and Performance beyond Expectations, New York: Free Press 1985. 15. Vgl. John Kao: Jamming. The Art and Discipline of Business Creativity, New York: Harper Business 1996; A.-W. Scheer: Jazz-Improvisation und Management; Frank J. Barrett: »Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Implications for Organizational Learning«, in: Organisation Science 9, 5 (1998), S. 605-622; Mary Jo Hatch: »Jazz as a Metaphor for Organizing in the 21st Century«, in: Organisation Science 9, 5 (1998), S. 556-557; dies.: »Exploring the Empty Spaces«. 16. Vera und Crossan führen als Argument für die Theater-Improvisation an, dass Theater im Gegensatz zur Musik keinerlei spezialisiertes Vorwissen be-
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also gerade diejenigen aus, die ein Ideal von Virtuosität kultiviert haben, bei denen jedoch nicht der einzelne Star-Virtuose im Mittelpunkt steht, sondern die Art und Weise, wie Performer interagieren. Dabei geht es in allen Konzepten um die Fähigkeit, zwischen den Rollen des Führenden und des Mit-Spielenden, Folgenden, Begleitenden, Unterstützenden hin und her zu wechseln (»developing the capacity to switch between the roles of leading and supporting«17). Wird der virtuose Solo-Performer dort, wo er in einem waghalsigen, akrobatischen Akt ein persönliches Limit überschreitet oder hinausschiebt, für sein Publikum zum Zeichen einer gemeinschaftsbildenden metaphysischen Initiative, 18 so avanciert dieses Grenz-Zeichen, mit dem die Performance sich einem Ereignis überantwortet, in der kollektiven Virtuosität gewissermaßen zum durchgängigen Mittel der Kommunikation. Kollektive Virtuosität versteht sich als eine Art gemeinsamer Arbeit an der Emergenz – und gemeinsam dank der Emergenz dessen, was sich allen Beteiligten als organisatorisches Band zwischen ihnen vermittelt. Die Mitglieder eines virtuosen Ensembles interagieren miteinander im optimalen Fall, indem jeder sich frei bis zu seiner eigenen Leistungsgrenze steigert, während er auf dem Weg seiner Steigerung diese Grenze kommuniziert, so dass die Szene seiner eigenen Steigerung am Limit zugleich den Einstieg für einen anderen konfi guriert. Jeder einzelne Mitarbeiter muss hervorragend, ja in seinem Bereich nach Möglichkeit der Beste sein; aber der Schritt zur Virtuosität führt nunmehr nötige, insofern sein Stoff »the materials of everyday interaction« sei und im Gegensatz zu Jazz nicht in einer speziellen kulturellen Tradition verwurzelt, sondern »a universal and timeless phenomenon« (D. Vera/M.Crossan: »Theatrical Improvisation«, S. 728). 17. M. J. Hatch: »Exploring the Empty Spaces«, S. 81. 18. Richard Sennett hat die These vertreten, die enorme Popularität und Autorität, die romantische Virtuosen vom Typ Paganini oder Liszt im 19. Jahrhundert erlangten, sei darauf zurückzuführen, dass man sie für eine besondere Art von Selbst-Management bewunderte: Eine Ansammlung von bürgerlichen Zuschauern, die hinsichtlich ihres Verhaltens in Anwesenheit anderer verunsichert und ängstlich sind, da niemand von ihnen mehr gewohnt ist, selbst eine öffentliche Persönlichkeit zu sein, erblickt im virtuosen Performer einen Meister des kontrollierten öffentlichen Kontrollverlustes. Insbesondere der Augenblick, in dem der Virtuose an die Grenze seines technischen Vermögens geht und riskiert, vermeintlich oder tatsächlich zu scheitern, versammelt die Anwesenden zu einer Gemeinschaft, die sich im Zeichen der Überschreitung durch diesen außergewöhnlichen (aber doch aus der Mitte des Publikums kommenden) Einzelnen bildet. Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.: Fischer 142004, S. 252-280.
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über das Teamwork, über die Begegnung in den »empty spaces«, die ein jeder den anderen lässt, wo er sich am äußersten Punkt seiner Selbstentfaltung zurücknimmt (und nicht den reinen Ego-Trip, sondern diese Wendung des Zurücknehmens genießt).19 Dort, wo sie dem virtuosen Mehr als einem exzessiv Wirklichen hinterher jagt, das sich nur im Selbstgenießen des Performers fassen lässt, geht die Organisationstheorie sogar noch einen Schritt weiter vom Zweckrationalismus der geplanten Umsetzung weg und kehrt ihre Fragerichtung um. Früher lautete die Frage: »Wie können wir jemanden stärker motivieren?« D.h., wie können wir ihn dazu bringen, mit Lust (und folglich mit größerem persönlichem Einsatz) das zu tun, was für die Produktion notwendig ist? Es ging darum, das Genießen mit einem Motiv zu versehen, um es auf Ziele auszurichten, die vom Produktionsablauf her vorgegeben waren und fest standen. Nun fragt man eher so: Wenn wir die Leute dabei beobachten, was sie aus eigenem Antrieb tun, aus reiner Lust am Vollzug oder an der Perfektionierung, am Erleben und Genießen des eigenen Könnens und Wissens – wie können wir dieses Tun für unsere Produktion nutzen? In den Fokus der Aufmerksamkeit geraten Aktivitäten, die Mitarbeiter außerhalb oder am Rande der Arbeit kultivieren, zu der sie durch ihren Job genötigt sind: ihre Freizeitaktivitäten, von denen Soziologen seit längerem auff ällt, dass diese immer stärker von einer Lust an der Leistung angetrieben werden, aber mehr noch ihre informellen Gespräche untereinander, ihre Kommunikationen im Firmen-Intranet und im Internet, in den realen oder ›virtuellen‹ Peer-to-Peer-Netzwerken, die den Arbeitsplatz umspannen und durchziehen.20 19. »Der Erbe des Virtuosen unterm Monopol ist der, welcher am präzisesten ins team sich einpaßt«, schrieb der Jazz-Hasser Adorno schon lange vor dieser Wende in der Leadership-Theorie. »Soweit er individuell hervorragt, geschieht es nach dem Maß der Funktion, die er im team erfüllt, im idealen Falle dadurch, dass er sich auslöscht, stürzt, um dem Ball das goal zu verwehren und dem Kollektiv zu dienen.« (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (= Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 327.) 20. So ergaben einige Untersuchungen in den späten 1990ern, dass Mitarbeiter in größeren Unternehmen schwierige Aufgaben gern informell mit Kollegen besprachen, die in anderen Abteilungen beschäftigt und also offiziell nicht auf das Aufgabengebiet spezialisiert waren, tatsächlich jedoch häufig die größere Expertise bewiesen als die Zuständigen. In vielen Fällen bestätigte sich die Hypothese, dass der kompetenteste Mitarbeiter für ein Aufgabengebiet nicht in der dafür zuständigen Abteilung saß, sein Know-how also irregulär (und zumeist während seiner Arbeitszeit und zu Lasten seiner Zuständigkeit) gewonnen
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Besonders die kollektiven Formen, in denen sich diese außerplanmäßige Produktivität verwirklicht, sind ihrerseits in hohem Maße improvisiert. Temporäre »Communities of Practice« erscheinen hier anstelle fester Gruppen mit institutionellem Status.21 Solche lockeren Assoziationen bieten ihren Mitgliedern offenbar ein emergentes, aus der Dynamik des Interagierens selbst hervorgehendes Mehr, das deren jeweilige Handlungsdynamik verstärkt, und die Organisationstheorie ist bemüht, sich diese Dynamik rhetorisch anzueignen und sie zumindest zu identifizieren, da man sie nicht herstellen kann. Prominent in diesem Zusammenhang ist seit Ende der 1990er Jahre der Begriff des Schwarms – einer kollektiven Formation, die Form ist und im ständigen Wechsel die Form wahrt, ohne einer Formalisierung, einer Repräsentation des Ganzen als Ganzes zu bedürfen. Diese Form scheint aus nichts als Wendungen zu bestehen, die Mitglieder des Kollektivs dem, was andere tun, geben. Die kollektive Aktion geht aus lauter Reaktionen hervor; und zu diesem Reagieren, so weit man es auch zurückverfolgt, kommt es im Modus eines improvisatorischen ad hoc: Es gibt keinen Plan und keinen Planer. Der »Ursprung« von Schwarmaktivitäten, so dieses Wort hier überhaupt noch einen Sinn ergibt, ist die als Gelegenheit wahrgenommene, als Einsatz für eine virtuose Steigerung genutzte Verlegenheit eines Reagieren-Müssens. Die Motivation, die diese »collective virtuosity« unterhält, ist die Lust an der geglückten Reaktion und die Verwandlung dieses Glücks in Anerkennung dadurch, dass ein anderer auf die eigene Reaktion reagiert und sie dadurch in ihrer Richtigkeit bestätigt. Und Motivation meint hier keinen äußeren zielgerichteten oder zielrichtenden Eingriff mehr, sondern ein aus dem Prozess selbst erfolgendes Sich-Versehen mit Motiven, mit kurzfristigen Ziel- oder Richtungsobjekten.22 hatte. Ehe man daraus den systematisch relevanten Schluss zog – dass nämlich eine bestimmte, hochgradig eigen-motivierte Performance-Steigerung sich etwas abseits, am Rande definierter Kompetenzen entfaltet – kam es in einigen Unternehmen zum kurzschlüssigen Versuch einer Zentralisierung dieser Randphänomene: Es wurde die gesamte bisher zuständige Abteilung entlassen und durch den tatsächlichen Spezialisten aus der anderen Abteilung ersetzt. Was nicht gut funktionierte. 21. Vgl. Etienne Wenger: Communities of Practice. Learning, Meaning, and Identity, Cambridge: Cambridge University Press 1998. 22. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Schwarm-Konzepten im Kontext sozialer, politischer und ökonomischer Organisation siehe Kai van Eikels: »Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten – Bewegungsmuster als soziale und politische Organisation?«, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München: Fink 2007, S. 33-63; sowie Gabriele
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Die Konzepte, die den Schwarm als kollektiven sozialen und ökonomischen Leistungsträger preisen und als Management-Modell empfehlen, profitieren von menschlichen Projektionen, die das Naturphänomen eines Vogel-, Insekten- oder Fischschwarms zu einem Schauspiel der Bewegungslust, der spielerischen Verausgabung und ihres Genießens werden lassen.23 Schwarmbewegung fasziniert durch ihre Ornamentalität, durch ihre wesentliche Umwegigkeit, die das Improvisatorische als ein ständiges Produzieren von performativen Überschüssen, von Schlenkern, Arabesken, kollektiven Bewegungsornamenten in Erscheinung treten lässt. Und eben diese Steigerung aus der Umwegigkeit, die Schwarmbewegung so suggestiv veranschaulicht, will das postfordistische Workflow-Reengineering für die Arbeitstätigkeit erreichen. Die Organisationstheorie spricht von »ornamented improvisation« und ihrer Potenzierung der »slight alterations«.24 Was man früher einen Nebengewinn der Arbeit genannt hätte – die Lust am Gelingen und am Besser-Werden beim Gelingen-Machen und die Freude an den vielen kleinen persönlichen Wendungen, die der Arbeitende in den Arbeitsprozess einfügt (und deren Zeit er der Arbeitszeit entnimmt) –, rückt mit solchen Überlegungen ins Zentrum des ökonomischen Wertschöpfungsprozesses. Die Organisatoren der Arbeit wollen Zugang zum Selbstgenießen der Tätigen. Improvisation spielt also für die Organisation von Arbeit im 21. Jahrhundert eine so wichtige Rolle, weil sie jener Ökonomisierung des Genießens zu helfen verspricht, mit der Postfordismus die Entgrenzung der Arbeit betreibt und zugleich das Entgrenzte so zu binden versucht, dass es sich nicht mehr als Nebengewinn realisiert, sondern als ein ökonomisch produktiver Effekt. Ein Konzept der Improvisation, das in die Selbstbestimmung von Arbeit integrierbar sein soll, hat die Aufgabe, aus den vielen kleinen Abweichungen der individuellen Tätigkeiten eine kollektive Performance zu Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007. 23. Vgl. z.B. Kevin Kelly: Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization, Reading: Addison-Wesley 1994. Zum Zusammenhang der Ästhetisierung des Tierschwarms und der Ökonomie der spielerischen Verausgabung vgl. K. van Eikels: »Schwärme«, S. 40f. 24. Vgl. M. Crossan et al.: »Time and Organizational Improvisation«, S. 133 – mit der Anmerkung: »The word ›ornamentation‹ comes from jazz improvisation, where it refers to improvised performances in which musicians make slight alterations to music. Similarly, when discussing levels or degrees of improvisation, organizational researchers have used the term ornamentation to describe improvised behavior that results from minor adjustments to a routine.« (Ebd., Anm. 1)
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rekonstruieren, die das Projekt gewesen sein wird. Idealerweise wird das Ziel dieses Projekts sich gefunden haben, wenn es erfüllt ist. Das Nachdenken über Improvisieren in der Organisationstheorie folgt damit sozusagen zwei Richtungen zugleich. Und die Widersprüche, die dabei immer wieder auftauchen und die man wegzuerklären oder diplomatisch wegzuformulieren trachtet, gehen auf die doppelte Ausrichtung des hybriden Vorhabens zurück, Produktivität organisiert zu steigern, indem man sich das exzessiv Wirkliche eines selbstorganisierenden kollektiven Geschehens aneignet: Während die postfordistischen Konzepte des Improvisierens einerseits die Frage stellen, ob man Ziele so definieren könne, dass sie durch Improvisation einholbar seien, legen sie es andererseits darauf an, die Lust an der spielerischen Freiheit so an ein Prinzip Erfolg anzuschließen, dass improvisatorisches Agieren von sich aus zur ökonomischen Wertschöpfung tendiert, unabhängig davon, wie das einzelne Resultat jeweils ausfällt. Und in dieser zweiten Perspektive zeichnen sich die tiefgreifenderen Veränderungen ab. Denn wie in anderen Bereichen auch erfolgt hier die Ökonomisierung bei der Improvisation nicht primär als Ausbeutung von etwas ›eigentlich‹ Ökonomiefremdem (eines ›unschuldigen‹ Improvisierens in den Künsten etwa). Sie bedient sich jener ökonomischen Kräfte, die der improvisatorischen Dynamik selbst bereits innewohnen. Die Aneignung des Improvisierens durch den postfordistisch organisierten Arbeitsprozess verschärft und kanalisiert jene sozio-ökonomische Determinierung des Performens, die niemals auf sich warten lässt, wo Menschen kollektiv improvisieren.
3. Die Internalisierung des Zeitdrucks Wer improvisiert, kommt in den Genuss einer besonderen Freiheit – einer Freiheit des Vollziehens, die sich dort zu entdecken gibt, wo Akteure auf der Augenhöhe ihres aktuellen Agierens eine Aufmerksamkeit dafür entwickeln, in welchem Maße sie etwas, was sie tun, auch etwas anders tun können. Dieses etwas anders kann sich im kollektiven Wechselspiel so potenzieren, dass die Abweichungen, die »slight alterations«, einen ungemein weiten und gehaltvollen Spielraum erschließen. Die Freiheit des Improvisierens kommt aus der Potenzierung des etwas anders. Sie ist »freedom granted by implicit structures«.25 Jazz stellt hier insofern einen privilegierten Bezugspunkt dar, als eine seiner kulturellen Leistungen darin besteht, die Strukturen implizit zu machen, sie in einem way of performing zu internalisieren: 25. M. J. Hatch: »Exploring the Empty Spaces«, S. 83.
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»[J]azz musicians do not accept their structures as given. They believe that the appropriate attitude to structure is one of finding out what you can get away with. Thus, jazz musicians interpret their structures as loosely as possible, maximizing ambiguity and the potential for interpretative multiplicity. […] The freedom imparted by not having to play structural features means that the musician can play around them, and this encourages creativity. That is, not playing structures creates space to improvise and this produces the framebreaking attitude that creativity theorists argue provokes the creative imagination. It also inspires innovation and change. In jazz terms, however, notice how framebreaking means using the frame to step outside the frame.«26 26. Ebd. Übrigens nimmt die Diskussion, ob die Übertragung zwischen JazzPerformance und Arbeitsperformance als solche ›legitim‹ sei, in der organisationstheoretischen Literatur einigen Raum ein. Es wird gefragt, ob es sich dabei lediglich um eine Metapher handelt oder um den Transfer von Konzepten, ob das Verständnis von Jazz bei den Übertragungen adäquat ist oder ob die Organisationstheorie einzelne Aspekte aus dem Zusammenhang reißt, einseitig betont, verzerrt. Andererseits gibt es Einwände von Jazz-Musikern, die sich gegen die Übertragung richten, oder Kritik daran, dass bestimmte Formen und Spielarten von Jazz privilegiert würden (vgl. z.B. Michael H. Zack: »Jazz Improvisation and Organizing: Once More from the Top«, in: Organization Science 11, 2 (2000), S. 227-234). Für die Wirkung der organisationstheoretischen Diskurse auf die Praxis der Organisation von Arbeit spielen derartige Kriterien von Legitimität und Adäquatheit aber offensichtlich keine große Rolle. Und auch eine Kritik, die lediglich darauf pochte, dass hier etwas Irreguläres und also Unstatthaftes geschieht, glitte an der Praxis ab (immerhin sind einige der erfolgreichsten kulturellen Praktiken aus irregulären Synthesen oder Übertragungen hervorgegangen, ja ist Hybridisierung wahrscheinlich eins der mächtigsten kulturellen Prinzipien überhaupt). Entsprechend wird es hier nicht um eine musikwissenschaftliche Perspektive auf das Phänomen ›Improvisation im Jazz‹ in seinen zahlreichen Entwicklungsstufen, Facetten, Widersprüchen und Problemen gehen, sondern um die Überschneidungen und Diskrepanzen verschiedener Diskurse des Improvisierens in Management und Kunst – um ihre Ideen, Projektionen, Phantasmen und Konzeptualisierungen, ihr Imaginäres, ihre Eigendynamik auf der Ebene des Symbolischen, ihre Rationalisierungen usw. Hingewiesen sei jedoch darauf, dass die Übertragung von Begriffen und Vorstellungen keineswegs ausschließlich vom Jazz zur Organisationstheorie verläuft. In einem Beitrag mit dem Titel »Musik und Lebensweise« spricht Heinz Steinert bspw. von Jazz-Ensembles als »Arbeitsbündnissen«, und es hat wiederholt Versuche gegeben, Jazz-Performance im Lichte verschiedener Lebens- und Arbeitsbereiche zu bestimmen (vgl. Heinz Steinert: »Musik und Lebensweise«, in: Wolfram Knauer (Hg.), Jazz und Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte des Jazz, Hofheim: Wolke 2002, S. 105-122).
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Was die organisationstheoretische Literatur zwar nicht ausblendet, aber doch verharmlost oder womöglich absichtsvoll missinterpretiert, ist die Rolle des Zeitdrucks für die performativen Ornamente des »playing around«, die sich entlang solcher Leerstellen und der von ihnen provozierten Abweichungen bilden. Das Prinzip Improvisation verfügt offenbar, dass etwas Improvisiertes immer die unverzügliche Antwort auf ein Reagieren-Müssen ist. Wie verhält sich dieses Müssen dann zur Freiheit des Improvisierens? Kompromittiert es sie? Schränkt es sie ein? Oder bringt es sie als eingeschränkte erst hervor? Entspricht das Ausgesetztsein in einer Gegenwart, deren Gegenwärtigkeit die Verpflichtung zum Reagieren enthält, jener Dialektik von Freiheit und Geworfenheit, die Sartre in L’être et le néant von Heidegger übernahm und in eine Ethik des Wählens übersetzte? Oder ist das Pathos der Passivität, das ein Wort wie »Geworfenheit« erfüllt, hier fehl am Platz? Ist die Passivität vielleicht überhaupt eine konstruierte? In diesem Zusammenhang wäre nach der Relevanz der katastrophalen oder kritischen Situation für eine Ökonomie des Improvisierens zu fragen. In den organisationstheoretischen Darstellungen improvisatorischer Arbeitsprozesse dominiert die Vorstellung, der Zeitdruck sei ein von außen auferlegter, quasi ein Rest Produktorientierung in der Prozessorientierung, den man nicht los wird, da es schließlich doch immer eine Deadline gibt. Das scheint zunächst plausibel. Die Mehrzahl der Mitarbeiter-Teams in den Firmen und der Freelancer leben ja mit solchen Markierungen. Dabei gehört es schon fast zum guten Ton in einem »hoch dynamischen Business«, mit der Katastrophe zu kokettieren, an deren Rand man sich angeblich oder tatsächlich bewegt. Die Projekt-Ökonomie hat eine halb ironische Erotik der (Beinahe-)Katastrophe kultiviert und dazu einen halb ironischen Stolz auf das Hinkriegen, das dicht am Misslingen vollbrachte Gelingen.27 Man spricht so eigentlich ständig von einer tendenziell katastrophalen Situation und erkennt jene ›Normalität der Ausnahme‹ an, die das postfordistische Unternehmen für Leistungen überhaupt reklamiert, da es eine Norm vom Typ des guten Durchschnitts nicht kennen will. Dieses kleine diskursive Symptom ist für die Dynamik des postfordistischen Arbeitens dabei durchaus aufschlussreich: Der Verweis auf die Katastrophe wandelt sich von einer Referenz auf externe Zwänge (die Zeit als objektive, gnadenlos voranschreitende Bewegung) zu einer internen, selbstreferenziellen Figur, die an der Organisation der kollektiven Performance mitwirkt. Die Arbeitenden motivieren sich gegenseitig durch solche Hinweise, signalisieren aber auch Schwankungen, moderieren eine Stimmung, gestalten 27. Markig formuliert: »Das Richtige liegt neben dem Falschen.« (A.-W. Scheer: Jazz-Improvisation und Management, S. 13f.)
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ihr Milieu. Das heißt, der Zeitdruck ›von außen‹ wird zu einem Element des Spiels selbst. Und die Vorstellungen und Verbalisierungen von knapper Zeit als Deadline, »time to market« oder »time to customer« metonymisieren so zusehends einen inneren, im Prozess des Improvisierens von diesem generierten Zeitdruck – und verschleiern zugleich die Herkunft und Funktion dieses Zeitdrucks. Um zu verstehen, worin die ökonomische Disposition des Improvisierens besteht, die postfordistische Konzepte aufgreifen, gilt es jedoch gerade diesen immanenten Zeitdruck zu beachten, der aus der prozessualen Organisation selbst kommt. Er zeigt sich sogar da am stärksten, wo der Prozess das Produkt ist und endlose Steigerung an die Stelle der Ablieferung tritt (bzw. das Intervall eines Noch-Mehr sich selbst im Augenblick des Ablieferns ad infinitum redupliziert). Improvisation am Arbeitsplatz verlange eine Umstellung der Orientierung von »linear time« oder »clock time« auf »event time«, heißt es. Es gehe um »inherent tempo« und »feeling right«.28 In der Tat kommt es zu einer kollektiven improvisatorischen Dynamik nur, insofern die Beteiligten von dem Termin, der ihrem Agieren eine definitive Grenze setzt, ein Stück weit absehen, eine gewisse Gleichmütigkeit vorlegen, zunächst einmal so tun, als hätten sie genügend Zeit, um etwas zu probieren, sei es durch strategische Verdrängung oder durch ironische Beachtung. Doch zugleich müssen sie den Zeitdruck so internalisieren, dass er von einer negativen äußeren Grenze (»ab dann nicht mehr«) zu einer positiven inneren Beschleunigungskraft (»und jetzt«) wird. Das kollektive Einander-Ablösen von der terminierten kalendarischen Zeit, das Umschalten von repräsentativer »clock time« auf performative »event time« ist ökonomisch effizient nur, wenn es mit einer Verinnerlichung jener Panik einhergeht, die angesichts des von außen Drohenden lähmt, so aber nun plötzlich mobilisiert. Die Herrschaft eines vorab über das Ganze verhängten Schlusses, wie »clock time« sie symbolisiert, zieht sich im Zuge dieser Internalisierung in die leise, aber unablässige Mahnung zurück, dass die Mitglieder eines Ensembles ökonomischer Performer, wie gut auch immer sie aufeinander eingespielt sein mögen, sich niemals kollektiv gehen lassen dürfen. Sie übersetzt sich in eine Frage der Selbstdisziplin. Und eine das Selbstgenießen austragende und ihrerseits von diesem getragene Selbstdisziplin ist in der Tat die vielleicht wichtigste ökonomische virtus des Improvisierens. Das gilt bereits für Virtuosität in den performativen Künsten: Ob ›Leidenschaft‹ wie beim romantischen Virtuosen oder Coolness und provozierende Lässigkeit wie bei Jazz-Virtuosen – das Exzessive, die riskierte oder ge28. Vgl. M. Crossan et al.: »Time and Organizational Improvisation«, S. 134ff.
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suchte Nähe zum Kontrollverlust trägt dank einer extremen Selbstdisziplin zur Steigerung und Erweiterung von Kontrolle bei (und noch die Ausnahmefälle, wo es tatsächlich schief geht, markieren die enorme Reichweite der Selbstdisziplin). Eben diese Verbindung von erspielter Freiheit und erhöhter Kontrolle macht die kollektive Virtuosität, die Improvisieren entwickeln kann, für die Ökonomie interessant. Denn wenn es so etwas wie ein organisationstheoretisches Credo gibt, dann lautet es: Mehr Dynamik durch mehr Kontrolle durch mehr Dynamik… Das Verhältnis zur Zeit beim Improvisieren sieht es auf eine solche wechselseitig induzierte Verstärkung ab. In dem Maße, wie improvisatorische Performance die äußeren zeitlichen Begrenzungen für den Augenblick vernachlässigt, um daraus die für das Spiel, für die vielen kleinen Umwege nötige Gelassenheit zu den Dingen (und sich selbst) zu ziehen, bestimmt sie das Reagieren zur Instanz einer unausweichlichen Erhöhung von Selbstdisziplin. Die Freiheit dieses kollektiven Improvisierens geht auf eine lose Bindung starker Selbstdisziplinen zurück. Das Beschwingt-Gelöste im Umgang miteinander, die von Leerstellen gleichsam an ihren Gelenken gelockerte Interaktion ist möglich, weil die gesamte Herrschaft von der Struktur (und ihrem Erfinder) an die Performanz des Reagierens übergegangen ist. Howard Rheingold hat performative Communities als »ad-hocracies« bezeichnet.29 Dieser Ausdruck triff t auch für Teams improvisierender Performer zu: Kollektives Improvisieren erhebt den Augenblick – oder das Augenblickliche – zur Herrschaftsform. Und alles, was es zur Ausübung dieser Herrschaft braucht, ist dem Performativ des Reagierens einprogrammiert. Für die Ökonomie kollektiver Virtuosität wären daher das Ornament und die Selbstdisziplin(ierung) zusammen zu denken, und das auf andere Weise als bei den vormodernen Disziplinen der Performance im Zeichen des Ornaments wie dem höfischen Tanz oder dem romantischen Ballett: Das Ornamentale der improvisierten Aktion, der performative Schlenker, der das Improvisieren in oder an ihr erst als ein solches zum Vorschein bringt, präsentiert mit dem Ornament, wiewohl dieses Umweg ist, eine Figur der Verkürzung und Beschleunigung, eine Figur der Unverzüglichkeit, die sich unter dem steten Zwang herausbildet, den Anschluss nicht zu verpassen. Das Ornament hat in der improvisierten Handlung oder Bewegung keineswegs die Freiheit, sich in sich selbst zu verlieren. Es ist nicht barock, nicht verschwenderisch, üppig, schwer und ausladend, sondern von der elastischen Schlankheit eines nervösen Zitterns, das sich kollektiv 29. Vgl. Howard Rheingold: Smart Mobs – The Next Social Revolution, Cambridge: Perseus 2002, bes. Kapitel 3 »Computation Nations and Swarm Supercomputers«.
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zum Groove stabilisiert. Es besitzt gewissermaßen kein zeitliches Volumen, denn es hat sich durchweg auf der Höhe einer Präsenz zu halten, deren zeitliche Konfiguration das Format der Präsentation bestimmt: Die Performer präsentieren (sich) mit dem, was sie tun (und dem, was sie nicht tun). Ihre Leistung für das Team besteht nicht zuletzt in ihrem Beitrag zur gemeinsamen Präsenz. Und nachhaltige Präsenz wird in der wesentlich flüchtigen Gegenwärtigkeit von Performance nur denen zuteil, die sich unentwegt steigern, sich mit dem, was sie fortfahren zu tun, auf der Höhe einer Steigerung halten. Das »jetzt« des »und jetzt« impliziert immer schon ein »etwas mehr als eben noch«, enthält immer schon eine Steigerungsprognose. Jede Reaktion reagiert bereits auf zukünftige Veränderungen, indem sie diese als Option der Steigerung wahrnimmt; sie sagt, wie Benjamin es mit den Worten Turgots pointierte, die Gegenwart voraus.30 Der Anschlussdruck, dem die kollektiven Virtuosen sich aussetzen und der die Steigerungsdynamik ihres Aufeinander-Reagierens stimuliert, bestimmt das Vergehen der Zeit selbst als Vollstreckungsinstanz eines Urteils. Die ›Lebendigkeit‹ der kollektiven Improvisation verrät sogar in ihren verlangsamten Phasen etwas von dieser prinzipiellen Hektik, weil das Spiel seine Performativität unter das Verfahrensgesetz einer In-timeEvaluation, einer Bewertung von Performance durch Performance stellt. Die Zeit zur Reflexion des Wertes, heißt das, wird rigoros beschnitten.31 Diese Verknappung der Reflexion ist ein wichtiger Effizienzfaktor, den die Konzepte des improvisierenden Arbeitens in ihrer Aufwertung von Intuition, Experiment, action einkalkulieren. Und in diesem Sinne enthält die beim und mit dem Improvisieren prozessierte Vorstellung davon, was ein kompetentes Reagieren ist, die Exekutive einer Herrschaft vom Typ der »ad-hocracy«: Menschen an ihrem Arbeitsplatz zur Improvisation anzuhalten, läuft darauf hinaus, sie nicht nur zur unentwegten Entscheidung, sondern auch zur unentwegten Bewertung der Entscheidung zu nötigen – sie in diese Not einzubinden, als deren Ursache nicht ein Vorgesetzter oder eine Institution erscheint, sondern die derart assessokratisch eingerichtete Zeit, die vergeht. Improvisieren ist, in seiner postfordistischen Variante, ein assessokra30. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 598. Dies ist im Übrigen auch die Pointe des Begriffes Proaktivität im Zusammenhang mit Improvisation und Arbeit – »if one understands proactivity as a reaction to a socially constructed vision of future changes« (M. Crossan et al.: »Time and Organizational Improvisation«, S. 135). 31. Eine sehr idealistische Beschreibung dieses Urteilens findet sich bei Christopher Dell: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002, S. 168-170 und S. 175ff.
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tisches Performativ. Assessokratie nenne ich eine Herrschaftsform, wo die Ausübung von Macht wesentlich den Prozessen des Bewertens überantwortet ist und wo Bewertung existenziell in dem Sinne ist, dass es keine stabile Unterscheidung von Anerkennung und Bewertung mehr gibt. In ihrer bürokratischen Periode bringt die Assessokratie die Figur des Gutachters hervor, dem sie die Kompetenz zur Bewertung (von Kompetenz) überträgt. Doch letztlich scheint sie darauf hinauszulaufen, die Gutachter-Funktion zu liberalisieren, sie als eine Rolle in das Kompetenzprofi l des Performers selbst zu integrieren. Damit diese Integration erfolgen kann, ist es wichtig, die Lust, das Selbstgenießen der Arbeitenden in die Dynamik des Entscheiden-Bewertens einzubeziehen, die kollektive Performance mit einer libidinösen Ökonomie des Begehrens nach der Macht des Bewertens und der stimulierenden Erregung des Bewertetwerdens zusammenzuschließen. Das kollektive Virtuos-Werden, das Improvisieren induziert, findet sich daher verdoppelt und redeterminiert durch ein allgemeines Gutachter-Werden. Der Gutachter ist hier kein spezifischer Status, kein Beruf oder keine professionelle Tätigkeit für sich, sondern eine Performance-Figur, eine integrale Funktion der Evaluierung von Performance durch Performance. Jeder, der es als Improvisierender überhaupt zu einer Anerkennung bringen will, muss in und mit seiner Performance diese Figur des Gutachters übernehmen. Er muss im selben Maße, wie er selber Entscheidungen triff t, die andere zu überraschenden Wendungen veranlassen sollen, die eigene Urteilskompetenz inszenieren, indem er den Ereigniswert der anderen durch das bewertet, was er daraus macht.32
4. Ver teilung von Aufmerksamkeit und Bewer tung Man kann sagen, dass im postfordistisch organisierten Arbeitsprozess der immanente, nur in der sozialen Dynamik selbst objektivierte Anschlussdruck in der Kommunikation jene Entfremdung der Arbeit exekutiert, die sich auf der organisatorischen Ebene als einzelnes Moment nicht mehr findet. Es sind nicht allein die Deadlines oder kurzen Evaluationszeiträume 32. Gutachter zu sein ist schon in einer bürokratischen Assessokratie eine zusätzliche Zumutung an den Performer (der Gutachter entstammt stets demselben professionellen Feld wie der Begutachtete) ebenso wie ein Privileg (dito). In engster Verschränkung von Zumutung und Privileg wird die Kompetenzbewertungskompetenz im Prozess der Liberalisierung verteilt – und ein improvisierendes Kollektiv erwirkt hier im optimalen Fall die ›freieste‹ Verteilung.
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von Projekten, die deutlich machen, inwiefern die zur freien Selbstorganisation überantwortete Zeit für die Arbeitenden doch eine fremdgesteuerte bleibt oder neuerlich wird. Es ist die soziale Szene, auf der dieses ArbeitenImprovisieren stattfindet – eine Szene, auf der die anderen nicht mehr die Sartresche Hölle sind, aber als Ko-Virtuosen co-competitors, Kooperationspartner und Konkurrenten, und vor allem Gutachter. In einem improvisierenden Ensemble, wo die Performer in ihrem Spiel aufeinander reagieren, stellt jede dieser Reaktionen im selben Moment eine Beurteilung dar: Die Art und Weise, wie ein Performer auf das, was ein anderer tut, reagiert, evaluiert dessen Performance. Die Reaktion ermittelt den Wert dessen, worauf sie reagiert, und ihr allein obliegt es während des Performens, das zu tun. Jedes Reagieren stellt ein Urteil dar und erwartet seinerseits ein unverzügliches Urteil, denn die Reaktion hat, auch als Urteil, nur den Wert, den eine andere Reaktion ihr zumisst. »Musicians are constantly being evaluated by one another and by audience members.«33 So versteht sich der schon angesprochene Rollenwechsel im improvisierenden Team. Jazz, wie die Organisationstheorie ihn auffasst, ist nicht orchestral, sondern eine durchweg solistische Kunst. Aber er definiert das Solo neu, gibt ihm eine kollektive Bestimmung: Jazz-Performances lassen Raum für abwechselndes »soloing«, während die Mitspieler sich auf ein »comping« oder »feeding« beschränken.34 Die ›Legitimität‹ der zeitweiligen Führerrolle wird zu einer Sache der mit-geteilten Kompetenz: »The legitimacy of the soloists’ ›authority‹ thus derives from their expert skill and ability to blend their competence with that of the other members.«35 An diesem Punkt ist die Identifi kation von Jazz-Improvisation und Teamarbeit in den Beschreibungen der Organisationstheorie am stärksten. Und in dieser Engführung konkretisiert sich auch die für den improvisatorischen Workflow geforderte »Ästhetik des Imperfekten«: Je rückhaltloser die Bewertungskriterien der freien Dynamik des Bewertens anheimgestellt werden, die mit dem Performen selbst koinzidiert, desto mehr hängen Autorität und Status eines Performers von dem ab, was die Übrigen 33. Ingrid Monson: Saying Something. Jazz Improvisation and Interaction, Chicago/London: University of Chicago Press 1996, S. 94f. 34. »Soloists encourage the exchange of ideas by leaving space in their playing for other musicians to make suggestions, for instance they may leave gaps between their melodic phrases, or play their chords ambiguously by leaving out certain notes that would distinguish one chord from one or two others.« (M. J. Hatch: »Exploring the Empty Spaces«, S. 79) 35. Ken Kamoche/Miguel Pina e Cunha: »Minimal Structures: From Jazz Improvisation to Product Innovation«, in: Organization Studies 22, 5 (2001), S. 733-764, hier S. 747.
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daraus für sich an Wert zu schöpfen vermögen. Ein Fehler, der den Betreffenden desavouiert, und ein origineller Einfall, der seinem Prestige zugute kommt, vielleicht einen legendären Ruf begründet, unterscheiden sich im Zweifelsfall nur durch die Reaktionen der anderen: »Accomplished jazz musicians know that mistakes are defined by their context, so, if someone plays a ›wrong‹ note, changing the context can save the situation and, in the best cases, produces a novel idea.«36 Oder, mit den Worten des Saxophonisten Jeff Clayton: »we paint ourselves in and out of corners all the time«.37 Es gibt in einem Improvisationsprozess weder definitiv Richtiges noch definitiv Falsches, da alles, was jemand tut, prinzipiell unter Vorbehalt steht und seinen Wert erst von dem her erhält, was es dann bewirkt hat. »Continuously doing right things« bedeutet unter solchen Umständen: unablässige Bereitstellung einer positiven Bewertbarkeit in der Selbstpräsentation gegenüber den anderen. Das Bewertbarkeitsmanagement, d.h. die Steuerung möglicher Fremdwahrnehmungen im Selbstverhältnis, tritt an die Stelle des schlichten Es-gut-Machens. Virtuoses Performen im Team beruht wesentlich auf der Fähigkeit, in jedem Augenblick einzuschätzen, was ich für die anderen wert bin (bzw. was das, was ich gerade tue, für das, was sie tun, wert ist). Was wiederum erfordert, mich selbst und mein Agieren in der Perspektive ihrer Selbststeigerung zu beobachten. Und das alles a tempo, nicht als zeitraubendes Ausrechnen, sondern mittels einer sozio-ökonomisch disponierten ›Intuition‹. Ob und wie die Mitspieler bzw. Mitarbeiter reagieren, verweist dabei auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit im Team. Improvisierende Kollektive, in denen jeder auf dem technischen Niveau eines Solisten agiert, stellen hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit ihrer Mitglieder. Die Interaktionsdynamik ergibt sich daraus, wie die einzelnen Akteure ihre Aufmerksamkeit verteilen. »Ideally, each musician listens to all the other players all the time they are performing a tune. Nevertheless, many musicians freely admit that they reach this ideal only once in a while, primarily when they achieve peak moments of jazz 36. M. J. Hatch: »Exploring the Empty Spaces«, S. 79f. Was bedeutet es dann etwa, wenn ein Musiker etwas, was ein anderer spielt, ignoriert? Es kann sich um ein vernichtendes Urteil handeln oder aber um eine inspirierende Provokation – abhängig davon, wie der erste Performer seinerseits darauf reagiert, wie seine eigene Evaluation das Urteil des anderen bewertet, wie die Übrigen sich zu dieser Wechselbewertung verhalten usw. 37. Zitiert nach Alessandro Duranti/Kenny Burrell: »Jazz Improvisation: A Search for Hidden Harmonies and a Unique Self«, in: Ricerche di Psicologia, 27:3, (2004), S. 71-101, hier S. 84f.
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performance. At other times, the musicians will concentrate on listening to one or two of the players intensely, often shifting their focus from one player to the other as the tune develops.«38
Gleichheit ist hier also ein Ideal, das nur die Spitzenperformance, die große (und mythische) Ausnahme erreicht, während die Realität des Performens, das sich bis zur Spitze zu steigern versucht, mit einer ungleichen Verteilung der Aufmerksamkeit zurechtzukommen gebietet. Welche Faktoren beeinflussen jedoch, welchen anderen Performern ein improvisierender Akteur wie viel von seiner Aufmerksamkeit widmet? Und was sind die Wirkungen dieser Quantitäten von Aufmerksamkeit für die Interaktion? Offenkundig spielt die spezifische Form des kollektiven Produzierens (der »tune«) eine Rolle: das Schweifen der Aufmerksamkeit und ihre Dosierung folgt bestimmten Rhythmen, die teilweise konventionalisiert sind, teilweise vorweg vereinbart wurden, teilweise sich als Gefühl für den richtigen »groove« oder »flow« in der jeweiligen Situation quasi naturalisieren. Doch hinter alldem steht eine sozio-ökonomische Dynamik der Anerkennung: »A high degree of commitment is achievable since jazz musicians see themselves as members of a highly autonomous, interdependent and mutually enriching unit – their commitment is predicated on their inherent stake in the success of the performance, upon which their reputation and integrity depends.«39
Und die dynamischen reputation systems des kollektiven Improvisierens geben in der Tat Anlass, über den Begriff der Anerkennung neu nachzudenken.
5. Die Figur eines Dr itten und deren Einsparung Der »Kampf um Anerkennung«, von dem Hegel in seiner Jenaer Realphilosophie gesprochen hat und in dem Axel Honneth die Grundlage sozialer Dynamik erblickt, ist heute kein Kampf. 40 Er ist seiner Dynamik und seiner Situation nach Konkurrenz. Beides gleichzusetzen oder zu verwechseln, gehört zu den begrifflichen Manipulationen des sozio-ökonomischen 38. M. J. Hatch: »Exploring the Empty Spaces«, S. 80. 39. K. Kamoche/M. Pina e Cunha: »Minimal Structures«, S. 746. 40. Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.
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Denkens. Die Situation des Kampfes wäre das Einander-Gegenüberstehen (oder Einander-Umkreisen) zweier Parteien, was eine mehr oder weniger symmetrische Beziehung schaff t. Die Situation des Konkurrierens hingegen zieht einen Dritten hinzu – oder vielmehr geht sie von diesem Dritten aus, kommt auf ihn als auf den Ersten zurück und verweist die beiden Parteien ihm gegenüber auf die Positionen von Bewerbern um die Stelle des Zweiten: Beide bieten etwas an, beide erbitten dessen Bewertung; und ihr Stand als konkurrierende Bewerber ist um vieles schwächer, als der eines Kämpfers, selbst eines aussichtslos Unterlegenen, es jemals sein könnte, denn sie müssen nicht nur besser sein als der Mitbewerber, sondern das Statement ihrer Überlegenheit zugleich in der Sprache einer Unterwerfung unter die Kriterien dieses Dritten/Ersten formulieren. 41 Die Verhaltensforschung hat bei sog. »Ultimatum Games« entdeckt, dass in symmetrischen Konstellationen von Tausch- und Verteilungsprozessen Motive des Kampfes wie Fairness, Gerechtigkeit, Würde oder Ehre das Verhalten moderner Menschen leiten, keineswegs das Streben nach dem materiellen Vorteil. Jemand, der einem anderen auf gleicher Ebene gegenüber steht, akzeptiert eher einen materiellen Verlust als einen ungleichen Gewinn, der ihm als unzureichende Anerkennung seiner Person (d.h. seiner Gleichheit) erscheint. In Wettbewerbssituationen dagegen, wo eine Mehrzahl von Parteien um den Deal konkurrieren, prägt die Orientierung am materiellen Vorteil deren Verhalten; es wird sogar ein sehr ungleicher Abschluss zugunsten des Dritten akzeptiert, solange man dadurch den Zuschlag vor den Konkurrenten erhält. 42 Konkurrenz, heißt das, be41. Man sollte das Wort »Bewerber« in »Wettbewerber« nicht überhören. Die Performativität des Konkurrierens ist bestimmt durch die formale Disposition des Zugangs-zu. Jeremy Rifkin hat behauptet, dass nicht mehr der Besitz von, sondern der Zugang zu Ressourcen in der postindustriellen Epoche über Macht, Einfluss, Prestige entscheide (vgl. Jeremy Rifkin: The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism, where All of Life is a Paid-for Experience, New York: Tarcher/Putnam 2000). Vergleichbares gilt für das Handeln selbst: Nicht mehr das Handeln, sondern der Zugang zu Handlungsfähigkeit bestimmt das Profil des Erfolgs in einer Performance-Gesellschaft, und das Konkurrieren von Performern verinnerlicht diese Indirektheit: Wer immer etwas tut, bewirbt sich damit um den Zugang zu seiner eigenen Fähigkeit, dies als Leistung zu vollbringen. Diesen Zugang kann er sich nicht selbst verschaffen (indem er mit dem Es-Tun schlicht demonstriert, dass er es wirklich kann); er bedarf dazu eines Dritten, der ihm die Kompetenz zuerkennt, es zu tun, d.h. der die Tatsache, dass er es getan hat, im Sinne eines Kompetent-Gewesenseins bestätigt. 42. Vgl. Michael S. Alvard: »The Ultimatum Game. Fairness, and Cooperation among Big Game Hunters«, in: Joseph Henrich (Hg.), Foundations of Human So-
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wirkt mittels situativer Einflüsse die Umstellung von Gleichheit auf Ungleichheit. Und Konkurrenzsituationen sind zwischen Menschen ebenso konstruiert wie symmetrischer Kampf oder Tausch. Die Analyse des Improvisierens, die ich hier skizziert habe, fügt dem eine weitere Schlussfolgerung hinzu: Konkurrenz vollendet sich in Kooperation. Sie bedarf eines Übergangs vom Gegeneinander zum Miteinander, um zu bleiben, was sie für alle Zeit sein soll. Sie bedarf dieses Übergangs, um jenes Ende zu vermeiden, das beim Kampf die Entscheidung wäre: der Sieg des einen, die Niederlage des andern. Ökonomische Prozesse sind darauf angelegt, end-los weiterzugehen, den Mangel, der sie motiviert, in jedem Gewinn zu erneuern. Ihr letztes Stadium ist deshalb nicht der rücksichtslose Monopolkapitalismus, der das Soziale zerstört, sondern dessen Transformation in eine Sozio-Ökonomie, die das Streben nach Vorherrschaft von der Ebene zwischen den Akteuren in das Selbstverhältnis eines jeden Marktteilnehmers verlagert. Ökonomische Vernunft begreift es schon lange als ihre Aufgabe, destruktive Kräfte in eine Dynamik einzubinden, wo sie produktive Effekte hervorbringen. Das kapitalistische Szenario der Konkurrenz rechtfertigt sich nicht zuletzt damit, dass es die bislang erfolgreichste Lösung für diese Aufgabe sei: Vom Kampf wird lediglich dessen Affekt, die Aggression, abgeschöpft, um eine Form zu beleben, in der mehrere Wettbewerber um eines Vorteils willen gegeneinander agieren. Sie werden also der Entscheidung beraubt, die der Kampf bringt, und verpflichtet, das Gegeneinander fortzusetzen. Ab einem bestimmten Punkt fügt sich dem die Anforderung ein, im Zuge dieser endlosen Fortsetzung auch das Miteinander zu organisieren, denn ohne Ende gibt es für jeden vorstell- und antizipierbaren Ausgang der Konkurrenz ein Nachher, in dem die Konkurrenten doch weiter am selben Markt agieren. Hat Aggressivität unter Marktakteuren als treibende Kraft einen positiven Ruf, ist ihre destruktive Tendenz doch problematisch, wo sie auf eine Entscheidung, ein »auf Leben und Tod« hinaus will. Der Tod ist im Kapitalismus tabu. Das Monopol, die »Marktherrschaft«, ist kein Sieg und darf es nicht sein. Spätestens in dem Moment, da sich so etwas wie ein siegreiches Finale abzeichnet, muss der erfolgreiche(re) Wettbewerber sein Handeln auf die Zeit nach dem ausrichten, was der eigene Sieg und die Niederlage der Konkurrenten gewesen wäre; und eben durch die immanente Umorientierung im Vollzug der Konkurrenz selbst unterbleibt der Sieg, wird er zugleich übersprungen und aufgeschoben: Eine ›neue‹ Herausforderung tritt an die Stelle der alten, in der die
ciality: Ethnography and Experiments in 15 Small-Scale Societies, Oxford: Oxford University Press 2004, S. 413-435.
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alte, die nicht bis zum Ende ausgekämpft wurde, gleichwohl weiter besteht und ihrerseits darauf wartet, wieder die neue zu werden. Die Szenen von Konkurrenz und Kampf mögen einander in gewissen Momenten überlagern, und die kapitalistischen Mythen erzählen sich zumeist in der narrativen Form einer solchen Überlagerung und walzen diese Momente zu einer mythischen Zeit aus. Doch maßgeblich für die Konkurrenz ist ein Symmetriebruch, der mich und den anderen (oder uns alle, denn anders als die Parteien des Kampfes sind die Konkurrierenden beliebig zu vervielfältigen) unentwegt von der Position eines Gegenübers entfernt – ein Bruch, der im Falle des Konkurrierens um Anerkennung durch jeden Beteiligten hindurch geht, weil jeder, der Anerkennung zuteil werden lässt, in dieser Situation den Status eines Dritten erhält, d.h. sich der zum Bund oder zum Schlag ausgestreckten Hand des Zweiten entzieht. Den Status eines Dritten will sagen, dass keineswegs drei Personen auf einer Szene des Konkurrierens um Anerkennung anwesend sein müssen. Sobald wir in die ko-kompetitive Ökonomie der Anerkennung eintreten, begegnet mir jeder andere, gerade auch der Konkurrent, in der Perspektive eines Dritten, ist seine Position von dieser Perspektive eingenommen. Und ich selbst bekleide ebenfalls diese Position. Dritter zu sein, ist dann kein von den Konkurrierenden abgehobenes Profi l, das einzelnen Beteiligten vorbehalten bliebe (das wäre der fest nominierte, an der Konkurrenz selbst nicht teilnehmende Gutachter vom Typ des Schiedsrichters). Es ist eine Rolle, die jeder, soll er in der Konkurrenz um Anerkennung Aussicht auf Erfolg haben, ebenfalls zu spielen verstehen muss. Eben diese Fähigkeit, gleichzeitig als ›Zweiter‹ und als ›Dritter‹ am Ort einer möglichen Outperformance zu sein, macht Kompetenz in einer sozialen Ordnung aus, deren dynamische Matrix die Verschränkung von Kooperation und Wettbewerb ist. Tatsächlich zeichnet die liberale Ökonomie der Anerkennung der Umstand aus, dass die traditionellen Figuren des Dritten, die Figuren des Schiedsrichters, die externen Kontroll- und Berufungsinstanzen verschwinden. Es gibt auf den Szenen der Bewertung von Performance durch Performance keinen neutralen Beobachter mehr, den man hinzuziehen könnte, um das Einhalten von Spielregeln zu überwachen und ein Resultat zu bestätigen, das beide Parteien gleichermaßen akzeptieren können, weil er es als dieser Außenstehende tut. Es gibt diesen abgetrennten Ort des Dritten nicht mehr, von dem her Leistungen, Siege, Gewinne oder Vorteile feststellbar und als Festgestellte an die Dynamik der Auseinandersetzung zurückzumelden wären. Und dadurch, dass die Option der externen Bezeugung entfällt, kommt es zu einer totalen Verknappung der Anerkennung und zu einer endlosen, sich im Kooperieren vollendenden Konkurrenz an150
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stelle eines Kampfes. Anerkennung ist in der Ökonomie der Anerkennung total knapp. Sie ist nicht deshalb knapp, weil zu wenig geleistet würde, was der Anerkennung prinzipiell wert wäre. Sie ist nicht einmal deshalb knapp, weil zu viel Anerkennenswertes geleistet würde. Ihre Verknappung ist die Rückwirkung der Internalisierung des Dritten, der Internalisierung von Performanzen des Bezeugens und Beurteilens in jene Performances, deren Geltung von den Zeugnissen und Urteilen abhängt – deren Rückwirkung auf die Situation von Performance, d.h. auf das, was lauter Zweite neben- und miteinander tun. Deshalb ist diese Knappheit eine totale. Sie geht nicht auf ein spezifisches Zu-wenig zurück, das durch Leistungssteigerung des einzelnen Performers oder durch eine Optimierung des Systems jemals wirklich auszugleichen wäre, sondern auf die Beseitigung jener überzähligen Position eines Zeugen, dessen Bedeutung für Performance in einer überreichlichen Aufmerksamkeit liegt. Dieser überzählige Zeuge hatte nichts anderes zu tun, als den anderen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er konnte sie schenken, da er mehr davon hatte, als er brauchte, und er hatte mehr davon, weil er zu dieser Zeit seines Zugegenseins, in diesem Zustand seiner Anwesenheit nichts anderes zu tun hatte als aufmerksam zu sein. Er garantierte den Performern durch die Zusage einer vorbehaltlosen, verschwenderischen, potenziell unendlichen Aufmerksamkeit, die seine Anwesenheit gab, dass alles, was sie taten, so erfolglos es sich auch in den Verteilungskämpfen untereinander präsentierte, doch als etwas bezeugt wurde, was erfolgt war. Die potenzielle Unendlichkeit der Aufmerksamkeit war dabei nicht primär quantitativ bestimmt, sie war Ausdruck einer irreduziblen, unverminderbaren Anerkennung (nicht einmal böswillig hätte dieser Zeuge seine Anerkennung zu verweigern vermocht, denn seine Rezeptivität war stets schon über jede kalkulierende Vorsicht hinweg). Wie immer die Verteilung ausfiel, bedeutete die so bezeugte Wirklichkeit per se ein Minimum an Anerkennung, eine Art soziales Grundeinkommen für beliebig viele Performer. Die Überzähligkeit des Zeugen brachte genug Achtung für jeden. Die Bezeugung von Performance in diesem Modus ist, wie man heute nicht umhin kann zu bemerken, äußerst ineffizient: Um ein solches Minimum an Anerkennung zu gewährleisten und performative Gleichheit auf einem Elementarniveau zu etablieren, bedarf es mindestens einer Quelle uneingeschränkten Respekts für das, was jeder tut. Es braucht eine Figur, die in das Spiel der konkurrierenden Performanzen eintritt, um darin für einen niemals auszuschöpfenden, durch keine lokale Verknappung zu widerlegenden oder fatal zu reduzierenden Überreichtum an Beachtung und Achtung zu bürgen. Ko-kompetitive Performance erweist sich darin als Resultat eines performativen Downsizing, dass sie diese Figur einspart. 151
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6. Und die Kunst? Die Aufgabe eines solchen Zeugen fiel in der Kunst von ca. 1800 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dem Subjekt der ästhetischen Erfahrung zu. Dieses Subjekt, das Kant in seiner Kritik der Urteilskraft einführte, das Schiller, Fichte und die Frühromantiker ausformulierten und das sich als eine der wirkmächtigsten Fiktionen der abendländischen Kulturgeschichte erwiesen hat, verfügt über eine uneingeschränkte Aufmerksamkeit und eine vorbehaltlose Anerkennung für alles und jeden, dem es seine Aufmerksamkeit zuwendet. Denn dieses Zuwenden ist doppelt der Endlichkeit und Beschränktheit enthoben: Zum einen hat das Subjekt dort, wo es etwas ästhetisch wahrnimmt, kein materielles Interesse an dem Gegenstand seiner Wahrnehmung. Der Gegenstand ist ihm nicht Sache, sondern bloß Anlass zu einem »interesselosen Wohlgefallen«, d.h. einem Urteilen, in dem es sich auf sich selbst bezieht und dabei das freie harmonische Zusammenspiel seiner Vermögen genießt. Die materiellen Ausmaße des Gegenstandes – die räumliche Größe eines Kunstwerks, seine zeitliche Länge, vor allem die Menge von Informationen, die es enthält – bleiben bei der ästhetischen Wahrnehmung und dem mit ihr verknüpften Genießen außen vor. Im »ästhetischen Regime« (Rancière) gibt es weder ein zu umfangreiches oder zu dichtes und komplexes Kunstwerk, noch kann es zu viel Kunst geben. Denn all diese materiellen Aspekte haben insofern keinen Einfluss auf denjenigen, der die Kunst erfährt, als er sich in seiner Erfahrung auf sich selbst bezieht. Zum anderen ist das ästhetische Urteil kein (in Kants Terminologie) »bestimmendes«, sondern ein »reflektierendes«. Es geht nicht darauf aus, eine zutreffende Repräsentation des wahrgenommenen Gegenstandes zu liefern, das sinnlich Wahrgenommene unter einen Begriff zu fassen, damit dieses »erkannt« werden kann. Es besteht in einer tendenziell unendlichen Bewegung der Annäherung und Entfernung. Und die ästhetische Erfahrung ist vor allem die Erfahrung dieser Bewegung. Jede Begegnung mit etwas, das zum ästhetischen Objekt, zum Anlass einer solchen Erfahrung wird, löst etwas aus, was niemals von sich aus zu einem Abschluss kommt, sondern sich durch alle späteren Erlebnisse hindurch fortsetzt (und in diesem Sinne dauerhaft an der Bildung des Subjekts teilhat). Im Verhältnis zu dieser Unabschließbarkeit der Reflexion selbst verliert die Überforderung durch eine im Leben nicht zu bewältigende Menge von Informationen jede Relevanz. Darin liegt die ›Arroganz‹ der ästhetischen Theorie und zugleich ihr anarchischer, letztlich egalitärer Impuls. Ästhetik bleibt dezidiert gleichgültig gegenüber der Frage, die am Ursprung einer Ökonomie der Aufmerksamkeit steht: wie ein Mensch sich verhalten soll angesichts einer Menge von möglichen Gegenständen seiner Auf152
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merksamkeit, die um ein Vielfaches das übersteigt, womit er sich während der kurzen Zeit seines Lebens wird beschäftigen können. Diese Gleichgültigkeit begründet die Souveränität der Kunst im ästhetischen Regime; sie ermöglicht es, dem Kunstwerk als ästhetischem Objekt Autonomie zu verleihen. Die Zeit der ästhetischen Wahrnehmung emanzipiert sich kraft einer solchen Vernachlässigung von der Lebenszeit. Jeder einzelne Augenblick in der Begegnung mit einem Kunstwerk kann die Quelle einer unendlichen Vertiefung werden, und die Zeit dieser Vertiefung entfaltet sich als Intervall innerhalb der vergehenden »clock time«. Sie hält deren Vergehen nicht auf, aber sie gewinnt der Flüchtigkeit selbst eine Dauer ab, die ästhetische Theorie als Dimension subjektiver Selbstbestimmung (und -infragestellung) gegen die Uhrzeit behauptet. 43 Die Ablösung der Erfahrung von der materiellen Endlichkeit ihres Anlasses und die Entlassung des Urteils aus der Zeit des Bestimmen-Müssens sind die Grundlage für alle Formen von Würdigung, die ästhetische Wahrnehmung ihren Gegenständen zuteil werden lässt. Wenn das Kunstwerk, das mir begegnet, mit einer anderen Qualität von Aufmerksamkeit rechnen darf als irgendein Alltagsgegenstand oder jemand, mit dem ich alltäglich kommuniziere, dann deshalb, weil es mich in einen anderen Seinsmodus versetzt, sobald ich die Szene einer ästhetischen Erfahrung betrete. Ich kann es mir leisten – versichert die Ästhetik –, diesem Bild, dieser Skulptur, dieser Installation, diesem Buch, diesem Musikstück, dieser Theaterauff ührung, dieser Performance meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, denn durch die Befassung damit werde ich unter allen Umständen gewinnen. Die Ökonomik der ästhetischen Erfahrung ist die eines gegenteillosen Gewinnens, und mehr noch: eines Gewinnes, der, da er durch die Unendlichkeit der Reflexion vermittelt ist, sich niemals
43. Novalis, der ökonomiebewussteste unter den ästhetischen Theoretikern, formuliert das immerhin in der Form eines Lebensprogramms: Am Anfang brauche man noch sehr viel (Material), um Weniges zu machen, während das Subjekt mit fortschreitender Vervollkommnung im Alter fähig werde, aus Wenigem sehr Vieles (und schließlich aus Einem Alles) zu machen: »Das Neue interessiert [im Alter] weniger, weil man sieht, daß sich aus dem Alten so viel machen läßt. Kurz man verliert die Lust am Mannichfaltigen, je mehr man Sinn für die Unendlichkeit des Einzelnen bekömmt – man lernt mit Einem Instrument machen, wozu andre Hunderte nöthig haben – und interessiert sich überhaupt mehr für das Ausführen, als für das Erfinden.« (Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Band II: Das philosophische Werk I, Stuttgart: Kohlhammer ³1981, S. 539, Nr. 64.)
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als ein quantitatives Verhältnis zur Investition an Zeit und Kraft ausweisen muss. 44 In dem Maße, wie ich nicht befürchten muss, zu viel von mir und meinen begrenzten Ressourcen in etwas zu investieren, findet auch meine Anerkennung sich von der inneren Stimme befreit, die ihr einflüstert, sich zurückzuhalten. Alles, was mir im Bereich des Ästhetischen unterkommt, genießt einen unbegrenzten Vorschuss an Anerkennung. Ästhetische Wahrnehmung impliziert eine Vorleistung, die kein Kredit ist, sondern Hingabe (das heißt: Geben von etwas, was man nicht hätte, wenn man es nicht geben würde). Jedes Mitglied eines Publikums, jeder von einer aufgeführten Performance noch so enttäuschte, gelangweilte oder abgestoßene Zuschauer zollt ihrem Statthaben nichtsdestoweniger jenes Maß an Anerkennung, das in der besonderen Verfassung des ästhetischen Urteils angelegt ist – und dieses Maß bleibt sogar als minimiertes ein Übermaß. Das Subjekt der ästhetischen Erfahrung ist so konzipiert als Instanz einer potenziell unendlichen Aufmerksamkeit und uneingeschränkten Anerkennung. Diese Unendlichkeit und Uneingeschränktheit stellen einen Effekt der Unbestimmtheit des Urteilenden selbst dar, wie Schiller im 21. seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen notierte. 45 Die damit einhergehende Bestimmung von Kunst hat dem, was Künstler machen (was bildende Künstler herstellen und was performative Künstler 44. Ein bürgerliches Ökonomiegefühl hat genau dies natürlich immer wieder argwöhnisch in Zweifel gezogen oder sich dagegen aufgelehnt: Das Urteil des Bürgers, der ins Theater geht, hängt schließlich davon ab, ob er meint, für sein Eintrittsgeld und den geopferten freien Abend genug bekommen zu haben. Er behauptet sich damit selbst als ökonomisches Subjekt (als Arbeitender, als Unternehmer, als jemand, der »viel zu tun hat«, sozialen Verpflichtungen nachkommen muss usw.) gegen den Anspruch der Ästhetik. Roland Barthes etwa hat sehr schön beschrieben, wie das französische Theaterpublikum der 1950er Jahre heftig agierende, schwitzende, sich sichtlich verausgabende Schauspieler schätzte, weil die etwas als Gegenwert zu leisten schienen. Vgl. Roland Barthes: »Zwei Mythen des jungen Theaters«, in: ders.: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 20-23. 45. »Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist. Eben dadurch aber ist etwas Unendliches erreicht.« (Friedrich Schiller: »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«, in: ders.: Werke. Band 20, Weimar: Böhlau 1962, S. 377f.)
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vollführen), einen nicht aufzubrauchenden Vorschuss an Anerkennung mitgegeben. Denn künstlerisches Produzieren findet in der Zusage der dem Produkt zukommenden ästhetischen Wahrnehmung statt, ja beruht selbst auf einer solchen Wahrnehmung. In der Logik des Ästhetischen sind die Rezeption und das vom Rezipienten getroffene Urteil das Primäre, auf dem Produktion aufsetzt oder in das sie sich einlassen kann. Der schaffende oder ausführende Künstler ist seinerseits eine ins Aktive gewendete Version des Subjekts ästhetischer Erfahrung; er agiert als ein herausragender Rezipient, der mit dem, was er rezipiert, mehr Kunst formuliert. 46 Mit dem nicht aufzubrauchenden Vorschuss an Anerkennung kann im ästhetischen Regime jeder, der Kunst macht, rechnen. Die euphorischen Konzepte um 1800, von denen unsere Hochschätzung der Kunst bis heute zehrt, erhoff ten sich, er werde sich auch der Politik, der Gesellschaft, ja selbst der Wirtschaft mitteilen. Doch eben dieser Vorschuss verfällt dort, wo Performance nicht mehr im Sinne traditioneller Garantien ästhetisch bestimmte Performance ist, sondern der Begriff Performance zu einer Bezugsgröße wird, an deren Sinn- und Funktionsbestimmung soziale und ökonomische Diskurse ebenso viel Anteil haben wie künstlerische. Bevor eine eigene Performance-Kunst sich ausdifferenziert und beginnt, den Status des Werkes durch eine eigenwillige Behauptung des Flüchtigen, Werklosen oder »Ent-Werkten« in Frage zu stellen, partizipieren die performativen Künste der Musik, des Tanzes und Theaters an den Privilegien, die dem hergestellten Werk durch das ästhetische Urteil zukommen (wenn sie ihrer vielleicht auch niemals im vollen Umfang teilhaftig werden und ihr Status als Kunst stets ein wenig prekär bleibt). Das ›give and take‹ des Jazz markiert jedoch einen Übergang, der sich heute ähnlich in den kollektiven Improvisationen beim Tanz und bei der Theater-Performance vollzieht: Jazz-Performance präsentiert sich zwar einstweilen in der Form einer Auff ührung, als ästhetisches Objekt. Es gibt dort einerseits Performer auf 46. Der forcierte Subjektivismus (und Egoismus) des Schöpferischen in der bürgerlichen Ästhetik des 19. Jahrhunderts ist möglich, weil in dieser Konstellation auch der Künstler selbst als ausgezeichneter Rezipient sich die Anerkennung verschaffen kann, die er als Produzierender braucht, um mit dem Produzieren fortzufahren. »Das unverstandene Genie« und andere Figuren der Spannung zwischen dem Künstlersubjekt und ›der Gesellschaft‹ verdanken ihre Entstehung der ästhetischen Neubegründung des Schaffens- und Vollzugsakts in einem Rezeptionsakt, dessen Potenzial an Aufmerksamkeit und Anerkennung unendlich ist. Für den Fall, dass die Beachtung und Anerkennung durch andere ausbleibt, vermag der Künstler im ästhetischen Regime im Extremfall sein Leben lang an die Stelle jener anderen zu treten, um allein zu bezeugen, was er geleistet hat. Denn in gewisser Weise tut er das sowieso.
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einer Bühne oder einem Podium, andererseits Zuhörer, die eigens kommen, um diese Musiker zu hören, Eintritt dafür zahlen usw. Doch sind die Zuhörer im Jazz-Publikum noch als Subjekte ästhetischer Erfahrung anwesend? Sind die Musiker auf dieser Szene der Begegnung mit ihrem Publikum als Künstler anwesend, in einem Sinn dieses Begriffes, der sich vom Ausnahmestatus der ästhetischen Erfahrung herleitet? Bestimmt die Aufmerksamkeit solcher Subjekte der ästhetischen Erfahrung den Jazz? Die korrekte Antwort auf diese Fragen wäre wohl: zum Teil. Der Ort von Jazz-Improvisation ist noch eine Domäne der ästhetisch gerahmten künstlerischen Praxis, aber die Gesetze des ästhetischen Regimes gelten hier nur mehr mit Einschränkung. Und der einschränkende, ja einsparende Gebrauch, den Jazz-Improvisation von der Freigiebigkeit des Ästhetischen macht – die teilweise Rücknahme der Verschwendung von Aufmerksamkeit und Anerkennung – gibt sich als Inzentiv eines neuen Typs von künstlerischen Leistungen zu erkennen: Leistungen, die künstlerische ›Kreativität‹ in ein Kontinuum mit sozialen und ökonomischen achievements einsetzen, die das ästhetische Urteil direkt mit dem sozialen und ökonomischen Werturteil verknüpfen. Erblickt die Organisationstheorie in der Jazz-Performance eines ihrer Leitbilder, wo sie über Improvisation nachdenkt, so deshalb, weil Jazz seit längerem die sozio-ökonomische Einsparung des Ästhetischen innerhalb des Feldes der Kunst vorbereitet: Die Organisation des Genres als scene und Milieu; das professionelle Verhältnis der Musiker untereinander; der ausgeprägte reputationism; die arkanen Codes der Anerkennung und ihrer Versagung; der Historizismus mit seinem imperativen Who is who – all das ist beim Jazz keine Zutat, sondern zählt maßgeblich zu den Möglichkeitsbedingungen der Performance. Die Auff ührung, bei der Improvisation stattfindet, aktualisiert dieses Wissen, und diese Aktualisierung wird als etwas Intensives erlebt und genossen. Aber man spürt, selbst während man einer Auff ührung beiwohnt, dass die Dynamik des Wissens sich weit über deren Grenzen hinaus erstreckt und ihr Zentrum nicht in der Aufführung hat. Auch der Zuhörer findet sich im Jazz weitaus stärker als in der klassischen Musik oder andererseits in der Pop-Musik auf eine Kompetenz verwiesen, die nicht auf die Offenheit des Subjekts ästhetischer Erfahrung zurückgeht, sondern auf social skills, auf ein performatives Wissen darum, wie man sich auf Jazz-Szenen verhält: ein Semi-Expertentum, vor allem ein Kennen der Musiker, der Geschichte und der gegenwärtigen Jazz Society. Der Hörer nimmt selbst auf seine Weise teil an der Konkurrenz; sein Wissen (und sein Hören als Aktualisierung dieses Wissens) konkurriert mit dem anderer Hörer und letztlich auch mit den Spielern (wie die
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Übergänge zwischen Spieler und Hörer überhaupt fließend sind und von der Seite des Performers her ins Fließen geraten, nicht von der des Rezipienten). Vom Jazz her hat sich dies auch anderen Musikrichtungen und anderen Künsten mitgeteilt;47 doch vielleicht ist der Jazz tatsächlich dessen Ursprung oder zumindest der erste Bereich, wo die Absorption der ästhetischen Szene in einer sozio-ökonomischen Szene derart produktiv wurde. Auf genau dieser Spur reformuliert Georg Franck in Mentaler Kapitalismus schließlich auch Ästhetik im post-ästhetischen Paradigma knapper Anerkennung. Er sieht die Szene des kulturellen Produzierens und Rezipierens von Anfang an geteilt in zwei Typen von Aufmerksamkeitsökonomie, die sich bei Auff ührungen bloß gelegentlich überlagern: eine Szene, auf der die Künstler einander gegenseitig wahrnehmen, und eine, auf der sich jeder von ihnen einem Publikum präsentiert. An die Stelle eines epochalen Bruchs um 1800, in dem das Ästhetische auftaucht, setzt Franck dessen soziale Verfertigung. Autonomie, so seine These, etabliere sich, indem Künstler zunächst auf die Arbeiten anderer Künstler reagieren und damit rechnen, mit ihrer eigenen Arbeit primär von anderen Künstlern rezipiert zu werden. 48 Das Publikum ist dann (nur) die Figur eines Weiteren, der unter Umständen hinzukommt. Der Betrachter, der aus dem Kollektiv namens »Publikum« hervortritt, um sich dem Künstler zu nähern, befindet sich sozio-ökonomisch betrachtet in einer verschobenen, nachgeordneten Position gegenüber dem anderen Künstler, der dasselbe tut, aber den Ort des Werkes aus einer Business-to-Business-Perspektive aufsucht, so dass er dort auf die Aktivitäten eines ähnlich Interessierten triff t. Wenn ein Kunstwerk mehr Aufmerksamkeit verdient als ein Alltagsgegenstand, eine gewöhnliche Handlung oder Aussage, so erklärt sich das nicht mehr durch eine Differenz zwischen dem Modus ästhetischer Wahrnehmung und dem sozialer Wahrnehmung. Es verweist auf einen sozialen Erfolg des Künstlers innerhalb des Produzenten-Netzwerks, in dem er sich bewegt. Verschwindet die Instanz einer ungeteilten Aufmerksamkeit und vor47. Und ist noch in einigen Gegenreaktionen merkbar, wie in der »schweigsamen« elektronischen Musik der 1990er Jahre, die der sozialen »Geschwätzigkeit« des Jazz ein Leben und Arbeiten in silent communities vorzog, Namen durch kryptische Pseudonyme ersetzte, Personen semantisch zwischen Geräten und Programmen verbarg – aber diesen Modus des Kommunizierens sozio-ökonomisch nicht minder effizient ausdifferenzierte als der Jazz den seinigen. Vgl. dazu Diedrich Diederichsen: »Es streamt so sexy. Die Dialektik von Clicks & Cuts«, in: Klaus Neumann (Hg.), Popvisionen. Links ist die Zukunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 58-74, bes. S. 62ff. 48. Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, München/Wien: Hanser 2005, S. 98f.
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behaltlosen Anerkennung, wie das Subjekt ästhetischer Wahrnehmung sie exemplarisch verkörperte, refiguriert sich die Autonomie des Kunstwerks als Abstand einer sozio-ökonomischen Evaluation von einer anderen: als Differenz von B2B zu B2C. Nur die Anerkennung und Wertschätzung anderer professioneller Performer im Bereich der jeweiligen künstlerischen Praxis, heißt das, vermag das als Kunst Hergestellte oder Vollzogene noch gegen seine Beurteilung durch das Massenpublikum abzufedern und davor zu schützen, dass man es allein nach seiner Popularität und seinem kommerziellen Erfolg bewertet. Entsprechend kommt den Prozessen, in denen künstlerische Performer sich anerkennend und bewertend aufeinander beziehen, in dieser Phase der sozio-ökonomischen Refiguration künstlerischer Autonomie eine entscheidende Bedeutung für das Ästhetische zu. Ko-kompetitive Performances wie bei der kollektiven Improvisation sind längst mehr als eine Variante dessen, was Künstler auch allein tun können. Sie werden, ob gewollt oder nicht, zu Rekonstruktionen eines künstlerischen Autonomieanspruchs unter Bedingungen, die den dazu nötigen Überreichtum an Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht mehr hergeben.
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Der unmögliche Schauspieler: Theater-Improvisieren Annemarie Matzke
Wohl kaum ein künstlerisches Verfahren wird in den Schauspieltheorien des 20. Jahrhunderts so gefeiert wie das Improvisieren. Immer wieder wird die besondere Produktivität der Improvisation im Kontext der Probenarbeit hervorgehoben.1 Sie wird definiert als der »originäre und eigentlich elementare schöpferische Produktionsakt des Schauspielers«2, als »spontane Erfindung von Darstellung«3 oder als eine Technik für den Schauspieler, »etwas Unvorhergesehenes, nicht im voraus Vorbereitetes [zu spielen].« 4 Improvisieren in Abgrenzung zur Vorlage des dramatischen Textes wird dabei als genuin theatrale Praxis beschrieben, die über die ›Reproduktion‹ des dramatischen Textes hinausgeht. Das Produzieren schauspielerischer 1. Die Diskussion um das Verhältnis von Improvisation und dramatischem Text, zwischen dem Entwurf im Moment und dem Wiedergeben von etwas Fixiertem zieht sich durch die gesamte Theatergeschichte. In der Diskussion um die Improvisation wird diese im 20. Jahrhundert meist auch als eine Wiederentdeckung eines ›anderen‹ und ›ursprünglichen‹ Theaters gefeiert: im Rückgriff auf die Commedia dell’arte oder den antiken Mimus. Siehe dazu Gerhard Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, Berlin: Henschel 1979. Zum Topos des Mimus siehe auch Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne, München: Fink 2005, S. 263f. 2. G. Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, S. 66. 3. »[S]pontaneous invention of performance«. Paul Allain: »Improvisation«, in: ders./Jen Harvie: The Routledge Companion to Theatre and Performance, London/New York: Routledge 2006, S. 161f., hier S. 161. 4. »Technique de jeu dramatique où l’acteur joue quelque chose d’imprévu, non préparé à l’avance.« Patrice Pavis: Dictionnaire du théâtre, Paris: Editions Sociales 1996, S. 214.
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Annemar ie Matzke
Darstellung jenseits des dramatischen Textes wird über das Prinzip der Improvisation bestimmt, gekennzeichnet durch Kreativität, Spontaneität und Originalität. Wenn das Improvisieren als »schauspielerischer Produktionsakt« definiert wird, der sich gerade dadurch auszeichnet, auf etwas ›Unvorhergesehenes‹ – all’improviso – zu zielen, dann deutet sich hier ein komplexer Zusammenhang zwischen Planung, Vorbereitung und Auff ührung an. Im Besonderen, wenn es nicht um eine improvisierte Performance geht, in der das Improvisieren selbst aufgeführt wird, sondern wenn die Improvisation als Arbeitsweise in den Proben einer Inszenierung eingesetzt und damit Teil eines Vorgangs der Planung und Festlegung ist. Das Improvisieren stellt die Probenarbeit vor ein spezifisches Problem. Geschaffen wird eine Situation, in der die Schauspieler etwas Ungeplantes und Unvorbereitetes zeigen sollen. Etwas, das zum ersten Mal gezeigt wird, das im Moment erfunden wird. Dieser Topos des Neuen und der Spontaneität, mit dem das Improvisieren verbunden ist, widerspricht einem anderen Konzept der Probenarbeit als Einstudierung szenischer Vorgänge, um diese wiederholbar zu machen. Es zeigt sich ein Widerspruch zwischen einer Vorbereitung, die sich auf das Prinzip des Unvorhergesehenen stützt, und einer Auff ührungspraxis, die sich nach dem Prinzip der Wiederholbarkeit richtet und damit das Unvorhergesehene soweit wie möglich ausgrenzen will. In diesem Spannungsfeld zwischen Offenheit und Fixierung eröff nen sich eigene Fragen: Welche Konzepte des Improvisierens werden hier entwickelt? Muss der Improvisation selbst eine Form der Arbeit vorausgegangen sein: als ein Erlernen und Erarbeiten von Techniken, um den Schauspieler überhaupt erst zum Improvisieren zu befähigen? Welches sind die Voraussetzungen, Bedingungen, um auf der Bühne oder im Probenraum zu improvisieren? Welche Formen künstlerischen Produzierens lassen sich hier differenzieren? Wie verhält sich die Improvisation als ›erstes Mal‹ zum Konzept einer Probenarbeit als Form von Wiederholungen? Wie wird aus dem ›Unvorhergesehenen‹ etwas ›Vorhersehbares‹, und was bedeutet dies für die theatrale Darstellung? Welche Position nehmen hierbei die Zuschauer ein? Ein Blick in die Theatergeschichte zeigt, dass das Prinzip der Improvisation keineswegs unumstritten ist, die Potentiale und Probleme des Improvisierens immer wieder neu zur Diskussion stehen. Die notwendigen Voraussetzungen des improvisierenden Schauspielers werden bereits im Kontext der Commedia dell’arte problematisiert und damit auch Bewertung zwischen einer ›guten‹ und ›gelungenen‹ Commedia all’improviso eingeführt. Luigi Riccoboni gilt als einer der ersten Theatermacher, die sich theoretisch mit der Improvisation auseinandergesetzt haben. Er hebt 162
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in seiner Schrift L’Histoire du Théâtre Italien5 die besonderen Vorzüge eines improvisierten Spiels hervor: Variabilität und Flexibilität der theatralen Darstellung, etwas, das sie von anderen Künsten unterscheidet. Das Stück kann in verschiedenen Variationen gespielt und der Situation und dem Ort angepasst werden6: »L’impromptu donne lieu à la variété du jeu, en sorte qu’en renvoyant plusieurs fois la même canevas, on peut voir chaque fois une pièce différente. L’acteur qui joue à l’impromptue, joue plus vivement et plus naturellement que celui qui joue un rôle appris: on sent mieux et, par conséquent, on dit mieux ce que l’on emprunte des autres par les secours de la mémoire.«7
Vor allem aber sei es eine spezifische Qualität der Darstellung, die das Improvisieren auszeichne: Es entsteht der Eindruck einer besonderen Gegenwärtigkeit durch das Moment der Überraschung, verbunden mit einem Eindruck von Authentizität des Schauspielers: Da er sich seine Rede 5. Riccobonis L’Histoire du Théâtre Italien entsteht aus dem Anliegen, die eigene Theaterform zu legitimieren. Als Immigrant in Paris, der dort eine Schauspieltruppe der Commedia dell’arte leitet, versucht Riccoboni (gegen die Angriffe von einem auf die Rhetorik und den dramatischen Text bezogenen französischen Theater), die Bedeutung und das Potential des teatro all improviso zu erklären: der Versuch einer Legitimation eines Theaters jenseits des Dramentextes. 6. Die Technik, das Stück je nach Aufführungssituation anzupassen, entsteht aus den besonderen Produktionsbedingungen. Die Truppen hatten keine festen Aufführungsorte. Italien war in viele kleine Staaten unterteilt, in denen verschiedenste Dialekte gesprochen wurden; die Truppen traten sowohl vor adligen Hofgesellschaften als auch auf Plätzen in den Städten auf. Die Improvisation war damit eine Möglichkeit, auf diese unterschiedlichen Anforderungen zu reagieren. Vgl. dazu: Kenneth Richards/Laura Richards: The Commedia dell’arte. A Documentary History, Oxford: Blackwell 1990. Sowie zur Improvisation in der Commedia dell’Arte: Maximilian Gröne: »Improvisation und Repräsentation – die kunstvolle Praxis der frühen Commedia dell’arte«, in: ders. et al. (Hg.), Improvisation. Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven, Freiburg i.Br.: Rombach 2009, S. 101-116. 7. »Das Improvisieren eröffnet zahlreiche Variationen des Spiels, so dass man selbst beim mehrmaligen Sehen eines canevas jedes Mal ein anderes Stück sehen kann. Der improvisierende Schauspieler spielt lebendiger und natürlicher als jener, der eine Rolle gelernt hat: Man fühlt besser und, aus diesem Grund, spricht man auch besser, als wenn man sein Reden von einer anderen Person durch das Gedächtnis leiht.« (Übersetzung A.M.) Louis Riccoboni: Histoire du Théâtre Italien [1730], Paris: André Cailleau 1968, S. 62.
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nicht ›leiht‹, wie es im Spiel mit einem dramatischen Text der Fall wäre, sondern in seinen ›eigenen‹ Worten spricht und selbst Entscheidungen treffen muss, ist ihm die Darstellung ›näher‹, er fühlt ›besser‹. Statt sich eine fremde Rolle anzueignen als eine Form der Erarbeitung von etwas außerhalb seiner selbst Liegendem – verbunden mit einem Moment der Distanzierung von sich selbst –, sind es bereits erarbeitete Darstellungsmöglichkeiten des Schauspielers, aus denen heraus er die Rolle gestaltet. Nicht der Schauspieler arbeitet an der Rolle, sondern die Rolle wird dem Schauspieler gemäß bearbeitet. Diesen Vorteilen stehen aber nicht geringe Nachteile gegenüber, denn das Improvisieren fordert ganz bestimmte Fähigkeiten: »Elle suppose des acteurs ingénieux, elle les suppose même égaux en talents, car le malheur de l’impromptu est que le jeu du meilleur acteur dépend absolument de celui avec lequel il dialogue; s’il se trouve avec un Acteur qui ne sache pas saisir avec précision le moment de la réplique, ou qu’il l’interrompe mal-à-propos, son discours languit, ou le vivacité de ses pensées sera étouffée. La figure, la mémoire, la voix, le sentiment même ne suffit pas au comédien qui veut jouer à l’impromptu, il ne peut pas exceller, s’il n’a une imagination vive & fertile, une grande facilité de s’exprimer, s’il ne possède toutes les délicatesses de la langue, & s’il n’a acquis toutes les connaissances nécessaires aux différentes situations ou son rôle le place. Quelle éducation ne faut-il pas pour former un tel Acteur & ceux qui sont destinés à cette profession ne trouvent-ils pas mille obstacle à une excellente éducation.«8
8. »Die [improvisierte Komödie, A.M.] setzt erfinderische Schauspieler voraus, welche an Talent einander gleich sein müssen, denn das Unglück der Improvisation ist, dass das Spiel des besten Schauspielers ganz vom Spiel desjenigen abhängt, mit dem er auf der Bühne spricht. Spielt er mit einem, der nicht den genau richtigen Zeitpunkt zu antworten findet, oder ihn zu einem falschen Zeitpunkt unterbricht, so wird seine Rede sich verlangsamen und die Lebhaftigkeit seiner Gedanken erstickt werden. Gestalt, Gedächtnis, Stimme, und selbst das Gefühl reichen nicht als Voraussetzungen für einen Schauspieler, der improvisieren will. Wenn er nicht eine lebhafte und fruchtbare Einbildungskraft besitzt, wenn er sich nicht mit aller Lebhaftigkeit auszudrücken weiß, wenn er nicht alle Feinheiten der Sprache in seiner Gewalt hat, nicht alle nötigen Kenntnissen hat, welche die verschiedenen Stellungen seiner Rolle erfordern können, wird er niemals brillieren. Was für eine Erziehung wird nicht gefordert, um einen solchen Schauspieler zu bilden und sind nicht alle, die sich diesem Beruf verschrieben haben und eine gute Ausbildung suchen mit tausenden von Hindernissen konfrontiert?« (Übersetzung A.M.), ebd.
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Den Vorteilen des Improvisierens stehen, nach Riccoboni, nicht geringe Nachteile gegenüber: Der improvisierende Schauspieler muss nicht nur die Fähigkeiten desjenigen haben, der in einem geprobten und auf einem dramatischen Text basierenden Stück spielt, seine Fähigkeiten müssen darüber hinausgehen. Improvisieren ist ein kollektiver Vorgang, der eine Abhängigkeit vom Mitspieler einschließt. Sie bedarf präziser Entscheidungen hinsichtlich der Dramaturgie des Gezeigten, verstanden nicht nur als Fähigkeit zur Erfindung im konkreten Moment, sondern auch als notwendige Technik, diese Erfindung der Situation gemäß und in der Interaktion mit dem Mitspieler zu zeigen. Improvisation umfasst damit nicht nur, sich selbst der Offenheit einer nicht festgelegten Darstellung auszusetzen, sondern auch den unvorhersehbaren Vorgaben und Reaktionen des Mitspielers. Die Kollektivität des Spiels konstituiert eine besondere Form der Abhängigkeit: Nicht nur der einzelne Schauspieler, sondern jeder Schauspieler muss alle Fähigkeiten haben, da sonst auch die Darstellung des ›guten‹ Improvisators durch die Fehler des Mitspielers beeinträchtigt wird. Improvisieren wird in diesem Sinne als Technik begriffen, die gut oder schlecht beherrscht werden kann. Denn der ›schlechte‹ Schauspieler wird die Freiheit des Improvisierens immer mehr einschränken. Das heißt, er wird Texte oder erfolgreiche Darstellungen wiederholen, sich auf Bekanntes verlassen. Damit verliert aber die Auff ührung genau jenes Potential der Improvisation, die sie gegenüber anderen Darstellungsformen auszeichnet. So könnte man fast sagen, dass Riccoboni einen unmöglichen Schauspieler fordert, dessen besondere Fähigkeiten erst die Improvisation möglich machen, die über das geprobte Spiel hinausgeht. Nur unter ganz spezifischen und fast nicht herstellbaren Bedingungen ist eine Improvisation möglich, die den geforderten Qualitäten entspricht. Dabei bleibt aber auch immer ein Moment der Unsicherheit, des Unkontrollierbaren. Dieser utopische Schauspieler soll durch seine Fähigkeiten eine Konstanz im Spiel mit dem Unvorhersehbaren garantieren. Im Entwurf eines fast utopischen Schauspielers, wie ihn Riccoboni fordert, zeigt sich eine besondere Perspektive: Die Improvisation wird zur Utopie des Theaters. Utopisch, weil die Bedingungen seiner Verwirklichung – Interaktion, die Möglichkeit und der Zwang zur Entscheidung im Moment, die Offenheit der Situation, das Spiel mit der Überraschung und dem Unvorgesehenen – zugleich auch die Unmöglichkeit dieser Verwirklichung offen legen.
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Ökonomien des Improv isierens »Mit dem Reize der augenblicklich erfundenen Rede war das Arsenal der theatralischen Wirkungen ausgeleert. Die Schauspielkunst war auf dem Gipfel der Vergeudung ihrer Kunstmittel angelangt, jenseits dessen der Abgrund schmachvoller Verarmung liegt.«9
Das Improvisieren entziehe sich der Ökonomie des planvollen Erarbeitens einer Darstellung, klagt Eduard Devrient in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Improvisieren verschwende das Theater seine Möglichkeiten, weil es einem effizienten, auf ein Ziel gerichtetem Produzieren widerspreche: Nie wird das gezeigt, was schon einmal hervorgebracht wurde. Damit bleibe die improvisierende Darstellung, so Devrient, zugleich immer auf das beschränkt, was im Augenblick einfällt, was an die Situation der Auff ührung und damit die Zuschauer gebunden ist, mit der Gefahr sich von dessen Reaktionen abhängig zu machen. Die Probe, die Arbeit am dramatischen Text werden im Gegensatz als ein zielgerichtetes Produzieren verstanden, eine Arbeit, deren Fortschreiten in der Zeit auch der Garant für einen Fortschritt hin zu einem besseren Theater sein soll. Als Theaterform, die sich der Kontrolle durch Theaterleitung und Dramatiker entzieht, wurde das Improvisieren vor allem in den Theaterreformen des 18. Jahrhunderts grundlegend hinterfragt. Diese Ablehnung wurde in den Theatergeschichten des 19. Jahrhunderts weitergeschrieben, so wie es Devrient tut. Dass das, was auf der Bühne stattfindet, abhängig vom Urteil der Zuschauer ist, widerspricht dem Konzept eines autonomen Kunstwerkes und einem vom Rezipienten abgetrennten Schaffensaktes. So wenden sich die Theatergesetze des ausgehenden 18. Jahrhunderts explizit, mit zum Teil drakonischen Strafen gegen die Praxis des Extemporierens, wenn der Schauspieler seine Darstellung (und seinen Text) je nach Reaktionen des Publikums erfindet, arrangiert oder verändert: eine Form der schauspielerischen Darstellung, die sich gerade nicht über Planung, Vorbereitung oder Übung definiert, sondern über den performativen Akt im Moment der Auff ührung. Das Extemporieren, als anarchisches Element, steht in diesem Sinne für das Unkontrollierte und Unkontrollierbare des Theaters: das, was nicht über Arbeit vorbereitet und in der Probe überprüft werden kann (von der Theaterleitung, dem Dramatiker oder der Zensur), sondern was erst in der Auff ührung produziert wird und damit nicht vorhersehbar ist. Verbunden ist damit eine Autonomie des Schauspielers 9. Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst [1848-1874], Berlin: Henschel 1967, S. 164.
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gegenüber dem literarischen Text, der Instanz eines konzipierenden Blicks von außen, wie er sich später mit der Position des Regisseurs entwickelt, und zugleich eine Abhängigkeit von den Reaktionen des Publikums, auf die er beständig einzugehen versucht bzw. eingehen muss. Jene Abhängigkeit vom Zuschauer widerspricht aber Konzepten eines autonomen Werks, wie sie im 18. Jahrhundert formuliert werden und macht damit das Improvisieren verdächtig. In der Theatergeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird für das Extemporieren das Bild eines »wilden Chaos« herauf beschworen, das »Verwüstung« anrichtet, »fallende Trümmer« nach sich zieht und zu »Zügellosigkeit« führe. Die Unabhängigkeit des Schauspielers vom dramatischen Text sei eine »Selbständigkeit auf Kosten höheren Fortschritts«.10 Wenn der Schauspieler sich selbst auf eine Stufe mit dem Autor stelle, weil er den Text im Spiel produziert, wird er sich allein auf den Zufall verlassen und die Probe missachten. Im Wunsch die Auff ührung beherrschbar zu machen, wird das Extemporieren verboten; dass aber die Festlegung, das Proben, die Arbeit an der schauspielerischen Darstellung noch kein Garant für die Wiederholbarkeit des Gezeigten ist, zeigt sich schnell. So nimmt beispielsweise das Allgemeine Theater-Lexikon von 1846 eine ambivalente Position zur Improvisation ein: Einerseits sei sie zu verwerfen, wenn sie der Selbst-Inszenierung des Darstellers dient und nur auf Effekte ausgerichtet ist, andererseits zeichnen sich extemporierte Darstellungen durch »Lebhaftigkeit und Augenblicklichkeit« sowie durch den »Reiz des Neuen«11 aus. Ein Lösungsvorschlag, mit diesem Widerspruch umzugehen, ist, nicht mehr auf der Bühne zu improvisieren, sondern die Vorteile improvisierten Handelns in der Probenarbeit zu nutzen, wie es Goethe seine Figur Mme Reti, die Prinzipalin einer Schauspielertruppe, in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung fordern lässt: »Wie leid ist es mir, sagte sie [Mme Reti, A.M.], daß wir um das Extemporieren gebracht sind […]; nicht dass man hätte die alten Unschicklichkeiten beibehalten und gute Stücke nicht darneben auff ühren sollen. Wenn man nur einmal die Woche extem-
10. Ebd., S. 172, 182, 184. So sieht auch Max Martersteig das Extemporieren allein in der »Trägheit der Schauspieler« gegründet, die sich dagegen wehrten, vom »Schlendrian zu ernster Arbeit überzugehen.« Max Martersteig: Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert, Leipzig: de Gruyter 1924, S. 64. Bekämpft werden soll diese Form der künstlerischen Praxis mit den Theatergesetzen, die damit vor allem ein Programm zur Disziplinierung und Verpflichtung auf ästhetische Normen darstellen. 11. Karl Herloßsohn/Marggraf Hermann (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon, Altenburg/Leipzig: Verlag Expedition des Theater-Lexikons 1846, S. 216ff.
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poriert hätte, so wäre der Akteur in der Übung […]. Das Extemporieren war die Schule und der Probierstein des Akteurs.« 12 In seinen Theaterromanen – Wilhelm Meisters theatralische Sendung wie auch in Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre – beschreibt Goethe immer wieder Szenarien des Improvisierens und diskutiert die Praxis in ihren Widersprüchen: als pädagogisches Programm der Menschenbildung wie auch als theatrale Form in der Gegenüberstellung zum literarischen Text.13 Die Verbindung eines pädagogischen Programms des Improvisierens, das als Praxis jeden menschlichen Handelns grundlegend für die Schauspieler sei, nimmt dabei schon Problemstellungen der im ausgehenden 19. Jahrhundert entstehenden Schauspielausbildung vorweg, wie die Frage nach der Selbstbildung der Schauspieler. Im Improvisieren soll sich der Schauspieler selbst ausprobieren, in der Interaktion mit Anderen oder einer fremden Rolle. Als »Schule« und »Probierstein« des Akteurs gehört das Improvisieren aber nicht mehr in die Auff ührung selbst, sondern wird Teil der Vorbereitung des Stücks.
Das erste Mal Wiederholen »Alles muß in der Aufführung wie ›improvisiert‹ klingen […]. Man darf nichts vom ›Schwitzen der Schauspieler‹, von ihren Anstrengungen und Mühen, wenn sie auf der Bühne arbeiten, spüren. Um das zu erreichen, muß man viel Mühe auf den Proben aufbringen. Das Wesen des Improvisierens im heutigen Theater besteht nicht darin, daß auf der Bühne improvisiert wird, sondern darin, daß alles im voraus erarbeitet wird, daß alles in eine präzise, in der Probenarbeit gefundene, nicht zufällig geschlossene Form gegossen wird, aber dem Zuschauer so überreicht wird, daß es scheint, es entstünde jetzt auf der Stelle, unbeabsichtigt, unwillkürlich, unbewusst, völlig ohne jeden Vorsatz. Selbst der Text des Stücks muß klingen, als wäre er überhaupt nicht vorher auswendig gelernt worden, sondern der Schauspieler würde ihn vor den Augen des Zuschauers erst erfinden.«14
12. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter, München: Hanser 1985-1998, S. 128. 13. Vgl. Jocelyn Holland: »The School of Shipwrecks: Improvisation in Wilhelm Meisters theatralische Sendung and the Lehrjahre«, in: Goethe Yearbook XV (2008), S. 19-34. 14. Boris Sachawa: »Über J. B. Wachtangow«, in: Jewgeni B. Wachtangow: Schriften, Berlin: Henschel 1982, S. 303.
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So wird der russische Regisseur Wachtangow zitiert, dessen Konzept eines improvisierenden Produzierens der schauspielerischen Darstellung noch heute in zahlreichen Schauspielausbildungen praktiziert wird. Zwei verschiedene Konzepte des Improvisierens bzw. des Improvisierten überlagern sich hier: Zum einen die Praxis des Improvisierens als Hervorbringung der schauspielerischen Darstellung in der Probenarbeit, die mit der Flüchtigkeit und dem Momenthaften arbeitet und zum zweiten der Eindruck des Improvisierten als einer spezifischen Form der Inszenierung, die improvisiert scheint, obwohl die schauspielerische Darstellung im Vorfeld aus der Improvisation erarbeitet, fi xiert und wiederholt wurde. Improvisieren zeichnet sich in diesem Verständnis durch eine besondere Qualität der schauspielerischen Darstellung aus. Diese Qualität ist jedoch schwer greif bar und noch weniger reproduzierbar. Es ist ein Eindruck von Unmittelbarkeit: Der Schauspieler agiert (scheinbar) spontan, ohne vorher sein Tun geplant zu haben. Jede Wiederholung, sei es in der Probe oder der Auff ührung, widerspricht und unterläuft aber genau jenes unmittelbare Agieren im Moment. Gearbeitet werden kann nur an der Wiederherstellung jenes Eindrucks des Unvorhersehbaren. Dieses Paradox – eines erarbeiteten und festgelegten Unvorhersehbaren – findet sich in zahlreichen Schauspielprogrammatiken des 20. Jahrhunderts. Für den französischen Regisseur und Schauspieltheoretiker Jacques Copeau zeichnet sich die schauspielerische Arbeit an der Inszenierung durch verschiedene Stadien aus: von der Frische der ersten Begegnung mit einer Figur über die minutiöse Arbeit bis zur Hingabe des Schauspielers an die Figur. Jedoch ist keines dieser Stadien vollendet, nichts kann fi xiert werden: »Was [dem Schauspieler, A.M.] am ersten Tag gelungen ist, entgleitet ihm in dem Maße, wie er sich in der Lage glaubt, seine Rolle zu spielen. Er mußte auf Frische, Natürlichkeit und Feinheiten, auf jedes Vergnügen, das ihm seine Ausführung bereitete, verzichten, um die schwierige, undankbare und minutiöse Arbeit zu leisten, aus einer literarischen und psychologischen Realität eine theatrale Realität zu schaffen.«15
Die verlorene Frische der ›ersten Begegnung‹ kann nicht reproduziert werden. In dem Moment, wo die Improvisation nicht mehr auf etwas Neues zielt, sondern etwas in der Probe bereits Gezeigtes wiederholt werden soll, 15. Jacques Copeau: »Überlegungen eines Schauspielers zu Diderots Paradox«, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam 1991, S. 270-277, hier S. 273.
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geht die Qualität des Eindrucks von Unmittelbarkeit des ›ersten Mals‹ verloren. Der Verlust ist irreversibel. Auch der lange Arbeitsprozess schaff t keine Sicherheit; der Schauspieler besitzt das Erarbeitete nicht: »Was er nach langer Arbeit zu beherrschen glaubt, kann ihm jederzeit genommen werden, jederzeit kann er von der Figur getrennt werden, die er aus seinem Wesen geformt, die aber – wie er selbst – unerwartete und tiefgreifende Veränderungen erfahren hat.« 16 Da die Figurendarstellung und Person des Schauspielers nicht zu trennen sind, kann es keine fertig erarbeitete Figur außerhalb des Schauspielers geben. Nur über seine Professionalisierung kann der Schauspieler lernen mit diesem Verlust umzugehen. Wenn allerdings die schauspielerische Darstellung allein auf dieser Professionalität beruht, wird sich der Schauspieler in »Routine verlieren«. Dagegen ist Hingabe die Grundlage der Schauspielkunst: »Um sich hingeben zu können, muß [der Schauspieler, A.M.] sich zunächst selbst beherrschen. Unser Beruf, der Disziplin voraussetzt, die Reflexe festgelegt hat und sie beherrscht, ist unlösbar mit unserer Kunst verknüpft, die Freiheit fordert und Schwärmerei duldet.«17 Copeau nimmt hier eine Trennung zwischen Kunst und Beruf vor: Während die Professionalität des Berufs auf eine Beherrschung von darstellerischen Techniken zielt, wird die Kunst einem Bereich der Emotion und der freien Entscheidung zugeordnet. Der Schauspieler ist in diesem Sinne sowohl Genie als auch Arbeiter an der Darstellung. Zum Beruf gehören »die Übung und Beachtung der Grundregeln, fehlerloses Funktionieren, ein sicheres Gedächtnis, eine gehorsame Diktion, regelmäßiges Atmen und entspannte Nerven«.18 Erst durch diese Fähigkeiten kann der Schauspieler eine Konstanz in seiner Arbeit erreichen. Und erst diese Voraussetzungen machen das Improvisieren möglich: »Die Beständigkeit von Stimme, Haltung und Bewegung bewahrt Neuheit, Klarheit, Vielfalt und Phantasie, Gleichmäßigkeit und Frische. Sie gestattet zu improvisieren.« 19 Das Unvorhergesehene der Improvisation bedarf einer Beständigkeit und einer Kontrolle über die schauspielerische Darstellung. Beschrieben wird eine ambivalente Position des Schauspielers, dessen Kontrolle niemals vollständig sein darf, dessen Tun nicht vollständig in Arbeit im Sinne von 16. Ebd., S. 274. 17. Der Schauspieler ist durchaus gerührt, seine Professionalität wird aber helfen, diese Rührung zu beherrschen. »Der Künstler herrscht ruhigen Gewissens über die Unordnung in seiner Werkstatt. Je stärker ihn die Rührung durchströmt und erregt, desto schärfer arbeitet sein Verstand. Diese Kühle und dieses Beben vertragen sich – wie im Fieber oder Rausch.« (Ebd., S. 275.) 18. Ebd., S. 276. 19. Ebd.
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Wiederholen und Trainieren aufgehen darf, sondern immer noch etwas anderes sein muss. Zugleich bleibt aber die ›erste Darstellung‹ das, was erarbeitet werden soll, auch wenn dieses Ziel niemals erreicht werden kann. Es gilt die Intentionalität des eigenen Tuns zu umgehen, das heißt, an einer szenischen Darstellung zu arbeiten, die so aussehen soll, als wäre sie nicht erarbeitet worden. Dieses Paradox bestimmt verschiedene Schauspieltheorien des 20. Jahrhunderts.
Überraschungsszenar ien Das Improvisieren als Suche nach etwas ›Unvorhersehbarem‹, nicht Geplantem, zielt auch auf ein Moment der (Selbst-)Überraschung. In der Improvisation zeigt sich auch für den Improvisierenden etwas Neues. Einer der ersten, der es für notwendig erachtet, bei der Suche nach dem »Erleben« im schauspielerischen Prozess systematisch mit Improvisation umzugehen, ist Konstantin S. Stanislawski. Grundlegend für seine Probenarbeit sind die so genannten »Etüden«, Übungen und Improvisationsaufgaben, die den Schauspielern dabei helfen sollen, einen glaubhaften Figurenentwurf zu entwickeln. Diese Aufgaben zielen auf ein spezifisch theatrales Handeln des Schauspielers: »Stanislawski sagte einmal: ›Sie fahren in großer Gesellschaft auf einem Dampfer irgendwohin. Da sitzen Sie nun an Deck und nehmen Ihr Mittagsmahl ein. Sie essen, Sie trinken, schwatzen und flirten mit den Damen. All das machen Sie sehr gut. Aber ist das Kunst? Nein. Das ist Leben. Jetzt stellen Sie sich einmal einen andren Fall vor! Sie sind zur Probe ins Theater gekommen. Auf der Bühne wird ein Deck errichtet und der Tisch gedeckt. Sie treten auf und sagen sich: ›Wenn wir in lustiger Gesellschaft Dampfer führen und zu Mittag äßen, was würden wir da tun?‹ Und mit diesem Augenblick setzt unsere schöpferische Tätigkeit ein.«20
Es zeigt sich die Paradoxie improvisatorischen Handelns auf der Bühne. Da sich Sprache, Aktionen und Bewegungen nicht von denen der Alltagspraxis unterscheiden und somit ›Material‹ und ›Form‹ der Improvisation im Theater die gleichen sind wie im alltäglichen Handeln, braucht die Improvisation eine besondere Rahmung, eine Darstellungsaufgabe. Erst durch diese Rahmung bekommt das Handeln den Status eines künstlerischen Tuns. Grundlegend bleibt dabei das Durchspielen verschiedener Möglichkeiten – sei es real auf der Bühne oder im Probenraum, sei es gedanklich 20. Vasilij Torporkov: Stanislawski bei der Probe, Berlin: Henschel 1997, S. 197.
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mit der Formel »was wäre wenn« gefasst. Die Produktivität der Improvisation liegt nach Stanislawski in der Potenzierung der Darstellungsmöglichkeiten. Dabei umfasst die improvisatorische Aufgabe auch immer die Position der Beobachtung: Indem sich die Schauspieler einer Aufgabe stellen, deren Ausgang offen ist und nicht vorgegeben, entsteht eine Überlagerung von Produzieren und Rezipieren. Wer improvisiert, beobachtet sich selbst bei seinem Tun, sucht danach, sich dem Unvorhergesehenen der Darstellungsaufgabe aber auch seines Handelns selbst auszusetzen, sich überraschen zu lassen vom eigenen Tun, das damit immer auch zu etwas Fremden wird. Diese Entfremdung vom eigenen Tun in der Improvisation wird oft als komischer Aspekt des Probens ausgestellt. Der Film Actrices (2008) von der italienischen Schauspielerin und Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi zeigt die Protagonistin, eine Schauspielerin, bei der Probe. Sie scheitert an der einfachen Aufgabe, unter den Augen des Regieteams eine Tür zu öffnen. Immer wieder beginnt sie, bremst kurz vor der Klinke ab, hält sie in der Hand, ohne sie herunterzudrücken, geht noch mal weg, probiert es wieder, bricht ab, nimmt den Ellenbogen zur Hilfe. Schließlich weiß sie nicht mehr, ob sie Links- oder Rechtshänderin ist. Der Anspruch an die Improvisation, dass das Spiel der Figur einen besonderen Eindruck von Authentizität in der Handlung vermitteln soll, überlagert die alltäglich ausgeführte Geste. Die Selbstbeobachtung lässt die routinierte Aufgabe des Türöffnens fremd werden: Die Schauspielerin weiß nicht mehr, wie man diese ›einfach‹ ausführt. Die Tür bleibt letztlich geschlossen. Die Probensituation als Improvisation hebt jede Handlung hervor, sei sie auch noch so alltäglich, und führt diese auf. Das, was im Alltag automatisch passiert, wird zu einer hervorgehobenen Handlung, bei welcher der Schauspieler nicht nur beobachtet wird, sondern sich auch selbst beobachtet: Die Offenheit der Aufgabe, die Möglichkeit, es auch anders zu tun, die zwangsläufige Bewertung seines Vorgehens führen zu einer Form der Entfremdung von der eigenen Handlung. Problematisch wird der Aspekt der Selbstbeobachtung, wenn er zu einer Form der ›Selbstzensur‹ führt, wie in der oben beschriebenen Filmszene, und somit die Darstellungsmöglichkeiten der Schauspieler nicht potenziert werden, sondern zusammenbrechen. Der prüfende Blick von außen wird vom Schauspieler bereits vorweggenommen: An die Stelle der Prüfung tritt eine Selbstkontrolle. Das Problem der Selbstbeobachtung beim Proben und der daraus erwachsenden Selbstentfremdung thematisiert auch Stanislawski – beispielhaft anhand des Gehens auf der Bühne. Er löst dieses Problem, indem er den Schauspielern eine zweite (schwierigere) Aufgabe stellt, und die 172
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intellektuelle Anstrengung der zweiten Aufgabe den Schauspieler dann von der Selbstbeobachtung beim Ausführen der ersten, alltäglichen ablenkt.21 Die Probenarbeit sucht also auch immer der Selbstentfremdung entgegenzuarbeiten. Stanislawski spricht in diesem Zusammenhang von »Tricks«22. Als Trick wird das Schaffen von Situationen bezeichnet, in denen die Schauspieler überrascht werden. Sie wissen zwar um die Improvisationssituation, was aber genau passieren wird, entzieht sich ihrem Wissen. Indem sie beim Improvisieren überrascht werden, werden sie zum ›glaubhaften‹ Handeln gezwungen. In der Überraschung bricht die Auff ührungssituation der Probe ein Stück weit zusammen: Der Schauspieler vergisst für einen Moment die Selbst- und Fremdbeobachtung seines Tuns, weil er unmittelbar agieren muss. Bei der Probe zur Inszenierung Die Schwestern Gerard inszeniert Stanislawski ein solches Überraschungsszenario. Die Schauspielerin Moltachanowa hat Probleme bei der Darstellung einer blinden Figur. Nach einem kurzen Gespräch über die möglichen Lösungen für das Problem lässt Stanislawski plötzlich die Lichter im gesamten Bühnen- und Zuschauerraum löschen. Er ruft die Schauspielerin zu sich, die im Dunkeln nichts sehen kann. Sie irrt im dunkeln Zuschauerraum herum, nicht wissend, wo sie sich hinbewegen soll: »Hier ist niemand, fuhr sie fort, als sie das äußerste Ende des Saales erreicht hatte. ›Konstantin Sergejewitsch, wo sind Sie denn?‹ Keine Antwort. Selbst wir Zuschauer waren betroffen. […] Die Moltachanowa wanderte in der Dunkelheit weiter durch ein Chaos von Gegenständen. Die einfachsten Worte und Ausrufe der Schauspielerin klangen jetzt sehr intensiv und wurden höchst eindrucksvoll.«23
Schließlich bricht die Schauspielerin zusammen, schluchzend ruft sie nach ihrer Schwester im Stück. Stanislawski gibt die Anweisung, das Licht wieder einzuschalten, und bemerkt: »Jetzt wissen Sie, was Blindheit ist.«24 Die Schauspielerin wird der Improvisation auf mehrfacher Ebene ausgesetzt. Aus der individuellen Erfahrung der Schauspielerin entsteht im »Erleben« der Situation, um im Vokabular Stanislawskis zu bleiben, die Darstellung der Figur jenseits des »Verstandes«. Das Löschen des Lichts markiert dabei das Aussetzen der Beobachtung. Weder die Regie, noch die 21. Vgl. Konstantin S. Stanislawski: Ausgewählte Schriften. Hg. von Dieter Hoffmeier. 2 Bde., Berlin: Henschel 1988; Bd. 1, S. 111. 22. Vgl. Nikolaj M. Gortschakow: Regie. Unterricht bei Stanislawski, Berlin: Henschel 1959, S. 431f. 23. Ebd., S. 445. 24. Ebd.
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anderen Anwesenden oder die Darstellerin selbst ›sehen‹ in dem Moment. Ihre ›Blindheit‹ und damit die Auf hebung der Beobachtungssituation eröffnet die Möglichkeit zu einer anderen Form der künstlerischen Kreativität. Entworfen wird eine Situation, die einen Moment des Unerwarteten bewusst mitinszeniert. An die Stelle der reflexiven Selbstbeobachtung tritt eine Form der Erfahrung, die durch eine spezifische Situation hervorgerufen wird und den Schauspieler damit zu einem authentischen Handeln zwingt, einem Handeln, das nicht intellektuell kontrolliert ist. Dieses »emotionale Erleben« ist für Stanislawski notwendige ästhetische Praxis der Schauspielerarbeit und kann nicht bewusst hergestellt werden. Im Gegenteil: »[d]urch Täuschung muß man die schöpferische Phantasie der Schauspieler anregen.«25 Die Probe wird zur Inszenierung von »Zwangssituationen« und »Überraschungsmomenten« benutzt, um eine spezifische, authentische Qualität der Darstellung zu erlangen. Ein »wahrhaftiges Erleben« im Moment des Improvisierens ist damit nur als (Selbst-)Überlistung zu haben. Um den Schauspieler aber überlisten zu können und ihm ein ›authentisches‹ Überraschtsein zu ermöglichen, müssen die Schauspieler gezielt im Unwissen über die Vorstellungen des Regisseurs und auch dessen Konzeption der Inszenierung gelassen werden. Sich der Improvisation auszusetzen, bedeutet, nicht zu wissen, was kommen wird, im ›Dunkeln zu tappen‹ wie die Schauspielerin in obiger Szene. Das Improvisieren zielt darauf, ›etwas geschehen zu lassen‹, allerdings unter der Kontrolle und bewussten Steuerung des Regisseurs. Denn Stanislawski geht durchaus davon aus, dass der Regisseur sein Konzept hinsichtlich des Stücks geplant hat und mit der Improvisation ein konkretes Ziel verfolgt: Indem er den Rahmen der Improvisation setzt, hat er eine Vorstellung davon, was in der Darstellung entstehen wird. Es zeigt sich ein Widerspruch in diesem Spiel um Wissen und Unwissen: Die Schauspieler sollen sich auf das Moment des Unerwarteten einlassen. Sie wissen, dass etwas in den Proben passieren wird, bleiben aber im bewusst inszenierten Unwissen darüber, wann und wie. Was auf der Probe geschieht, ist für sie unvorhersehbar, aber nicht »unerwartbar«26. Die Probenimprovisationen gleichen dem Besuch einer Geisterbahn: Man erwartet gespannt, dass etwas passiert, weiß aber nicht was. Der Regisseur bleibt aus dem Überraschungsszenario ausgespart, für ihn ist das Handeln des Schauspielers nicht unvorhersehbar, im Gegenteil, er hat es bewusst 25. Ebd., S. 174. 26. Vgl. zum Verhältnis von Erwartung und »Unerwartbarem«: Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 91f.
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geplant, vielleicht nicht im Detail, aber in Auswahl und Setzung der Darstellungsaufgabe. Es deutet sich ein Konzept an, dass am Ende die ›richtige‹ Form der Improvisation zur ›richtigen Vorstellung‹ der Rolle führt.27 Diese Improvisation ist aber nur eine Vorstufe zur eigentlichen schauspielerischen Darstellung. Die Schauspielerin muss auch im Licht der Aufführung blind spielen. In der Probenpraxis eines Theaters, das auf eine wiederholbare Inszenierung zielt, steht das Improvisieren vor einem spezifischen Problem: Wie kann das, was in den Proben entworfen wurde, Teil der Inszenierung und damit festgelegt, fi xiert und wiederholbar werden? Stanislawski antwortet auf diese Fragen, indem er gar nicht erst fordert, das Improvisierte wiederholen zu lassen. Was gespielt worden ist, kann nicht »festgehalten werden«, es ist »unwiederholbar«: »Festhalten kann man nur eben jene Wege, die Sie zu diesem Ergebnis geführt haben.«28 Das Improvisieren zielt damit nicht auf die Darstellung selbst, und die Darstellung kann auch nie fi xiert werden. Nicht das Hervorbringen einer szenischen Darstellung steht im Vordergrund – in der beschriebenen Szene ist letztlich für niemanden etwas zu sehen – sondern die Erfahrung der Schauspielerin. Die Schauspielerin darf ihre Arbeit damit nicht allein im Produzieren theatraler Darstellung begreifen, sondern in der Bereitschaft, sich der unerwarteten Situation auszusetzen, Erfahrungen zuzulassen als Voraussetzung für ihre weitere Probenarbeit. Nach der Improvisation setzt eine andere darstellerische Arbeit ein. In der Theorie des »emotionalen Gedächtnisses«29 soll der Schauspieler mit Hilfe von Erinnerungstechniken erlernen, jene unwillkürlichen und nach Stanislawski unbewussten Darstellungsmittel des »emotionalen Erlebens« bewusst einzusetzen. Die in der Improvisation ausgelösten Affekte sollen für den Darsteller reproduzierbar sein, ohne für den Zuschauer ihre Qualität zu verändern. Somit muss an anderen Dingen gearbeitet werden: an sich selbst und dem emotionalen Erleben, um die Voraussetzungen für 27. Zuviel Wissen um das Regiekonzept erstickt nach Stanislawski die künstlerische Phantasie: »Der Regisseur beging die Unvorsichtigkeit, seine Karten aufzudecken und sein Endziel auszuplaudern, das die Schauspieler anstrebten. Durch diesen Lapsus stockte bei den Schauspielern sofort die innere, affektive Arbeit, die ihnen bisher selber noch unklar war, und ihre Energie richtete sich auf die Oberfl äche, das heißt auf die äußere Ruhe. Sie erstarrten innerlich und äußerlich.« K.S. Stanislawski: Ausgewählte Schriften; Bd. 1, S. 193. 28. V. Torporkov: Stanislawski bei der Probe, S. 233. 29. Stanislawski spricht in seinen frühen Schriften noch von einem »affektiven Gedächtnis«. Später ersetzt er den Begriff durch den des »emotionalen Gedächtnisses«. Vgl. das Begriffsregister in: K.S. Stanislawski: Ausgewählte Schriften; Bd. 2, S. 398.
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eine ästhetische Praxis zu schaffen, die sich gerade den Kategorien der Arbeit entzieht. Die Aneignung der Technik ist dabei Voraussetzung für die schauspielerische Arbeit, eine Garantie für das Gelingen der Darstellung kann auch sie nicht geben. Wie Wachtangow sucht auch Stanislawski durch das Improvisieren auf der Probe in der einstudierten, festgelegten Auff ührung einen Eindruck des Improvisierten herzustellen. Damit deutet sich ein Verständnis von Improvisation als Vorbereitung der Auff ührung an, die der Improvisation gerade nicht den Status von Kunst zuschreibt. Indem das Improvisieren von der Bühne in den Probenprozess verlegt wird, wird es zu einer Art ›Vor-Kunst‹. Das, was improvisiert wird, liegt vor der ›eigentlichen‹ Darstellung, die in der Improvisation zwar zum Vorschein kommt, ohne sich allerdings ganz zu zeigen. Um zu einer künstlerischen Darstellung zu werden, bedarf es einer weiteren Form der Bearbeitung durch den Schauspieler wie durch den Regisseur. In der Probenarbeit Stanislawskis lassen sich zwei Formen des Improvisierens unterscheiden: Zum einen die Rahmung durch eine Darstellungsaufgabe, die den Darsteller dazu bringen soll, so zu spielen, als sei er in der Situation, und zum anderen das Aussetzen der Darstellungssituation als Überrumpelung und Konfrontation des Schauspielers mit dem Unbekannten. Geht es im ersten Falle um ein Durchspielen durchaus bekannter Darstellungsmöglichkeiten, sucht die zweite Strategie nach einem Durchbrechen der Darstellungskonventionen.
Improv isieren Üben Das Improvisieren als Strategie zum Auf brechen von Darstellungsmustern wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Topos der Probenarbeit. Wenn Patrice Pavis erklärt, dass beim Improvisieren etwas »im Feuer der Aktion entwickelt wird«30, dann geht es um das Moment des Unvorhergesehenen, des Unerwarteten und Nicht-Kontrollierten. Während Stanislawski diesen Kontrollverlust als »Trick« einsetzt, um etwas anderes zu erreichen, wird er für verschiedene Probenkonzepte zum grundlegenden Prinzip der theatralen Arbeit. Während der Proben zu A Midsummer Night’s Dream stellt Peter Brook seinen Schauspielern folgende Improvisationsaufgabe: »[d]ie Aufteilung eines Shakespeare-Monologs in drei Stimmen wie bei einem Kanon, den dann die Schauspieler mit halsbrecherischer Geschwindigkeit immer und
30. »[Q]uelque chose d’imprévu, […] ›inventé‹ par le feu de l’action.« P. Pavis: Dictionnaire du theatre, S. 214.
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immer wieder rezitieren müssen.«31 Brook fügt hinzu: »Take it like a jazz improvisation«.32 Der Text wird zum lautlichen Material, mit dem jenseits seiner inhaltlichen Bedeutung gespielt wird. Noch stärker als bei Stanislawski wird die Improvisation durch eng gesetzte Spielregeln beschränkt, der Handlungsrahmen, in dem sich die Schauspieler bewegen können, stark begrenzt. Mit der Forderung nach ›Geschwindigkeit‹ wird zugleich ein Moment der Überforderung eingeführt, es wird nach einer Situation gesucht, in der die Schauspieler ihr Sprechen nicht mehr bewusst steuern können. Die Überforderung, die Geschwindigkeit macht es dem Schauspieler unmöglich sein »normales expressives Instrumentarium« zu gebrauchen: »Dann durchbricht er plötzlich eine Schranke und erfährt, wie viel Freiheit innerhalb der engsten Disziplin gewährt sein kann.«33 Konzipiert wird ein paradoxes Verhältnis von Offenheit und Begrenzung: Die Improvisation eröff net die Grenzüberschreitung, in dem Maße, wie sie sich Regeln setzt. Gekoppelt ist dies mit einem anderen Prinzip: dem der Wiederholung. Im Wiederholen einer Aufgabe liegt nicht nur die Möglichkeit des Ausprobierens verschiedener Möglichkeiten, sie kann auch als Arbeit am Widerstand verstanden werden, mit dem Ziel einer produktiven Abweichung. In der Konzeption der Übung als Kanon kommt eine weitere Ebene des Improvisierens hinzu: Nicht allein für sich arbeitet der Schauspieler, sondern als Kollektiv, in dem immer auch eine Reaktion auf den anderen erforderlich ist. Die Regeln des Auf baus sind für alle klar, die Worte, mit denen gearbeitet wird, sind bekannt: Innerhalb dieses begrenzten Rahmens geht es um ein Austesten von Möglichkeiten und zugleich um ein Austesten des Partners. Improvisieren wird zum permanenten Neu-Ar-
31. Peter Brook: Der leere Raum, Berlin: Alexander-Verlag 1988, S. 167. David Selbourne beschreibt in seinem Probenbericht die Szene ausführlich: Es geht um die kurze Strophe »Over hill, over dale«, den Beginn des zweiten Aktes. »As an initial step, Brook asks that its lines to be spoken in alternation by two actors; then that each line be divided in two actors; than each word of each line be spoken in alternation of two actors. The same exercise is repeated, using four actors, the allocation of lines and part-lines being made by the actors themselves on quick impulse. In a second step, the reading of the lines consists of alternation between actors speaking his line, part-line or word alone – and two or three of the actors speaking their alloted line, part-line or word simultaneously, in chorus.« David Selbourne: The Making of A Midsummer Night’s Dream, London: Metuen 1982, S. 25. 32. P. Brook: Der leere Raum, S. 167 33. Ebd.
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rangieren und Verschieben des vorgegebenen Materials. Das Unerwartete liegt in der neuen Verknüpfung von bereits Bekanntem. Improvisieren präsentiert sich hier nicht als Technik individueller schöpferischer Erfindung, sondern als ein Finden und Neu-Erfinden von bereits Dagewesenem, als Spiel mit der Unsicherheit und Offenheit des Prozesses, das eine klare Rahmung und eindeutige Aufgabenstellung braucht. Es gilt, sich in der Improvisation Aufgaben, Situationen und Mitspielern auszusetzen. So zeichnet sich das Improvisieren durch eine besondere Ambivalenz aus. Nach Brook bewegt sie sich zwischen »Unschuld und Erfahrung«, wie auch zwischen »Spontaneität und Wissen«34. Nur wenn sich der Schauspieler in die Unsicherheit der Situation begibt, das heißt, sich der Überforderung und Interaktion mit den anderen aussetzt – jenseits einer bewussten Steuerung durch einen eigenen Plan oder den Blick von außen –, kann er an die »Grenzen [seiner] Möglichkeiten« und zu einem »tieferen und schöpferischen Impuls«35 gelangen. Entscheidend ist, dass dieser Impuls keinen Grund hat – weder in der Vorstellung einer ursprünglichen Kreativität des Schauspielers noch im Konzept des Regisseurs: Im Improvisieren wird vielmehr ein System geschaffen, in dem Dinge geschehen, jenseits der Intention eines individuellen schöpferischen Subjekts. Die Freiheit der Improvisation liegt in der Koppelung des wiederholenden Tuns, eingebettet in ein kollektives Szenario von Aktion und Reaktion, in dem Hervorbringen eines nicht-intentionalen Funktionierens. Sei es, wie in der oben beschriebenen Aufgabe, dass die Improvisation als Re-Arrangieren von Material begriffen wird. Sei es, dass über die körperliche Übung im Wiederholen gleicher Bewegungsabläufe eine Bewegungskompetenz des Darstellers erreicht werden soll, die es ihm ermöglicht, auf verschiedenste Weise auf Unerwartetes in der szenischen Arbeit zu reagieren. Es zeichnet sich ein komplexes Wechselverhältnis von Proben, Improvisation und Wiederholung ab, als Frage nach dem Verhältnis von Kreation und Reproduktion, von Offenheit und Planung.
Improv isieren Fixieren »Jeder kann improvisieren. Die Schwierigkeit besteht darin, die Improvisation genau zu wiederholen, in ihren kleinsten Details, Aktion und Reaktion, Rhyth-
34. Ebd., S. 163. 35. Ebd., S. 165.
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mus und Spannung, die auch nach hundert Wiederholungen die gleiche Frische und Kraft haben müssen wie beim ersten Mal.«36
Das erklärt der Regisseur Eugenio Barba und fügt hinzu, dass die »Kraft einer Improvisation« nicht von ihrer »Dramatizität« abhänge, »sondern von ihrer Präzision«.37 Wie etwas wiederholen, das im Improvisieren ›unvorhergesehen‹ entstand? Barbas Vorschlag ist einfach: Üben. Er ruft ein »Zeitalter der Übung«38 aus und verlangt vom Schauspieler beständige körperliche Übungen auch jenseits der Probenarbeit. Eine Übung ist für Barba eine »Handlung, die man lernt und die man wiederholt«39 und die sich über kleinste physische Aktionen konstituiert. Isolation und Konzentration von körperlichen Aktionen sind das Prinzip des Übens. Für den Schauspieler gelte es, eine Übung wie ein Vokabular zu lernen, um Aktionen nicht nur mechanisch zu wiederholen, sondern sie so weit zu automatisieren, dass sie »von allein kommen« und es möglich wird, mit ihnen zu improvisieren. Die Übung wird zur puren Form, zu einem Vorgang jenseits seiner intentionalen Steuerung. Barba zielt mit seinen Übungen darauf diesen Punkt zu überschreiten – mit dem Ziel des Weitermachens ›ohne Abstumpfung‹, dem beständigen Verschieben von Material. Allerdings bleibt zwischen Improvisieren und Üben eine Leerstelle: jener Prozess der Wiederholung und Präzisierung des Improvisierten, von dem Barba spricht. Wie lässt sich der Wechsel zwischen Improvisieren als Erfinden und Üben/Wiederholen als Wieder-Finden fassen? Ian Watson beschreibt eine Workshop-Demonstration Barbas, die das Arbeiten an einer Improvisation vor- und auff ühren soll: »Eugenio begins to work on Gretchen’s mad scene in Faust. He asks Iben [Rasmussen] to sing Gretchen’s song and develop a physical improvisation on it. He then asks her to improvise fragments of action based on several words from the song. […] Several images are repeated: lifting and fl apping her skirt […], taking several short steps […]. Using a combination of the initial improvisation and these images, she selects segments of action and […] fixes elements of the improvisation. […] [S]he strings these elements together into a single improvisation about two minutes long, which she repeats many times to learn. […] Once 36. Eugenio Barba: Bemerkungen zum Schweigen der Schrift, Schwerte: Verlag Theaterassoziation 1983, S. 46. 37. Ebd., S. 51. 38. »The Age of Exercises«, nennt Barba das zwanzigste Jahrhundert. Eugenio Barba: »An Amulet Made of Memory. The Significane of Exercises in the Actor’s Dramaturgy«, in: The Drama Review 41, 4 (1997), S. 127-132, hier S. 128. 39. Ebd., 103.
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she can repeat the improvisation, […] Eugenio begins to work with her. He first marks out a square metre on the floor and asks her to limit her improvisation within the square. […] When Iben seems to be comfortable with this reduction, Eugenio asks her to rearrange the order of several sequences […].«40
Improvisation und Wiederholung, Erfinden und Üben überlagern sich in dieser Aufgabenstellung. In immer neuen Aufgabenstellungen wird das Material bearbeitet: im Wechsel zwischen verschiedenen Geschwindigkeiten, im Auslassen bestimmter Sequenzen, in einer anderen Ausrichtung im Raum, im Wechsel zwischen Statik und Bewegung durch das Einfügen von Standbildern, als ›freezing‹ oder durch das Verändern der Darstellungsqualität in der Aufgabe, sich wie im Nebel zu bewegen. Das Verhältnis von Improvisation und Wiederholung ist nicht als Umschlagpunkt zwischen Offenheit und Festlegung zu denken, sondern als permanentes Verschieben der Möglichkeiten des Improvisierenden. Jeder dieser Schritte wird auf zweifache Weise zu fi xieren versucht: im wiederholenden Üben der Schauspieler, als Sicherung eines ›performativen Wissens‹ und durch die Beobachtenden als Mitschriften in Form von Notationen. Das Improvisieren und Üben wird zu einer Aufgabe, Material zu produzieren, das dann in der weiteren Probenarbeit bearbeitet, neu zusammengesetzt, montiert wird, »wie Filmstreifen, die man schneiden kann«. 41 Ein Material, das nur dann weiter bearbeitet werden kann, wenn es der Schauspieler beherrscht. Improvisation wie Übung zielen damit beide auf ein Moment der Selbstüberschreitung. Der Schauspieler ist gefordert, sich auszusetzen: sei es der Offenheit der Situation, sei es der Überprüfung der Möglichkeiten seiner selbst. All jene Umwege, Tricks und Verfahren sind aber immer nur Versuche, sich eines spezifischen Eindrucks von Unmittelbarkeit der Darstellung, dem Nicht-Konstruierten, dem für die Zuschauer Unvorhersehbaren, zu nähern. Unvorhersehbar nicht im Sinne eines Staunens über das Gezeigte, das so noch nicht gesehen wurde, sondern vielmehr als Abwesenheit einer Intentionalität des Zeigens – etwas, was nicht gewollt zu sein scheint, kein (offensichtliches) Ziel hat. Die Hoff nung bleibt, dass über den Rahmen des Improvisierens der Schauspieler der Intentionalität seines Zeigens entkommen könne, auch wenn dieser Rahmen selbst wieder vermittelt werden muss. Insofern zeigt sich in den Konzeptionen des Improvisierens 40. Ian Watson: Towards a Third Theatre. Eugenio Barba and the Odin Theatre, London/New York: Routledge 1993, S. 81f. 41. Eugenio Barba: Jenseits der schwimmenden Inseln, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 119.
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in der Probenarbeit und der Übertragung auf die Bühne ein besonderes Paradox schauspielerischer Darstellung: die Suche nach einer vermittelten Unvermitteltheit.
Literatur A llain, Paul: »Improvisation«, in: ders./Jen Harvie: The Routledge Compa-
nion to Theatre and Performance, London/New York: Routledge 2006, S. 161f. Barba, Eugenio: »An Amulet Made of Memory. The Significane of Exercises in the Actor’s Dramaturgy«, in: The Drama Review 41, 4 (1997), S. 127-132. Barba, Eugenio: Bemerkungen zum Schweigen der Schrift, Schwerte: Verlag Theaterassoziation 1983. Barba, Eugenio: Jenseits der schwimmenden Inseln, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985. Brook, Peter: Der leere Raum, Berlin: Alexander-Verlag 1988. Copeau, Jacques: »Überlegungen eines Schauspielers zu Diderots Paradox«, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam 1991, S. 270-277. Devrient, Eduard: Geschichte der deutschen Schauspielkunst [1848-1874], Berlin: Henschel 1967. Ebert, Gerhard: Improvisation und Schauspielkunst, Berlin: Henschel 1979. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter, München: Hanser 1985-1998. Gortschakow, Nikolaj M.: Regie. Unterricht bei Stanislawski, Berlin: Henschel 1959. Gröne, Maximilian: »Improvisation und Repräsentation – die kunstvolle Praxis der frühen Commedia dell’arte«, in: ders. et al. (Hg.), Improvisation. Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven, Freiburg i.Br.: Rombach 2009, S. 101-116. Herloßsohn, Karl/Hermann, Marggraf (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon, Altenburg/Leipzig: Verlag Expedition des Theater-Lexikons 1846. Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne, München: Fink 2005. Holland, Jocelyn: »The School of Shipwrecks: Improvisation in Wilhelm Meisters theatralische Sendung and the Lehrjahre«, in: Goethe Yearbook XV (2008), S. 19-34.
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Annemar ie Matzke
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Selbst-Überraschung : Improvisation im Tanz 1 Gabriele Brandstetter
Zwei Denkbilder von Walter Benjamin sollen den Rahmen der folgenden Überlegungen abstecken. Das erste Denkbild stammt aus der Textsammlung Einbahnstraße: »In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ›kann‹. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden.«2 Das zweite Denkbild stammt aus der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Dort schreibt Benjamin in »Der Lesekasten« über das Lesen- und Schreibenlernen mit der Hand, die die »Lettern in die Leisten« schiebt: »Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.«3 1. Der Text dieses Beitrags basiert weitgehend auf einer Lecture-Performance, in der zwischen den Vortrags-Segmenten Tanz-Improvisationen von Friederike Lampert implementiert waren. Anlass war die Tagung »Improvisation«, 25. bis 27. Januar 2007 in Freiburg. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Improvisation im Tanz. Lecture-Performance mit Friederike Lampert«, in: Maximilian Gröne et al. (Hg.): Improvisation. Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven, Freiburg i.Br.: Rombach 2009, S. 133-157. 2. Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: ders., Kleine Prosa (= Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Band IV.1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 89. 3. Walter Benjamin: »Der Lesekasten«, in: ders., Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 96-97, hier S. 97.
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Gabr iele Brandstetter
Das erste Denkbild befasst sich mit der Steuerung von Handlungen: durch Technik, durch ›Können‹ oder durch eine Doktrin. Es gibt jedoch Situationen, die weder durch technische noch durch doktrinäre Beherrschung gelenkt werden können. Die Bewegung nimmt einen anderen Weg, einen Umweg sozusagen, der nicht auf der ›rechten‹ Seite verläuft, sondern ›linkerhand‹ eingeschlagen werden müsste: als Improvisation. Ein Handeln ex improviso – jenseits des Gesetzes, jenseits der Richtlinien und Hierarchien einer gegebenen Handlungs-Organisation. Diese andere Bewegung – die ›linkshändige‹ – entfaltet eine eigene, eine revolutionäre Kraft (›Stärke‹). Während Benjamin in diesem Szenario Improvisation als eine Politik des Handelns versteht, als spontane Aktion, die ihre überraschende Wirkung nicht aus der gekonnten Anwendung von Regeln bezieht, sondern – im Gegenteil – sie aus dem Bruch mit der ordentlichen ›Technik‹, aus dem Irregulären schöpft, konzentriert sich Benjamins zweite Erzählung auf den Erwerb dieses Könnens selbst. Lesen, Schreiben und Gehen, sind menschliche Kulturtechniken; ein ›Können‹, mimetisch angeeignet, wie etwa auch das Musizieren oder das Tanzen. Kann man Körpertechniken, die durch Übung und Praxis habitualisiert, performativ verkörpert und dem Bewegungsgedächtnis eingeprägt sind, ver-lernen? Kann man es unabhängig davon, ob es sich um alltägliche Bewegungstechniken wie Gehen, Schreiben, Schwimmen 4 handelt, oder gar um hoch virtuose Fertigkeiten – ›Können‹ im Sinn von Kunst – wie etwa in der Musik oder im Tanz? Es wäre ein ›Vergessen‹, das hinter die Codierungen, die diskursiven Einschreibungen zurückgreifen müsste. Benjamin experimentiert hier mit zwei Konzepten von Improvisation, die gewissermaßen die beiden Enden einer Skala von Möglichkeiten markieren. Zum einen die Risiko-orientierte, die revolutionäre Seite der Improvisation, die im Bruch der Regel, im Aufstand gegen das poetische, das soziale, das politische Gesetz den Impuls zur Wahrnehmung und Verwirklichung von etwas ästhetisch oder politisch Neuem setzt. Und zum anderen eine Idee von Improvisation, die in der improvisatorischen Bewegung die Chance sieht, kreatives Handeln jenseits von Körper-Techniken und
4. Es handelt sich dann um ein Paradox von Bewegungs-Körper-Gedächtnis und ein (kreatives?) Vergessen, wie es Franz Kafka beschreibt: »Ich kann schwimmen wie die anderen, nur habe ich ein besseres Gedächtnis als die anderen, ich habe das einstige Nicht-Schwimmen-können nicht vergessen. Da ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir das Schwimmen-können nichts und ich kann doch nicht schwimmen«, in: Franz Kafka: Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlass. In der Fassung der Handschrift, in: ders., Gesammelte Werke, Band 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 155.
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Selbst-Überraschung: Improv isation im Tanz
-Semiotiken, gerade im Spiel mit den Codes und im Löschen der Matrix zu provozieren. Beide Modelle von Improvisation spielen im Tanz der Moderne eine wichtige Rolle. Im Folgenden sollen Spielarten und Möglichkeiten von Improvisation im Tanz vorgestellt werden: eine diskursive Anspielung an das »9-PunkteSystem«, das Amanda Miller in Anlehnung an Rudolf von Labans Raumund Bewegungstheorie als Basis ihres Improvisations-Konzeptes entwickelt hat.5 • Der erste Teil geht um Improvisation als Bewegungs(er)findung/Körpertechniken. • Der zweite Teil stellt Improvisation als Kompositionsverfahren vor. • Der dritte Teil befasst sich mit der Wahrnehmung und der Wirkung von Improvisation.
I. Bewegungs(er)f indung 1. P UNK T : VORBEMERKUNG ZUR I MPROV I SAT ION IN DER TANZGE SCHICHTE Eine Rekonstruktion der Improvisation in einer Geschichte des Tanzes bedarf einer Archäologie in zwei Dimensionen: einer Archäologie einer Körper-Geschichte, wie dies auch für andere performative Kulturen und Künste – etwa die Geschichte des Gesangs, oder der Musikauff ührungspraxis – gilt. Und zusätzlich einer Archäologie der Schrift. Denn anders als in Kunstformen wie der Literatur, oder der (westlichen) Musik hat sich für den Tanz keine verbindliche Schrift, keine einheitliche Form der Notierung herausgebildet. Vorhandene Schriftsysteme erscheinen lückenhaft, brechen ab, werden durch andere ersetzt. Der Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der für die Bedeutung der Improvisation – etwa in der Literatur, zwischen Oralität und Schrift, zwischen Genie des aus dem Stegreif spielenden Improvisators (so z.B. bei Hans Christian Andersen) und Genie des poetischen Textes – eine große Rolle spielt, stellt sich in Tanz und Choreographie anders dar. Erst die Medien – »im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« von Kunst – stellen hier wieder Vergleichbarkeiten her: etwa zwischen Jazz-Improvisations-Aufnahmen auf CD und Video-Aufzeichnungen von Mitschnitten von Tanz-Auff ührungen. Diese wichtige Perspektive bedürfte eines eigenen Vortrags. Der 5. Vgl. Friederike Lampert: Tanzimprovisation. Geschichte, Theorie, Verfahren, Vermittlung, Bielefeld: transcript 2007, S. 192ff.
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Akzent meiner Überlegungen liegt auf einer Art exemplarisch-systematischen Darstellung von Improvisation als Produktionsfaktor im Tanz und auf der Frage ihrer Wahrnehmung. Anders als in der oralen Geschichte der Dichter-Sänger, in der Tradition des ›Stegreifspiels‹, in der Improvisation in der Musik, wissen wir wenig über Formen der Improvisation und ihren Stellenwert im Bühnentanz vor 1900. Improvisation – das sagt ja schon das lateinische Wort ›improvisus‹ – ist ein Spiel mit dem Unvorhergesehenen. Sie ist das Gegenstück zur ästhetischen kompositorischen Planung, das Gegenstück zu einem strukturierten und kontrollierten Verlauf von Bewegungen, Handlungen. Und sie ist das Gegenstück zu einer perfekt beherrschten, wiederholbaren Ausführung von vorgeschriebenen Körpertechniken. Improvisation steht für Offenheit eines Prozesses, für Unvorhersehbarkeit und für Kontingenz. Tanz – wie er sich seit der Renaissance als höfischer Tanz und in der Folge als professionelle Bühnentanz-Kunst herausgebildet hat – beruht auf einem System des Schritte-Setzens, der SchrittFolgen, der Körperhaltungen, der Inter-Aktionen. Es sind raum-zeitliche Figurationen und rhythmische (durch Musik gegliederte und artikulierte) Konstellationen der Körper – komplexe Gebilde, deren Architektur, auch wenn sie nicht notiert ist, genau festgelegt bleibt – man denke an die Schritt- und Raummuster eines Menuetts, eines ›Contra-Tanzes‹ (Friedrich Schiller hat in seiner Elegie Der Tanz die vergänglichen Figuren dieses Tanzes als ephemeres Muster der Poesie beschrieben). In diesen Tänzen – und Choreographien – bis ins späte 19. Jahrhundert meint ›Improvisation‹ Variation: ›variatio delectat‹. Wobei der individuelle Gestaltungs-Spielraum eher schmal ist. Dies gilt z.B. für das virtuose klassische Ballett im 19. Jahrhundert: Soli, die die besonderen technischen und darstellerischen Begabungen von Tänzerinnen ausstellen, sind selten von den Tanz-Performerinnen – ad hoc – erfunden: ›improvisiert‹. Auch das Modell der Kadenz, also die ›Fermate‹, die künstlich den Bruch, die Leerstelle markiert, in welche die inventorische Schaustellung des Sängers oder Pianisten einströmt, scheint für die extreme körperliche Leistung und Perfektion von Tänzern nicht der Ort einer Freiheit des Spiels und der individuellen Variation des Materials zu sein. Es gibt kaum das Umspielen von Patterns und der Inszenierung von Spontaneität während der Auff ührung.
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2. P UNK T : I MPROV I SAT ION
AL S
(E R -)F INDUNG
DE S
TANZE S 6
Umso heftiger und folgenreicher ist der Einschnitt um 1900: Die Frage, die gerade der moderne Tanz aufwirft, lautet so schlicht wie radikal: Kann Improvisation nur innerhalb gegebener Regeln (der Bewegung, der Raumordnung, z.B.) stattfinden? D.h. nach dem Prinzip: variatio delectat – das Spiel der spontanen Entscheidung von Schritten und Figuren, wie z.B. im Tango? Oder: lassen sich – jenseits von gegebenen Systemen – Regeln selbst improvisieren? Was bedeutet es die Matrix ihrer (Er-)Findung spontan hervorzubringen? Improvisation als ›inventio‹, als Findekunst neuer Figuren und Poetiken des Tanzes? Diese Maxime prägt den so genannten Freien Tanz und den Ausdruckstanz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn mit der Tanz-Moderne ereignet sich der bis dahin unerhörte Fall, dass – im Namen der ›freien Bewegung‹, der Improvisation – das gesamte bislang vorherrschende System des (Bühnen-)Tanzes gekippt wurde. Die Begründerinnen des modernen Freien Tanzes brachen nicht etwa einzelne Regeln des Balletts. Loïe Fuller, Isadora Duncan, Ruth St. Denis stellten das Bewegungssystem, den Code und die Ästhetik des klassischen Tanzes insgesamt in Frage: mit einem Konzept von Tanz, der auf der Idee von nicht-codierten, ›freien‹, improvisatorischen Bewegung beruhte. Die Radikalität dieser Idee einer individuellen, authentischen ›Bewegung durch Improvisation‹ zeigt sich in einem scheinbar abseitigen Beispiel, das jedoch die Grundmuster des ›Spontanen‹, ›Kreativen‹ in diesem Improvisationskonzept wie in einem Brennglas bündelt: Der Auftritt der »Traumtänzerin« Magdeleine G. (Guipet) in München 1904 war ein ungewöhnlicher Tanzabend.7 Das Publikum sieht Tänze, die von den Kritikern mit Formeln wie »überzeugende Wahrheit der Gebärde«, »hochdramatische Bewegung«, »lieblichste Grazie«8 bedacht werden. Die Darstellerin ist nicht etwa eine ausgebildete Tänzerin, sondern Hausfrau. Während ihrer Tanz-Vorstellung ist sie in Hypnose. Der Veranstalter des Abends ist der Arzt und Psychologe Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, 6. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Inventur: Tanz. Performance und die Listen der Wissenschaft«, in: Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006, S. 295-300. 7. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Psychologie des Ausdrucks und Ausdruckstanz. Aspekte der Wechselwirkung am Beispiel der ›Traumtänzerin Magdeleine G.‹«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller/Alfred Oberzaucher/Thomas Steiert (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Noetzel 1992, S. 199-211. 8. Ebd.
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der »Magdeleine G.« gewissermaßen als eine ›Studie‹ präsentiert. Er hebt in seinem Kommentar hervor, dass »Magdeleine« in ihren Auff ührungen eine Kunstleistung böte, die sich dem höchsten dramatischen und choreographischen Können ebenbürtig an die Seite stellen kann. Nur eben mit dem Unterschied: »Magdeleine« zeigt diese ›Kunst‹ in Hypnose, nicht als einstudierte Choreographie, sondern als spontane Bewegungs-Erfi ndung – als Improvisation. Die ausgreifenden Debatten über Hypnose, Simulation, die in diesem Zusammenhang sowohl die Theater-Tanz-Kritik als auch den Hysterie-Diskurs beschäftigten, können hier nicht rekapituliert werden. Dieser Grenz-Fall einer Performance stellt aber die Leitideen, die auch den Begriff von Improvisation prägen, in ein helles Licht. Erlernte Körper-Bewegung (z.B. eine Tanztechnik) wird als eine Form der Kanalisierung, ja Hemmung des individuellen, ›natürlichen‹ Ausdrucksvermögens verstanden. Die Hypnose erlaube es, dass sich der Körper in seiner ›bildnerischen Ausdrucksfähigkeit‹ bewege. Er schöpfe mithin spontan – ex improviso – aus einem kreativen Reservoir, das durch die Sprachen und Disziplinierungen der Kulturen verstellt werde.9 Mit der Entdeckung des Unbewussten erhält die Idee von einer ursprünglichen Ausdruckskraft der menschlichen Bewegung – vor aller Sprache und jenseits kultureller Reglementierungen – eine neue Wendung. Man könnte auch sagen: der tanzend improvisierende Körper, der »sich selbst entschlüpft«.10
3. P UNK T : D A S PAR ADOX
DER
I MPROV I SAT ION
Lässt sich ein solches ›Tanzen unter die Decke der Kultur‹ denken (und praktizieren)? Ist nicht immer etwas von dem, was bereits erlernt ist (im Sinne jener habitualisierten Bewegungen, die Benjamin anspricht – Gehen und Schreiben), im individuellen Körpergedächtnis unauslöschlich und unvergesslich gespeichert? Und dennoch lautet eine Idee von Improvisation als ›authentischer Bewegungs-Findung‹: sich von den im Körper ›alteingesessenen‹ Disziplinierungen und Codes befreien – ein De-Regulieren der individuellen und tanz-technisch allgemeinen Vorschriften im Körper. Das Paradox lautet: Wie kann Improvisation hinter den Kanon von Körper-Erfahrungen und hinter die Muster tanz- und bewegungstechnischer Schulung zurückgreifen? Und wie kann genau diese unmögliche, zufällige, spontane ›Findung‹ anderer Bewegungen ›erlernt‹ und vermittelt werden? Improvisation als Findekunst ›neuer‹, so nie gesehener und nicht im System vorgeschriebener Bewegungen: Diese Idee führte zu vielfälti9. Ebd. 10. Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 219.
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gen Formen der Auff ührung und des Trainings. Denn offen bleibt auch die Frage des Lernens und Verlernens, des Übens von etwas, das per definitionem nicht als Bewegungsanweisung festzuschreiben ist. So haben die Ausdruckstänzerinnen Modelle des Improvisierens – als Übe-Praxis der Bewegungs(Er)Findung – entwickelt: Mary Wigman, Gret Palucca, Kurt Jooss und die Tradition der Folkwang-Schule und vor allem die auf Steve Paxton zurückgehende ›Contact-Improvisation‹ und ihre verschiedenen Ausprägungen11. In der Interaktion von zwei oder mehr Körpern, deren Bewegung sich stets durch Übertragungen von Gewicht, von dynamischen Impulsen unterschiedlicher Stärke, im Geben und Nehmen von Berührungs-Druck generiert und – unvorhersehbar – transformiert, ist ein faszinierendes Konzept entwickelt, um das spontane Finden von Bewegung physisch-materiell, d.h. ohne Bewegungs-›Ausdrucks‹-Wunsch, zu motivieren.
II. Improv isation als Konzept choreographischer Komposition 4. P UNK T : S PIEL
MI T DEM
Z UFALL
Das im ersten Teil vorgestellte Modell von Improvisation bezog sich auf die Körper-Bewegung des Tänzers: auf die Transformation erlernter Bewegungstechniken, ja den Bruch mit dem Bewegungscode, um andere, unvorhergesehene, nicht planbare Bewegungen zu finden – entweder als individuellen ›Ausdruck‹, oder als eine Findekunst, die ein neues Bewegungs-Wissen – tänzerisch – generiert. »Ich suche nach Tänzern, die sich durch Tanz verändern«, sagt William Forsythe,12 und er meint damit eine Transformation, die sich nicht nur auf die tänzerische Figur, die Bewe11. Siehe: Susan Leigh Foster: Dances That Describe Themselves. The Improvised Choreography of Richard Bull, Connecticut: Wesleyan University Press 2002; Cynthia J. Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1990; dies.: »Some Thoughts about Dance and Improvisation«, in: Contact Quarterly 22, 1 (1997), S. 17-20; Steve Paxton: »Improvisation. Lisa Nelson and Steve Paxton im Gespräch«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 5 (1999), S. 31-33; sowie ders.: »Improvisation is a Word that can’t keep a Name«, in: Contact Quarterly 12, 2 (1987), S. 15-19. 12. William Forsythe: »Interview. Tanzdenker William Forsythe im Gespräch mit Wiebke Hüster«, in: du. Zeitschrift für Kultur 765 – »›Es tanzt‹ Eine Freiheitsbewegung« (April 2006), S. 16-18, hier S. 18.
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gungs-Ausführung, bezieht, sondern die auch unsere Wahrnehmung der Regeln, die bestimmten Bewegungen zugrunde liegen, verändert. Es ist eine improvisatorische Bewegungs-Forschung; ein Prozess, wie im wissenschaftlichen Experiment, dessen Ablauf und Ergebnis nicht vorher genau fi xierbar sind 13 – eine emergente Bewegungsform. Anders hingegen jene Idee von Improvisation, die sich auf die choreographische Komposition im Ganzen richtet. Dies betriff t nicht so sehr die individuelle Gestaltung der Körper-Bewegungen der Tänzer, sondern auch den Verlauf und die Organisation einer Choreographie. Dabei kann es um die Suche nach neuen Bewegungsthemen gehen. Improvisation also im Entstehungsprozess, der ein Tanzstück hervorbringt. Gret Palucca beispielsweise arbeitete mit einem Konzept der ›technischen Improvisation‹ (so der paradoxe Begriff, den sie dafür prägte) – gleichsam als kompositorische Sammlung von Bewegungselementen und -motiven. Pina Bausch (und nach ihr viele Choreographinnen des Tanztheaters und zeitgenössischen Tanzes) arbeitet mit Improvisationsaufgaben an die Tänzer. Diese werden als Fragen formuliert – nicht als Fragen über und zu Bewegung, sondern als Fragen, die eine je individuelle Körpergeschichte betreffen. Tänzer und Tänzerinnen werden beispielsweise mit der Aufgabe konfrontiert, Erfahrungen aus ihrer persönlichen Geschichte in Körper- und Bewegungsbilder zu übersetzen – Fragen wie: Wie ist es, etwas Anstrengendes, »eine anstrengende Haltung« einzunehmen?14 Aus langen Frage-Szenarien werden schließlich die Szenen des ›Stücks‹ komponiert: Improvisation also, die schließlich wieder in eine geplante Abfolge der Elemente und Sequenzen mündet und dramaturgisch komponiert ist. Wieder anders sind jene Kompositionsverfahren, die den Zufall zum Mit-Spieler der Auff ührung selbst machen. Die Verfahren der Aleatorik,15 die seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Avantgarde-Komponisten wie Werner Meyer-Eppler, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez oder Maurizio Kagel zu einer elaborierten Praxis wurden, bekamen im Tanz durch die Kooperation von John Cage und Merce Cunningham eine spezifische Prägung. Aleatorische Verfahren – durchaus im Sinne einer ›ars combinatoria‹ – sind für Cunningham die Kunst, Choreographien zu machen. Nicht mehr eine nach tanzdrama13. Forsythe: »Unsere Duette kann man nur tanzend erfinden.« Zu dieser emergenten Bewegungsfindung vgl. W. Forsythe: »Interview«, S. 16. 14. Vgl. Raimund Hoghe/Uli Weiss: Bandoneon – für was kann Tango gut sein?, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1981, S. 24. 15. Vgl. Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München: Fink 2000, S. 26ff.
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turgischen Gesetzen entworfene und handlungsorientierte Choreographie ist das Ziel. Im Gegenteil: Nicht-Intentionalität, eines der wesentlichen Kriterien von Improvisation, wird dadurch zu einem Merkmal der Komposition, dass der Zufall – in Form von Würfelwurf, oder durch Einsatz des chinesischen I Ging – zum Generator der Choreographie wird. Deren Gestalt ändert sich von Auff ührung zu Auff ührung, da die Parameter und ihre Kombinatorik – Raumposition der Tänzer, Richtung, Körper-Konfi guration, Zeitdauer – jedes Mal neu ausgewürfelt werden – wie etwa in Suite by Chance (1953). Der ›Postmodern Dance‹ knüpft an diese aleatorischen Verfahren von Cunningham an. Auch hier geht es darum, die Materialität der tänzerischchoreographischen Elemente – Körper, Rhythmus, Bewegungsrichtungen – durch Verfahren ›by chance‹ zu isolieren und überraschend neu zu verknüpfen. ›Postmodern Dance‹ – in den Konzepten etwa von Yvonne Rainer, Steve Paxton, Robert Dunn und Trisha Brown – knüpft an Cunninghams offene, zufallsgenerierte Improvisationskonzeption an; er intensiviert und differenziert sie zugleich auch. Das Verfahren der ›strukturierten Improvisation‹ bezieht sich auf ein spannungsreiches, ja paradoxes Spiel von Regularität und De-Regulierung. Mit einer Aufgaben-Stellung für die Tänzer – einem begrenzten Regel-Setting – werden bestimmte Bewegungs- und Interaktionspatterns (inklusive ihrer Variationsmöglichkeiten) festgelegt. Zugleich werden diese Regeln durch verschiedene Zufallsoperationen wieder gebrochen und in neue Arrangements übertragen, wie etwa in Trisha Browns Stück Rulegame 5 (1964) – das den improvisatorisch-spielerischen Umgang mit Regeln und Gesetzen von Bewegung schon im Titel trägt. Der reflexive Umgang mit Prinzipien der Komposition ist ein Aspekt; ein anderer ist es, die Aufmerksamkeit auf die Basis-Muster alltäglicher Bewegung zu lenken – so z.B. in Trillium (1962), in dem sich Trisha Brown die Aufgabe stellt, die drei Grundbewegungsformen »Sitzen, Stehen und Liegen« zum Thema zu machen und damit die Erfahrungen der drei räumlichen Ebenen von Bewegung spontan abzurufen und zu wechseln.16 Ein wesentliches Element für die Möglichkeit und Wirkung dieses Improvisationskonzepts ist dabei die Absage an das Prinzip tänzerisch elaborierter Körperbewegung und Virtuosität der Ausführung. Die Alltagsbewegung – »Democracy’s Body« – ist das ästhetische Modell und strukturelle Prinzip dieser Improvisation.17 16. Vgl. Trisha Brown: »Un Profil (1959-1979), Improvisations et structures«, in: dies. u.a. (Hg.), Trisha Brown. L‘Atelier des chorégraphes, Paris: Editions Bouge 1987. 17. Vgl. Sally Banes: Democracy’s Body. Judson Dance Theater 1962-1964, Durham: Duke University Press 2002.
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5. P UNK T : »D EMOCR AC Y ’S B ODY « Improvisation als Kompositions-Verfahren im Tanz provoziert ein avantgardistisches bzw. postmodernes Verständnis von Kunst und Nicht-Kunst; von Tanz-Kunst als Experimentierform, die sich von traditionellen institutionellen und ästhetischen Repräsentationsmustern abgrenzt. Einige dieser Merkmale des Offenen in strukturierter Improvisation sind z.B.: die Ablehnung einer Poetik und Dramaturgie der Choreographie, die sich durch Nachahmung und durch Meisterschaft auszeichnet. Tanzstücke sind nicht an festgelegte Abläufe und ihre perfekte Wiederholung gebunden. Die Hierarchie von Choreograph (als Autor) und Tänzern/Performern ist eingeebnet: Die Tänzer sind durch die Zufallsoperationen an der je anders konstituierten Gestalt der Auff ührung schöpferisch und nicht nur nachahmend und ausführend beteiligt. Diese aktive, gestaltend-improvisatorische Beteiligung an der kontingenten Herstellung eines Stücks, dessen Verlauf nicht oder weitgehend unvorhersehbar ist, verleiht der Körper- und Bewegungs-Performance eine dichte Qualität. Trisha Brown erläutert: »There is a performance quality that appears in improvisation that did not in memorized dance as it was known up to that date. If you are improvising with a structure your senses are heightened, you are using your wits, thinking everything is working at once to find the best solution to a given problem under pressure of a viewing audience.«18
Der emphatische Begriff des Autors (des Autor-Choreographen) und des Werks ist einem offenen, nicht-hierarchischen Verfahren der Produktion gewichen – ›demokratisch‹ lautet der (seinerseits emphatische) Begriff der ›postmodern dancers‹ und ihrer Theoretiker.19 Auch für verschiedene, auf Improvisation gegründete Konzepte des zeitgenössischen Tanzes ist dieser Gedanke wichtig – wenngleich stärker auf die komplexe Verflechtung von individuellem Entscheidungs-Spielraum der Tänzer und emergentem Gruppenprozess fokussiert. ›Tanz-Denker« nennt William Forsythe die Tänzer seiner Kompanie, um die Co-Autorschaft zu betonen, die sowohl in seinen mediengestützten Arbeiten – z.B. in den Improvisation Technologies 20 – als auch in seinen aktuellen Installations-Performances, wie You made me a Monster oder Human Writes zentral ist.
18. T. Brown: »Un Profil (1959-1979)«. 19. S. Banes: Democracy’s Body. 20. Vgl. William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003.
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I MPERF EK TEN ‹
Improvisation setzt auf das, was in jedem Moment anders sein kann, oder anders gemacht wird – sei es eine kleine Bewegung, eine komplizierte equilibristische Figur oder ein Richtungsverlauf im Raum. Darin öff net sich ein Potential an Neuheit, Fremdheit, Inkommensurabilität. Hier liegt das Risiko und die umstürzlerische Energie des Improvisatorischen. Zwischen der Vorschrift – der klar gezeichneten, proportionierten Form einer klassischen (oder auch modernen) Choreographie und dem Chaos-Anteil, der durch Zufall, Unvorhersehbarkeit und Un-Ordnung im improvisierten Tanz einbricht, entspringt der Überschuss, der Zauber, die Spannung des Noch-Nie-Gesehenen, Noch-Nicht-Erfahrenen: eine andere Zeit-Fügung, eine Intensivierung der gesamten kinästhetischen Wahrnehmung. Das Irritierende an Improvisation ist der Umgang mit Unordnung – freilich ein konstruktiver Umgang, der ein Brechen der Normen produktiv macht. Die Wahrnehmung der Tänzer und Choreographen, der Blick und das gesamte kinästhetische Sensorium sind durch eine spezifische Spaltung, oder besser: eine Doppelung ausgezeichnet. »Disfocus«21 nennt Dana Caspersen diese körperlich-mentale Einstellung: Die Augen schauen nach innen und nach außen gleichzeitig. Ein spezifisches Kreuzungsmuster von präziser Selbstwahrnehmung und Körper-Raum-Koordination wird dadurch möglich. Es sind genau jene Voraussetzungen, in denen sich etwas ›ereignen‹ kann: im möglichen Fall, Zu-Fall oder Un-Fall. Die Momente des Unbestimmbaren ergeben sich in Interaktion, kontingent oder aus der durch Regeln gegebenen explorativen Körper-Raum-Forschung, etwa im NeunPunkte-System, das Amanda Miller für Improvisation verwendet: im Mobilisieren einzelner Glieder, Gelenke, Körperteile, im Durchführen bis zu einem Grad der (un-)möglichen Bewegung, die in ein Dis-Equilibre führt, bis an den Rand des Fallens. Dieser Moment ist jener des größten Risikos, der Unbestimmbarkeit und Unvorhersehbarkeit – er birgt die mögliche Entfaltung einer anderen, einer fremden Bewegung. Der Zustand der DesOrientierung, der Ent-Schichtung des Körpers (in der Konstellation zu anderen und in sich selbst) zeigt sich in einer Erhöhung, ja Vervielfachung der Komplexität; so gesehen ist Improvisation ein Modell für Effekte von Ermergenz22. Und sie ist ein heteronomes Modell von Poiesis. Damit ist 21. Vgl. Dana Caspersen: »Der Körper denkt«, in: Gerald Siegmund (Hg.), William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin/Leipzig: Henschel 2004, S. 109116, hier S. 111. 22. Vgl. Wolfgang Krohn/Günther Küppers (Hg.): Emergenz. Die Entstehung von Ordungen, Organisationen und Bedeutung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992; Achim Stephan: Emergenz. Von der Unvorhersehbarkeit zur Selbstorganisation,
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nicht eine Genie-Ästhetik aufgerufen – im Gegenteil: Mehr und mehr ist es ein ›schwacher‹ Begriff von Tanz, der – in der zeitgenössischen Performance-Szene – durch Improvisation seine eigene und andere Stärke erhält. Jonathan Burrows hat ein Improvisations-Duo mit Jan Ritsema (einem Nicht-Tänzer) betitelt: Weak Dance, Strong Questions. Die Aufgabe bestand darin: »to move always in a state of questioning, not a specific question, but the feeling of a questions.«23 Dieses Fragen und In-Frage-Stellen bezeichnet die vorsichtige, die ›schwache‹ Position eines Tanzens, das sich nicht im Vorhinein der Beherrschung seiner Körper-Bewegungen und seiner Abläufe sicher ist; das vielmehr fragend, suchend, reflektierend in einen Status des »Responsiven«24 (B. Waldenfels) gerät. Burrows arbeitet mit Bewegungen, die – im zeitlichen Verlauf – sich befragen: Hand-Bewegungen, die beobachtet werden, abbrechen, innegehalten, verworfen und neu angesetzt werden. Die ›schwachen‹ (weil unsicheren) Momente des permanenten Um-Orientierens werden zu starken Augenblicken einer dichten Beschreibung. Es ist ein Verlauf, der sich in gewisser Weise des Erlernten, des Mechanisierten zu entledigen sucht – ohne noch ein Anderes in die Leere dieser Momente des Zögerns zu setzen: im Sinne jener (starken) Frage Walter Benjamins, wie sich das Gehen-Können noch einmal erlernen (und das heißt: vergessen) ließe.
III. Tanz-Improv isation und Zuschauer 7. P UNK T : »A GA INS T I NTERPRE TAT ION « William Forsythe erzählt in einem Interview die folgende Anekdote: Nach der Auff ührung eines seiner Improvisations-basierten Stücke kam ein Mann zu ihm. Er sagte, die Choreographie habe ihm sehr gut gefallen: »Und«, so Forsythe, »er wollte mir seine Interpretation mitteilen. Er schaute mich wissend an und sagte: ›Möwen!‹ Selbstverständlich habe ich genickt.«25 Wie ist das Verhältnis von Improvisation – im Tanz – und Zuschauern?
Dresden: Mentis 1999, sowie Thomas Wägenbauer (Hg.): Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution, Heidelberg: Synchron Publishers 2000. 23. Zit. n. F. Lampert: Tanzimprovisation, S. 173. 24. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, insbes. S. 65ff. 25. W. Forsythe: »Interview«, S. 18.
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Worin besteht die Lust der Aufmerksamkeit? Und wie teilt sich das Spezifische, Einmalige einer Improvisation dem Publikum mit? Die kleine Anekdote von Forsythe beleuchtet wichtige Aspekte dieses Verhältnisses. Es zeigt sich – in der Reaktion des Zuschauers – der Wunsch nach Bedeutung, und nach Interpretation. Eine ›Muster‹-Erkennung findet statt, bezeichnet mit dem Bild, einem Bewegungsbild: ›Möwen‹. Zugleich – und in der Reaktion Forsythes, »selbstverständlich habe ich genickt« – wird deutlich: Das Sehen und Sinnzuschreiben der Zuschauer ist nicht durch einen fi xierten Code der Choreographie und der Körper-Darstellung (etwa mimetisch) determiniert. Die Freiheit des Zuschauers, Muster zu erkennen (oder wiederzuerkennen), ist virtuell grenzenlos. Ist sie das? Ja und Nein. Das Assoziations-Feld, die Interpretationsfläche bezeichnen individuell die Rezeptions-Responsivität des Betrachters. Es gibt nicht ein ›richtig‹ oder ›falsch‹ oder ›fehlerhaft‹ der Choreographie und ihrer Wahrnehmung; nichts, was man recht verstehen muss. Wahrgenommene Muster lassen sich in vielerlei raum-zeitliche, kulturelle, narrative oder abstrakte Kontexte stellen und, wenn erwünscht, mit Bedeutung erfüllen. Die Freiheit – eine Freiheit, die keiner Regel-Poetik unterworfen ist – für Choreographen, Tänzer und Betrachter-Publikum ist eine geteilte Freiheit. Insofern triff t der – von Susan Sontag geborgte – Satz: »Against Interpretation«26 nicht genau zu; nicht in der Negation von Interpretation. Denn jede hermeneutische Anstrengung ist erlaubt; jedoch: Es gibt nicht den Text, die (Ur-)Schrift (als Choreographie), die eine Exegese fordert. Jedes ›reading‹ ist lustvoll (oder darf es sein) – auch ein ›misreading‹. Der Vorbehalt vieler Choreographen und Tänzer richtet sich eher gegen die Suche nach einer ›Botschaft‹. Eben diese Dimension der alltäglichen (Bewegungs-) Kommunikation soll ja durch Improvisation durchlöchert, umspielt, transformiert werden. Forsythe äußert dazu: »Interpretation ist ein Zwang zur Sprache, und diesen Zustand versuche ich außer Kraft zu setzen. Diese Art von Sprachlosigkeit ist gesund, glaube ich. Aber zugleich empfinden wir vor diesem sprachlosen Zustand Angst.«27 Wie also begegnen sich Improvisator und Zuschauer?
26. Susan Sontag: Against Interpretation. And Other Essays, New York: Farrar, Straus & Giroux 2001. 27. W. Forsythe: »Interview«, S. 18.
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DER
A UFMERK SAMKE I T
Was sieht der Betrachter, wenn er einer Tanz-Improvisation folgt? Und sieht er mehr, hat er mehr Lust an der Beobachtung der Bewegungsvorgänge, wenn er die (impliziten) Regeln? – also: das Setting der Aleatorik, die Aufgabenstellung und die Entscheidungs-Koeffizienten der Interaktion und des zeitlich-räumlichen Ablaufs kennt? Mit anderen Worten: Hat der Zuschauer mehr Lust an der Improvisation, wenn er Experte ist? Ein konspirativer Co-Improvisator? Natürlich müsste man hier nach den genannten Improvisations-Formen differenzieren: Improvisationen, die innerhalb vorgegebener Schritt-, Körper-, Bewegungs- und Interaktionsmuster einen Spielraum der individuellen und/oder spontanen Varianz vorsehen (wie z.B. der Tango), wenden sich möglicherweise anders an Aufmerksamkeit, an Wissen und Kennerschaft eines Publikums als Contact Improvisation oder eine Choreographie, die auf strukturierter Improvisation beruht. Mutatis mutandis jedoch, so meine ich, gilt für das Wahrnehmen von Improvisation: Lust (und auch Un-Lust) des Betrachters stehen und fallen mit der Art seiner Aufmerksamkeit. Mit Bernhard Waldenfels könnte man hier zwischen »wieder-erkennendem Sehen« und »sehendem Sehen« unterscheiden.28 Der Spalt zwischen Sehen und Wissen richtet sich aus an einem Wiedererkennen, das semantisch definiert ist, und einem Sehen, das sich – ästhetisch – auf das ›Wie‹ des Wahrgenommenen richtet. Während der wieder-erkennende Blick – im Sinne der Orientierung, des Wissens (der epistemischen Klassifi kation) und der Semantisierung – der Risiko-Vermeidung dient, riskiert das »sehende Sehen« eine Wahrnehmung, die Des-Orientierung, Lücken, Frustration (des ›Nicht‹-Muster-Erkennens), Langeweile als Möglichkeiten einschließt. Eine Wahrnehmung, die aber auch – im Risiko des Überfordertseins durch Komplexität – jene Lust, jenes Abenteuer eröffnen kann, das William Forsythe als Maxime für die improvisatorische Arbeit ausgegeben hat: »Überrascht mich – indem ihr euch selbst überrascht.« Sich überraschen lassen, sich selbst überraschen: Der responsive Zuschauer einer Improvisation ist jener, der sich – nicht voraussehend, welche Wege seine Bewegung, die Bewegung seiner Einbildungskraft, seiner Sinne, seiner Gefühle nehmen wird – auf eine Aufmerksamkeit einlässt, die ihn, als Betracher, zum Co-Improvisator werden lässt. Nicht Kompetenz, sondern Aufmerksamkeit des Geistes und der Sinne – man könnte auch das altmodische Wort Hingabe verwenden – könnte eine Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung von Improvisation sein.
28. Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 102-106.
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UND K INÄ S THE T I SCHE
E RFAHRUNG
Die Unvorhersehbarkeiten einer improvisierten (Gruppen-)Choreographie, die Komplexität der bewegten Figuren ließe sich mit Benjamins und Adornos Vorstellung von Konstellationen umschreiben: Ein flüchtiges Geschehen, das – im ›Zusammenschießen‹, im Blick eines Augenblicks – eine räumliche und zeitliche Spur entfaltet. Dieser Moment von ›Einheit‹, vorübergehend, ist freilich in sich zugleich gespalten – im Blick. Jener gespaltene Blick des improvisierenden Tänzers auf sich und seine Umgebung – seine Kinesphäre – teilt sich auch dem Zuschauer mit: als »disfocus«. Rebecca Groves, Dramaturgin von William Forsythe, formulierte dies in einem Gespräch folgendermaßen: »Dancers are actively watching/gazing at someone who dances and as a virtual gaze, e.g. within an improvisational structure the dancer deals with an idea of removing something what has been previously choreographed and is as such visual accessible; the dancing happens in response to a not longer existing visual structure.«29
Dispersion, Aufmerksamkeit und Zerstreuung, Blick-Fokussierung und Blick-Störung entstehen durch das Gegeneinander, das Hemmen, Überlagern von Bewegung und Hintergrundaktion – und: der Eigen-Bewegung des Betrachters. Solche Multiplikation bezieht sich nicht nur auf den Blick, sondern auf alle Sinne; insbesondere aber: den Bewegungssinn (des Betrachters), seine kinästhetische Wahrnehmung. Aufmerksamkeit als Co-Improvisation des Betrachters speist sich damit als ein vielfach resonierendes Sinnenund Cognitions-Szenario. Man könnte auch sagen, dass die Komplexität von ›Multi-Matrix‹-Strukturen in der Improvisation (etwa: Polyrhythmik, Polyzentrizität des Körpers und der Raum-Aktionen) eine ›Multi-Fokalität‹ der Aufmerksamkeit des Betrachters herausfordert: Stress und Lust (einer neuen Erfahrung) zugleich! William Forsythe formuliert dies, bezogen auf die Tempi (Zeitlichkeit, Rhythmik, Koordination) folgendermaßen: »Bei einem Tänzer, den das Publikum faszinierend findet, handelt es sich immer um einen, der mehrere Zeiten im Körper hat, nicht nur eine.«30 Solche Steigerungen, poetische und ästhetische Dates zwischen kontingenten Bruch-Stücken, Lücken und Herausforderungen der Sinne könnte man – für die improvisatorische Einstellung des Zuschauers – mit einem Wort 29. Mündliche Mitteilung an die Verfasserin im Rahmen eines Workshops im Sfb 447 »Kulturen des Performativen« am 28. Juni 2006. 30. W. Forsythe: »Interview«, S. 18.
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des Tänzers und Choreographen Amos Hetz bezeichnen als: »Listening to the gesture«.
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Improvisier te Choreographie – Rezept und Beispiel Friederike Lampert
Im künstlerischen Tanz des 20. Jahrhunderts hat sich durch die Improvisationspraxis der Choreographie-Begriff gewandelt. Choreographie wird nicht mehr nur fi xiert, eingeübt und auf der Bühne gekonnt wiederholt, sondern Tänzer 1 gehen mehr oder weniger ›unvorbereitet‹ auf die Bühne und geben sich ›gekonnt‹ dem Zufall hin. Insbesondere ab den 1950er Jahren, auch in Zusammenhang mit der aufkommenden Praxis der Performance, wird improvisatorischer Tanz auch live auf der Bühne präsentiert. Dies bedeutet, dass den Tänzern ganz neue Fähigkeiten abverlangt werden – insbesondere die Kunst spontan nach choreographischen Prinzipien zu komponieren. Dieses improvisatorische Handwerk hat sich durch Choreographen wie Steve Paxton und William Forsythe und der Bewegung der Kontaktimprovisation konkretisiert. Im Folgenden werde ich nach einer einleitenden Begriffsklärung der »improvisierten Choreographie«2 die »Kunst der Kombinatorik« anhand verschiedener tanzpraktischer Aspekte ausdifferenzieren. Dabei geht es um eine programmatische Anweisung für die Ausführung der Improvisation. Dieses ›Rezept‹, welches aus wesentlichen tanztechnischen ›Zutaten‹ besteht, verdeutlicht ein ›Handwerk‹ in der Improvisation. Mit dem Schreiben eines Rezeptes möchte ich betonen, dass es für die Kunst der Improvisation bestimmter Zutaten bzw. Techniken bedarf, die erlernbar und durch eine bestimmte Mischung ein bestimmtes Produkt hervorru1. Aus pragmatischen Gründen benutze ich in diesem Aufsatz durchgehend die männliche Form. 2. Den Begriff der »improvisierten Choreographie« prägt Susan Leigh Foster in ihrem Buch: Dances That Describe Themselves. The Improvised Choreography of Richard Bull, Connecticut: Wesleyan University Press 2002.
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fen können. Es gibt unterschiedliche Rezepte für die Improvisation, die durch einen Übungsprozess ein choreographisches Produkt hervorrufen, welches nicht etwa durch ›geniehaftes‹ Tun – ohne Übung und Fertigkeiten – entstehen kann. Ich stelle hier also nur ein mögliches Rezept für die improvisierte Choreographie vor. Der Begriff des Rezeptes in diesem Kontext ist nicht unproblematisch, ist es doch nicht möglich künstlerisches Tun anhand einer ›Gebrauchsanweisung‹ zu erlernen. Dies wäre freilich zu normativ gedacht. Dennoch möchte ich mit dem Begriff des Rezeptes auf einen Widerspruch innerhalb des tänzerischen Handelns in der Improvisation hinweisen. Es geht dabei um das Paradox, dass tänzerisches Improvisieren sehr stark auf Techniken beruht, die geübt, erlernt und vorbereitet werden, um dann wiederum im Moment der Performance Unvorhersehbares zu provozieren. Es geht also um ein Rezept für die tänzerische Improvisation, durch das man erahnen kann, was passieren könnte, aber einen letzten Rest von Unbestimmbaren nicht vorhersagen kann. Das Rezept, welches durch meinen persönlichen Blick, wissenschaftliche Recherche und durch praktische Übung entstanden ist, nenne ich »Die Kunst der Kombinatorik«. Anschließend an diese Ausführungen betrachte ich exemplarisch zwei improvisatorische Verfahren, in denen u.a. eine Kunst der Kombinatorik vom Tänzer verlangt wird und somit auch neue tanzpraktische Qualitäten erscheinen: improvisierte Choreographien von Steve Paxton und William Forsythe.
Improv isier te Choreographie Die Wortzusammensetzung »improvisierte Choreographie« beinhaltet bereits ein Paradox. Improvisieren – das Unvorhersehbare tun, und somit auch das Nicht-Vorgeschriebene, Nicht-Fixierte tun – widerspricht scheinbar der Choreographie, die in all ihren Begriffsdefinitionen, sei es als Tanz- oder Raumschrift oder als Bewegungskomposition, immer die Wiederholbarkeit und Fixierung von Bewegung beinhaltet.3 Improvisation dagegen ist nicht festgelegt. Improvisierte Choreographie könnte demnach auch nichtfestgelegte Festlegung heißen. In der Praxis des Tanzes wird häufig die Choreographie, hier verstanden als tänzerische Komposition, zum Gegenmodell der Improvisation erklärt. Für die Tänzer bedeutet das: Wenn choreographiert wird, werden die Bewegungen festgelegt; wenn improvisiert wird, werden die Bewegungen spontan frei erfunden. Eine differenziertere Auseinandersetzung über den 3. Griech. chorós = Tanz und gráphein = schreiben. Choreographie bedeutet frei übersetzt »Tanzschrift«.
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Begriff der Improvisation, die vor allem in der Musik stattgefunden hat, zeigt jedoch, dass die Begriffe Improvisation und Choreographie aus der Perspektive der Ausführung weniger gegenteilig sind, als sie zunächst scheinen. Bei näherer Betrachtung weist die Improvisation im Tanz ebenso Strukturen und Regelwerke auf wie die tänzerische Komposition. Improvisieren bedeutet spontan zu komponieren (gerne auch als »instant composition« oder »Instant-Choreographie« bezeichnet 4) – gleichfalls bedeutet künstlerischen Tanz zu improvisieren, sich nach den gleichen kompositorischen Prinzipien wie bei der festgelegten Choreographie zu richten. Improvisation im künstlerischen Tanz ist nicht völlig ›unvorhersehbar‹, denn die tanzenden Körper weisen tänzerische Habitusformen auf, die sich in die Körper eingeschrieben haben. Diese Strukturen im Körper, die sich auch stets aktualisieren, seien es gelernte Tanztechniken oder künstlerischer Geschmack, sind im improvisierten Tanz sichtbar.5 Dazu bewegen sich die Tänzer innerhalb abgesprochener künstlerischer Strukturen, die sich innerhalb einer Skala von relativ offenen bis geschlossenen Planungsgraden befinden. Somit lässt sich nicht von ›freier‹ Improvisation im künstlerischen Tanz sprechen, sondern vielmehr von strukturierter Improvisation oder eben von »improvisierter Choreographie«. Nun stellt sich aber die Frage: Wenn nicht in den Strukturen der Improvisation, wo dann findet das Unvorhersehbare bei der improvisierten Choreographie statt? Eine mögliche Antwort lautet: Im Vollzug des spontanen Komponierens, des Kombinierens von eingeschriebenem Bewegungsmaterial, des situativen Umgangs mit dem Raum, der Zeit und vor allem: dem Zufall. In der tänzerischen Improvisation wird der Zufall einkalkuliert, er wird ›beherrscht‹ und in kreative Systeme eingebunden. So ließe sich dieser Zufall auch als Pseudo-Zufall beschreiben – ein Zufall, der aus künstlerischen Zwecken gewollt ist. Dieser Zufall aber ist schöpferisch und treibt wiederum den Zu-Fall von Koinzidenzen an. Das Zusammentreffen und die unerwartete Konstellation verschiedener Ereignisse, die den kreativen Prozess der Improvisation ausmachen, geschehen durch das Zulassen des Zufalls, der im Rahmen der Tanzproduktion beherrscht wird. In der Tanzimprovisation herrschen also nicht Chaos und blinde Willkür, vielmehr ist der Tanz zum größten Teil vorstrukturiert und bleibt nur an den Rändern 4. Vgl. Sabine Feist: Der Begriff »Improvisation« in der neuen Musik, Sinzig: Schewe 1997, S. 26. 5. Ich verweise hier auf meine Dissertation, in der ich für die Untermauerung meiner These – dass jede Improvisation eine strukturierte Improvisation ist – das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu anwende. Vgl. Friederike Lampert: Tanzimprovisation. Geschichte, Theorie, Verfahren, Vermittlung. Bielefeld: transcript 2007, S. 118-126.
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des Bestimmten unbestimmt und variabel. Aber dieser Rest von Unbestimmbarkeit macht letztendlich das Wesentliche – das kreative Potenzial der Improvisation aus: Durch den gelenkten Zufall kann Neues und Überraschendes erobert werden. Durch das Zulassen des Zufalls wird Altes und Gewohntes gewissermaßen zerstört und aufgeweicht. Neues kann emergieren. Kommen wir zum praktischen Vollzug einer tänzerischen Improvisation, und wieder auf die Frage nach dem Unterschied von Improvisation und Choreographie. Hier ein Beispiel aus der Musik. In seinem Buch Improvisation. Its Nature and Practice in Music macht Derek Bailey den vermeintlichen Unterschied zwischen Improvisation und Komposition durch folgendes Zitat deutlich: »In 1968 I ran into Steve Lacy on the street in Rome. I took out my pocket tape recorder and asked him to describe in fifteen seconds the difference between composition and improvisation. He answered: In fifteen seconds the difference between composition and improvisation is that in composition you have all the time you want to decide what to say in fifteen seconds, while in improvisation you have fifteen seconds. His answer lasted exactly fifteen seconds and is still the best formulation of the question I know.«6
Der zeitliche Umgang und damit der kreative Schaffensprozess ist also bei der Improvisation ein anderer als bei der herkömmlichen Praxis der festgelegten Choreographie. Ebenso ist auch das Verständnis von Virtuosität ein anderes. Während die festgelegte Choreographie die Möglichkeit der Wiederholung und des Übens, also die Möglichkeit der Optimierung der Bewegung in sich birgt, kann diese Form der Bewegungsoptimierung (z.B. 4-5 Pirouetten drehen zu können) bei der Improvisation nicht zutreffen. Es ist eine andere Virtuosität, die vielmehr die Kunst des spontanen Komponierens fordert, die aber gleichfalls geübt werden muss. Damit möchte ich zum Folgenden übergehen, wo ich notwendige Fertigkeiten dieser Kunst des Improvisierens im künstlerischen Tanz beschreibe: ein Rezept für die Kunst der Kombinatorik.
6. Derek Bailey: Improvisation. Its Nature and Practice in Music, New York: Da Capo Press 1992, S. 141.
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Die Kunst der Kombinator ik Für eine Kunst der Kombinatorik – sich der unterschiedlichen Möglichkeiten der Anordnung der Dinge bewusst zu sein und sich für die ästhetische Möglichkeit entsprechend der Absicht zu entscheiden – sind die nun folgenden Zutaten förderlich. Man braucht einen reagierenden Körper, Möglichkeiten der Problemlösung, schnelles Denken, schnelles Tanzen und verstärkten Einsatz von Imagination. Ronald Blum nennt in seinem Buch Die Kunst des Fügens den reagierenden, sich fügenden Körper als wesentliches Charakteristikum für die Kunst der Improvisation.7 Dies betont schon Cynthia J. Novack für die Prinzipien der Kontaktimprovisation mit dem Begriff des responsive body.8 Bei der Kontaktimprovisation begründet sich die Notwendigkeit eines erwidernden, reagierenden Körpers aus der Technik, das Gewicht der Körper immer zwischen zwei Körpern zu balancieren. Diese abhängige Situation des Improvisierenden findet sich auch im Solo oder in der Gruppe, wobei es weniger um die Balance zwischen zwei konkreten Körpern geht, sondern vielmehr um eine imaginäre Balance, die zwischen der Außenwelt und der Innenwelt gehalten werden muss. Ebenso bedarf es einer Balance zwischen bewusster Gestaltung und ›gestalten lassen‹. Hierbei sollte der Anteil des Sich-Fügens größer sein, weil dadurch eine Eigendynamik entstehen kann, die die Gestaltung des Tanzes aufs Günstigste ordnet. Es gilt das Motto: Weniger ist mehr. Nur durch Zurückhaltung kann die improvisierende Person empfangen – ist sie selbst zu beschäftigt mit der Lenkung des eigenen Tanzes, verschließt sie sich neuer Impulse aus Innenwelt und Umwelt, auf die sie wiederum reagieren kann. Damit ist Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Improvisierenden nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil – die tanzende Person lernt eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, die dem beabsichtigten ästhetischen Gesamtbild dienen. Improvisieren bedeutet auch Probleme lösen. Ein Problem wird hierbei nicht negativ gewertet, sondern durchaus positiv, da Probleme die Kreativität der tanzenden Person antreiben. Sie sollte geübt sein, in unerwarteten Situationen Bewegungen spontan zu kombinieren. Sie kann sich zwischen drei Möglichkeiten der Weiterführung eines Bewegungsmusters entscheiden. Der Begriff Bewegungsmuster bezieht sich sowohl auf jene Muster, die der Körper im Bewegungsumraum vollzieht, wie auch auf das Bewe7. Vgl. Roland Blum: Die Kunst des Fügens. Über Tanztheaterimprovisation. Oberhausen: Athena 2004. 8. Vgl. Cynthia J. Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1990.
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gungsmuster, das im gesamten Tanzraum, z.B. im Duett oder in der Gruppenimprovisation, vollzogen wird: 1. Bewegungsmuster weiterführen, 2. Bewegungsmuster variieren oder 3. Bewegungsmuster brechen. Um das Bewegungsmuster weiterzuführen, bedarf es einen gewissen Sinn für das Timing. Wie lange soll ich mich noch in dem Muster weiter bewegen? Wann ist es Zeit das Muster zu brechen oder zu variieren? Das sind Erfahrungs- und Übungswerte, die sich entsprechend der ästhetischen Absicht einer tänzerischen Komposition einstellen. Für die Variation gibt es unendlich viele Möglichkeiten, die durch Variationsaufgaben geübt werden. Das Bewegungsmaterial kann beispielsweise variiert werden durch Veränderungen der Größe, der Geschwindigkeit, des Rhythmus, der Dynamik, der Raumrichtungen, der Raumebenen oder der ausführenden Körperteile. Der Sinn der Variation ist es, zu einer neuen Erscheinung des Bewegungsmaterials zu kommen. Somit ist Variation unverzichtbare Technik für die Improvisation. Ob dabei die Quelle der Variation noch erkennbar ist, ist weniger von Belang, geht es doch in der Improvisation um die Generierung neuer Bewegungskombinationen. Das Brechen eines Bewegungsmusters trägt ebenso zum kreativen Prozess der Improvisation bei. Dafür bedarf es einer Entschiedenheit bei den Tanzenden. Klare Entscheidungen zu treffen, wird vor allem durch Aufgaben mit dem Fokus auf Oppositionen geübt. Ein Bewegungsmuster zu brechen bedeutet, der momentanen Bewegungsqualität oder -form etwas entgegenzusetzen. Bewegt der Tanzende sich beispielsweise schnell, bricht er diesen Fluss mit Langsamkeit; bewegt sich ein Duett-Partner auf Bodenebene, bricht der andere dieses Muster, indem er stehend auf diese Bewegungen antwortet; tanzt die Gruppe in kurvigen Bewegungen, kann ein Tänzer gegensätzlich dazu in eckigen Bewegungen tanzen. Bewegungsmuster zu brechen heißt also etwas Gegensätzliches tun, um damit Spannung aufzubauen und im Tanz überraschende Wendungen zu setzen. Auch Innehalten und Nichtstun sind Entscheidungen zum Bewegungsbruch. Weiterführung, Variation und Bruch sind die Möglichkeiten, zu denen der Improvisierende im offenen Tanzgeschehen sich entscheiden kann. Das Problem Was soll als nächstes passieren? wird durch die Entscheidung für eine aus zahlreichen Möglichkeiten gelöst. Wobei auch Fehler und Scheitern ein positives Problem darstellen und zum kreativen Umgang auffordern. Scheitern kann z.B. eine misslungene Tanzbewegung sein, wie z.B. ›Hoppeln‹ bei einer Pirouette oder Fallen von der Balance, wenn es eine Bewegung ist, die Balance verlangt. Oder auch verfehlte Kommunikation beim Partnering: Man greift bei einer Hebung daneben, wodurch die Hebung einen anderen Verlauf nimmt. Diese offensichtlichen Fehler werden während der Problemlösung meist nicht versteckt, sondern bewusst 206
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durch Variationen wie Wiederholung oder Übertreibung spontan verwandelt und zur Schau gestellt. Während des Improvisierens sollte die improvisierende Person eine hohe Aufmerksamkeit auf das tänzerische Gesamtbild legen. Das fordert die genaue Beobachtung der eigenen Bewegungen und die der anderen. Das choreographische Gesamtbild, wie der Tanz weitergeführt werden könnte, muss entsprechend der ästhetischen Absicht imaginär antizipiert werden, um eine Entscheidung für die Kombinatorik zu fällen. Um das Gesamtbild zu antizipieren (Wie könnte der Tanz im nächsten Moment aussehen?), muss gleichzeitig zurückgeschaut werden (Wie sah der Tanz bisher aus?), um dementsprechend gestalterisch im Jetzt den Tanz zu lenken. Das verlangt schnelles Denken, wie es beispielsweise der Organist Jean Langlais aus der Erfahrung der Musikimprovisation ausdrückt: »The most important thing for improvisation is to be able to think very quickly.«9 Relevant für die Fähigkeit der schnellen Entscheidung sind hohe Konzentration und Wachheit der Tanzenden. Im Gegensatz zu der Entwicklung der Fähigkeit in der Improvisation schnell zu denken und durch bewusste Entscheidungen den Tanz zu kontrollieren, sollte der Tänzer auch die Fähigkeit entwickeln sich dem Kontrollverlust hinzugeben. Dies funktioniert vor allem durch die Geschwindigkeit der Bewegung und den spielerischen Umgang mit dem Risiko. Beim schnellen Tanzen eilen die Bewegungen dahin, »wie ein Zug, der seine eigenen Schienen mitführt.« 10 Der Körper tanzt schneller, als das Gehirn arbeiten kann, und der Improvisierende kann den Verlauf des Tanzes nicht mehr bewusst kontrollieren. Die Grenzen des Koordinierbaren werden überschritten, so wie es beispielsweise William Forsythe in einem improvisiertem Solo (1999) versucht, das sich vor allem durch eine hohe Geschwindigkeit des Tanzes auszeichnet.11 Forsythe versteht die Überwindung von kontrollierter, geplanter Körperbewegung während der Improvisation als ›gelungenen‹ Tanz: »[D]ann würde der Körper übernehmen und würde tanzen, wo du nicht weiter weißt. Ich sehe das als eine idealisierte Form des Tanzens: nicht zu wissen, sondern es dem Körper überlassen, dich zu tanzen.«12 Auch das Eingehen von Risiko bringt den Improvisierenden in Situa9. Zit. nach D. Bailey: Improvisation, S. I. 10. R. Ruyer zit.n. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 106. 11. Dieses Solo wird gezeigt auf der CD-ROM von William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003. 12. William Forsythe: »Bewegung beobachten«, in: ebd., S. 27.
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tionen des momentanen Kontrollverlusts. Das Kippen von der Balance, die Überwindung des eigenen Bewegungsradius oder das Fallenlassen sollten trainiert werden, um den Körper für kurze Momente mit dem Zufall, der immer ›Gefahr‹ und Unsicherheit bedeutet, zu konfrontieren. Der Schock und die Überraschung, die die improvisierende Person durch den Zufall erfährt, löst neue Strukturen im Tanz aus. Und zwar so, dass – in der Reaktion auf den Zufall –, die Person für kurze Zeit sehr bewusst den Tanz lenken muss, um wieder geordnete Stabilität zu erlangen, um im nächsten Moment wieder vom Zufall im positiven Sinne ›gestört‹ zu werden. So bewegt sich die improvisierende Person wie in einem »Feedback-Loop« zwischen Stabilität und Labilität, Ordnung und Chaos. Geschwindigkeit und riskante Spiele geben dabei die Möglichkeit von Überraschungen und provozieren vor allem die Aufweichung von festgefahrenen Mustern. Spontanes Komponieren fordert viel Fantasie und einen konzentrierten Einsatz von Imagination. Neben den externalen (sichtbaren, fühlbaren, hörbaren) Bewegungsauslösern wie etwa die Bewegungen der anderen Personen, Musik, Berührung oder Material (wie z.B. Requisiten: Stuhl, Tisch, Kostüme etc.) gibt es die internalen imaginierten Bewegungsauslöser. Diese sind Vorstellungsbilder, Erinnerungen oder strukturelle Vorgaben (formal oder inhaltlich-emotional), die sogleich in Bewegung übersetzt werden. Imagination ist sowohl bei der Vorstellung der Auslöser gefragt wie auch bei der Art der Übersetzung: Was stelle ich mir vor? Und wie setze ich diese Vorstellung in Bewegung um? Durch mentales Training kann das Vorstellungsvermögen im Tanz erweitert und sensibilisiert werden.13 Internale und externale Vorstellungsbilder werden in einem mimetischen Prozess in Bewegung übersetzt. Aktives Imaginieren14 reichert die Form des Tanzes an und intensiviert das Tanzgeschehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine tänzerische Improvisation mit der Absicht der Live-Performance durch die Kunst der Kombinatorik optimiert werden kann. Im Akt der Improvisation tänzerische Elemente durch Responsivität, Problemlösung, Schnelligkeit im Denken und Bewegen und dem aktiven Einsatz von Imagination zu kombinieren, verhilft der tänzerischen Performance zur Eroberung von Unvorhersehbarem. In der Kombination der hier beschriebenen ›Zutaten‹ vollzieht sich eine improvisierte Choreographie, welche, wie bei einem Kochrezept, gelingen oder misslingen kann. Das Gelingen einer improvisierten Choreo13. Vgl. hierzu die Erläuterungen zum Improvisationskonzept von Robert Ellis Dunn in: F. Lampert: Tanzimprovisation, S. 64-67. 14. Die ›aktive Imagination‹ ist auch eine psychotherapeutische Methode. Vgl. Martina Peter-Bolaender: Tanz und Imagination. Verwirklichung des Selbst im künstlerischen und pädagogischen Prozess, Paderborn: Junfermann 1992.
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graphie würde ich mit dem Wahrnehmen von besonderer Gegenwärtigkeit emergenter Bewegungsabläufe im Kontext einer stimmigen Gesamt-Performance definieren. Und das Misslingen ließe sich entsprechend durch einen Mangel von Emergenz erklären.15 Hier zeigen sich sowohl die improvisatorischen Fertigkeiten als auch der Umgang mit dem Zufall verantwortlich für das ästhetische Produkt, welches sich im Hier und Jetzt realisiert. Wie genau man dabei die ›Qualität‹ einer Improvisation beschreiben könnte, ist ein Thema, das einer ausführlicheren Betrachtung bedarf als sie hier möglich ist.
Beispiel 1: Steve Paxton Die Improvisationstechnik Contact Improvisation wird meist mit dem Namen von Steve Paxton verbunden. Sie entwickelte sich aus einer Gruppe von Choreographen und Tänzern heraus, die sich Judson Church Theater nannte. Die einfache (Alltags-)Bewegung, möglichst unverwandelt, innerhalb eines Tanz-Kontextes darzustellen – damit beschäftigte sich nicht allein Paxton, sondern auch Yvonne Rainer, Trisha Brown, Deborah Hay und andere Choreographen des Judson Church Theaters in den 1960er Jahren. Sie verband eine demokratische politische Gesinnung, die sich gegen jegliche Formen von Hierarchisierung wendete. Die Enthierarchisierung des Körpers und der Bewegung brachte die Improvisation als unverzichtbare Tanzpraxis ins Spiel. Mit der Suche nach neuen Präsentationsformen von Tanz wurden auch weibliche und männliche Rollenkonstruktionen aufgebrochen. Enthierarchisierungsprozesse auf allen Ebenen kennzeichnen die Tanzexperimente der Judson-Church-Choreographen, wenngleich auch klar war, dass hierarchische Strukturen nicht völlig abbaubar sind. Vielmehr existierten balancierte Hierarchien in der Gruppe, nicht eine sondern mehrere, so Paxton: »I’d say there were a lot of hierarchies going on. […] There was a mixture of things going on that sort of balanced each other. I wouldn’t say there was a hierarchy though. I’d say there was a lot of power things mixing in and out.«16
15. Zum Begriff der Emergenz im postdramatischen Theater vgl. Erika Fischer-Lichte: Artikel »Emergenz«, in: dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 86. 16. Steve Paxton: »Trance Script. Judson Project Interview with Steve Paxton«, in: Contact Quarterly 14, 1 (1989), S. 17.
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Das Judson Dance Theater fand ein offizielles Ende 1964/65 durch die Deklaration von Jill Johnson in der Village Voice, dass diese künstlerische Bewegung vorüber sei.17 Doch die ehemaligen Judson-Church-Choreographen wie etwa Yvonne Rainer, Douglas Dunn, David Gordon und Paxton experimentierten weiter. Das Interesse an Improvisation stieg, und von 1970 bis 1976 formierte sich mit anderen Tänzern das Kollektiv The Grand Union, das jegliche Formen von Improvisationen und spontanem Verhalten auf der Bühne durchexerzierte. Als Mitglied dieser Gruppe versuchte Paxton herauszufinden, wie Improvisation eine physische Interaktion zwischen den Tänzern ermöglichen kann, an der die Tanzenden gleichgestellt teilnehmen können und hierarchische Gruppenkonstellationen unbeachtet bleiben.18 Aus diesen Versuchen, an denen u.a. auch Nancy Stark-Smith, Curt Sidall, Lisa Nelson und Daniel Lepkoff beteiligt waren, entwickelte sich jene Tanzform, die sich etwa 1972 einen Namen gab: »Contact Improvisation«. Darin wurde die Reduktion und Konzentration der Bewegung auf die Regeln der Schwerkraft mit einer demokratischen Gesinnung, die sich im Tanz auf verschiedenen Ebenen äußerte, verbunden. So Paxton: »Der Körper wurde auf die Schwerkraft reduziert […]. Und wollte weder Konkurrenten noch Führende […]. Ich wollte eine wirklich demokratische Form erfahren.«19
Entscheidend für den Beginn von Contact Improvisation war das Stück Magnesium, das Steve Paxton 1972 am Oberlin College leitete. Darin untersuchte eine Gruppe von Männern verschiedene Qualitäten von Berührungen: Berührung im Schwung (Impuls), Fallen, Rollen und Kollidieren. Das Stück endete mit fünf Minuten Stillstehen. Auf diese Weise wurde ein Gegensatz zu den vorangegangenen stark bewegten Aktionen verdeutlicht. Bewegung wurde getestet durch das Spiel mit der Schwerkraft und der Anziehung zum Boden. Die Bewegung sollte nicht geführt sein, sie sollte ›passieren/sich ergeben‹, während die tanzende Person den Impuls durch die Schwerkraft erspürt. Im Duett (oder in der Gruppe) sollte der Kontakt des anderen den Impuls zur Bewegung geben. In der Video-Dokumentation Fall after Newton erklärt Steve Paxton: 17. Steve Paxton: »Well, Jill Johnston at the Village Voice became the official spokesman, made herself the official spokesman for that group of people. And she declared in ’64 to ’65 that it was over.« Vgl. ebd., S. 21. 18. Vgl. C. J. Novack: Sharing the Dance, S. 58. 19. Steve Paxton: »Improvisation. Lisa Nelson und Steve Paxton im Gespräch«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 5 (1999), S. 31.
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»In the play of moving and being moved, specific movements are unpredictable, but they occur within an unnourrible field of gravity, centrifical force, support and dependancy. Human touch units the forces, which act upon the body with the sensations they provoke within the body. This interaction makes it possible to keep all the parts of both their bodies harmonizing.«20
Steve Paxton provozierte damit eine völlig neue Einstellung zur Entstehung und Wahrnehmung von Tanz. Nicht durch Nachahmung der visuellen, internalen oder externalen Vorstellungsbilder wird die Bewegung initiiert, sondern durch die Beanspruchung des Berührungssinns. »Damals sah ich einen Berührungstanz kommen. […] [D]as schien mir ein großer Beitrag zur bis dahin visuell dominierten Tanzwelt zu sein. Es begann sich ein neues räumliches und zeitliches Denken zu entwickeln. Eine Sequenz wurde nicht mehr durch ihre Erscheinung, sondern durch Berührung bestimmt.«21
Es wurden Bewegungstechniken entwickelt, die Rollen, Fallen, Anspringen und Hebungen der Körper (»Contact Lifts«) ermöglichen, und Elemente von Kampfsportarten wie z.B. Aikido wurden eingebracht. Die Entscheidung Fall-Techniken zu entwickeln, und nicht etwa jede Form von Technik abzulehnen, ergab sich aus der Erfahrung, dass die Verbindung von guter Technik und Improvisation mehr Risikobereitschaft und somit die Erfahrung eines weiteren Bewegungshorizonts mit sich bringt. In Fall after Newton zeigen Nancy Stark-Smith und Curt Sidall atemberaubende Bewegunsimprovisationen, in denen sich vor allem Stark-Smith mit großem Risiko fallen lässt, ohne sich zu verletzen, und den Fall weiterlenkt. Durch das Training und die Erforschung des Falls hat Stark-Smith gelernt auf Des-Orientierung vorbereitet zu sein. Die Tanzbewegung wird durch Kontakt zwischen zwei (oder mehreren) Körpern initiiert. Das Teilen des Gewichts (Gewicht geben und Gewicht nehmen) treibt den Fluss und die Richtung der Bewegung an. Der Kontaktpunkt kann an jeder Stelle des Körpers liegen. Eine Enthierarchisierung der Körperteile wird dadurch deutlich, dass jeder Körperteil in gleichem Maße beansprucht werden kann. Der Mittelpunkt ist dezentralisiert und die Tanzenden nehmen ihren Körper in Fragmenten und isolierten Kör20. Steve Paxton in der Video-Dokumentation: Fall after Newton. Contact Improvisation 1972-1983. A Project of Contact Collaborations, Inc. New York: Videoda 1987. 21. S. Paxton: »Improvisation«, S. 31. Vgl. dazu auch Thomas Kaltenbrunner: Contact Improvisation. Mit einer Einführung in New Dance, Aachen: Meyer und Meyer 1998, S. 23ff.
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perteilen wahr. Der Gedanke der Dezentralisierung des Körpers wird auch deutlich im Unterricht von Contact Improvisation – durch beispielsweise Übungen für Des-Orientierung, »Off-Balances« und peripheres Sehen. Mit der Entwicklung der Kontaktimprovisation haben sich Improvisationstechniken begründet, welche sich schwerpunktmäßig mit dem responsive body, dem Umgang mit Schwerkraft, der Interaktion durch Kontakt zwischen zwei oder mehreren Körpern, Fallen und Rollen beschäftigen. In den 1980er und 1990er Jahren etabliert sich die Kontaktimprovisation als ästhetische Tanzform auch in den europäischen Theatern und für die Tanzausbildung. In dieser Zeit arbeitet Steve Paxton weiter an seiner Bewegungsforschung und entwickelt 2008 die DVD-Rom Material for the Spine, in der er ausgehend von 30 Jahren Kontaktimprovisation mit dem Fokus auf die spiralförmigen Bewegungen der Wirbelsäule auf den technischen Aspekt der Körper von Kontaktimprovisatoren aufmerksam macht. »It is a system. It attempts to examine the spine of Contact Improvisation. I began it in 1986 for a workshop at Movement Research. I was interested in alloying a technical approach to the improvisational results which had appeared in the bodies of Contact Improvisers.«22
Beispiel 2: William Forsythe Der zeitgenössische Choreograph William Forsythe, Leiter der Forsythe Company, entwickelte etwa seit 1980 durch Improvisation neue komplexe Bewegungsformen, die eine inhärente Schicht im klassischen Ballett beschreiben. Er arbeitete und arbeitet vornehmlich mit klassisch ausgebildeten Tänzern: »Um die Komplexität erreichen zu können, brauche ich Tänzer, für die der klassische Ballettkodex schon Instinkt geworden ist, so dass ich diese andere Art von Geometrie, die der sichtbaren Struktur des Balletts unterliegt, freilegen konnte.«23
Forsythe erforschte Improvisationsaufgaben und räumliche Orientierungen, durch die imaginierter Raum (Linien, Punkte, geometrische Formen) 22. S. Paxton in: Material for the Spine. Vgl. www.youtube.com/watch?v= h4JcXB04UOg vom 28. August 2009. Siehe auch ders.: Material for the Spine. A Movement Study. DVD, Contredanse 2008. 23. Forsythe in einem Interview mit Gerald Siegmund, in: Ballett International/Tanz Aktuell 4 (1999), S. 37.
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in Bewegung transformiert wird. In der CD-ROM Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye werden die über zehn Jahre entwickelten Improvisationstechniken von Forsythe demonstriert und erläutert. Die Tänzer können diese Orientierungen als Werkzeug für ihre Improvisationen nutzen und Forsythe bringt diese improvisatorischen Fähigkeiten der Tänzer in den Schaffensprozess seiner Stücke ein. Auch entwickelte er Choreographien, die durch strukturierte Improvisationen während der Auff ührung erst zusammengesetzt wurden – sogenannte »Real Time Choreographies«. Dabei handelt es sich um Choreographien, die zwischen den festgelegten Strukturen Spielräume für die Tänzer bieten, »verstanden als Abschnitte in der Ablaufstruktur, in denen der eigentliche Auff ührungstext im Moment der Vorstellung jeweils durch die Tänzer neu geschrieben wird.«24 Die CD-ROM zeigt, wie Forsythe die Prinzipien des Balletts erweitert und damit auch den bisherige Umgang mit traditionellen Tanztechniken. Nicht nur, dass er in seinen »Real Time Choreographies« Strukturen für Live-Improvisationen entwirft, sondern er überdenkt vor allem das klassische Ballettvokabular, indem anhand von Improvisation ›eine andere Art von Geometrie‹ freigelegt wird. Die klassisch ausgebildeten Körper erforschen die Räume zwischen den reglementierten Linien des Balletts, die sie bislang nicht erfahren und präsentiert haben. Diese Art von Bewegungsforschung innerhalb des Balletts macht vor allem das bereits erwähnte Potenzial von Improvisation deutlich: festgeschriebene Muster aufzuweichen und neue Bewegungsräume zu erobern. Die improvisatorischen Fähigkeiten zielen vor allem auf schnelles Imaginieren ab – die Fähigkeit, während des Tanzens vorgestellte geometrische Formen mit dem Körper in unendlich vielen Varianten in Bewegung zu übersetzen und diese gleichzeitig klar und deutlich mit dem Körper zu artikulieren. In Gruppenkonstellationen ist schnelles Denken und schnelles Reagieren unverzichtbar, insbesondere wenn bestimmte »Cues« von anderen Tänzern oder Bewegungsauslösern wichtige Strukturen für das ästhetische Resultat ausmachen. Mittlerweile – nach 10 Jahren Entwicklungsarbeit – wird von der CDROM in der Tanzausbildung und in tanzwissenschaftlichen Studiengängen Gebrauch gemacht. William Forsythe erweitert seine Arbeit mit einem Forschungsprojekt an der Ohio State University und der damit verbundenen Website: »Synchronous Objects«.25 Mit der genauen Analyse der Cho24. Kerstin Evert: »Self Meant to Govern – William Forsythes ›Poetry of Disappearance‹«, in: Gesellschaft für Tanzforschung (Hg.), Jahrbuch Tanzforschung 9, Wilhelmshaven: Noetzel 1999, S. 140-174, hier S. 146. 25. Vgl. www.synchronousobjects.osu.edu vom 28. August 2009.
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reographie One Flat Thing, reproduced (2000) legt er das choreographische System offen. Hierbei wird ein neues Verständnis von Choreographie deutlich, insbesondere durch den Blick in das ›Innere‹ der tänzerischen Prozesse. Dies wird nicht nur durch computeranimierte Übersetzungen der Choreographie in andere Erscheinungsweisen deutlich, sondern zudem durch das Aufzeigen von tänzerischen Strukturen während des Vollzugs. An was muß der Tänzer während des Tanzens denken? Entscheidungen, Orientierungen, Zusammenhänge – all dies bleibt kein Geheimnis mehr. Die Beispiele der Arbeiten von Steve Paxton und William Forsythe zeigen, wie intensiv diese Choreographen sich mit Improvisation auseinandergesetzt und in dem Zuge Improvisationstechniken für den künstlerischen Tanz etabliert haben. Auf ganz unterschiedliche Weisen rechtfertigen sie eine Umwandlung und Umwertung des Begriffes der Improvisation hin zu einem erweiterten Choreographie-Verständnis, in dem den Tänzern neues tanztechnisches Können zugedacht wird. Dieses tanztechnische Können erfordert die Anwendung von Rezepten. Diese Rezepte aber rufen nicht im ursprünglichen Sinne ein voraussehbares Produkt hervor, sondern sind vielmehr als ›offene‹ Rezepte zu verstehen, bei deren Anwendung die Tänzer sich mit dem Paradox von Vorbereitung und Unvorhersehbarem auseinandersetzen müssen. Dieses neue tanztechnische Wissen, welches immer häufiger von zeitgenössischen Choreographen angewandt wird, wird auch zukünftig wichtiger Bestandteil in der Vermittlung an Tanzausbildungs-Institutionen sein.
Literatur Bailey, Derek: Improvisation. Its Nature and Practice in Music, New York: Da Capo Press 1992. Roland Blum: Die Kunst des Fügens. Über Tanztheaterimprovisation. Oberhausen: Athena 2004. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Evert, Kerstin: »Self Meant to Govern – William Forsythes ›Poetry of Disappearance‹«, in: Gesellschaft für Tanzforschung (Hg.), Jahrbuch Tanzforschung 9, Wilhelmshaven: Noetzel 1999, S. 140-174. Feist, Sabine: Der Begriff »Improvisation« in der neuen Musik, Sinzig: Schewe 1997. Novack, Cynthia J.: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1990.
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Fischer-Lichte, Erika: Artikel »Emergenz«, in: dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005. Foster, Susan Leigh: Dances That Describe Themselves. The Improvised Choreography of Richard Bull, Connecticut: Wesleyan University Press 2002. Forsythe, William: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003. Kaltenbrunner, Thomas: Contact Improvisation. Mit einer Einführung in New Dance, Aachen: Meyer und Meyer 1998. Lampert, Friederike: Tanzimprovisation. Geschichte, Theorie, Verfahren, Vermittlung, Bielefeld: transcript 2007. Peter-Bolaender, Martina: Tanz und Imagination. Verwirklichung des Selbst im künstlerischen und pädagogischen Prozess, Paderborn: Junfermann 1992. Paxton, Steve: »Trance Script. Judson Project Interview with Steve Paxton«, in: Contact Quarterly 14, 1 (1989), S. 14-21. Paxton, Steve: »Improvisation. Lisa Nelson und Steve Paxton im Gespräch«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 5 (1999), S. 31-33. Siegmund, Gerald: »Interview mit William Forsythe«, in: Ballett International/Tanz Aktuell, 4 (1999), S. 34-37.
Video/DVD Forsythe, William: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003. Paxton, Steve: Fall after Newton. Contact Improvisation 1972-1983. A Project of Contact Collaborations, Inc. New York: Videoda 1987. Paxton, Steve: Material for the Spine. A Movement Study. DVD, Contredanse 2008.
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Subjekte der Wieder ver wer tung (Remix) 1 Christopher Dell
Vom Genießen war die Rede, und auch ich möchte zuallererst sagen, wie sehr ich es genieße, dass sich eine ganze Tagung mit Improvisation beschäftigt. Allerdings haben Sie mit Ihren durchweg komponierten Beiträgen bereits eine maximale Kontingenz dessen geschaffen, was Improvisation sein könnte, und mich in eine völlige Unordnung gestürzt darüber, wie ich jetzt improvisieren soll. Ich theoretisiere ja nicht für mich allein am Schreibtisch, sondern bin für Sie da. Und weil ich wirklich für Sie da sein will, heißt das: Ich improvisiere. Ich gucke also nicht nach unten. Oder – vielleicht gucke ich doch ab und zu nach unten, denn ich habe ein paar Rohmaterialien dabei. Das könnte sogar eine erste Kennzeichnung von Improvisation sein: dass man Rohmaterialien dabei hat. Die können vorgefertigt sein, die können von jemand anderem sein, die können von einem selbst sein. Man weiß nie, ob man sie benutzt. *** Wenn ich heute über Improvisation spreche, gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen als Musiker aus. Ich befinde mich damit in der Position eines Praktikers, der für sich eine angewandte Theorie entwickelt. Das war bereits in der Vergangenheit eine wesentliche Motivation für mich. Ich 1. Der vorliegende Text basiert auf einem mündlichen Vortrag am 26. April 2008; seine offene Form wurde in der schriftlichen Übertragung bewusst beibehalten. Die Transkription der Audioaufnahme besorgte Lisa Lucassen, die redaktionelle Einrichtung und die Anmerkungen stammen von Hans-Friedrich Bormann.
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versuchte, dem Formlosen eine Struktur zu geben und mich so selbst zu legitimieren – eine Art Baron-Münchhausen-Strategie. Und die war vonnöten, weil es nichts gab, worauf ich zurückgreifen konnte. In den JazzZeitschriften war nur zu lesen, wie andere Musiker versucht haben, dem Problem auszuweichen, indem sie sagten: Wir spielen halt… Mit so einem Legitimationsdefizit war ja auch Derek Bailey konfrontiert, der als einer der ersten über Improvisation wirklich nachgedacht hat.2 Deswegen hat er auch gesagt, Improvisation sei Müll – das war natürlich polemisch gemeint.3 Eigentlich hat er damit seine eigene Situation als Musiker beschrieben: Er war halt nichts wert. Der hätte mal versuchen sollen, auf einer Musikakademie Improvisation zu üben! Ich kenne ja auch die Geschichten von Leuten, mit denen ich gespielt habe, Heinz Sauer etwa, oder Albert Mangelsdorff: Die durften sich am Konservatorium nicht erwischen lassen. Aber ich bin aus einer anderen Generation, ich bin jemand, der aus dem Können des Improvisierens Gewinn ziehen konnte. Und das fängt damit an, dass ich – was zumindest in Deutschland ja ganz normal ist für professionelle Musiker – die komplette Klassik-Ausbildung vorweisen kann. So als 13- oder 14-jähriger Bub saß ich dann in einem Orchester und dachte: Was für ein Wahnsinnssound! Die anderen Musiker aber (ich rede hier nicht von irgendeinem C-Orchester, das war ein A-Orchester!) lasen gleichzeitig Playboy und hatten solche Kügelchen dabei, mit denen sie anderen Leuten ins Genick schossen, und der Schlagzeuger ging zum Biertrinken raus, bis der nächste Schlag kam, und alle haben immer darauf gewartet, was der Dirigent macht und wann der Dirigent was sagt. Da war für mich klar: So möchte ich nicht leben. Das war mein persönlicher Ausgangspunkt. Und so reifte in mir der Wunsch, Improvisation zu lernen. Jazz war für mich die einzige Möglichkeit, meine eigenen Vorstellungen umzusetzen: in einem geschützten Raum, wo man dialogisch an Strukturen arbeitet und diese weiter entwickeln kann. *** 2. Derek Bailey: Improvisation. Its Nature and Practice in Music. Revised Edition, New York: Da Capo 1992. Erstveröffentlichung im Jahr 1980; deutsch unter dem Titel: Improvisation. Kunst ohne Werk, Hofheim: Wolke 1987. 3. »Improv is still rubbish.«: Notiz Baileys auf einer Postkarte an Ben Watson, zit.n. dems.: Derek Bailey and the Story of Free Improvisation, London/New York: Verso 2004, S. 378. Siehe dazu auch: Hans-Friedrich Bormann: »›Improv is still rubbish.‹ Strategien und Aporien der Improvisation«, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007, S. 125-146.
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Ich möchte jetzt auf ein paar Aspekte zurückkommen, die heute schon angesprochen wurden. Friederike Lampert sagte eben so sympathisch, das sei eben so bei den Amerikanern. Und da ist auch was dran, es kommt nichts von ungefähr. Es waren Amerikaner, welche die Improvisation technologisch entwickelt haben, und dies gilt für William Forsythe ebenso wie für Steve Paxton, von denen wir ja schon gehört haben. 4 Solche Leute haben die politischen Strategien der 1960er Jahre technologisch ausgearbeitet. Das hat natürlich auch mit einem pragmatischen Ansatz zu tun: In Amerika macht man einfach was und hat überhaupt kein Legitimationsproblem. Aber die haben ja auch keinen Bach, Beethoven, Schiller, Goethe hervorgebracht, was durchaus ein Vorteil ist. Jedenfalls führt es dazu, dass zu eben der Zeit, als sich Bailey bei uns nicht hätte erwischen lassen dürfen, es in Boston schon längst, nämlich seit den 1940er Jahren, das Berklee College of Music gab, wo man Improvisation als Technologie erlernen konnte: als ein strukturell durchdachtes, angewandtes Lenkungslernen. Da haben wir einen unglaublichen Nachholbedarf, und zwar bis heute. Ich selbst hatte angefangen, in Holland zu studieren, weil das in Deutschland mit meinem Instrument – dem Vibraphon – gar nicht ging. Und dann habe ich ein Stipendium an eben diesem Berklee College bekommen; die haben mir alles bezahlt und ich durfte mit Gary Burton arbeiten, der damals mein Guru war. Es war das Größte für mich, in Amerika zu sein, mit diesen tollen Leuten dort zu spielen und mich zu messen. Aber natürlich habe ich einen Schock bekommen, als ich dann wieder nach Deutschland zurückkam, wo es nichts Vergleichbares gab. Ich war ja total überzeugt von dieser Musik. Auftreten konnte ich auch hier überall, das war nicht das Problem. Nur kamen dann Leute nach einem Konzert zu mir und sagten: Das ist ja unglaublich, was Sie da spielen! Das kann aber nicht alles improvisiert sein! Und wenn ich dann meinte: Ja, doch, das ist alles improvisiert… – da sind die vor Enttäuschung in Tränen ausgebrochen! Da habe ich mich natürlich gefragt: Was ist hier los? Warum ist das so? Und ich habe angefangen zu zweifeln: Vielleicht ist das ja wirklich nichts wert. So fing ich an, über Improvisation nachzudenken und habe schließlich ein Buch verfasst.5 In dem Buch ging es um den Kairos, um die Metis und um die Intelligenz, eine Situation zu lenken. Eine Intelligenz, die schon bei den Griechen ganz wenig theoretisiert worden ist. Im letzten Teil des Buchs, wo ich alles zusammentragen wollte, kam ich dann zu einem Problem, das von Ihnen auch schon angesprochen wurde: Ist nicht irgendwie alles Improvisation? Es gibt ja Leute, die genau das ver4. Vgl. den Beitrag von Friederike Lampert im vorliegenden Band. 5. Christopher Dell: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002.
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treten. George Lewis zum Beispiel sagt, dass alles Improvisation sei, und auch Jacques Derrida ist ganz nah dran, so etwas zu sagen, weil die Differenz ja immer da ist: Ich kann mich noch so anstrengen, ich kriege die Wiederholung nie richtig hin, und schon bin ich in der Improvisation.6 Für mich war diese Sicht jedoch nicht interessant, ich wollte ja eine angewandte Theorie entwickeln, ich wollte die Situation gestalten. Es ging mir auch nie darum, in eine (wie auch immer geartete) Not hinein- oder aus ihr hinauszukommen. Die Not hat mich nie interessiert, dieser Reparaturmodus, dieses: Jetzt ist was schiefgegangen, jetzt muss ich mal improvisieren – das ist für mich uninteressant. *** Es braucht in diesem Kontext entweder eine Neubewertung des Begriffs der Improvisation oder eine Differenzierung unterschiedlicher Organisations-Modi. Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden und möchte ein 4-Ebenen-Modell vorschlagen, das sich meiner Ansicht nach trotz aller Kontingenz historisch so entwickelt hat. Auf der ersten Ebene siedle ich die Improvisation 1. Ordnung an, die rein reaktiv und reparierend zu Werke geht, alles ad-hoc löst und ohne Plan ist. Auf der zweiten Ebene ist die geplante Organisation: sie geht erkenntnistheoretisch vor und versucht Unordnung zu überschreiben, auszulöschen. Die dritte Ebene spricht von der performativ-kybernetischen Organisation, wie sie sich Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Diese erkennt Kontingenz an und ist formal geöff net. Allerdings sucht sie, aus Prozessen Objekte zu machen und als Black Box auf Input-Output-Variablen zu reduzieren. Auf der vierten Ebene kommt die Ebene der Improvisation 2. Ordnung. Sie ist Improvisationstechnologie, denkt Ordnung als verhandelbar und bezieht die Tatsache mit ein, dass die Improvisatoren als Beteiligte des Prozesses selbst Transformationen unterliegen. Ihr Können besteht dann auch darin, sich prozessual zum Prozess zu verhalten. Improvisation 2. Ordnung ist keine Sache, die rein praktisch liefe. Im Gegenteil, sie bedarf eines erhöhten Maßes an Abstraktion, um – auf der Metaebene – die Ordnung handhabbar als Verlauf zu machen. Improvisationstechnologie arbeitet diagrammatisch: sie konzentriert sich auf die Ordnung von Ordnung, also die Organisation von Unordnung und macht das, in dem sie unterschiedliche Matrizen gegeneinander schaltet und zum Funktionieren bringt. Indem sie sich auf das Vektorfeld der Kräfte in Situationen fokussiert, wird in Potentialen gedacht, auch Funktionen,
6. Zu Derrida siehe auch die Beiträge von Roland Borgards und Sandro Zanetti im vorliegenden Band.
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Nutzungen können innerhalb des Prozesses entstehen, ebenso wie Strukturen und Formen. Der Kern liegt für mich in der Performanz des Ereignisses als einer grundlegenden Positivität: Das Diagramm beobachtet und zeigt das Verfahren als Funktionieren, als Verlauf, als Prozess, der etwas hervorbringt; es sucht nicht nach einem heimlichen Sinn, der »unter« der Oberfläche zu entdecken sei. Ich ziehe mich hiermit jedoch nicht in einen Relativismus zurück, der sagt: Nun gut, da passiert etwas, das hat keinen teleologischen Sinn, also kann es alles Mögliche sein, beschäftigen wir uns nicht mehr damit. Für mich verhält es sich genau umgekehrt: Gerade weil hier in einer Form Wissen produziert wird, dem wir mit dem Verfahren des Erkennens als Objekt nicht näher kommen, gibt es neue Arbeit, und zwar das Verfahren des relationalen Offenlegens einer prozessualen Performanz als Wissensproduktion neuer Ordnung. Mit Deleuze ließe sich sagen: »Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt.«7 Ich halte aber fest: Obwohl ein performatives Ereignis als Improvisation und als Aussage direkt und positiv in die Welt tritt, ist ihr Funktionieren im Dunkeln. Das habe ich ja oben beschrieben. Mit Foucault könnte man sagen: Die Improvisation ist »gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen«8. Deshalb bedarf es eines Mehrs an diagrammatischer Arbeit. Wie aber geht das? Das Diagramm kann uns eine Vorstellung von den Prozessen des Remix, des Reprogramming von Situationen geben, in der weniger neue Objekte generiert werden als Transformationen. Seine Bewegung bringt die Konstruktion, die Form aus sich selbst hervor. Das Gestalten wäre neu zu bestimmen: nicht mehr als transzendente Idee oder Form, die sich als Plan beschreiben ließe, der dann zur Realisierung findet, der das Objekt bereits in seiner Gestalt und Anwendung festlegen würde. Denn das Diagramm ist blind, insofern es noch keine genaue Beschreibung dessen sein kann, was es hervorbringt bzw. aktualisiert. Gleichzeitig ist das Diagramm jedoch nicht chaotisch oder ohne Steuerung, es sind nur ganz andere Steuerungsmechanismen am Werk, und zwar Mechanismen, die nicht vom Außen, sondern vom Innen des Prozesses und seiner Interaktionen her kommen. Das Diagramm wirkt operativ und performativ, es bringt Form hervor mit einer eigentümlichen Kausalqualität, als immanente, nicht totalisierende Ursache. Deleuze hat das sehr gut beschrieben: »[D]ie abstrakte Maschine ist gleichsam die Ursache der konkreten Anordnungen, die deren Beziehungen herstellen; und diese Kräfteverhältnisse verlaufen ›nicht oberhalb‹, sondern im Geflecht der Anordnungen, die sie 7. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 99. 8. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 158.
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produzieren.«9 Und sie ist gleichzeitig die Karte dieser Kräfteverhältnisse, als Projektogramm, als Notation des Prozessverlaufs und seiner Einschnitte. Die in die Gestaltung eingeführten Diagramme als digitale oder analoge Karten sind gleichsam selbst Einschnitte, die immer einen bestimmten Zeitpunkt eines bestimmten Feldes zu beschreiben suchen und gleichzeitig ein abstraktes Bild davon zu geben suchen, was möglich ist. Die Interpretation dieser Bild-Diagramme als Deutungsarbeit ist gleichzeitig eine Übung und Bildung im Denken und Antizipieren diagrammatischer Bewegung von Virtualität zu Aktualität. Die Frage ist dann nicht mehr Erkenne ich ein Objekt? oder Stimmt ein Objekt mit meiner Idee als Form überein? sondern eher: Wann findet eine Aktualisierung als Effekt statt? Wie merke ich das? und Welche Kriterien und Werte bringen die Effekte hervor? Das Tolle an dem Maschinengedanken von Deleuze ist, dass er diese Fragen von der küchenpsychologischen Dimension befreit und sie auf das Technische reduziert, und darum geht es mir ja: Improvisation als Technologie. Wie gesagt, für mich ist Improvisation kein Unfall, sondern Kunst. Bei mir gibt es einen Willen zur Improvisation, und meine Fragen lauten: Woher kommt der? Und: Was mache ich damit? So kam ich, um überhaupt konstruktiv mit Diagrammen, Matrizen arbeiten zu können, zur Notwendigkeit des Urteilens. Improvisation zwingt zum Urteilen, das ist für mich klar. *** Damit ich überhaupt arbeiten kann, brauche ich drei Parameter: Funktion, Struktur und Form. Das ist ganz unabhängig davon, ob es sich überhaupt um Musik handelt; ich will Ihnen ja nur zeigen, wie ich über Improvisation nachdenke, wie ich sie handhabbar mache. Das Konzept dieser Trias kommt von Henri Lefèbvre und seiner Theorie der Raumproduktion. Lefèbvre pochte auf die soziale Dimension des Raums und stellte fest, dass sich sozialer Raum auf Grund der Komplexität des Realen und Formalen, die er erzeugt, schwer analysieren lässt. Man könnte sagen, Raum wehrt sich gegen Analyse. Lefèbvre versucht dieser Problematik zu begegnen, indem er eine Matrix für die Raumuntersuchung einführt, die in eben jene drei Grundparameter, drei Konzeptionen, eingeteilt ist: Form, Struktur und Funktion. »Comme toute réalité, l’espace social relève méthodologiquement et théoriquement de trois concepts généraux: la forme, la structure, la fonction. C’est-à-dire que tout espace social peut devenir l’objet d’une analyse formelle, d’une analyse 9. Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 56.
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structurale, d’une analyse fonctionnelle. Chacune apporte un code, une méthode, pour déchiffrer ce qui au premier abord paraît impénétrable.«10
Da ich vor einer ähnlichen Problemstellung stand, habe ich diese Kategorien übernommen und in meine Arbeit übersetzt. Funktion steht dabei für das Material, das im Prozess erzeugt wird, die Materie von all dem, was dann noch passiert, egal wie abstrakt es sein mag. Struktur ist das, was diesen Prozess regelt; Strukturen sind entweder Regeln oder Ensembles von Elementen, die einer bestimmten Ordnung unterliegen. Und das Dritte, eben die Ordnung, das ist das, was ich Form nenne. Und so bin ich zu dem folgenden Satz gekommen: Improvisation ist der konstruktive Umgang mit Unordnung in Gemeinschaft. Ob es sich dabei um Konfliktbewältigung oder Konfliktprovokation handelt, spielt für mich keine Rolle, denn dieser Satz ist leer. Und seine Leere ist das Konstruktive. Die Möglichkeit eines strukturierenden Umgangs mit Unordnung ist völlig unabhängig davon, ob ich ihn als Problem oder als Chance oder wie auch immer interpretiere und ideologisch präge. Ich muss nur durch, egal wie. Allerdings wirft dieser Satz, gerade weil er inhaltlich leer ist, sofort die Frage auf – und das schließt direkt an Georg Bertram an – was überhaupt Unordnung ist und was Struktur.11 Denn genau das ist überhaupt nicht festgelegt. Die Kontingenz selbst wandelt sich je nachdem, was ich als unordentlich empfinde. Oder was als unordentlich oder ordentlich ausgehandelt wird. Und eben um solche Prozesse geht es mir. Damit komme ich wieder zum Urteilen zurück, genauer: zur Urteilskraft. Bei Immanuel Kant heißt es, wenn ich mal kurz aus der Einleitung der Kritik der Urteilskraft zitieren darf: »Wenn nun aber der Verstand a priori Gesetze der Natur, dagegen Vernunft Gesetze der Freiheit an die Hand gibt, so ist doch nach der Analogie zu erwarten: daß die Urteilskraft, welche beider Vermögen ihren Zusammenhang vermittelt, auch eben so wohl wie jene ihre eigentümliche Prinzipien a priori dazu hergeben und vielleicht zu einem besonderen Teile der Philosophie den Grund legen werde, und gleichwohl kann diese als System nur zweiteilig sein.«12
10. Henri Lefèbvre: La production de l’espace, Paris: Ed. Anthropos 1974, S. 172f. 11. Vgl. den Beitrag von Georg Bertram im vorliegenden Band. 12. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Band X), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 15.
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Ich sehe die Sache so: In der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt Kant sich mit der Ordnung. Und in der Kritik der praktischen Vernunft beschäftigt er sich mit der Funktion. Und um sie zusammenzubringen, um sie zum Funktionieren zu bringen, braucht man ein Drittes, eben die Struktur, die strukturelle Regelung – Kant nennt sie die Urteilskraft. Und das ist sehr interessant, weil man nur durch die Urteilskraft erkennen kann, dass Regeln beigelegt werden. Noch ein Zitat: »Die Philosophie, als doktrinales System der Erkenntnis der Natur sowohl als Freiheit, bekommt hier durch nun keinen neuen Teil; denn die Vorstellung der Natur als Kunst ist eine bloße Idee, die unserer Nachforschung derselben, mithin bloß dem Subjekte zum Prinzip dient, um in das Aggregat empirischer Gesetze, als solcher, wo möglich einen Zusammenhang, als in einem System, zu bringen, indem wir der Natur eine Beziehung auf dieses unser Bedürfnis beilegen.«13
Dieses Moment des Beilegens ist für mich sehr wichtig. Für Kant war es naiv zu glauben, dass die Naturgesetze einfach vorgefunden werden. Er sagt: Wir legen sie bei. Und es geht in der Kritik der Urteilskraft darum, diese Regeln zu entwickeln. Für mich ist interessant – hier möchte ich auf den Beitrag von Kai van Eikels verweisen, in dem es um die Organisationstheorie und den Zwang zur Evaluation ging14 –, dass dieser Zwang zur Evaluation mehr die bestimmende Urteilskraft und weniger die reflektierende Urteilskraft betriff t. Kant trennt die beiden, indem er sagt: Die bestimmende Urteilskraft beschäftigt sich auch mit Regeln, aber sie wendet Regeln an, während die reflektierende Urteilskraft darüber nachdenkt, was überhaupt eine Regel ist und wie wir uns zu den Regeln zu verhalten haben. Das sind zwei verschiedene Modelle, was häufig vergessen wird. Weshalb ich mich auch zur Wehr setzen muss, wenn mir entgegengehalten wird: Tja, Herr Dell, indem Sie sagen, dass Improvisation so toll ist, betreiben Sie eine Euphemisierung Prenzlauerbergischer Selbstausbeutungsverhältnisse… So weit ist es schon mit dem Neoliberalismus gekommen, dass man sich den Wohlfahrtsstaat zurückwünscht, nur weil man mit der Freiheit nicht umgehen kann! Damit bin ich auch bei dem Verhältnis von Mündigkeit und Autonomie. Denn das ist der Punkt: Ich bin kein autonomer Virtuose. Da liegt ein großes Missverständnis. Wenn die Leute nach dem Konzert denken: Mensch, das ist ja unglaublich, was die da machen! Und dann zu mir sagen: Das ist ja toll, müssen die Schlegel eigentlich immer rot sein oder können die 13. Ebd., S. 18. 14. Vgl. den Beitrag von Kai van Eikels im vorliegenden Band.
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auch mal blau sein? Und übrigens, das ist meine Frau Ulrike, wir haben das erste Mal wieder was gespürt und jetzt geben wir Ihnen einen Rotwein aus… Diese Leute haben nie darüber nachgedacht, was ich überhaupt mache, was für Verfahren ich anwende. Davon haben die gar keine Ahnung. Das ist eine Sache, die mich unglaublich umtreibt. Dass eigentlich keiner versteht, was ich mache. Außer mir, der ich mich dauernd damit beschäftige und das aufnehme und es versuche zu lesen. Das hat mit Bildung zu tun, mit Selbstbildung vor allem. Aber es betriff t auch die Musikwissenschaft. Warum gibt es nicht ein gutes musikwissenschaftliches Buch über Improvisation? Weil keiner in der Lage ist, wirklich eine Platte zu lesen. So sieht es aus. Die müsste man nämlich transkribieren, so, wie ein Musiker das machen würde. Und dafür fehlt die Zeit. Musikwissenschaftler, die so etwas durchaus könnten, untersuchen dann lieber einen Neue-Musik-Komponisten. Das ist doch logisch: Weil da das Material schon zitierfähig vorliegt. Und auch deswegen findet die Improvisation im Jazzclub statt und nicht in der Philharmonie. Daher stammt auch mein Bedürfnis, meine eigenen Verfahrensweisen öffentlich zu machen. Denn Improvisation lebt vom Kommentar, sie bedarf der Erläuterung. Das ist das Gegenteil von dem, was die Werbung sagt: Die Sache spricht überhaupt nicht für sich selbst. Letztlich kann man nicht einmal wissen, ob überhaupt improvisiert wird. Aber indem man sein Verfahren öffentlich macht, kann man die Leute zum Nachdenken anregen. Und deswegen ist es auch so schlimm, dass es kein allgemeines Bewusstsein für die Improvisation gibt. Will man wirklich improvisieren, muss man ein totales Bewusstsein haben von dem, was man tut. Improvisation zwingt zur Selbstbeobachtung, sie zwingt zur Auseinandersetzung mit dem, was gerade geschieht. Es geht nicht anders. Und das ist nicht zuletzt eine gesellschaftliche und politische Frage. *** Hannah Arendt hat sich über den Zusammenhang von Ästhetik und Politik in ihren Vorlesungen an der New School for Social Research Gedanken gemacht. Ich möchte das hier nicht ausführen, aber ein Zitat vorlesen, das für mich erhellend ist: »Im Kulturellen und im Politischen, also in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden, um das urteilende Begutachten und Bereden der ge-
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meinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Weise in ihr gehandelt werden soll.«15
Mit anderen Worten: Es geht um die Konstruktion von Realität in Gemeinschaft. So verstehe ich auch den Satz von der Improvisation als konstruktivem Umgang mit Unordnung in Gemeinschaft. Das wird natürlich unheimlich kompliziert, wenn man im Verbund improvisiert. Aber eben da findet ja genau das statt: eine permanente Aushandlung darüber, was die Ordnung ist. Hier möchte ich zu Chantal Mouffe greifen, die Über das Politische geschrieben hat: »Jede Ordnung ist die temporäre und widerrufliche Artikulation kontingenter Verfahrensweisen. Die Grenze zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen ist nicht festgelegt und erfordert ständige Verschiebungen und Neuverhandlungen zwischen den gesellschaftlich Handelnden. Es könnte immer auch anders sein – daher basiert jede Ordnung auf dem Ausschluß anderer Möglichkeiten. In diesem Sinne kann sie auch ›politisch‹ genannt werden, da sie der Ausdruck bestimmter Machtverhältnisse ist. Macht ist für das Gesellschaftliche konstitutiv, weil das Gesellschaftliche ohne die ihm seine Form gebenden Machtverhältnisse nicht sein könnte. Was in einem bestimmten Augenblick für die ›natürliche‹ Ordnung gehalten wird – gemäß dem ihr entsprechenden ›common sense‹ –, ist das Ergebnis sedimentierter Verfahrensweisen; es ist niemals Manifestation einer tieferen Objektivität, die sich von den Verfahrensweisen trennen ließe, denen es sein Dasein verdankt. Ich fasse diesen Punkt zusammen: Jede gesellschaftliche Ordnung ist politischer Natur und basiert auf einer Form von Ausschließung. Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können.«16
Eben darum geht es auch in der Improvisation: Man hat sich in einem bestimmten Prozess für bestimmte Verfahrensweisen und Möglichkeiten entschieden, man ist sich aber stets der Tatsache bewusst, dass hier etwas sedimentiert wird. Man weiß es, und man thematisiert es auch. Man muss also in einer bestimmten Situation nicht so tun, als sei die Ordnung natürlich gegeben, sondern man macht zum Gegenstand, dass diese Ordnung verhandelbar ist. Dabei geht es nicht darum, auf eine pubertäre Weise die ganze Zeit Normen zu unterlaufen. Aber man macht in dem Bewusstsein 15. Hannah Arendt: »Kultur und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München/ Zürich: Piper 1994, S. 277-302, hier S. 300. 16. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 26f.
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weiter, dass das Verfahren so und so geordnet ist und man sich Rechenschaft darüber abzulegen hat. Jetzt bin ich versucht, ein Beispiel zu nennen. Es klingt ideologisch gefärbt, ist es vielleicht auch, aber es ist einfach unheimlich einleuchtend. Also: Wir feiern gerade Karajans soundsovielten Jubiläumstag und da wird noch einmal richtig in diese Orchester- und Dirigentenkiste gegriffen. Eben dieser Karajan hat etwas Interessantes gesagt: Es gäbe zwei Modi, wo Diktatur wirklich nötig sei, das eine sei die Musik und das andere das Militär. Und ich glaube, dass er recht hat. Dass ein Orchester wirklich am besten funktioniert, wenn jeder Musiker weiß, was er zu tun hat. Das impliziert aber auch, dass er nicht über den kompletten Raum Bescheid wissen muss. Er muss die Partitur nicht kennen, denn es ist für das Gelingen – und das meine ich völlig ohne Wertung – schlicht nicht nötig. Beim Jazz-Verfahren oder beim Forsythe-Tanz dagegen ist eben das sehr wichtig, da muss jeder Mitwirkende die Grundstruktur, den Auf bau des Ganzen kennen. Deswegen muss jedes Improvisationsprojekt eine bestimmte Sprache oder einen bestimmten Rahmen entwickeln, der deutlich macht, wie es sich zu strukturieren gedenkt und zugleich die Möglichkeit offen halten, sich zu verändern. Das heißt, man hat eine bestimmte Art und Weise, wie man Prozesse in Gang bringt und lenkt, man muss aber gleichzeitig einen Kontrollgang mitdenken, damit die Anschlussfähigkeit erhalten bleibt. Bestimmt haben Sie auch schon gedacht: Mensch, wenn ich jetzt nur noch wüsste, was damals war, jetzt ist es weg! Und tatsächlich können wir Improvisationen dokumentieren, und diese Dokumentation, diese Samples eines Prozesses lassen sich sedimentieren in einem Katalog, der es ermöglicht, im Nachhinein Anschlussmöglichkeiten zu finden, die vielleicht in der Situation selbst gar nicht gewollt waren oder nicht genommen wurden. Nur deshalb hat sich Jazz so rasant entwickeln können: weil es Dokumentationsmöglichkeiten wie zum Beispiel die Schallplatte gab. Im Tanz ist diese Idee bei Rudolph von Laban in den 1920er Jahren aufgetaucht, doch sie blieb dann liegen, weil man mit seinen komplizierten Notationen nichts anfangen konnte. Das ist das Gleiche wie bei Jazz-Notationen. Die sehen abstrakt aus, wie Hieroglyphen, und das müssen sie auch, um ihre Offenheit zu bewahren. Aber nur wenn Sie die Platte dazu haben – zum Beispiel von John Coltrane –, dann können Sie etwas damit machen. Deswegen war das 20. Jahrhundert auch so ein Explosionsjahrhundert der Improvisation und ihrer Technologie, weil es dort erstmals diese Möglichkeit gab, Prozesse aufzunehmen, zu speichern und diese Samples in neue Prozesse einzuspeisen und weiter zu entwickeln. Man muss so etwas ja nicht tun, aber man kann es. Das ist ganz, ganz entscheidend.
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So kam ja auch Forsythes Improvisation Technologies zustande.17 Er hat ja nicht umsonst so lange dafür gebraucht. Viele denken ja immer noch: Ach, Improvisation, das macht man mal so eben. Eben nicht! Forsythe hat zehn Jahre gebraucht, um eine komplexe Improvisationsrahmung zu schaffen. Das ist es, worum es auch mir geht: zu zeigen, dass Improvisation nicht Kontingenz bewältigt, sondern anerkennt. Und deshalb ist sie – auf einer Metaebene – andauernd beschäftigt damit, Ordnung zu erstellen. Das ist natürlich anstrengend, und daher kommt sicher auch das Bild vom Improvisator als Übermenschen. Vielleicht gibt es ja überhaupt keinen, der das richtig kann. Aber das tut eben nichts zur Sache. Womöglich konnte man zu Beethovens Zeiten seine Streichquartette nicht richtig spielen – macht doch nichts! Heute kann man es halt, und da ist nichts Großes dabei. Das entwickelt sich einfach, ebenso wie die Improvisationstechnologie. Und das ist ein politisches Phänomen, weil damit im Bereich des Ästhetischen thematisiert wird, dass Ordnung verhandelbar ist. Das hat natürlich auch etwas Destabilisierendes, doch das gehört dazu und man muss es aushalten. Das Ganze ist allerdings nicht teleologisch gedacht, jedenfalls nicht als eine Fortschritts-Geschichte im Hegelschen Sinn. Sondern eher so: dass man es länger aushält zu improvisieren. Ich nehme noch einmal als praktisches Beispiel mich selbst. Also: Ich habe immer schon Free Jazz gehasst, abgrundtief gehasst. Für mich war es wichtig, dass die Improvisation strukturiert ist und formal läuft. Das war damals in den 1980er Jahren sicher auch ein Backlash auf die 70er Jahre, also meine Elterngeneration, die immer Fünf hat gerade sein lassen. Ich meinte, so kann man an die Sache nicht herangehen. Aber in den 90er Jahren habe ich dann Free Jazz durch einen Zufall wiederentdeckt und musste mich damit auseinandersetzen. Und da habe ich überhaupt erst gemerkt, wie anstrengend diese Musik ist und wie anstrengend es ist, wenn man in einem nicht bereits vorstrukturierten Raum Kohärenz erzeugen will. Also – das ist Wahnsinn! Es ist das Gegenteil von dem, was ich immer dachte: Diese Typen machen einfach irgendwas. Wobei es natürlich auch in diesem Feld qualitative Unterschiede gibt. Für mich jedenfalls ist es so: Wenn ich zu Hause übe und es schaffe, über 20 Minuten hinaus ein völlig un-vorstrukturiertes Solo zu spielen, stellt sich die Frage nach dem Gelingen auf einer ganz anderen Ebene. Dann geht es nicht um das Erscheinen der Sache selbst, sondern um meine Haltung: Ich habe es geschaff t. Ich habe es geschaff t, mich dem auszusetzen, und ich habe darüber nachgedacht, wie ich mich in diesem unordentlichen Raum verhalte. Nur eben nicht in dieser Haltung von: Ich 17. William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003.
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lasse mal los – das ist verantwortungslos. Ich selbst habe Unordnung produziert, also muss ich mich dazu verhalten und damit leben: Improvisation ist eine Frage der Ethik. *** Diese ethische Haltung habe ich auch beim späten Foucault wiedergefunden. Das fand ich sehr interessant, weil er sonst häufig versucht hat, Technologien als Ausdruck und Mittel von Macht zu beschreiben, und das gilt selbst noch für das Konzept der Gouvernementalität. Dadurch war für mich der ganze Bereich sehr negativ belegt, und dieser kritische Impetus hat mich in meinem Handeln immer wieder gebremst. Zuweilen war ich unheimlich frustriert. Einerseits fand ich es gut, dass man das Problem der Steuerung kritisch beleuchtet, und dass ich nicht ganz so feucht-fröhlich in die Improvisation reingehen konnte, war mir recht. Aber durch Foucault hatte jede Steuerung einen Beigeschmack von Gewalt. Deswegen war ich sehr angetan, dass es zum Schluss auch für ihn in eine andere Richtung ging. Ich möchte ein paar Zitate aus seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« von 1984 vorlesen. »Das hat offensichtlich zur Konsequenz, daß Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geführt haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen.«18
Für mich heißt das: Strukturen sind nicht universell, sondern prozessbezogen. Und sie geben Auskunft darüber, wie ich mich als Subjekt in diesem Prozess verhalte, wie ich dort meine Handlungen strukturiere. Darin liegt ja genau die diagrammatische Arbeit des Improvisierens. Doch damit es sich nicht einfach nur um eine Behauptung oder den »leeren Traum von Freiheit«19 handelt, muss meines Erachtens diese historisch-kritische Haltung auch eine experimentelle Haltung sein. »Ich meine, dass diese an den Grenzen unserer selbst verrichtete Arbeit […] sich […] dem Test der Wirklichkeit und der Aktualität aussetzen muß, um sowohl die Punkte zu ergreifen, wo Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch zu bestimmen, welche genaue Form diese Veränderung annehmen soll. Das bedeu18. Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Frost/ Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1990, S. 35-54, hier S. 49. 19. Ebd.
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tet, daß diese historische Ontologie unserer selbst von allen Projekten Abstand nehmen muß, die beanspruchen, global oder radikal zu sein. In der Tat wissen wir aus Erfahrung, dass der Anspruch, dem System der gegenwärtigen Realität zu entkommen, um allgemeine Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weise zu denken, einer anderen Kultur, einer anderen Weltanschauung hervorzubringen, nur zur Rückkehr zu den gefährlichsten Traditionen geführt hat.«20
Auch die Improvisation ist kein Rettungsanker eines neuen, besseren Lebens, sie ist, darauf bestehe ich, eine Technologie. Bei Foucault heißt es weiter: »Das führt zu einer Untersuchung dessen, was ›praktische Systeme‹ genannt werden könnte. Als homogenes Bezugsfeld nehmen wir hier weder die Vorstellungen, die Menschen von sich selbst haben, noch die Bedingungen, von denen sie ohne ihr Wissen bestimmt sind, sondern eher, was sie tun und wie sie es tun. Das heißt die Rationalitätsformen, die ihre Weise zu handeln, organisieren (dies könnte der technologische Aspekt genannt werden) und die Freiheit, mit der sie innerhalb dieser praktischen Systeme handeln, darauf reagieren, was andere tun und bis zu einem gewissen Punkt die Spielregeln modifizieren (dies könnte die strategische Seite dieser Praktiken genannt werden).«21
Man handelt immer zwischen der Strategie und der Praxis, zwischen dem, was man möchte, und dem, was möglich ist. Und die Improvisation ist ein Organisationsverfahren, das die maximale Mehrdeutigkeit einer Situation zulässt – so würde ich es beschreiben. Für mich hat das auch mit Lust zu tun, mit dem Genießen. Deswegen finde ich auch den Gegensatz von Freizeit und Arbeit problematisch, weil da eben etwas fehlt. Noch einmal mit Kant gesprochen: Es gibt das Erkenntnisvermögen, es gibt das Begehrungsvermögen und es gibt die Lust. Für mich ist die Arbeit mit dem Erkenntnisvermögen verbunden, die Freizeit mit dem Begehrungsvermögen – die Lust aber findet darin keinen Platz (das wurde ja auch schon kulturpessimistisch formuliert: dass sich bei uns alles nur noch zwischen Erkenntnis und Begehren abspielt). Für mich bietet die Improvisation eine Möglichkeit zu genießen: indem man die reflektierende Urteilskraft anstrengt und mit ihrer Hilfe Situationen organisiert, in denen eine maximale Mehrdeutigkeit zugelassen ist. *** 20. Ebd. 21. Ebd., S. 51.
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Zum Schluss möchte ich noch eine kurze Geschichte anfügen, auch um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass in zehn Minuten die Sportschau anfängt. Denn es geht mich katastrophal an, wenn die samstags um 18 Uhr 30 nicht läuft. Nur weil ich Improvisator bin, heißt das doch nicht, dass ich dauernd unordentlich bin und denke, die Sportschau könnte irgendwann anfangen. Die Disziplinierung ist in uns drin, und deswegen ist es doch überhaupt kein Wunder, dass man Disziplinierungstechniken anwendet, um improvisieren zu können. Es ist sogar das Normalste von der Welt. Diese ganzen Disziplinierungstechniken sedimentieren in mich hinein. Aber ohne Disziplin können wir auch das konstruktive Überschreiten der Disziplin gar nicht leisten. Ich wiederhole mich: Wenn man improvisieren will, dann muss man es können. So einfach ist das. Ich habe mal einen Text geschrieben für ein Buch, das sehr interessant ist: Von A bis Z, ein Architektur-Buch mit verschiedenen Begriffen. Die Herausgeber hatten mich gefragt, ob ich über den Begriff Improvisation etwas machen könne. Dort habe ich geschrieben: »›Wo immer ich gerade gehe, denke ich an Pässe, Kombinationen, Möglichkeiten. Dann kommt das Spiel und ich bin bereit.‹« (Ein Zitat von Juri Djorkaeff, 1998 Fußballweltmeister mit Frankreich.) »Als Juri Djorkaeff in der Saison 1999/2000 zu Kaiserslautern wechselte, schrieb der Stern folgende Richtungsweisende Zeilen: Djorkaeff wirke in Kaiserslauterns Elf wie ›ein moderner Jazzmusiker in einer biederen Blaskapelle: Da sind einfach zu wenige, die seine Improvisationen aufgreifen können – und wollen.‹ Bedeutet das etwa, dass die anderen Spieler, allesamt gestandene Bundesligaprofis, nicht spielen können? Nein. Heißt es, dass sie nicht in der Lage sind, unerwartete Situationen zu lösen? Nein. Der Unterschied besteht einzig und allein in der Auffassung des Raumes. Für Djorkaeff ist der Raum durchdrungen von Möglichkeiten, ein Feld der zu antizipierenden Optionen. Für die anderen Spieler ist der Raum ein objektives Raumgefüge, das nur dann durchbrochen wird, wenn sich ein Stürmer an der Abwehr vorbei schleicht. Dann greift der letzte Mann ein, beruhigt die Situation mit einer Grätsche: es gibt Freistoß und man kann in Ruhe seine Mauer bauen. Letztere Art, komplexe Situationen zu lösen, könnte man als Improvisation 1. Ordnung bezeichnen, die allein als reaktives, reparierendes, Mangel ausgleichendes Prinzip agiert. Djorkaeff hingegen beherrscht die Improvisation 2. Ordnung: das Überführen erlernter Regeln und Praxen in ein antizipatorisches Konzept.«22
22. Christopher Dell: »I wie Improvisation«, in: Mario Hohmann/Stefan Rettich (Hg.): Von A bis Z. 26 Essays zu Grundbegriffen der Architektur, Köln: Walther König 2004, S. 59-66, hier S. 59f.
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Chr istopher Dell
Und darum geht es mir als Musiker. Wenn man improvisiert, muss man immer aufpassen, dass man sich in seinen eigenen Konzepten nicht verfängt, und alles so auf bauen, dass sie anschlussfähig bleiben. Dabei gilt natürlich, was Nikolaus Harnoncourt gesagt hat, als er nach Karajan gefragt wurde: Man muss, wenn man Interpretationen macht, immer damit rechnen, dass man nach 30 Jahren darüber lacht. Bei der Improvisation ist es genauso. Man wird in 30 Jahren über diese CD von Forsythe lachen, weil die Entwicklung immer weiter geht. Allerdings wird man auch sagen, dass sie total interessant ist, weil Improvisation zu der Zeit in eben dieser Phase war. *** Ich hoffe natürlich, dass man über diese Tagung nie lachen wird, denn dass es heute so eine Reflexion über dieses Thema gibt, ist ganz wunderbar. Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken. Weil es so etwas eben vor zehn, zwanzig Jahren nicht gab und dadurch die Arbeit für Improvisatoren lange wahnsinnig erschwert wurde. Umgekehrt denke ich, dass sich die Improvisation gerade durch eine Konzeptionalisierung, wie sie hier auch von der Theorie aus betrieben wurde, noch wahnsinnig weiter entwickeln wird. Insofern schaue ich der ganzen Sache sehr hoffnungsvoll entgegen und bedanke mich ganz herzlich fürs Zuhören.
Literatur Arendt, Hannah: »Kultur und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München/Zürich: Piper 1994, S. 277-302. Bailey, Derek: Improvisation. Its Nature and Practice in Music. Revised Edition, New York: Da Capo 1992 [1980, dt. u.d.T.: Improvisation. Kunst ohne Werk, Hofheim: Wolke 1987]. Bormann, Hans-Friedrich: »›Improv is still rubbish.‹ Strategien und Aporien der Improvisation«, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/ Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007, S. 125-146. Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Forsythe, William: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. CD-ROM/Booklet, Ostfildern: Hatje Cantz 1999/2003. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. 232
Subjekte der Wieder verwer tung (Remix)
Foucault, Michel: »Was ist Auf klärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Frost/ Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1990, S. 35-54. Dell, Christopher: »I wie Improvisation«, in: Mario Hohmann/Stefan Rettich (Hg.), Von A bis Z. 26 Essays zu Grundbegriffen der Architektur, Köln: Walther König 2004, S. 59-66. Dell, Christopher: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Band X), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Lefèbvre, Henri: La production de l’espace, Paris: Ed. Anthropos 1974. Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Watson, Ben: Derek Bailey and the Story of Free Improvisation, London/ New York: Verso 2004.
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Autor innen und Autoren Georg W. Bertram Dr. phil., Professor für Philosophie (Schwerpunkte: Philosophische Ästhetik und theoretische Philosophie) an der Freien Universität Berlin. 1997 Promotion, 2004 Habilitation in Philosophie. 1996-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2002-2007 Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Hildesheim. 2004 Research Scholar am Department of Philosophy der University of Pittsburgh bei Prof. John McDowell. Sommersemester 2006 Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München: Fink, 2002; Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam, 2005; Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Velbrück, 2006. Roland Borgards Dr. phil., Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte am Institut für Deutsche Philologie der Universität Würzburg. Studium der Germanistik, Philosophie, Geschichte und Musikwissenschaft in Freiburg, Lyon und Gießen; Promotion über »Sprache als Bild« (2001). Habilitation über »Poetik des Schmerzes« (2005). Forschungsschwerpunkte: Tier, Improvisation, Schmerz, Literatur und Wissenschaft, Literatur und Recht. Hans-Friedrich Bormann Dr. phil., Akademischer Rat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, von 2003 bis 2009 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 447 Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin (»Die Szene des Virtuosen«) und in der Berliner Performance-Gruppe LOSE COMBO. Publikationen zur Geschichte und Theorie der performativen Künste, darunter: Verschwiegene Stille. John 235
Improv isieren
Cages performative Ästhetik, München: Fink 2005. Internet: http://www. theater-medien.de. Gabriele Brandstetter Dr. phil., Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepte. Forschungen zu Literatur, Tanz, Theatralität und Geschlechterdifferenz. 2004 Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Jüngste Veröffentlichungen: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005; Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007 (Mit-Hg.); Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps«, Bielefeld: transcript 2007 (MitHg.), Tanz als Anthropologie, München: Fink, 2007 (Mit-Hg.); Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München: Fink 2007 (Mit-Hg.). Christopher Dell Musiker, Theoretiker. Philosophiestudium TU Darmstadt. Musik- und Kompositionsstudium Conservatorien Hilversum und Rotterdam, Berklee School of Music, Boston. MA Human Resources, TU Kaiserslautern. 1992-2000 Leiter des Studios für Improvisation an der Akademie für Tonkunst, Darmstadt. Seit 2000 Leiter des ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Berlin. 2004-2007 Mitglied im Fachbeirat des Internationalen Forums für Gestaltung, Ulm. 2006-2007 Lehrbeauftragter für Architekturtheorie an der Universität der Künste, Berlin. 2008-2010 Gastprofessur Städtebau/Kultur der Metropole an der HafenCity Universität, Hamburg. Publikationen u.a.: Prinzip Improvisation, Köln: Walther König 2002; Tacit Urbanism, Rotterdam (i. Ersch.); Improvisations on Urbanity, Rotterdam (mit Ton Matton, i. Ersch.). Zahlreiche CD-Veröffentlichungen. Auszeichnungen u.a.: Preis der Deutschen Schallplattenkritik, JazzArtAward, Musikpreis der Stadt Darmstadt, Grammy-Nominierung. Internet: http://www.christopher-dell.de. Kai van Eikels Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin (Projekt »Die Szene des Virtuosen«). Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Schauspielregie. Nach Inszenierungen an deutschen Bühnen promovierte und lehrte er in Hamburg und forschte an der Tokyo Universität. Veröffentlichungen zu Zeitphilosophie und interdisziplinärer Zeitforschung, Erzählpoetik, Interkulturalität, Politik des Ultimatums, dynamischen Kol236
Autor innen und Autoren
lektivformen wie Schwärmen oder »Smart Mobs«, Kunst und Ökonomie. Aktuelle Forschungsprojekte: »Die Kunst des Kollektiven. Soziale Virtuosität und Performance«; »Weitermachen. Zu einer politischen Ästhetik des Virtuosen«; »Rache – Performanzen diesseits des Staates«. Aktuelle Veröffentlichung: Prognosen über Bewegungen (Hg., zus. mit Gabriele Brandstetter und Sibylle Peters, Berlin: bbooks 2009). Internet: http://t-rich.pro gnosen-in-bewegung.de; http://wasistvirtuos.twoday.net Markus Krajewski Dr. phil., Juniorprofessor für Mediengeschichte der Wissenschaften an der Bauhaus-Universität Weimar und derzeit Gastprofessor am History of Science Department sowie am Humanities Center der Harvard University. Aktuelle Hauptforschungsgebiete: randständige Epistemologien, die Kultur- und Mediengeschichte des Dieners, Geschichte von Formaten und Standards sowie bestimmter Bauformen deutscher Nachkriegsarchitektur. Zuletzt erschienen: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin: Kadmos 2002, sowie als Herausgeber: Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin: Kadmos 2004. Autor der elektronischen Literaturverwaltungssoftware synapsen. Ein hypertextueller Zettelkasten (http://www.verzetteln.de/synapsen). Friederike Lampert Dr. phil., Theaterwissenschaftlerin, Choreographin, künstlerische Leiterin des K3-Jugendklubs auf Kampnagel, Hamburg. Ballettstudium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt a.M. und Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Zehn Jahre professionelle Tätigkeit als Tänzerin (u.a. bei Amanda Miller – Pretty Ugly Dancecompany) und Choreographin. 2002-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Bewegungswissenschaft/Performance Studies an der Universität Hamburg. Promotion zum Thema »Improvisation im künstlerischen Tanz« (Tanzwissenschaftspreis NRW 2006). Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstlern und Wissenschaftlern in Form von Lecture Performances. Seit September 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Forschungsprojekt »Tanztechnik« im Rahmen der Ausbildungsprojekte beim Tanzplan Deutschland. Edgar Landgraf Dr. phil., Associate Professor of German, Bowling Green State University (Ohio). Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, der University of Illinois in Chicago (M.A. 1992) und der Johns Hopkins University in Baltimore (Ph.D. 1998). Forschungsschwer237
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punkte: Literatur und Ästhetik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts; Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Laufendes Projekt: »The Art of Improvisation: Conceptual Challenges – Historical Perspectives«. Internet: www.bgsu.edu/. Annemarie Matzke Dr. phil., Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Mitglied des Performance-Kollektivs She She Pop seit 1994. Promotionstipendiatin am Graduiertenkolleg »Authentizität als Darstellung«. Promotion zu Formen der Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater. 2001-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Hildesheim, 2004-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Publikationen (Auswahl): TheorieTheaterPraxis, Berlin: Theater der Zeit 2004 (Mit-Hg.); Testen Spielen Tricksen Scheitern. SelbstInszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2005. Sandro Zanetti Dr. phil., Juniorprofessor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Basel, Freiburg i.Br. und Tübingen. Danach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Frankfurt a.M., Basel und Berlin. Publikationen (Auswahl): »zeitoffen«. Zur Chronographie Paul Celans, München: Fink 2006; Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer 2006 (Mit-Hg.); »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München: Fink 2006 (Mit-Hg.); »Schreiben heißt: sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren, München: Fink, 2008 (Mit-Hg.); Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne, Berlin: Kadmos 2009 (Mit-Hg.).
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Kultur- und Medientheorie Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld April 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
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Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, 568 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4
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